Moderne, Subjekt, Staat: Zur Rolle Der Bildung in Der Kontroverse Zwischen Individuum Und Staat Im Iran [Illustrated] 387997442X, 9783879974429

Die Reihe Islamkundliche Untersuchungen wurde 1969 im Klaus Schwarz Verlag begründet und hat sich zu einem der wichtigst

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Moderne, Subjekt, Staat: Zur Rolle Der Bildung in Der Kontroverse Zwischen Individuum Und Staat Im Iran [Illustrated]
 387997442X, 9783879974429

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Parvin Javadi Moderne, Subjekt, Staat

ISLAMKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN • BAND 320 begründet von Klaus Schwarz herausgegeben von Gerd Winkelhane

ISLAMKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN • BAND 320

Parvin Javadi

Moderne, Subjekt, Staat Zur Rolle der Bildung in der Kontroverse zwischen Individuum und Staat in Iran

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© 2014 by Klaus Schwarz Verlag GmbH Berlin Erstausgabe 1. Auflage Herstellung: J2P Berlin Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-87997-442-9

Meinen Eltern und meinem Mann gewidmet

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung, Begriffsdifferenzierung und Problemstellung 1.1 Einleitung .............................................................................................................9 1.1.1 Forschungsstand ...............................................................................................12 1.1.2 Methode ..............................................................................................................16 1.1.3 Fragestellung und Darstellung des Forschungsvorhabens .....................17 1.2 Begriffsdifferenzierung und Problemstellung ...........................................21 1.2.1 Begriffsdifferenzierung: Moderne oder Modernisierung?.......................21 1.2.2 Problemstellung: Modernisierung und Moderne in Iran ........................24 1.2.3 Begründung der Theorieauswahl .................................................................33 2 Theoretischer Analyserahmen 2.1 Zum Begriff der „Moderne“ (Modernité, Modernity) ..............................37 2.1.1 Geschichte der Begriffsbildung: von „Modernus“ bis „Moderne“..........38 2.1.2 Subjektivität als Fundament der Moderne .................................................50 2.2 Subjektivität und Freiheit nach Kant und Hegel ......................................53 2.2.1 Kant: Autonomie und Freiheit ......................................................................53 2.2.2 Hegel: Bewusstsein und Erkenntnis der Freiheit .....................................62 2.2.3 Bildung als Grundlage der Autonomie und des Bewusstseins ..............73 2.2.4 Die Kantische Bildungskonzeption ..............................................................75 2.2.5 Die Hegelsche Bildungskonzeption .............................................................82 2.2.6 Zwischenresümee .............................................................................................87 2.3 Moderne und der Iran .....................................................................................88 2.3.1 Moderne oder Modernisierung?....................................................................89 2.3.2 Khomeini: Modernisierung ohne Moderne ................................................91 2.3.3 Motahhari: Die islamische Aufklärung .....................................................106 2.3.4 Khomeinis Bildungskonzeption ..................................................................122 2.3.5 Motahharis Bildungskonzeption ................................................................129 2.3.6 Zwischenresümee ..........................................................................................134 2.4 Moderne vs. islamischer Fundamentalismus: Ein Vergleich ...............136 2.5 Bildung und gesellschaftlicher Wandel ....................................................141 3 Iran: Die Auseinandersetzung zwischen Subjekt und Staat 3.1 Die Revolution von 1979: Von der Säuberung der Gedanken zur Vereinheitlichung der Gesellschaft ....................................................151 3.2 Die Kulturrevolution an den Universitäten .............................................158 3.2.1 Kulturrevolution und Geisteswissenschaften: Bemühungen zur Einheit von Hawza und Universität .........................170

3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.4 3.5

Konsequenzen der Kulturrevolution .........................................................180 Erweiterung der Kulturrevolution .............................................................185 Islamische Bildung und Erziehung in den Schulen ................................188 Medien, Moscheen, Bibliotheken ...............................................................194 Bilanz und Ergebnis des Islamisierungsprojekts in Iran .......................199 Zwischenresümee ..........................................................................................209

4 Gegensätze zwischen Vereinheitlichungsdruck und Autonomie des Subjekts. Zwei Beispiele: Frauenpolitik und Arbeitsmarkt 4.1 Frauen zwischen Fortschrittswille und Einschränkung durch die Scharia ............................................................................................213 4.1.1 Das islamische System der Rechte der Frauen in lran ..........................214 4.1.2 Die heutigen iranischen Frauen und ihre Widerstandsstrategien gegen islamische Regelungen .....................................................................227 4.1.3 Staatliche Reaktion auf die Frauenbewegung .........................................238 4.2 Arbeitsmarkt: Die Suche nach den richtigen Qualifikationsmaßnahmen ..................244 4.2.1 Auswahlverfahren und staatlicher Qualifikationsmaßstab für den Eintritt in den Arbeitsmarkt .........................................................245 4.2.2 Die Folgen des Auswahlverfahrens und dagegen gerichtete Strategien der Bewerber ..................................251 4.3 Brain drain: Resultat des Kampfes gegen abweichendes Denken und Verhalten ..........................................254 4.4 Zwischenresümee ..........................................................................................257 5 Zusammenfassung und Schlussfolgerung 5.1 Zusammenfassung .........................................................................................261 5.2 Erkenntnisse ....................................................................................................265 5.3 Chancen und Risiken ....................................................................................266 5.4 Fragestellung für die weitere Forschung ..................................................266 5.5 Schlussfolgerung ............................................................................................267 6 Literaturverzeichnis ................................................................................................268 Danksagung und Abstract.........................................................................................286

Teil 1

Die Moderne ist (...) zu einem weltweiten Experiment geworden. Ob wir wollen oder nicht, wir sind alle in ein großes Experiment verstrickt, bei dem wir zwar als menschlicher Akteur handeln, das sich zugleich aber auch bis zu einem bestimmten Grad unserer Kontrolle entzieht. Es handelt sich nicht um ein Experiment unter Laboratoriumsbedingungen, denn wir können die Resultate nicht anhand feststehender Parameter vorhersagen, vielmehr um ein gefährliches Abenteuer, an dem jeder von uns teilzunehmen hat, möge es ihm ge1 fallen oder nicht. 1

Vgl. Giddens, A. (1996a): „Leben in einer posttraditionellen Gesellschaft“, in: Giddens, A., Beck, U., Lash, S. (Hg.): „Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse“, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 117-18.

8

1

Einleitung, Begriffsdifferenzierung und Problemstellung

1.1

Einleitung

Die politische Philosophie hat sich seit der Antike bis zum heutigen Tag damit beschäftigt, eine zumindest zeitgemäße Antwort auf die Fragen zu finden, ob der Mensch frei sein kann oder ob er sich dem Staat bzw. der Gesell schaft unterwerfen soll. Bestimmte gesellschaftliche und politische Faktoren, vor allem die Religion, haben dieses Thema im Laufe der Zeit stark beeinflusst. Die menschliche Geschichte ist durch verschiedene Ideologien und Theorien charakterisiert, die das bestmögliche Konzept für das Verhältnis zwischen den Menschen und der Gesellschaft zu konzipieren versuchen. Die klassischen Konzepte waren jedoch sehr einseitig. Wurde bis zur Aufklärung überwiegend nur auf die Gesellschaft und den Vorrang der kollektiven Freiheit Wert gelegt und die Freiheit des einzelnen Menschen als selbstbestimmtes und autonomes Wesen kaum anerkannt, so wurde der Mensch mit der Aufklärung das Zentrum des Geschehens, und es gelang ihm, sich zum autonomen Subjekt zu entwickeln und seine individuelle Freiheit zu gewinnen. Mit der Durchsetzung der Aufklärungstheorien in der französischen Revolution jedoch gewann ein radikaler Glaube an die Priorität der Freiheit des Individuums in der Gesellschaft an Bedeutung, was zu katastrophalen Folgen in den ersten Jahren nach der Revolution führte. Die menschliche Geschichte hat gezeigt, dass nur ein balanciertes Verhältnis zwischen der kollektiven und individuellen Freiheit ein funktionierendes gesellschaftliches bzw. politisches Leben garantiert. Die Entstehung dieses balancierten Verhältnisses wurde hauptsächlich 2 durch die Aufklärung und in der Ära der Moderne ermöglicht. In der Moderne geht es nicht, wie in der Periode zuvor, nur um kollektive Freiheit, vielmehr beginnt die Freiheit im modernen Sinn erst mit der Anerkennung der Freiheit des Individuums bzw. Subjektes. Die Frage, wie frei eine Gesellschaft oder ein politisches System ist, kann deshalb erst durch die Frage, wie frei das Individuum bzw. das Subjekt ist, beantwortet werden. Hegel, einer der bedeutendsten Philosophen der Moderne und Aufklärung, bezeichnet die individuelle Freiheit als Basis aller anderen Freiheiten und die fehlende Freiheit des Subjektes als Entäußerung der Persönlichkeit, die mit Sklaverei gleichzusetzen ist. Wird Selbstbestimmung als ein wesentlicher Bestandteil der individuellen Freiheit betrachtet, so ist die individuelle Freiheit vor allem 2

Das Thema der Autonomie des Menschen wurde bereits vor der Aufklärung und im Rahmen von Humanismus, Renaissance und Reformation behandelt, erreichte seinen Höhepunkt jedoch durch die Aufklärungsbewegung und den Beginn der modernen Ära.

9

1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

auf Basis des menschlichen Denkvermögens und der Vernunft zu definieren. In der Ära der Moderne wird – im Gegensatz zur Vormoderne – die Fähigkeit jedes Einzelnen zu unabhängigem Denken und selbständigem Entscheiden und damit der Grundstein seiner individuellen Freiheit anerkannt. Durch die Vernunft und das Denken kann sich der Mensch als Subjekt entfalten, sich entwickeln und zu individueller und gesellschaftlicher Wandlung beitragen. Die Vernunft ist somit die Basis der Freiheit, denn Freiheit ist, Kant zufolge, wenn der Mensch von seiner Vernunft in allen Aspekten des Lebens Gebrauch machen kann. Moderne beruht auf dem Glauben an menschliche Vernunft, Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung und somit ist sie der Ausgangspunkt einer Epoche, in der der Mensch sich von allen Arten fesselnder Prinzipien der Vergangenheit und maßgebender Normen der Religion und Tradition befreite und Kraft seiner Vernunft neue Vorschriften schuf, die zeitgemäß seinen Bedürfnissen und Erwartungen gerecht werden konnten. Dabei ist mit Freiheit nicht die Gesetzlosigkeit der Gesellschaft und die Befreiung des Menschen von jeglicher Art gesetzlicher Bindungen zu verstehen, sondern Freiheit im modernen Sinn bedeutet, dass der Mensch sich nur an die Gesetze halten soll, die er selbst (Kraft seiner Vernunft) erlassen hat. Religion oder Tradition verlieren in diesem Sinne ihre Stellung als Quelle der Gesetzgebung, und der Mensch erzeugt die Basis seiner gesellschaftlichen Gesetze aus sich selbst heraus. Anders ausgedrückt, der Mensch wird selbstbestimmt. Das ist einer der wichtigsten Wendepunkte in der Geschichte der Menschheit, denn bis zur Aufklärung wurde der Mensch – bis auf die Herrschenden in Religion und Politik – kaum als selbstbestimmtes und autonomes Wesen anerkannt. Der Mensch verkörperte ein Objekt, das weder bei der Gesetzgebung noch bei der Entscheidungsbildung auf privaten und gesellschaftlichen Ebenen aktiv teilnehmen konnte. Die Religion und/oder die Tradition bildeten die Grundlage des Gesetzes und gesellschaftlicher Normen, und die Aufgabe des Staates bestand darin, die vollständige Durchführung dieser Gesetze zu sichern. In diesem Sinne war nicht der Mensch sondern die Tradition bzw. die Religion das Zentrum des weltlichen Lebens, dem die Menschen zu dienen und das sie zu schützen hatten. Durch die Aufklärungsbewegung wuchs der Mensch zu einem autonomen Subjekt heran und entwickelte auf der Basis seines Denkvermögens und seiner Vernunft einen menschlichen Gesetzesrahmen, der ihm dienen sollte. Dadurch gelang es dem Menschen, an der Gestaltung seines eigenen Lebens, aber auch an gesellschaftlichen Vorgängen aktiv teilzuhaben. Das Wesen des Menschen wur10

1.1 EINLEITUNG

de dadurch erhöht, und ihm wurde das Recht auf individuelle Freiheit erteilt, was bis dahin – zum Schutz der kollektiven Werte der Religion oder Tradition – im Schatten der kollektiven Freiheit nicht möglich gewesen war. Auf diese Weise veränderte sich ebenfalls das Verhältnis zwischen Mensch und Staat, der bis zu dieser Zeit meist als die alleinige Autorität zur Verwirklichung der göttlichen Gesetze angesehen worden war. In modernen Gesellschaften herrscht ein duales Verhältnis zwischen Staat bzw. Gesellschaft und Individuen. Einerseits formen die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, Normen und Regeln das Wesen des Individuums, und auf der anderen Seite transformieren die Einzelnen durch ihr Denken und ihre Kritik die gesellschaftlichen sowie die politischen Strukturen. In solchen Gesellschaften werden Meinungsverschiedenheiten und Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Potential angesehen. Anders ausgedrückt, sind der Staat bzw. die Gesellschaft und das Individuum zwei Pole eines Zyklus, wodurch der Staat/ die Gesellschaft das Individuum und das Individuum den Staat/ die Gesellschaft beeinflusst. Gemeint ist eine Relation, bei der in einem modernen politischen System ein balanciertes Verhältnis zwischen Staat bzw. Gesellschaft und Individuum langfristig funktionieren kann. Wird einer dieser Pole durch den anderen unterdrückt bzw. blockiert, zerbricht dieser Zyklus, und es kommt zu gesellschaftlichen und politischen Spannungen. Die vorliegende Studie richtet sich bewusst auf die Untersuchung von nur einem Pol dieses Zyklus und beschäftigt sich überwiegend mit dem gesellschaftlichen und politischen Wandlungspotential, das durch Entstehung und Wachstum eines autonomen Individuums – eines Subjekts – geprägt werden kann. Der Grund dieser einseitigen Betonung liegt in der politischen und traditionellen Struktur des zu untersuchenden Landes, in dem die Kollektivität Vorrang vor der Individualität hat und die individuelle Freiheit im Schatten der kollektiven Freiheit stark unterdrückt wird. Dabei handelt es sich um die Frage, inwiefern die Anerkennung bzw. Ablehnung der Subjektivität der Menschen – im Sinne von Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung – die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft und die Entwicklung von Freiheit beeinflusst. Das wird anhand eines Vergleichs zwischen Theorien der Moderne, die auf der Anerkennung der Subjektivität des Menschen beruhen, und ausgewählten islamisch-fundamentalistischen Konzeptionen, die das Subjektivitätsprinzip ablehnen, untersucht. Das letztere wird am Beispiel des Iran in einem Kapitel näher beleuchtet, wo Kollektivität und kollektive Freiheit auf der Basis der Religion die maßgebenden Normen sind. Dabei geht die Arbeit von der Hypothese aus, dass der Konflikt zwi11

1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

schen dem politischen System des Iran und der jungen Generation des Landes vor allem ein Konflikt zwischen Ablehnung und Anerkennung des Individuums und seiner Freiheiten ist. In einem solchem System fehlt einerseits die Anerkennung der Subjektivität und Autonomie des Menschen zur Gesetzgebung und Selbstbestimmung und andererseits die individuelle Freiheit als Gegengewicht für die Gestaltung einer funktionierenden Gesellschaft. Im Verlauf dieser Forschungsarbeit soll gezeigt werden, inwiefern die fehlende Balance zwischen Kollektivität und Individualität zur Entwicklung gesellschaftlicher und politischer Konflikte führt. Dabei werden im Rahmen der theoretischen Analyse die Rolle der Bildung bei der Entfaltung des Menschen zum Subjekt, seine Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Politik sowie sein Verlangen nach Freiheit in Betracht gezogen. Denn wie es Hegel darstellt, gilt Bildung als Verstärkung individueller sowie allgemein-kultureller und gesellschaftlicher Prozesse. Außerdem ist nach Hegel der Mensch erst dann frei, wenn er sich mittels seiner Vernunft bewusst wird, dass er frei ist. Dieses Bewusstsein kommt durch Bildung zustande. Die Arbeit geht von der Hypothese aus, dass ein steigendes Bildungsniveau der Bevölkerung einen außerordentlichen Einfluss auf die Entstehung gesellschaftlicher und politischer Konflikte hat. Denn erst durch Bildung kann der autonome und unabhängig entscheidungsfähige Mensch sich entfalten. Die Geburt solch eines autonomen Menschen führt zur Kritik an den herrschenden Konstellationen. Eine riesige Welle neuer Erwartungen seitens des selbständig handelnden und denkenden Menschen fordert eine Veränderung seines Handlungsraums ein. Im Fall des Iran verhindern die kulturellen, religiösen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen viele Möglichkeiten für den Aufstieg des Subjektes und die Einsetzung dieser neuen Erwartungen und Ansprüche. Das liegt vor allem an starren religiösen Grundsätzen, die der Mensch als ein selbständiges entscheidungsfähiges Wesen ablehnt. Es entsteht ein Konflikt zwischen dem Verlangen nach Anerkennung individueller Autonomie seitens der Bevölkerung und der religiösen Autorität, die zum Schutz der religiös-kollektiven Werte jeder Art von Veränderung und Wandlung entgegen tritt. Hier ist das Wesen des Individuums im Rahmen der kollektiven Werte und Vorschriften definiert, und die Freiheit ist nur im Rahmen der kollektiven Freiheit vorstellbar.

1.1.1

Forschungsstand

Seit mehr als zwei Jahrhunderten beschäftigt sich die Wissenschaft mit der Moderne und der Modernisierung. Es gibt eine große Anzahl wissenschaftli12

1.1 EINLEITUNG

cher Arbeiten und Forschungen zur Problematik der Modernisierung in den islamischen Staaten. Jedoch nur in wenigen dieser wissenschaftlichen Beiträge (zumindest bezüglich des Iran) wurde einerseits zwischen Moderne und Modernisierung differenziert und anderseits die Rolle der Bildung als wichtiger Faktor auf dem Weg zur Entwicklung der „Moderne“ betrachtet bzw. sie wurde nur oberflächlich untersucht. Wer eine vergleichende und empirische Forschung über die Entwicklung in diesen Staaten vornehmen will, wird schnell feststellen, dass sehr wenig Literatur zum Thema Bildung und Entwicklung der Moderne vorhanden ist. Diese Lücke ist im Fall des Iran, sowohl bei deutsch- und englischsprachigen Quellen als auch bei den farsisprachigen Werken, besonders auffällig. Insgesamt lassen sich drei Kategorien für die Quellen bezüglich des Themas „Moderne“ oder „Moderne und Bildung“ in englischer, deutscher und persischer Sprache unterscheiden: Die erste Gruppe beschäftigt sich mit dem Thema Bildung und ihrem Einfluss auf die Modernisierung im Iran. Zu diesen wissenschaftlichen Beiträgen zählt das Werk von Joseph Szyliowicz. In seinem Buch “Education and Modernization in the Middle East” (1971) befasst sich der Autor mit dieser Thematik. Seine Untersuchung gilt als vergleichende Studie, da er den Prozess der Modernisierung im Zusammenhang mit Bildung in drei Ländern – nämlich Ägypten, Türkei und Iran – vergleicht, mit dem Ziel, empirisch nachzuweisen, wie Bildung den Prozess der Modernisierung fördern kann. Auch die Studie von Gerhard Grämmer „Das iranische Bildungswesen unter Berücksichtigung der sozialökonomischen Entwicklung” (2003) leistet einen wertvollen Beitrag zu diesem Forschungsfeld. Sie befasst sich im Allgemeinen mit der Entstehung und Entwicklung des modernen Bildungssystems im Iran und dem damit verbundenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel in diesem Land. Dabei wurden allerdings die Moderne und der Einfluss der Bildung auf ihre Entstehung nicht thematisiert. Der Zusammenhang von Bildung und Modernisierung wurde ebenfalls von iranischen Intellektuellen und Autoren, sogar bereits vor der konstitutionellen Revolution im Iran (1906), in Betracht gezogen. Darunter zu nennen sind die Werke von Zein’olabedin Maraghe-ie. Zur Zeit ist Ramin Jahanbaglou einer der wichtigsten Vertreter dieses Forschungsfeldes, der die Bildung im Zusammenhang mit Modernisierung (aber nicht Moderne) und das damit verbundene wirtschaftliche Wachstum betrachtet. Die Frage, inwiefern durch Bildung ein Subjekt entsteht und sich ein autonomes Individuum entwickelt, das die Politik mitgestaltet, wurde im Rahmen dieser Werke und Studien 13

1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

kaum beantwortet. Das liegt vor allem daran, dass bei den genannten Autoren keine konkrete Unterscheidung zwischen Moderne und Modernisierung vorgenommen wurde. Die zweite Gruppe von Literatur setzt sich mit der Thematik der Moderne im Iran auseinander, wobei bei manchen Autoren hin und wieder die Grenze zwischen Moderne und Modernisierung verwischt wird. In diesem Bereich haben vor allem die iranischen Philosophen und Politikwissenschaftler überwiegend auf Englisch und Farsi sehr wertvolle Beiträge geleistet. Zu diesen Werken gehören unter anderem „Iraner und der Gedanke der Modernisierung“ (1996) von Jamshid Behnam, “Negotiating modernity in Iran” (1996) von Ali Mirsepassi, “Modernity and its Foes in Iran” (1998) von Abbas Milani, “God and Juggernaut” (2002) von Farzin Vahdat, Werke von Javad Tabatabaei, unter anderem „Die Tabriz-Schule und die Grundlagen des Modernismus“ (2005), „Die Theorie von der Herrschaft des Gesetzes im Iran“ (2007) und „Die Kontroverse von Alt und Neu“ (2008) etc. Im Rahmen dieser Werke wurden die Grundlagen der Moderne, namentlich „Subjektivität“ und „freies Denken“, behandelt und vor allem in den Werken von Tabatabaei und Vahdat grundlegend untersucht. Dennoch bleibt eine wesentliche Frage in diesen Werken kaum behandelt, nämlich wie es dem Menschen überhaupt gelingt, frei zu denken und sich zu einem Subjekt hinauf zu entwickeln. Javad Tabatabaei, einer der bedeutendsten iranischen Philosophen und Theoretiker, der sich hauptsächlich mit dem Phänomen „Moderne“ und ihrer Entwicklung in Iran beschäftigt hat, betrachtet das Gesetz als die wichtigste Grundlage auf dem Weg zur Entwicklung der Moderne im Iran und ist der Meinung, dass eine moderne Gesellschaft erst durch Ausprägung einer modernen Gesetzgebung (entspricht einem menschlichen Gesetz) zustande kommen kann. Ausgehend von dieser Hypothese untersuchte Tabatabaei im Rahmen seiner Werke die „Subjektivität“ und Vernunftbildung und deren Einfluss auf die Ausprägung menschlicher Gesetzgebung sowie die Folgen, die dieser Prozess auf die politische Gestalt des Landes gehabt hat bzw. haben könnte. Jedoch bleibt die Frage nach den Mitteln für die Entstehung der 3 Subjektivität bei ihm offen. Auch Farzin Vahdat hat das Thema „Subjektivität“ und seine Bedeutung für die Ausprägung der Moderne sowie die Auseinandersetzung der irani3

Vgl. Tabatabaei, J. (2008): „Die Kontroverse von Alt und Neu“, Teheran: Sales Verlag; und Tabatabaei, J. (2007): „Die Theorie von der Herrschaft des Gesetzes im Iran“, Teheran, Sotoudeh Verlag.

14

1.1 EINLEITUNG

schen Denker, Philosophen, Politiker und politischen Aktivisten damit im Laufe von fast 100 Jahren – vor der konstitutionellen Revolution bis zur Zeit 4 nach der islamischen Revolution – untersucht. Seine Werke stellen neben denjenigen von Javad Tabatabaei eine wertvolle Quelle zur Analyse des Wandels der Themen Moderne und Subjektivität innerhalb der iranischen Intellektuellen dar. Dennoch geht er wie auch Tabatabaei nicht der Frage näher nach, wie ein Subjekt zustande kommt. Ebenso wird der Zusammenhang von Bildung und Geburt eines Subjektes von keinem dieser Denker angesprochen. Zur dritten Gruppe gehören Autoren wie „Akbar Ganji“ und „Sadegh 5 Ziba Kalam“, die die Moderne im Zusammenhang mit „Religion“ und „Zentralisierung der politischen Macht“ behandelt haben. Viele religiöse Ansichten wie der Glaube an den „verborgenen Imam“ wurden von ihnen kritisiert 6 und die Entwicklung eines säkularen politischen Systems gefordert. Zudem wurde bei ihnen die soziale und politische patriarchalische Struktur des Landes als Hindernis für die Entwicklung der Moderne betrachtet. Inwiefern aber Bildung zur Auflösung dieser Strukturen beiträgt, wurde kaum behan7 delt. Die oben erwähnten Forschungen beinhalten viele wichtige Faktoren, die zur Entwicklung einer modernisierten und modernen Gesellschaft beitragen können. Dennoch fehlt es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Studie in den wissenschaftlichen Debatten bisher noch an einer analytischen und vergleichenden Untersuchung zwischen einzelnen europäischen Denkern der Moderne und einzelnen iranischen Denkern, mit der Zielstellung, die wichtigsten Denkunterschiede und Hindernisse auf dem Weg zur Entwicklung der Moderne im Iran darzustellen. Diese Studie versucht diesen Mangel auszugleichen und eine wichtige Forschungslücke zu schließen. Außerdem wurde eine wichtige Frage in bisherigen Werken außer Acht gelassen, nämlich die Frage nach dem Verlauf der Entstehung von Subjektivität und der wesentlichen Rolle, die die Bildung in diesem Prozess spielt. Durch die Behandlung dieser Frage können die Gründe für den Konflikt zwischen dem Staat 4 5 6 7

Vgl. Vahdat, F. (2002): “God and Juggernaut. Iran’s Intellectual Encounter with Modernity”, New York NY: Syracuse University Press. Ziba Kalam beschäftigt sich außerdem mit den Themen „Vernunftorientierung“ und „Moderne“. Zwar wird Säkularisierung von Ganji gefordert, da er selbst sich jedoch als gläubiger Muslim bekennt, kommt es in seinen Werken oft zu einem Konflikt zwischen seiner Sehnsucht nach Moderne und seinen Glaubensprinzipien. Vgl. Ziba Kalam, S. (1995): „Wie sind wir Wir geworden? Gründe des Zurückbleibens des Iran“, Teheran: Rozaneh Verlag.

15

1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

und der gebildeten iranischen Bevölkerung näher aufgeklärt werden, vor allem dort, wo die Vereinheitlichungsprinzipien des Staates – deren Zweck der Schutz der kollektiven gottgegebenen Normen und Gesetze ist – mit dem Verlangen nach individueller Entfaltung seitens der Bürger in Konflikt geraten. Dabei wird die Rolle der Bildung weit über die Grenzen der Industrialisierung und Modernisierung hinaus untersucht. Es soll gezeigt werden, wie Bildung zur Entstehung von einem Subjekt bzw. einem modernen Menschen und einer modernen Gesellschaft beiträgt, was in den bisherigen Forschungen nicht bzw. nur am Rande behandelt worden ist. Die vorliegende Untersu8 chung versucht diese Mängel auszugleichen. Ausgehend vom Prinzip der Subjektivität in der Moderne wird die Akzeptanz dieses Prinzips bei den islamischen Fundamentalisten im Iran untersucht. Durch einen Vergleich zwischen „Moderne“ und „Fundamentalismus“ soll gezeigt werden, welche enormen gesellschaftlichen und politischen Folgen das Prinzip der Subjektivität und die Bildung zur Subjektivität für den Iran gehabt hat bzw. haben kann. Insofern stellt dieses Vorhaben einen relevanten Forschungsgegenstand für die vergleichende Politikforschung dar.

1.1.2

Methode

In Bezug auf die methodische Vorgehensweise werden anhand der ideologischen Eckpunkte die Bestimmungsfaktoren für die gegen das Subjekt gerichtete politische Entwicklung nach der Revolution von 1979 herauszuarbeiten sein, um anschließend nach dem Beitrag des Bildungssystems zur Entfaltung der Subjektivität – trotz staatlicher Unterdrückung – in der iranischen Gesellschaft und damit nach der steigenden Divergenz und Kontroverse zwischen dem Staat und der iranischen Bevölkerung zu fragen. Das methodische Vorgehen der Studie orientiert sich an der qualitativen Inhaltsanalyse sowie Dokumentanalyse und basiert auf Daten aus der Fachliteratur, aus der Presse und aus Veröffentlichungen diverser staatlicher Institutionen. Zu diesem Zweck wird nach der Darstellung des Staatsmodells von Khomeini und Motahhari die politische Entwicklung hinsichtlich der Verwirklichung dieses Modells untersucht, wobei der Versuch unternommen wird, den Kampf mit der Subjektbildung und Individualität vor dem Hintergrund der Errichtung einer islamisch-vereinheitlichten Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Bildung und ihre Rolle als wichtiges Mittel gegen diese Politik 8

Zu beachten ist, dass der dargestellte Forschungsstand sich nur auf die farsi-, englisch- und deutschsprachigen Quellen bezieht. Ob und inwiefern dieses Thema in anderssprachigen Quellen behandelt worden ist, ist mir nicht bekannt.

16

1.1 EINLEITUNG

wird anhand der Untersuchung und im Vergleich von Faktoren wie Bildung und Erziehungsmerkmalen in der Islamischen Republik Iran, Entwicklung der Anzahl der Bildungseinrichtungen, Bildungsniveau der iranischen Gesellschaft im Zeitraum nach der Revolution von 1979 und Rolle der Universitäten, an denen die meisten gesellschaftlichen und politischen Bewegungen wurzeln, untersucht. Die zwei Beispiele für steigende Divergenz zwischen Staat und Gesellschaft werden anhand statistischer Daten, Veröffentlichungen staatlicher Projekte sowie wissenschaftlicher Forschungen an und außerhalb der iranischen Universitäten und Institutionen sowie der iranischen Presse analysiert.

1.1.3

Fragestellung und Darstellung des Forschungsvorhabens

Nach der Begriffsdifferenzierung und Problemstellung im ersten Teil soll im Rahmen der theoretischen Analyse zunächst untersucht werden, was unter Subjektivität und Freiheit des Individuums zu verstehen ist, wie das Subjekt zustande kommt und welche Rolle Bildung in diesem Werdegang spielt. In Betracht gezogen werden sollen zudem die Auswirkungen, die die Ablehnung oder Anerkennung des Subjektes auf die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft haben oder haben können. Diese Fragen werden anhand eines Vergleichs zwischen den Theorien der Moderne von Kant und Hegel, die auf der Anerkennung der Subjektivität des Menschen beruhen, und islamisch-fundamentalistischen Konzeptionen von Khomeini und Motahhari (die wichtigsten politischen Denker der Islamischen Republik Iran), die das Subjektivitätsprinzip im Sinne von Moderne ablehnen, untersucht. Das letztere wird am Beispiel des Iran in weiteren Kapiteln näher unter die Lupe genommen. Ebenso wird die Bildungskonzeption der genannten Philosophen und Denker als Grundlage der Subjektbildung verdeutlicht. Ergänzend wird ein Vergleich zwischen den modernen und fundamentalistischen Subjektivitätstheorien gezogen. Abschließend zu diesem Teil wird der Zusammenhang zwischen Subjektbildung, Bildung und gesellschaftlichen sowie politischen Wandlungen dargelegt. Das dritte Kapitel befasst sich mit der Umsetzung der Konzeptionen von Motahhari und Khomeini in der postrevolutionären Gesellschaft des Iran und dem Umgang dieses ideologisch geprägten politischen Systems mit der Entwicklung des Subjekts. Dabei wird die Homogenitätspolitik des Staates – durch das Islamisierungsprojekt – zur Unterdrückung der andersdenkenden Subjekte und zum Schutz der kollektiven Werte und Durchsetzung der ideologischen Ziele dargestellt. 17

1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

Näher werden diese Politik und die gegen sie entwickelten gesellschaftlichen Strategien in Kapitel vier anhand zweier Beispiele dargestellt. Anhand dieser Beispiele wird analysiert, wie durch das wachsende Bildungsniveau der Bevölkerung ihre Erwartungen und die Förderung nach Selbstbestimmung gestiegen sind und inwiefern dies zur Auseinandersetzung mit dem Staat führt. Diese Beispiele sind in zwei Kategorien – Frauenpolitik und Hürden beim Übergang in den Arbeitsmarkt – aufgeteilt: a. Frauenpolitik: Besonders nach der islamischen Revolution wurde die Bildung von Frauen stark gefördert. Dies erfolgte zunächst deshalb, weil nach dem ersten Golfkrieg (1980–1988) die Regierung auf Grund der wirtschaftlich katastrophalen Lage nicht mehr auf die weiblichen Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt verzichten konnte. Auf der anderen Seite begrüßten die religiösen Familien die Islamisierung der Universitäten durch Geschlechtertrennung, Verschleierung usw., und die Frauen aus diesen Familien traten ih9 rer Ansicht nach „geschützt“ in die Gesellschaft ein. Die Anzahl der Frauen, die an Universitäten studieren, ist danach stark angestiegen. Zurzeit beträgt die Anzahl der weiblichen Studenten an den iranischen Universitäten mehr 10 als 60 Prozent. Demzufolge ist der Tätigkeitsbereich der Frauen, der nach islamischen Vorstellungen vornehmlich das „Zuhause“ war, stark ausgeweitet worden. Die Frauen finden ihre individuellen und politische Wege und versuchen ihr eigenes Lebensprojekt durchzuführen. Für Frauen haben sich die traditionellen und religiösen Werte wie „Kontaktvermeidung mit den Männern“ und „frühzeitige Eheschließung“ sowie „gottgegebene Rolle als Ehefrau und Mutter“ stark verändert. Hinzu kommt, dass Frauen dank des höheren Bildungsniveaus und stärkerer Präsenz im öffentlichen Raum sowie des Zugangs zu modernen Kommunikationssystemen neue zivilrechtliche Ansprüche und Erwartungen haben, für die das islamische Gesetz (feqh) keine angemessene Antwort bietet. Statt eine befriedigende Lösung für dieses Problem zu finden, hat der Staat beschlossen, die Ausweitung des Bildungsprozesses für Frauen zu beschränken, indem z.B. der jährliche Anteil der Frauen, die an den Universitäten aufgenommen werden können, beschränkt wurde. 9 10

Vgl. Davani, F. (2010): „Flucht als Krise und Entscheidungsprozes.: Eine rekonstruktive Analyse der Biografien iranischer Frauen mit Fluchterfahrungen”, Tönning: Der Andere Verlag, S. 87-89. So ist nach Hering der Anteil der Frauen an den iranischen Universitäten inzwischen tatsächlich höher als in den meisten Ländern Mitteleuropas. Vgl. ebd. S. 87.

18

1.1 EINLEITUNG

b. Hürden beim Übergang in den Arbeitsmarkt: Die Wirtschaft des Iran liegt überwiegend in den Händen des Staates bzw. religiöser Stiftungen, und deshalb sind mehr als die Hälfte der Berufstätigen im staatlichen Sektor tätig. Ein weiterer Konflikt zwischen der Moderne und der fundamentalistischen Grundlage der Staatspolitik entsteht durch die Qualifikationsmaßnahmen der Absolventen des Bildungssystems bei der Arbeitssuche. Der Unterschied besteht hier zwischen modernen Maßstäben, die eine Person nach ihrem fachlichen Können bevorzugt, und traditionell islamischen Maßstäben, ge11 mäß denen „die qualifizierte Person unter Menschen die Gläubigste ist“. Demzufolge wird über die Einstellung von Absolventen nicht nur gemäß ihrer fachlichen Eignung, sondern in einem Vorstellungsgespräch namens „Gozinesh“ (Selektion, Auswahl) entschieden, in dem der Bewerber/die Bewerberin verschiedene politische beziehungsweise fachliche Fragen bezüg12 lich des Islam beantworten soll, die zum Teil nur in der „Hawza“ unterrichtet werden. In diesem Teil der Arbeit werden die Ziele, die Vorgehensweise und die Ergebnisse dieser Selektion und deren Wirkung v.a. auf die junge Generation gebildeter Iraner dargestellt. Nach der Erläuterung von oben genannten Konfliktpunkten werden die politischen und gesellschaftlichen Maßnahmen des Staates gegen diesen Entwicklungsverlauf erläutert. Das verschärfte „Islamisierungsprojekt“, das als Mittel zur Minderung dieser Konflikte dienen sollte, führt selbst jedoch zur Entstehung weiterer gesellschaftlicher Divergenzen. Am Ende dieses Kapitels wird das Phänomen brain drain als Resultat des Islamisierungsprojekts erläutert. Im Schlussteil der Arbeit werden neben der Zusammenfassung Fragestellungen für weitere wissenschaftliche Untersuchungen bezüglich der Rolle der Bildung bei der gesellschaftlichen Wandlung des Iran vorgeschlagen.

11 12

Dem Prophet Mohammad zugeschrieben. Hawza sind die theologischen Hochschulen für die Ausbildung der schiitischen Geistlichkeit, die im Allgemeinen durch die religiöse Autorität, den Mardja`-e taqlid, errichtet wurden. Vgl. Grämmer, G. (2003): : „Das iranische Bildungswesen unter Berücksichtigung der sozialökonomischen Entwicklung”, Hamburg.

19

1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

Abbildung 1: Thematische Darstellung des Dissertationsvorhabens Was ist Moderne?

Was ist die Basis von Moderne?

Anerkennung von Subjektivität

a. Kant und Hegel b. Khomeini und Motahhari

Was ist Subjektivität?

Wie kommt sie zustande?

Durch Bildung

a. b.

Kant und Hegel Khomeini und Motahhari

a. b. c.

Frauen und Bildung Qualifikationsmaßnahmen brain drain

Wie kann Bildung zur gesellschaftlichen Wandlung und Freiheit beitragen?

Wann führt Bildung zu gesellschaftlichen bzw. politischen Konflikten?

Herrschendes Ungleichgewicht zwischen Wandlungsbereitschaft und veränderten Erwartungen

Beispiele

Perspektiven und Erfolgsvoraussetzungen Analyse und Schlussfolgerung

20

1.2 BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

1.2

Begriffsdifferenzierung und Problemstellung

1.2.1

Begriffsdifferenzierung: Moderne oder Modernisierung?

In der wissenschaftlichen Diskussion gibt es kein Einvernehmen darüber, was unter Kriterien der Modernisierung zu verstehen ist. Lexikalisch bezeichnet Modernisierung „den ökonomischen, politischen und sozialen Wandel in Gesellschaften, die sich von traditionellen Agrargesellschaften zu 13 hochentwickelten und demokratischen Industriegesellschaften entwickeln“. In den Worten des Historikers Wehler ist Modernisierung „ein revolutionärer, unausweichlicher, irreversibler, globaler, komplexer, systematischer, langwieriger aber in Phasen unterteilbarer, tendenziell homogenisierender 14 und – last but not least – progressiver Prozess“. Soziologen verstehen unter Modernisierung den Prozess der Transformation des Menschen, seiner Gesellschaft und Kultur, der mit Umwandlung vieler Elemente sozialer Werte, das heißt Religion, Philosophie und Wissenschaft, hoher Rationalität und Individualisierung und großer soziale Mobili15 tät verbunden ist. Allgemein bezeichnet politische Modernisierung Bestrebungen, die versuchen, demokratische Strukturen und Verfahren im Sinne einer möglichst umfassenden Partizipation von Bürgern an der Entscheidungs16 findung in relevanten gesellschaftlichen Bereichen zu verankern. Es besteht kein Konsens über diese Definitionen, jedoch, wie groß auch sonst die Meinungsdifferenzierungen sein mögen, in einigen Punkten scheint es weitgehende Übereinstimmungen zu geben, nämlich darin, dass die Ablösung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Strukturen von der Tradition die notwendige Voraussetzung für den Eintritt in die Moderne ist. Dabei soll jedoch am Anfang dieser Studie eine Unterscheidung zwischen Modernisierung und Moderne vorgenommen werden. Moderne ist hier nicht zu verwechseln mit sozialen und politischen Änderungen und Institutionen, die, wie oben erwähnt, in Studien und Werken vieler Wissenschaftler als soziale bzw. politische Modernisierung bezeichnet 13 14 15 16

Vgl. Gumbrecht, H. U. (1978): „Modern, Modernität, Moderne“, in: Brunner, O., Conze, W., Koselleck, R. (Hg.): „Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“, Stuttgart: Klett-Cotta, Bd. IV. Vgl. Wehler, H. U. (1975): „Modernisierungstheorie und Geschichte“, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 16. Vgl. Azyliowicz, J. S. (1973): “Education and Modernization in the Middle East”, Ithaca, NY: Cornell University Press, S. 4; und Eisenstadt, S. N. (1966): “Modernization. Protest and Change”, Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall, S. 4-5. Vgl. Holtmann, E. (Hg.) (2000): „Politik-Lexikon“, München, Wien: R. Oldenbourg, S. 117.

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1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

werden. Wie bereits in den oben genannten Definitionen gesehen, wird die Transformation der Gesellschaft von „traditioneller“ zur „Moderne“ als „Modernisierung“ bezeichnet. Ich verstehe jedoch unter sozialer bzw. politischer Modernisierung eher Wandlungen in bzw. Entstehung von subjektiven Phänomenen und Institutionen, die in neuen Zeiten durch Steigerung des technischen und wissenschaftlichen Wissens der Menschen und ihrer historischen Erfahrungen in der Gesellschaft zustande gekommen sind. Phänomene wie Kommunikationstechniken, moderne Verkehrsmittel, wissenschaftliche Institutionen wie Universitäten, Forschungsinstitutionen und Bibliotheken, politische Institutionen wie das Parlament und die Regierung, aber auch wirtschaftliche, fiskale und industrielle Institutionen wie Banken, Börsen, Gewerkschaften und Unternehmen gehören zu Merkmalen des Modernisierungsprozesses und einer modernisierten Gesellschaft. Diese Merkmale der Modernisierung scheinen mir eher die Entwicklung einer Verwaltung zu bezeichnen, durch die versucht wird, die Gesellschaft neu zu organisieren bzw., wie Giddens es formuliert, „… to gain the regularized control of social relati17 ons across indefinite time-space distances“. Dies kann rein oberflächlich und ohne jegliche tiefgreifende Änderung bzw. Anpassung in der Mentalität und das Verstehen der Menschen und ihrer Werte von anderen Gesellschaften adaptiert werden. In vielen Entwicklungsländern der Welt, von Saudi Arabien bis zu Mexiko, fahren die Menschen mit ihrem Mercedes durch die neu gebauten und modernen Straßen und Autobahnen, telefonieren mit ihren iPhones und arbeiten in ihrem Büro mit den neuesten Rechnern. In den meisten Entwicklungsländern gibt es Parlamente, Judikative und Exekutive. Sie verfügen über diverse Universitäten, Unternehmen, Fabriken, Banken, etc. Deshalb sind sie aber längst nicht automatisch moderne Gesellschaften. Denn die Moderne beginnt, genau wie die Demokratie, erst im Kopf jedes 18 Einzelnen. Kant formuliert die Moderne als „Selbstverwirklichung“. Das ist der Grund, warum die entwickelten Länder zwar die Maschinen und bürokratischen Systeme, aber nicht die Demokratie und die Moderne in andere Länder exportieren können, weder durch Krieg noch mit fortgeschrittener Technik und Wissenschaft. Um einen modernen Menschen bzw. eine moderne Gesellschaft zu erzielen, sollten aber die Hauptsäulen der Moderne in einer Gesellschaft einge17 18

Vgl. Giddens, A. (1991): “Modernity and Self-Identity. Self and Society in the late Modern Age”, Stanford, CA: Stanford University Press, S. 16. Vgl. Kohlstruck, M. (1990): „Person, Subjektivität, Individualität. Materialien zur philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion über Individualisierung und Bildung“, Bremen: Univ. Publ. Vertriebsverlag, S. 47.

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1.2 BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

richtet bzw. verankert werden. Der Grund ist die Annahme, dass die Moderne nur von innen, von den Menschen aus und in einem Land selbst beginnen und heranwachsen kann, während Modernisierung auch von außen übertragbar ist. Während eine moderne Gesellschaft das Potenzial besitzt, sich von innen zu modernisieren, hat ein modernisiertes Land kaum die Möglichkeit, Moderne von anderen Gesellschaften einfach anzunehmen. Wie im Folgenden gezeigt wird, macht die Entwicklung des Begriffs „Moderne“ deutlich, dass Moderne ein dynamischer, herausfordernder und wachsender Prozess ist, in dessen Verlauf enorme und grundsätzliche Änderungen und Fortschritte vor allem in weltanschaulichen und philosophischen Bereichen des menschlichen Lebens, seiner Werte und seines Seins zustande gekommen sind. Vor allem half die Moderne der Menschheit, indem sie die Frage nach Subjektivität und Unabhängigkeit des Menschen und seinen Fähigkeiten zum zentralen Thema ihrer Ära machte. Der Mensch wurde von jeglicher Unterwerfung unter gesellschaftliche, religiöse und traditionelle Zwänge, und allen Ketten, die ihn an die Vergangenheit banden, befreit. Die in den modernen Gesellschaften entwickelten Begriffe wie Individualität, Rationalität, Pluralismus, Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte, Demokratie und Gesetzlichkeit, die die Fundamente und zugleich das Wesen der Moderne bilden, sind im Laufe einer politisch-philosophischen Entwicklung innerhalb mehrerer Jahrhunderte und durch wachsendes Selbst- bzw. Zeitbewusstsein sowie als Antwort auf die Bedürfnisse der Zeit ausgeprägt worden. Fällt diese Entwicklungsbasis, kann von Moderne und einer modernen Gesellschaft 19 kaum die Rede sein. Obwohl Europa der Geburtsort der Moderne ist, ist Moderne kein westliches, sondern ein universelles Phänomen. Jamshid Behnam setzt Modernisierung mit Verwestlichung gleich, da es sich lediglich um die Übertragung von 20 moderner Technik und Institutionen handele. Moderne jedoch kann mit Verwestlichung nicht gleichgesetzt werden, denn jede Gesellschaft muss die Grundlagen der Moderne aus sich heraus und angesichts ihrer historischen und gesellschaftlichen Erfahrungen bilden und etablieren. Dieser Unter-

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Ein anderer Unterschied zwischen Modernisierung und Moderne besteht darin, dass Modernisierung von oben und von der Regierung durchgeführt wird, während Moderne von unten und durch eine gesellschaftliche Bewegung zustande kommt.Vgl. Hoodashtian, A. (2002): „Moderne, Globalisierung und der Iran“, Teheran: Chap Pakhsh Verlag. Vgl. Behnam, J. (1996): „Iraner und der Gedanke von Modernisierung“, Teheran: Froozan Rooz Verlag, S. 2.

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1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

schied und die Bedeutung der Untersuchung der Grundlagen der Moderne können am Beispiel des Iran verdeutlicht werden.

1.2.2

Problemstellung: Modernisierung und Moderne in Iran

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Dank des wachsenden Kontakts zu Europa und des steigenden Öleinkommens besonders innerhalb der letzten 100 Jahre hat sich der Iran in vielerlei Hinsicht zu einem modernisierten Land entwickelt. Das ist in verschiedenen Ebenen vom persönlichen bis hin zum gesellschaftlichen Leben sichtbar. Das Land hat moderne Städte, Straßen und Gebäude, es verfügt über eine Regierung, ein Parlament und eine Verfassung. Diverse Universitäten und Bildungseinrichtungen sowie Medien wurden im Land eingerichtet. Diese „modernen“ Institutionen trennen die Iraner von einer Vergangenheit ohne sie, und das Land ist ohne diese Institutionen kaum vorstellbar. Die Modernisierungsversuche, welche von Hoodashtian als „unsichtbares Netz von Wand22 lung“ bezeichnet werden, haben Spuren hinterlassen und machen es den Iranern sehr schwer zu ihrer Vergangenheit zurückzukehren. Es ist fast unmöglich, das Parlament oder die Regierung auf einmal aufzulösen oder die Medien komplett zu vernichten, und sogar wenn es der Fall wäre, ist es unmöglich, die Einflüsse, die diese Wandlungen hinterlassen haben, völlig zu beseitigen. Die modernisierte Gesellschaft des Iran hat es aber nicht völlig geschafft, die wesentlichen Merkmale der Moderne zu entwickeln. Ein modernisiertes Land schafft es nicht die Demokratie zu verwirklichen, ohne die Moderne zu 21

22

Der kurze Einblick in die hier erläuterte Geschichte beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Iran in den letzten 150 Jahren. Es ist aber erwähnenswert, dass die Auseinandersetzung der Iraner mit dem Thema „Individualität“ und „Subjektivität“ des Menschen, die im Rahmen dieser Arbeit als wichtigste Basis der Moderne dargestellt wird, sowie die Rolle der Vernunft bei der Gestaltung des menschlichen Lebens bereits zwischen dem 7. und 12. Jh. in verschiedenen Weisen thematisiert wurden. Auch entwickelten sich vernunftorientierte Schulen (zu deren wichtigsten die Mu’tazila gehören), die beispielsweise die Vernunft für das Verstehen der Religion ausreichend fanden und jede Art von Gefolgschaft in religiösen Angelegenheiten ablehnten, und ferner die Meinung vertraten, dass der Mensch in diesen Angelegenheiten frei entscheiden und handeln soll. Das ist auch ein Grund, warum meines Erachtens nach Moderne (im Gegensatz zu Modernisierung) nicht als ein europäisches, sondern als ein menschliches Phänomen bezeichnet werden sollte. Mehr zu diesem Thema vgl. u.a.: Kraemer, J. L. (1992): “Humanistic in the Renaissance of Islam. The Cultural Revival during the Buyid Age”, Leiden, u.a.: Brill Paperbacks, 2. ed.; Browne, E. G. (1919); und (1959). Für eine Antwort auf die Frage, warum es der Iran trotz dieser Basis nicht geschafft hat, die Moderne und vernunftorientiertes Denken und Handeln in sich zu verankern, vgl. Javadi P. „Geschichte des Bildungssystems im Iran: Die Interaktion von Bildung und Politik“, in Bearbeitung. Vgl. Hoodashtian, A. (2002).

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1.2 BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

kennen und an der Bildung ihrer Grundlagen zu arbeiten. Es ist durchaus möglich, dass die Modernisierung eines Landes der Gesellschaft einen Hauch von Demokratie bietet, jedoch ist Modernisierung ohne die wertvollen Grundlagen der Moderne nicht in der Lage, ein Land und eine Gesellschaft in die Demokratie zu führen. Durch einen kurzen Überblick über die historische Entwicklunge der Modernisierung können die Gründe erläutert werden. Obwohl die ersten Modernisierungsversuche im Iran bereits im Jahr 1599 (von Shah Abbas) durch Modernisierung der Armee mit Hilfe von Englän23 dern zustande gekommen sind, entstanden die ersten Erfahrungen und Kontakte mit der Modernisierung im Iran besonders während der Herrschaft der Kadscharen-Dynastie (1785–1925) und in einer Reihe von Modernisie24 rungs- bzw. Reformversuchen von Abbas Mirza. Neben Reformen im Heereswesen, der Gründung einer Kanonenfabrik und der Entwicklung und Unterstützung von Kleinindustrien auf dem Lande wurden einige junge Iraner nach Europa geschickt, um sich mit den Fortschritten in der Kriegsindustrie vertraut zu machen. Gleichzeitig wurden französische und britische Offiziere in den Iran eingeladen, um das Militär zu trainieren. Verschiedene wissenschaftliche, technische und literarische Bücher wurden aus europäischen Sprachen ins Persische übersetzt. Diese Reformen in der Kadschar-Dynastie wurden während der Amtszeit von Ministerpräsident Amir Kabir (1807– 1852) fortgesetzt. Seine Amtszeit war verbunden mit den ersten Versuchen der politischen bzw. sozialen Modernisierung im Iran durch Gründung der 25 ersten modernen Hochschule des Landes und neuer Ministerien, Reorganisation des Finanz- und Steuersystems sowie des Gesundheitswesens. Auch

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Bereits 1599, während der Amtsperiode von Shah Abbas dem Großen (1587–1629 Schah der Safawiden-Dynastie) wurde die Armee des Iran von den Engländern modernisiert, wodurch der Iran die Osmanen im Krieg besiegen konnte. Diese Kontakte waren jedoch sehr gering und auf den militärischen Bereich beschränkt. Abbas Mirza (1783–1833) war ein Kadschar-Prinz, Sohn des Königs Fath Ali Shah und sein rechtmäßiger Nachfolger. Der Ruf des „Reformers“ wurde ihm für seine Bemühungen um die Modernisierung des Iran und für seine Tapferkeit in den Kriegen gegen Russland und die Ottomanen verliehen. Vgl. Najmi N. (1999): „Leben, Charakter und Reformen von Abbas Mirza“, Teheran: Elmi Verlag. Jean Chardin schreibt: “When this great Prince (Abbas Mirza I) ceased to live, Persia ceased to prosper”, in: Katouzian, H. (2010): “The Persians. Ancient, Medieval and Modern Iran”, New Haven and London: Yale University Press, S. 112. Mit der Gründung des Dar al-Fonoun hatte der Iran erstmals nach der Auflösung der berühmten höheren akademischen Anstalten – der mehr als 800 Jahre zuvor aufgelösten, von Schapur I. 271 gegründeten Akademie von Gundishapur sowie der unter dem persischen Großwesir Nizam al-Mulk errichteten Nizamiyahs – wieder eine akademische Lehr- und Forschungsstätte.

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1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

die zweite Zeitung des Iran „Vaghayeol Etefaghiyeh“ wurde im Jahre 1851 27 veröffentlicht. Obwohl diese Beispiele zu den wertvollen Versuchen zur Modernisierung des Landes gehören, erwecken sie den Eindruck, dass in dieser Periode kein Bedürfnis für das Verstehen der Moderne vorhanden war. Sogar die verschiedenen Europareisen von Nasser ad-Din Schah (1831–1896), der fast 50 Jahre lang in dem Land herrschte, hatten nicht zu einer grundsätzlichen Untersuchung der Gründe für die enormen Entwicklungen in den europäischen Ländern geführt. Diese Reisen waren nicht mit einer Wandlung der Gedanken der Herrscher, sondern lediglich mit hohen Kosten verbunden gewesen, deren Ergebnis die Schwester des Schahs Tajol-saltane in ihrem Tagebuch folgendermaßen beschreibt: 26

Die Europareisen meines Bruders sind denen von Peter dem Großen sehr ähnlich. Alle Ergebnisse, die er erzielte, hat mein Bruder auch 28 erzielt, bloß umgekehrt. Die zweite Modernisierungsphase in Iran stellt ein sehr gutes Beispiel für die Entwicklung von politischer Modernisierung dar. Mit der konstitutionellen Revolution im Iran (1906–1911), die von vielen Autoren als „Revolution für das Gesetz“ bezeichnet worden ist, begann einer der bedeutendsten politischen Modernisierungsversuche, der zur Schaffung des ersten iranischen Grundgesetzes, zur Gründung des Parlaments und zur Durchführung von Wahlen führte. Das war das erste Mal, dass in der politischen Geschichte des Iran die Regierung bzw. das Königtum konditioniert worden war und sich an 29 Gesetze halten sollte. Mit dieser Revolution gewannen Begriffe wie Gesetz, 26

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Die erste Zeitung im Iran wurde im Mai 1837 von Mirza Saleh Shirazi veröffentlicht. Jedoch wurden nur acht Nummern dieser Zeitung innerhalb einer dreimonatigen Periode herausgegeben. Sie hieß Nachrichten-Blatt (Kaghaze Akhbar), was eine wörtliche Übersetzung des Worts „newspaper“ in die persische Sprache bedeutet. (Dies zeigt, dass sogar die Namen von modernen Phänomenen nur wortwörtlich übernommen worden waren). Vgl. Adamiyat, F. (1975): “Amir Kabir and Iran”, Teheran: Kharazmi Verlag. Vgl. Behnam, J. (1996): S. 35 (freie Übersetzung Parvin Javadi). Eine solche „Revolution für das Gesetz“ hätte niemals in Europa stattgefunden, denn in europäischen Ländern hat es niemals eine Regierung ohne jegliche Beschränkungen und mit absolutem Herrscher (saltanate motlaghe) gegeben. Das liegt vor allem daran, dass in Europa der Grande unabhängig und immer ein Gegengewicht zur Macht der König gewesen ist, und dieses Gleichgewicht der Macht führte zu frühzeitiger Entwicklung von Gesetzen in Europa. Anders formuliert, in Europa existierte bereits ein konditioniertes Königtum. Im Gegensatz dazu konnten die iranischen Granden über Nacht all ihr Vermögen und ihre Existenz durch den Shah verlieren bzw. über Nacht an die Macht kommen, so dass ein wirkliches Gegengewicht zum Schah immer fehlte. Vgl. Tabatabaei, J. (2008), Tabatabaei, J. (2007); und Katouzian, H. (2010).

26

1.2 BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

Konstitution, Wahlen u.a. immer mehr an Bedeutung. Zwar wurde durch diese Revolution ein wichtiger Grundstein einer Demokratie und eines politisch modernisierten Systems im Iran gelegt, jedoch kam der wichtigste Anreiz dafür nicht aus der Sehnsucht nach Demokratie und Freiheit, sondern aus der Notlage und dem Verlangen nach Gerechtigkeit. Nach dem Terror von Naser 30 Ad-Din-Schah im Jahr 1896 verschwand langsam die einigermaßen stabile Ordnung, und das Land geriet in politisches, wirtschaftliches, gesellschaftli31 ches, kulturelles und militärisches Chaos. Dieses Chaos wird als Ergebnis des Verschwindens einer autoritären Macht angesehen. Denn das Land hatte die Erfahrung gemacht, dass ein Land wie der Iran, der immer wieder von ausländischen und natürlichen Mächten bedroht war, nur durch Herrscher willkür gerettet werden kann. Katouzian schreibt: Chaos had always been seen as the natural alternative to arbitrary rule, just as absolute and arbitrary rule had been regarded as the only alternative to chaos. Arbitrary rule (estebdad) was identified with stability and chaos (fetneh, ashub, enghelab and so forth) with 32 generalized Lawlessness. Neben dem Chaos brachte Ungerechtigkeit das Volk in eine Notlage. Der Monarch und seine verbündeten Offiziere, lokale Khans, Adlige (Shazdeh) und Magnaten plünderten das Volk und manche vergewaltigten sogar Frauen 33 und Mädchen, wie es ihnen recht war. Jedoch gab es kein Gesetz bzw. keine Justiz, die das Volk schützen konnte. Es gab auch kein Gesetz, das die Macht des Herrschers beschränken konnte. Das Land wurde jahrhundertelang von absoluten Herrschern regiert, ohne dass der Begriff Gesetz jemals eine Rolle spielte. In dieser Lage versuchten die iranischen Intellektuellen, einen Ausweg aus dieser Situation im Ausland zu finden. Außer wohlhabenden Familien 30

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Naser Al-Din Shah ist der erste König des Iran, der von einem Bürger aus den Mittelschichten im Namen von Gesetz, Gerechtigkeit und politischen Reformen getötet worden ist. Das ist ein modernes Phänomen, denn der Herrschermord war zwar eine übliche Methode für einen Regierungswechsel im Iran, diese geschah jedoch durch die Thronfolger oder anderen Verwandten des Schah und in manchen Fällen durch Militärs um an die Macht zu kommen. Vgl. Katouzian, H. (2010) S. 170. Vgl. Katouzian, H. (2010): S. 170-171 und Ahmadi, H. (2009): „Die Ziele der konstitutionellen Revolution“ (armanhaye enghelabe mashroutehin), Foroozesh Journal, Nr. 3, Sommer 2009, S. 16-19. Vgl. Katouzian, H. (2010): S. 176. Für die genauere Beschreibung dieser Plünderei vgl.: Die täglichen Berichte für Mozaffar al-Din Shah zwischen 1986 bis 1906 unter dem Namen „Mer‘at al Vaqaye‘-e Mozaffari“ und „Das Tagebuch von Malek al-Movarrekhin“.

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1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

und Geschäftsmännern, die nach Europa reisten, gehörten vor allem Kinder aus einflussreichen und begüterten Familien, die bereits seit Anfang des 19. Jh. die Möglichkeit bekommen hatten, in Europa zu studieren, zu dieser Gruppe. Obwohl es von der Regierung, aber auch von den Familien vorgesehen war, dass sie medizinische oder technische Fächer, die die Modernisierung des Landes ermöglichen, studieren, war der Einfluss der europäischen Aufklärung und des gesellschaftlichen bzw. politischen Systems der europäischen Länder auf diese Studenten unvermeidbar. Vor allem waren viele dieser Studenten von der Ordnung und Gesetzlichkeit ihrer Gastgeberländer beeindruckt. Sie waren der Meinung, dass, sobald eine auf dem Gesetz basierte Regierung gegründet würde und das Land seine Gesetze entwickelte, die verlorene Ordnung der Gesellschaft wiederhergestellt werden könne. So veröffentlichte Mostashar al-Dowleh im Jahr 1871 sein wichtigstes Buch „ein 34 Wort“ (Yek Kalameh). Damit meinte er das „Gesetz“, womit alle Probleme des Landes behoben würden. Im Jahr 1907 wurde in London die farsi-sprachige Zeitung „Qanoon“ (das Gesetz) von Mirza Malkum Khan veröffentlicht, in der vor allem die Bedeutung des Gesetzes betont und die absolute Macht des Shah scharf kritisiert wurde. Mit der konstitutionellen Revolution, die als erster Schritt der Auseinandersetzung der iranischen Intellektuellen mit der Moderne bezeichnet werden kann, gewann der Glaube an die „Selbstbestimmung“ besonders unter den Intellektuellen immer mehr an Gewicht. Jedoch war dieser Schritt besonders aus zwei Gründen zum Scheitern verurteilt. Zunächst das Nicht-Verstehen bzw. Missverstehen des Rechtsbegriffes: Die Verfassung des Iran war hauptsächlich eine Mischung aus der französischen und der belgischen Verfassung. Jedoch führten diese modernen Gesetze nicht zur Entwicklung einer modernen Gesellschaft. Denn einige Verfasser hatten zwar festgestellt, dass die Grundidee dieser Verfassungen die Autorität der Menschen bei der Gesetzgebung war, jedoch wurde die Forderung der Kleriker nach ständiger Übereinstimmung der verabschiedeten Gesetze mit dem feqh (islamisches Gesetz) akzeptiert und als Ergänzung den sonstigen modernen Gesetzen hinzugefügt. Es war vorgesehen, dass alle Gesetzesentwürfe von fünf religiösen Rechtsgelehrten untersucht werden, um jede Nicht-Übereinstimmung mit 35 dem göttlichen Gesetz zu verhindern. Denn die Kleriker lehnten die absolu34 35

Yek Kalame gehört zu den wichtigsten gesetzlichen Texten im Iran, denn das war der erste Versuch, die Scharia durch das moderne Gesetz zu ersetzen. Mehr dazu in: Tabatabaei, J. (2007) und (2008). Vgl. Artikel 2: Die Ergänzungen der ersten Verfassung des Iran.

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1.2 BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

te Autorität des Menschen bei der Gesetzgebung ab. Diese Mischung war ein Paradox an sich und konnte weder bei der Gesetzgebung noch bei der 37 Anwendung der Gesetze hilfreich sein. Zudem stellte das Analphabetentum der Bevölkerung ein großes Hindernis auf dem Weg der Entwicklung zur Moderne dar. Die Bevölkerungszahl des Iran in dieser Periode wird um die 38 zehn Millionen geschätzt, wovon mehr als 90 Prozent Analphabeten waren. Die Masse der Bevölkerung war zwar an der Revolution beteiligt, war sich aber nicht über deren Ziele und Folgen bewusst. Einige an der Revolution beteiligte Intellektuelle, vor allem Akhoond Zadeh und Maraghe‘ie, vertraten die Meinung, dass das Gesetz allein nicht zur sozialen und politischen Transformation beitragen kann. Solch eine Transformation wäre ihnen zufolge nur durch Bildung aller Schichten der Gesellschaft möglich. Ihre Betonung lag aber zunächst auf der Alphabetisierung, wodurch das Land in den Bereichen von Naturwissenschaften und 39 Technik Fortschritte machen bzw. modernisiert werden könnte. Beeinflusst von Modernisierungsideen machte Reza Schah Pahlavi (Reza Schah der Große 1878–1944) seine sechzehnjährige Herrschaftszeit (1925– 1941) zur wichtigsten Epoche der Modernisierung des Iran. Seine Reformprogramme waren geprägt durch drei Mottos: „Modernisierung, Zentralisierung 36

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Eine Ausnahme war Ayat Allah Nayini, der die Subjektivität und Autorität des Menschen anerkannte. Er hatte aber keinen großen Einfluss auf die Revolution nehmen können. Die konstitutionelle Revolution im Iran war eine vieldimensionale Bewegung, und die Untersuchung aller ihrer Aspekte benötigt eine ausführliche Studie. Fast alle Schichten der Gesellschaft waren an der Revolution beteiligt. Auch Frauen spielten in dieser Bewegung eine besondere Rolle, obwohl ihnen nach dem Sieg der Revolution und der Entstehung der Verfassung kein Wahlrecht zugebilligt wurde. Es gibt tausende Bücher und Veröffentlichungen darüber, und meistens beschäftigen sie sich mit den Ursachen des Scheiterns dieser Revolution. Hilfreich und reif sind vor allem die Werke von Javad Tabatabaei u.a. (2008) und (2007), Werke von Adamiyat u.a. „Ideologie der konstitutionellen Bewegung im Iran“, „Die Gedanken der gesellschaftlichen Demokratie in der konstitutionellen Bewegung“, und „Fortschrittsgedanken und Rechtsstaat“ und die Werke von Talbof Tabrizi und Ayato Allah Nayini. Für eine Zusammenfassung einiger dieser Theorien vgl. Vahdat, F. (2002). Für die Rolle der Frauen in der konstitutionellen Revolution vgl. Afary, J.: “The Iranian Constitutional Revolution. Grassroots Democracy, Social Democracy, and the Origins of Feminism”. Die erste offizielle Volkszählung im Iran wurde im Jahr 1956 durchgeführt. Bereits seit 1870 wurden Volkszählungen auf lokaler und provinzieller Ebene durchgeführt. Vgl. Hassanzadeh, A. (2010): „Volkszählung im Iran“, Teheran: Jam-e Jam Zeitung, Nr. 62, 18. Nov. 2010, S. 9. Vgl. Maraghe’ie, Z. A. (1907): „ Reisebericht von Ibrahim Beig“, Osmanen; und Behnam, J. (1996): S. 77-82.

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1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

und Säkularisierung“. Er war ein Pan-Iranist und versuchte durch Nationalbildung ein modernes Persien zu schaffen. Er führte das Land aus dem Chaos und gründete eine einheitliche Armee. Verbesserung der Infrastruktur, Gründung der Eisenbahn, Gründung der ersten Universität, der ersten Nachrichtenagentur, des ersten Rundfunksenders und der ersten Banken des Iran und die Verbesserung des Gesundheitswesens gehörten zu seinen zahlreichen Ansätzen, aus dem Iran ein modernisiertes Land zu machen. Zwar hatte er religiöse Neigungen, setzte sich aber für die Trennung von Religion und Politik ein. Während seiner Herrschaft versuchte er, den Einfluss der Kleriker einzuschränken. Vor allem durch die Etablierung des bürgerlichen Gesetzes und der Gerichte wurde ihr Einfluss zurückgedrängt. Die islamischen Rechtsgelehrten hatten jetzt nur noch in Fragen des Ehestandes und in religiösen Fragen zu entscheiden. Reza Schahs einzige Auslandsreise war seine Reise in die Türkei, wo er von den Reformen Atatürks zutiefst beeindruckt 41 war. Nach dieser Reise hatte er den Hidschab abgeschafft und die Tätigkeiten der Frauenorganisationen gefördert. Außerdem wurden Alphabetisierung und Bildung, die bis dahin zum Aufgabenbereich der religiösen Gelehrten gehörten, säkularisiert und das erste nationale Bildungssystem etabliert. Durch 42 solche Reformen machte er sich die Kleriker zu seinen erklärten Feinden. Katouzian jedoch bezeichnet diese Versuche als „pseudo-modernism“, da sich die Staatsform des Iran während Reza Schahs Herrschaft von einer konstitu43 tionellen Monarchie zu einer Diktatur entwickelte. 40

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42 43

Pan-Iranismus ist eine politische Ideologie, die die Vereinigung aller iranisch-stämmigen Menschen (Azaris, Perser, Balutschen, Zazaren, Kurden, Loren, Tadjiken, Hezaren usw.) befürwortet. Diese Ideologie beruht auf der Tatsache, dass alle iranischstämmigen Menschen eine gemeinsame Geschichte und Kultur haben und die Trennung ihnen auferlegt worden ist. Die pan-iranistische Schule wurde im Jahr 1947 von Dr. Mahmoud Afshar Yazdi in Teheran gegründet. Die Gründung des Pan-Iranismus war eine Reaktion einerseits gegen die Abtrennung verschiedener Teile von Iran durch Russland und England und anderseits gegen den wachsenden Pan-Arabismus und Pan-Turkismus. Pan-Iranisten sehen ihr Ziel in der Wiedervereinigung aller iranisch-stämmigen Völker. Der Hidschab ist die islamische Körperbedeckung der Frauen. Der Grund für die Abschaffung des Hidschab in dieser Epoche war nicht nur das Auftreten moderner Frauen in moderner Kleidung im Iran. Auch aus Sicherheitsgründen schien sie notwendig zu sein. Denn die russischen Soldaten hatten unter dem Schleier viele Waffen in den Iran geschmuggelt. Die Abschaffung von Schleier und Tschador schien der einzige Weg zu sein, diese Bedrohung einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Außerdem sollte dadurch die Präsenz der Frauen in der Gesellschaft verstärkt werden. Vgl. Katouzian, H. (2010): S. 200-231. Vgl. ebd.: S. 201. Die Reformen von Reza Schah haben tiefgreifende Wirkungen im Iran gehabt. Außer aufgrund von Interventionen von Russland und England schei-

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1.2 BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

Während der anschließenden Herrschaftsperiode seines Sohnes Mohammad Reza Pahlavi (1941–1979) wurden diese Modernisierungsversuche fortgesetzt und erweitert. Er war wie sein Vater ein Pan-Iranist, und durch verschiedene Pläne, u.a. die „Weiße Revolution“, versuchte er eine rasante soziale und wirtschaftliche – anstatt einer fundamentalen und langfristigen – 44 Transformation im Iran durchzuführen. Es wurde jedoch nur wenig Zeit und Energie darin investiert, den kulturellen, religiösen und individuellen Wertewandel diesen rasanten Modernisierungsschritten anzupassen. Nach der Revolution im Iran von 1979 wurden zwar die Modernisierungsversuche fortgesetzt, jedoch das Thema „Moderne“ kaum beachtet und gar als unerwünscht angesehen. Die Haupttheoretiker der islamischen Regierung, unter anderen Khomeini und Motahhari, forderten die Rückkehr zu islamischen Werten und den Vorschriften der Prophetenzeit als den einzig möglichen Weg zur Rettung des Landes. Die modernen Ideologien und Theorien wurden als Blasphemie (kofr) angesehen. Im Rahmen dieses Systems gibt es nur einen richtigen Weg, nämlich den Weg des Islam. Khomeini lehnte ein Mehrparteiensystem ab, weil nach ihm nur eine Partei, nämlich die islamische Partei, die richtige Meinung vertreten kann. Sein Wunsch nach einer Einheitspartei wurde aber nicht erfüllt, denn bereits seit der konstitutionellen Revolution war ein Mehrparteiensystem als der beste Weg zur Vertretung verschiedener Meinungen akzeptiert worden. Zudem entwickelte der islamische Staat eine eigene Definition von Demokratie, was besagte, dass jeder nur im Rahmen der vom Staat präferierten Interpretation des Islam frei ist, seine Meinungen zu äußern und danach zu handeln. Es stellt sich die Frage, warum trotz jahrelanger Erfahrung mit der Modernisierung die Moderne und ihr unzertrennlicher Bestandteil „Demokratie“ kaum Gelegenheit gefunden haben, sich in der iranischen Gesellschaft zu entwickeln? Es ist nachvollziehbar, dass die genannten Modernisierungsversuche für ein Land, das besonders im 18. und 19. Jh. von Armut und Krankheiten, Instabilität, Kriegen und vielen anderen Problemen betroffen war, höchste Priorität hatten. Dennoch wurde sogar in fortgeschrittenen Phasen dieser Entwicklungen eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Moderne“ zur Seite geschoben, und die wenigen Versuche haben kaum Unterstützung bekommen. Dafür können verschiedene Gründe genannt wer-

44

terte diese enorme Wandlung vor allem daran, dass die technische Entwicklung und die Modernisierungsentwicklungen nicht parallel zum mentalen und kulturellen Wandel verlaufen waren. Anders formuliert: Modernisierung und Moderne sind nicht gleichzeitig und in gleichem Maße entwickelt worden. Vgl. ebd.: S. 263-287.

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1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

den. Für diese Arbeit sind vor allem drei Gründe von besonderer Bedeutung. Nehmen wir an, dass Moderne mit steigender Bewusstheit der Menschen und der Entstehung neuer Erwartungen verbunden ist; dann lag die Blockierung der Moderne zunächst daran, dass viele Herrscher des Iran die steigende Bewusstheit und gar Bildung der Bevölkerung als Bedrohung ihrer Herrschaft betrachteten. Beispielsweise schreibt Etemad Al-Saltaneh in seinem Memoire einen Dialog zwischen sich und Naser Ad-Din Schah: Gestern Abend beim Abendessen (…) erzählte ich seiner Majestät, 45 dass während der Herrschaft von Fath Ali Schah Napoleon ihm einen Brief mit wichtigem Inhalt zuschickte, es gäbe aber keinen (im Lande), der diesen Brief übersetzen könnte. Der Brief wurde ungeöffnet zurückgeschickt. Jetzt gebe es mindestens vier- oder fünftausend Personen allein in Teheran, die Französisch können (…). Ihre Majestät sagte, „damals war es viel besser, die Augen und Ohren der 46 Menschen waren noch geschlossen.“ Zudem sind die Grundlinien der Moderne im Iran nicht genügend untersucht und verstanden worden. Darüber hinaus wurden die wichtigsten Werke der modernen Philosophie entweder erst innerhalb der letzten 20 Jahre ins Persi47 sche übersetzt oder sind immer noch nicht übersetzt worden. Zu diesen zwei Gründen kann auch ein dritter Grund hinzugefügt werden, und zwar die Macht von Religion und Tradition. Bereits während der konstitutionellen Revolution haben einige wenige Intellektuelle festgestellt, dass die Grundlagen von Religion und moderner Denkart nicht zusammengebunden werden können. Vor allem war problematisch, dass im Rahmen des modernen Denkens dem Menschen die Autorität und Freiheit, vor allem Freiheit zum Denken und zur Gesetzgebung, erteilt wurde. Diese Elemente sind im Rahmen einer religiösen Denkweise, die solche Autorität nur Gott zuschreibt und in der alle Geschehnisse von Gott vorbestimmt sind, und zugleich im Rahmen eines patriarchalischen Systems, in dem der Vater die absolute Macht besitzt und sämtliche Entscheidungen trifft, undenkbar und unakzeptabel. Sowohl in re45 46 47

Fath Ali Schah (1771–1834), war der zweite König der Kadschar Dynastie und regierte von 1797 bis 1883. Vgl. Behnam, J. (1996): S. 45 (freie Übersetzung P. J.). Außerdem weisen die wenigen übersetzten Texte Mängel auf. Einerseits gibt es für die Originalbegriffe oft keinen passenden Begriff in persischer Sprache, und deshalb haben die Übersetzer einfach einen ähnlichen Begriff (der aber inhaltlich eine andere Bedeutung haben kann) verwendet. Andererseits waren den Übersetzern viele Fachbegriffe unbekannt, weil sie selber fachfremd waren.

32

1.2 BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

ligiösem als auch familiärem bzw. gesellschaftlichem und demzufolge in politischem Sinn gibt es demnach nur einen richtigen Weg, nämlich den Vorstellungen der vergangenen Generationen und ihren Werten zu folgen. Solche Überzeugungen waren jahrhundertelang ein Hindernis auf dem Weg zu 48 Innovationen und neuem Denken. Dennoch kam es innerhalb der letzten Jahre vor allem nach der islamischen Revolution, bedingt durch ein steigendes Bildungsniveau im Iran, zu einem anwachsenden Konflikt mit diesen traditionellen und religiösen Systemen. Viele iranisch-islamische Intellektuelle haben versucht, die Religion und die Moderne zusammenzubinden und das Konzept eines „modernen Is49 lam“ zu entwickeln. Diese wichtigen Versuche haben zwar zu gesellschaftlichen Wandlungen beigetragen, jedoch waren sie nicht fähig, diese Konflikte zu beseitigen, da alle religiösen Intellektuellen versuchen, die Moderne im Rahmen des Islam zu entwickeln, ohne zu beachten, dass der Islam die wesentliche Basis der Moderne, nämlich die „Subjektivität“, ablehnt.

1.2.3

Begründung der Theorieauswahl

Obwohl Europa sich in vielerlei Hinsicht an die Eigenschaften der Moderne gewöhnt hat, ist Moderne für viele Länder und Gesellschaften ein neues und höchst kompliziertes Phänomen. Für die Entwicklung der Moderne in einer Gesellschaft soll dieses Phänomen zunächst mit Rückkehr zu deren Basis, verstanden und analysiert werden. Zum anderen sollen diese Grundlagen in den Strukturen der Gesellschaft angepasst und langsam durchgesetzt wer50 den. Deshalb werden im theoretischen Rahmen dieser Arbeit zunächst die Grundsätze der Moderne und Aufklärung behandelt. Dabei bezieht sich die Studie nur auf die Theorien von zwei großen deutschen Theoretikern und 51 Denkern der Aufklärung und Moderne, nämlich Immanuel Kant und Friedrich Wilhelm Hegel und dabei nur auf ihre Konzeption von Subjektivität im 48 49 50 51

Als Einführung in das Thema Widerstand gegen Innovationen und Neue Denkweisen im Iran empfehle ich das Buch: Reza Gholi, A. (1998): „Die Soziologie der Elitentötung“, Teheran: Ney Verlag. Abdol Karim Soroush und Akbar Ganji gehören zu den wichtigsten Vertretern dieser Ideen. Vgl. Mirsepasi, A. (2002): „Demokratie und die Wahrheit“, Teheran: Tarhe no Verlag, S. 33-71. Die deutsche Aufklärung war im Gegensatz zur französischen Aufklärung keine Anti-Religionsbewegung, denn in Deutschland hatte bereits die Reformation stattgefunden. Außerdem sind die deutschen Aufklärungstheorien in vielerlei Hinsicht reifer als die französischen (und sogar englischen), weil den deutschen Theoretikern die radikalen Resultate der Umsetzung der französischen Aufklärungstheorien, v.a. im Rahmen der französischen Revolution, bekannt waren.

33

1 EINLEITUNG, BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

Zusammenhang mit Bildung. Vor allem prägen diese beiden Philosophen im Rahmen ihrer Konzeptionen von Moderne die Idee der Subjektivität des Menschen und die Fähigkeit des Subjektes zur Gesetzgebung und Selbstbestimmung. Dies bedeutet wiederum die Freiheit des Menschen von der Befolgung jeglicher Art von Normen und Gesetzen, deren Ursprung außerhalb des Menschen zu finden sind. Anders formuliert kommt das Subjekt als wichtigste Basis der Moderne erst dann zustande, wenn es sich bewusst wird, dass es frei und selbstbestimmt ist. Dieses Bewusstsein kommt Kant und Hegel zufolge v.a. durch Bildung zustande. Deshalb ermöglichen diese Theorien einen adäquaten Raum zur Untersuchung der Grundlagen der Moderne, nämlich die Entstehung des Subjekts und das Prinzip der Freiheit sowie die damit verbundene Bedeutung von Bildung für die Entstehung des Subjektes und die Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Jeder Mensch besitzt demzufolge das Potential, sich von einem bloßen Objekt hin zu einem denkenden und entscheidungsfähigen Subjekt zu entwickeln. Die Begriffe „Subjektivität“ und „Freiheit“ wurden ebenfalls vom Gründer der islamischen Regierung im Iran thematisiert, die auf der Grundlage ihres religiösen Glaubens und ihrer Werte allerdings andere Ansichten als Kant und Hegel repräsentieren. Um die daraus resultierenden gesellschaftlichen und politischen Konflikte zwischen der iranischen Bevölkerung und dem iranischen Staat näher untersuchen zu können, werden im Rahmen dieser Forschungsarbeit die Konzeptionen von Ruhollah Khomeini und Morteza Motahhari untersucht, die zwei Haupttheoretiker der islamischen Regierung bezüglich Subjektivität und Freiheit des Individuums sind. Beide Geistliche gehören zu den wichtigen schiitischen Denkern. In dieser Arbeit wurde auf die Erläuterung der allgemeinen islamischen Ansichten bezüglich des Individuums und später bezüglich der Bildung verzichtet, weil in verschiedenen islamischen Konfessionen und Einrichtungen verschiedene Interpretationen von Individuum und Subjektivität vertreten wurden, die zum Teil weit auseinander gehen. Deshalb wird im Rahmen dieser Arbeit der Fokus nur auf die Konzeptionen von islamischen Theoretikern gelegt, die den islamischen Staat und die Regierung im Iran repräsentieren, nämlich die Imamiten (die 52 Zwölfer Schiiten), und darunter nur Theorien von Khomeini und Motahha52

Imamiten sind die größte Gruppe von Schiiten. Für sie ist Ali ibn Abi Talib der einzige rechtmäßige Nachfolger des Propheten Mohammed. Innerhalb der Schiiten gibt es verschiedene Glaubensrichtungen, zum Beispiel die Siebener Schiiten und Fünfer Schiiten. Die Zwölf Imamiten glauben an zwölf Imame, beginnend mit Ali ibn Abi Talib und gefolgt von seinen Anhängern (seine Söhne und Enkelkinder). Der zwölfte Imam ist der sogenannte verborgene Imam, der nach Ansicht der Zwölf

34

1.2 BEGRIFFSDIFFERENZIERUNG UND PROBLEMSTELLUNG

ri. Es ist unabdingbar zu untersuchen, welche Stellung der Staat bezüglich Subjektivität und Freiheit des Individuums einnimmt und inwiefern durch diese Positionierung die Politik beeinflusst wird. Die Untersuchung anderer islamischer Einrichtungen ist deshalb für diese Arbeit irrelevant. Um den Konflikt zwischen den modernen Erwartungen der Bevölkerung, vor allem der jungen Generation, und den fundamentalistischen Grundlinien des Staates analysieren zu können, wird anhand bereits erwähnter Beispiele gezeigt, wie die Implementierung religiöser Konzeptionen zu gesellschaftlichen und politischen Konflikten im Iran beigetragen haben.

Imamiten nicht gestorben ist, sondern in Verborgenheit lebt und eines Tages auf die Erde zurückkommen und die Mission von Mohammed, nämlich die Gründung eines Reichs der Gerechtigkeit, vollziehen wird. Mehr als 80 Prozent der iranischen Bevölkerung gehören zu dieser Glaubensrichtung. Allerdings gibt es innerhalb der Imamiten auch verschiedene Meinungen bezüglich Individuum und Subjektivität.

35

Teil 2

As the Thought, so the Mind As the Mind, so the Man, 53 As the Man, so his World. 53

Anonymus.

36

2

Theoretischer Analyserahmen

2.1

Zum Begriff der „Moderne“ (Modernité, Modernity)

Der Begriff der „Moderne“ ist vom lateinischen „modernus“ und bei Walde/ Hofmann von „modo“, als Analogiebildung nach „hodie“ (am heutigen Tag) 55 bzw. „hodiernus“ (heute) hergeleitet und bezeichnet wörtlich „eben“, „eben jetzt“ und „gegenwärtig“. In diesem Sinne ist sein Gegenbegriff „vorherig“. Andere Bedeutungsmöglichkeiten von „modern“, die diesem Begriff im Laufe der Geschichte zugewiesen worden sind, sind „neu“ als Gegenbegriff von „alt“ und „vorübergehend“ als Gegenbegriff von „ewig“. Darüber hinaus wird 56 „Moderne“ auch zur Bezeichnung der „Aktualitätsgrenze“ verwendet. Jedoch schwankt dieser Begriff bis zum heutigen Tag immer wieder zwischen zwei Bedeutungen. Während in einigen Kunstbereichen, wie Mode, das Kunstobjekt sich auf etwas Aktuelles und Gegenwärtiges bezieht, was nicht unbedingt etwas Neues darstellt, stellt dieser Begriff in vielen anderen Bereichen wie Politik und Gesellschaft ein neues und nie zuvor gesehenes Phänomen dar. Der Mensch des 21. Jahrhunderts versteht unter „Moderne“ vor allem die Ablösung und Ersetzung von allem, was früher der akzeptierte und übliche 57 Weg war, Dinge zu tun. In diesem Sinne betont „Moderne“ die Neuheit der Gegenwart als einen Bruch mit der Vergangenheit und den Aufbruch in eine 54

54

55 56

57

Eine kritische Studie von Modernität ist nicht das Ziel dieser Arbeit. Deshalb begrenzt sich die Beschreibung dieses Phänomens nur auf die wesentlichen Aspekte, die das Wesen der Moderne ausmachen und im Rahmen dieser Arbeit von Bedeutung sind. Ganz bewusst wurde auch auf den Bereich der „Postmoderne“ verzichtet. Vgl. Walde, A., Hofmann, J. B. (1938): „Lateinisches Etymologisches Wörterbuch“, Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Bd. 1, S. 653-54. Vgl. Drechsler, H., Hilligerb, H., Neumann, F. (2003): „Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik“, München: Vahlen, S. 654, und Freund, W. (1957): „Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters“, Köln, Graz: Böhlau, S. 5, und Gumbrecht, H. U. (1978): „Modern, Modernität, Moderne“, in: Brunner. O., Conze. W., Kosselleck R. (Hg.): S. 96; und Klinger, C. (2002): „Modern, Moderne, Modernismus“, in: „Ästhetische Grundbegriffe“, Barck, K. H. (Hg.), Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Bd. 4, S. 122. Elizabeth Gössmann ist der Ansicht, dass der Begriff „Modernus“ verwendet wurde, um den Mangel der lateinischen Sprache, in der das „eben jetzt gegenwärtig“ nicht adjektivisch benannt werden kann, abzuhelfen. Vgl. Gössmann, E. (1974): „Antiqui und Moderni im 12. Jahrhundert“, in: „Miscellanea Mediaevalia: Antiqui und Moderni: Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln“, Zimmermann, A. (Hg.) (1974): „Miscellanea Mediaevalia. Antiqui und Moderni“, Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln“, Bd. 9 Berlin: Walter de Gruyter, S. 40. Vgl. Inkeles, A., Schmidt, D. (1974): “Becoming Modern. Individual Change in six Developing Countries”, London: Heinemann Education Books.

37

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

unsichere, aber schnell erreichbare Zukunft. In dieser Vorstellung werden mit diesem Begriff neue Werte, Änderungen und Innovationen in verschiedenen Dimensionen des menschlichen Lebens verbunden. Jedoch ist diese Bedeutung Resultat von Jahrhunderten der Entwicklung und Wandlung. Der Begriff der „Moderne“ hat sich im Laufe der Zeit von einem Wort zu einem 59 Makroperiodisierungsbegriff weiterentwickelt. Hatte „Moderne“ bis zum Anfang des 18. Jh. meistens eine chronologische Trennungsfunktion, die jeweils die Gegenwart gegenüber einer bestimmten Vergangenheit definierte und die Vorbildlichkeit der Vergangenheit betonte, standen in späteren Stadien der Begriffsbildung das Verhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft sowie die Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft im Mittelpunkt. Dies erfolgte vor allem unter dem Einfluss von Politik und Religion; zwei Faktoren, die zur Gestaltung dieses Begriffs beigetragen haben. Der dauerhafte Konflikt zwischen dem starken Einfluss der Kirche auf alle Bereiche des alltäglichen Lebens einerseits und dem methodischen Skeptizismus und dem Versuch des Menschen, als unabhängiges, denkfähiges und freies Wesen im Mittelpunkt des weltlichen Geschehens zu agieren andererseits charakterisieren den Ent60 wicklungsprozess der „Moderne“. 58

2.1.1

Geschichte der Begriffsbildung: Von „Modernus“ bis „Moderne“

Der Begriff „modernus“ kommt zum ersten Mal (zumindest schriftlich) im späten 5. Jahrhundert in Briefen von Papst Gelasius I. (Epistulae pontificum) vor. Da jedoch der Verfasser keine Erklärung für diesen Begriff vorgelegt hat, kann angenommen werden, dass dieser Begriff dem Adressaten bekannt und 61 daher modernus schon seit längerer Zeit geläufig war. Es gibt keine Einigung darüber, was Gelasius I. unter diesem Begriff verstand. Während 58 59 60

61

Vgl. Osborne, P. (1997): “Modernity. Transition from the Past to the Present”, in: “The Blackwell Companion to the Cultural and Critical Theory”, Oxford: Blackwell, S. 346. Vgl. Klinger, C. (2002): S.122. Außerdem schreibt Klinger: „Während sich im Verlauf der begriffsgeschichtlichen Entwicklung zwar eine positive, die Eigenständigkeit und den Eigenwert der „Moderne“ betonende Sicht durchgesetzt hat, ist die negative Perspektive keineswegs auf jene Zeiten beschränkt, die das Neue in erster Linie am Maßstab und an der Autorität des Alten gemessen haben. Die „Moderne“ erscheint oft als fragwürdig; die „Moderne“ imponiert auch ihren Verfechtern als ein problematisches und riskantes Projekt. Das Schwanken zwischen Verdammung und Verherrlichung, die Spannung zwischen Fortschritt und Dekadenz, zwischen Herkunft und Zukunft, Nostalgie und Utopie gehört zu den Grundmerkmalen, die den Begriffsgebrauch durch die Jahrhunderte hindurch gekennzeichnet haben.” Vgl. ebd.: S. 123. Vgl. Freund, W. (1957): S. 5.

38

2.1 ZUM BEGRIFF DER „MODERNE“ (MODERNITÉ, MODERNITY)

Freund in den „Epistolae pontificum“ des Gelasius (494/5) die Bedeutung 62 „neu“ für „Moderne“ vorzieht, versteht Gumbrecht darunter „gegenwärtig“. Dennoch scheint es, dass in dieser Epoche das Wort „modernus“ zur Abgrenzung der (neuen) gegenwärtigen Lehren (admonitiones modernas) von alten Regeln (antiquis regulis) verwendet worden ist, was einen historischen Bezug ausdrückt und sich auf die Ereignisse, die kurze Zeit zurückliegen, bezieht. Aber wie Freund erklärt, irgendeine Wertung oder ein Affekt scheint damit 63 nicht verbunden zu sein. Unter antiquis bzw. antiquitas verstand Gelasius I. die christlich-kirchliche Vergangenheit. In diesem Kontext ist die heidnische römische bzw. griechische Vergangenheit davon ausgeschlossen. Außerdem steht für ihn der Begriff der „patres“ in unmittelbarer Verbindung zur anti64 quitas. Im 6. Jahrhundert kommt das Wort „modernus“ in Cassidorus’ Briefen auch im Sinne von „gegenwärtig“ vor. Für Cassidorus, der sich „antiquorum diligentissmus imitator“ (überaus fleißiger Nachahmer der Alten) und „modernorum nobilissimus institutor“ (edelster Begründer der Moderne) nennt, besteht die eigentliche Hauptaufgabe seiner Zeit darin, die antiquitas als Vorbild für die Gegenwart des Gotenreichs zu erneuern. Hier geht es keineswegs um die kirchliche antiquitas der Konzilsväter und Apostelnachfolger, sondern um römische Gesinnung, römische Staatlichkeit (durchaus nicht nur der 65 heidnischen Zeit) und antike Kultur insgesamt. Ebenfalls bis zum Ende des 7. Jahrhunderts bleibt modernus ein zeitlicher Trennungsbegriff ohne jeglichen Wertinhalt, der zur Darstellung der Abgrenzung zwischen Gegenwart und Vergangenheit (hier sowohl im Sinne 66 von heidnischer als auch christlicher Vergangenheit) und zur Bezeichnung 67 der in der Gegenwart stehenden Menschen und Dinge verwendet wird. Auch bis zu diesem Zeitpunkt bezeichnet modernus, im Gegensatz zu novus, das als 62 63 64 65

66 67

Vgl. Gumbrecht, H. U. (1978): S. 97 und Freund, W. (1957): S. 5. Vgl. Freund, W. (1957): S. 16. Vgl. ebd.: S. 8-12. Vgl. ebd.: S. 28-40; Gumbrecht, H. U. (1978): S. 97; und Tabatabaei, J. (2008): S. 73. Cassiodorus verwendete zwei andere Begriffe zur Abgrenzung der Gegenwart von der Vergangenheit, nämlich „nostra tempora“ im Sinne von „Regierungszeit der jeweiligen Könige“, und „nostra saecula“ im allgemeinen Sinne von „unsere Zeit“, und die moderni, die den Weg der antiquitas nachgehen müssen. Vgl. Freund, W. (1957): S. 31-32. Vgl. ebd.: S. 36-37. Im 6. Jh. wurde der Begriff „priscus“ viel öfter anstelle von beiden Begriffen „antiquitas“ und „antiquus“ verwendet. Trotzdem ist diese Trennung keine Wert tragende, im Sinne von gut oder schlecht. Vgl. ebd.: S. 40.

39

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

sachlicher Begriff etwas Neues und nie zuvor Gegebenes darstellt, keine 68 Wertung. Bis zum Ende dieser Epoche wird die Besonderheit der Gegenwart kaum beachtet. Es entsteht der Eindruck, dass die Menschen dieser Epoche den Traum von einer idealen Vergangenheit (sowohl als heidnische Antike als auch als christliche Vorgeschichte) lebten und sich ihrer Fähigkeit zur Gestaltung einer von der Vergangenheit sich unterscheidenden Welt nicht bewusst waren. Erst während der karolingischen Zeit (8.–10. Jh.) machte sich die Andersartigkeit der eigenen Zeit langsam bemerkbar. Hier wurde das Wort „modernus“ öfter – jedoch nur von wenigen Autoren – verwendet, und seine Bedeutung wechselte von Autor zu Autor. So diente dieses Wort nicht nur zur Unterscheidung von Gegenwart und heidnischer Antike, sondern seit dieser Epoche fand modernus verschiedene und wechselnde Bezugspunkte. Dadurch stellten sich die mittelalterlichen Theologen als moderni den Kirchenvätern und Aposteln gegenüber. Die Christen und das neue Testament grenzten sich damit von den Gläubigen des alten Bundes ab. Aber auch einzelne Philosophen verschiedener Zeiten und sogar Gelehrte der eigenen Generati69 on wurden auf diese Weise als moderni und antiqui eingestuft. Jedoch konnten auch christliche Vergangenheit und heidnische Antike, im Vergleich zu einer noch früheren Vergangenheit, als moderni bezeichnet werden. Auf 70 der anderen Seite wird moderni öfters an Stelle von Praesens verwendet. Das zeigt, wie stark sich modernus zu einem Gegenwartsbegriff und tempora moderna (Neuzeit) zu einem historischen Periodenbegriff entwickelt haben. Jedoch enthält modernus in diesem Zeitraum, im Gegensatz zum 11. Jh., weder einen negativen noch positiven Beiklang. Weder moderni noch antiqui 71 wurden gegenüber den anderen verachtet. Die Anerkennung der Andersartigkeit der eigenen Zeit, die ab dem 10. Jh. begann, setzte sich in den folgenden Jahrhunderten fort. Ab dem 11. Jh. entstand eine neue Gruppe von moderni, die zwar die Antike zu schätzen wussten, sich jedoch der Besonderheit ihrer Zeit bewusst waren. Sie entdeckten die Aktualität ihrer Gedanken und deren Potenzial und das ihrer Zeitgenossen zur Gestaltung ihrer eigenen Welt wieder. So schreibt Freund: 68 69 70 71

Vgl. ebd.: S. 38-44. Vgl. Klinger, C. (2002): S. 123; und Hartmann, W. (1974): „Modernus und Antiquus. Zur Verbreitung und Bedeutung dieser Bezeichnungen in der wissenschaftlichen Literatur vom 9. bis zum 12. Jahrhundert“, in: Zimmermann (1974), S. 30-34. Der Satz lautet: “pauperos modernos et futuris temporibus pascatur.” Vgl. ebd.: S. 45. Vgl. Freund, W. (1957): S. 41-52; und Hartmann, W. (1974): S. 22-23.

40

2.1 ZUM BEGRIFF DER „MODERNE“ (MODERNITÉ, MODERNITY)

Je weiter man sich zeitlich von der Antike entfernt, desto stärker wird bei dem reflektierenden Historiker das Gefühl für die Andersartigkeit der eigenen Zeit gegenüber den Zeiten, aus denen man so72 wohl das Glaubens- wie das Bildungsgut empfängt. Dies mag zum Teil an der Entstehung neuer sozialer und politischer Heraus73 forderungen und am Bedürfnis nach neuen Vorschriften gelegen haben, für die die Lehre der Kirchenväter keine Lösungsoption anbieten konnte. Deshalb bezeichnet modernitas im 11. Jh. eine Periode, in der die Lehre der Kirchenväter langsam in Vergessenheit geriet. Dadurch konnte zwischen den zeitgenössischen Dialektikern, die an die Auffassung der Kirchenväter anschließen (antiqui), und den anderen als moderni bezeichneten zeitgenössischen Dialektikern, die nicht mit den Lehrmeinungen der Heiligen Väter im 74 Einklang standen, unterschieden werden. Auch Logiker als Exponenten der Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit und die Nominalisten im Universali75 enstreit zählten zu den moderni. Die moderni und ihre Meinungen, besonders die Logiker, wurden in dieser Epoche meist als negativ angesehen und 72 73

74

75

Freund, W. (1957): S. 50-51. Das ist in einem Schreiben von Regino von Prüm festzustellen. In diesem Schreiben erklärt er seine Zeit als grundsätzlich verschieden und schlechter; darum meint er, es müssten neue Vorschriften geschaffen werden, die notwendiger als alles andere sind. Was früher einmal geschrieben und festgelegt worden sei, passe nicht mehr zu dieser Zeit. Vgl. ebd.: S. 51. In Werken von Abelard wurde „moderni“ als Bezeichnung der sophistischen Logiker verwendet, was für ihn einen negativen Beiklang hatte. So teilt auch Rupert von Deutz die Philosophen in zwei große Gruppen ein und „bezeichnet dabei die antiqui als Weise, deren Verwandtschaft mit dem Christentum er hervorhebt; die novi philosophi beschreibt er als „Verkehrer der wahren Philosophie durch neue Lehren“. Vgl. Hartmann, W. (1974): S. 31. Beim Universalienstreit handelt es sich um die Frage, ob allgemeine Begriffe und Ideen Wirklichkeit sind oder bloß abstrakte Konstruktionen des menschlichen Kopfes. Der Universalienstreit fand hauptsächlich zwischen zwei Gruppen, nämlich den Nominalisten und den Realisten, statt. Die Realisten waren der Meinung, dass die Begriffe, Ideen und alle anderen abstrakten Entitäten eine eigenständige Existenz und deshalb die wahre Wirklichkeit besitzen. Sie waren die Nachfolger Platons. Im Gegensatz zu ihnen waren die Nominalisten der Meinung, dass die Ideen und Begriffe gedankliche Abstraktionen sind und deshalb bloße Namen, die in den Köpfen der Menschen gebildet worden sind. Die Nominalisten sahen die wahre Wahrheit nur in Einzeldingen. Diese Thematik war und ist vor allem für die Beantwortung der Machtfrage (menschliche Macht oder göttliche Macht) von Bedeutung. Zum Beispiel förderten die Nominalisten die Naturwissenschaft und verlangten die Gründung eines säkularen Staates. (Wenn wir diese Gruppen mit heutigen Begriffen neu bezeichnen wollen, sind die Realisten nach heutigen Maßstäben die „Idealisten“ und die Nominalisten die „Realisten bzw. Materialisten“). Vgl. Möller, P.: „Universalstreit“, unter: http://www.philolex.de/universa.htm.

41

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

nach Hartmann deshalb zurückgewiesen, weil sie die Tradition nicht mehr 76 beachten bzw. befolgen wollten. Solch eine negative Einschätzung der Gegenwart wich jedoch während des Mittelalters, vor allem im Rahmen der kulturellen Bewegung, die „die Renaissance des 12. Jahrhunderts“ genannt worden ist. 77 Die Beziehung zwischen den antiqui und moderni ist in dieser Epoche eine Mischung aus respektvoller Haltung und Ablehnung. Moderni zeigten sich den antiqui gegenüber wegen ihrer Grundlegung für die Gegenwart 78 dankbar, und so beschrieb Bernhard von Chartres die Beziehung zwischen den moderni und antiqui als Zwerge, die auf den Schultern der antiken Riesen standen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die 79 Größe der Riesen uns emporhebt. Jedoch durch das steigende Selbst- bzw. Zeitbewusstsein der moderni kam es zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den antiqui. Walter Map erhob im späten 12. Jh. seinen Protest gegen die Herrschaft der Toten auf Kosten der Lebenden: Miraculum illustre. mortui vivunt, viuuni pro eis sepeliuntur! habent et nostra tempora fortisan aliquid sophoclis non indignum coturno. iacent tamen egregia modernorum nobilium, et attoluntur fimbrie 80 vetustatis abiecte. Jugendrevolte war auch ein Phänomen der Auseinandersetzung von moderni mit den antiqui; so klagt Stephan von Tournai darüber, dass die Studenten etwas Neues hören wollten. Auch Johannes von Hanville und Johannes von Salisbury zeigen sich zwar den Antiken gegenüber dankbar, betonen aber den Fortschritt und die Aktualität der eigenen Zeit und versuchen, die Last 81 der Vergangenheit von sich zu schütteln. Vielleicht bezeichnet Gunther 76 77

78 79 80 81

Vgl. Hartmann, W. (1974): S. 24-28; und Gössman, E. (1974): S. 47-48. In seinem politischen, religiösen, sozialen Leben, in seinen verschiedenen Wissenschaftszweigen wie in der literarischen Tradition weiß sich das Mittelalter, so wie es sich bis zum 12. Jh. entwickelt hat, einer vielfältig aufgefächerten antiquitas gegenüber: Römische Rechts- und Staatsauffassung, griechisch-lateinische Literatur und Philosophie, vorchristlich-biblische Religiosität, altchristliche Vergangenheit vor der Tradition des christlichen Glaubens, aber auch germanische Vergangenheit vor der Christianisierung. Vgl. Gössmann, E. (1974): S. 42. Vgl. Gumbrecht, H. U. (1978): S. 99. Vgl. Hartmann, W. (1974): S. 26-28, Freund, W. (1957): S. 65-66; und Tabatabaei, J. (2008): S. 73-77. Vgl. Gössman, E. (1974): S. 50. Vgl. ebd.: S. 50-54.

42

2.1 ZUM BEGRIFF DER „MODERNE“ (MODERNITÉ, MODERNITY)

Wolf gerade auf Grund dieses steigenden Gegenwartsbewusstseins gegenüber den Alten in der politischen Geschichtsschreibung das 12. Jahrhundert 82 als die Geburtsstunde der Moderne. Diese blühende Phase des menschlichen Selbstbewusstseins geriet jedoch im Hochmittelalter in den Schatten der religiösen Autorität. Glaube war im Mittelalter das Normsetzungsprinzip für alles menschliche Handeln. Die geistige, politische und gesellschaftliche sowie private Welt war durch die religiöse Ordnung geprägt. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche macht in diesem Zeitraum den Kernpunkt der Politik aus. Während im fünften Jahrhundert n. Chr. die Kirche eine Trennung zwischen der geistlichen und weltlichen Gewalt akzeptierte, die mit den Worten vom Papst Gelasius I. „gleichberechtigt neben einander stünden“, entwickelte sich diese Ansicht jedoch auf Kosten der weltlichen Gewalt. Dank Theorien wie der „Zwei-Schwerter83 84 Theorie“ und der Theorie des Gleichnisses von Sonne und Mond wuchs die Autorität der Kirche, und schließlich gewann das Papsttum die Vorrangstel85 lung vor dem Kaisertum. Die als moderni bezeichneten Theologen und Autoren, die sich immer mehr von den Kirchenvätern abgrenzten, setzten sich jedoch gegen die multidimensionale Macht der Kirche durch. Im 14. Jh. postulierte Marsilius von 86 Padua in seinem Werk „Verteidiger des Friedens“ die Souveränität des Volkes, Unabhängigkeit des Kaisertums vom Papsttum und lehnte jede Art von 82 83

84

85 86

Vgl. Wolf, G. (1974): „Das 12. Jahrhundert als Geburtsstunde der Moderne und die Frage nach der Krise der Geschichtswissenschaft“, in: Gössman E. (1974): S. 80-84. Diese Theorie stammt auch von Papst Gelasius I. Während er am Anfang die Gleichberechtigung von Kirche und Staat betonte, entwickelte er seine Meinung im Laufe der Zeit zur Souveränität der Kirche über die weltliche Macht. Die ZweiSchwerter-Theorie als eine frühmittelalterliche kirchenpolitische Theorie über das Verhältnis von Kirche und Staat besagt, dass die Gewalt durch zwei Schwerter versinnbildlicht wird. Die Kirche besitzt und zieht das geistliche Schwert. Das weltliche (dem geistlichen untergeordnete) Schwert hingegen ist den Fürsten übergeben, die es für die Kirche und nach ihrem Wunsch und Willen ziehen. Die Theorie des Gleichnisses von Sonne und Mond wurde von Papst Gregor VII. (1020–1085) entwickelt. Er schrieb: „Gott habe Sonne und Mond allen anderen Lichtern vorangestellt, um das menschliche Auge die Schönheit der Welt erkennen zu lassen; ebenso habe Gott die apostolische und die königliche Gewalt eingesetzt, damit der Mensch nicht in die Irre geht.“ In diesem Verhältnis bekam der König seine Gewalt durch die Kirche. So ist die Kirche der Sonne und der König dem Mond gleichzusetzen. Vgl. Ertl, Th. (2006): „Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum“, Berlin u.a.: De Gruyter, S. 132. Vgl: Schaal, G.; Heidenreich, F. (2006): „Einführung in die politischen Theorien der Moderne“, Opladen: Barbara Budrich, S. 37-38. Marsilius von Padua (geboren zwischen 1275 und 1290, gestorben 1343) war ein in München geborener Staatstheoretiker und Politiker.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Regierungsgewalt, Gerichtshoheit und Rechtsprechung der Kirche über die 87 Gemeinschaft und einzelne Personen ab. Auf der anderen Seite entstanden 88 in der damals ins Leben gerufenen religiösen Bewegung devotio moderna Elemente, wie Moralismus, Skepsis, neue Rhetorik usw. die mit dem aufkom89 menden Humanismus verwandt sind. Die Zunahme kritisch-intellektueller Ideen, die die Befreiung des menschlichen Handelns von der religiösen Bestimmungsmacht forderten, und der Beginn der Renaissance im 15. Jh. brachten erneut die Zeitgenossen und die heidnische Antike zusammen, die beide als moderni bezeichnet worden waren. Anders formuliert versteht man hier unter diesem Begriff eine Trennung 90 zwischen dem Mittelalter als den antiqui und den moderni, die sich durch 91 die Reformation charakterisierten. Es wurde der Versuch unternommen, die Autorität der Kirche durch die Autorität der Antike (römisch-griechische 92 Antike) zu ersetzen. So gilt der Aristotelismus in der Renaissance als moderne Philosophie, und via moderna wird zur gängigen Bezeichnung des ock-

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92

„Kein römischer Bischof, Papst genannt, und kein anderer Bischof oder Priester und kein Diakon hat eine zwingende Regierungsgewalt oder Gerichtshoheit oder Rechtsprechung über einen Priester oder Nicht-Priester, einen Regenten, eine Gemeinschaft, ein Kollegium oder irgendeine Einzelperson, welches Standes auch immer, oder darf sie haben.“ Marsilius von Padua, in: Schaal, G. (2006): S. 38. Devotio moderna (neue Frömmigkeit) war eine in den Niederlanden angekommene religiöse Erneuerungsbewegung im Spätmittelalter. Sie ging vom 14. Jahrhundert aus und breitete sich im Laufe der Zeit in anderen Teilen Europas, vor allem in Norddeutschland, aus. Mit der Stärkung der protestantischen Bewegung verlor sie an Kraft. Die Bewegung betonte statt der mönchisch-klösterlichen Frömmigkeit ein praktisches Weltchristentum der tätigen und helfenden Liebe. Die Anhänger dieser Bewegung folgten dem Ideal der vita communis (Leben in Gemeinschaft) und einer persönlichen bzw. innerlichen Frömmigkeit. Anders formuliert verdrängte bei dieser Bewegung das ethische Interesse das dogmatische. Vgl. Universallexikon, unter: http://universal_lexikon.deacademic.com/227629/Devotio_moderna; Stollberg-Rilinger, B.: „Reformation“, Universität Münster, unter: http://www.uni-muenster.de/ FNZ-Online/politstrukturen/reformation/glossar.htm. Vgl. Klinkenberg, H. M. (1974): „Die Devotio moderna unter dem Thema „Antiqui– Moderni“ betrachtet“, in: Zimmermann (1974), S. 419. Während dieser Periode gelten auch die Juden des Alten Testaments gegenüber den Christen als antiqui. Vgl. Gumbrecht, H. U., S. 97. Die Bedeutung der Religion als eines Bestimmungsfaktors des Begriffs Moderne ist bereits innerhalb dieser beiden Epochen sichtbar; in der ersten Epoche unterscheidet die Moderne zwischen dem Zeitalter von heidnischer Antike und Mittelalter als einer Epoche der religiösen Autorität. In der zweiten Epoche stehen die heidnische Antike und die Reformation dem religiös geprägten Mittelalter gegenüber. Vgl. Osborne, P. (1997): S. 346.

44

2.1 ZUM BEGRIFF DER „MODERNE“ (MODERNITÉ, MODERNITY)

hamistischen Nominalismus im 14. Jahrhundert. Aus der Konkurrenz zwischen den antiqui und moderni entstanden verschiedene Schulen. Während dieses historischen Prozesses wurde immer mehr die Unabhängigkeit von Kirche und Politik verlangt. Ein Phänomen, das neben der Entdeckung neuer Länder, der Entstehung von neuen ökonomischen Strukturen etc. diesen Prozess beschleunigt und vertieft hat, war die Schwächung der katholischen Kirche einerseits und das Nachlassen des Glaubens, das durch die Reformation und die daraus folgende konfessionelle Spaltung und die religiösen Kriege in 95 Europa entstand. Allerdings unterscheiden Schaal und Heidenreich hier zwischen der gleichzeitigen, allgemeinen und gleichgerichteten Säkularisierung von Politik und Gesellschaft: 93

94

Der Relevanzverlust der Kirche und die sinkende Orientierungsleistung des Glaubens sind Phänomene, die für die politischen, kulturellen und intellektuellen Eliten diagnostizierbar sind und deren Handlungsportfolio verändert haben. Davon abzugrenzen ist jedoch das „einfache Volk“. Eine Volksfrömmigkeit als Basis alltäglichen Handelns ist ein Phänomen, das bis ins 19. Jahrhundert zu diagnostizie96 ren ist (...). Dank wichtiger Denker und politischer Philosophen dieser Periode, angefangen mit Niccolo Machiavelli und gefolgt u.a. von Thomas Hobbes, Thomas Morus, Rene Descartes und John Locke, stand der Mensch mehr und mehr im Mittelpunkt des weltlichen Geschehens. Humanismus, Rationalismus und Liberalismus sind das wichtigste Resultat dieser Epoche, deren Einfluss auf 97 die Politik das Ende der Ordo-Vorstellung und die Suche nach einer legiti93

94 95 96 97

Ockhamismus war eine nominalistische Strömung im Spätmittelalter (14.–15. Jh.), die sich auf die Lehre des englischen Theologen und Philosophen Wilhelm von Ockham (1270–1347) bezog. Die Ockhamisten sahen sich als Vertreter eines neuen Wegs, in dem Glaube und Wissen getrennt sind. Jede Erkenntnis setzt ihnen zufolge die Sinneswahrnehmung voraus. Im Rahmen des Universalienstreits war Ockham zwar ein Anhänger des Nominalismus, jedoch war er der Meinung, dass die Begriffe und Ideen, zumindest weil sie im Kopf des Menschen vorhanden sind, existieren, aber nur im Denken und nicht in der Realität. Vgl. http://u01151612502.user. hosting-agency.de/malexwiki/index.php/Ockhamismus. Vgl. Gumbrecht, H. U. (1978): S. 97-98. Vgl. Schaal, G. (2006): S. 39-42. Vgl. ebd.: S. 39. Nach der Ordo-Vorstellung ist die Welt als gottgeschaffene und damit unveränderliche, bestenfalls korrumpierbare, aber nicht disponierbare Gesamtheit zu verstehen. Vgl. Schaal, G. (2006): S. 42.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

men politischen Ordnung – und nicht wie im Mittelalter einer rechten oder 98 guten Ordnung – darstellt. Das Verhältnis der jeweiligen Gegenwart zur Antike wandelt sich im Laufe der Renaissance. Obwohl am Anfang dieser Epoche der Antike eine besondere Stellung eingeräumt worden war, gerieten die antiken Denker im Laufe der Zeit selbst unter Kritik. So tritt später, wie es Gumbrecht erläutert, „an die Stelle des Prinzips der „Imitatio“ die „Aemulation“ und mit ihr die Hoffnung, die kulturelle Blüte Griechenlands und Roms wieder erreichen oder 99 gar überbieten zu können,“ und langsam wurde der Kern des Begriffs Moderne im Sinne von Superiorität, wie in der heutigen Gegenwart, hergestellt. Im späten 17. und zu Anfang des 18. Jh. bildet sich ein neues Selbst- und Zeitbewusstsein, das die Harmonie zwischen der Anerkennung der Vorbildlichkeit der Antike und dem Selbstbewusstsein der eigenen Zeit aus dem Gleichgewicht brachte. Diese Unausgewogenheit spiegelt sich vor allem in den Werken von Jonathan Swift “The Battle of the Books”, der Theorie der 100 Querelle des Femmes und der geistesgeschichtlichen Debatte von Perrault Querelle des Anciens et des Modernes wieder. Obwohl Perrault sich eher auf die künstlerischen und literarischen Aspekte konzentrierte, stellte er die ausschließliche Autorität der Antike in Frage und forderte die Gleichrangigkeit, wenn nicht gar Überlegenheit, der neuen Literatur und Kunst. Diese wachsende Kritik an der Antike mag vor allem an den radikalen wissenschaftlichen Fortschritten, die bereits ab dem 16. Jh. begannen, und an der Macht 101 und dem Glanz Frankreichs unter Ludwig XIV. liegen. 98 99 100

101

Vgl. Schaal, G. (2006): S. 41-43. Vgl. Gumbrecht, H. U.: S. 99. Querelle des femmes ist eine Theorie über die Ordnung der Geschlechter. Die Werke von Christine de Pizan (1365–1430), in denen sie die Frauen verteidigt, sind als Anfang dieser Theorie bezeichnet worden. Vgl. Kelly J. (1982): „Early Feminist Theory and the Querelle des Femmes 1400–1789“, in: Chicago Journal Vol. 8, No.1. Autumn 1982, S. 4-38. Diese Theorie wurde z. T. von denselben Protagonisten unterstützt, die Querelle des anciens et des Modernes unterstützten, und das sorgte für viele negative Agitationen. „Autoren, die (...) Partei für die Moderne ergriffen, pflegten im parallelen Vorzugsstreit Partei für die Frauen zu ergreifen und erblickten im wachsenden Einfluss der Frauen auf das gesellschaftliche Leben ein Zeichen des Fortschritts“. Vgl. Bock G., Zimmermann M. (1997): „Die querelle des femmes in Europa“, in: „Quertelles. Jahrbuch für Frauenforschung“, nach: Klinger, C. (2002): S. 126. Vgl. ebd.: S. 125-6. Klinger setzt fort: „Das Resultat der Auseinandersetzungen des 17. Jh. ist die Trennung der Künste und der Wissenschaft. (...) Während die meisten Autoren (...) der Auffassung zustimmen, dass die neuzeitlichen Wissenschaften bedeutende Erkenntnisfortschritte erzielt haben, ist eine Mehrheit (tendenziell auch unter den „Modernen“) zugleich davon überzeugt, dass für die Dichtung nicht das-

46

2.1 ZUM BEGRIFF DER „MODERNE“ (MODERNITÉ, MODERNITY)

W. von Humboldt hat wohl am besten den Unterschied zwischen der Gegenwart bzw. den moderni und der Antike und der Bedeutung der Konzentration auf die Gegenwart zum Ausdruck gebracht: Sie (sc. die Menschen der Antike) waren bloß was sie waren. Wir wissen noch was wir sind, und blicken darüber hinaus. Wir haben 102 durch Reflexion einen doppelten Menschen aus uns gemacht. Durch den Orientierungswechsel der Gegenwart von der Vergangenheit auf die Zukunft im 18. Jh. entstand für die Menschheit das Bedürfnis, Begriffe neu zu definieren. Durch Neudefinierung vieler Begriffe und deren Bedeutungswandel gewannen die alten Wörter neue Sinngehalte. Auch der Begriff „Moderne“ ist mit Beginn der Aufklärungsepoche nicht mehr ein Zeittrennungsbegriff, der sich der Vergangenheit entgegensetzt. Sondern durch bedeutende historische Ereignisse wie die industrielle Revolution, die mit enormer Steigerung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts verbunden war, und die französische Revolution kam es langsam zur Ablehnung der 103 Tradition. Durch diese Ereignisse wuchs der Glaube an die Handlungsfähigkeit des Menschen und seine Macht zur Gestaltung seines Lebens, und so wurden der Mensch und seine „moderne“ Gesellschaft durch Säkularisierung und Emanzipation ohne jeden transzendenten Bezugspunkt auf sich selbst 104 gestellt und für den Lauf der Geschichte verantwortlich. Und genau aus dem Grund, dass „im Bewusstsein der Zeitgenossen ein Bruch mit der Ver105 gangenheit“ stattfand, wird die Periode um 1800 als Beginn der „Moderne“ bezeichnet. Dadurch geriet die Gegenwart, die bis vor kurzem unter der Herrschaft der Vergangenheit stand, unter die Dominanz der Zukunft. In der Periode zwischen dem 18. Jh. bis zum Anfang des 20. Jh. findet die

102 103 104

105

selbe gilt“. (...) Für die Entwicklung der Künste war, nach Meinung von Fontenelles Schützling Marivaux, der wachsende Reichtum der Ideen im Verlauf der Geschichte geradezu ein Hindernis ihrer Entwicklung (...). Jedoch entwickelte sich die Erkenntnis, dass es neben dem zeitlos Schönen auch ein zeitbedingtes Schönes, neben der beaute universelle auch ein beau relatif gäbe.“ Vgl. ebd.: S. 126-128. Vgl. Gumbrecht, H. U. (1978): S. 106. Vgl. Klinger, C. (2002): S. 129; und Osborne, P. (1997): S. 346. Dass moderni bzw. modernus als Abgrenzungsbegriff der Gegenwart von der Zukunft verwendet wird, war kein neues Phänomen. Bereits im 8. Jh. wurde zum ersten Mal modernus als Abgrenzung der Gegenwart von der Zukunft in einer Stiftungsurkunde und in dem Satz „pauperos modernos et futuris temporibus pascatur“ verwendet. Diese Abgrenzung setzte sich auch im 9. Jh. fort. Vgl. Freund, W. (1957): S. 47-49. Vgl. Klinger, C. (2002): S. 146.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

eigentliche Umwandlung von Moderne statt, nicht nur zu einem vieldimensionalen Begriff, sondern gleichzeitig zu einem dynamischen Phänomen, das durch Eigenschaften wie radikale Rationalität, steigende Bedeutung der Freiheit und Individualität, Solidarität, aktive Weltgestaltung, Globalisierung und Säkularisierung charakterisiert war und nach Weber durch den Motor der Zweckrationalität funktionierte. Diese Umwandlung war „die Konsequenz eines Bewusstseins der Gegenwart als Grundlage eines Zivilisationstyps, der 106 Traditionsorientierung diametral entgegensetzte“ und einen Kulturkreis bildete, „der durch eine Entfesselung und kumulative Entfaltung der Fähig107 keiten des Menschen zum rationalen Denken und Handeln bestimmt“ war. Dabei wurde ein von der Tradition und religiösen Mächten erzeugter Fatalismus durch steigende Verantwortung des Menschen für sein eigenes Schicksal ersetzt. So treffen in dieser Periode die gesellschaftlich-politischen und technisch-ökonomischen Innovationen, die Toffler unter eine „mass“-Gruppe einstuft (mass production, mass education, mass recreation, mass media 108 usw.), aufeinander. Vor allem war es die Aufklärung, die im 18. Jh. zu solch grundsätzlichen Wandlungen beigetragen hat. In dieser Periode entstanden in Europa verschiedene Arten von Aufklärung. Beispielsweise kam in Frankreich eine Art Aufklärung zustande, die als große Widerstandsbewegung zur Religion entstand. Diese Einstellung wurde besonders im Rahmen der französischen Revolution sichtbar. In Deutschland dagegen entstand eine andere Form von Aufklärung, die zur Entwicklung des deutschen Idealismus beitrug. Die deutsche Aufklärung war zwar nicht religiös, eine absolute Opposition gegen die Religion wurde allerdings auch nicht entwickelt, denn Deutschland war das Land der Reformation, wodurch die Macht der Religion bereits gemildert worden war. Wichtig war, dass den Menschen ihr Recht auf Autonomie zugestanden wurde. Kant, einer der größten Theoretiker der deutschen Aufklärung, sah die Autonomie als Prinzip der Moral, die „zum Behuf ihrer selbst keineswegs der Religion, sondern, vermöge der reinen praktischen Ver109 nunft“ brauche. 106 107 108 109

Vgl. Gumbrecht, H. U. (1978): S. 126. Vgl. Degele, N., Dries, Ch. (2005): „Modernisierungstheorie“, Stuttgart: Wilhelm Fink. Vgl. Toffler, A. (1980): “The Third Wave”, übers.v. Kharazmi Sh., Teheran: Farhange Nashre No Verlag; und Klinger (2002): S. 136-138. Vgl. Kant I.: „Religion innerhalb der Grenzen der praktischen Vernunft“, ABIIIf, S.4, in: Dorschel A. (1992): „Die idealistische Kritik des Willens: Versuche über die Theorie der praktischen Subjektivität bei Kant und Hegel“, Hamburg: Felix Meiner, Schriften zur transzendentalen Philosophie 10.

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2.1 ZUM BEGRIFF DER „MODERNE“ (MODERNITÉ, MODERNITY)

Mit der Befreiung der Menschheit von der Vergangenheit und dem enormen Glauben an die Macht der menschlichen Vernunft wurde die Moderne ein Zeitalter, welches mehr von Versuch und Irrtum geprägt war und weniger von der Suche nach Idealen. Von dieser Zeit an gab es kaum eine „gute“ oder „schlechte“, sondern bloß die „andersartige“. In der Anfangsphase scheint es sogar, dass die Erprobungsversuche nur eine Antwort auf die Neugier des Menschen auf alles Neue sind. Im Laufe der Zeit und mit dem Auftritt der ersten modernen Probleme wird jedoch der Versuch unternommen, eine effektive Lösung für diese Probleme zu finden, wie es in der Entstehung von verschiedenen Ismus-Schulen und Ideologien im 20. Jh. zu erkennen ist. Von dieser Zeit an tragen die oben genannten Faktoren zur Gestaltung der Moderne bei und entfalten die Fähigkeit des Menschen zu mehr Autonomie. Für Berman bedeutet „modern“ zu sein: To find ourselves in an environment that promises us adventure, power, joy, growth, transformation of ourselves and the world, and at the same time, that threatens to destroy everything we have, ev110 erything we know, everything we are. Wie Berman es darstellt, stellt die Moderne den Menschen und seine Gesellschaft nicht nur vielen Möglichkeiten, sondern auch vielen neuen Herausforderungen gegenüber, die älteren Generationen der Menschheit gar nicht bekannt waren. Die Fremdartigkeit dieser Situationen in der Moderne verursacht ein Gefühl von Unsicherheit und Verlegenheit und ist zudem mit vielen 111 Risiken und gleichzeitig Gelegenheiten verbunden. 110 111

Vgl. Berman, M. (1988): “All that is Solid Melts into the Air”, New York: Penguin, S. 15 Auch Giddens versteht die Moderne als ein Zeitalter verbunden mit Risiken und Gefahren, aber auch neuen Möglichkeiten. Er sieht die Moderne als eine Art posttraditionelle Anordnung, die durch ihre Dynamik und extreme Schnelligkeit gekennzeichnet ist. Zweifel, Risiko und Gefahr gehören zu den Eigenschaften der Moderne. In der Moderne kann das Gefühl von Sicherheit, die durch traditionelle Lebensart, Glaube und Gewohnheiten entsteht, nicht durch die Gewissheit des rationalen Wissens ersetzt werden. Dies beruht nach Giddens u.a. auf zwei Tatsachen; Zuerst institutionalisiert die Moderne das Prinzip des radikalen Zweifels, da hierdurch alle Kenntnisse und alles Wissen die Form von Hypothesen annehmen, die vielleicht der Wahrheit entsprechen, aber auch in der Zukunft geändert oder sogar abgelehnt werden können. Ständige Kritik und Zweifel auf der einen Seite und die Bereitschaft zur Änderung und die Suche nach Neuem, sind zwei Seiten einer Medaille der Moderne. Außerdem ist die Moderne eine run away world, die keinen statischen Zustand, sondern einen Prozess ständiger Änderung und sozialer Mobilisation darstellt. Nicht nur das Tempo des sozialen Wandels ist viel schneller als in jeder Periode zuvor, enorm sind auch die Reichweite und die Tiefe ihres Einflusses auf die Handlungen und Verhaltensweisen der Menschen. Es entsteht sogar der Ein-

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Trotz dieser Risiken und Unsicherheiten kann und will die moderne Gesellschaft, so Habermas, „ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muss ihre Normativität aus sich 112 selbst schöpfen.“ Mit der Entwicklung der Moderne bekam der Mensch die Gelegenheit, auf seinen eigenen Beinen zu stehen, aber ohne die Anerkennung der Subjektivität und der Freiheit des Individuums von den Regeln der Vergangenheit wäre die Moderne erst gar nicht zustande gekommen.

2.1.2

Subjektivität als Fundament der Moderne

Wie die Entwicklung des Begriffs der Moderne zeigt, ist die Moderne verbunden mit bestimmten Eigenschaften wie Rationalismus und Zukunftsbzw. Gegenwartsorientierung. Jedoch verdankt die Moderne ihre Andersar113 tigkeit vor allem der Anerkennung des Menschen als Subjekt. Ein Thema, das zum ersten Mal von Descartes angesprochen wurde. Vahdat bezeichnet die Subjektivität als: the property characterizing the autonomous, self-willing, self-defin114 ing and self-conscious individual agent. In diesem Sinne ist der Mensch das „erkennende Ich“ bzw. „Träger des eigenen Willens“, dessen deutlichste Auswirkung in der Erschütterung des primären Verhältnisses zwischen Herrschaft und Unterordnung, vor allem der Beziehung zwischen dem Gott der Monotheisten und seinen Anbetern ist. Besonders durch die Säkularisierung wurde dieses Verhältnis geschwächt, und deren Folgen beeinflussten andere primäre Verhältnisse wie die Beziehung zwischen Priestern und Gemeindemitgliedern, zwischen Herrschern

112

113 114

druck, dass durch diese enorme Beschleunigung und diesen Fortschrittsdruck die Gegenwart kaum realisiert wird. Vgl. Giddens, A. (1991): S. 3-5. Vgl. Habermas, J. (1986): „Der philosophische Diskurs der Moderne“, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, S. 16. Wie Habermas darstellt, ist vielleicht die wichtigste Folge der Moderne, die Trennung von drei Dimensionen der Lebenswelt nämlich, die objektive (betrifft die kognitiven und wissenschaftlichen Aussagen), die soziale (betrifft die normativen, moralischen und legalen Wahrheiten) und subjektive (betrifft die ästhetische und expressiven Wahrheiten, die ein Sprecher vor einem Publikum äußern kann) von der religiösen und metaphysischen Basis. In der vormodernen Ära waren diese drei Dimensionen nicht teilbare Bestandteile der Religion. Nach Entstehung der Moderne wurden sie voneinander getrennt und neu untersucht bzw. definiert. Vgl. Habermas, J. (1987): „Theorien des kommunikativen Handelns“, 2. Bd. „Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft“, 4. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 183-184; und Vahdat, F. (2002): S. 225. Mehr dazu vgl. Tatatabaei, J. (2008); und Hoodashtian, A. (2002). Vahdat, F. (2002): S. 1.

50

2.1 ZUM BEGRIFF DER „MODERNE“ (MODERNITÉ, MODERNITY)

und Untertanen, sogar zwischen Vater und Sohn (bzw. Eltern und Kin115 dern). Die vormoderne Welt war geprägt durch eine vertikale Gliederung, in der Gott und die Kirche ganz oben und die Menschen als Untertanen in den unteren Reihen ihren Platz hatten. Im Rahmen der Religion und Tradition waren nicht die Menschen sondern außerweltliche Mächte das Zentrum des Universums, und der Mensch war das stets von ihnen abhängige Objekt. Anerkennung des Menschen als Subjekt ermöglichte ihm einerseits die Befreiung von allen Banden, die ihn an die Kirche fesselten, und andererseits von den Grenzen, Ordnungen und Handlungsmustern der Vergangenheit, die sein Leben und sein Sein beeinflussten. Mit der Entwicklung der Moderne steigerte sich der Mensch vom abhängigen, wort- und kritiklosen Wesen zu einem Subjekt mit eigenen Gedanken und Kräften, das selbst der Drehpunkt des Geschehens war. Der Glaube an die Fähigkeit des Menschen, der seine ei116 gene Welt gestalten, entwickeln und optimieren kann, gewann an Gewicht und ersetzte den Glauben an einen Fatalismus. Der Mensch fing an, die Welt und sein Leben zu dominieren und sich genau so zu akzeptieren, wie seine Natur ist: Er ist kein rein spirituelles Wesen (wie die Kirche es darstellen wollte), sondern ein Wesen mit vielen Leidenschaften. Die Eigenschaften eines Subjekt werdenden Menschen sind vielfältig. Jedoch können die Besonderheiten der Subjektivität angesichts der oben dargestellten geschichtlichen Entwicklung des Begriffs Moderne vor allem in drei Punkten zusammengefasst werden: Anwachsendes kritisches Denken ist die wichtigste Eigenschaft des Subjektes, welches sich einerseits auf der Basis des Rationalismus und andererseits mit Darlegung und Auswertung der Gedanken und Denkweisen der Vergangenheit entwickelte. Die erste und wohl die entscheidende Kritik richtete sich an die Kirche, die den Menschen stets als Sünder betrachtete und das Ziel seines Lebens einzig als Befreiung von den Sünden sah. Das kritische Denken entwickelte sich im Laufe der Ausprägung der Moderne zu ständiger Kritik und Zweifel der Menschen an ihrem eigenen Handeln und ihren Ge danken. Dadurch haben sich auch die Ziele des Menschen verändert. Sein Ziel in der Moderne ist nun die institutionalisierte und zielorientierte Verbes-

115 116

Vgl. ebd.: S. 224-226. Nach Beck werden aber ab einer bestimmten Phase der Entwicklung von Moderne die Menschen es aufgeben, eine ideale Welt zu schaffen.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

serung der derzeitigen bzw. vergangenen Situationen, welche wie bereits erwähnt nur auf der Basis von Rationalismus und ständiger Untersuchung und Auswertung möglich ist. Dennoch wäre dieses Ziel allein auf dieser Basis und ohne jegliche Bereitschaft zu ständiger Verbesserung und Änderung, die die andere Eigenschaft der Moderne darstellt, zum Scheitern verurteilt. Bereitschaft zur Änderung war unter anderem das Ergebnis der Befreiung von religiösem Glauben bzw. Aberglauben. Sobald dem Menschen die Angst vor Gott genommen wurde, wurde er bereit, sich zu ändern. Die Steigerung des Menschen zu einem Subjekt ist die Grundlage für eines der wichtigsten Charakteristika der Moderne, nämlich freies Denken, auf dessen Basis Freiheit und Demokratie ermöglicht wurden. Denn wie Rosa 118 Luxemburg gesagt hat: „Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden.“ Die Moderne gibt dem Menschen die Möglichkeit, seinen Willen zu verfolgen und sich unabhängig von der Kirche für sein eigenes, aber auch für sein gesellschaftliches Leben zu entscheiden und Vorschriften zu schaffen. Diese Ansicht wurde vor allem von Rousseau geprägt, der die Freiheit des Menschen in der Verfolgung seines eigenen Willens und in der Freiheit, Entscheidungen zu treffen, sah. Nimmt man diese Freiheit hinweg, nimmt man die Menschlichkeit des Menschen hinweg. So bildet die Freiheit das wesentliche Thema des modernen Menschen, welches in dieser Form zuerst von Rousseau behandelt wurde. Auch der veränderte Denk- bzw. Handlungshorizont gehört zu den Eigenschaften eines Subjektes. Die Vergangenheit wurde als geschlossenes Kapitel des menschlichen Lebens betrachtet, von dem einiges gelernt werden konnte, das jedoch die Gegenwart bzw. die Zukunft des Lebens nicht mehr beeinflussen durfte. Die Moderne hat im Verlauf ihrer Geschichte Traditionen geschaffen, sie ständig neu unter die Lupe genommen, kritisiert und erneuert, denn die Werte, die die Traditionen ausmachen, werden in der Gegenwart definiert, und sie ändern sich abhängig von anderen Änderungen im menschlichen Leben. Die Einflüsse des Subjektivitätsprinzips weiten sich über die individuelle Sphäre hinaus aus und reichen in die politischen und gesellschaftlichen Wandlungen hinein. Rechtssystem und Gesetzgebungsgrundlage bis hin zum politischen System werden durch Anerkennung bzw. Ablehnung dieses Prin117

117 118

Vgl. Hoodashtian, A.: (2002). Vgl. Luxemburg, R.: (1920): „Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung“, Berlin, S. 109; und Zetkin, C. (1923): „Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke“, Berlin: Universum Bücherei für Alle, Bd. 4, S. 359.

52

2.1 ZUM BEGRIFF DER „MODERNE“ (MODERNITÉ, MODERNITY)

zips beeinflusst, was bemerkenswerte Folgen für das individuelle und gesellschaftliche Leben der Menschen haben wird. Um das Phänomen Subjektivität und seine Bedeutung für die menschliche Entwicklung und die Entstehung von Freiheit besser zu verstehen, werden im Folgenden die Subjektivitätstheorie von zwei Pionieren der Moderne sowie die Idee der menschlichen Freiheit untersucht. Wie nachstehend gezeigt wird, waren Subjektivität und Freiheit für Kant und Hegel nicht voneinander zu trennen.

2.2

Subjektivität und Freiheit nach Kant und Hegel

2.2.1

Kant: Autonomie und Freiheit

119

Für Kant und Hegel bilden die Begriffe „Subjektivität“ und „Universalität“, 120 die beiden Säulen der Moderne. Historisch betrachtet verdanken wir die Geburt der Subjektivität, so Habermas, neben der Reformation und der fran121 zösischen Revolution, der Aufklärung. In seinem Aufsatz „Die Antwort auf die Frage: Was ist Aufklärung?“ erklärt Kant die Aufklärung „als die wesentliche Voraussetzung für die Entstehung der Moderne“, welche er als „Aus122 gang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ defi119

120 121 122

Immanuel Kant (1724–1804) war ein deutscher Philosoph und einer der bedeutendsten Theoretiker der deutschen Aufklärung. Im Jahr 1732 wurde er zu Friedericianum Gymnasium in Königsberg geschickt. Zwischen 1740 und 1755 studierte er unter anderem Physik und Mathematik, klassische Naturwissenschaften, Theologie und Philosophie an der Albertus-Universität Königsberg und direkt nach seiner Habilitation im Jahr 1755 begann er seine Lehrtätigkeit an der selben Universität, an der er bis 1797 tätig war. Er war nie außerhalb von Königsberg gereist, hatte aber erstaunlicherweise eine äußerst anschauliche Vorstellung von der Welt. Er wurde von Leibniz, Hume, Rousseau und Newton beeinflusst und wurde dadurch der Begründer des Kritizismus, was sich in seinen wichtigen Werken wie „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“ widerspiegelte. (Vgl. Ritzel, W. (1985): „Immanuel Kant. Eine Biographie“, Berlin u.a.: De Gruyter; und Textlog: „Immanuel Kant“: http://www.textlog.de/kant.html.) Die Basis seiner Philosophie und Ethik ist in seinem Motto „ Sapere aude“ (Wage zu denken) verankert. Durch Nachdenken kommt die persönliche Aufklärung zustande, die zur allgemeinen führt. Derjenige, der nicht nachdenkt, bleibt deshalb Kant zufolge unmündig, also immer abhängig von Anderen. Vgl. Vahdat, F. (2002): S. 1. Vgl. Habermas, J. (1986): S. 27. Kant, I. (1974): „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ in: Bahr, E. (Hg.) (1974): „Was ist Aufklärung“, Stuttgart: Philipp Reclam jun, S. 9. Hier erläutert Kant die Unmündigkeit als „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, „wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Vgl. ebd.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

niert und damit sein Motto sapere aude zum Motto der Aufklärung macht. Der Gegensatz zur Vernachlässigung des eigenen Verstandes ist die Entwicklung der Subjektivität, mit deren Entstehung die moderne Ära beginnt und eines der fundamentalen Konzepte der Philosophie und Politik in der Neuzeit mit sich bringt. Mit diesem fundamentalen Konzept sollten gedankenloser Glaube und Unterwerfung, für die sich die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten eingesetzt hatten, ein Ende finden. Die Unterordnung sollte durch 124 selbständiges Denken abgelöst werden. Der Prozess des Subjekt-Werdens war synchronisiert mit dem Niedergang des Einflusses von Religion und Kirche. Vor allem die lutherisch-protestantische Bewegung brachte den Menschen eine Aufwertung, mit Attributen, die das Mittelalter nur Gott als dem einzigen Subjekt zugestanden hätte: „Frei125 heit, Autonomie und schöpferischer Wille.“ Auch Kant betrachtet den Weg der Menschen aus ihrer selbst verschulde126 ten Unmündigkeit vornehmlich in Religionssachen. Für ihn tritt die Menschheit erst dann in ein aufgeklärtes Zeitalter ein, wenn der Mensch im Stande ist, „in Religionsdingen sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung 127 eines anderen sicher und gut zu bedienen“ und auf der Basis seiner Ver123

123 124 125 126

127

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Vgl. Dorschel, A. (1992): S. 1. Soeffner, H. G. (1988): „Luther. Der Weg von der Kollektivität des Glaubens zu einem lutherisch-protestantischen Individualitätstypus“, in: Brose, H.-G., Hildenbrand, B. (Hg.) (1988) zit. nach: Kohlstruck, M. (1990), S. 37. Vgl. Kant, I. (1974): S. 15-16. Kants politische Theorie wurde ebenfalls von dieser Ansicht beeinflusst. So schreibt er: „Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen, dass er es für seine Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt, ist selbst aufgeklärt und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigstens von Seiten der Regierung, entschlug, und es jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen. Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche, unbeachtet ihrer Amtspflicht, ihre vom angenommenen Symbol hier oder da abweichenden Urteile und Einsichten in der Qualität der Gelehrten frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder andere, der durch keine Amtspflicht eingeschränkt ist. Dieser Geist der Freiheit bereitet sich auch außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einer sich selbst missverstehenden Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet dieser doch ein Beispiel vor, dass bei Freiheit für die öffentliche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das mindeste zu besorgen sei. Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten.“ Vgl. Kant, I. (1974): S. 15.

54

2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

nunft eigene Prinzipien der Moralität zu erschaffen. Die revolutionäre kritische Theorie von Kant geht genau von diesem Punkt aus: Anstatt die Prinzipien der Moral aus der Direktive himmlischer Mächte und göttlicher Vorschriften abzuleiten, leitet er sie direkt aus der menschlichen Vernunft ab. Die Gesetze, die ihren Ursprung nicht in der menschlichen Vernunft haben, sind daher unmoralisch. Seine radikale Vision verändert das Gefühl von Frömmigkeit oder religiöser Ehrfurcht. Nun ist es nicht mehr Gott, der numinöse Ehrfurcht einflößt, sondern “the moral law itself, the self-given com128 mand of Reason”. In einem anderen gewagten Schritt macht Kant die Ableitung der Moral aus der Vernunft von der Freiheit abhängig, „und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von 129 seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“. Der Einfluss der Freiheitskonzeption von Rousseau auf Kant wird besonders in diesem Punkt deutlich. Für Rousseau ist die Freiheit der Menschen nur im Rahmen der Selbstgesetzgebung möglich. Von diesem Punkt ausgehend wandelt Kant die Menschheit von bloßen Ausführenden von Moralgesetzen zum autonomen Gesetzgeber solcher Gesetze. Er schreibt: Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muss er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muss eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch 130 böse sein. Dass Kant in seinem Konzept Moral und Freiheit – in diesem radikalen Sinn der Selbstbestimmung durch den moralischen Willen – gleichsetzt, ist nach Taylor die wesentliche und zentrale Aussage der Kantischen Ethik: Moral life is equivalent to freedom. This is called “Autonomy”. Any deviation from it, any determination of the will by some external consideration; some inclination, even of the most joyful benevolence; some authority, even as high as God himself, is condemned as heteronomy. The moral subject must act not only rightly, but from the right motive, and the right motive can only be respect for the moral 128 129 130

Vgl. Taylor, Ch. (1979): “Hegel and Modern Society“, Cambridge: Cambridge University Press, S. 5. Vgl. Kant, I. (1974): S. 11. Kant, I. (1961): „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft”, Vorländer, K. (Hg.), Hamburg: Felix Meiner, 6. Aufl., S. 48.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

law itself, that moral law which he gives to himself as a rational 131 will. Danach liegt das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen 132 gemäßen Pflichten in der Autonomie des Willens. Diese Autonomie bedeutet, dass jeder normale Erwachsene in der Lage ist, in moralischen Angele133 genheiten Selbstverwaltung (self-governing) zu übernehmen und das unabhängig von jeglichen externen Mächten, denn: Jene Unabhängigkeit (aber) ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen und als solche praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstand. Also drückt das moralische Gesetz nichts anderes aus als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller 134 Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Geset135 ze zusammenstimmen können. Diese revolutionäre Theorie Kants befreite die Menschheit vor allem von der Herrschaft des theologischen Absolutismus. Der Mensch soll nur das Prinzip der Rationalität verfolgen, die nach Kant nichts anderes ist als moralisches Handeln, und welche selber nur auf der Autonomie des freien Subjekts und 136 seinen freien Willen gegründet werden kann. Es stellt sich nun die Frage, was geschehen wird, wenn jeder seinen eigenen Willen ungeachtet der anderen verfolgt? Solche radikalen Ansichten bringen eine Gesellschaft innerhalb kurzer Zeit in ein moralisches Chaos. Um diese Frage zu beantworten, soll zunächst beachtet werden, dass Autonomie zwar, wie erwähnt, bei Kant die Verfolgung des freien Willens ist, jedoch bedeutet das nicht, dass jeder das tun kann, was er will. Sondern es geht bei Autorität darum, dass der Mensch nur einem selbst entworfenen Gesetz gehorchen soll, nicht aber erfahrbaren und fühlbaren Faktoren wie Lust und Neigung. Um aber nun der Menschheit einen Weg anzubieten, mit dem man den freien Willen im Sinne Kants deter131 132 133 134 135 136

Vgl. Taylor, Ch. (1979): S. 4. Vgl. Kant, I. (1990): „Kritik der praktischen Vernunft“, Hamburg: Felix Meiner, 10. Aufl., S. 39. Vgl. Taylor, Ch. (1979): S. 5. Maximen sind die subjektiven Verhaltensregeln. Vgl. Kant, I. (1990): S. 39. Vgl. Kerstin, W. (1992): “Politics, Freedom and Order. Kant’s Political Philosophy”, in: Guyer Paul (ed.): “Cambridge Companion to Kant”, Cambridge: Cambridge University Press, S. 342.

56

2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

minieren kann, schlägt Kant eine Formel vor, die die Koexistenz der freien Subjektivität und der Prinzipien der Universalität ermöglicht. Diese Kombination ist nach Kant unzertrennlich und gehört zu unseren initiativen Kennt137 nissen, die Teile unserer Existenz sind. Zunächst sollte den Menschen das „Recht“ erteilt werden, das nach Kant, der Inbegriff der Bedingungen ist, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der 138 Freiheit zusammen vereinigt werden kann. Auf der Basis dieser Definition ist jede Handlung recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen be139 stehen kann. Aus diesen Definitionen wird erkennbar, dass Freiheit in Kants Überlegungen nicht, wie Freiheit im Naturzustand, wie von Hobbes formuliert, schrankenlos ist. Die Freiheit kommt zustande, wenn die Menschen nur die Gesetze (bzw. Sittengesetze) verfolgen, die sie sich selbst gegeben haben. Danach ist keine fremde und heteronome Instanz dazu berechtigt, den autonomen Subjekten Gesetze vorzuschreiben. Hiermit bestätigt Kant die Selbstbestimmungs- und die Freiheitsrechte jedes einzelnen Menschen, jedoch können diesen individuellen Freiheiten durch die Setzung allgemeiner Normen für 140 alle kompatibel werden. Dafür ist es notwendig, dass durch das Recht die Freiheit eines jeden eingeschränkt wird, damit diese Freiheit in Übereinstim141 mung mit der Freiheit von jedermann stehen kann (Universalität). Hierdurch werden die privaten und gesellschaftlichen Handlungen der Menschen reguliert, so dass diese im Rahmen der von ihnen selbst erschaffenen Gesetze frei leben können. Aus der Definition von Recht bildet Kant ein allgemeines 137

138 139 140 141

Vgl. Taylor, Ch. (1979): S. 75; und Vahdat, F. (2002): S. 5. Die ontologische und epistemologische Basis dieser Kombination ist transzendental. Mit transzendental bezeichnet Kant das, was jenseits der menschlichen Erfahrung liegt und von dem keine theoretische Erkenntnis möglich ist. Anders formuliert: Transzendentale Begriffe sind regulative Begriffe, wie die Vorstellung von Freiheit und Gott. Vgl. Kant, I. (1922): „Die Metaphysik der Sitten“, Kellermann, B. (Hg.), Berlin: Bruno Cassirer, S. 31. Vgl. ebd. Vgl. Rückert, J. (2002): „Von Kant zu Kant?“, in: R. Alexy u.a. (Hg.): „Neukantianismus und Rechtsphilosophie“, Baden-Baden: Nomos, S. 89-110 Vgl. Kant, I. (1965): „Politische Schriften“, Gablentz, O. H. (Hg.), Köln u. a.: Westdeutscher Verlag, S. 79.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Rechtsgesetz bzw. eine Formel, die zu dieser Regulierung (zwischen der freien Subjektivität und der Universalität) beitragen soll, welche er als kategori142 schen Imperativ bezeichnet. Sie ist das Sittengesetz ungeachtet aller subjek143 tiven Verschiedenheiten und das Kriterium, das den Menschen die Möglichkeit gibt, ihre Normen und ihre Handlungen darauf zu prüfen, ob sie einer universalisierbaren Maxime folgen. Den Grundsatz des kategorischen Imperativs formuliert Kant in verschiedenen Werken, insbesondere in der „Kritik der praktischen Vernunft“: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als 144 Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Auch in der „Metaphysik der Sitten“ weist er darauf hin: Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen 145 bestehen könne. Alle moralischen Anforderungen basieren auf diesem Standard von Rationalität. Jede Verletzung dieser Regel wird in der Kantischen Ethik der Unsittlichkeit gleichgesetzt. Kants Versuch zur Kombination von Subjektivität und Universalität spiegeln sich in seiner Ansicht von öffentlichem Recht bzw. der Verfassung wieder. Da jede Verbindung zwischen den freien Subjekten nur durch Einschränkung der Freiheit von Einzelnen und deshalb durch Zwang möglich ist, ist die Entwicklung einer bürgerlichen Verfassung unvermeidbar, welche nach Kant nichts anderes ist als ein Verhältnis freier Menschen, die unbeschadet ihrer Freiheit im Ganzen ihrer Verbindung mit anderen doch unter Zwangsgesetzen 146 stehen. Für jeden Einzelnen fordert Kant in der Verfassung das Recht auf Freiheit, für den Untertanen eines Staates das Recht auf Gleichheit und für den Bür142 143 144 145 146

Kategorischer im Gegensatz zum hypothetischen Imperativ ist ohne jede Einschränkung und frei von jeder Bedingung. Vgl. Kant, I. (1990): S. 38. Vgl. ebd.: S. 37. Vgl. ebd.: S. 36. Vgl. Kant, I. (1797): „Die Metaphysik der Sitten“, Königsberg: Nicolovius Verlag, S. 32. Vgl. Kant, I. (1965): S. 79.

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2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

ger das Recht auf Selbstständigkeit. Zudem fordert er, dass jedem Staatsbürger die Befugnis zustehen soll, seine Meinung, besonders hinsichtlich der 148 Religion, öffentlich bekannt zu machen. Die einzige rechtmäßige Verfassungsform, die diese Freiheiten gewährleistet und den Konflikt zwischen den autonomen Menschen vermeidet, ist nach Kant die „einer reinen Republik“, die die einzige bleibende Staatsverfassung ist, in der das Gesetz selbst herr149 schend ist und von keiner besonderen Person abhängt. Für ihn ist alle wahre Republik 147

ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittels ihrer Abgeordneten (De150 putierten) ihre Rechte zu besorgen. Ein Staat umfasst nach Kant drei Gewalten, wodurch der Staat seine Autonomie bildet und erhält und durch deren Vereinigung das Heil des Staats gewährleistet ist: die Herrschergewalt oder Souveränität (Gewalt der Gesetzgeber), die vollziehende Gewalt (Gewalt der Regierenden) und die Recht spre151 chende Gewalt (Gewalt der Richter). Darunter hat die gesetzgebende Gewalt eine besondere Funktion und kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen (…). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, 152 mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein. 147 148

149 150 151

152

Vgl. Kant, I. (1969): S. 80. Vgl. Kant, I. (1969): S. 94; und Schneewind, J. B. (1992): “Autonomy, Obligation and Virtue. An Overview of Kant’s Moral Philosophy”, in: Guyer, P. (Ed.): “The Cambridge Companion to Kant”, Cambridge: Cambridge University Press, S. 310. Denn nach Kant ist, um Despotismus zu besiegen, keine Revolution notwendig, sondern allein durch Meinungsfreiheit können die Reformen in Gang gebracht werden. Hier wird besonders deutlich, dass, so sehr Kant in theoretischen Aspekten ein Revolutionär war, er im Bereich der Politik gegen jede Art von Revolution argumentiert. Vgl. Kant, I. (1797): S. 148-149. Vgl. Kant, I. (1797): S. 149. Vgl. Kant, I. (1965): S. 177; und Kant, I. (1922): S. 124. In der Vereinigung der drei Gewalten besteht nach Kant das „Heil des Staats“, womit er nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit meint, „denn die kann vielleicht (wie Rousseau behauptet) im Naturzustande oder auch unter einer despotischen Regierung viel behaglicher und erwünschter ausfallen, sondern den Zustand der größten Übereinstimmungen der Verfassung mit Rechtsprinzipien, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht“. Vgl. Kant, I. (1922): S. 124. Vgl. Kant, I. (1965): S. 178.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Die verabschiedeten Gesetze dürfen niemandem Unrecht tun. Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer Zivilgesellschaft (societas civilis) heißen Staatsbürger und dürfen keinem anderen Gesetz gehorchen, als zu welchem 153 sie ihre Zustimmung gegeben haben. Jedoch: „Nur die Fähigkeit der 154 Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus.“ Hier kommen wir zu einem Punkt, in dem Kant, trotz aller seiner Bemühungen für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft, die Staatsbürgerschaft eingrenzt. Zunächst schließt er die Frauen grundsätzlich von den Staatsbürgern aus und zum anderen war er der Meinung, dass die Selbstständigkeit das wichtigste Attribut für einen Bürger ist. Dafür ist eine Art von Vermögen (aber auch 155 Wissen, künstlerische Fähigkeiten oder Qualifikationen) notwendig. Trotz dieser und anderer Kritik an Kants Staatsphilosophie wird deutlich, dass er eine Republik als die beste Staatsform vorstellt, in der die Legitimation bzw. Legitimierbarkeit der staatlichen Gesetzgebung nur durch das Volk möglich ist. Für ihn ist jede Regierung, die gleichzeitig gesetzgebend ist, despotisch. Obwohl er in seinem Werk „Zum ewigen Frieden“ Demokratie dem Despotismus gleichsetzt, wird mit genauerer Betrachtung dieses Abschnittes klar, dass er damit die Versammlungsdemokratie und nicht die repräsentative De156 mokratie meint. Für ihn sind alle Regierungsformen, die nicht repräsentativ sind, eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens (so wenig wie das allgemeine des Obersatzes in einem Vernunftschlusse zugleich die Subsumtion des Besondern unter je157 nem im Untersatze) sein kann. 153 154 155

156

157

Vgl. Kant, I. (1797): S. 120. Vgl. Kant, I. (1965): S. 178. Vgl. Kant, I. (1797): S. 120-121. Hiermit möchte Kant deutlich machen, dass, so lange ein Mensch für die Erhaltung seiner Existenz auf den anderen angewiesen ist, seine Stimme stets von anderen abhängig wird. Dieser Punkt ist zwar richtig und realitätsnah, jedoch scheint es keine richtige Lösung für dieses Problem zu sein. Vgl. Kant, I. (1797): S. 146-147; und Dreier, H. (2005): S. 149-150; sowie Kant, I. (1913): „Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik“,Vorländer K. (Hg.), Leipzig: Felix Meiner, S. 128-129. In den „Kleineren Schriften“ schreibt Kant: „Demokratie ist im eigentlichen Verstande des Wortes notwendig ein Despotismus, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wieder Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist“. Vgl. Kant, I. (1913): S. 129. Vgl. Kant, I. (1913): S. 129.

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2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

Die am meisten despotischen Regierungen sind die väterlichen (regimen paternale), die ihre Bürger als Kinder behandeln. Eine optimale Regierung ist nach ihm patriotisch bzw. vaterländisch (regimen civitatis et patriae), wo der Staat selbst (civitas) seine Untertanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d.i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbständigkeit, behandelt, jeder sich selbst besitzt und nicht vom absoluten Willen eines anderen neben oder über 158 ihm abhängt. Wie bereits gesehen, räumt Kant dem Staat bestimmte Aufgaben ein. Der Staat bzw. der Souverän ist nicht der Vater des Landes und darf nicht väterliche Entscheidungen treffen, auch nicht um damit das Volk nach seinen Begriffen glücklich zu machen. Ein solcher Staat wird Despot und das Volk wird Rebell. Denn: Das Volk will sich den allgemeinen menschlichen Anspruch auf eige159 ne Glückseligkeit nicht nehmen lassen und wird Rebell. Zudem gehört es nicht zur Aufgabe des Staates, die Menschen zu bessern und sie zu tugendhaften Menschen zu erziehen, sondern seine Aufgabe be160 steht darin, die sittliche Autonomie zu ermöglichen. Die Aufgabe des Staates und der Regierung besteht allein darin, die Durchsetzung der Rechte und Pflichten des Volkes zu garantieren. In Kants Werken stehen immer die privat individuelle und gesamtstaatlich kollektive Selbstbestimmung parallel nebeneinander, und in beiden Sphären soll die Selbstgesetzgebung dominieren. Daraus resultiert: Because we are autonomous, each of us must be allowed a social space within which we may freely determine our own action. This freedom cannot be limited to members of some privileged class. The structure of society must reflect and express the common and equal 161 capacity of its members. Ebenfalls bemerkenswert ist die Funktion der Religion in Kants Philosophie. Einerseits ist sie nicht fähig, die Einheit zwischen Subjektivität und Univer158 159 160 161

Vgl. Kant, I. (1922): S. 123. Vgl. Kant, I. (1965): S. 92. Vgl. Hofmann, H. (2003): „Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie“, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges., S. 39, zit. nach: Dreier, H. (2005), S. 139. Vgl. Schneewind, J. B. (1992): S. 309-310 .

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

salität herzustellen. Außerdem lehnt Kant jede Ableitung der ethischen Gesetze (und jeglicher Form von Gesetzen) von der Religion ab: Alle Religion setzt Moral voraus, demnach kann die Moral nicht aus 162 der Religion abgeleitet werden. Auf der anderen Seite war er der Meinung, dass, um den moralischen Gesetzen Nachdruck und Realität zu geben, die Existenz eines heiligen, gütigen 163 und gerechten Wesens (Gott) notwendig ist. Ohne diese Vorstellung stuft 164 sich die Moral zu einer Idee herab. Religion ist nach Kant das, „was der Sittlichkeit Gewicht gibt, es soll 165 Triebfeder der Moral sein“. Religion stellt Verbindlichkeiten her, die zum Teil die Implementierung von Gesetzen garantieren. Sie ist „die Bedingung, 166 sich die verbindende Kraft der Gesetze zu denken“. An dieser Vorstellung von Religion und an Kants Konzept von Subjektivitätsfreiheit übt Hegel Kritik und versucht, durch Entwicklung der Konzeption des Geistes diese Schwächen zu beseitigen.

2.2.2

Hegel: Bewusstsein und Erkenntnis der Freiheit

Hegels Philosophie 162 163 164 165 166 167 168

168

167

ist die Philosophie der Einheit. Für ihn konnte kein frü-

Vgl. Kant, I. (1924): „Eine Vorlesung Kants über Ethik“, Menzer, P. (Hg.), Berlin: Heise Verlag, S. 101. Nach Sigmund Freud beruht diese Verbindlichkeit vor allem auf dem Gefühl von Angst und Unsicherheit angesichts der Zukunft. Vgl. Freud, S. (1927): „Die Zukunft einer Illusion“, Leipzig u.a.: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Vgl. Kant, I. (1924): S. 102. Vgl. ebd.: S. 102. Vgl. ebd.: S. 102. Das Verständnis und die Entwicklung dieses Kapitels verdanke ich zu großen Teilen den Werken von Taylor, Ch. (1979), Habermas, J. (1986), Vahdat, F. (2002) und den Seminarreihen von Tabatabaei, J. über die Phänomenologie des Geistes (2008). Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) war ein deutscher Philosoph der Aufklärung und der wichtigste Vertreter des Deutschen Idealismus. Im Jahr 1788 nahm er sein Studium der evangelischen Theologie und Philosophie auf. Im Jahr 1801 habilitierte er sich in Jena und wurde dort neben Schelling Mitherausgeber des „Kritischen Journals der Philosopie“. 1816 begann er seine Tätigkeit als Professor in Heidelberg und Berlin. Sein Idealismus und seine Geschichtsphilosophie führten zu einer enormen Wandlung in der europäischen Philosophie. So wurde u.a. Karl Marx von ihm beeinflusst, und somit wurde die Hegelsche Philosophie der Ausgangspunkt für den Marxismus. Hegels höchst komplizierte Werke basieren hauptsächlich auf dem dialektischen System. Er widmete sein gesamtes Leben der Geschichte, ihr galt seine besondere Aufmerksamkeit. Nach Hegel ist Freiheit das Ziel der menschlichen Geschichte. Dadurch, dass Selbsterkenntnis und Selbstentfaltung der Menschheit im Laufe der Geschichte stets gestiegen sind, entwickelte sich die

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2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

heres philosophisches Konzept eine wahrhafte Einheit zwischen Subjektivität und Universalität herstellen. Er sah in der Philosophiegeschichte übertriebene Tendenzen entweder hinsichtlich der Universalität oder der Individualität. Entweder wurde dem Menschen das Recht der Individualität bzw. Recht auf Subjektivität, wie in der Konzeption von Plato, grundsätzlich verweigert, wodurch das Individuum sich dem Staat unterwerfen sollte, oder es wurde nach der Aufklärung nur auf die Subjektivität und den freien individuellen Willen Wert gelegt. Sogar die von Kant entwickelte Subjektivitätskonzeption besaß zwar nach seiner Ansicht eine beispiellose Kraft, „eine Bildung der subjektiven Freiheit und der Reflexion hervorzubringen und die Religion, die bis dahin als die schlechthin einigende Macht aufgetreten war, zu untermi169 nieren“, jedoch erwies sich dieses Prinzips als einseitig, denn es war nicht mächtig genug, „um die religiöse Macht der Vereinigung im Medium der Ver170 nunft zu regenerieren“. Die Herabsetzung der Religion in Kants Theorie, so Habermas, „führt zu einer Spaltung von Glauben und Wissen, die die Aufklä171 rung nicht aus eigener Kraft überwinden kann”. Deshalb setzte sich Hegel die Aufgabe, diese Spaltung in seiner Philosophie zu minimieren bzw. zu beseitigen. Wie andere Dimensionen seiner Philosophie, die mit geschichtlichen Erklärungen verbunden sind, stellt Hegel die Diskrepanz zwischen den beiden extremen Positionen am Beispiel der Griechen und Frankreichs nach der französische Revolution dar. Vor allem das Problem der Vereinigung von Subjektivität und Universalität und freiem Willen des Individuums und der Natur ist ein Problem des Jünglingsalters der Menschheitsgeschichte, das im Okzident zustande kam. Im Orient erlebte die Menschheit nur ihr „Kindesalter“, denn zwar sind in der orientalischen Welt für uns Staaten vorhanden; aber (...) im Staatsleben finden wir die substanzielle, d.i. die realisierte vernünftige Freiheit, die sich entwickelt, ohne aber in sich zur subjekti-

169 170 171

menschliche Geschichte hin zu mehr Rationalität und mehr Freiheit. Dialektik war der Motor dieser Entwicklung. Die Vollkommenheit der menschlichen Entwicklung sieht Hegel im „Geist“ (das Absolute). Mit seiner Dialektik wollte Hegel eine Konzeption schaffen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft philosophisch zu verstehen sind. Vgl. Pinkard, T. (2000): „Hegel. A Biography“, Cambridge u.a.: Cambridge University Press. Vgl. Habermas, J. (1986): S. 31. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

ven Freiheit fortzugehen. Staat ist das substanziell für sich gedachte 172 in der Form eines allgemeinen substanziellen Zwecks für alle. Erst wenn die Menschheit in Griechenland im Jünglingsalter ankommt, werden subjektive Freiheit und Substantialität vereint. Hier müssen die Individuen nicht wie im Orient äußerlich zum Gehorsam gezwungen werden. Das Bewusstsein ist auf dieser Stufe nicht mehr bloß in die Natur versenkt, sondern fortgeschritten zum Bewusstsein der Freiheit wenn 173,174 auch noch nur partiell. Jedoch stellte die griechische Einheit noch eine primäre (erste) Einheit dar, denn sie war unmittelbar. Anders gesagt, es war keine Einheit von Substan175 tialität und subjektiver Freiheit: Der Griechische Mensch hat zwar die Gewissheit dieser Einheit, aber er weiß sich selbst noch nicht als Subjektivität, noch nicht als dieses Fortgehen zum Wissen seiner selbst als alles bestimmendes Fürsichsein. Sein Wissen fällt als naturwüchsiges Vertrauen immer schon in 176 die Polis (…) und die Polis bedeutet ihm seine ganze Welt. Vor allem diese Schwäche führte letztlich zum Untergang des griechischen Reiches, da hier der einzelne Wille noch gänzlich unmittelbar im allgemeinen Willen aufging. Zur Freiheit gehört jedoch wesentlich die Anerkennung der 177 subjektiven Freiheit und Einzelheit. 172 173 174

175 176 177

Hegel, G. W. F. (1970): „Die Vernunft in der Geschichte“, Hoffmeister, J. (Hg.), Hamburg: Felix Meiner, 5. Aufl., S. 248-249. Über die partielle Freiheit wird später noch gesprochen. Gemeint ist hier, dass in Griechenland nur einigen Menschen das Recht auf Freiheit erteilt worden war und nicht allen. Vgl. Bockenheimer, E. (2012): „Georg Wilhelm Friedrich Hegel“, in: Heinz, M., Doye, S. (Hg.): „Geschlechterordnung und Staat: Legitimationsfiguren der politischen Philosophie (1600–1850)“, Berlin: Akademie Verlag, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderbd. 27, S. 316. Vgl. Hegel, G. W. F. (1970): S. 250. Vgl. Eichenseer, G. K. (1997): „Staatsidee und Subjektivität. Das Scheitern des Subjektgedankens in Hegels Staatsphilosophie und seine Konsequenzen“, Regensburg: Roderer Verlag, S. 26. Auf der anderen Seite war die griechische Antike wesentlich gekennzeichnet durch die Entwicklung des Natürlichen zum Geistigen. Um jedoch den Geist aus der Natur herauszubringen und die Rechtsverhältnisse zu etablieren, wurde für den Griechen ein Konflikt zwischen Familie und Polis unvermeidbar. Denn die Familie war stark

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2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

Auf der anderen Seite wurde durch die französische Revolution ein extremer Gegenpol zu dieser Situation in der Geschichte der Menschheit entwickelt, in der der Mensch sich von jeglichem Substanziellen und von der Allgemeinheit entfernte. In der französischen Revolution und danach in der Aufklärungsepoche wurde das von Rousseau entwickelte und vertretene Konzept des freien Willens als Basis des menschlichen Handelns betrachtet. Hier kam es ebenfalls zu einem Konflikt zwischen den kollektiven Vorschriften und dem 178 freien Willen des Subjektes. Für Hegel war es klar, dass die private und die kollektive Sphäre des menschlichen Lebens zwar voneinander getrennt sein sollten, jedoch kann eine Gesellschaft nur dann funktionieren, wenn darin das Individuum und die Allgemeinheit (Universalität) vereint werden. Diese beiden Sphären stehen immer im Widerspruch zueinander, jedoch können sie vereint werden. Nur ein System, in dem es eine Dialektik zwischen diesen Sphären (zwischen Subjekt und Allgemeinheit bzw. zwischen Widerspruch und Einheit) gibt, kann weiterhin bestehen, sonst kann der Konflikt zwischen diesen jederzeit zu einer Katastrophe führen. Um sein Vereinheitlichungskonzept zu beschreiben, stellt er zunächst seine Ansicht von Subjektivität und Freiheit des Individuums dar. Wie Kant erläutert Hegel auch den Begriff „Subjektivität“ durch Freiheit (und Reflexion) und würdigt die Freiheit der Subjektivität als das Prinzip der neueren Welt überhaupt, „dass alle wesentlichen Seiten, die in der geistigen Totalität vor179 handen sind, zu ihrem Recht kommend sich entwickeln“. Die Persönlichkeit und allgemeine Willensfreiheit waren für ihn, im Gegensatz zum Eigentum, unveräußerlich. Der fehlenden Freiheit des Subjektes setzt Hegel die

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179

an Naturvoraussetzungen gebunden, während in der Polis für die Entwicklung des menschlichen Geistes jeglicher Zusammenhang mit den Naturvoraussetzungen abgebrochen werden musste. Vor allem macht sich dieser Konflikt im Gesetzesrahmen der Polis sichtbar. Das Gesetz der Familie wurde von den Gesetzen der Polis getrennt. Das göttliche Gesetz wurde im Rahmen der Familie (das Autoritätsgebiet der Frauen) und das menschliche in der Polis (Autoritätsgebiet der Männer) ausgeübt. Sie waren nicht miteinander zu vereinen. Und die Polis richtete sich gegen die gesellschaftliche Macht der Familie und damit gegen eine Macht einer autonomen Gemeinschaft innerhalb der Polis. Vgl. Bockenheimer, E. (2010): S. 316-17; und Hegel, G. W. F. (1970): S. 249-250; und Tabatabaei, J. (2008), DVD 2, Teil 4. Obwohl, wie bereits dargestellt, auch das griechische Reich daran scheiterte, einen solchen Konflikt zwischen Kollektivität und Individuum zu lösen, liegt der Unterschied zur französischen Revolution darin, dass bei den Griechen der „freie Wille des Individuums“ im Sinne von Rousseau noch unbekannt war. Vielmehr stellte bei den Griechen die Familie das Gegengewicht zur Polis dar. Vgl. Hegel, G. W. F., in: Habermas, J. (1986): S. 27.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

„Entäußerung der Persönlichkeit“ gleich, die sich vor allem in der Sklaverei 180 widerspiegelt. In der Freiheit des Subjektes sieht er das Ziel der Geschichte. Jedoch ist dieses Ziel nach Hegel nur dann erreichbar, wenn der Mensch sich bewusst wird, dass er frei ist. So schreibt er: Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit.

181

Die Entwicklung dieses Bewusstseins ist im Laufe eines historischen Prozesses möglich gewesen: Die Orientalen wissen es nicht, dass der Geist oder der Mensch als solcher an sich frei ist. Weil sie es nicht wissen, sind sie es auch nicht. Sie wissen nur, dass Einer frei ist; aber ebendarum ist solche Freiheit nur Willkür, Wildheit, Stumpfheit der Leidenschaft oder auch eine Milde, Zahmheit derselben, die nur ein Naturzufall oder eine Willkür ist. Dieser Eine ist darum nur ein Despot, nicht ein freier Mann, ein Mensch. In den Griechen ist erst das Bewusstsein der Freiheit aufgegangen und darum sind sie frei gewesen; aber sie, wie auch die Römer, wussten nur, dass Einige frei sind, nicht der Mensch als solcher. Dies wussten Plato und Aristoteles nicht; darum haben die Griechen nicht nur Sklaven gehabt und ist ihr Leben und der Bestandteil ihrer schönen Freiheit daran gebunden gewesen, sondern ihre Freiheit war selbst teils nur eine zufällige, unausgearbeitete, vergängliche und beschränkte Blume, teils zugleich eine harte Knechtschaft des menschlichen, des Humanen. Erst die germanischen Nationen sind im Christentum zum Bewusstsein gekommen, 182 dass der Mensch als Mensch frei ist. Dass der Mensch das Recht auf Freiheit hat, ist für Hegel unumstritten. Er schreibt: Des Geistes Substanz ist die Freiheit. Sein Zweck in dem geschichtlichen Prozess ist hiermit angegeben: die Freiheit des Subjekts, dass es sein Gewissen und seine Moralität, dass es für sich allgemeine Zwecke habe, die es geltend mache, dass das Subjekt unendlichen Wert 180 181 182

Vgl. Hegel, G. W. F. (1955): „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Hoffmeister, J. (Hg.), Hamburg: Felix Meiner, 4. Aufl., S. 72-73; und Vahdat, F. (2002): S. 13. Vgl. Hegel, G. W. F. (1970): S. 63. Vgl. Hegel, G. W. F. (1970): S. 62.

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2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

habe und auch zum Bewusstsein dieser Extremität komme. Dieses Substanzielle des Zwecks des Weltgeistes wird erreicht durch die 183 Freiheit eines jeden. Jedoch unterscheidet sich seine Auffassung des Rechts auf Freiheit von derjenigen Kants in zwei Punkten. Zunächst kritisiert Hegel Kants Definition von Recht (als „der Inbegriff der Bedingungen (...), unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Frei184 heit zusammen vereinigt werden kann“), weil es z.T. negativ ist. Das heißt, es basiert nach Hegel auf der Beschränkung der Freiheit oder Willkür des Einzelnen, so dass sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Ge185 setz zusammen bestehen könne. Andererseits ist die Kantische Definition inhaltlich abstrakt, leer und formell, denn in diesem Sinne ist die Willkür nur der Wille des besonderen Individuums; sie ist „als Wille des Einzelnen in sei186 ner eigentümlichen Willkür“. Obwohl auch Kant die wahre Willensfreiheit im sittlichen Gesetz und nicht im freien Befolgen der natürlichen Leiden schaften bzw. eigentümlichen Willkür des Menschen sieht, ist der Wille für 187 Hegel „nicht an sich und für sich seiender, vernünftiger“ Wille. Denn nach Hegel ist der menschliche Wille ephemer und nicht das, was Hegel als wahre 188 Willkür bzw. als Wille des wahren Geistes bezeichnet. 189 Der Begriff „Geist“ ist der Schlüssel zu Hegels Vereinheitlichungskonzept. Um diesen Begriff besser zu verstehen, sollten einige Punkte in seiner Philosophie näher untersucht werden. 190 Religion (Christentum) spielt in Hegels Philosophie eine zentrale Rolle. 183 184 185 186 187 188 189 190

Vgl. ebd.: S. 64. Vgl. Kant, I. (1922): S. 31. Vgl. Hegel, G. W. F. (1967): „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Hoffmeister, J. (Hg.), Hamburg: Felix Meiner, 4. Aufl., S. 45. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Beim Begriff „Geist“ handelt es sich um eines der vielseitigsten und kompliziertesten Konzepte in Hegels Philosophie. Der Artikel von Solomon ist besonders hilfreich, um das Thema besser zu verstehen. Vor allem wollte Hegel die Dreifaltigkeit Gottes im Evangelium verstehen. Auf der Suche nach einer Erklärung beginnt er mit der Beobachtung der Natur und versucht am Beispiel einer Pflanze eine logische Begründung dafür zu finden. Eine Pflanze ist am Anfang ein Samen, dann wächst sie zu einer Blüte und am Ende zu einer Frucht. Diese drei Phasen, die einen Kreis bilden, können auch im Leben der Menschen und in der Geschichte der Welt betrachtet werden. Im Laufe dieser Wandlung verändert sich alles und wird zunächst zu seinem Gegenstand, und schließlich kehrt dieser zu sich selbst zurück. Diese drei Phasen sind zwar wider-

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Es kann behauptet werden, dass die gesamte „Phänomenologie des Geistes“ ein Versuch war, die christliche Religion mit Hilfe der Vernunft in eine Freiheitslehre umzuwandeln. Anders formuliert ist dieses Werk eine andere Version der Bibel, die auf Grundlage von Vernunft und nicht von Theologie geschrieben worden ist. Philosophie ist für Hegel nichts anderes als bewusst-volle Religion. Beide suchen auf verschiedenen Wegen dasselbe, näm191 lich Gott. Demgemäß ist Geist grundsätzlich ein religiöses Konzept. Es bezieht sich auf eine Art allgemeines Bewusstsein; ein “single mind common to 192 all men”. Geist ist die Gemeinsamkeit von Subjektivität und Universalität. Die Begründung hierfür lautet: Hegel betrachtete die Subjektivität als eine radikale Autonomie, deren Wurzel in der Vernunft zu finden war, und Universalität als die Tatsache, dass wir zur Natur gehören. Die beiden sind zwar unterschiedlich, aber eine Synthese zwischen den beiden ist möglich. Die Natur und unsere Subjektivität sind an sich – wie alles andere in der Welt – widersprüchlich und wandeln sich von Zeit zu Zeit. Um diese Dynamik der Welt zu verstehen, sollte unser Denken dynamischer werden. Durch die dialektische Denkform sollte unser starres Denken in Bewegung versetzt werden, um der lebendigen Wirklichkeit entsprechen und die Zusammenhänge verstehen zu können. Dialektik ist deshalb Hegel zufolge „der Motor der Ge193 schichte“. Erreicht der Mensch diese Denkart, dann ist zwischen Subjektivität und Universalität – sowie zwischen Leben und Denken, Vernunft (Freiheit) und Natur – eine dialektische (und nicht Kantische) Dualität zu finden. 194 Sie stehen gleichzeitig im Widerspruch und bilden eine Einheit. Diese Wi-

191 192 193 194

sprüchlich, bilden aber das ganze Selbst. Sie müssen immer zusammen betrachtet werden, denn nur das Ganze ist das Wahre. Im Christentum ist Gott als Geist offenbart, und zwar ist er zuerst Vater, Macht, abstraktes Allgemeines, das noch eingehüllt ist. Als zweites ist er der Gegenstand, ein anderes Sein als er selbst, ein sich Entzweiendes; der Sohn. Dieses Anders sein als er selbst ist aber unmittelbar er selbst. Er weiß sich darin und schaut sich darin an. Und eben dies ist drittens der Geist. Das heißt, nur das Ganze ist der Geist, weder das eine noch das andere für sich allein. Vgl. Conradt, M.: „Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Die Welt ist Geist”, ein Werk vom Institut für angewandte Philosophie (Erstsendung in „Radio Wissen – Bayern 2“, am 02.03.2011). Vgl. Conrad, M. (2011), und Tabatabaei, J. (2008): DVD 4, Teil 1-2. Vgl. Solomon, R. C. (1970): “Hegels concept of Geist”, in: “Review of Metaphysics”, Washington D.C.: Philosophy Education Society, Volume 23, S. 642. Vgl. Vahdat, F. (2002): S. 15. Hegel versucht, die Auffassung des Unterschieds zwischen Wirklichkeit und Erkenntnis, zwischen Erkennbarem und Erkennendem zu beseitigen. Wenn also die Wirklichkeit und deren Erkenntnis zusammen kommen, dann kann es sich nicht um zwei unterschiedliche Dinge handeln, z.B. dort die Natur und hier unsere Erkenntnis. Sondern wir können mit unserer Vernunft die Natur betrachten, weil die

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2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

dersprüche sind aber keine Anzeichen des Falschen, sondern des Wahren. Mit anderen Worten:

195

in order to be at all as a conscious being, the subject must be embodied in life, but in order to realize the perfection of consciousness 196 it must fight and overcome the natural bent of life as a limit. Nach dialektischer Denkweise wurden wir zunächst von der kosmischen Ordnung und von der Natur getrennt und später damit wieder vereint. Die Hegelsche Vereinigung von Subjektivität und Universalität kommt durch deren einzigartige Gemeinsamkeit zustande, nämlich den Geist. Er ist eine Mi197 schung von Seele in traditioneller Theologie und Verstand des Individuums. Anders ausgedrückt, der Geist kann dem Gott gleichgesetzt werden. Jedoch wie bereits erwähnt hat Hegel versucht, die Religion durch die Vernunft neu zu interpretieren. In solchem vernunftorientierten Denken, das nach der Aufklärung zustande kam und in dem sogar die religiösen Begriffe nicht er198 wünscht waren, heißt Gott nicht mehr Gott, sondern Geist. Das Wesen des Geistes besteht aus Freiheit und Vernunft. Wir als Menschen sind Träger dieses Geistes in seiner physischen Verkörperung, wenn er zum Selbstbewusst199 sein kommt. Viele Autoren bezeichnen heute das Konzept von Geist als phantasmago200 risch, jedoch gelang es Hegel dadurch, die Subjektivität mit drei Sphären der Universalität (innere Natur, äußere Natur und Gesellschaft) zu vereinen. Mit Hilfe des Geistes können wir unsere Subjektivität und Vernunft behalten, ohne Gefangene unserer Lust und unserer Instinkte (innere Natur) und der Natur (äußere Natur) zu sein. Denn der Geist ist selbst Freiheit und Ver201 nunft. Die wahre Versöhnung von der Subjektivität und Gesellschaft ist jedoch eine komplizierte Angelegenheit. Hegel ist ausdrücklich der Ansicht,

195 196 197 198

199 200 201

Natur an sich vernünftig strukturiert ist. Die Natur und unser Denken sind so dasselbe und sind beide vernünftig. Vgl. Vahdat, F. (2002): S. 15; und Conradt, M. (2011); und Taylor, Ch. (1979): S. 21-22. Vgl. Taylor, Ch. (1979): S. 21-22. Vgl. Solomon, R. C. (1970): S. 647. Auch Carl Schmidt, einer der bedeutenden politischen Theoretiker des 20. Jh., war der Ansicht, dass alle politischen Begriffe, die im 20. Jh. entwickelt worden waren, nichts anderes sind als eine Umwandlung der religiösen Begriffe (nach der Aufklärung). Vgl. Vahdat, F. (2002): S. 15. Vgl. Vahdat, F. (2002): S. 16. Vgl. Taylor, Ch. (2005): S. 50-51.

69

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

dass die individuellen Interessen des Subjektes nicht „dauerhaft bei Seite gesetzt oder gar unterdrückt werden sollen, sondern mit allgemeinen in Übereinstimmung gesetzt werden, wodurch es selbst und das Allgemeine erhalten 202 wird.“ Dieses Ziel erreicht er mit Hilfe des Konzepts der Sittlichkeit oder dem sogenannten „ethischen Leben“. In diesem Sinne ist Sittlichkeit die Einheit des Willens in seiner Allgemeinheit und dem Willen des Einzelnen (des 203 Subjektes). Durch diese Synthese versucht Hegel beide Rechte, das heißt das Recht auf individuelle Freiheit und das Recht auf Kollektivität, zu schützen. Auch die Sittlichkeit hat drei Stufen. Deren erste Stufe ist die Familie (natürlicher Geist), das ist die primäre Einheit von Subjektivität und Kollektivität. Auf der zweiten Stufe, nämlich der bürgerlichen Gesellschaft, geschieht die Entzweiung und Erscheinung der sittlichen Substanzen. Dies ist die Stufe, auf der das Individuum Selbstentfremdung erlebt. Das heißt, die Freiheit des Subjektes widerspricht der Freiheit der Allgemeinheit, der Gesellschaft und ihren Institutionen. Erst auf der dritten Stufe der Sittlichkeit, das heißt mit 204 Entstehung des Staates, gelingt es, dass die freie Selbständigkeit des beson205 deren Willens mit allgemeiner und objektiver Freiheit wiedervereint wird. Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee.

206

Im Staat allein hat der Mensch vernünftige Existenz. Alle Erziehung geht dahin, dass das Individuum nicht ein Subjektives bleibe, sondern sich im Staate objektiv werde. (...) Alles was der Mensch ist, verdankt er dem Staat; er hat nur darin sein Wesen. Allen Wert den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, hat er allein durch den Staat. Denn seine geistige Wirklichkeit ist, dass ihm als Wissenden sein Wesen, das Vernünftige gegenständlich sei, dass es Objektives, unmittelbares Dasein für ihn habe; so nur ist er Bewusstsein, so nur

202 203 204

205 206

Vgl. Hegel, G. W. F. (1967): S. 217. Vgl. ebd.: S. 49. Staat und bürgerliche Gesellschaft sind nicht identisch. Die bürgerliche Gesellschaft ist ein Mittel für die „Sicherheit der Personen und des Eigentums“. Deshalb ist Mitgliedschaft in ihr, im Gegensatz zum Staat, freiwillig. Vgl. Hegel, G. W. F. (1967): S. 149. Man könnte behaupten, dass Hegels Ansicht von bürgerlicher Gesellschaft mit Volonté de tout und der Staat mit Volonté general bei Rousseau gleichgesetzt werden können. Vgl. Hegel, G. W. F. (1967): S. 49/149; und Hegel, G. W. F. (1970): S. 122; und Taylor, Ch. (1979): S. 48. Vgl. Hegel, G. W. F. (1967): S. 207.

70

2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

ist er der Sitte, dem rechtlichen und sittlichen Staatsleben. Denn das 207 Wahre ist die Einheit des allgemeinen und Subjektiven Willens. Auf diese Weise gelang es Hegel, eine Einheit zwischen Individuum und Staat auf der Basis der Vernunft herzustellen. Er erkennt Kants Einsicht der Vernunft als den Grund (Substanz) von Freiheit ausdrücklich an und definiert 208 sie als „das ganz frei sich selbst bestimmende Denken.“ Zu der Annahme, dass Freiheit erst mit der Entstehung der Subjektivität möglich sei, fügt Hegel noch ein anderes Prinzip hinzu, nämlich die bewusste Reflektion und Erkenntnis von Freiheit und Recht auf Subjektivität durch das Individuum. Nach Hegel kann „erst in Verbindung mit Selbststand und Selbsterkenntnis 209 von Freiheit im eigentlichen Verständnis gesprochen werden“ und der Freiheitsgedanke nur durch „Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst“ möglich sein. Für ihn ist „Freiheit (...) Selbstbewusst210 211 sein“. Es gibt keine unbewusste Freiheit. Er lobte die Völker, die bewusst Bestandteile ihrer Kultur wie Glaube, Vertrauen und Bräuche erkannten, kritisierten und veränderten. Auf der anderen Seite kritisiert er das Prinzip 212 der Nicht-Kritisierbarkeit in der Religion. Eine Religion kann nur in der Gesellschaft funktionieren, wenn sie stets zeitgemäß gelesen, interpretiert und kritisiert werden kann. Dazu schreibt Habermas: Hegel betrachtet die Religion als die Macht, die Rechte, die die Vernunft erteilt hat, auszuführen und geltend zu machen. Aber eine solche Macht kann die Idee Gottes nur erlangen, wenn die Religion den Geist und die Sitten eines Volkes durchdringt, wenn sie in den Institutionen des Staates und in der Praxis der Gesellschaft gegenwärtig ist, wenn sie die Denkart und die Triebfedern der Menschen für die Gebote der praktischen Vernunft empfindlich macht und sich ins Gemüt einprägt. Nur als Element des öffentlichen Lebens kann die 213 Religion der Vernunft praktische Wirksamkeit verleihen. 207 208 209 210 211 212 213

Vgl. Hegel, G. W. F. (1970): S. 111-112. Vgl. Hegel, G. W. F. (1970): S. 39. Vgl. Eichenseer, G. K. (1997): S. 20. Vgl. ebd.: S. 20. Vgl. ebd.: S. 21. Vgl. Vahdat, F. (2002): S. 22. Vgl. Habermas, J. (1986): S. 36. Weiterhin schreibt Habermas: „Hegel lässt sich von Rousseau inspirieren, wenn er für die echte Volksreligion drei Forderungen aufstellt: ,Ihre Lehren müssen auf der allgemeinen Vernunft gegründet sein. Phantasie, Herz, Sinnlichkeit müssen dabei nicht leer ausgehen. Sie muss so beschaffen sein,

71

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Gleichzeitig ist die durch die Aufklärung entstandene Vernunftreligion allein nicht zur Befriedigung der Bedürfnisse einer Gesellschaft fähig, denn: Sie ist unfähig, das Herz zu interessieren und Einfluss auf Empfindungen und Bedürfnisse zu nehmen. Auch sie bringt es nur zu einer anderen Art Privatreligion, weil sie von den Institutionen des öffentlichen Lebens abgeschnitten ist und keinen Enthusiasmus weckt. Erst wenn sich die Vernunftreligion in Festen und Kulten öffentlich darstellt, sich mit Mythen verbände, Herz und Phantasie anspräche, könnte sich die religiös vermittelte Moral in den ganzen Zusammen214 hang des Staates einweben. Anders formuliert, Vernunft als Grundlage der Subjektivität bzw. Freiheit des Subjektes ist zwar ein wichtiger Schlüssel zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, dennoch hat jedes Individuum außer einem Verlangen nach Freiheit auch das Verlangen, seine sinnlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse wird Hegel zu Folge vom Staat, als „Geist ei215 nes Volkes“, ermöglicht. Damit meint Hegel einen Staat, der die politische Freiheit garantiert: Die Vernunft in der Religion gewinnt objektive Gestalt nur unter Bedingungen politischer Freiheit. Die Volksreligion, die große Gesin216 nungen erzeugt und nährt, geht Hand in Hand mit der Freiheit. Die Teilnahme der Bürger an der politischen Entscheidungsbildung im Rahmen eines freien politischen Systems bedeutet gleichzeitig die Verwirklichung der Freiheit des Individuums. Andererseits ist das Bedürfnis nach sittlichem Leben die Grundlage der politischen Teilnahme jedes Einzelnen; falls dieses auf Grund fehlender politischen Freiheit nicht erfüllt wird, wird eine 217 Revolution ausgelöst. Nur wenn die Institution des Staates vom Individuum als vernünftig anerkannt wird und es diesen als eine organische Totalität akzeptiert, wird die Gegenüberstellung von Individuum und Staat aufge-

214 215 216 217

dass sich alle Bedürfnisse des Lebens, die öffentlichen Staatshandlungen daran anschließen.‘“ Vgl. ebd. S. 37. Vgl. Hegel, G. W. F. (1955). Vgl. Habermas, J. (1986): S. 37. Vgl. Wei, C. Y. (2010): „Hegels Theorie des sittlichen Staates“, München: LMU, S. 178-179.

72

2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

löst. In diesem Moment ist die sittliche Freiheit die Vereinigung der Individuellen Freiheit und der Substantialität des Staates. Diese sittliche Freiheit wird deswegen nicht durch die Abschaffung der persönlichen Freiheit oder des abstrakten Rechts durchgesetzt. Viel mehr ist es die gegenseitige Durchdringung der persönlichen Freiheit 218 und der Substantialität des Staates gerechtfertigt. Wie sich aus den dargestellten Subjektivitätstheorien von Kant und Hegel herauskristallisiert, kann der Konflikt zwischen Individuum und Staat einerseits nicht ohne Realisierung des Ziels der Aufklärung, nämlich der Gestal219 tung vernünftiger Lebensverhältnisse, und andererseits nicht ohne die Anerkennung der Freiheit des Individuums realisiert werden. Dafür sollte nach Kant und Hegel zunächst ein vernünftiges autonomes Subjekt entstanden sein, das sich seiner Freiheit bewusst ist und sie erkennt. Dies geschieht für Hegel und Kant durch Bildung, was im Folgenden näher untersucht wird.

2.2.3

Bildung als Grundlage der Autonomie und des Bewusstseins

Die theologischen Wurzeln des Begriffs „Bildung“, der zum ersten Mal im 14. Jh. von Meister Eckhardt in die deutsche Sprache eingeführt worden ist, prägte den nach der homo imago dei-Lehre überlieferten Glauben an die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und wurde als Vergottung der Seele verstanden. Danach sollte der Mensch sich an dem Bild Gottes ausrichten und bilden. In diesem Sinne hatte der Mensch keinen Einfluss auf diesen von Gott 220 gesteuerten Prozess. Nach der Aufklärung und mit der Entwicklung des Gedanken von der Subjektivität und Selbst-Autonomie des Menschen entfernte sich dieser Begriff von seiner ursprünglichen Bedeutung. Von nun an wurde der Begriff „Bildung“ im Sinne von sich-selber-bilden interpretiert. Ziel der Bildung ist nicht mehr Gottes Abbild zu entwickeln oder zu sein sondern Bildung eines Geistes, der sich selbst schafft. Aus mindestens zwei Gründen wurde Bildung, nach Forneck, fester Bestandteil der Moderne: Einmal sollen aus dem Bildungsprozess Subjekte hervorgehen. Zum anderen ist mit der Vorstellung einer Allgemeinbildung die Möglich218 219 220

Vgl. ebd.: S. 180. Vgl. Uhle, R. (1993): „Bildung in modernen Theorien. Eine Einführung“, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 57. Vgl. Schurr, J. (1982): „Transzendentale Theorie von Bildung. Grundlinien einer Kritik der Pädagogischen Vernunft“, Passau: Passavia Universitätsverlag, S. 17-20.

73

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

keit positiver, sinnstiftender Lebensentwürfe impliziert, welche Leis221 tungen dieses Subjekts sind. Das mit der Aufklärung geborene Subjekt gilt als triebgesteuert, aber gleichzeitig als bildungsfähig und bildungsbedürftig. Es tritt zwar als unvernünftiges, unreifes und allein durch seine Leidenschaften bestimmtes Wesen in die Welt, durch Bildung kann es sich aber zu einem vernünftigen Wesen, zu ei222 nem Subjekt steigern und Identität erlangen. Durch Bildung erkennt das Individuum seine Fähigkeiten und lernt sie zu nutzen. Bildung erweitert den Horizont menschlichen Denkens sowie seine sozialen und geistigen Kompetenzen und reißt neue Perspektiven auf. Bildung bedeutet gleichzeitig Formung des Individuums. Dies geschieht durch drei von einander abhängige Phänomene, nämlich Denken, Handeln und Erfahrung. Zunächst wird durch 223 Bildung das Denken gebildet. Das Subjekt lernt durch Bildung gezielt zu denken bzw. über die Ereignisse nachzudenken. Sein Handeln orientiert der Mensch nach seinen Gedanken, und somit sammelt er Erfahrungen. Die aus Erfahrung resultierenden Ergebnisse bringen die Menschen zu neuen Gedanken, und dadurch ändert sich auch ihr Handeln. Im Verlauf dieses Prozesses formt sich der Mensch seine eigene Identität und seine Werte und trifft demgemäß verschiedene Entscheidungen. Dadurch befreit er sich vom Determinismus. Und diese Tatsache bildet die Grundlage der Moderne: die Vorbildlichkeit der Tradition und tradierten Werte und Bestimmungen früherer Generationen stets unter den Vorbehalt kritischer Prüfung zu stellen und anhand eigener Vernunft neue Traditionen zu gestalten. Durch Bildung werden Individuen geschaffen, die diese Kritik andauernd leisten und tragen sol224 len. Zu beachten ist, dass für Kant und Hegel Bildung viel mehr als die schulische und akademische Bildung und bloßes Lesen und Schreiben bedeutet. 221 222 223

224

Vgl. Forneck, H. J. (1992): „Moderne und Bildung. Modernitätstheoretische Studie zur sozialwissenschaftlichen Reformulierung allgemeiner Bildung“, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 14-15. Vgl. Keupp, J. H. (2006): „Krise des Subjektes“, in: Keupp (2006): „Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel. Zur Theorie des Subjektes in der Spätmoderne“, Bielefeld: Transcript, S. 7-10. Vgl. Vieweg, K. (2010): „Wer sich nicht gedacht hat, ist nicht frei“, in: Eichenhofer, E., Vieweg, K. (Hg.): „Bildung zur Freiheit. Zeitdiagnose und Theorie im Anschluss an Hegel“, Würzburg: Königshausen & Neumann Verlag, Thüringen Gesellschaft für Philosophie, S. 10. Vgl. Frese, J. (1985): „‘The Education of Henry Adams’ und die Postmoderne“, zit. nach: Forneck, H. J. (1992): S. 14.

74

2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

Bildung ist in ihrem Sinne immer Selbstbildung und wie es Kant formuliert, besteht deren Ziel in der „Vervollkommnung des Menschen und seiner Ge225 sellschaft“. Dennoch ist die schulische Bildung das Recht jedes Einzelnen und die erste Stufe zur Entwicklung von Erkenntnis, Bewusstsein und Selbstbildung.

2.2.4

Die Kantische Bildungskonzeption

Wie vorhin angedeutet, ist der Mensch nach Kant das einzige Wesen, das auf 226 der Basis seiner Vernunft nach Maximen und Prinzipien handeln kann. Jedoch ist die Vernunft in Kindern und jungen Menschen anfangs schwach. Stattdessen sind die naturwüchsigen Antriebe und Neigungen bei ihnen sehr stark ausgeprägt. Folgt der Mensch diesen Antrieben und Neigungen, wächst er nach dem Prinzip der Selbstliebe und nicht nach Maximen auf. Die Selbstliebe tritt an die Stelle des Sittengesetzes, wodurch die Moralität und Würde 227 des Menschen in seiner Person verloren geht. Der Mensch wird böse. Um diesen Untergang der Menschenwürde zu verhindern, ist Bildung notwendig. Anders formuliert führen Bildung und Erziehung zur Entwicklung der Vernunft und das ist der Punkt, an dem der Mensch sich von den Tieren unterscheidet: Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss;

228

denn: Ein Tier ist schon alles durch seinen Instinkt; eine fremde Vernunft hat bereits alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt und muss sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich imstande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt; so müssen es andere 229 für ihn tun (…) Eine Generation erzieht die andere. Dies geschieht durch Bildung und Erziehung:

225 226 227 228 229

Vgl. Kant, I. (1960): „Über Pädagogik“, Dietrich T. (Hg.), Bad Heilbrunn/Obb: Klinkhardt Verlag, S. 9. Denn die Vernunft ist das Vermögen der Prinzipien. Vgl. Kim, Y. R. (2002): „Der Begriff Bildung bei Immanuel Kant, Max Scheler und Theodor Ballauff“, Frankfurt/Main: Peter Lang, S. 44; und Kant, I. (1960): S. 8-11. Vgl. Kant, I. (1960): S. 7. Vgl. ebd.: S. 7.

75

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. (...) Hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur. Von jetzt an kann dieses geschehen; denn nun 230 erst fängt man an, richtig zu urteilen und deutlich einzusehen. Ziele der Bildung sieht er in Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden Wesens, das sich selbst erhalten, und in der Gesellschaft ein Glied aus231 machen, für sich selbst aber einen inneren Wert haben kann. Bei Bildung handelt es sich nach Kant vor allem um die Lehre von der menschlichen Pflicht, nämlich, dass jeder Mensch die Würde der Menschheit 232 in seiner eigenen Person bewahren muss. In seiner Bildungs- und Erziehungstheorie versucht er, einen Weg zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen der individuellen Entfaltung und der Gesellschaft zu entwickeln, der sowohl zur rationalen Vervollkommnung des Individuums als auch der Gesellschaft beiträgt. Für Kant ist Bildung ein Bestandteil von Erziehung. Darauf wurde im Verlauf seines Werkes „Über Pädagogik“ immer wieder hingewiesen, z.B. wenn er schreibt: Erziehung ist Wartung

233

und Bildung.

234

Oder: Erziehung schließt Versorgung und Bildung in sich. 230 231

232 233

234 235

235

Vgl. ebd.: S. 9. Vgl. ebd.: S. 17. Kant unterscheidet zwischen physischer und praktischer Pädagogik. Die physische ist die, die man nach Kant mit Tieren gemein hat. Die praktische oder moralische ist demnach diejenige „durch die der Mensch soll gebildet werden, damit er wie ein freihandelndes Wesen leben könne. (praktisch nennt man alles dasjenige, was Beziehung auf Freiheit hat)“. Vgl. ebd. Vgl. ebd: S. 44. Wartung bedeutet gleichzeitig Verpflegung, Vorsorge und Unterhaltung. Bei Wartung geht es zunächst um die Vorsorge der Eltern, damit die Kinder keinen schädlichen Gebrauch von ihren Kräften machen. Auf der anderen Seite geht es darum, dass die Eltern die Selbsttätigkeit des Kindes fördern. Dafür muss die Freiheit des Kindes gewährleistet werden. Diese beginnt mit der körperlichen Freiheit (z.B. soll das Kind nicht gewindelt werden). Vgl. Kim, Y. R. (2002): S. 63-4; und Kant, I. (1960): S. 19-26. Vgl. Kant, I. (1960): S. 8. Vgl. ebd.: S. 15.

76

2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

Erziehung beinhaltet vier Stufen, deren Vervollkommnung durch verschiedene Bildungsarten möglich ist: Zunächst muss der Mensch diszipliniert werden, und das ist nichts anderes als „Bezähmung der Wildheit“ denn: „Wer 236 nicht diszipliniert ist, ist wild.“ Disziplin nennt man den Zwang, wodurch der beständige Hang von gewissen Regeln ab237 zuweichen, und endlich vertilget wird. Disziplinieren ist insofern in menschlicher Erziehung notwendig, das sie verhüten soll, dass die Tierheit (...) der Menschheit in dem einzelnen sowohl als ge238 sellschaftlichen Menschen zum Schaden gereiche. Es ist jedoch sehr wichtig zu beachten, dass Kant durch Disziplinieren keine sklavische Disziplin meint, die durch körperliche und psychische Gewalt dem Kind beigebracht wird, sondern im Laufe des Disziplinierens muss das Kind immer seine Freiheit fühlen. Es muss jedoch lernen, durch sein Verhal239 ten und Benehmen die Freiheit von anderen nicht zu behindern. Im nächsten Schritt muss der Mensch kultiviert werden. Dies ist die Stufe der Entfaltung der Geschicklichkeit und personalen Identität und der Entwicklung und Kultivierung der Gemütskräfte (Verstandeskräfte), nämlich Verstand, Urteilskraft und Vernunft. Die Urteilskraft zeigt, welcher Gebrauch vom Verstand zu machen ist, damit man alles, was er lernt und spricht, ver steht. Durch Vernunft kann der Mensch Gründe einsehen. Kant betont aber ausdrücklich, dass keine Gemütskraft einzeln für sich, sondern jede nur in Bezie240 hung auf die andere müsse kultiviert werden. Diese drei Kräfte sollen so zusammen kultiviert werden, dass sie ein zusammenhängendes und funktionierendes Ganzes ausmachen. Dieser Funktionszusammenhang des Denkens jedoch ist allein durch die synthetische Einheit des Denkens möglich; das heißt „das Ich denke“ (…). Ohne die Einheit bildende Funktion des „ich 236 237 238 239 240

Vgl. ebd.: S. 9. Vgl. Kant, I.: „Kritik der praktischen Vernunft“, in: Kim, Y. R.: (2002), S. 70. Vgl. Kant, I. (1960): S. 13. Vgl. ebd.: S. 25. Vgl. ebd.: S. 78.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

denke“, das zwar als die Vollzugsinstanz jedes Denkaktes fungiert, aber durch seine Enthobenheit vom faktischen Denkvollzug seine durchgängige formale Identität bewahrt, wäre die Integriertheit der vielfältig kultivierten Geschicklichkeit, die infolge der Unendlichkeit 241 der Zwecke auch prinzipiell unendlich sind, nicht denkbar. Daraus resultiert, dass bereits auf der Stufe der Kultivierung der Mensch seine Individualität bildet und von hier aus die Ausbildung der Ich-Identität beginnt. Jedoch ist die Identität auf dieser Stufe noch weit entfernt von der Idee der unbedingten Vernünftigkeit bzw. Sittlichkeit. Von nun an aber beginnt der Mensch durch eine reflexive und wechselseitige Beziehung zwischen sich und der Gesellschaft seine Sittlichkeit zu entwickeln und seinen eigenen Charakter zu bilden. Auf Grund dieser tief reichenden Einflüsse, die die Kultivierung auf den Menschen hat, bezeichnet Kant denjenigen, der nicht kulti242 viert ist, als roh. Diese beiden Ziele, nämlich Disziplinieren und Kultivieren des Menschen, werden sowohl im Rahmen der physischen als auch der praktischen Erziehung und durch scholastische Bildung erreichbar. Scholastische Bildung braucht man, „um zur Erreichung aller seiner Zwecke geschickt zu werden. 243 Sie gibt ihm einen Wert in Ansehung seiner selbst als Individuum“. Was im Rahmen der scholastischen Bildung nicht fehlen darf, ist nach Kant „ein Katechismus des Rechts“. Dieser ist nötig, damit das Kind lernt, wie die gesellschaftlichen Vorschriften und das menschliches Zusammenleben funktionie244 ren. Auf der nächsten Stufe muss man darauf achten, dass der Mensch auch zivilisiert bzw. klug wird. Das wird im Rahmen der pragmatischen Bildung möglich. Die kulturelle Individualität, die auf der vorherigen Stufe ausgebildet wurde, integriert sich in die Gesellschaft. Zivilisierung zielt darauf ab, dass das Individuum klug wird, in dem Sinne, dass es in die Gesellschaft passt und 245 Einfluss nimmt. Zivilisierung steht in direktem Zusammenhang mit der bürgerlichen Gesellschaft, denn „die bürgerliche Gesellschaft bietet den zu-

241 242 243 244 245

Vgl. Kim, Y. R. (2002): S. 71. Vgl. Kant, I. (1960): S. 9. Vgl. Kant, I. (1960): S. 17. Vgl. ebd.: S. 45. Vgl. ebd.: S. 13-14.

78

2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

träglichen Rahmen für die Verwirklichung der Bestimmung der Mensch246 heit“. Durch Bildung zur Klugheit wird der Mensch zum Bürger gebildet, und von da an erhält er einen öffentlichen Wert. Dabei lernt er sowohl die bürgerliche Gesellschaft zu seiner Absicht zu lenken als auch sich in die bür247 gerliche Gesellschaft zu schicken. Durch Zivilisierung soll die Geschicklichkeit des Individuums so entwickelt und gebildet werden, dass einerseits die Selbstverwirklichung des Individuums befördert und der Mensch fähig wird, sich vor innerlichen Verletzungen durch andere Menschen zu schützen. Andererseits soll er den Horizont seiner gesellschaftlichen Normen erweitern und lernen, mit anderen in der Gesellschaft geschickt umzugehen. Hier kommt eine wichtige Wechselwirkung zwischen Bildung bzw. Erziehung und der Gesellschaft zustande. Durch Bildung lernt der rohe Mensch vor allem, von Vernunft, Verstand und Urteilskraft nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch im gesellschaftlichen Leben Gebrauch zu machen. Er versucht, die sozialen und gesellschaftlichen Normen zu kritisieren und sie zu verbessern. Damit trägt er zur 248 Verbesserung der Gesellschaft bei. Durch Erziehung muss eine neue Generation der Menschheit, die sich ihrer Bestimmung, der Idee der Menschheit (…) annähert, zu249 stand gebracht werden. Der Mensch soll durch Zivilisierung einen tugendhaften Umgang mit anderen Menschen erlernen und in dieser Hinsicht ist Zivilisierung die Vorstufe der Moralisierung, die wiederum die höchste Stufe der Erziehung und Bil250 dung darstellt. Der Mensch soll nicht bloß zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern auch die Gesinnung bekommen, dass er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden und die auch zu gleicher Zeit jedermanns 251 Zwecke sein können. Jeder gesellschaftliche und kulturelle Kontext fordert seine eigene Bildungs246 247 248 249 250 251

Vgl. Kim, Y. R. (2002): S. 72. Vgl. Kant, I. (1960): S. 17-18. Vgl. ebd.: S. 42-46; und Kim, Y. R. (2002): S. 73-74. Vgl. Kim, Y. R. (2002): S. 74. Vgl. Kant, I. (1960): S. 17-18. Vgl. ebd.: S. 14.

79

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

und Erziehungsauffassung. Solche Konzepte werden im Rahmen der drei oben dargestellten Prozesse eingesetzt. Jedoch um die Qualität und den Wert von Bildung und Erziehung zu sichern, ist ein universaler und überzeitlicher Standard notwendig. In der Kantischen Bildungsphilosophie bildet Sittlichkeit diesen universalen Standard. Denn moralische Bildung ist die Stufe absoluter Vernünftigkeit, und erst durch sie kann sich das Individuum von Selbstliebe entfernen und die Maxime (moralische Gesetze) aufnehmen. Moralische Bildung ist das notwendige Mittel zur Verwirklichung der Idee der Menschheit (als unbedingte Vernünftigkeit). Sittlichkeit ist der durchgängige Maß252 stab und letztes Ziel von Bildung und Erziehung. Das Ich-bezogene Subjekt erweitert seinen Horizont und wird menschenbezogen. Deshalb ist Moralisieren, wie es Kim formuliert, „eine Revolution für die Denkungsart sowie eine Herzensänderung, aus der ein neuer Mensch er253 folgt.“ Durch moralische Bildung soll die Stimme der Vernunft viel stärker werden. Demzufolge ist moralische Bildung der Weg zur Freiheit; denn wie bereits in Kants Freiheitsphilosophie dargestellt, bedeutet Freiheit, dem eigenen freien Willen zu folgen. Freier Wille wird aus der eigenen Vernunft abgeleitet, und das macht das Prinzip der Moral aus. Durch moralische Bildung soll der Mensch seine Pflichten gegenüber sich und gegenüber den anderen erlernen und nach seinem sittlichen Willen handeln. Seine Pflicht gegenüber sich selbst besteht darin, die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person zu bewahren, und den anderen gegenüber ist er verpflichtet, ihre Rechte anzuerkennen und zu respektieren. Deshalb ist es wichtig, dass Kinder bereits 254 in der Schule mit dem Recht vertraut gemacht werden. Die moralische Bildung ist aber Kant zufolge nicht der kirchlich-religiösen Bildung gleichzusetzen. Denn die kirchliche Bildung hindert die Vernünftigkeit der Menschheit, indem sie die Vernunft als Maßstab der Moral und der Sittlichkeit ablehnt. In kirchlich-religiöser Bildung muss alles so angenommen werden, wie es von der Kirche dargestellt wird, wichtig aber bei der religiösen und jeder anderen Bildungsart ist, dass der Mensch selber nach255 denkt und alles mit Grund lernt. Religion soll der Vervollkommnung der Vernünftigkeit und Moralität dienen. Religion selbst ist nichts anderes als das Gesetz in uns, insofern es durch einen Gesetzgeber und Richter 252 253 254 255

Vgl. Kim, Y. R. (2002): S. 75/87; und Kant, I. (1960): S. 42. Vgl. Kim, Y. R. (2002): S. 76. Vgl. Kant, I. (1960): S. 44-45. Vgl. ebd.: S. 42-43.

80

2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

über uns Nachdruck erhält; sie ist eine auf Erkenntnis Gottes ange256 wandte Moral. Das Gesetz in uns heißt Gewissen. Es ist das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes in uns. Für die Vervollkommnung der Vernünftigkeit, Sittlichkeit und der Menschheit an sich ist deshalb eine enge Verbindung zwischen Religion, Gewissenhaftigkeit und Moralität unabdingbar. So schreibt Kant: Wenn die Religion nicht zur moralischen Gewissenhaftigkeit hinzukommt, so ist sie ohne Wirkung. Religion ohne moralische Gewissenhaftigkeit ist ein abergläubiger Dienst (…). So wird Religion bloß 257 zur Gunstbewerbung. Laut diesen Ansichten ist „Kultivierung des Gewissens“ der wesentliche Aspekt bei der religiösen Erziehung. Kant zufolge können die Menschen bereits als Kind mit Religion und religiösen Begriffen vertraut gemacht werden, jedoch nicht im Rahmen der kirchlichen Erziehung und Bildung. Durch religiöse Bildung sollen die Kinder zunächst mit ihrem Gewissen, das heißt, den Gesetzen, die das Kind in sich hat, vertraut gemacht werden. Die theologischen Begriffe der religiösen Erziehung sind ohne die Erziehung zur Gewissenhaftigkeit wert- und nutzlos. Deshalb schreibt Kant: Die Religion, die bloß auf Theologie gebaut ist, kann niemals etwas 258 Moralisches enthalten. Außerdem sollen sie lernen, den Kernpunkt der Religion und sonstige religiöse Anweisungen nicht nur auswendig zu lernen, oder wie es Kant formuliert, diese Erziehung darf nicht Gedächtniswerk, bloße Nachahmung und alleiniges Affenwerk 259 sein. Sie sollen lernen, nach deren Grund zu fragen und mit Hilfe ihrer Vernunft den wahren Sinn der Religion, die nichts anderes ist als Entwicklung zur Moralität, zu verstehen. Insgesamt wurde deutlich, dass die Bildungstheorie Kants sowohl auf die Entwicklung der Individualität als auch der Universalität zielt. Bildung ist 256 257 258 259

Vgl. Kant, I. (1969): S. 48. Vgl. Kant, I. (1960): S. 48-9. Vgl. ebd.: S. 48. Vgl. ebd.: S. 48.

81

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

der Weg zur Vernünftigkeit und Sittlichkeit. Einerseits lernt der Mensch, durch Bildung seinen Verstand für die Bildung seiner Individualität einzusetzen, sich selbst wahrzunehmen und Autorität zu gewinnen. Andererseits ist es das oberste Ziel der Bildung, den Horizont des menschlichen Denkens zu erweitern und ihn von Selbstsucht zu entfernen. Das ist der Punkt, in dem die Moral geboren wird. Tabelle 1: Kantische Bildungstheorie (eigene Darstellung) Physische Bildung Verpflegung

2.2.5

Praktische Bildung scholastische Bildung

pragmatische Bildung

moralische Bildung

Disziplinierung und Kultivierung Der Mensch wird zum Individuum. Sie ist Bildung zu einer Persönlichkeit und zu einem frei und autonom denkenden und handelnden Menschen. Sie gibt dem Menschen einen Wert in Ansehung seines Selbst als Individuum.

Bildung der Klugheit Das Individuum wird zum Bürger. Es lernt, sich in der Gesellschaft anzupassen und sich am gesellschaftlichen Geschehen zu beteiligen. Der Bürger bekommt so seinen öffentlichen Wert. Er beeinflusst die Gesellschaft, und die Gesellschaft beeinflusst ihn.

Moralische Bildung beruht auf Grundsätzen und auf dem gemeinen Menschenverstand

Die Hegelsche Bildungskonzeption

Ähnlich wie Kant sieht auch Hegel die Bildung als das nötige Werkzeug zur Bildung des freien und sittlichen Menschen. Bei Hegel setzt Bildung als die 260 Stufe des Bewusstseins die Freiheit des Geistes als Ziel. Er sieht Bildung als einen wertvollen und unabschließbaren Prozess, durch den der Mensch sich zu dem macht, was er sein soll, nämlich ein sich selbst erkennendes, bewusstes und freies Subjekt (bzw. Geist). Denn der Geist ist nur das, wozu er sich macht, er ist nur als sein eigenes Werk, er erzeugt sich aus sich selbst und bestimmt sich selbst, ist Hervorbringung seiner Freiheit, indem er sich von allem, was seinem Begriff nicht angemessen ist, trennt; sich davon löst und die Welt in einer seinem Begriffe angemessenen Weise formiert, umbildet, nach seiner 260

Vgl. Moog, W. (1986): „Der Bildungsbegriff Hegels“, in: Pleines, J. (Hg.): „Hegels Theorie der Bildung II.“, Hildesheim u.a.: Georg Olms, S. 77.

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2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

Maßgabe Formationen konstituiert, in denen er zu Hause, bei sich 261 selbst und damit frei sein kann. Die Hegelsche Bildungstheorie basiert auf seiner Dialektik. So gesehen ist Bildung ein Verfahren voller auf den ersten Blick widersprüchlicher Phänomene: Formen und Umformen, Ablehnung und Bestätigung, Glaube und Zweifel. Sie ist die äußerste Entfremdung und der Beginn ihrer Aufhebung. 262 Bildung ist der Durchgang und Hebel jeder Veränderung. Auch das hierdurch erzeugte Subjekt entwickelt zwei auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Aspekte in sich, die aber zu einer stetigen Dialektik zueinander stehen: Einerseits gelingt es dem Subjekt, durch Bildung seine Individualität zu erkennen und sie zu bilden. Dadurch wird das Subjekt sich seiner Beson263 derheiten bewusst und nur so gibt es sich Wirklichkeit. Andererseits steigert sich das Individuum zu einem Glied in der Gesellschaft, und beide beeinflussen und verändern sich gegenseitig. Die Entstehung des Individuums durch Bildung ist ein Prozess mit drei Phasen: Wissen, Denken und Handeln. Bildung (im Sinne von Aufklärung) ermöglicht dem Subjekt, seinen Wissenshorizont zu entwickeln. Wissen, so schreibt Vieweg, gilt als der entscheidende und wesentliche Grund für die 264 freie Selbstformation des Subjekts und den Bildungsprozess der Welt. Für Hegel kann der Unwissende nicht frei sein, denn: Ihm gegenüber steht eine fremde Welt, ein Drüben und Draußen, von welchem er abhängt, ohne dass er diese fremde Welt für sich selber gemacht hätte und dadurch in ihr als in dem Seinigen bei sich 265 selber wäre. Die Bedeutung von Wissen liegt nach Hegel in der Tatsache, dass das Wissen das Denken fördert. Wollen und Handeln sind ohne Denken wertlos, denn: Nichts ist anzuerkennen, was nicht durch das Denken legitimiert ist, was die Nagelprobe und den Härtetest der Prüfung durch den Ge266 danken nicht bestanden hat. 261 262 263 264 265 266

Vgl. Vieweg, K. (2010): S. 9. Vgl. Heydorn, H. J. (1973): „Bildungstheorie Hegels“, in: Pleines, J. (1986): S. 247. Vgl. Hegel, G. W. F. (1967): S. 179. Vgl. Vieweg, K. (2010): S. 19. Vgl. Hegel, G. W. F.: „Vorlesung über Ästhetik“, in: ebd.: S. 9-10. Vgl. ebd.: S. 11.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Die besondere Stellung, die Hegel dem Denken einräumt, wird in der Vorlesung über die Geschichte der Philosophie sichtbar: Die Freiheit ist das Denken selbst; wer das Denken verwirft und von 267 Freiheit spricht, weiß nicht was er redet. Erst durch Denken ist vernünftiges Wollen und Handeln möglich, und diese 268 wiederum ermöglichen die Freiheit. Wille und Handeln ohne Denken und nach Trieben und Neigungen hindern die Entstehung der Freiheit. Gebildet bezeichnet deshalb Hegel denjenigen, dessen ganzer Zustand auf eine freie 269 geistige Grundlage gestellt ist. Durch Wissen, Denken und autonomes Handeln erfindet und bildet man sich selbst. Gleichzeitig aber bildet der Mensch seine gesellschaftliche Umgebung. Die drei Stufen der Bildung, nämlich die familiäre, formelle und politische Bildung, sind nach Hegel ein Übergang von der Familie zur Gesellschaft und von der Gesellschaft zur Welt. Der freie Willen und das Handeln werden auf diesen drei Stufen entfaltet, und die Person wächst auf der ersten Stufe über das moralische Subjekt hin zum sittlichen Subjekt heran, wo die wahre Freiheit Gestalt bekommt. Das Subjekt als Person bildet seine Persönlichkeit in familiärer Bildung. In der bürgerlichen Gesellschaft sollen durch die formelle Bildung in der Schule und in anderen Bildungsinstitutionen diejenigen Fähigkeiten der Person entfaltet werden, die sie zum gesellschaftlichen Leben vorbereiten. Das ist die Phase der Bildung von Verstand und Geschicklichkeit, wodurch die Person zum moralischen Subjekt heranwächst. Diese geschieht insofern, als das Individuum selbst sein Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise be270 stimmt und sich zu einem Glied in der Kette der Gesellschaft macht. Jedoch die fundamentale Aufgabe der Bildung liegt nach Hegel in der Bildung eines sittlichen Subjekts. Das geschieht während der letzten und entscheidenden Phase: der „Vernunftbildung“. Das Subjekt soll lernen, vernünftig zu denken und sich so zu einem Teil der Welt zu machen. In dieser Phase wird die Allgemeinheit des Denkens hervorgebracht. Das Subjekt und die Allge267 268 269 270

Vgl. Hegel, G. W. F. (2010): „Vorlesung über die Geschichte der Philosophie“, in: ebd.: S. 16. Vgl. Hegel, G. W. F. (1993): „Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Einleitung in die Philosophie der Religion. Der Begriff der Religion“, Jaeschke, W. (Hg.), Hamburg: Felix Meiner, S. 133. Vgl. Pleines, E. J. (1983): „Hegels Theorie der Bildung“, Hildesheim: Georg Olms, Bd. I, S. X. Vgl. Hegel, G. W. F. (1967): S. 167.

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2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

meinheit werden vereint. Das gelingt durch politische Bildung (inklusive der 271 ästhetischen, religiösen und philosophischen Bildung). Innerhalb dieser drei Phasen wird also zunächst das Bewusstsein des Menschen geweckt und die Individualität der Person gebildet, so dass das Individuum frei und autonom denken, entscheiden und handeln kann. Die individuelle Freiheit ist insofern wichtig, als nach Hegel keine gesellschaftliche Freiheit ohne Anerkennung der individuellen Freiheit gegeben sein kann. Dieses Selbstbewusstsein und diese Selbstbestimmung wird zur Grundlage sozialer Vernunft im gesellschaftlichen Zusammenleben. Bei der Bildung geht es nicht nur ausschließlich um die Pflege der Individualität. Die Individuen sollen zwar ihre Freiheit des Handelns und Denkens genießen, jedoch soll die Individualität nicht zu rebellischem Auftreten in der Gesellschaft führen, sondern die Individuen sollen durch Bildung zu rationalen Bürgern in 272 einer rationalen Gesellschaft heranwachsen. Das ist das Ergebnis harter Arbeit, wodurch man sich von „bloßer Subjektivität des Benehmens, von der Unmittelbarkeit der Begierde, sowie von der subjektiven Eitelkeit der Emp273 findung und der Willkür des Beliebens“ befreit. Deshalb ist Bildung in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der, nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. (...) Dies ist der Standpunkt, der die Bildung als immanentes Moment des Ab274 soluten, und ihren unendlichen Wert erweist. Bildung ist grundsätzlich ein Weg zur Freiheit. Im Hegelschen Sinn geht es um Bildung zur Freiheit. Das resultiert aus der Tatsache, dass Bildung auf der Basis des Denkens zur Entwicklung eines vernünftigen Willens führt und vernünftiger Wille die Basis wahrhafter Freiheit bildet. Ein ungebildeter Wille ist zufällig. Das heißt, er wird von zufälligen Trieben und Neigungen bestimmt. Ein ungebildeter Mensch genießt zwar die freie Selbstbestimmung, jedoch ist sie nichts anderes als eine unvernünftige Freiheit. Durch Bildung wandelt sich die unvernünftige Freiheit zur vernünftigen um. Der ungebilde271 272 273 274

Vgl. Vieweg, K. (2010): S. 12-13; und Rorty A. O. (ed.) (1998): “Hegel on Education”: London u.a. Vgl. Rorty, A. O. (1998). Vgl. Hegel, G. W. F. (1967): S. 169. Vgl. Hegel, G. W. F. (1967): S. 168-9.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

te und unvernünftige Wille wird transformiert zum vorstellenden, bewussten, reflektierenden, verstandesgemäßen und am Ende zum denkenden Willen, zur Allgemeinheit. Die wahre Allgemeinheit wird auf der Grundlage des begreifenden Den275 kens, auf dem „im Willen durchsetzenden Denken“ aufgebaut, weshalb der Wille nur als denkende Intelligenz wahrhafter, freier Wille ist.

276

In Hervortreiben der Allgemeinheit des Denkens liegt nach Hegel der abso277 lute Wert der Bildung. Außerdem wird Denken bei Hegel zum Prinzip des Rechts: Der Sklave weiß nicht sein Wesen, seine Unendlichkeit, die Freiheit, er weiß sich nicht als Wesen; und er weiß sich so nicht, das ist, er denkt sich nicht. Dies Selbstbewusstsein, das durch das Denken sich als Wesen erfasst, und damit eben sich von dem Zufälligen und Unwahren abtut, macht das Prinzip des Rechts, der Moralität und aller 278 Sittlichkeit aus. Jeder Mensch muss nach Hegel das Recht auf Bildung und Freiheit haben, 279 denn jeder Mensch hat das Recht, ein Mensch zu werden. Das Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft ist ein reflexives und dialektisches. Eine lebendige, freie und entwickelte Gesellschaft ist ohne freie, lebendige und aktive Individuen kaum vorstellbar. Denn jedes Individuum kann seine Gesellschaft, dadurch, dass es etwas besonderes und anderes ist als allen anderen, nach seinen Ideen beeinflussen und bilden. Auf der anderen Seite beeinflussen die Gesellschaft und der Staat die Lebenseinstellungen der Menschen. Jeder Staat soll freie Erziehung und Bildung als wesensnotwendige und umgängliche Freiheit freiwillig ermöglichen. Jedoch ist jeder Staat, der seine Pflicht zur Bildung und Erziehung der Kinder an die Kirche (oder jegliche religiöse Institutionen) überträgt, „an den Rechten der Kinder auf eine freie Ausbildung der Fähigkeiten der Seele zum Verräter ge280 worden“. Die Bildungsfreiheit ist nach Hegel innerhalb des Rahmens der 275 276 277 278 279 280

Vgl. ebd.: S. 40-42; und Vieweg, K. (2010): S. 15-17. Vgl. ebd.: S. 41. Vgl. ebd.: S. 40. Vgl. ebd.: S. 41. Vgl. Furck, C. L. (1986): „Die Bildung des Individuums“, in: Pleines, E. J. (1983), S. 120. Vgl. Hegel, G. W. F. (1966): „Hegels theologische Jugendschriften“: Nohl, H. (Hg.), Frankfurt/Main: Minerva, S. 189.

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2.2 SUBJEKTIVITÄT UND FREIHEIT NACH KANT UND HEGEL

Kirche unmöglich, weil sie eine Institution ist, „deren formale und materiale 281 Wesenselemente von Unfreiheit bestimmt werden“. Die Kirche erzieht zum Glauben; das aber widerspricht dem Begriff des Glaubens, dessen Vorausset282 zungen Freiheit und Gnade sind. Kirchliche Erziehung verfolgt weder Selbstbildung noch Ausprägung von Fähigkeiten zu eigenem unabhängigem Urteil. An der Stelle von freien Bürgern werden sie zum Sklaven erzogen. Von klein auf werden Verstand und Vernunft durch die kirchliche Erziehung unterdrückt und mit der Gewalt früher Eindrücke auf Einbildungskraft und Herzen der Kinder mit Bildern des Schreckens angefüllt. Daher wird das Kind sich seiner möglichen Freiheit nie be283 wusst und von Anfang an unfähig zur Freiheit. Durch eine solche Erziehung und Bildung erlangt der Mensch nicht die Fähigkeit, seine Entwicklung zu Freiheit, Autonomie und Wahrheit zu fördern. Das Kind lernt nur viel Material auswendig, ohne dabei seinen Verstand, sei284 ne Vernunft und Logik in Betracht zu ziehen. Aus diesen Gründen fordert Hegel die absolute Unabhängigkeit der Bildung von der Einflussnahme der Kirche. Tabelle 2: Hegelsche Bildungstheorie (eigene Darstellung) Familiäre Bildung

Formelle Bildung

Politische Bildung

Bildung des Bewusstseins, Persönlichkeit wird gebildet

Bildung des Verstandes und der Geschicklichkeit, Vorbereitung zum gesellschaftlichen Lebens und Entstehung des moralischen Subjekts

Bildung der Vernünftigkeit, Entstehung des sittlichen Subjekts

2.2.6

Zwischenresümee

Für Hegel und Kant ist das Zeitalter der Moderne geprägt durch die Anerkennung der Freiheit des Menschen als Subjekt. Subjektivität heißt Selbstbezüglichkeit des Individuums. Für sie gibt es keine Freiheit ohne Subjektivität. Freiheit kommt in diesem Sinne erst dann zustande, wenn der Mensch erkennt und sich bewusst wird, dass er frei sein kann bzw. ist. „Es gibt keine 281 282 283 284

Vgl. ebd. Vgl. Furck, C. L. (1953): „Der Bildungsbegriff des jungen Hegel“, Weinheim: Julius Beltz, S. 76. Vgl. ebd.: S. 75. Vgl. Hegel, G. W. F. (1966): S. 186-188; und Furck, C. L. (1953): S. 75-76.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Freiheit ohne die Erkenntnis und ohne das Selbstbewusstsein der Freiheit.“ Das Subjekt besitzt die Autonomie, dem von ihm selbst entworfenen Gesetz zu folgen. Es befreit sich von kulturell und religiös überlieferten Vorschriften und Gesetzen. Jedoch erst die Übereinstimmung von individuellem Willen und Sittengesetz bzw. Sittlichkeit ist für beide, Kant und Hegel, die wahre Freiheit. Dieser Sittlichkeit zu folgen ist zugleich Pflicht und Freiheit. Die individuelle Freiheit steht parallel zur kollektiven Freiheit. Jedoch sollten diese zwei Sphären so miteinander verbunden werden, dass keine von ihnen vernachlässigt wird. In diesem Sinne ist Subjektivität 285

nicht nur eine Eigenschaft menschlicher Lebenspraxis, sondern impliziert den Anspruch, dass Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung zur Grundlage sozialer Vernunft im gesellschaftlichen Zusammenle286 ben werden sollen. Der Weg zum Erlangen des Bewusstseins und der Vernunftbildung ist ihnen zufolge Bildung und Erziehung. Dadurch, dass Bildung das Denken fördert und Denken die Basis von Freiheit und Autonomie ist, ist Bildung der Weg zu Freiheit, Selbstbestimmung und Subjektbildung. Dabei soll Bildung genau wie das Prinzip der Freiheit mit Moral und Sittlichkeit verbunden sein. Das heißt, dass Bildung nicht zu Hochmut bzw. unvernünftiger Freiheit führen darf, sondern dazu, dass das Subjekt seinen Denk- und Handlungshorizont erweitert. Denn Bildung ohne Moral ist leer. Dabei lehnen Kant und Hegel die kirchliche Bildung und Erziehung ab, weil sie eine Bildung zum Glauben und nicht zur Vernünftigkeit ist, die Freiheit des Denkens unterdrückt und deshalb die Freiheit und Selbstbildung hindert. Dass die Entstehung der Moderne erst durch die Geburt der Subjektivität möglich war und weitreichende Folgen für das menschliche, gesellschaftliche und private Leben gehabt hat, wurde bereits aufgeführt. Im nächsten Teil der Arbeit wird die Auseinandersetzung der Gesellschaft und Politik des Iran mit der Moderne näher untersucht.

2.3

Moderne und der Iran

Zwischen dem Iran und der Moderne herrscht ein kompliziertes Verhältnis. Die Komplexität wurzelt vor allem im unklaren Verständnis des Unterschieds 285 286

Vgl. Martin, G. (1996): „Immanuel Kant“, Berlin: de Gruyter, S. 207 Vgl. Grubauer, F., u.a. (Hg.) (1992): „Subjektivität, Bildung, Reproduktion. Perspektiven einer kritischen Bildungstheorie“, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 5.

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2.3 MODERNE UND DER IRAN

zwischen Moderne (Modernität) und Modernisierung und den zu wenig erforschten Grundlagen der Moderne im Iran. Wie bereits in der Einleitung dargestellt, begannen die Modernisierungsversuche im Iran vor mehr als vierhundert Jahren, jedoch hat es nur wenige Bestrebungen gegeben, um die Basis der Moderne zu entdecken und zu verstehen. Das Thema Subjektivität wurde zwar ab und zu von einigen religiösen und nicht-religiösen Intellektu287 288 ellen angesprochen, jedoch waren die traditionellen religiösen Prinzipien zu stark, als dass zugelassen werden konnte, dass diese Stimmen gehört werden. Mit steigendem Bildungsniveau der Bevölkerung und ihren wachsenden Forderungen nach Freiheit in den letzten Jahrzehnten vor allem nach der Revolution von 1979 hat dieses Thema mehr Bedeutung bekommen und bildet einen wichtigen Grund für den Konflikt zwischen Volk und Staat. Bei dieser Auseinandersetzung spielt die Vorstellung des islamischen Staats vom Subjekt eine bemerkenswerte Rolle, was im Folgenden anhand der Untersuchung der Grundgedanken zweier Haupttheoretiker des islamischen Staates 289 im Iran dargestellt wird.

2.3.1

Moderne oder Modernisierung?

Die Idee der islamischen Revolution, die von Khomeini und anderen iranischen religiösen Theoretikern wie Motahhari entwickelt und durchgeführt 287

288

289

Bereits während der konstitutionellen Revolution (1906–1911) wurde das Thema „Subjektivität“ von einigen Intellektuellen angesprochen. Zu erwähnen ist Ayat-allah Nayini, einer der größten religiösen Lehrer seiner Epoche. Er hat die Subjektivität des Menschen anerkannt und plädierte für Freiheit und Gleichheit. Freiheit verstand er als Einschränkung der despotischen Macht und Steigerung des Bewusstseins der Menschen für ihre Rechte. Vgl. Nayini, M.H.: “Tanbihol-omeh und tanziyatol-mellah“ (1955); und Tabatabaei, J. (2007); und Vahdat (2002). Weiterhin erwähnenswert ist Fath-ali Akhoondzadeh, der immer die Vernunft gegen die Offenbarung verteidigte und die kulturelle Bewegung im Land förderte. Im Laufe der Geschichte des Iran wurde dieses Thema von anderen Intellektuellen aufgegriffen. Vernachlässigung der Subjektivität und Individualität ist nicht nur ein religiöses Problem. Auch die iranische Tradition spielt dabei eine wichtige Rolle. Das ist vor allem im Rahmen der klassischen Literatur des Iran erkennbar. Vgl. zu diesem Thema: Hoodashtian (2010): „Hindernisse der Entstehung von Individualität und individueller Freiheit in der iranischen Kultur“, sowie „Unterdrückung der Individualität in historischen Geschichten und Erzählungen des Iran“. Diese Untersuchung jedoch beschäftigt sich nur mit der religiösen Perspektive. Die Revolution von 1979 im Iran wird als islamische Revolution bezeichnet. Es waren aber verschiedene Parteien, darunter auch säkulare Parteien und Gruppen, beteiligt. Ziel der Revolution war grundsätzlich die Entwicklung von „Freiheit und Demokratie“ und nicht die Gründung eines islamischen Staates. Erst nach dem Sieg der Revolution und der islamischen Parteien gegen andere Gruppen wurde anstatt einer „Iranischen Republik“ die „Islamische Republik Iran“ gegründet.

89

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

wurde, war eine Reaktion auf die bisherigen Entwicklungen der Modernisierung und zum Teil der Moderne im Iran. Vor allem versuchten die religiösen Theoretiker, die westlich geprägte Auffassung von Moderne abzulehnen. In seinem Testament deutet Khomeini präzise darauf hin, dass er weniger Probleme mit der Modernisierung hat; seine Probleme beginnen vielmehr mit dem, was unter Moderne und moderner Freiheit ausgebildet ist: Wenn mit Moderne und moderner Zivilisation neue Erfindungen, Innovationen und hochentwickelte Industrie gemeint ist, wird weder der Islam noch eine andere monotheistische Religion dies ablehnen und widersprechen. Der Islam fördert sogar die Wissenschaft und den industriellen Fortschritt. Aber wenn unter Moderne und moderner Zivilisation, wie viele Intellektuelle sagen, Freiheit von allem Verbotenen, und Hurerei, sogar Homosexualität und solches [verstanden wird], wird es von allen monotheistischen Religionen und Wissenschaftlern abgelehnt, obwohl die Anhänger des Westens und Ostens (gharb va shargh zadegan) in blinder Imitation (taghlid) da290 für sind. Trotz dieser Gegenposition waren viele Theoretiker, unter anderem Khomeini und Motahhari, einigermaßen von den Grundeinstellungen der Moderne, wie der Idee der Subjektivität des Menschen, beeinflusst. So akzeptierten diese beiden die Subjektivität des Menschen, eine uneingeschränkte Freiheit und Willenskraft des Subjekts aber wurde von ihnen strikt abgelehnt. Das ist das wesentliche Element der Subjektivitätstheorie iranisch-islamischer Theoretiker, die sie vom westlichen Verständnis von Subjektivität unterscheidet. In den im Folgenden untersuchten Theorien von Khomeini und Motahhari ist eine Vorstellung von Subjektivität zu erkennen, die von Vahdat als “mediated subjectivity” (vermittelte Subjektivität) bezeichnet worden ist: I define mediated subjectivity as human subjectivity projected onto the attributes of monotheistic deity – attributes such as omnipotence, omniscience and volition – and then partially reappropriated by humans. In this scheme, human subjectivity is contingent on God’s Subjectivity; thus although human subjectivity is not denied it 291 is never independent of God’s subjectivity. 290 291

Vgl. Fazeli, Gh. (Hg.) (2002): „Javid nameh. Das Testament von Imam Khomeini“, Karaj: Fazilate Elm Publ., S. 44 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Vahdat, F. (2002): S. 134.

90

2.3 MODERNE UND DER IRAN

Wie im Folgenden dargestellt wird, verursacht dieses Verständnis von Subjektivität einen unvermeidbaren Konflikt zwischen der menschlichen und göttlichen Subjektivität, der wiederum zur Entwicklung anderer Konflikte im gesellschaftlichen und individuellen Leben des Menschen führt. Dieser Konflikt spitzt sich vor allem als ständige und schizophrene Schwankung zwischen Bestätigung und Ablehnung der menschlichen Subjektivität einerseits und zwischen der individuellen Subjektivität und der Kollektivität andererseits zu, was eine direkte Auswirkung auf die Gesellschaft, die Politik, aber 292 auch das individuelle Leben der Menschen hat.

2.3.2

Khomeini: Modernisierung ohne Moderne

Für Khomeini ist das Ziel des menschlichen Lebens die Bewegung von der materiellen Welt hin zur spirituellen Welt. Sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft sind dazu verpflichtet, diesen Weg zu gehen. Es sind die be293

292 293

Vgl. ebd.: S. 134. Ruholllah Khomeini (1902–1989) war ein schiitischer Groß-Ajatollah. Er war der politische Führer des Irandes Iran von 1978 bis 1989. Mit der Revolution von 1979 trug er als Führer der Revolution zum Sturz der Regierung von Mohammad Reza Schah Pahlavi bei. Geboren und erzogen in einer streng religiösen Familie hat Khomeini bereits ab dem Alter von 19 Jahren an verschiedenem Unterricht schiitischer Gelehrter in verschiedenen Städten des Iran teilgenommen, um eine Ausbildung zum Rechtsgelehrten zu erhalten. Im Alter von 34 Jahren wurde ihm die Qualifikation eines „Mudjtahed“ verliehen. Seine erste bemerkenswerte politische Aktion war die Veröffentlichung seiner Schrift „Enthüllung der Geheimnisse“, in der er die Moderne, moderne Bewegungen und die Herrschaft der Pahlavis stark kritisierte und zum ersten Mal die Abschaffung der Monarchie forderte. Danach zog er nach Qom (die wichtigste religiöse Stadt des Iran) und begann seine Lehrtätigkeit in der Hawza von Qom. Vor allem seine Ethiklehre war sehr gut besucht. Sein erstes öffentliches und politisches Auftreten war im Jahr 1963, wo er zum Widerstand gegen die „Weiße Revolution“ vom Schah (Landreform und Frauenwahlrechtsreform) aufrief. Danach wurde er verhaftet. Sein Aufruf und seine Verhaftung führten zu großen Demonstrationen im Lande. Einige Monate später wurde er wieder frei gelassen. Seine verstärkten Äußerungen gegen die Monarchie führten zu seinem Exil, zunächst in der Türkei und danach in Nadschaf, wo er seine Lehrtätigkeiten wieder aufnahm. Im Jahr 1977 wurde er von Saddam Hussein des Landes verwiesen. Die Zeit bis zu seiner Rückkehr in den Iran (Februar 1979) verbrachte er in Frankreich. Besonders ab dieser Zeit steigerte sich sein Widerstand gegen die Monarchie des Iran. Im Jahr 1979 veröffentlichte er sein wichtigstes politisches Werk „Der islamische Staat“, auch genannt „Statthalterschaft der Rechtsgelehrten“ (Velayat-e Faghih). Im gleichen Jahr kehrte er nach dem Sieg der Revolution in den Iran zurück und gründete die Islamische Republik Iran. Vgl. Aviny: „Biografie von Imam Khomeini von Geburt bis zum Tod”, unter: http://www.aviny.com/imamkhomeini/zendeginameh/ z_mobarezeh.aspx; und Moini, M. (31.05.2008): „Biografie von Imam Khomeini“, unter: http://hamshahrionline.ir/details/53739.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

sonderen Eigenschaften der menschlichen Natur, die den Menschen dazu zwingen, diesen Weg zu verfolgen: In den Menschen gibt es Eigenschaften, die in keinem anderen Wesen zu finden sind. Vor allem liegt es in der menschlichen Natur, dass er Sehnsucht nach absoluter Macht und nicht beschränkter Macht hat; er hat Verlangen nach absoluter und nicht beschränkter Vollkommenheit; und da absolute Macht und absolute Vollkommenheit in keinem anderen Wesen als Gott realisiert worden sind, sucht 294 der Mensch von Natur aus Gott, aber er weiß davon nicht. Die mystische Ansicht gegenüber dem Leben prägt die Basis seiner Theorie. So schreibt er: Beten (...) zielt auf die Wandlung der Potenzialität der menschlichen Natur zu Aktualität; der natürliche Mensch soll göttlich werden. In allem was er ansieht, sieht er Gott. Die Propheten wurden zu uns geschickt, um dem Menschen dabei zu helfen, dieses Ziel zu errei295 chen. In der ontologischen Konzeption von Khomeini möchte der Mensch zu der Basis zurückgehen, die ihn und alle Wesen geschaffen hat. Deshalb wird der Mensch am Ende dieses Vervollkommnungsweges nicht zu sich zurückgehen und sich realisieren, wie es Hegel sah, sondern dieser Weg endet mit dem 296 Aufgehen des Subjektes in Gott. Die menschliche Entfremdung kommt in294 295 296

Vgl. Khomeini, R. (1981 b): „Die politischen und rechtlichen Probleme“, Bi Azar Shirazi A. (Hg.), Teheran; Anjam Ketab Verlag, S. 76 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeini, R. (1981 a): „Märtyrer und Märtyrertum“, Teheran: Sepehr Verlag, S. 415 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. ebd.: S. 367-8, 383-84. Im mystischen und religiösen (islamischen) Denkparadigma wird der Mensch ein wahrer Mensch, wenn er in Gott annihiliert wird (fana shodan dar khoda). Die menschlichen Leidenschaften stellen ein Hindernis auf diesem Weg dar und werden als etwas Negatives angesehen. In Europa aber kamen viele Philosophen zu dem Schluss, dass die Leidenschaften einen großen Teil der menschlichen Natur bilden und nicht weggestrichen werden können. Besonders seit John Locke wurden die Leidenschaften als Basis der Menschlichkeit erklärt. Khomeini spricht von Zwei-Dimensionalität des Menschen; einerseits besitzt er eine natürliche Dimension, und andererseits eine metaphysische (bzw. numinöse). Keine dieser Dimensionen darf benachteiligt werden. „Es ist nicht so, dass der Mensch nur ein natürliches Wesen ist. Die Menschheit hat verschiedene Stufen. Derjenige, der sich nur mit der numinoöen Dimension beschäftigt und die natürliche benachteiligt, begeht einen Fehler. Auch derjenige, der sich nur mit der natürlichen Welt zufrieden gibt und die göttliche Seite vernachlässigt, begeht einen Fehler.“ (Vgl. Khomeini R. (2000 b): S. 9.) Auf der anderen Seite aber betont er mehr-

92

2.3 MODERNE UND DER IRAN

folgedessen dann zustande, wenn der Mensch von dieser göttlichen Route abweicht und sich mit weltlichen Angelegenheiten zufrieden gibt. Mit dem Thema Erkenntnis hat sich Khomeini ebenfalls beschäftigt. Jedoch ist für Khomeini eine nicht-göttliche Erkenntnis in ihrer Natur beschränkt und deshalb mangelhaft, weil sie nur auf die natürlichen und körperlichen Bedürfnisse achtet. Aber eine Erkenntnis, die auf der numinösen Weltanschauung basiert, gibt Acht auf alle Aspekte des Menschenwesens. Er schreibt: Alle weltlichen (nicht-numinösen) Schulen zielen auf die Aufrechterhaltung ihrer natürlichen Welt (…) und streben nur danach, dass die 297 Ordnung entsteht. Für Khomeini kommt die wahre Erkenntnis erst dann zustande, wenn der Mensch sich bewusst wird, dass er in dieser materiellen Welt nur wie ein 298 Reisender ist und sein eigentliches Ziel darin besteht, Gott zu suchen. Seine Einstellung zum Subjekt kommt auf der Basis dieser Ontologie zustande. Die Menschen sind nach seiner Auffassung, weder ohne Subjektivität noch in uneingeschränktem Besitz von Subjektivität. Dieses nennt er Position unter Positionen (amrol beinol amrein). Anders formuliert hat der Mensch weder absolute Autorität noch lebt er unter absolutem Zwang: Freedom (…) implying that (human) beings may be independent in their agency (…) and necessity, implying the denial of all effects attributed to any entity other than God and claiming that God directly organizes and affects everything, are both impossible. Therefore, the

297 298

mals, dass Menschwerden nur mit Kontrolle und Begrenzung oder gar Benachteiligung des natürlichen Selbst möglich ist. Eines seiner Bücher widmet er sogar diesem Thema (Vgl. Khomeini, R. (1973): „Kampf gegen das Selbst oder der größte Kampf“, Nadschaf: Al-Adab Verlag, S. 89). Er warnte davor, dass die Natur verhindert, dass der Mensch ein wahrer Mensch wird und betonte die Distanzierung von der natürlichen Dimension. (Vgl. ebd.) Nur so sei es möglich, so Khomeini, einen revolutionären Menschen zu erziehen. Aus dieser Konzeption hat er, besonders während des achtjährigen ersten Golfkriegs, einen großen Nutzen gezogen. Denn um die Soldaten zu motivieren, wurde immer propagiert, dass das Leben auf dieser Welt, der menschliche Körper und das Leben keinen Wert haben. Diese seien etwas Böses und Satanisches. Erst in der anderen Welt kann der Mensch befreit von seinem natürlichen Bedürfnis frei leben und glücklich werden. Khomeini, R. (2000 c): „Schriften des Imam“, Teheran: Verlag und Distributionszentrum von Imam Khomeinis Werken, Bd. 7, S. 287 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeini, R. (2008): „Erklärung der vierzig Hadith“, Teheran: Verlag und Distributionszentrum von Imam Khomeinis Werken, S. 98.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

true position is a position in between. This means that (humans) are effective possibilities (emkane moaser) and capable of causality but not immediately and independently. In all universe, there are no immediate agents (Fa’ele Mostaghel) except the sublime God. And all beings, because they are not independent in their essences, are not independent in their actions and attributes either. These (humans) have certain attributes, and effect certain actions, and achieve cer299 tain deeds, but not independent. Die Idee der Position unter Positionen basiert auf Khomeinis Einstellung gegenüber der menschlichen Autorität und Freiheit. Er unterscheidet zwischen dem freien Willen (ekhtiar) und der Freiheit (azadi). Der freie Wille ist die philosophische Freiheit und beschäftigt sich mit der Existenz des freien Willens und der Autorität in der menschlichen Natur. Freier Wille unterscheidet grundsätzlich den Menschen vom Tier, und jeder Mensch verfügt über philosophische Freiheit. In dieser Hinsicht ist der Mensch von Natur aus auf der Suche nach Freiheit und im Besitz des freien Willens. Khomeini begründet diese Behauptung durch folgende Argumente: Zunächst wissen wir, dass der Mensch Vernunft und die Fähigkeit zum Denken besitzt, und dadurch hat er die Möglichkeit, sich in den Angelegenheiten des Lebens zu entscheiden. Denken und Vernunft wären zwei wertlose Mittel, wenn der Mensch sie nicht benützen könnte. Zweitens, wie bereits angesprochen, strebt der Mensch nach Vollkommenheit und Sittlichkeit. Das wäre ohne Entscheidungsfreiheit unmöglich. Denn der Mensch kann sich erst durch Freiheit 300 zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse entscheiden. Khomeini betonte mehrere Male die Autorität des Menschen und seine (philosophische) Freiheit. Seiner Ansicht nach kann sich der Mensch nur selbst zu einem besseren Mensch steigern oder aber bis auf die Stufe eines Tieres und gar tiefer fallen. 301 Über das alles entscheidet er selbst. Jedoch ist die Willensfreiheit eingeschränkt und ist nicht unabhängig vom Willen Gottes zu denken. Dies wurde, so Khomeini, bereits im Koran angedeutet. Tatsächlich sind im Koran ei299 300 301

Vgl. Khomeini, R. (1983 a): „Der Wunsch und der Wille“, S.73-74, in: Vahdat, F. (2002): S. 157-158. Vgl. Akhlaghi, M., Schariatmadari, Sh. (2006): „Anthropologie in den Gedanken von Imam Khomeini“, Teheran: Verlag und Distributionszentrum von Imam Khomeinis Werken, S. 141. Vgl. Khomeini, R. (1998): „Erläuterung zum Hadith von den Truppen der Vernunft und Unvernunft“, Teheran: Verlag und Distributionszentrum von Imam Khomeinis Werken, S. 68.

94

2.3 MODERNE UND DER IRAN

nige Passagen zu finden, die zeigen, dass der Wille des Menschen stets abhängig vom Willen Gottes ist: Und ihr könnt nicht(s) wollen, außer dass Allah (es) will.

302

Oder: Nicht ihr habt sie getötet, sondern Allah hat sie getötet. Und nicht du hast geworfen, als du geworfen hast, sondern Allah hat es gewor303 fen. Achten wir auf diese widersprüchliche Ansicht, dass der Mensch einerseits Willensfreiheit hat und andererseits diese Willensfreiheit nur im Rahmen des göttlichen Willens realisiert werden kann, so stellen wir fest, dass die Anerkennung der Willensfreiheit des Menschen durch Khomeini nur eine Notlösung ist, um damit das Problem der göttlichen Gerechtigkeit zu lösen. Es wird in religiöser Hinsicht angenommen, dass Gott durch und durch gut ist und kein Böses und keinen Mangel verursachen kann. Aber ständig passieren in dieser Welt Ungerechtigkeiten, Kriege und Böses. Um dieses Paradox zu lösen, entwickelt Khomeini die Konzeption der Position unter Positionen. Im Koran lesen wir: Was dich an Gutem trifft, ist von Allah und was dich an Bösem 304 trifft, ist von dir selbst. Auch bezüglich der Freiheit stellt Khomeini Schranken auf. Mit dem Begriff „Freiheit“ meint Khomeini die rechtliche Freiheit, welche sich mit dem SollZustand und der Frage beschäftigt, wie die philosophische Freiheit den Menschen erteilt werden soll. Grundsätzlich glaubt Khomeini, dadurch, dass die Menschen einen freien Willen haben, sind sie auch frei. Freiheit ist also das grundsätzliche Recht des Menschen. Deshalb ist Freiheit nicht etwas, was eine Regierung oder ein Staat dem Menschen erteilen oder ihm nehmen kann. Freiheit ist ein Recht, das vor der Gründung von Staat und Gesellschaft den Menschen erteilt worden ist, und der Staat hat nur die Aufgabe, die Freiheit des Menschen zu bewahren und zu schützen. In einer seiner Reden hat

302 303 304

Vgl. Koran, übers. Scheich abdullah as-samit, Frank Bubenheim, Nadeen Elyas, Sura 76 „al-Insan“ (der Mensch), Vers 30. Vgl. ebd.: Sure 8, „al-Anfal“ (die Beute), Vers 17. Vgl. ebd.: Sure 4, „an-Nisa“ (die Frau), Verse 79.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

er den Shah (Mohammad Reza Pahlavi), der gesagt hat, er habe den Iranern Freiheit gegeben, hart verurteilt: Welche Freiheit haben Sie (der Shah) erteilt? Freiheit kann nicht erteilt werden. Diese Behauptung an sich ist überhaupt ein Verbrechen. Die Freiheit ist bereits den Menschen gegeben worden. Das Gesetz hat den Menschen Freiheit gegeben, Gott hat den Menschen Freiheit erteilt und der Islam hat den Menschen die Freiheit erteilt. 305 Freiheit, die erteilt wird, ist keine wahre Freiheit. Dennoch kritisiert er die westlichen Freiheitskonzeptionen und Erscheinungsformen (vor allem die gesellschaftliche und kulturelle Freiheit), die nach der konstitutionellen Revolution im Iran ausgebildet wurden, weil sie 306 keine islamischen Wurzeln hatten. Denn die wahre Freiheit bedeutet für Khomeini, Gott und dem göttlichen Gesetz zu gehorchen. Im rechtlichen Raum sollen alle Freiheiten im Rahmen der (heiligen) islamischen Gesetze 307 definiert werden. In einem Interview mit der italienischen Journalistin Oriana Fallaci, die nach der Freiheitsdefinition Khomeinis fragt, sagt er: Freiheit ist nicht etwas, was definiert werden kann. Die Menschen haben Meinungsfreiheit. Niemand kann sie dazu nötigen, dass sie diese oder jene Meinung haben sollen. Niemand zwingt sie dazu, das oder jenes zu wählen. Sie werden nicht gezwungen, in bestimmten Orten zu wohnen oder bestimmte Berufe auszuüben. Freiheit ist et308 was Deutliches (…) Jedoch bedeutet Freiheit nicht, dass jemand sich gegen uns verschwört oder Dinge sagt, die die Niederlage des 305 306

307 308

Vgl. Khomeini, R. (2000 a): „Schriften des Imam“, Teheran: Bd. 3, S. 406-7 (freie Übersetzung P. J.). „Wir sind nicht gegen die Modernisierung. Wir waren es nie. Als jedoch die modernen Erscheinungen aus Europa in den Iran kamen, trugen sie leider nicht zur Steigerung und Entwicklung der Zivilisation bei, sondern führten uns zur Barbarei. Kino ist eine von diesen Erscheinungen. Es sollte der Erziehung der Menschen dienen, stattdessen wird es benutzt, um unsere Jugendlichen zu verschlechtern“ (vgl. Khomeini, R. (1981 b): S. 285 (freie Übersetzung P. J.)). „Westliche Musik, Enthüllung der Frauen, gemischte Schulen usw. haben verderbende Einflüsse auf die Kultur und sollen verboten werden“ (vgl. Khomeini, R. (1944): „Enthüllung der Geheimnisse“, S. 232 (freie Übersetzung: P. J)). „Die westlichen Romane haben sich anstelle von religiösen Büchern im Volk verbreitet, und die Europäer versuchen, durch Verbreitung dieser Romane unseren Jugendlichen Ritterlichkeit und den Geist des Mutes, der Kühnheit und der Tapferkeit zu rauben, und flößen stattdessen den Geist des Flirtens, der Promiskuität und des Betrugs ein.“ (Vgl. ebd.: S. 121). Vgl. Khomeini, R. (2007 c): „Schrift des Lichtes“, Bd. 12, S. 80. Vgl. Khomeini, R. (2007 a): Bd. 9, S. 85.

96

2.3 MODERNE UND DER IRAN

Volkes oder der (islamischen) Revolution verursachen. Das ist keine Freiheit. Alle Menschen sind im Rahmen (der Prinzipien) dieser islamischen Revolution frei. Jeder, aus jeder Gesellschaftsklasse (ferghe), kann das sagen, was er möchte. Aber wenn er sich gegen uns verschwört und versucht, den Islam zu zerbrechen, oder den Organen, die zurzeit mit islamischen Aktivitäten beschäftigt sind, Schaden zuzufügen, ist das nicht zulässig (ihm wird keine Freiheit einge309 räumt) Deshalb hielt Khomeini sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche und politische Freiheit (wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit u.ä.) erst dann 310 für legitim, wenn sie den Islam nicht in Gefahr bringen. Denn Khomeini 311 zufolge kann „ein Muslim auf alles verzichten, außer auf den Islam“. Und dadurch, dass der Islam keine private, sondern vor allem eine politische und 309 310

311

Vgl. Khomeini, R. (2007 c): S. 103 (freie Übersetzung P. J.). Die Drohung „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ war auch sein politisches Motto. Zwar plädierte Khomeini vor allem vor dem Sieg der Revolution für Meinungs- und Pressefreiheit, jedoch forderte er in der Tat von Anfang an eine starke Zensur der Presse und verurteilte jede Art von Meinungsäußerung, die sich von seiner Interpretation des Islam unterschied. Jede Art des anders Denkens oder gar andere Interpretationen des Islam wurden mit dem Etikett „Verschwörung“ gekennzeichnet und eliminiert. Fast alle politischen und gesellschaftlichen Gruppen waren davon betroffen. Er befahl dem Kulturministerium mehrmals, jede Lüge und unterschiedliche Meinung von Autoren, die unter dem Einfluss von westlichen Ideologien standen, zu zensieren und streng gegen sie zu verfahren (vgl. Khomeini, R. (2002); und Khomeini, R. (1983 b): „Auf der Suche nach dem Weg in der Rede von Imam Khomeini“, Teheran: Amir Kabir Verlag, Bd. 12; und Khomeini, R. (1980): „Statthalterschaft der Rechtsgelehrten“, Teheran; und Khomeini, R. (1981 b)). So sagte er z.B. in seiner Rede von 7. Dezember 1980: „Gott bewahre, dass jemals etwas geschrieben oder gesagt wird, was zu Zweifeln führt. Das ist eine große Sünde gegenüber Gott. Es darf kein (Meinungs-)Unterschied zwischen euch bestehen“. Oder in seiner Rede von 16. Mai 1980 sagte er: „Wir leiden an einer Gruppe von Intellektuellen, die unter westlichem Einfluss stehen, die es verhindern, dass jegliche Verbesserungen im Lande geschehen. Früher verhinderte es der Schah (die Entwicklung und Verbesserung des Landes) und heute sie (...). Wenn wir einer Zeitung sagen, sie seien vom Volk und sollen die Meinung des Volkes veröffentlichen, und wenn eine dieser Zeitungen etwas veröffentlicht, was gegen die Ziele des Islam und des Volkes ist und wodurch (deren Weiterarbeit) gehindert wird, sehen wir auf einmal, dass diese Gruppen von Intellektuellen anfangen, in Zeitungen zu schreiben, es solle Meinungsfreiheit herrschen. Aber welche Meinungsfreiheit? Es gibt Meinungen, die uns zur (Sklaverei) des Imperialismus führen. Ist das Meinungsfreiheit? Sollen wir es Freiheit nennen, wenn sie unser Land zur Verderbtheit führen?“ (in Shoa Hossein, F., Dastani, A., S. 115-6). Vor allem die Universitäten waren von dieser Politik betroffen. Wie unten dargestellt wird, verursachte die Politik der „Säuberung der Universitäten“ massenhaft Entlassungen von Professoren, Studenten und Studentinnen. Vgl. Khomeini, R. (2002): S. 47.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

gesellschaftliche Religion ist, die die gesellschaftliche Wandlung als Ziel hat, soll das Individuum sich für die Gesellschaft aufgeben: 312

Alle Propheten (u. Heiligen) sind zur Verbesserung und Reform der Gesellschaft gekommen, und sie alle hatten die Ansicht (Angelegenheit), dass sich der Mensch für die Gesellschaft aufgeben soll. Egal wie groß ein Mensch (eine Persönlichkeit) sein mag, sogar der größte 313 Mensch, der viel mehr wert ist als alles andere in dieser Welt, soll 314 sich in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft aufgeben. Zudem verlangt er in seinem Testament von den Jugendlichen, dass sie ihre Jugendzeit für Gott und den Islam opfern, um in beiden Welten das wahre 315 Glück zu erreichen. Die eingeschränkte und vermittelte Anerkennung menschlicher Freiheit und der Autorität des Menschen hat direkte Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Gesetzgebung. Waren Kant und Hegel der Ansicht, dass nur der Mensch die alleinige Autorität besitzt, sich und seiner Gesellschaft Gesetze zugeben, ist diese Autorität nach Ansicht von Khomeini und, wie später erläutert wird, auch Motahhari, nur Gott gegeben: Der Mensch darf nur Gott gehorchen und darf keinem anderen Menschen folgen, es sei denn, dass, diesem Menschen zu folgen, Gott zu folgen gleich gesetzt werden kann. Deshalb hat kein Mensch das Recht, den anderen zum Folgen zu zwingen. Wir verstehen dieses 312

313 314 315

Khomeini setzte sich sein ganzes Leben dafür ein, zu zeigen, dass der Islam keine einseitige Religion ist und die Muslime sich stark an den politischen Angelegenheiten beteiligen müssen. Sein berühmter Satz: „Unsere Politik ist gleich unsere Religion“ beruht auf dieser Ansicht. In seinen Reden in Qom und Mashhad für die Studenten der religiösen Schulen betonte er stets die Beteiligung und die Führungsrolle der islamischen Gelehrten in Politik und Gesellschaft (vgl. u.a. Khomeini, R. (1983 b) und Khomeini, R. (2002)). Dadurch wollte er jedem Säkularisierungsversuch im Lande zuvorkommen. In einem seiner wichtigsten ideologischen Bücher, nämlich „Statthalterschaft der Rechtsgelehrten“, betont er, dass Religion keineswegs getrennt von der Politik sei. Jeder Islamgelehrte soll sich an der Politik beteiligen. Trennung von Religion und Politik ist seiner Ansicht nach nur ein imperialistischer Versuch, um damit die islamischen Länder in Dunkelheit und Ignoranz zu halten und ihrer Länder zu berauben. „Sogar in der Ära des Propheten (Mohammad) waren Religion und Politik stark verbunden. Deshalb ist der Koran, nach Khomeini, ein Gesetzbuch, das uns bei allen Aspekten vom privaten bis hin zum gesellschaftlichen und politischen Leben Anweisung gibt und uns den Weg zeigt. Vgl. Khomeini, R. (1980). Damit meint er den Propheten und Heiligen. Vgl. Khomeini, R. (2000 d): S. 217 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeini, R. (2002): S. 51.

98

2.3 MODERNE UND DER IRAN

Glaubensprinzip so, dass kein Mensch anderen Menschen, einer Gesellschaft oder einem Volk die Freiheit entziehen, ihnen Gesetze vorschreiben oder ihre menschlichen und zwischen-menschlichen Beziehungen gemäß seinem eigenen mangelhaften Verstand und seiner Erkenntnis oder nach seinen eigenen Neigungen regulieren darf. Gemäß diesem Prinzip sind wir auch der Meinung, dass nur Gott die alleinige Autorität der Gesetzgebung für den Menschen besitzt, genauso wie alle Gesetze des Universums und der Schöpfung von ihm erschaffen worden sind. Die Vervollkommnung und das Glück der Völker und Gesellschaften ist nur durch Befolgung der göttlichen Gesetze möglich, die durch Propheten den Menschen erteilt worden 316 sind. In seinem gesamten Leben opponierte er gegen jegliche menschliche Gesetzgebung und gar gegen die Gründung eines gesetzgebenden Parlaments. Denn dadurch, dass die Menschen nicht die absolute und wahre Kenntnis und Gerechtigkeit kennen (bzw. haben), dürfen sie das Gesetz nicht fälschen: Im islamischen Staat gibt es anstelle eines Gesetzgebungsparlaments ein Programmierungsparlament, das für die verschiedenen Ministeri317 en, gemäß islamischen Gesetzen, Programme entwickelt. Für Khomeini sind die menschlichen Gesetze (positive Gesetze) leer und sinnlos. Im Gegensatz dazu sind die göttlichen Gesetze aus mindestens zwei Gründen universell: Zunächst stehen die göttlichen Gesetze weit über den Menschen und ihren Interessen und Neigungen. Außerdem reichen sie im Gegensatz zu positiven Gesetzen (menschlichen Gesetzen) weit über die artifiziellen geographischen Grenzen hinaus und gelten für alle Menschen in al318 len Ländern. Um diese göttlichen Gesetze durchzuführen, hat uns Gott, so Khomeini, nicht allein gelassen. Er hat uns Propheten und Heilige Imame geschickt, die uns bei der Durchführung der Gesetze zur Seite stehen. 316 317

318

Vgl. Daftare Farhangiye Fakhroal A’emme (Hg.) (2009): S. 22. Vgl. Khomeini, R. (1978): „Statthalterschaft der Rechtsgelehrten“, S. 53, in: Vahdat, F. (2002), S. 163 (freie Übersetzung P. J.). Obwohl Khomeini dem Parlament nur eine beschränkte Rolle als „Programmierer“ einräumen wollte, ist in der Verfassung der Islamischen Republik Iran ein Parlament verankert, das sich von Anfang an mit der Gesetzgebung beschäftigt hat. Vgl. ebd. Vgl. Khomeini, R. (1944): „Enthüllung der Geheimnisse“, Teheran: Elmiye Eslamiye, S. 290-313, in: Vahdat, F. (2002), S. 163.

99

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Die Anwendung der göttlichen Gesetze ist ohne einen Führer (mojri) nicht möglich. Dieser Führer ist dafür zuständig, einen islamischen Staat zu gründen und Gesetze durchzuführen. Mit dieser Begründung veröffentlichte Khomeini im Jahre 1971 sein politisches Hauptwerk „Statthalterschaft der Rechtsgelehrten“ (auch „Der islamische Staat“ genannt) und erklärte seine Konzeption eines islamischen Staates: Wir brauchen einen Kalif für die Durchführung der Gesetze. Jedes Gesetz braucht eine Exekutive (modjri). So ist es sogar in allen anderen Ländern der Welt, die die Gesetze entwerfen. Das Gesetz allein kann nicht zu dem Glück der Menschen beitragen und es sichern. Nach der Entstehung der Gesetze muss eine Exekutive gegründet werden. Fehlt diese Exekutive in einem Staat, ist es ein Mangel. Deshalb hat der Islam neben den Gesetzen auch eine Exekutive für uns festgelegt. Vali-e amr ist der Führer der Exekutive. Wenn der Prophet (Mohammed) keinen Kalif (als Nachfolger) ausgewählt hätte, hätte er seine Prophezeiung nicht vollendet. Die Notwendigkeit der Durchführung von islamischen Gesetzen und die Notwendigkeit einer Exekutive und deren Rolle bei der Vollendung der Prophezeiung und Entwicklung eines gerechten Systems, das die Menschen glücklich macht, war der Grund, warum die Auswahl eines Nachfolgers 319 der Vollendung der Prophezeiung gleichzusetzen ist. Dieser Führer kann im islamischen Staat, so Khomeini, nur ein islamischer 320 Rechtsgelehrter sein, der im Namen des Verborgenen Imam regiert. Und da die Gesetze eines islamischen Staates nur von Gott erteilt worden sind, kann nur ein islamischer Rechtsgelehrter diese Aufgabe übernehmen, denn er ist der einzige, der die wahren Gesetze kennt und aufführen kann. Das ist die Grundlage des Prinzips velayate faghih („Statthalterschaft der Rechtsgelehrten“ auch „Vormundschaft der islamischen Juristen“ genannt). Velayat bedeutet vor allem Herrschaft und Regieren und faghih ist der islamische Jurist bzw. Richter. Nach Vahdat wollte Khomeini mit der Auswahl dieses Titels 319 320

Vgl. Daftare Farhangiye Fakhroal A’emme (DFFA) (Hg.) (2009): „Statthalterschaft der Rechtsgelehrten in den Reden und Werken von Imam Khomeini“, erstes Buch: „Der Mensch, Freiheit und Staat“, S. 47 (freie Übersetzung P. J.). Das allgemeine Konzept des verborgenen Imam ist ein zentrales Glaubenselement der Schiiten. Er ist der letzte der zwölf Imame (Nachfolger Mohammeds) und lebt, dem Glauben seiner Anhänger zufolge, im Verborgenen bis heute weiter. Er gilt als ihr eigentliches „menschliches“ Oberhaupt – nach Gott – und soll dereinst zurückkehren und die Welt retten.

100

2.3 MODERNE UND DER IRAN

zwei Tatsachen vermitteln: Erstens wurde während der direkten oder indirekten göttlichen Offenbarung die politische Führung durch Propheten und Imame an keine anderen außer an die Islam-Juristen übergeben, und unter diesen auf die höchste (islamische) juristische Autorität. Zudem wollte Khomeini darauf hinweisen, dass Menschen für ihre moralische Entwicklung und Vervollkommnung einen Betreuer bzw. Führer brauchen, genauso wie ein Kind einen Vormund braucht. In der Tat setzte er die Regierung des islamischen Juristen mit der Bestimmung einer Vormundschaft für ein Kind 321 gleich. Die Stellung, die Khomeini diesem Führer einräumt, ist so exponiert, dass er ihn sogar als berechtigt sieht, in das Eigentum der Menschen einzugreifen – denn er bekommt seine Legitimität von Gott. Wenn Gott jemanden zum Regieren auswählt, bekommt er auch diese Stellung, da alles im Besitz Gottes ist, und der Mensch ist verpflichtet, dieser Person zu gehor322 chen. Ihm zu gehorchen ist Obedienz gegenüber Gott: Gott hat uns verpflichtet, dem Propheten zu gehorchen. Genauso sind wir verpflichtet, dem Vormund (vali-e amr) zu gehorchen. Zwar ist Gehorsam gegen vali-e amr in staatlichen Angelegenheiten etwas anderes als Obedienz gegenüber Gott, da uns aber Gott befohlen hat, dem Propheten und seinem Nachfolger (vali-e amr) zu gehor323 chen, ist ihre Obedienz gleichzeitig Obedienz vor Gott. Dieser göttliche Staat ist verpflichtet, Ordnung und Gerechtigkeit von Oben herzustellen. Er muss die öffentliche Ethik so einrichten, dass sie zum Glück im Jenseits führt: Das höchste Ziel des Menschen ist nicht, irgendwie seinen Magen zu füllen. Das ist das niedrigste, was ein Tier als sein Ziel setzen kann. Der islamische Staat hat über-materielle (über-wirtschaftliche) Ziele und beharrt auf der Sittlichkeit des Menschen, so dass dessen Geist von einem Licht der Bruderschaft und Hingabe gegenüber den anderen (Menschen) erfüllt wird und eine reine Knechtschaft gegenüber Gott findet. Der Islam und alle anderen Religionen wollen das glei324 che für die Menschen. 321 322 323 324

Vgl. Vahdat, F. (2002): S. 162-164; und Khomeini, R. (1980): S. 65. Vgl. Khomeini, R. (1944): S. 181-182. Vgl. Khomeini, R., in: DFFA (2009): S. 83 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeini, R., in: ebd.: S. 18-19 (freie Übersetzung P. J.).

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Der göttliche Staat soll vertrauenswürdig sein, so dass die Menschen ihm ihr Schicksal anvertrauen und gesichert durch ihn (den Staat) und die Gesetze le325 ben. Die Menschen, die in einem islamischen Staat leben, sollen alle isla326 misch sein. Sie müssen gehorchen. Als Folge bleiben die Menschen (das Volk) in einem solchen Staat nur passiv und dürfen sich nicht, so wie sie es wünschen, an gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten des Landes beteiligen. In diesem System ist das 327 Individuum in der Masse verloren. Alle individuellen, ethnischen und nationalen Identitäten sollen sich nach der religiösen (islamischen) Identität richten. Das Denken und Tun des Menschen soll islamisch werden, und die individuelle, gesellschaftliche und politische Freiheit wird in diesem Rahmen legitimiert. „Das Volk“ kann wählen, aber nur das, was im Rahmen des Islam und im Sinne des Staates bzw. im Sinne der Vormundschaft des Islamischen Juristen ist. Solche Einstellungen machen jede Art von Änderung und jede Kritik und Andersdenken unmöglich, denn ein islamischer Staat ist ein Gottesstaat, und ein Gottesstaat ist ohne Mangel. Alles, was in diesem Staat passiert, ist zugleich Gottes Wille: Es muss alles islamisch werden. Wenn alles islamisch wird, kommt eine Gesellschaft zustande, die unverderblich ist. (Diese) Gesell328 schaft nimmt keinen Schaden. Deshalb ist jeder Gegensatz und Widerspruch gegen diesen Staat Widerstand gegen die Scharia. (Es) ist ein Aufstand gegen die Scharia. Die Strafe für den Aufstand gegen den Scharia-Staat steht in unserem Gesetz. Sie steht in unserem feqh (islamisches Gesetz) und es ist eine sehr 325 326 327

328

Vgl. Khomeini, R. (1980): S. 192 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeinis Rede am 23. Juni 1979, in: Shoa Hosseini, F., Dastani, A. (Hg.) (2005): „Die Sorgen von Imam Khomeini“, Teheran: Verlag und Distributionszentrum von Imam Khomeinis Werken, S. 309. Wie auch Vahdat andeutet, hat Khomeini die Subjektivität und das Prinzip der Individualität der Menschen nie richtig anerkannt. Wann immer er diese aber anerkannte, benutzte er das, um die Einzelnen zu einer bestimmten Aufgabe zu ermutigen, vor allem gegen die Intellektuellen und Reformisten, aber auch während des achtjährigen Golfkriegs. Vgl. Khomeinis Rede am 1. Januar 1980, in: ebd., S. 112 (freie Übersetzung P. J.).

102

2.3 MODERNE UND DER IRAN

hohe Strafe. (…) Der Aufstand gegen den göttlichen Staat ist Auf329 stand gegen Gott. Aufstand gegen Gott ist Blasphemie. Diese Konzeption von einem islamischen Staat verursachte zahlreiche Kritik an Khomeini. Vor allem besorgniserregend ist, dass durch diese Konzeption die Entwicklung einer Diktatur unvermeidbar wird. Darauf antwortet Khomeini: Der islamische Staat ist weder absolut noch despotisch, er ist konditional. Konditional in dem Sinne, dass die Regierenden durch Konditionen, bestimmt vom Koran und der Tradition der Propheten, eingeschränkt sind. Das ist der grundsätzliche Unterschied vom islamischen Staat zu konstitutionellen Monarchien und Republiken (...); während in solchen Staatsformen die Abgeordneten vom Volk oder vom Monarchen die Legislative bilden, gehört die Legislative im isla330 mischen Staat Gott. (…) Sie (diejenigen, die diese Konzeption kritisieren) glauben nur, dass durch die Statthalterschaft der Rechtsgelehrten eine Diktatur entstehen wird. Im Islam gibt es keinen Platz für solche Behauptungen. Diejenigen, die die Statthalterschaft der Rechtsgelehrten kritisieren, wissen wohl, dass es keine Diktatur ist, 331 sie hassen nur den Islam (wenn sie so etwas behaupten). Weiter erwiderte er, dass der islamische Staat keine Demokratie sei. Bereits nach dem Sieg der Revolution hatte er die offizielle Bezeichnung „Demokratische Republik Iran“ strikt abgelehnt und diejenigen, die diese Bezeichnung unterstützten, als Feinde bezeichnet: Jeder, der einen anderen Weg als den Islam hat, ist unser Feind. Egal welchen Namen (bzw. welche Position) er hat. Jeder, der eine Republik fordert, ist unser Feind, da er der Feind des Islam ist. Jeder, der die islamische Republik eine Demokratie nennt, ist unser Feind. Jeder, der demokratische Republik sagt, ist unser Feind, da sie den Is332 lam ablehnt. 329 330 331 332

Vgl. Khomeinis Interview vom 6. Februar 1979, in: Khomeini, R. (1983 b), S. 124-5 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeini, R. (1980): S. 52-53. Vgl. Khomeinis Rede am 23. Oktober 1979, in: Khomeini, R. (1983 b), S. 50 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeinis Rede vom 24. Mai 1979, in: Khomeini, R. (1983 b), S. 79 (freie Übersetzung P. J.).

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Im islamischen Staat sind die Menschen die Schatten Gottes, und deshalb kann jeder nur das wollen, was Gott will und was sein gesetzmäßiger Vertreter verlangt: Die Regierung des Islam-Sultan ist zell-e Allah (Schatten Gottes). Zell-e (Schatten) bedeutet, dass er von sich aus bewegungslos ist. Seine Bewegung ist nur Bewegung zu Gott. Die menschlichen Schatten haben auch keine Bewegung an sich, erst wenn der Mensch sich bewegt, bewegt sich auch sein Schatten (…). Zell-e Allah ist das gleiche. Derjenige, der den Islam als zell-e Allah kennt, weiß, dass er von sich aus nichts (ändern) bewegen kann. Er muss nur den Weg gehen, den der Islam ihm zeigt. Die Bewegung kann nur ein Folgen 333 sein. Das Prinzip der Gefolgschaft ist nicht nur begrenzt auf das Konzept der Statthalterschaft der Rechtsgelehrten. Auch das Prinzip von Marja-e taqlid (absolute Instanz der Nachahmung) stellt eine Basis im schiitischen Islam dar, was Nachahmung und Nachfolgen eines Religionsgelehrten erfordert. Marja bedeutet „das Vorbild“ bzw. „absolute Instanz“, und im schiitischen Feqh werden „Groß-Ayatollahs“ damit bezeichnet, das heißt, die größten und bedeutungsvollsten Religionslehrer, die die Scharia besser als jeder andere beherrschen. Taqlid ist vor allem ein Begriff im Feqh und bedeutet, ein (Hunde-)Halsband zu tragen. Das heißt, wenn ein Aami (normaler Mensch) die Anweisungen der Marja befolgt, trägt er seine Anweisungen wie ein (Hun334 de-)Halsband. Nach dieser Auffassung soll jeder Gläubige einen befähigten 335 Religionslehrer wählen, um dessen Auslegung und Entscheidungen in Angelegenheiten und Fragen der Scharia zu folgen. Jedoch wurde dieses Prinzip im Laufe der Zeit für die Ritualgesetze entwickelt. Die Marja-e taqlid (die absolute Instanz der Nachahmung) spielen eine bemerkenswerte Rolle in religiösen, politischen, gesellschaftlichen sowie intellektuellen Angelegenheiten. Die religiöse Nachahmung wurde zur Basis der politischen Nachahmung. Zum Beispiel bei Wahlen zum Präsidenten oder zu Abgeordneten des Parlaments können die maraje-e taqlid ihren Nachfolgern die Wahl von bestimm333 334 335

Vgl. Khomeini, R. (2000 a): S. 348 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Mohammadi, A. (2006): „Die Grundlinien des Feqh“, Teheran: Universität Teheran, 18. Aufl., S. 363. Die Liste von befähigten Maraja’e taqlid wird bekannt gegeben. Stirbt einer von ihnen, so meinen die meisten Maraja’e taqlid, soll diese Person einen neuen Maraja’e taqlid auswählen.

104

2.3 MODERNE UND DER IRAN

ten Kandidaten verbieten. Daraus folgt, dass das Prinzip der Nachfolge und Nachahmung eine große Beschränkung gegenüber der Entwicklung der Subjektivität und des unabhängigen Denkens darstellt. Khomeini lehnte zudem den modernen Begriff der individuellen Rechte ab. Allgemeinrecht geht vor Individualrecht. Dennoch beging Khomeini mit der Idee von der Heiligkeit des islamischen Staates, in dem keine Ungerechtigkeit geschieht, einen großen Fehler. Einerseits macht diese Heiligkeit jede berechtigte Ausübung von Kritik seitens der Bevölkerung und des einzelnen Individuums unmöglich. Denn ein Heiligtum darf nicht kritisiert werden. Andererseits schadet jede Ungerechtigkeit und jedes Unrecht, das in einem solchen Staat geschieht, gleichzeitig dem Image einer Religion, die nach Khomeini die höchste und vollkommenste aller Religionen ist. Letzteres war auch stets die Sorge von Khomeini während seiner Zeit als Führer. Er wiederholte immer wieder: Wenn wir scheitern, wird der Islam begraben.

336

Oder: Zurzeit ist unser Regime eine Islamische Republik. Die Gefahr, die uns bedroht, ist nicht der Tod, ist nicht die Gefahr der Niederlage eines islamischen Volkes gegen den Götzendienst. Dies ist keine Gefahr. Die Gefahr, die uns bedroht, ist, dass unsere (religiöse) Schule scheitert. (Dass der) Islam scheitert. Dies ist die größte Gefahr, von 337 der wir bedroht sind. Oder: Gott bewahre; wenn wir (der Staat) einen Fehler begehen, werden es die Islamfeindlichen auf das Konto des Islam schreiben. Sie werden nicht sagen, dass diese Person (zeid) einen Fehler begangen hat, sie sagen, dass die olama (islamischen Gelehrten) so sind. Dass der Is338 lam so ist. Während ein Staat auf der Basis menschlicher Gesetzgebung und Regierung nicht dem Ansehen der Religion schadet, fügt ein religiöser Staat durch Un336 337 338

Vgl. Khomeinis Rede vom 6. Juli 1979, in: Shoa Hosseini, F. (2005), S. 133 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. ebd.: S. 142 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeinis Rede v. 9. September 1979, in: ebd., S. 148 (freie Übersetzung P. J.).

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

gerechtigkeiten, die in der menschlichen Welt unvermeidbar sind, der Religion einen großen Imageschaden zu. Das liegt wahrscheinlich daran, dass, wie es Karl Besemer sagt, der Islam seinem Wesen nach eine Gesetzesreligion ist. Je mehr Gottes Offenbarungen in reglementierende Gesetzesvorschriften gefasst werden, desto mehr werden Freiheitsraum und Eigenverantwortung der Gläubigen eingeschränkt. Deshalb befindet sich der Islam von Anfang an in einem fast unlösbaren Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gesetz, Traditi339 on und Moderne. Dennoch waren die Paradoxien, die Khomeini hinsichtlich Subjektivität und Autorität des Menschen äußerte, auch bei anderen Theoretikern zu finden, wie im folgenden bei Motahhari gezeigt wird.

2.3.3

Motahhari: Die islamische Aufklärung

Motahhari gehört zu den wenigen Theoretikern der islamischen Revolution im Iran, der an religiösen Rationalismus glaubte. Das beruht auf der Tatsache, dass nach Motahhari religiöse Grundsätze und Prinzipien mit der Vernunft begründet werden können und deshalb ein harmonischer Zusammenhang zwischen Vernunft und Religion besteht. Er war ein schiitischer Auf341 klärer. Seine Ansicht von Aufklärung war, dass die Muslime über allen 340

339 340

341

Vgl. Besemer, K. (2002): „Islam im Konflikt zwischen Modernisierung und Islamisierung“, Aachen: Shaker Verlag, S. 21-22. Morteza Motahhari (1919–1979), auch Märtyrer Motahhari genannt, war ein iranim Iranischer Professor der Philosophie, einer der wichtigsten Theoretiker der Islamischen Republik Iran und ein Politiker. Sein Vater war Kleriker, der unter anderem in Nadschaf und Ägypten studierte. Motahhari studierte von 1944 bis 1952 an der Universität von Hawza in Qom. Dort nahm er an den Vorlesungen von Khomeini teil und wurde zu seinem Lieblingsschüler. Danach lehrte er für eine Periode von über 22 Jahren Philosophie an der Universität Teheran. Er verfasste diverse Bücher und Artikel über den Islam, islamisches Recht und die Geschichte des Islam und des Iran. Eines seiner wichtigsten Werke über die Rechte der Frauen im Islam wurde nach der Revolution von 1979 die Grundlage der Frauenrechte in der iranischen Verfassung. Außerdem setzte er sich die Aufgabe, die marxistische Ideologie, die ab Anfang der 1940er Jahre im Iran sich auszuprägen begann, mittels islamischer Philosophie zu bekämpfen (vgl. Motahhari, M. (1984): „Eine Kritik am Marxismus“, Qom, Teheran, Sadra Verlag). Zudem war er Mitgründer des islamischen Zentrums „Hosseiniye Ershad“ in Teheran, welches das Ziel verfolgte, die Jugendlichen mit dem politischen Islam vertraut zu machen. Motahhari gehört zu den islamischen Theoretikern im Iran, die sich auch intensiv mit europäischen Theoretikern, vor allem Hegel, beschäftigten. Während der letzten Jahre vor der Revolution pflegte er gute Kontakte mit Khomeini und wurde nach dem Sieg der Islamisten zu einem der wichtigsten Berater von Khomeini. Kurz nach der Revolution starb er am 3. Mai 1980 bei einem Attentat vor der Teheraner Universität. Vgl. u.a.: Vahdat, F. (2002): 167-168; und Hashemi Tari, M. (2004): „Eine Einführung in Grundlagen der Gedanken der islamischen Denker“, Teheran: Verlag des Autors,S. 151. Vgl. Hashemi Tari, M. (2004): S. 151-2.

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Aberglauben und alle Unreinheiten, die im Laufe der Zeit das Gesicht des Islam beschädigt haben, aufgeklärt werden sollen. In diesem Sinne war sein Ziel die Wiederbelebung des Islam, d.h. Rückkehr zu den Wurzeln des Islam und der Prophetenzeit. Diese Wiederbelebung bezieht sich aber weniger auf den Islam als Religion, sondern vielmehr auf die Notwendigkeit der Veränderung des Denkens der Muslime. Dieses Ziel ist vor allem durch Vernunft und Änderung der Denkweise der Muslime erreichbar: Heute benötigen wir, mehr als in jeder Periode zuvor, eine religiöse und islamische Wiederbelebung, Wiederbelebung des religiösen Denkens und eine islamische Aufklärung. Unser religiöses Denken soll verändert werden. Unsere Denkweise über die Religion ist falsch (…). Wir sind nicht so mutig, um zu sagen, dass wir die Wiederbelebung der Religion verlangen, sondern wir verlangen die Wiederbelebung des religiösen Denkens, das heißt Wiederbelebung des eigenen Denkens über die Religion. (…) Religion lebt und stirbt nicht. Sondern die Denkweise des Menschen über Religion ist ein totes Denken (…), 342 die Religion an sich ist unsterblich und stirbt auch nie. Trotz dieser aufklärerischen Ziele sehen wir einige unlösbare Paradoxien in seiner Konzeption, welche vor allem das unabdingbare Resultat des Prinzips der vermittelten Subjektivität sind. Wie Khomeini ist er ein großer Befürworter der Modernisierung und Nutzung der modernen Industrie und technischer Entwicklungen. Zudem fordert er zwar die Entwicklung der Freiheit des Denkens, lehnt aber Meinungsfreiheit und Ausbildung neuer Ideologien strikt ab. Auch bezüglich der menschlichen Subjektivität werden diese Widersprüche sichtbar. Einerseits erkennt er den freien Willen des Menschen (obwohl eingeschränkt) an und ist der Meinung, dass der Mensch das alleinige Wesen ist, das sein Leben nach seinem Willen gestalten kann, dennoch betont er ausdrücklich, dass die freie Wille des Subjektes völlig abhängig vom allgemeinen Willen (Wille Gottes) ist und der Mensch von der Religion und religiösen Gesetzen geführt werden muss. Diese Ansicht hat ihre Wur zeln in der religiösen Weltanschauung Motahharis. Für ihn ist die religiöse Weltanschauung das vollständigste von allem, denn sie hat Stabilität und Unsterblichkeit, ist allgemein und gilt für alle Menschen in allen Zeiten und überall auf der Welt und heiligt den weltanschaulichen Prinzipien. Sie basiert 342

Vgl. Motahhari, M. (1994 a): „Zehn Diskurse“, S. 118, 133-4, in: Hashemi Tari, M. (2004), S. 152-3 (freie Übersetzung P. J.).

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auf einer Bewegung von der Natur hin zur Metaphysik und Geistlichkeit. Nur mit Entfernung von der Natur und Annährung an die spirituellen Aspekte kann die Subjektivität realisiert werden. Der Mensch ist in seiner ersten Entwicklungsphase ein Gefangener seiner materiellen Neigungen. Tief innen aber sucht er Gott, Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit und ethische 343 Entwicklung. Diese Tendenzen verursachen die Reise der Menschen von der Tiernatur zur Menschlichkeit: Die Wahrheit ist, dass der Evolutionsverlauf der Menschheit mit der Tiernatur beginnt und seinen Höhepunkt in der Menschlichkeit erreicht. Dieses Prinzip gilt sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft. Am Anfang seiner Existenzen ist der Mensch nur ein materieller Körper. Durch eine essentielle und evolutionäre Bewegung wird er zum Geist bzw. zu einer geistigen Substanz transfor344 miert. Was die Menschen von den Tieren unterscheidet, ist vor allem Ideologie bzw. Glaube und Wissenschaft. Und ein entfalteter Mensch ist derjenige, der von der Dominanz der Innen- und Außenwelt befreit ist, aber dennoch abhängig 345 von Ideologie und Glaube ist. So ein Mensch ist Nachfolger Gottes (KalifatAllah) auf der Erde: Aus Sicht des Korans ist der Mensch ein von Gott ausgewähltes We343

344 345

Vgl.: Motahhari, M. (1980 a): „Aufstand und Revolution von Mahdi“, Qom: Sadra Verlag, 6. Aufl., S. 52-53. Obwohl Motahhari das Wesen der Menschlichkeit außerhalb der natürlichen Ebene des Menschen sieht, räumt er eine Basisrolle für die körperlichen und natürlichen Aspekte der Menschen ein. So schreibt er: „Der menschliche Geist wird in den Schoß seines Körpers geboren, wo er sich entwickelt und unabhängig wird. Die Tiernatur im Menschen ist wie ein Nest, worin sich seine Geistlichkeit entwickelt. Das gehört zu den Eigenschaften der Evolution. Je mehr der Organismus sich entwickelt, desto unabhängiger und selbstversorgender wird er und bekommt Autorität gegenüber seiner Umwelt. (Genauso) je mehr die Menschlichkeit sich im Menschen entwickelt, desto unabhängiger wird er und bekommt die Vorherrschaft über verschiedene Aspekte seines Seins. Ein entwickelter Mensch ist jemand, der die Vorherrschaft über seine innere und äußere Umwelt hat (…) (Auch) je mehr sich die menschliche Gesellschaft entwickelt, desto mehr Unabhängigkeit und Beherrschung gewinnt das kulturelle Leben über das materielle Leben.“ Vgl. Motahhari, M. (1990 a): „Eine Einführung in die islamische Weltanschauung“, Teheran: Sadra Verlag, S. 15 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. ebd.: S. 15 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. ebd.: S. 12-15. Obwohl Motahhari hier Wissenschaft und Glaube als Basis der Menschlichkeit bezeichnet und als den wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier nennt, spricht er im Laufe seiner Erklärung nicht mehr über Wissenschaft, sondern stattdessen über Glaube und Ideologie.

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sen, sein Nachfolger auf der Erde, halb spirituell und halb materiell, mit selbstbewusster Natur, frei, unabhängig, Vertrauter Gottes und verantwortlich für sich und die Welt. Er hat die Kontrolle über die Natur, Erde und Himmel, kennt das Gute und das Böse. Sein Wesen beginnt mit Schwäche und entwickelt sich zu Macht und Perfektion. Er findet jedoch keinen Trost außer in Gottes Präsenz und bei seiner 346 Erinnerung. Das Ziel des menschlichen Lebens ist, wie es Khomeini sieht, Erkenntnis über und Rückkehr zu Gott. Dafür muss der Mensch aber zunächst sich kennen und Bewusstsein über sich und seine spirituelle Natur gewinnen. Deshalb wurde uns von Gott der Islam geschickt, so Motahhari, damit wir Menschen nicht nur Gott, sondern uns selbst kennen. Diese Erkenntnis und dieses Bewusstsein des Menschen von sich ist die Basis seiner Freiheit: Solange der Mensch sich seiner eigenen Spiritualität nicht bewusst wird und seinen spirituellen Wert nicht erkennt, kann er sich nicht von materiellen Dingen entfernen, und solange er sich von materiel347 len (Dingen) nicht gelöst hat, ist er nicht frei. Erkenntnis über sich und über Gott gelingt vor allem durch die Recherche 348 und das Lesen in der Geschichte der Menschheit. Wie Hegel sieht Mo349 tahhari in der Geschichte den Entwicklungsprozess der Menschheit, den 346 347 348 349

Vgl. ebd.: S. 252 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Motahhari, M. (2006): „Fünfzehn Diskurse“, Teheran: Sadra Verlag, 6. Aufl., S. 90 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Motahhari, M. (1990 a): S. 214. Quellen der Erkenntnis sind nach Motahhari die Natur, der Mensch, die Geschichte der menschlichen Gesellschaften, die Vernunft, das Herz und die wissenschaftlichen Werke der vergangenen Generationen. Betrachtung der Geschichte ist nicht die alleinige Gemeinsamkeit zwischen Motahhari und Hegel. Es gibt andere gemeinsame Ansichten der beiden Theoretiker, z.B. zur Bedeutung des Bewusstseins des Selbst durch den Menschen und der Kritik an Kant. Wie Hegel ist auch Motahhari der Meinung, dass die Idee der menschlichen Subjektivität bei Kant zwar in der Hinsicht richtig ist, dass er glaubt, dass das Herz des Menschen von den moralischen Aufgaben inspiriert wird. Jedoch ist ihrer Ansicht nach die Kantische Konzeption dort falsch, wo er das menschliche Gewissen in Unabhängigkeit von Gott sieht. Das Problem bei Kant war, so Motahhari, dass er die Moral als die einzige Quelle der Verpflichtung sieht, ohne sich auf die göttliche Quelle der Moral zu beziehen. Trotz all dieser Gemeinsamkeiten übt Motahhari jedoch auch viel Kritik an Hegel (vgl. u.a.: Motahhari, M.: (1980 a)). Aber nicht die ganze Kritik erfolgt auf der richtigen Basis. Das liegt vielleicht vor allem daran, dass Motahhari damals keinen direkten Zugang zu Hegels Werken haben konnte, und ihm somit was er von Hegel wusste, nur durch Sekundärliteratur zugänglich war. Denn Hegel zu übersetzen ist keine leichte Aufgabe. Zwei Werke He-

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Prozess der „Selbst-Entdeckung“ der Menschen, in dem das Subjekt „SelbstEntfremdung“ und „Entfremden“ überwindet, um mittels seiner Vernunft 350 und seines Bewusstseins sein authentisches Selbst zu erreichen. Dennoch, wie es Khomeini darstellte, die letzte Stufe dieses Prozesses ist das Aufgehen des Subjektes in der Allgemeinheit bzw. in Gott. Diese Ansicht basiert auf der Lehre des Korans: Wir gehören Allah, und zu ihm kehren wir (dereinst) zurück.

351

Auf dieser Entwicklungsreise soll der Mensch die Kriterien der Menschlichkeit in sich aufbauen und entwickeln. Motahhari nennt sechs Kriterien für die Menschlichkeit: Wissen und Wissenschaft, menschliche Stimmungen wie Liebe und Freundlichkeit, freier Wille, Freiheit, Verantwortlichkeit und menschliche sowie göttliche Ästhetik. Im Folgenden werfen wir einen näheren Blick auf seine Einstellung zum freien Willen und zur Freiheit als zwei Grundlagen der Subjektivität. Unter freiem Willen versteht Motahhari die Kontrolle und Herrschaft des Menschen über sich selbst, über seine Seele (nafs), Naturtriebe (Instinkte) und Neigungen, so dass alles, was Mensch tut, gemäß seiner Vernunft und seinem Willen geschieht und nicht gemäß seinen Neigungen. Der Unterschied zwischen Neigungen und Willen liegt darin, dass die Neigungen einer Anziehungskraft unterliegen, die von äußerlichen Dingen ausgeht. Das heißt, es ist eine Anziehung zwischen dem Menschen und etwas außer ihm, was den Menschen zu sich zieht, so wie die Anziehungskraft von Essen, wenn man hungrig ist. Wille dagegen kommt vom Inneren des Menschen, befreit den Menschen von den Neigungen und bringt die Neigungen unter menschliche Kontrolle. Die Verfolgung der Neigungen ist etwas Tierisches. Nur der Mensch kann sich durch freien Willen und Autorität gegen seine Neigungen entscheiden. Deshalb ist derjenige frei, der sich gegen seine Nei352 gungen entscheidet und sich beherrscht. Der Mensch ist frei und autonom geschaffen worden. Das heißt ihm

350 351 352

gels, nämlich „Die Vernunft in der Geschichte“ und „Grundlinien der Philosophie des Rechtes“, wurden zum Beispiel zum ersten Mal in den Jahren 1999 und 2000 auf Persisch übersetzt, das heißt erst 20 Jahre nach Motahharis Tod. Vgl. Vahdat, F. (2002): S. 171. Vgl. Koran, Sure 2 „al-Baqara“ (die Kuh), Vers. 156, Übersetzung: www.koransuren. de/koran. Vgl. Motahhari, M. (1985 a): „Sittliche Diskurse“, Teheran: Sadra Verlag, S. 230-231 (freie Übersetzung P. J.).

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wurde Vernunft, Denkfähigkeit und freier Wille erteilt (…). Das ist der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Feuer, das brennt, (…), der Pflanze, die wächst, dem Tier, das läuft; keines von ihnen kann sein Handeln und seine Beschaffenheit für sich wählen. Aber der Mensch wählt. Er steht immer verschiedenen Möglichkeiten gegenüber, und allein er – Dank seines freien Willens wählt, welchen 353 Weg er gehen oder wie er handeln möchte. Nach Motahhari ist der freie Wille des Menschen eine Lehre des Korans. Vor allem in seinem Werk „Der Mensch und Schicksal“ bringt Motahhari einige Passagen aus dem Koran, die sich auf den freien Willen des Menschen beziehen: Wir haben ihn den (rechten) Weg geführt, möchte er (nun) dankbar 354 sein (und die rechte Leitung annehmen) oder undankbar. Allah verändert nichts an seinem Volk, solange sie nichts (ihrerseits) 355 verändern, was sie an sich haben. Wer nun will, möge glauben, und wer will, möge nicht glauben. Dennoch stand Motahhari, wie Khomeini, der Herausforderung gegenüber, nach Anerkennung des freien Willens des Menschen den Willen Gottes nicht zu übergehen, denn Gott sei der Quell aller Geschehnisse auf der Welt und nichts geschehe ohne seinen Willen. Um dieses Problem zu lösen, entwickelte er seine Konzeption der „Theodizee und Prädestination“. Vorbestimmung ist ein Thema, das nach Motahhari die Gedanken eines Landwirts, der Analpha356 bet ist, und eines Intellektuellen gleichermaßen beschäftigt. Prädestination und Theodizee waren für Motahhari der Hinweis für göttliche Autorität in Angelegenheiten des menschlichen Lebens. Im Gegensatz zu ihm wurde die Idee der Vorbestimmung von westlichen Autoren kritisiert und als Grund des Niedergangs der islamischen Zivilisation, die vorzeiten die größte Zivilisation der Welt war, bezeichnet. Motahhari bezeichnete dieser Argumente als 357 „falsche Vorwürfe“ und lehnte sie ab. Jedoch war er sich bewusst, dass der 353 354 355 356 357

Vgl. Motahhari, M. (1979 a): „Der Mensch und das Schicksal“, Teheran: Tabatabaei Verlag, S. 58-59 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Koran, Sure 76 „al-Insan“ (der Mensch), Vers 3, in: ebd. Vgl. Koran, Sure 13 „ar-Ra‘d“ (der Donner), Vers 11, in: Motahhari, M. (1979 a), S. 34. Vgl. Motahhari, M. (1974): „Göttliche Gerechtigkeit“, Teheran: Eslami Verlag, S. 22. Vgl. Motahhari, M. (1979 a): S. 7-27.

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Glaube an eine absolute Vorbestimmung zum Fatalismus führte und jegliche gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und Wandlungen blockierte. Deshalb setze er, wie Vahdat es formuliert, sein Ziel in „Abstimmung des 358 Göttlichen und menschlichen Willens“ und schrieb daraufhin sein diesbezügliches Hauptwerk, nämlich „Der Mensch und Schicksal“. Dafür war es nötig, neben dem Glauben an die Universalität des göttlichen Willens den Menschen auch einen bestimmten Anteil an freiem Willen einzuräumen. Nach diesem Modell, kann der Mensch sich zwar zwischen verschiedenen Möglichkeiten in seinem Leben entscheiden, aber sein Wille ist nicht unabhängig vom Willen Gottes (vermittelte Subjektivität). Im Gegenteil, der Wille des Menschen steht in völliger Abhängigkeit vom Willen Gottes. Denn der Mensch wählt zwischen Möglichkeiten, die vorher von Gott für ihn bestimmt worden sind. Freier Wille des Menschen ist beschränkt auf die Ebene des Handelns, während der Wille Gottes das gesamte Universum und die Schöpfung umfasst. Anders formuliert ist der Mensch ein Mittel 359 zur Durchführung von Gottes Wille auf der Erde. Er geht soweit, dass er Ablehnung der Abhängigkeit der Handlungen der Menschen vom Willen Gottes dem Unglauben gleichsetzt: Glaube an ein Wesen, dessen Existenz nicht von ihm (Gott) abhängt, ist Unglaube (sherk). Glaube an ein Wesen, dessen Handeln nicht 360 von ihm (Gott) subsumiert ist, ist ebenfalls Unglaube. Dies ständige Schwanken zwischen Annahme und Ablehnung der menschlichen Subjektivität und des freien Willens ist in den gesamten Werken von Motahhari anzutreffen. Dennoch ist es deutlich, dass er im Vergleich mit Khomeini an einen größeren Wirkungsraum für den Menschen glaubt. Er gewährt sogar den Menschen die Möglichkeit der „Änderung von Prädestination wegen Prädestination“ durch seinen freien Willen, obwohl alles von Gott vorbestimmt ist: Ist das Wissen Gottes veränderbar?! Ist der Wille Gottes reversibel?! Kann das Untere das Höhere beeinflussen?! Ja. Gottes Wissen kann verändert werden; das heißt, Gott hat auch veränderbares Wissen. 358 359 360

Vgl. Vahdat, F. (2002): S. 173. Vgl. Motahhari, M. (1979 a): S. 50-75, 125-129. Vgl. Motahhari, M. (1990 b): „Monotheistische Weltanschauung. Eine Einleitung zur islamischen Weltanschauung (2)“, Teheran: Sadra Verlag, 3. Aufl., S. 78 (freie Übersetzung P. J.).

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Gottes Wille und Befehl können aufgehoben werden; Das heißt, manche Befehle von Gott können aufgehoben werden. Ja. Das Untere kann das Höhere beeinflussen. Die niedrigere Ordnung, vor allem der Wille und das Handeln des Menschen, kann die höhere Ordnung bewegen und Veränderungen in ihr verursachen. Und das ist die höchste Form der menschlichen Kontrolle über das Schicksal. Ich gestehe, es ist verwirrend und verblüffend, jedoch es ist wahr. Das ist das großartige und exaltierte Thema des früheren Willens Gottes „Beda“, der zum ersten Mal in der Geschichte der menschlichen Kul361 tur im Koran erwähnt worden ist. Nach dieser mutigen Anmerkung jedoch lehnt er umgehend die Unabhängigkeit menschlicher Subjektivität und menschlichen Willens von der Sub362 jektivität und dem Willen Gottes ab. Dieser Schwenk ist das unvermeidbare Resultat von „vermittelter Subjektivität“. Dennoch hat diese paradoxe Einstellung gegenüber der Anerkennung des freien Willens des Menschen mindestens zwei Vorteile für ihn. Einerseits, durch Anerkennung der menschlichen Subjektivität und des freien Willens schrieb Motahhari, wie Khomeini, die Gründe aller Ungerechtigkeiten dem menschlichen Handeln zu, denn 363 Gott ist das durch und durch Gute und kann kein Böses verursachen. Auf der anderen Seite motiviert diese Konzeption den Menschen zur Veränderung und gesellschaftlichen bzw. politischen Bewegung. Motahhari war sich bewusst, dass der Glaube an einen absoluten Determinismus viele gesellschaftliche Übel verursacht. Glaube an die Unfreiheit des Menschen macht es den Unterdrückern leichter, andere Menschen unter Druck zu setzen, und begrenzt die Fähigkeit der Unterdrückten, dagegen zu kämpfen. Diejenigen, die sich eine Position angeeignet haben oder das öffentliche Vermögen plündern, sprechen die ganze Zeit von Gottes Gnade und Anmut ihnen gegenüber, und die Opfer protestieren nicht einmal dagegen, weil sie 364 diesen Protest als Protest gegen Gottes Urteil betrachten. Deshalb lehnt er den absoluten Determinismus ab und plädiert für die Verantwortung des Individuums: 361 362 363 364

Vgl. Motahhari, M. (1979 a): S. 65. Damit meint Motahhari Vers 39 von Sure 13 im Koran: „Allah löscht (seinerseits) was er will aus, oder lässt es bestehen. Bei ihm ist die Urschrift.“ Vgl. Motahhari, M. (1979 a): S. 68-9 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. u.a. Motahhari, M. (1990 b): S. 19, 101-104. Vgl. Motahhari, M. (1979 a): S. 43.

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Die Lehren des Koran basieren gänzlich auf der Verantwortung; Verantwortung für sich selbst und für die Gesellschaft. „Raten zum Guten und Abraten vom Bösen“ (amre be Ma’eroof va nah’y az Mon365 kar) ist das Leitbild des Individuums, um gegen die Verdorbenheit und Verderbtheit in der Gesellschaft zu rebellieren. Die Geschichten des Korans enthalten meistens Rebellionen und Aufstand des Individuums gegen gesellschaftliche Verdorbenheit. Die Geschichten von 366 Noah, Abraham, Jesus, Mohammad (…) enthalten dieses Element. Der Freiheit räumt Motahhari eine besondere Stellung ein und ist so der Auffassung, dass jedes Wesen, von Pflanzen und Tieren bis zum Menschen, Freiheit benötigt. Allerdings gibt es keine uneingeschränkte Freiheit für irgendein Wesen außer Gott. Die Freiheit des Menschen wird vor allem durch Heredität, Natur, Gesellschaft und Geschichte, aber auch durch seine eigenen Neigungen eingeschränkt. Dennoch ist Freiheit für Motahhari ein so wertvolles Gut, dass auch dann, wenn es für die Menschen nicht möglich ist, sich völlig von diesen Bindungen zu lösen, sie gegen diese Einschränkungen rebellieren und sich von diesen Quellen der Entfremdung befreien sollten, um ihre Subjektivität durch die Kraft von Vernunft und Glauben zu realisieren. Für ihn ist der Mensch das einzige Wesen, das mit der Fähigkeit ausgestattet ist, sein eigenes „Bild“ so zu malen, wie er es möchte. Dass der Mensch in seinem gesamten Leben auf der Suche nach Freiheit ist, liegt nach Motahhari in seiner Natur, und nichts ist deshalb schmerzvoller, als wenn dem Menschen seine Freiheit genommen wird. Freiheit definiert er wie folgt: Was Freiheit ist und warum der Mensch sie braucht, braucht nicht viel Erklärung. Freiheit bedeutet, dass der Mensch frei ist von den Bindungen, die die Entwicklung und Vervollkommnung seines Han367 delns zur Vollkommenheit hindern. Oder: Freiheit bedeutet die Abwesenheit von Hindernissen. Freie Menschen sind diejenigen, die mit den Hindernissen, die ihre Entwicklung und 365 366 367

Das ist ein islamisches Prinzip, wonach jeder Muslim dazu verpflichtet ist, den anderen zum guten Handeln anzutreiben und vor bösem zu bewahren. Vgl. Motahhari, M. (1979 b): „Gesellschaft und Geschichte. Eine Einleitung zur islamischen Weltanschauung (1)“, Qom, Teheran: Sadra Verlag, S. 331 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Motahhari, M. (2006): S. 270 (freie Übersetzung P. J.).

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Vervollkommnung hindern, kämpfen. Sie geben sich mit Hindernis368 sen nicht zufrieden.“ Trotz der enormen Bedeutung der Freiheit für den Menschen ist sie nach Motahhari nicht das Ziel des menschlichen Lebens, sondern nur ein Mittel, um das Ziel, nämlich die Vollkommenheit, zu erreichen: Freiheit ist die Voraussetzung der Vollkommenheit, nicht aber Vollkommenheit selbst (…) Gott hat den Menschen so geschaffen, dass er mittels seines freien Willens, seiner Freiheit und Entscheidungsbil369 dung die Vollkommenheit erreicht. Deshalb kritisiert er die Existentialisten, weil sie zwischen Mittel und Ziel 370 nicht unterschieden und Freiheit als Ziel betrachteten. 371 Nach Motahhari gibt es hauptsächlich zwei Formen der Freiheit: gesellschaftliche und sittliche Freiheit. Die gesellschaftliche Freiheit bedeutet, dass Mensch in der Gesellschaft seitens anderer Menschen Freiheit hat und die anderen kein Hindernis auf dem Weg seiner Vervollkommnung und Entwicklung darstellen, ihn nicht gefangen halten, so dass seine Aktivitäten blockiert werden, ihn nicht ausbeuten (…), das heißt, all seine mentale und körperliche Kraft für ihren eigenen 372 Nutzen ausnutzen. Das ist die gesellschaftliche Freiheit. Anders formuliert ist die gesellschaftliche Freiheit die Freiheit von je-

368 369 370 371

372

Vgl. Motahhari, M. (1985 a): S. 14 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Motahhari, M. (1994 a): S. 349 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. ebd.: S. 346. Im Laufe seiner Werke klassifiziert Motahhari weitere fünf Arten von Freiheit. Nämlich die philosophische, sexuelle, politische und Denkfreiheit sowie Meinungsfreiheit. Bei philosophischer Freiheit geht es vor allem um die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat oder ein Leben unter Zwang führt. Diesbezüglich gibt es drei theologische Schulen im Islam: die „Asha‘ere“, eine sunnitische Schule, glauben, dass der Mensch keinen freien Willen hat und sein Leben völlig unter Zwang steht. Die zweite Schule, die „Mu’taziliten“, glauben an die absolute Freiheit des Menschen und sind der Ansicht, dass jeder Muslim allein durch seine Vernunft dem Islam folgen kann und dafür keine anderen Mittel benötigt. Die dritte Schule sind die „Imami’e“, die an etwas zwischen absolutem Zwang und absoluter Freiheit glaubten, zu denen auch Motahhari und Khomeini gehörten. Die mentale Freiheit bezieht sich auf die Ansicht, dass jeder Mensch in Wissenschaft und Denken Freiheit haben darf. Vgl. Motahhari, M. (1985 a): S. 14 (freie Übersetzung P. J.).

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der Art Eingrenzung und von jedem Hindernis, dass „die Menschen 373 selbst für sich gebaut haben. Begründung der gesellschaftlichen Freiheit ist ein wichtiges Ziel der Prophezeiung Mohammads gewesen: Gesellschaftliche Freiheit ist überhaupt die Basis des Islam. Das heißt der Islam gibt keinem Knecht das Recht, einem anderen die Freiheit zu entziehen. Der Islam hat ein gerechtes Gesetz, und alle sollen diesem Gesetz gehorchen. Abgesehen von dem Gesetz aber sind alle einandergegenüber frei und niemand hat das Recht, einen 374 anderen zu seinem Gehorsam zu zwingen. So achtsam auch Motahhari gegenüber der gesellschaftlichen Freiheit ist, Frauen gegenüber ist er anderer Ansicht und hält das Verlangen der Frauen nach Gleichberechtigung für egoistisch, was sogar zum Skandal führen 375 könnte. Aber gesellschaftliche Freiheit ist ohne sittliche Freiheit unerreichbar. Sittliche Freiheit ist die Freiheit des Menschen von sich selbst und seinen Neigungen. Es ist unmöglich, dass ein Mensch, der Gefangener seiner Lust, Habgier und ähnlicher Neigungen ist, die Rechte anderer Menschen und ihre Freiheit respektiert. Das ist nach Motahhari das Paradox der modernen westlichen Gesellschaften, die versuchen, die gesellschaftliche Freiheit zu sichern, ohne aber die Bildung der sittlichen Freiheit zu fordern. Bildung der sittlichen Freiheit ist mit Hilfe von Vernunft und freiem Willen möglich. Durch Vernunft befreit man sich von Befangenheit, Vorurteilen und Aberglauben. Dies sind die Dinge, die die sittliche Entwicklung hindern. Auf der anderen Seite hat der Mensch einen freien Willen, was dem Menschen bei der Entscheidung hilft. Der sittliche Wille ist heilig. Er ist nicht auf der Suche nach Geld, Luxus und Machtbesessenheit, sondern wird gebildet, wenn man außer sich auch den anderen Menschen sehen und ihm helfen kann. Nur dadurch können die gesellschaftlichen Wandlungen stattfinden und sittliche Men376 schen gebildet werden. Obwohl Vernunft und freier Wille notwendige Mittel für die Bildung der sittlichen Freiheit sind, ist Motahhari völlig gegen die 373 374 375 376

Vgl. Motahhari, M. (2006): S. 278. Vgl. Motahhari, M. (2006): S. 281 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Motahhari, M. (1994 b): „Die Angelegenheit des Hidschab“, Qom, Teheran: Sadra Verlag, 39. Aufl., S. 225. Vgl. Motahhari, M. (2006): S. 274-275, 281.

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Idee, dass diese beiden Mittel ohne richtigen Glauben und Tugend zur sittlichen Freiheit führen werden. Die moderne Gesellschaft kann also deshalb die sittliche Freiheit, die die wertvollste aller Freiheiten ist, nicht bilden, weil die sittliche Freiheit nicht zu bilden ist, außer mit Hilfe der Religion, der Prophe377 ten und des Glaubens. Im Vergleich zu Khomeini legt Motahhari besonders Wert auf das Thema Vernunft. Aus seiner Sicht kann man im Islam Vernunft und Religion nicht voneinander trennen. Der größte Fehler des Westens während des Mittelalters lag also darin, dass man dort Religion und Vernunft voneinander zu 378 trennen versuchte. Der Islam ist, so Motahhari, eine „vernünftige Religion“, und deshalb gibt es keinen Widerspruch zwischen der Vernunft und dem Islam: Das ist eine große Ehre, dass seit Beginn (der Ausprägung) des Islam die islamischen Wissenschaftler gesagt haben, dass zwischen Religion (Islam) und Vernunft eine Übereinstimmung herrscht (…). Sie meinten damit, wenn unsere Vernunft etwas herausfindet, und uns keine andere Erzählung der Propheten und anderen Heiligen (Hadise 379 Naghli) zur Verfügung steht, allein, diese Entdeckung der Vernunft reicht, um uns zu zeigen, dass der Islam damit einverstanden ist. Wenn uns keine Erzählungen vorliegen (wissen wir), dass das, was von der Religion uns befohlen wurde, den Befehl der Vernunft ausspricht. Das heißt die Religion beinhaltet ein Geheimnis, das, wann immer die Vernunft es herausfindet, bestätigt wird. Das bedeutet, dass die Ordnungen und Gesetze im Islam nicht auf der Basis einiger unbekannter Elemente (…) funktionieren, die außer der Reichweite 380 unserer Vernunft liegen (…). Der Islam ist ein vernünftige Religion. Diese Stellung, die im Islam der Vernunft gegeben wurde, basiert darauf, dass der Islam sich direkt mit den Realitäten des menschlichen Lebens beschäf381 tigt. Daraus resultiert für Motahhari, dass das islamische Recht (die göttlichen Gesetze) sehr vernünftig ist: 377 378 379 380 381

Vgl. Motahhari, M. (1985 a): S. 19-20. Vgl. Motahhari, M. (2006): S. 21. Das heißt, dass die Erzählungen und der Koran Priorität vor der Vernunft haben. Vgl. Motahhari, M. (2006): S. 51 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Motahhari, M. (1992): „Ende der Prophezeiung“, Qom, Teheran: Sadra Verlag, 7. Aufl., S. 59.

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Dass Glaube und Vernunft von einander getrennt sind, gibt es nicht 382 im Islam, und darin liegt die Kraft des Fegh (islamisches Recht). Beim Thema Gesetzgebung spricht er zwar nicht direkt von Ablehnung der menschlichen Gesetzgebung, argumentiert aber ständig, dass die göttlichen Gesetze (Fegh) und die Vernunft sich nicht widersprechen. Deshalb gelten sie für immer und für alle Gesellschaften. Damit lehnt er die Ansicht ab, dass dadurch, dass menschliche Bedürfnisse sich im Laufe der Zeit ändern, sich ebenfalls die Gesetze ändern sollen. Er unterscheidet zwischen zwei Kategorien von menschlichen Bedürfnissen: Die erste Kategorie wurzelt in der Na tur der Menschen, und dies sind sowohl physische (Essen, Kleidung, Unterkunft und sexuelle Bedürfnisse) als auch mentale. Zu den mentalen Bedürfnissen gehören unter anderem das Bedürfnis nach Glaube, Wissen, Respekt, Erziehung, sozialen Kontakten, Gerechtigkeit, Freiheit und Gesetz. Bedürfnisse der ersten Kategorie bleiben immer konstant und aktuell. Die zweite Kategorie von Bedürfnissen folgt aus der ersten Kategorie. Die Bedürfnisse nach neuen Gegenständen und Gesetzgebung bezüglich der täglichen und oberflächlichen Angelegenheiten gehören dazu. Diese Bedürfnisse veralten und brauchen ständige Erneuerung. Die primären Bedürfnisse sind Bewegung des Menschen zur Vervollkommnung und Entwicklung, aber die Bedürfnisse der zweiten Kategorie resultieren aus der Entwicklung im Leben. Dennoch gibt es keinen Grund, wegen der oberflächlichen und materiellen Entwicklungen im menschlichen Leben alle Gesetze zu ändern. Dass bei Entstehung neuer Elemente, wie Autos oder internationale Konzerne, neue Gesetze dafür entwickelt werden sollen, steht für Motahhari außer Zweifel. Dennoch gibt es keinen Grund, deshalb alle anderen Gesetze – wenn sie auf der Natur des Menschen und auf Gerechtigkeit basieren – zu verändern. Je mehr ein Gesetz sich mit den unwesentlichen und materiellen Angelegenheiten beschäftigt, um so weniger Chancen hat es, zu überleben, und deshalb sollte es ständig verändert werden. Andererseits aber, je allgemeiner und sittlicher ein Gesetz ist und je mehr es sich mit den wesentlichen Sachen und den Interaktionen zwischen den Menschen beschäftigt, um so größere Chancen hat es zu überleben. Göttliche bzw. religiöse Gesetze beschäftigen sich mit den grundsätzlichen Bedürfnissen des Menschen und gelten für alle Menschen überall und zu allen Zeiten, und keine menschliche Gesetzgebungsbehörde hat die Fähig382

Vgl. Motahhari, M. (2006): S. 51 (freie Übersetzung P. J.).

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keit, einen besseren und allgemeineren Gesetzesrahmen für die Menschheit 383 zu entwickeln. Anders formuliert, nur Gott hat das alleinige Gesetzge384 bungsrecht. Dadurch, dass nur Gott das Gesetzgebungsrecht hat, besitzt er selbst das alleinige Recht zum Regieren. Deshalb ist das Recht auf Regieren im islamischen Staat nur denjenigen erteilt worden, die von Gott ausgewählt worden sind, das heißt, der Prophet und später derjenige, der die göttlichen Gesetze besser als alle anderen kennt, deshalb ist Regieren zwangsläufig Vormundschaft (der islamischen Herr385 schaft) über die Gesellschaft und nicht Vertretung des Volkes. Im islamischen Staat besitzen zwar alle Menschen das Recht auf freies Denken, ihnen soll aber die Meinungsfreiheit genommen werden. Denn Denken resultiert aus Vernunft und wie bereits gesehen, stehen seiner Ansicht nach Vernunft und Glaube in übereinstimmender Beziehung zueinander. Andernfalls ist eine Meinung meistens das Resultat der Überzeugungen, Bindungen und Emotionen, die nur das Vorurteil in den Menschen erwecken und damit 386 der Vernünftigkeit entgegenwirken. Deshalb darf nur „eine richtige Meinung“ frei sein. In diesem Sinne ist Meinungsfreiheit nur dann legitim, wenn 387 sie der Vernunft und deshalb dem Glauben (religiöser Glaube) entspricht. Dieser Argumentation bringt Motahhari zur Unterstützung der Idee von 383 384

385

386

387

Vgl. Motahhari, M. (1992): S. 49-52. Vgl. Motahhari, M. (1989): „Über die Islamische Republik Iran“, Qom, Teheran: Sadra Verlag, 4. Aufl., S. 153. Allerdings räumt der Islam, nach Motahhari, dem islamischen Staat die Autorität auf Gesetzgebung in Angelegenheiten ein, die zu früheren Zeitpunkten kein soziales bzw. politisches Thema darstellten. Diese Autorität wurde an allererster Stelle dem Propheten und danach jedem anderen islamischen Staat gegeben. Vgl. ebd.: S. 153 (freie Übersetzung P. J.). Motahhari kritisiert die Demokratie, da in solchen Systemen zunächst Religion und Politik voneinander getrennt werden und die Menschen alle gleich berechtigt sind, an der Regierung teilzunehmen (unabhängig davon, ob sie die göttlichen und sittlichen Gesetze kennen). In solchen Systemen wird Gott sein Recht auf Regieren genommen. Vgl. ebd.: S. 92-100. Dabei geht Motahhari so weit, dass er das Prinzip der Meinungsfreiheit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kritisiert: „Es ist richtig, dass der Mensch ehrwürdig ist. Aber ist es möglich, dass wir akzeptieren, dass er jede Meinung vertreten kann, die er will? Oder ist es akzeptabel, dass auch (jede) seiner Meinungen ehrenwürdig ist?!“ (Vgl. ebd.: S. 100). Vgl. ebd.: S. 109. Nach Motahhari ist Meinungsfreiheit gleich Mogelei und Täuschung, und deshalb ist der An- und Verkauf der Bücher, Filme u.ä., die Meinungen außerhalb bzw. gegen die Ideologie des Islams verbreiten, strikt verboten (haram). Vgl. Motahhari, M. (1982): „Ein Exkurs zum prophetischen Weg“ (seiri dar sireh nabavi), Qom, Teheran, Sadra Verlag, S. 252.

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„Führung von oben“. Denn die Menschheit bedarf in allen Zeiten der Führung und Einladung zum Glauben: Das Bedürfnis der Menschen zur Führung ist die Basis der Lehre der 388 Propheten. Diese Aufgabe liegt nach dem Propheten bei dem weisesten Menschen der jeweiligen Epoche, der die Menschen vor verzerrten Meinungen und Menta389 litäten bewahrt und gegen Verzerrungen und Häresie (bed’at) kämpft. Die390 se Idee prägt die Grundlagen seiner politischen Ideen. Auf der politischen Ebene ist diese weise Person nicht derjenige, der über gute fachliche Kenntnisse und Analysekraft der politischen Situationen verfügt. Diese Eigenschaften sind nach Motahhari zwar nötig, aber nicht ausreichend. Er muss auch den Fegh und alle Aspekte des Islam bzw. den Islam in seiner Gesamt391 heit kennen. Deshalb sind nach dem Propheten und den Imams die religiösen Gelehrten für politische Angelegenheiten und die staatliche Führung verantwortlich. Dieses Prinzip ist nach Motahhari die Garantie für die siegreiche Fortdauer der iranischen Revolution von 1979: Wenn die iranische Revolution in der Zukunft ihre Ziele erreichen und genauso siegreich bleiben möchte, soll sie weiterhin auf den Schultern der religiösen Gelehrten (rohaniyat) getragen werden. Wenn die Führung (parchamdari) den religiösen Gelehrten weggenommen und von den Intellektuellen übernommen wird, wird der Islam nicht ein Jahrhundert, sondern nur eine Generation später völlig verderben, weil die Träger der wahren islamischen Kultur nur diese 392 religiös gebundenen Gelehrten sind. Dass der islamische Staat vor den Intellektuellen bewahrt werden soll, beruht auf den Sorgen Motahharis über die Übertragung neuer „Meinungen“ in den Islam und in den islamischen Staat durch die Intellektuellen. Denn nur die wahre Schule des Islam kann die Zukunft der Revolution garantieren. Er war 388 389 390 391 392

Vgl. Motahhari, M. (1985 b): „Imamat und Führung“, Qom, Teheran: Sadra Verlag, 2. Aufl., S. 226 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Motahhari, M. (1992): S. 66-67. Motahharis Werke über Politik sind an Zahl wesentlich geringer im Vergleich mit denen Khomeinis. Das liegt vielleicht daran, dass er bereits kurz nach der Revolution getötet worden ist. Vgl. Motahhari, M. (1985 b): S. 71. Vgl. Motahhari, M. (1980 b): „Über islamische Revolution“, Qom, Teheran: Sadra Verlag, S. 184, in: Hashemi Tari, M. (2004), S. 161 (freie Übersetzung P. J.).

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2.3 MODERNE UND DER IRAN

der Meinung, dass der Sieg der islamischen Revolution nur auf der Grundlage der islamischen Schule (maktabe eslami) möglich geworden war, und genau in diesem Punkt kann sie auch geschwächt werden: Die Zukunft unserer Revolution wird nur dann gesichert, wenn wir 393 die Gerechtigkeit und Freiheit bewahren. Politische Unabhängigkeit, wirtschaftliche Unabhängigkeit, mentale Unabhängigkeit und die Unabhängigkeit unserer Schule (…). Unsere Revolution siegt erst dann, wenn wir unsere Schule und Ideologie (das heißt Islam) ohne jegliche Verzerrung der Welt zeigen. Das heißt, wenn wir unabhängige Schulen haben und unsere Schule ohne Schamgefühl und Beschämung, so wie sie ist, der Welt präsentieren, können wir auf den Sieg hoffen. Aber wenn im Namen des Islam ökonomische Schulen gegründet werden und wir, von wo auch immer, etwas nehmen, etwas vom Marxismus, etwas vom Existentialismus (…) und von all diesen Schulen eine Mischung machen und sie Islam nennen, werden zwar die Menschen sie vielleicht kurzfristig akzeptieren, weil kurzfristig die Wahrheit versteckt werden kann, aber im Laufe der Zeit wird sie enthüllt (…), und wenn unsere Revolution siegesreich weiter fortgehen möchte, soll sie sich von all diesen Ornamenten säubern und den Weg der teuren Werte des wahren Islam – koranischer Is394 395 lam und Islam der Ahl-al-Beit – gehen. Die Bedingungen, die in einem islamischen Staat – im Sinne von Motahhari – herrschen sollen, müssen gemäß dem Islam sein. Dafür muss der Führer nicht direkt von Gott benannt worden sein, sondern es reicht völlig aus, wenn er die notwendigen Voraussetzungen, die der Islam für einen Führer bestimmt, erfüllt. Der Begriff Republik (in „Islamische Republik Iran“) bezieht sich deshalb nur auf die Regierung, die ausgewechselt werden kann, und die Wahlfreiheit der Bürger beschränkt sich ausschließlich darauf. Bei der Wahl der Staatsform können sich die Bürger nicht beteiligen, denn islamisch ist die Herrschaft, die von Gott vorbestimmt geworden ist, weshalb die 393 394 395

Es scheint, dass Motahhari, wie Khomeini, die politische Freiheit eines Landes im Sinne Machiavellis interpretiert, nämlich die Unabhängigkeit eines Landes vom Ausland in innenpolitischen Angelegenheiten. Ahl-al-Beit ist die Familie des Propheten Mohammad. Vgl.: Motahhari, M. (1980 b): S. 65-66, in: Hashemi Tari, M. (2004), S. 160-61 (freie Übersetzung P. J.). Für Motahhari ist jeglicher Innovationsversuch in religiösen Angelegenheiten nicht akzeptabel.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Bürger ihr nur gehorchen dürfen. Er fordert zwar, dass die Bevölkerung genügend politische Freiheit besitzen soll, um ihr politisches Bewusstsein zu steigern und dadurch an Parlamentswahlen bewusst teilnehmen zu können, beschränkt aber, wie bereits gesehen, durch Ablehnung der Meinungsfreiheit das Recht der Bürger und fordert Gehorsam der Führung gegenüber. Der von Khomeini und Motahhari dargestellte islamische Staat verfolgt das Ziel, den Menschen mit Hilfe göttlicher Gesetze und göttlicher Führung zur Vollkommenheit zu bringen. Dieses Ziel ist anhand passender islamischer Bildung und Erziehung möglich. Was die Kriterien eines solchen Bildungssystems sind und welche Ziele es verfolgt, wird im Folgenden untersucht.

2.3.4

Khomeinis Bildungskonzeption

Khomeini nennt Unwissenheit und kulturelle Armut als Quelle von Leiden und Problemen aller Völker. Deshalb forderte er den Kampf gegen Analpha betentum und die Verbreitung der neuesten Technologien und Wissenschaften. Demzufolge wurde im Jahr 1980 auf Khomeinis Befehl eine Organisation namens „Alphabetisierungsbewegung“ gegründet, welche vor allem zwei Ziele verfolgte: Bildung der Erwachsenen mit dem Ziel, dass sie Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, und Erziehung und Ausweitung der islami396 schen Kultur. Denn nach Khomeini war Wissenschaft neben der „Säuberung der Seele“ (tazkiye‘e nafs) einer der Flügel, mit denen Vollkommenheit erreicht wird: Mit Wissenschaft kann der Mensch das Glück in dieser Welt und im Jenseits sichern. Mit Wissenschaft kann der Mensch die Jugendlichen so erziehen, dass sie selber ihren Nutzen in dieser Welt und im Jenseits sichern. Wenn unser Land die Wissenschaft lernt, Höflichkeit lernt, die (richtige) Richtung der Wissenschaft und des Handelns lernt, kann keine Macht der Welt es (unser Land) beherrschen. All unsere Schwierigkeiten in unserer Geschichte wurzeln darin, dass sie (westliche und östliche Mächte) unser Land ausgebeutet haben. Sie haben das Unwissen der Menschen ausgenutzt und sie gegen ihren 396

Vgl. Artikel 1 und 2 der Satzung der „Alphabetisierungsbewegung“, in: Forschungszentrum der Madschles (iranisches Parlament): „Verordnungen zur Durchführung der Alphabetisierungskampagne“, unter: http://rc.majlis.ir/fa/law/show/111282. Alphabetisierung war kein Plan, der von Khomeini im Iran eingeführt worden ist. Bereits während der Herrschaftszeit von Reza-Shah und Mohammad Reza Schah Pahlavi wurden diesbezüglich verschiedene Projekte durchgeführt.

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2.3 MODERNE UND DER IRAN

Nutzen ausgerüstet. Wenn sie (unsere Bevölkerung) die Wissenschaft besessen hätte, (eine in die richtigen Richtung ausgerichtete Wissenschaft), wäre es diesen Zerstörern unmöglich gewesen, uns gegen das Volk zu führen. Wissenschaft und Bildung ist die Richtung, auf 397 die wir achten sollen und die das Volk vom Unglück befreien kann. Trotz der in diesen Phrasen ausgedrückten Affinität zu Bildung und Wissenschaft präsentieren diese Aussagen nur einen begrenzten Aspekt von Khomeinis Konzept. Seine Auffassung von Bildung steht zum großen Teil im Schatten einer Erziehung, die sowohl auf das Göttliche gerichtet, als auch äußerst politisch ist. Das höchste Ziel der Bildung und Erziehung entspricht dem höchsten Ziel der Menschheit, nämlich „Aufgehen in Gott“. Zudem zielt die richtige Bildung und Erziehung auf „Befreiung von allen Abhängigkeiten“, vor allem vom abhängigen Denken. Darauf hat Khomeini so großen Wert gelegt, dass er zwei Mal in seinem Testament das Volk darauf angesprochen hat. Wie bereits aufgeführt bedeutet Aufgehen in Gott für Khomeini die Befreiung von allen materiellen Neigungen. Der Mensch löst sich dadurch von allem außer Gott und zielt nach der absoluten Vollkommenheit. Aufgehen in Gott wurzelt in der Natur der Menschheit und ist folglich das Ziel aller Men398 schen zu allen Zeiten. Deshalb kann das Ziel einer richtigen Bildung und wahren Wissenschaft, die sich an die Natur der Menschheit richtet, nicht in der oberflächlichen Untersuchung weltlicher Phänomene liegen, sondern der Mensch soll durch Wissenschaft und Bildung die wahre Bedeutung des Lebens finden und zum Ursprung zurückgehen: Der Islam sucht in der Natur eine andere Bedeutung, in der Medizin sucht er nach einer anderen Bedeutung, in der Astronomie sucht er nach einer anderen Bedeutung, (…), derjenige, der den Koran studiert, findet die (gesuchten) Bedeutungen. Er sieht, dass die numinösen Aspekte aller Naturwissenschaften im Koran dargestellt worden sind und nicht die natürlichen Aspekte (…). Der Islam zielt darauf, alle Sinnesempfindungen und das ganze Universum zur Einheit und zum Monotheismus zurückzubringen. Das ist es, was der Islam

397 398

Vgl. Khomeini, R. (2007 d): S. 230-231 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeini, R. (2008): S. 127, 184.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

verlangt, nämlich Rückkehr aller Natur- und Humanwissenschaften 399 zur göttlichen Wissenschaft und zum Monotheismus. Um mit Gott vereint werden zu können, soll das Individuum durch islamische Bildung und Erziehung zunächst sich selbst kennen. Das bedeutet nicht, dass der Mensch eine Art Bewusstsein seiner physischen und psychischen Seiten bekommt und diese Kenntnis zur Basis seiner Handlungen macht. Sondern dabei geht es darum, dass das Individuum sich völlig von sich und seinen Leidenschaften löst bzw. in den Worten von Khomeini „sich davon säubert“. Säuberung (tazkieh) und Erziehung zur Menschheit haben viel höhere Priorität als Bildung selbst. Bildung ist ohne eine islamische bzw. menschliche Erziehung nicht nur wertlos, sondern auch extrem schädlich: Wichtig in den Universitäten und bei der Erziehung von Lehrern und Lernenden ist, dass sie neben Bildung menschliche Erziehung bekommen. Wie oft gibt es Menschen, die die höchste Stufe der Wissenschaft und Bildung erreicht haben und, dennoch keine menschliche Erziehung besitzen. Der Schaden, den solche Menschen dem Land, dem Volk und dem Islam verursachen, ist viel höher als anderes (…). Dieses Wissen ist wie ein Schwert in den Händen dieses 400 Menschen, und damit kann er die Wurzel eines Landes vernichten. Eine menschliche Erziehung ist für Khomeini zugleich eine islamische Erzie401 hung. Seine negative Sicht der Gebildeten, die über keine religiöse Erziehung verfügen, macht sich immer wieder in seinen Reden bemerkbar. Durch Bildung sollen nach Khomeini Menschen gebildet werden, sonst gäbe es keinen Unterschied zwischen einem gebildeten Menschen und einem Tier. Er geht soweit, dass er diese Gruppe als Verräter des Landes und des Islam und als Gründer eitler Religionen bezeichnet: Sowohl islamische und philosophische Wissenschaften als auch natürliche Wissenschaft und Bildung sind ohne richtige Erziehung (wertlos) (…) ohne diese Erziehung ist der Mensch ein Tier, das (bloß) viele Informationen im Kopf hat. In Wirklichkeit aber ist er ein Tier mit Informationen und Wissen und kein Mensch. Der Scha399 400 401

Vgl. ebd.: S. 30-32 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeinis Rede vor den Mitgliedern des islamischen Vereins von Studenten der pädagogischen Hochschule, in: Khomeini R. (1982): S. 11 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeinis Rede am Martyriums-Tag von Morteza Motahhari, in: ebd.: S. 19.

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2.3 MODERNE UND DER IRAN

den, den diese Gruppe dem Islam und dem Land zufügen, ist höher als der durch andere Gruppen. Die meisten dieser eitlen Religionen, die gegründet worden sind, sind von diesen Wissenschaftlern gegründet (…). Nur die Wissenschaftler haben neue Religionen eingeführt, und der meiste Verrat an unserem Land kommt seitens dieser 402 Gebildeten. Im Gegensatz zu einem nicht-religiösen Wissenschaftler ist ein religiös gebildeter und erzogener Mensch der Schlüssel zum Auszug aus der Abhängigkeit. Dafür ist es aber notwendig, dass zunächst Bildung und Erziehung selbst un403 abhängig vom Einfluss des Westens und Ostens werden. Die westlichen und östlichen Schulen sind keine angemessenen Vorbilder, weder für die Muslime noch für die Menschheit. Das größte Problem dieser Denkschulen liegt Khomeini zufolge an ihrer Trennung vom monotheistischen System, an der Vergiftung mit Götzendienst und Abgötterei (sherk) und der starken Neigung zum Materialismus, was alles der wahren Natur der Menschheit entgegen steht. Für Khomeini kann nur die Ausprägung der islamischen Kultur, die durch islamische und von äußeren Mächten unabhängige Bildung und Erziehung entsteht, die Gesellschaften retten. Deshalb kritisierte er öfter das Bildungssystem der Pahlavi-Dynastie und bezeichnete es als den Grund aller Abhängigkeiten: All seine Bildung und Erziehung war Erziehung und Bildung der 404 ausländischen Kulturen. Unsere Kultur (islamische Kultur ) gehörte uns nicht mehr. So war Erziehung und Bildung gleich Abhängigkeit. Sie haben die Köpfe unserer Kinder von Kindheit an abhängig erzogen. Jetzt sind sie Jugendliche geworden, können aber nicht denken (glauben), dass auch wir Menschen sind. (…) Das allerwichtigste, 402 403

404

Vgl. Khomeini, R. (2007 a): S. 2 (freie Übersetzung P. J.). Mit dem Osten war die kommunistische Sowjetunion gemeint. Der Ausdruck „Westen und Osten“ kommt sehr oft in den Reden und Werken von Khomeini vor. Darunter versteht er die westliche und östliche Ideologie und Lebensphilosophie. Sie sind, nach Khomeini, die wichtigsten Feinde des islamischen Iran. Immer wenn Khomeini die Bezeichnung „unsere Kultur“ verwendet, meint er damit die islamische Kultur. Er hat mehrere Male in seinen Reden seine negative Einstellung bezüglich der „nationalen Kultur“ (iranische Kultur) gezeigt. Beispielsweise sagte er: „Diejenigen, die versuchen, die Nationalität wiederzubeleben, stehen gegen den Islam. Der Islam ist gekommen, um solche schwachsinnigen Behauptungen zu vernichten. Uns taugen die Nationalisten nicht. Wir brauchen nur Muslime. Der Islam ist gegen Nationalismus. Nationalismus bedeutet, dass wir (Nationalisten) nur Nationalismus suchen und gegen den Islam sind“. Vgl. Khomeini, R. (2002): S. 36.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

was das Volk und die Universitäten benötigen, (…) ist, diese Köpfe, die jetzt westlich oder östlich orientiert sind, zu vernichten und stattdessen einen islamisch-iranischen Kopf zu bilden. (…). Damit befreien wir uns von der kulturellen Abhängigkeit und der des Denkens. Werden wir diese Abhängigkeit des Denkens los, werden alle anderen Abhängigkeiten beendet. Dass wir wirtschaftlich abhängig sind 405 (…) liegt darin, dass wir abhängig im Denken sind. Entstehung eines unabhängigen Bildungs- bzw. Erziehungssystems ist nach Khomeini nur durch deren Islamisierung möglich. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben des Volkes und der Regierung, denn „wenn unsere Jugendlichen 406 (…) nicht die göttliche Erziehung bekommen, geht unser Land verloren“, so Khomeini. Islamisierung des Bildungssystems und vor allem der Universitäten ist deshalb der Garant der islamischen Regierung. Islamisierung der Universitäten heißt, dass sie (die Universitäten) unabhängig werden und sich aus der Abhängigkeit vom Westen und Osten befreien, (und, dass wir) ein unabhängiges Land, eine unabhängige Universität und eine unabhängige Kultur haben. Wir haben keine Angst vor wirtschaftlichen Sanktionen. Wir haben keine Angst vor militärischen Eingriffen. Das, was uns Angst macht, ist die kulturelle Abhängigkeit. Wir haben Angst vor kolonialisierten Universitäten. Wir haben Angst vor Universitäten, die unsere Jugendlichen so erziehen, dass sie dem Westen die407 nen (…), dass sie dem Kommunismus dienen. Wie wir später sehen werden, führte diese Auffassung von Unabhängigkeit zu einer mehr als zweijährigen Schließung aller Universitäten, direkt nach der Revolution. Viele Professoren und Studenten wurden entlassen, denn sie waren angeblich von westlichen oder östlichen Ideologien beeinflusst. Khomeini bezeichnet eine nicht islamische Universität als schlechte Universität, 408 die ein Volk in seine Vergangenheit zurückdrängt. Sein Kampf gegen die Universitäten war gleichzeitig ein Kampf gegen die Intellektuellen: Es muss eine grundsätzliche Revolution in allen Universitäten des 405 406 407 408

Vgl. Khomeini, R. (2007 b): S. 52-3 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeinis Rede vom 27. April 1979, in: Shoa Hosseini, F. (2005), S. 207. Vgl. Khomeinis Rede vom 21. April 1980, in: ebd., S. 209 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeinis Rede vom 29. Oktober 1978, Paris: in: Khomeini, R. (1982): S. 8.

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2.3 MODERNE UND DER IRAN

Iran stattfinden, um dadurch alle Professoren (Professorinnen), die Kontakt mit dem Osten und Westen haben, herauszufiltern (tasfiyeh) und die Atmosphäre der Universitäten für die Lehre der höchsten islamischen Wissenschaften zu säubern. Denn alle unsere Schwierigkeiten während der Herrschaft der Pahlavi-Dynastie (Vater und Sohn) wurzeln in diesen Irrlehren (bad amouzi). Wenn wir eine gründliche Erziehung in unseren Universitäten hätten, hätten wir niemals eine Gruppe von intellektuellen Akademikern, die in der höchsten Krisenzeit des Iran mit Kämpfen untereinander beschäftigt waren und sich vom Volk getrennt haben (…). All unsere Rückständigkeit beruht auf den falschen Kenntnissen der akademischen Intellektuellen über die islamische Gesellschaft des Iran, und leider ist dies immer noch so. Die meisten vernichtenden Schläge, unter denen diese Gesellschaft gelitten hat, kommen von diesen intellektuellen Akademikern, die sich immer für groß und etwas Besonderes halten und nur Dinge sagen, die auch nur ihre anderen intellektuellen Freunde verstehen. Wenn das Volk nichts davon versteht, ist es ihnen unwichtig (…). Ihr intellektuell Gebundenen! (…), kommt und befreit euch vom westlichen und östlichen „ismus“ und „ist“. Steht auf euren 409 eigenen Beinen. Khomeini zufolge sollten die leergeräumten Universitäten mit gläubigen Muslimen wiedergefüllt werden. Nur die gläubigen Lehrer können Schüler zum Menschen erziehen und den Studenten zu freien Menschen. Gleich in welchem Fach ein Student studiert, er muss mit den Wahrheiten des Islam vertraut gemacht werden und sich zu einem Verteidiger des Islam entwickeln. Seitdem wurde die Lehre der religiösen Texte und Vorschriften fester Bestandteil der Bildung, sowohl an den Schulen als auch an den Universitäten. Zum Beispiel soll während des Grundstudiums (Bachelor: entspricht vier Studienjahren) jeder Student, unabhängig vom Fach, an mehr als acht Kursen in islamischer Lehre teilnehmen; das ist mehr als ein Semester. Außer409

Vgl. Khomeinis Rede vor pakistanischen Studenten, in: ebd., S. 27 (freie Übersetzung P. J.). In einer anderen Rede macht Khomeini deutlich, dass die Akademiker dem Volk und ihm folgen sollten und nicht umgekehrt. Öfter hat er gefordert, dass die Intellektuellen und Akademiker das Land verlassen sollten, fast immer verbunden mit dem Satz: „Wir brauchen euch nicht“ (vgl. u.a.: Khomeini (2002), (1982) und (1983 b)). Diese Politik gegenüber Studenten, Professoren und Universitäten wurde im Laufe der Zeit nicht gemildert, sondern, wie später dargestellt wird, fortgesetzt (außer während der Amtszeit von Präsident Khatami).

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

dem wäre es notwendig, dass eine Einheit zwischen den Universitäten und religiösen Schulen (hozeh haye elmiyeh) zustande komme. Die Einigung zwischen diesen beiden Bildungsinstitutionen war eines der größten Probleme Khomeinis. Immer wieder hat er die Akademiker und religiösen Gelehrten darauf angesprochen. Durch Einigung zwischen den Universitäten und den religiösen Schulen könnte nach Khomeini die Entstehung verschiedener Parteien in Gesellschaft und Politik verhindert werden, was der Revolution schaden würde: Wenn die Universitäten von den religiösen Gelehrten und die religiösen Gelehrten von den Universitäten getrennt werden und beide vom Volk, und (wenn) neue Parteien gegründet werden und in Konflikt miteinander stehen, haben wir Angst, dass unsere Revolution 410 ihre Ziele nicht erreichen kann. Nach Khomeini war die Distanz zwischen Universitäten und religiösen Schulen das Ergebnis einer Verschwörung östlicher und westlicher Mächte. Ihr 411 Ziel sei, so Khomeini, die „Vernichtung der religiösen Gelehrten“. Denn die religiösen Gelehrten bringen den Studenten und Schülern den Glauben und die Wahrheiten des Islams bei und verhindern dadurch, dass die Außen412 mächte Einfluss auf sie finden können. Das ideale und wahre Bildungssystem ist nach Khomeini eine Einbahnstraße. Denn es gibt nur eine Wahrheit, nämlich Gott, und eine richtige Bildung, die die Menschen zu ihm führen soll. Dieses Ziel ist nur durch wahre Lehrer erreichbar, welche dem Propheten zufolge die religiösen Gelehrten sind. Sie verfolgen das Ziel des Propheten, nämlich Führung der Gesellschaft zu Gott und zur Vollkommenheit. Infolgedessen sind alle anderen Menschen außer den Propheten und ihren Nachfolgern die Lernenden, und sie sollen diese Wahrheit ohne Wenn und Aber lernen. Entstehung einer göttlichen Gesellschaft ist daher nur durch enge Verbindung zwischen den Universitäten und religiösen Schulen möglich, wodurch die religiösen Gelehrten die wahre Erziehung und Bildung der Gesellschaft übernehmen: Alle Propheten sind Lehrer und alle Menschen Lernende. Die Propheten haben eine Schule, durch die sie versuchen, dieses zweibeini410 411 412

Vgl. Khomeinis Rede vom 5. Juli 1979, in: Khomeini, R. (1982): S. 136 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeini, R. (2002): S. 59. Vgl. ebd.: S. 60.

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2.3 MODERNE UND DER IRAN

ge Wesen, das das schlimmste Wesen ist, wenn es auf sich allein gestellt ist, und zum gefährlichsten Wesen der Welt wird, auf den richtigen Weg zu bringen (…). Die gesamte Welt soll zwei Schichten haben: die Lehrer und die Lernenden. Die Aufgabe der Lehrer besteht in der Führung der Gesellschaft zu Allah, und die Aufgabe der Lernenden ist es, diesen Weg zu erlernen. So wird eine Gesellschaft entstehen, deren gesamte Achtung Gott gewidmet ist. Wenn alles sich in Richtung auf Gott hinbewegt, wird die Wirtschaft göttlich, die Kultur wird göttlich, die Armee wird göttlich,(…), auch die Lehrer und 413 Lernenden werden göttlich. Khomeinis Ansicht von Bildung ist in vielerlei Hinsicht begrenzt. Zunächst, wie bereits aufgeführt, ist Bildung ohne islamische Erziehung wertlos und sogar gefährlich. Einerseits sind die Lehren der modernen Wissenschaft wünschenswert, diese sollen aber auf die technische und naturwissenschaftliche Ebene begrenzt bleiben. Für die moderne Humanwissenschaft gibt es in seiner Konzeption keinen Platz, denn keine von Menschen entwickelte Ideologie und Humanwissenschaft ist die wahre Wissenschaft. Gesellschaftlicher Fortschritt und Unabhängigkeit sind nur durch Entwicklung islamischer Hu414 manwissenschaft möglich. Zudem ist die wahre Bildung eine Einbahnstraße, in dem der Lernende alles nur von den Lehrern (die wahre Lehre) lernen soll, ohne dabei zu versuchen, irgend etwas in Frage zu stellen. Denn der Mensch an sich ist nicht fähig, die Wahrheit zu finden und zu erlernen. Wie wir im Folgenden sehen werden, unterscheidet sich Motahhari von seinem Lehrer (Khomeini) in bestimmten Aspekten, vor allem, wenn es um selbstständiges Lernen und Analysieren des gelernten Materials geht.

2.3.5

Motahharis Bildungskonzeption

Ziel der Bildung und Erziehung ist „Bildung eines Menschen“. Der Islam als eine Schule mit ihren spezifischen Zielen und Vorschriften benötigt nach Motahhari sein eigenes Bildungssystem. In seiner Erklärung zur Bildung sehen wir gleichzeitig einen bemerkenswerten Unterschied zwischen ihm und Khomeini. Bei der Bildung geht es, Motahhari zufolge, um die Lehre bestimmter Informationen. Allein die Übermittlung dieser Informationen kann 413 414

Khomeinis Rede für pakistanische Studenten, in: Khomeini, R. (1982): S. 27 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeini, R. (1983 b): S. 138-9.

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aber nicht das Ziel der Bildung sein. Ziel der Bildung liegt in der Ausbildung der Vernunft und des Denkens: Jeder lehnt heutzutage diese Methode ab, dass der Lehrer nur versuchen soll, eine Reihe von Informationen und Formeln etc. in die Köpfe der Lernenden zu übermitteln (…). Das Ziel der Bildung muss viel höher gestellt werden. Der Lehrer muss die Denkkraft des Lernenden entwickeln und ihm auf dem Weg zur Selbstständigkeit helfen. Er 415 muss seine Innovationskraft beleben. Bildung ist deshalb keine Einbahnstraße, wie es Khomeini sah, sondern ist verbunden mit aktiver Partizipation des Lernenden. Nicht wie bei Khomeini sollen die Lernenden nur zuhören und akzeptieren, sondern sie sollen sich durch Nachdenken und Kritisieren weiterentwickeln. Solche Bildung soll zur Entwicklung der Mentalität und Rationalität im Einzelnen und in der Gesellschaft führen. Das heißt, sowohl die Gesellschaft als auch der Einzelne sollen analysieren lernen, „unabhängig davon“, so Motahhari, „ob der Islam es di416 rekt gesagt oder nicht gesagt hat“. Es ist wichtig, dass dem Lernenden während der Bildung genügend Zeit zum Nachdenken gewährt wird, denn Bildung ohne Nachdenken und Entwicklung selbständiger Analysekraft ist wertlos: Derjenige, der fünfundfünfzig Jahre lang, nur gelernt hat, hat keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Seine ganzen Kräfte und seine ganze Zeit hat er dem Lernen der Vergangenheit gewidmet. Nun ist ihm keine Zeit und Kraft mehr übrig geblieben, um selbst zu einem Ergebnis zu kommen. Das Denken und das Gehirn der Menschen sind ganz ähnlich wie sein Magen. Der Magen soll zunächst das Essen von außen bekommen und mit Hilfe der inneren Sekretionen dieses Essen bearbeiten. Um dies tun zu können, braucht er aber genug freie Räume, damit er das Essen leicht durchstöbern und die nötigen Säuren bereitstellen kann. Ein Magen, der nur pausenlos Essen bekommt, hat keine Ruhe und Zeit, um richtig zu funktionieren. Das führt zur Störungen in den Aktivitäten des digestiven Systems (…). Genauso funktioniert auch das Gehirn. Deshalb ist es bei der Bil415 416

Vgl. Motahhari, M. (1983): „Bildung und Erziehung im Islam“, Teheran u.a.: AlZahra Verlag, 6. Aufl., S. 3 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. ebd.: S. 5-6.

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dung und Erziehung notwendig, dass dem Lernenden genug Zeit 417 zum Nachdenken gegeben und er zum Nachdenken ermutigt wird. Vernunftbildung und Denken ist somit eines der wichtigsten Ziele der Bildung. Denken ohne Bildung ist unmöglich, denn unsere Vernunft braucht Wissen zum Denken. Ohne jegliche Informationen und Wissen kann der Mensch keinen Vergleich zwischen den Dingen ziehen und sie analysieren. Deshalb sind Bildung und Wissen wie ein Licht für die Vernunft. Erst durch Wissen fängt man damit an, Fragen zu stellen. Ohne Fragen ist die Vernunft 418 inaktiv. Durch Wissen entwickelt sich die Vernunft, sie wird selbständig, zukunftsschauend kritisch und frei. Bildung und Wissen helfen der Vernunft, ihre Selbstständigkeit zu finden, ohne diese Selbstständigkeit ist die Vernunft eigentlich keine Vernunft: Die Vernunft des Menschen muss unabhängig sein, sie muss Analysekraft besitzen, kritisieren und die Fragen untersuchen können. Ein 419 Mensch, der dieses Geschenk (moohebat) nicht besitzt, ist Nichts. Demzufolge ist ein „Ignorant“ nach Motahhari der Gegenpol zum „Weisen“ und nicht der Wissenschaftler oder ein Analphabet: Weise ist jemand, der analysieren kann, und ignorant ist jemand, der diese Macht nicht besitzt. Wir sehen viele Menschen auf der Welt, die zwar Wissenschaftler sind, aber dennoch Ignoranten. Sie sind Wissenschaftler, weil sie viel von Außen gelernt haben, aber ihr Kopf ist nur wie ein Keller. Sie besitzen keine Inferenz- und Analysefähigkeit. Solche Menschen sind im Islam Ignoranten. Das heißt, ihre Ver420 nunft ist inaktiv, obwohl sie viel wissen. Eine wissende Vernunft funktioniert wie ein Sieb. Das heißt, alles was in das Gehirn des Menschen eintritt, wird analysiert. Alles was unvernünftig und bedeutungslos ist, soll ausgesondert werden. Zudem soll sich die Vernunft durch Bildung und Wissen von den alten Traditionen, Regelungen und gesellschaftlichen Gewohnheiten befreien. Er bezieht sich auf die Verse 170 417 418

419 420

Vgl. ebd.: S. 6 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. ebd.: S. 190-191. Motahhari zufolge können wir uns nicht allein auf die Vernunft verlassen, sondern sollen unsere Vernunft mit Wissen und Bildung verbinden. Denn Vernunft ist etwas Natürliches und jeder besitzt sie. Aber Wissen entwickelt und erzieht die Vernunft. Vgl. ebd.: S. 183 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. ebd.: S. 186 (freie Übersetzung P. J.).

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Sure zwei des Korans und tadelt jene, die sich nicht davon befreien können, ihren Vätern nachzufolgen. Gemäß dem Koran, so Motahhari, zielt Bildung darauf, die Menschen aufzuwecken. Sie sollen lernen, dass Maßstab und Kriterium (des Handelns und Denkens) die Vernunft und das Ergebnis des eigenen Denkens sein sollen und nicht blinde Gefolgschaft in Bezug auf 422 vergangene Generationen. Des Weiteren soll der Mensch durch Bildung der Vernunft dahin kommen, auf die Zukunft zu blicken. Wichtig ist, dass der Mensch sich nicht zum Gefangenen der Gegenwart macht. In allem, was 423 er tut, muss er das Resultat vorhersehen. Bildung, Denken und Vernunft sind eine der Grundlagen der richtigen Erziehung. Erziehung bedeutet nach Motahhari Ausbildung, „das heißt Aktivie424 rung der Talente, die in einem Ding stecken“. Dennoch betont Motahhari in seiner Konzeption „menschliche Erziehung“ gegenüber bloßer „Erziehung“. Denn die Tiere und Pflanzen können auch erzogen werden, ihre Er425 ziehung ist aber weit entfernt von der menschlichen Erziehung. Menschliche Erziehung soll gemäß der menschlichen Natur sein, und die mentalen und physischen Talente der Menschen sollen durch rationale Erziehung entwickelt werden. Zu den mentalen Talenten gehören die religiösen, ethischen, rationalen, künstlerischen und Innovationstalente. Aktivierung dieser Talente jedoch reicht nicht zur Erziehung der Menschheit. Dafür ist Ethik, Tugend und Säuberung der Seele notwendig. Sie bilden die zweite Säule der Erziehung. Motahhari unterscheidet zwischen Ethik ohne und Ethik verbunden mit Religion. Ethik ohne Religion ist nach Motahhari ohne Basis. Religion ist die Garantie für die Ausführung (ejra) der Ethik. Es bedeutet, dass der Mensch ohne Religion nichts unter Kontrolle bringen kann: 421

Erfahrung hat gezeigt, dass dort, wo Religion und Ethik von einander getrennt worden sind, die Ethik zurückgeblieben ist. Keine der nichtreligiösen ethischen Schulen ist erfolgreich geworden. Zumindest ist 426 Religion als Garant für menschliche Ethik notwendig. 421

422 423 424 425 426

„Und wenn man zu ihnen sagt, sie sollen dem folgen, was Allah (als Offenbarung) herabgesandt hat, sagen sie: „Nein, wir folgen dem, was wir als Glauben und Brauch unserer Väter übernommen haben.“ Wenn nun aber ihre Väter nichts verstanden haben und nicht rechtgeleitet waren?“ Vgl. ebd.: S. 25-26. Vgl. ebd.: S. 23. Vgl. ebd.: S. 33. Vgl. ebd.: S. 60-61. Vgl. ebd.: S. 78 (freie Übersetzung P. J.).

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Vor allem kritisiert er Kants Konzeption von Ethik und Moral. Dadurch, dass die Kantische Ethik keine Wurzel in der Religion hat, ist sie nach Motahhari 427 bedeutungs- bzw. wertlos. Denn der Mensch ist an sich unfähig, die wahre Ethikkonzeption zu entwickeln. Außerdem lehnt er die Relativität der Ethik ab und kritisiert die Theoretiker, die meinen, jede Epoche bedürfe ihrer eigenen ethischen Prinzipien: Sie beziehen sich darauf, dass viele Angelegenheiten, wie z.B. Sexualität zwischen Männern und Frauen oder Keuschheit, zur Ethik der Agrikultur-Zeitalter (akhlaghe asre keshavarzi) gehören und die industrielle Ära eine andere Ethik beansprucht (…). So wird kein Stein auf dem anderen bleiben (…) wenn Ethik relativ ist, können wir kei428 ne festen Prinzipien für die Erziehung vorschlagen. Im Rahmen der islamischen Erziehung und Ethik kämpft der Mensch mit seinen Neigungen und seiner Selbstliebe und säubert sich von ihnen. Deshalb verstärken Ethik, Tugend und Säuberung der Seele die Willenskraft im Menschen und sind unabdingbare Elemente der Erziehung. Die dritte Säule der Erziehung ist Beten. Beten verstärkt den Glauben und beeinflusst das Handeln. Durch Glauben hat der Mensch andere Motivationen und handelt auch wesentlich bewusster. Er tut eine bestimmte Sache nicht, weil er daran gewöhnt ist, sondern versucht bewusst daran zu denken, warum er es tut. Handeln aus Gewohnheit und ohne Bewusstsein und richti429 ge Motivation ist wertlos und im Islam, so Motahhari, nicht akzeptabel. Durch Beten verbindet der Mensch sich mit Gott, und da im Islam alles, was den Menschen von Gott ablenkt oder Vernachlässigung Gottes verursacht, irgendwie verboten oder sogar haram (streng verboten) ist, soll der Mensch 430 sich durch Beten bewusst an Gott binden. Motahhari zufolge ist das die wichtigste Wurzel der erzieherischen Prinzipien, die „bewässert“ werden soll, der Glaube an Gott. Mittels Glauben soll das altruistische Gefühl verstärkt und die Menschen näher zur Vollkommenheit geführt werden. Diese Erziehung soll bereits von Kindheit an beginnen, weil die Gewohnheiten und die Vorurteile der Erwachsenen nur schwer beseitigt werden können. 427 428 429 430

Zu dieser und anderer Kritik an Kant und Rousseau Vgl. ebd.: S. 52-109. Vgl. ebd.: S. 80 (freie Übersetzung P. J.). Obwohl Motahhari die Relativität der universalen Ethik ablehnt, ist er der Meinung, dass ethisches Handeln relativ sein kann. Mehr dazu in ebd.: S. 95-109. Mehr dazu in ebd.: S. 95-109. Vgl. S. 110-129.

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2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

2.3.6

Zwischenresümee

Sowohl Khomeini als auch Motahhari schwanken zwischen Annahme und Ablehnung der menschlichen Subjektivität. Es entsteht aber der Eindruck, dass beide das Subjekt und den freien Willen nur im politischen und wirtschaftlichen Rahmen anerkennen, um damit die Bevölkerung gegen die Feinde im Innern und von außen zu motivieren. Diese Feinde waren in erster Linie die Pahlavi-Dynastie und ihre Anhänger, eigentlich sind sie aber der Imperialismus, Kapitalismus, Marxismus etc. Anders formuliert ist die Akzeptanz der menschlichen Autorität ein Mittel für die Änderung der damaligen politischen Situation. Denn ohne Unterstützung der Bevölkerung konnte die Revolution kaum stattfinden. Solange die Menschen davon überzeugt sind, dass alles, was geschieht, der Wille Gottes ist, können sie kaum zur Änderung motiviert werden. Es scheint, dass Khomeini und Motahhari an eine Freiheit (zumindest im politischen Sinne) in machiavellistischem Sinne glauben. Das heißt, Unabhängigkeit eines Staates von den Einflüssen ausländischer Mächte und Länder in Bezug auf seine Innenpolitik. Sobald aber der Feind von der politischen Fläche des Landes verschwindet und ein göttlicher Staat gegründet wird, wird die Freiheit und der freie Wille des Menschen abgelehnt und nur im Rahmen der göttlichen Gesetze des Staates anerkannt. Diese Paradoxien in den Anschauungen der Gründer der Islamischen Republik Iran wurden in der Verfassung, in Institutionen und bei der Ausübung der politischen Macht 431 reflektiert. Souveränität zum Beispiel gehört nicht den Menschen, sondern Gott, obwohl angenommen wird, dass die Menschen ihr Schicksal selbst in der Hand 431

Bazargan (1907–1995), der erste Premierminister der Islamischen Republik Iran, hatte versprochen, dass eine verfassungsgebende Versammlung mit 600 bis 700 Volksvertretern die neue Verfassung bearbeitet. Anstelle dieser Versammlung übernahm eine Expertenversammlung mit 73 Mitgliedern nach Khomeinis Genehmigung diese Aufgabe. Die 73 Mitglieder dieser Versammlung wurden zwar vom Volk gewählt, da jedoch die Anhänger der nichtislamischen Gruppierungen und Liberalen vom Wächterrat als disqualifiziert und Nicht-Experten erklärt wurden, wurden sie von der Kandidatur ausgeschlossen. Die Verfassung wurde somit von den Experten verfasst, die in der Gunst der islamistischen Fundamentalisten standen. Die Verfassung war deshalb bereits am Anfang der Revolution ein wichtiges Streitthema zwischen den konkurrierenden Gruppierungen. Auch waren verschiedene Volksgruppen mit dieser Verfassung unzufrieden und boykottierten deshalb die Teilnahme an der Volksbefragung, so dass im Vergleich mit dem ersten Referendum, in dem das Volk der „Islamischen Republik Iran“ mit 98% aller Stimmen zugestimmt hat, von den Wahlberechtigen fast 20% weniger an dem Referendum teilnahmen.

134

2.3 MODERNE UND DER IRAN

haben. Obwohl die Legislative von einem vom Volk gewählten Parlament 433 ausgeübt wird, gehört das Gesetzgebungsrecht allein Gott. Zudem sollen 434 sämtliche Beschlüsse des Parlaments zunächst vom „Wächterrat“ (shoraye negahban) auf ihre Übereinstimmung mit den Prinzipien des Islam und der Verfassung der Islamischen Republik Iran geprüft werden. Wenn sie den islamischen Grundlinien widersprechen, wird der Gesetzesvorschlag zurückgewiesen. Zudem besitzt gemäß Artikel 93 das Parlament ohne Bestätigung des Wächterrates keine Befugnisse, was wiederum bedeutet, dass die Stimme des Wächterrates über der Stimme der Volksvertretung steht. Die Verfassung der Islamischen Republik Iran ist überwiegend auf allgemeine Grundsätze gerichtet und erteilt den Bürgern nur zu einem geringen Teil individuelle Rechte. Sogar bei der Auswahl des Berufs ist das Individuum nur solange frei, einen Beruf auszuwählen, wie dieser Beruf nicht den Prinzi435 pien des Islam und öffentlichen Interessen entgegen steht. Außerdem können die iranischen Bürger des zoroastrischen, jüdischen und christlichen Glaubens (als religiöse Minderheiten) vollständig frei nur ihre religiösen 436 Pflichten im Rahmen des Gesetzes ausüben. Meinungs- und Pressefreiheit, aber auch Veranstaltungen wie Versammlungen und Demonstrationen sind zwar gewährleistet; wenn sie aber die Grundlagen des Islam und die Rechte 437 der Öffentlichkeit beeinträchtigen, wird diese Freiheit genommen. 432

432

433 434

435 436 437

Vgl. Artikel 2 und 6 der Verfassung der Islamischen Republik Iran (V.d.I.R.I.), in: Mansour, J. (Hg.) (2007 a): „Verfassung der Islamischen Republik Iran“, Teheran: Agah Verlag, 29. Aufl. Artikel 2: „Die Islamische Republik ist eine Ordnung, die auf folgenden Glaubensgrundsätzen beruht: 1. Die Einheit (tauhid) Gottes (es gibt keinen Gott außer Gott), Seine alleinige Souveränität und Gesetzgebung sowie die Notwendigkeit der Ergebenheit in Seinen Willen (…)“. Artikel 6: „In der Islamischen Republik Iran müssen die Angelegenheiten des Landes in Übereinstimmung mit dem durch Wahlen bestätigten Volkswillen geregelt werden – durch die Wahl des Präsidenten der Republik, der Abgeordneten der Islamischen Beratungsversammlung (Parlament), der Mitglieder der Räte und dergleichen – bzw. durch Volksbefragung in den Fällen, die durch andere Grundsätze dieser Verfassung festgelegt sind“. Vgl. Artikel 2 und 58 der Verfassung der Islamischen Republik Iran. Artikel 2: Vgl. ebd. Artikel 58: „Die Ausübung der legislativen Gewalt obliegt der Islamischen Beratungsversammlung, die aus den vom Volk gewählten Vertretern besteht“. Wächterrat ist das islamisch-geistliche Kontrollorgan und überwacht außer dem Gesetzgebungsprozess des Parlamentes die Qualifizierung und Zulassung der Präsidentschaftskandidaten, der Kandidaten für den Expertenrat und der Kandidaten für das Parlament. Er steht in direktem Kontakt mit dem geistlichen Führer und ist mit zwölf Mitgliedern – sechs Geistlichen und sechs Juristen – besetzt. Vgl. Artikel 28 der V.d.I.R.I. Vgl. Artikel 13 der V.d.I.R.I. Vgl. Artikel 24 und 27 der V.d.I.R.I. Artikel 24: „Die Meinungsfreiheit in Publikation und Presse wird gewährleistet, es sei denn, die Grundlagen des Islam und die Rech-

135

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Auf gesellschaftlicher Ebene verursachte diese paradoxe Einstellung einen Antagonismus: Menschliche versus göttliche Autonomie, was verschiedene Konflikte zwischen Staat und Gesellschaft hervorbrachte. Ebenso widersprüchlich sind die Bildungskonzeptionen. Khomeini und Motahhari fordern die Entwicklung moderner Industrien und Naturwissenschaften. In diesen Wissenschaften sehen sie den Weg aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit. Eine moderne Denkbasis ist nicht erwünscht, denn sie führe zu kultureller Abhängigkeit und Abhängigkeiten des Denkens. Anders formuliert heißen sie die Modernisierung ohne Moderne willkommen. Zwar spielt Vernunft in der Bildungskonzeption von Motahhari eine zentrale Rolle; führt aber die Vernünftigkeit zur Entwicklung neuer und nicht religiöser Meinungen, soll ihre Ausprägung verhindert werden. Ungeachtet der Unterschiede im Denken der Akademiker und religiösen Gelehrten appellieren beide zwar für die Einheit zwischen den Universitäten und religiösen Schulen. Dieser größte Wunsch ist jedoch bis zum heutigen Tag nicht in Erfüllung gegangen und wird meiner Ansicht nach auch nie erfüllt werden. Bevor das Resultat dieser widersprüchlichen Theorien in der iranischen Gesellschaft näher betrachtet wird, ist an dieser Stelle ein Vergleich zwischen den oben aufgeführten modernen Theorien von Kant, Hegel und den fundamentalen Theorien von Khomeini und Motahhari angebracht.

2.4

Moderne vs. islamischer Fundamentalismus: Ein Vergleich

Obwohl zwischen den oben aufgeführten modernen und fundamentalistischen Konzeptionen mehr als 120 Jahre Zeitabstand und ein breiter kultureller Unterschied liegt, sind alle diese Theoretiker der Ansicht, dass der Mensch auf der Suche nach Vollkommenheit ist. Jedoch während Vollkommenheit nach Hegel und Kant die Erreichung wahrer Freiheit durch Befolgen des Sittengesetzes ist, liegt die Vollkommenheit bei Khomeini und Motahhari im Aufgehen des Menschen in Gott durch absoluten Gehorsam gegenüber Gott bzw. den göttlichen Gesetzen (s.o.). Das Thema „Sittlichkeit“ spielt bei allen diesen vier Theoretikern eine wichtige Rolle. Es bestehen aber Differenzen in einigen Punkten. Hegel und Kant sehen die Basis der Sittlichkeit in der Vernunft, von der auch die Sittlichkeit abgeleitet werden soll. (Wobei, wie bereits gesehen, Hegel die Meinung vertritt, dass Sittlichkeit ohne Religite der Öffentlichkeit werden beeinträchtigt“. Artikel 27: „Das Veranstalten von Versammlungen und Demonstrationen, ohne das Tragen von Waffen, ist frei, vorausgesetzt, diese verletzen nicht die islamischen Grundsätze“.

136

2.4 MODERNE VS. ISLAMISCHER FUNDAMENTALISMUS: EIN VERGLEICH

on leer sei). Sittlichkeit führt zur „Freiheit“ als Ziel des menschlichen Lebens. Khomeini und Motahhari sehen dagegen die Wurzel der Sittlichkeit in der Religion, was zwar zu menschlicher Freiheit führt, aber diese Freiheit ist nicht als Ziel des menschlichen Lebens zu betrachten, sondern ein Mittel zur Erreichung des wahren Zieles, nämlich Aufgehen in Gott. Alle vier lehnen die absolute Freiheit bei der Verfolgung menschlicher Neigungen und Lust als wahre Freiheit ab und sehen sogar darin den Grund gesellschaftlicher Konflikte. Dennoch sehen Kant und Hegel die wahre Freiheit im sittlichen Gesetz, das nur von Menschen entwickelt werden soll. Das ist nach Kant der einzige Weg zu menschlicher Freiheit. Motahhari und Khomeini dagegen stellen sich gegen jegliche Autorität des Menschen zur Gesetzgebung. Ihnen zufolge ist der Mensch unfähig, seine wahren Bedürfnisse zu kennen und diese gemäß allgemeinen Rechten zu entwickeln. Die wahren Gesetze sind die religiösen Gesetze, denen der Mensch gehorchen soll. Nach Kant und Hegel jedoch soll der Mensch nur von sich selbst entwickelten Gesetzen gehor438 chen und nichts anderem. Darin besteht ein zentraler Schlüssel bei der Annahme oder Ablehnung der Subjektivität und menschlichen Autorität. Im Gegensatz zu dem, was Khomeini und Motahhari behaupten, versuchen Kant und Hegel nicht nur die Subjektivität bzw. Autorität des Menschen und seiner Freiheit zu begründen, sondern beide versuchen, diese Subjektivität und die Universalität miteinander zu verknüpfen. Jedoch sowohl bei Kant wie auch bei Hegel ist die Freiheit der Subjektivität der Grundstein aller anderen Freiheiten. Für Hegel ist Subjektivität das Prinzip der neuen Welt überhaupt und Freiheit des Individuums das Ziel der Geschichte. Motahhari und Khomeini sehen die wahre Freiheit des Menschen im Gehorsam gegenüber Gott. Die Sittlichkeit und die sittlichen Gesetze könne nur aus der Religion abgeleitet werden, und jede Art Sittlichkeit, deren Basis nicht in der Religion (z.B. in Vernunft) liegt, sei wertlos. Nach Kant kann Religion die Einheit zwischen dem Subjekt und der Allgemeinheit nicht herstellen. Daran üben sowohl Hegel als auch Khomeini 439 und Motahhari Kritik. Der freie Wille des Menschen wird von Khomeini und Motahhari, im Gegensatz zu Kant und Hegel, eingeschränkt anerkannt. Sie sehen den mensch lichen Willen stets abhängig vom göttlichen Willen. Was im individuellen und gesellschaftlichen Leben geschieht, ist der Wille Gottes. Ihnen zufolge ist 438 439

Vgl. ebd. Vgl. ebd.

137

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

auch die Freiheit des Subjektes eingeschränkt. Für Khomeini ist die Freiheit des Menschen nur im Rahmen der philosophischen Freiheit möglich und bei Motahhari beschränkt auf das Denken. Das Handeln des Menschen ist stets abhängig vom Willen Gottes. Darin liegt der Grund des Widerspruchs in der Konzeption von Motahhari und Khomeini. Während letztere die Willensfreiheit des Menschen vor allem als Lösung der Gerechtigkeitsfrage sehen und dadurch alles Gute Gott und alles Böse den Menschen zuschreiben, befreien Kant und Hegel den Menschen von vermittelter Subjektivität und schreiben sowohl das Gute als auch das Böse dem Menschen zu. Ebenso gibt es auf politischer und gesellschaftlicher Ebene Unterschiede. Nach Kant und Hegel ist der Staat nicht Vater des Landes bzw. der Bevölkerung und darf keine väterlichen Entscheidungen treffen. Zudem gehört es nicht zum Aufgabengebiet des Staates, die Menschen zu bessern und sie zu tugendhaften Menschen zu erziehen. Der Staat soll nur die Bedingungen schaffen, unter denen die Entwicklung von sittlicher Autonomie möglich wird. Im Gegensatz dazu ist die Hauptaufgabe des von Khomeini und Motahhari präsentierten Staats die Erziehung tugendhafter Menschen. Dafür ist als Herrscher ein religiöser Führer unabdingbar, denn nur er hat die Fähigkeit, die Menschen auf diesen Weg zu führen und Sittlichkeit zu ermögli440 chen. Im Rahmen von Gesellschaft und Politik kritisieren Motahhari und Khomeini sowie Kant und Hegel die bloße Nachfolge in Bezug auf vergangene Generationen. Hegel lobt die Völker, die bewusst ihre Kultur erkannt, kriti siert und verändert haben. In ähnlicher Weise denkt Khomeini im Rahmen der Politik. In seiner Rede vom 1. Februar 1979 sagt er: Dass unsere Väter, diese Regierung (Herrschaft der Pahlavis) ausgewählt haben, bedeutet nicht, dass auch wir (ihre Kinder) dasselbe haben wollen. Dennoch besteht diesbezüglich ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen. Für Kant und Hegel gibt es für das Kritisieren und die Änderung älterer Werte und kultureller Bestandteile einer Gesellschaft keine Schranken. Das ist ein unabdingbarer Prozess, der immer fortgesetzt wird bzw. werden muss. Khomeini und Motahhari setzen diesbezüglich verschiedene Schranken, vor allem hinsichtlich der Kritik am Islam, an islamischen Vorschriften und am (neu)gegründeten islamischen Staat. Hegel kritisiert das Prinzip der Nicht440

Vgl. ebd.

138

2.4 MODERNE VS. ISLAMISCHER FUNDAMENTALISMUS: EIN VERGLEICH

kritisierbarkeit der Religion. Bei Hegel gewinnt Vernunft in der Religion objektive Gestalt nur unter der Bedingung politischer Freiheit. Bei Motahhari und Khomeini ist Vernunft dann frei, wenn sie die politischen Grundlinien des Islam und islamischen Staates verfolgt. Ein islamischer Staat bringt seine Traditionen und Werte aus der Vergangenheit, das heißt aus der Prophetenzeit hervor, im Gegensatz zur Moderne, in der die Gesellschaft ihre eigenen 441 Werte und Traditionen entwickelt. „Bewusstsein“ ist sowohl bei Hegel als auch Motahhari ein wichtiger Begriff; dennoch besteht inhaltlich ein wesentlicher Unterschied. Bewusstsein ist für Motahhari Bewusstsein des Menschen von seiner Spiritualität. Durch dieses Bewusstsein befreit sich der Mensch von der materiellen Welt und erreicht die wahre Freiheit. Bei Hegel aber handelt es sich um das Bewusstsein von der Freiheit. Wird er sich bewusst, dass er ein freies Wesen ist, sucht er stets danach. Obwohl jedoch für Motahhari Vernunft und freier Wille Mittel zur Erreichung sittlicher Freiheit sind, sind sie nicht ausreichend. Nur an der Seite von Tugend, Glaube und Religion können sie zur sittlichen Freiheit beitragen. Auch beim Thema Bildung gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Bildung ist der Weg zur Vorbereitung des Individuums auf das Leben in der jeweiligen (modernen oder fundamentalistischen) Gesellschaft. Für Kant und Hegel ist Bildung das Mittel zur Ausprägung einer vernünftigen Menschen bzw. eine vernünftige Gesellschaft. Dieser Mensch denkt, vergleicht, kritisiert und erschafft neue Konstellationen sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen bzw. politischen Ebene seines Lebens. Durch Bildung lernt er unabhängiges Denken. Auch Motahhari sieht in Bildung den Weg zur Entwicklung der Vernunft. Dadurch soll der Mensch analysieren und selbständiges Denken lernen. Dennoch sollen Vernunft und Bildung unbedingt zum Glauben führen. Durch Bildung soll der Mensch zu neuen Fragen kommen und Antworten suchen; stellen jedoch diese Fragen die Basis und Heiligkeit des Islams in Frage, sind sie unerwünscht und sogar Blasphemie. Für Khomeini ist Bildung vor allem der Weg aus der Abhängigkeit und zur Aufgehen in Gott.

441

Vgl. ebd.

139

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Tabelle 3: Moderne vs. Fundamentalismus (eigene Darstellung) Konzeption

Hegel / Kant

Khomeini / Motahhari

Subjektivität

wird anerkannt. Sie basiert auf der Vernunft und dem freien Willen des Menschen.

wird nur beschränkt anerkannt. Sie ist abhängig von Gott.

Freies Denken

ist unbeschränkt legitim.

ist erlaubt, es sei denn, es schadet den islamischen Werten.

Ausübung von Kritik

gehört zum Wesen des modernen Subjekts und ist uneingeschränkt in allen Bereichen erlaubt und erwünscht

Bei religiösen Angelegenheiten ist sie verboten, bei anderen Angelegenheiten des Lebens nur im Rahmen der staatlichen Normsetzungen erlaubt

Zeitorientierung

Gegenwart und Zukunft. Überlieferte Werte und Vorschriften der Vergangenheit gelten nicht als Handlungsmuster für die Gegenwart

Trotz Berücksichtigung der Gegenwart Dominanz der Vergangenheit in Form von überlieferten religiösen Werten als Handlungsmuster für Gegenwart und Zukunft

Individuum

bildet die Basis der Gesellschaft und darf sein Leben im Rahmen der menschlichen Gesetze frei gestalten. Kann zur Veränderung und gesellschaftlichen Wandlungen beitragen.

Wird als Verkörperung der Gemeinschaft gedacht und soll die kollektiven Werte und Vorschriften befolgen und sich sogar dafür opfern

Entscheidungsspielraum

Individuum kann sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten, gemäß seiner Vernunft und seinem freien Willen, frei entscheiden.

Die Entscheidungen des Individuums sollen den religiösen und kollektiven Werten nicht widersprechen. Auf gesellschaftlicher Ebene sollen die Entscheidungen kollektiv und zentralisiert gemäß den islamischen Werten getroffen werden.*

Individuelle Freiheit

wird anerkannt (im Rahmen der menschlichen Gesetze) und wird als Basis gesellschaftlicher und politischer Freiheit angesehen und gefördert

ist nur im Rahmen des staatlichen religiösen Gesetzes erlaubt, dessen Grenze sich von Zeit zur Zeit ändert.

Gesellschaftliche und politische Freiheit

ist Ziel des menschlichen Lebens.

ist nur im Rahmen des staatlichen religiösen Gesetzes erlaubt, dessen Grenze sich von Zeit zu Zeit ändert.

Meinungsfreiheit

ist erwünscht und gilt als Motor jeder Art von Wandlung auf individueller und gesellschaftlichem Ebene des menschlichen Lebens. Sie darf nicht durch Religion oder politische Vorschriften eingegrenzt werden.

ist unerwünscht oder sogar verboten, denn es gibt nur eine wahre Meinung und eine Wahrheit, die im Islam zu finden ist.

Gesetzgebungsautorität

gehört den Menschen.

gehört allein Gott.

Hauptaufgabe des Staates

Förderung und Schutz der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit; Entwicklung einer Atmosphäre, in der die Sittlichkeit der Menschen entfaltet wird.

Schutz der religiösen Werte, Ausprägung von (religiösem) Sittlichkeit und Erziehung der Bevölkerung zu besseren Menschen bzw. Muslimen.

Ideale Staatsform patriotisch

väterlich (paternal)

* Vgl. Fischer M. E. (2007): „Raum und Zeit: Formen des Lernens Erwachsener aus modernisierungstheoretischer Sicht“, Baltmannsweiler: Schneider Verlag

140

2.4 MODERNE VS. ISLAMISCHER FUNDAMENTALISMUS: EIN VERGLEICH Ziel der Bildung

Freiheit des Menschen mittels Bildung eines vernünftigen Menschen, Subjektbildung, Entwicklung der Fähigkeit von freiem Denken und Autonomie, Erlangen individueller und gesellschaftlicher Freiheit und Erziehung sittlicher Menschen.

Aufgehen in Gott mittels Erziehung von religiösmoralischen Menschen, Befreiung aus der Abhängigkeit von nicht-islamischen Ideologien, Entwicklung der Fähigkeit zum freien Denken im Sinne des Islam, Übermittlung von islamischen Werten und Vorschriften als einzigen Weg zur Rettung der Menschheit.

In allen vier behandelten Theorien ist das höchste Ziel der Bildung die Entwicklung eines sittlichen Menschen. Khomeini und Motahhari gehen sogar einen Schritt weiter und sehen darin die Entwicklung eines Muslim. Bildung ohne Erziehung ist für alle vier wertlos. Für Khomeini und Motahhari ist aber Erziehung gleich einer islamischen Erziehung. Die fundamentalistischen Ideen von Khomeini und Motahhari hindern sie nicht daran, Entwicklung neuer Technologien und Naturwissenschaften zu fordern. Ihr eigentliches Problem liegt in der Entwicklung neuer Humanwissenschaften, die von den islamischen Lehren abweichen. Für Kant und Hegel gilt Bildung als Entwicklung individueller und allgemein-kultureller und gesellschaftlicher Prozesse. Durch Bildung wird zunächst ein bewusstes und autonomes Subjekt geschaffen, das mittels seiner Vernunft und seines Verstandes seine eigene Persönlichkeit und sein eigenes Leben bildet. Das ist das wesentliche Merkmal der modernen Bildungskonzeption von Kant und Hegel. Das höchste Ziel der Bildung in beiden Auffassungen ist die Entwicklung von Vernünftigkeit als Basis des Bewusstseins, von Autorität und Sittlichkeit. Diese machen wiederum das Prinzip der Freiheit aus, und Freiheit ist für 442 Kant und Hegel das Ziel der menschlichen Entwicklung. Wie das möglich ist und wie Bildung zur Freiheit und gesellschaftlichen Wandlungen beitragen kann, wird im Folgenden näher untersucht.

2.5

Bildung und gesellschaftlicher Wandel

Wie bereits aufgeführt, ist sowohl bei Kant als auch Hegel gesellschaftliche und politische Freiheit ohne Anerkennung der individuellen Freiheit und des Prinzips der Individualität unmöglich. Individuelle Freiheit kommt nur dadurch zustande, dass der Mensch lernt, von seiner Vernunft in privaten und gesellschaftlichen Angelegenheiten Gebrauch zu machen. Bildung ist der Weg zur Vernunftbildung und zur Entwicklung der Individualität. Sie gibt dem Individuum die Fähigkeit, Veränderungen aus sich selbst in Gang zu setzen, und darin liegt nach Kant der elementare Aspekt der individuellen Frei442

Vgl. ebd.

141

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

heit. Gleichzeitig aber ist Bildung der Schlüssel zur gesellschaftlichen und politischen Veränderung und Wandlung. Das geschieht meiner Ansicht nach im Laufe des folgenden Prozesses: • Durch Alphabetisierung (entspricht dem Erwerb der Lese- und Schreibfähigkeit) erweitert sich der zeit-räumliche Informationshorizont der Person. Ihr steht ein großer Umfang von zu lernendem Material zur Verfügung. Demgemäß erweitert sich ihr Informationshorizont weit über die Gespräche auf lokaler Ebene hinaus. • Der Mensch beginnt Fragen zu stellen und mittels seines Verstandes, seiner Vernunft, seines Wissens und seiner Informationen eine Antwort auf seine Fragen zu finden. In diesem Prozess zweifelt er an sich und seinem Handeln, gleichzeitig aber an den aus der Vergangenheit überlieferten Normen und Werten. Er fängt an, an sich und seiner gesellschaftlichen Umgebung Kritik zuüben. Darin besteht auch eine zentrale Aufgabe der Bildung in der Moderne. Bildung soll nicht dazu führen, dass man etwas lernt und genauso akzeptiert, sondern die Aufgabe der Bildung ist es vor allem, den Menschen zum Kritisieren, Nachdenken und zur Ablehnung zu ermutigen. Der Mensch wandelt sich zum Individuum, sobald er anfängt, selbständig zu denken. • Durch Nachdenken, Vergleichen und Kritisieren bildet der Mensch seine Urteilskraft. Er beginnt, sich zu kennen und seine Identität zu bilden. Identitätsbildung ist der Prozess der Selbstverwirklichung. Zudem erschafft er sein eigenes Wertesystem und seine eigene Weltanschauung, die womöglich mit Werten früherer Generationen in Konflikt stehen. • Die neue Weltanschauung führt zur Entstehung neuer Erwartungen, vor allem zum Verlangen nach persönlicher Autonomie, selbstständiger Entscheidungsbildung und selbstbestimmtem Handeln besonders im privaten Bereich. Gleichzeitig aber erhebt das Individuum Anspruch auf Gerechtigkeit, Freiheit, Emanzipation und Beteiligung in politischen und/oder gesellschaftlichen Ereignissen nach dem Motto: „I don’t want to be a product 444 of my environment; I want my environment to be a product of me.“ Infolgedessen ist das Individuum bereit, nach Erlangen von Selbstautonomie Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. • Durch Kommunikation und Meinungsaustausch mit anderen Mitmen443

443 444

Vgl. Schliwa, H. (1988): „Individuelle Freiheit in Geschichte und Gegenwart“, Berlin: Dietz, S. 31. Ein Satz von Frank Costello (gespielt von Jack Nicholson) im Film „Departed“.

142

2.5 BILDUNG UND GESELLSCHAFTLICHER WANDEL

schen steigt die Tendenz zur gesellschaftlichen und politischen Veränderung und Wandlung. Diese Wandlungen prägen das Wesen der modernen Gesellschaft. In einer modernen Gesellschaft sollten nach Eisenstadt immer neue Institutionen aufgebaut werden, die auf Dauer Verhaltens- und Erwartungsänderungen beobachten und analysieren und angemessene Lösungen dafür finden. Sie funktionieren als „Shock absorbing“-Elemente und verhindern, dass das Verlangen nach gesellschaftlichen und politischen Änderungen zum Chaos führt. • Erfahrungen während der gesellschaftlichen bzw. politischen Wandlungen einerseits und Steigerung des Wissens von Menschen durch Kommunikation und Meinungsaustausch und Weiterentwicklung der Bildung andererseits führen zu weiteren gesellschaftlichen Bewegungen und Änderungen. Deshalb ist Moderne, wie es Münch auch formuliert, nichts anderes als Bewegung und Veränderung: Bewegung und Veränderung heißt: Dinge zu tun, die man vorher noch nie getan hat. Dinge zu tun die vorher noch nicht getan wurden heißt: Gefahr zu laufen, dass Ereignisse eintreten, die nicht voraus 445 gesehen wurden. Giddens sieht ebenfalls die Ursache der hohen gesellschaftlichen Veränderungsdynamik und extremen Schnelligkeit in der modernen Gesellschaft vor allem in der Reflexivität des Wissens. Wissen und Wandlung bilden einen Kreis. Das Wissen über den Menschen, die Gesellschaft und die Wissenschaft 446 fließt wieder in die Gesellschaft zurück und verändert sie zugleich. Dennoch ist das Wissen in der Moderne nicht gewiss und erscheint unvollständig. Es wird stets verändert. Das wichtigste Resultat dieser ständigen Wandlung des Wissens liegt in der Änderung des Sicherheitsgefühls in der modernen Gesellschaft. Hier kann das Gefühl von Sicherheit, das durch traditionelle Lebensart, Glaube und Gewohnheiten entsteht, nicht durch die Gewissheit des rationalen Wissens ersetzt werden. Dies beruht nach Giddens unter anderem auf zwei Tatsachen. Zuerst institutionalisiert „Moderne“ das Prinzip des radikalen Zwei445 446

Vgl. Münch, R. (1991): „Dialektik der Kommunikationsgesellschaft“, S. 44, zit. nach: Uhle, R. (1993): „Bildung in modernen Theorien: Eine Einführung“, Weinheim: Deutsche Studien, S. 108. Vgl. Giddens, A. (1996b): „Konsequenzen der Moderne“, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 59.

143

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

fels, wobei alle Kenntnisse und alles Wissen die Form von Hypothesen annehmen, die vielleicht der Wahrheit entsprechen, aber auch in der Zukunft 447 geändert oder sogar abgelehnt werden können. Ständige Kritik und Zweifel auf der einen Seite und Bereitschaft zur Änderung und die Suche nach etwas neuem auf der anderen Seite sind wie zwei Seiten einer Medaille in der „Moderne“. Außerdem ist „Moderne“ eine „run away world“, was keinen statischen Zustand, sondern einen Prozess ständiger Änderung und sozialer Mo448 bilisation darstellt. Nicht nur das Tempo des sozialen Wandels ist viel schneller als in jeder Periode zuvor, enorm ist auch die Reichweite und die Tiefe seines Einflusses auf die Handlungen und Verhaltensweise der Men449 schen. Bildung, als Mittel zur Vorbereitung auf das gesellschaftliche Leben, ist deshalb in der Moderne ein lebenslang begleitender Prozess, der den Menschen für diese tiefgreifenden Wandlungen bereit macht und zur Weiterentwicklung der persönlichen Einstellungen, zur Wandlung menschlicher Werte und gesellschaftlicher Konstellationen führt. Abbildung 2: Bildung und gesellschaftliche Wandlung (eigene Darstellung)

447 448

449

Vgl. Giddens, A. (1991): S. 3. Karl Deutsch definiert Soziale Mobilisation als: “The process in which major clusters of old social economic and psychological commitments are eroded and broken and people become available for new patterns of socialization and behavior”, in: Eisenstadt, S. N. (1966). Vgl. Giddens, A. (1991): S. 3-5.

144

2.5 BILDUNG UND GESELLSCHAFTLICHER WANDEL

Unter den Umständen ständiger Änderung und sozialer Mobilisation kann Bildung keinesfalls die unhinterfragte Einführung einer jungen Generation in der Werte und Normen der älteren sein. Dafür verändert sich die 450 Welt zu schnell. Das traditionelle bzw. kirchlich-religiöse Bildungskonzept kann nicht mehr als vertrauenswürdiges und geeignetes Mittel zur Vorbereitung der Person auf das Leben in der modernen Gesellschaft betrachtet werden. Zwar gehen mit steigenden Säkularisierungstendenzen in der Moderne die Religion bzw. religiöses Verhalten, Bildung und Denken nicht völlig zurück, was vielleicht daran liegt, dass die Religion im Hinblick auf die existentiellen Fragen immer noch (zumindest für die Gläubigen) überzeugend erscheint. Jedoch hält Religion für viele Aspekte des modernen Lebens keine 451 Lösung oder auch Hinweise bereit. Das liegt vor allem an der Starrheit der Religion und Tradition bezüglich des Verlaufs des menschlichen Lebens. Jeder Art von Veränderung und Wandlung ist dabei unerwünscht, denn solche 452 Änderungen verursachen ein Gefühl von Unsicherheit. Die neuen Phänomene werden als Bedrohung der heiligen Werte angesehen. Zudem sind Reli453 gion und Tradition mit vielen Charakteristika der Moderne unvereinbar. Beispielsweise fordern die meisten religiösen und nicht-modernen Bildungskonzeptionen das Prinzip von „Lernen und Akzeptieren“. Diese Auffassung funktioniert jedoch nicht mehr in der modernen Gesellschaft. Denn das moderne Subjekt hat gelernt, mittels seiner Vernunft alles kritisch zu betrachten, Fragen zu stellen und nach seinen selbstgeschaffenen Werten zu entscheiden. Die kirchlich-religiöse Bildung verhindert, dass der moderne Mensch seinen Erwartungen an sich selbst gerecht wird. Ein moderner Mensch verlangt von sich, sich nicht durch die Autorität von Verkündigungen und Tradition leiten zu lassen, nicht sich auf außerwissenschaftliche Erklärungen und Deutungen der Welt zu verlassen und ebenso wenig auf Überzeugungssysteme von anderen, sondern nachvollziehbar einsichtige Erkenntnis zu verlangen, Bindungsbegründungen an sich und Andere darauf zu prüfen, ob sie für Ich und gleichzeitig für alle gelten,(...) 450 451 452 453

Vgl. Forneck, H. J. (1992): S. 126. Freud spricht deshalb von der Unglaubwürdigkeit des religiösen Versprechens in der Moderne. Vgl. Freud, S. (1927): S. 62. Mehr dazu in: Beck, U., Giddens, A. (1996a). Vgl. Giddens, A. (1996b): S. 136-138.

145

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Stimmungen, Einstellungen, Triebe etc. darauf, ob sie Erleben von 454 Welt darstellen und nicht Imitationen von Welt. An die Stelle solch einseitiger Bildungs- und Wissenssysteme tritt in der Moderne das reflexiv organisierte Wissen, das von empirischer Beobachtung und logischem Denken bestimmt wird. Darin liegt ein bemerkenswerter Unterschied zwischen der modernen und nicht-modernen Bildung. Die moderne Bildung erhält die schwere Aufgabe zugewiesen, situationsbezogen die für den umfassenden gesellschaftlichen Wandel benötigten Kenntnisse, Qualifikationen und Fähigkeiten zu vermitteln und gezielt zur Formung des Be455 wusstseins beizutragen. Sie ist zeitgemäß und sachlich. Da in den Prinzipien der Moderne der Mensch nicht nur als einseitiges, gottgefälliges Phänomen betrachtet wird, sondern viele Leidenschaften und weltliche Aspekte in sich einschließt, zielt die moderne Bildung auf die Entfaltung all dieser Aspekte. Bildung muss den Menschen vor allem das unabhängige Denken und die Rationalität beibringen. Jedoch ist die moderne Bildung kein einseitiger Prozess, in der auf der einen Seite ein Lehrer und auf der anderen Seite die Lernenden stehen. Die moderne Bildung ist ein reflexives und duales System, in dem auch der Lernende durch Denken, Fragestellung, Kritik und Erläuterung seiner Ansichten mitwirkt. Dadurch erlangt der Mensch mehr Selbstständigkeit und zunehmende Autonomie. Er wird selbstbewusst und kann dadurch von seiner Vernunft Gebrauch machen. Auch das Potential des Menschen zur Änderung und Entwicklung neuer Ideen soll damit entfaltet werden. Das moderne Individuum will seine eigene Welt und sein eigenes Selbstbild erzeugen und reflektieren. Es hat keine Angst vor Veränderungen, denn durch die gesellschaftliche Akzeptanz der Idee der Wandlung und Veränderung wird die Gesellschaft sehr flexibel und aufgeschlossen für neue Ideen, und jedem Menschen wird die Freiheit und Gelegenheit eingeräumt, zu diesen Wandlungen beizutragen. Dynamik, Wandlung und Entwicklungsfreiheit gehören zum Wesen der modernen Gesellschaft, und eine solche dynamisch456 demokratische Gesellschaft bedarf auch neuer Menschen, die informiert sind, neue transformative soziale Rollen übernehmen und viel aktiver auf so454 455 456

Vgl. Uhle, R. (1993): S. 58. Vgl. Goldschmidt, D., Schöfthaler, T. (1984): „Bildung als gleichzeitige Entwicklung von Vernunft und kultureller Identität“, in: Goldschmidt, Schöfthaler: „Soziale Struktur und Vernunft“, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 462. Vgl. Prisching, M. (1990): „Soziologie. Themen, Theorien, Perspektiven“, Wien u.a.: Böhlau, S. 206.

146

2.5 BILDUNG UND GESELLSCHAFTLICHER WANDEL

ziale Veränderung drängen. Ein solcher Mensch sieht in jeder Veränderung die Gelegenheit, sich zu entfalten und seiner Welt zu bilden. In diesem Sinne ist der moderne Mensch viel radikaler, weil er viel stärker eine schnelle und gründlich Umwandlung der fundamentalen Institutionen seiner Gesellschaft 457 befürwortet. Bildung ist für ihn eine Methode der Selbstfindung und das entscheidende Fundament für Freiheit. Denn jeder Mensch möchte, dass seine Lebensgestaltung und seine Entscheidungen von ihm selbst abhängen und 458 nicht von äußeren Mächten und vorgegebenen Regelungen. Das ist möglich, wenn er das dazu nötige Wissen, Fähigkeit, Bewusstsein und Autorität besitzt, wenn er Subjekt und nicht Objekt ist. Die Welt ist für das moderne Subjekt das Medium, in dem es seine Kräfte entfaltet. Alle Formen der Auseinandersetzung mit der Welt, u.a. Arbeit, Wissenschaft und Kunst, haben nur die eine Funktion, ihm zum Bewusstsein seines Selbst, zur Identität zu 459 verhelfen. Bildung verändert die politische und gesellschaftliche Einstellung des Individuums. Das moderne und gebildete Individuum ist nach Ankeles und Schmidt ein informierter Bürger, der am politischen Leben teilnimmt. Er weist ein ausgeprägtes Wirksamkeitsgefühl auf. Er ist höchst unabhängig autonom in seinem Verhältnis zur Tradition, insbesondere wenn er grundlegende Entscheidungen über persönliche Angelegenheiten trifft. Und er ist offen für neue Erfahrungen und Ideen, das heißt, er ist relativ aufgeschlossen und kognitiv flexibel (...). Er hat außerdem spezifische Auffassungen von Zeit, persönlicher und sozialer Planung, den Rechten abhängiger untergebener Personen und vom Gebrauch formaler Regeln als Grundlage für die Organisation 460 seiner Tätigkeiten. 457

458 459 460

Vgl. Inkeles, A., Smith, D. H. (1974): “Becoming Modern. Individual Change in six Developing Countries”, Cambridge Mass.: Harvard University Press, S. 372-376; und Plümacher, M. (2004): „Sieben Gründe, Individualität zu bedenken“; in: „Der Begriff des Subjekts in der modernen und postmodernen Philosophie“, Dybel, P., Sandkühler, H. J. (Hg.), Frankfurt/Main: Peter Lang, S. 95. Vgl. Berlin, I. (1958): “Two Concepts of Liberty”, Vorlesung in Oxford 1958; abgedruckt in: Berlin, I.: (1969): „Four Essays on Liberty“, Oxford: Oxford University Press Vgl. Ostermann, R. (1993): „Freiheit des Individuums. Eine Rekonstruktion der Gesellschaftstheorie Wilhelm von Humboldts“, Frankfurt/Main: Campus, S. 151. Vgl. Inkeles, A. (1974): S. 290-291.

147

2 THEORETISCHER ANALYSERAHMEN

Dieser informierte Bürger nimmt an Wahlen und öffentlichen Aktionen teil. Ihm ist es wichtig, freie Räume für die Äußerung und Entwicklung seiner Ideen zu bekommen und durch sein Wissen und sein schöpferisches Vermögen Gesellschaft und Politik neu zu gestalten. Wird einmal der moderne Mensch, mit all seinen Merkmalen wie freies Denken, Willensfreiheit, Selbstverwirklichung, Verlangen nach Selbstbestimmung, Fähigkeit zur Wahl und selbstständiges Entscheidungsbildung geboren, wird das Verlangen und die Durchsetzung einer freien Gesellschaft unvermeidbar. Solch ein Individuum ist die elementare Voraussetzung für die Entwicklung einer modernen Gesellschaft. Anders ausgedrückt ist Demokratie das unvermeidbare Ergebnis der Entstehung des Subjekts bzw. des modernen Individuums. Deshalb kann die Frage nach dem Freiheitsgrad einer Gesellschaft erst durch die Antwort auf die Frage nach dem Freiheitsgrad des Individuums beantwortet werden. So abhängig die Entstehung einer freien und demokratischen Gesellschaft von freien, gebildeten bzw. selbstgebildeten und autonomen Individuen ist, ebenso hängt die Entwicklung eines solchen Subjektes von den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen und von Offenheit ab. Je aufgeschlossener ein politisches bzw. soziales System ist, desto geringer wird diese Entfremdung als eines der größten Risiken der modernen Gesellschaft. Denn durch die Offenheit und Freiheit zur Änderung werden die neuen Erwartungen von Menschen wahrgenommen, bearbeitet und eingesetzt. Selbstverständlich ist aber jede individuelle Freiheit mit der Anerkennung des Prinzips der Selbstverantwortung und rechtlichen Eingrenzung verbunden, so wie für Kant Freiheit ohne Bindung a priori unverantwortlich 461 ist. Auch die Gesetze sollen die Freiheit des Einzelnen insoweit sichern, dass sie für die Freiheit der anderen nicht bedrohlich wird. Deshalb ist es, worauf auch Kant hindeutet, wirklich hilfreich, wenn Menschen bereits in der Schule mit ihren Rechten und Pflichten vertraut gemacht werden. Auch in der modernen Gesellschaft sind einige Voraussetzungen notwendig, damit ein gesundes Gleichgewicht zwischen der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit herrscht: Individualität und das Recht auf subjektive Freiheit soll von Gesellschaft und Politik anerkannt und akzeptiert werden. In dem gesellschaftlichen und politischen System werden Institutionen gegründet, die die neuen Ideen und Erwartungen der Individuen sammeln, analysieren, bearbeiten und in der Gesellschaft durchführen. Diese Institutionen funktionieren als Stoßdämpfer und verhindern, dass nicht erfüllte Er461

Vgl. Schliwa, H. (1988): S. 80.

148

2.5 BILDUNG UND GESELLSCHAFTLICHER WANDEL

wartungen der Bevölkerung zu einem gesellschaftlichen Chaos oder zur Revolution führen. Das Prinzip der fortlaufenden Wandlung wird von der Politik, den gesellschaftlichen Institutionen sowie den Individuen akzeptiert, so dass sie sich gegenseitig bei diesen Veränderungen unterstützen. Auf der anderen Seite verändern sie sich gegenseitig. Auf diese Weise hat das Individuum die Möglichkeit durch das Denken und Handeln zu gesellschaftlichen und politischen Wandlungen beizutragen, andererseits verändert die Gesellschaft die Einstellungen des Individuums. Es wird angenommen, dass die gesellschaftliche und politische Demokra462 tie ständiger Pflege bedarf. Das geschieht durch Bildung, vor allem durch politische Bildung. In einer sich schnell verändernden Gesellschaft sollen sich die Individuen über neue Prozesse informieren, damit sie sich besser entscheiden und für die Entwicklung des Prozesses aktiver engagieren können. Eine Demokratie ist auf solche gebildeten und aktiven Bürger angewiesen. Denn wie Löwith schreibt: Der ungebildete Mensch bleibt bei der bloß unmittelbaren Anschauung stehen; er hat kein offenes Auge für das, was ihm vor den Füßen liegt, denn er sieht nur, was ihm gesagt oder zuwider ist; er sieht 463 nicht die Sache in ihrer eigenen freien Selbstständigkeit. Eine der wichtigsten Folgen der Bildung für das politische und gesellschaftliche Leben ist die Entstehung von Toleranz. Deshalb sagte Thomas Weidingen in der Fachtagung „Demokratie lernen und erfahren“: Erst wenn ich weiß, dass mein eigener Standpunkt begrenzt ist, kann 464 ich über das Denken anderer Menschen tolerant sein. Das fehlende Gleichgewicht zwischen steigendem Bildungsniveau und politischer und gesellschaftlicher Wandlungsbereitschaft führt zu steigendem Konfliktpotential auf verschiedenen Ebenen einer Gesellschaft. Wie diese Konflikte aussehen, wird im Folgenden am Beispiel Iran deutlich gemacht. 462 463 464

Vgl. Breit, G., Schiele, S. (Hg.) (2004): „Demokratie braucht politische Bildung“, Schwalbach/Ts.: Wochenschau. Vgl. Löwith, K. (1968): „Hegels Begriff von Bildung“, in: Pleines J. E. (1983): S. 197. Vgl. Schlagen-Weidingen, Th. (2005): Rede in Fachtagung „Demokratie lernen und erfahren“, Berlin 11.12.2005. Allein durch die Tatsache, dass jeder für sich und sein Leben in der modernen Gesellschaft Selbstverantwortung trägt, fängt er an, die Ideale durch Reale zu ersetzen.

149

Teil 3

Im autoritären System werden den Menschen ihre Individualität und Singularität genommen. Von ihnen wird eine vollständige, unbeschränkte, bedingungslose und unerschütterbare Treue erwartet. Um diese Treue zu realisieren und sie in einem mit Halluzinationen gefüllten Raum zu ermöglichen, werden jegliches Denken und jeder In465 halt verboten. 465

Vgl. Sariol-Ghalam, M. (2012): „Iranischer Autoritarismus in der KadscharDynastie“, Teheran: Farzan Verlag, 4. Aufl., S. 26.

150

3

Iran: Die Auseinandersetzung zwischen Subjekt und Staat

3.1

Die Revolution von 1979 Von der Säuberung der Gedanken zur Vereinheitlichung der Gesellschaft

An der Revolution von 1979 waren verschiedene politische Gruppen beteiligt; Nationalisten, Linke, Liberale und unterschiedliche islamistische Gruppierungen, die vor der Revolution nur ein Ziel hatten, nämlich den „Sturz des Schahs und der Pahlavi-Dynastie“. Das Motto war „Freiheit und Unabhängigkeit“, ohne dass ein klarer Plan für das nachkommende Regime entwickelt worden war. Nach dem Sieg der Revolution im Februar 1979 begann der Kampf zwischen den Revolutionsgruppierungen, wobei die islamischen Fundamentalisten unter Führung von Ayatollah Khomeini vor allem wegen besserer Organisation und schneller Reaktionsfähigkeit den Machtkampf ge466 wannen und die Islamische Republik Iran gründeten. Die islamischen Fundamentalisten strebten die Gründung eines „Gottesstaates“ als eine Utopie an, in der die Vergangenheit und religiöse Werte und Vorschriften wiederbelebt und zur Realität gemacht werden sollten. Dieses Ziel wurde in der Präambel der iranischen Verfassung folgendermaßen festgeschrieben: Unser Volk (mellat) (...) kehrte bei seinem revolutionären Entwicklungsprozess zur islamischen Weltanschauung und ihrer geistigen Positionen zurück. Und nun hat sich das Volk zum Ziel gesetzt, durch islamische Prinzipien ein vorbildliches Gesellschaftswesen auf467 zubauen. 466

467

Außerdem lag der Sieg der Fundamentalisten darin, dass sie im Gegensatz zu liberalen Gruppen bewaffnet und bereit waren, alle Anderen von der politischen Fläche zu eliminieren, was sich in zahlreichen Hinrichtungsurteilen durch islamische Gerichte widerspiegelt. Khomeini persönlich erklärte den Einsatz von Waffen im Kampf gegen Oppositionelle für rechtmäßig und bezeichnete es als Methode der islamischen Propheten und Imame gegen ihre Feinde: „Bewaffneter Kampf mit denjenigen, die nicht Mensch werden und das Mellat (Volk) verderben wollen, hat höchste Priorität bei Anbiya (heilige Personen und Imame im Islam)“. (in: Pädagogische Hochschule Teheran (Hg.) (1982): „Imam und Kulturrevolution“, Teheran: S. 119). Auf der anderen Seite hatten die Fundamentalisten vor allem vor der Revolution eine starke soziale Unterstützung. Viele Angehörige der schwachen und religiösen Schichten der Gesellschaft, aber auch Händler, unterstützten sie. Nichtsdestotrotz war einer der wichtigsten Gründe für den Sieg der Fundamentalisten die hohe Popularität und der charismatische Charakter ihres Anführers, Ayatollah Khomeini. Vgl. V.d.I.R.I.: Übers. Özoguz, Y. (2007), in: http://www.m-haditecverlag.de/ leseproben/Leseprobe_0013.pdf.

151

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

Im islamischen Staat passiere ihnen zufolge nichts, außer es ist der Wille Gottes. Diese Argumentation benutzten sie sogar für die Darstellung der Revolution von 1979; danach wurde der Aufstand der Bevölkerung gegen den Schah nicht als Wille der jeweils am Protesten beteiligten Einzelnen, sondern als Wille Gottes dargestellt, denn: Der Mensch hat nicht die Kraft, eine solche Macht zu errichten.

468

Die Bevölkerung bekam durch die Prädestination nun die Aufgabe zugewiesen, diesen Willen zu vollstrecken und zur Gründung eines islamischen Staates beizutragen. Der Mensch als solches wird als willenloses Wesen dargestellt, das nur seiner Vorbestimmung zu folgen hat. Basierend auf diesem utopischen Ideal legte die Verfassung das Ziel dieses neuen Staates auf die Erweckung des religiösen Denkens und die Ausweitung islamischer Gesetze auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft fest: Die Verfassung der Islamischen Republik Iran ist Ausdruck der kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen der iranischen Gesellschaft auf der Grundlage islamischer 469 Prinzipien und Grundsätze. Um diesen Artikel im Sinne von Khomeini zu formulieren, ist das Ziel des Staates Islamisierung der Gesellschaft in jeder Hinsicht. Dem Individuum als freidenkendes Subjekt wurde im Rahmen dieser Konzeption und der Verfassung in dieser Gesellschaft kaum Raum gegeben, denn die maßgebenden Normen und Denkweisen werden vom islamischen Staat als der einzig von Gott legitimierten Staatsform bestimmt. So wie es die Verfassung formuliert, gibt es im islamischen Staat eine einheitliche Denkweise und Zielsetzung: Aus der Sicht des Islam ist der Staat (…) die Umsetzung des politischen Ideals eines in Religion und Denkweise gleich ausgerichteten Volkes, das sich organisiert, um bei dem geistigen und ideologischen Entwicklungsprozess den Weg zu seinem letztendlichen Ziel – den 470 Weg hin zu Gott – zu ebnen. Um diese angebliche islamische Einheitlichkeit zu bewahren, sind im islami-

468 469 470

Vgl. Khomeini, R. (2007c): S. 126. Vgl. Präambel der V.d.I.R.I. Übers.: Özoguz (2007): S. 13. Vgl. ebd.: S. 18 (Übers.: ebd.).

152

3.1 DIE REVOLUTION VON 1979

schen Staat Meinungsverschiedenheiten und abweichende Denkrichtungen unerwünscht. Deshalb besteht die Aufgabe der Verfassung darin, die auf dem Glauben basierenden Grundlagen der Bewegung zu objektivieren und Voraussetzungen zu schaffen, unter denen sich der Mensch mit den erhabenen und ganzheitlichen islamischen Werten 471 entwickeln und entfalten kann. Die Individuen sollen sich nicht zu einem unabhängig denkfähigen Wesen, sondern zum islamischen Menschen steigern, was wiederum für den Einzelnen heißt, zu gehorchen: Die Menschen, die in einem islamischen Staat leben, sollen alle isla472 misch sein; sie müssen gehorchen. Gehorsamkeit der Individuen bezieht sich auf den ausgeprägten Glauben an dieses ideologische System, nach dem der islamische Staat und die von ihm bestimmten Vorschriften und Führer heilig sind und dieses Heiligtum an sich unantastbar ist. Der islamische Staat und speziell der Führer haben die Aufgabe, zu verhindern, dass die Gesellschaft von ihren islamischen Pflichten 473 abweicht, denn der einzige Weg der Rettung des Menschen liegt nur im Folgen. Dazu beziehen sie sich vor allem auf den Koran: Ihr Gläubigen! Gehorchet Allah und dem Gesandten und denen un474 ter euch, die zu befehlen haben! Nach dem Motto „hört und gehorcht“ (sam‘an va ta‘atan) wurde im Rahmen des politischen Systems das Individuum als denkendes, entscheidungsfähiges und auswählendes Subjekt nicht nur abgelehnt, sondern immer bekämpft. Bereits einige Monate nach Gründung der Islamischen Republik Iran begann der Kampf gegen unabhängige Gruppierungen und Individuen. Khomeini beantwortete die Äußerungen des ersten Präsidenten der islamischen Regierung Hassan Bani Sadr (Amtszeit 25. Januar 1980 bis 21. Juni 1981), der stets anmerkte, er habe seine eigene Stimme (unabhängig von den islamischen Institutionen und vor allem Khomeini als Führer), folgendermaßen: 471 472 473 474

Vgl. ebd.: S. 18-19 (Übers.: ebd.). Vgl. Khomeini, R., in Punkt: 2.3.1.1. Vgl. Präambel der V.d.I.R.I: S. 19 (Übers.: ebd.). Vgl. Koran, Sure 4 „an-Nisa“ (die Frauen), Vers 59, Übers. in: http://www.koransuren.de/

153

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

Sagt nicht ständig „Ich“. Dieses „Ich“ ist der Teufel (…). Sagt nicht 475 Ich, sagt mein Maktab (meine islamische Schule). Daraufhin wurden in den meisten administrativen Korrespondenzen und Reden und später in der ganzen Gesellschaft anstelle von „Ich“ Begriffe wie „dieser Knecht“ (in bandeh), oder „ dieser Minderwertige“ (in haghir) und gar „minderwertiger Knecht“ (bandeh haghir), aber auch die kollektive Form „wir“ verwendet. Die Bekämpfung der Subjektivität weitete sich aber über die begriffliche Sphären hinaus aus, denn Subjektivität wurde als wichtigstes Hindernis auf dem Weg zur Islamisierung der Gesellschaft angesehen. Vor allem spiegelt sich diese Ablehnung und Unterdrückung der Subjektivität in der Ablehnung der Unabhängigkeit und der Fähigkeiten der menschlichen Vernunft bei der Gesetzgebung wider: Die Gesetzgebung, welche die Kriterien der gesellschaftlichen Leitung festlegt“, stützt sich der Verfassung zufolge nicht auf die menschliche Vernunft, sondern auf „den Koran und die Verfah476 rensweise (sunna). Das bedeutet, dass kein Gesetz verabschiedet werden kann, wenn es der Scharia widerspricht. Es ist nicht übertrieben, wenn diese Regelung im Laufe der über 30-jährigen Herrschaft der islamischen Regierung als Hauptverursa477 cher der Konflikte zwischen Staat und Gesellschaft bezeichnet wird. Die verabschiedeten Gesetze sollen dazu beitragen, die Gesellschaft zu islamisieren bzw. zu vereinheitlichen. Zum Zweck der Islamisierung der Gesellschaft und der damit verbundenen Schwächung der Subjektivität begann seit der Gründung der Islamischen Republik Iran der „Säuberungsplan“, der ein breites Spektrum von gesellschaftlichen und politischen Sphären beeinflusste. Diesem Plan zufolge sollten außer den Gesetzen auch Denkweise und Meinungen der Individuen, ihre politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten, die Presse, Arbeitsatmosphäre und das Bildungssystem von unreinen und unislamischen Phänomenen gesäubert werden. Das bedeutet, dass alle anderen Denkrichtungen, au475 476 477

Vgl. Khomeinis Rede vom 6. August 1980 (freie Übersetzung P. J.). Einige Monate später wurde Bani Sadr vom Parlament als politisch inkompetent erklärt und des Amtes enthoben. Präambel der V.d.I.R.I: S. 19-20, (Übers.: Özoguz (2007)). Für die Klärung des Ausmaßes dieses Gesetzgebungsprinzips vgl. Tabatabaei, J. (2007) und Katouzian, H. (2010).

154

3.1 DIE REVOLUTION VON 1979

ßer der vom Staat präsentierten islamischen Ideologie, von der gesellschaftlichen und politischen Fläche eliminiert werden sollten, um eine einheitliche islamische Gesellschaft zu errichten. Der wichtigste Teil der Säuberung war laut Khomeini die „Säuberung der 478 Gedanken“. Die wahre Denkschule sei die schiitisch-islamische. Deshalb solle der islamische Staat zunächst von allen westlichen bzw. östlichen, aber auch nationalistisch orientierten Denkschulen, Denkweisen und Denkern, die zu Häresie führen, gesäubert, und danach die wahre Denkschule durch islamische Bildung und Erziehung den kommenden Generationen weitergegeben werden. Seitdem wurde jede Art von Andersdenken, Fragestellung, Kritik und Äußerung von Unzufriedenheit als Versuch zur Schwächung des Islam (und nicht des Staates) dargestellt und mit Anschuldigungen wie „liberal“, „kommunistisch“, „verwestlicht“, „ungläubig“ etc. bekämpft. Die „Säuberung der Gedanken“ fand ihre Auswirkung zunächst bei der Presse und politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten diverser Gruppierungen als Vertretern unterschiedlicher Denkrichtungen. Verfassungsgemäß sind Meinungsfreiheit und Freiheit an der Teilnahme an politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten zwar gesichert, aber nur, solange diese Meinungsäußerungen und Aktivitäten die islamischen Werte (die vom Staat bestimmt wurden) und Prinzipien der Islamischen Republik Iran nicht beeinträchtigen. Dabei wurde die von Khomeini noch im Asyl versprochene Pluralität und Meinungsvielfalt stark eingeschränkt. Die Meinungsfreiheit, die sich vor allem in Presse- bzw. Medienfreiheit widerspiegelte, war ein wichtiger Konfliktpunkt zwischen den Revolutionsgruppen. Bereits vor der Revolution und kurz darauf genossen Presse und Medien enorme Autonomie und Freiheit. Nach ihrem Sieg besetzten die Fundamentalisten zunächst Rundfunk und Fernsehen und machten sie zu einer islamischen Institution, die zur Beschleunigung der Islamisierung beitragen sollte. Viele Musik- und Unterhaltungsprogramme wurden durch islamische Vorträge und solche Programme ersetzt, die vor allem das Ziel verfolgten, islamische Werte in den Gedanken und in der Lebensweise der Bevölkerung zu verankern. Zudem traf Zeitungen und Bücher eine Pressezensur, was zu enormem Protest seitens der Journalisten, Intellektuellen und Autorenverbände geführt hatte. Khomeini bezeichnete viele Zeitungen als Quellen der Verschwörung und deutete darauf hin, dass die Presse überall auf der Welt 478

Khomeinis Rede am 5. September 1979, in: Khomeini, R. (2000 e): S. 427 (freie Übersetzung P. J.).

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

nur im Rahmen des Gesetzes frei sei. Da das Gesetz in Iran das Gesetz des Islam sei, sollten alle Medien und die Presse, die den islamischen Gesetzen widersprechen, geschlossen werden, wobei aber nicht deutlich war (und bis heute nicht deutlich ist), in welchem Zusammenhang eine Zeitung oder der Inhalt der Presse antiislamisch ist. Im Frühjahr 1979 wurden über 60 Zeitungen verboten. Khomeini bezeichnete die Journalisten dieser Zeitungen als korrupt und rechtfertigte diese Anschuldigung wie folgt: After every revolution several thousands of these corrupt elements are executed in public and burnt and the story is over. They are not allowed to publish newspapers. After so long, the (Bolshevik) October Revolution, still had no Newspapers (except those approved by the state) (…) we all made mistakes. We thought we were dealing with human beings. Evidently, we are not. We are dealing with wild 479 animals. We will not tolerate them anymore. Zensur gehört seitdem zum Alltagsleben der Presse und der Medien. Nach Khomeini können nur Medien aktiv sein, die „im Dienste des Willens der Be480 völkerung, d.h. im Dienste des Islam“ stehen.“ Nach der Presse wurde zu Beginn der Revolution die Tätigkeit diverser politischer Parteien verboten, denn wie bereits angedeutet, gibt es nach Kho481 meini im Islam nur eine Partei, und das ist die Partei Gottes (Hisbollah). Unter diesen Konstellationen rührt das politische Handeln der Muslime aus ihrem Glauben an den Koran. Dieser sei der Kern des politischen Denkens und mache den Kern der politischen Existenz eines Mus482 lims aus. Mit dieser andauernd wiederholten Argumentation wurde nicht nur die Tätigkeit von nichtislamisch Denkenden auf politischer Ebene verhindert, sondern auch die Motive der Teilnahme von Bürgern an politischen sowie gesellschaftlichen Angelegenheiten stark (islamisch) ideologisiert. Beispielsweise bezeichnete Khomeini die Teilnahme an Wahlen nicht als Recht der 479 480 481 482

Vgl. Khomeini, R. (2007 f): S. 245, in: Katouzian, H. (2010): S. 333-4. Vgl. Khomeini, R. (2007 d): S. 247 (freie Übersetzung: P. J.). Vgl. Punkt 2.3.1.1. Dennoch sind seit Anfang der Revolution mehrere (islamische) Parteien im Iran tätig. Vgl. Zanjani, A. A. (1993): „Islamische Revolution und ihre Wurzeln“, Teheran, in: Wahdat-Hagh, W. (2003): „Die Islamische Republik Iran. Die Herrschaft des politischen Islam als eine Spielart des Totalitarismus“, Münster: LIT, S. 174-5.

156

3.1 DIE REVOLUTION VON 1979

Bürger, sondern als „eine göttliche Pflicht“. Das bedeutet, dass die Wähler ihre Stimme für den Islam abgeben und nicht zur Bestimmung der politischen Institutionen ihres Landes, deren Arbeit direkte Einwirkung auf ihr 484 Alltagsleben hat. In diesem ideologischen Staat wurde der Islam zur Grenze der Toleranz in politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten. Kein Anhänger anderer Denkrichtungen oder gar Religionen kann demnach politisch sowie gesellschaftlich wichtige Posten übernehmen denn, so Khomeini, 483

… wenn die Menschen eine islamische Republik wählen, werden sie 485 als Minister einen Nicht-Muslim nicht dulden. Parallel zur maßlosen Unterdrückung der Presse und politischer Aktivisten wurde der Prozess der Säuberung des Landes von perversen Denkarten beschleunigt. Es begann eine Welle von Verhaftungen und Hinrichtungen 486 politischer Aktivisten, die bis Ende 1983 dauerte. Inquisition und Filterung der Angestellten auf wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Ebenen begann, was bis heute durch verschiedene Maßnahmen beibehalten wurde. Die ideologische Säuberung des Landes, die mit der Säuberung der Gedanken anfing, fand bald ihren Ausdruck auch im Erscheinungsbild der Bürger in der Öffentlichkeit, denn alle Aspekte des privaten sowie gesellschaftlichen Lebens der Individuen sollen, dieser Ansicht zufolge, den islamischen 483 484

485 486

Vgl. Khomeini, R. (2007 g): S. 252. Die ideologische Darstellung der Motive der Bevölkerung bezüglich der Teilnahme an politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen war so weit ausgeprägt, dass sogar die Teilnahme der iranischen Soldaten am achtjährigen Krieg gegen den Iraq davon betroffen war. Der Krieg wurde demzufolge nicht als Verteidigung des Heimatlandes, sondern als ein heiliger Krieg für Gott und Islam dargestellt und als Martyriumskultur propagiert. Die Spuren, die diese Propaganda hinterlassen hat, können bei näherer Betrachtung der Testamente der Märtyrer festgestellt werden. Während etwa in den ersten zwei Jahren des Krieges in den Testamenten überwiegend Beweggründe wie die Verteidigung der Heimat und des Iran genannt wurden, verschwanden diese im Laufe des Krieges und wurden durch andere Beweggründe wie der Sieg des Islam gegen die Ungläubigen (obwohl der Iraq auch zu den islamischen Ländern gehörte) und der Jihad für Allah ersetzt. Das ging so weit, dass in den letzten Jahren des Krieges der Name „Iran“ kaum noch in den Testamenten auftritt. Nachdem im Iran die Hidschabregelungen für die Frauen verschärft wurden, wurde sogar propagiert, dass die Märtyrer ihr Leben für die Erhaltung des Hidschab geopfert hätten. Vgl. Zentrale der Kulturrevolution (Hg.) (1983): „Die Vorposten der islamischen Revolution (talieye enghelabe eslami). Interviews von Imam Khomeini in Nadjaf, Paris und Qom“, in: Wahdat Hagh, W. (2003): S. 205. Weiterhin wurden tausende Anhänger linker und kommunistischer Gruppierungen sowie Anhänger der Tudeh-Partei und der Modschahedin-e Chalgh im Sommer 1988 hingerichtet.

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

Vorschriften entsprechen. Trotz verschiedener Proteste wurden die Männer und Frauen zirka 18 Monate nach dem Sieg der Revolution gezwungen, in islamischem Dresscode in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Das bedeutete vor allem, dass Frauen ab dieser Zeit nicht ohne Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit auftreten durften. Neben Presse und politischen Aktivitäten waren viele andere private sowie gesellschaftliche Bereiche des Lebens der Bevölkerung stark vom Säuberungsplan betroffen, doch waren die Universitäten die größten Opfer dieses Planes, die im Rahmen der sogenannten „Kulturrevolution“ wertvolle Kräfte verloren haben. Das ideologische System des islamischen Staates konnte eine Pluralität der Ideologien nicht dulden und teilte die Gesellschaft in zwei Gruppen: Diejenigen, die zu ihnen gehörten, und den Rest, der andere Denkrichtungen verfolgte und deshalb für die islamische Ideologie eine Gefahr darstellte. Die Säuberung und Islamisierung der Gedanken war ein Plan, durch den die iranische Gesellschaft im Sinne des Staates homogenisiert werden sollte, was seine Stabilität und Legitimität sichern könnte. Deshalb stellten die Universitäten als Hauptzentren des Denkens, der Fragestellung und der Analyse das wichtigste Hindernis bei der Erreichung dieses Zieles dar, vor allem, weil die Universitäten nicht von der Gesellschaft isoliert waren. Die meisten Absolventen und Studenten würden später auf dem Arbeitsmarkt einsteigen, was die Gefahr erhöhte, durch ihre andersartigen Ideen die Arbeitsatmosphäre zu verderben, was wiederum Einfluss auf die Gesellschaft haben und die Bemühungen des Staates zunichte machen würde. Zudem sollten die Universitäten und das Bildungssystem dazu dienen, die staatliche islamische Ideologie zu verbreiten und zur Bildung des ommat (Volk) im islamischen Sinne beizutragen. Die Untersuchung der Frage, inwieweit die Kulturrevolution in diesem Sinne die Universitäten und den Arbeitsmarkt beeinflusste, ist das Anliegen des nächsten Abschnittes.

3.2

Die Kulturrevolution an den Universitäten

Die Kulturrevolution, die im März 1980 von Khomeini ausgelöst wurde, kann als wichtigste politische Kulturkampagne der islamischen Regierung zur Bekämpfung der Andersdenkenden und der Entwicklung der Subjektivität bezeichnet werden. In ihrer Gesamtheit war sie ein vielfältiges Projekt, das die verschiedensten Bereiche, beginnend mit Philosophie, Ethik, dem Rechtssys158

3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

tem, Medien und Büchern, Wissenschaft, dem Denken allgemein bis hin zur 487 Innen- und Außenpolitik, verändern bzw. islamisieren sollte. Dennoch wird die Kulturrevolution vor allem im Zusammenhang mit der fast dreijährigen Schließung der Universitäten zu deren Islamisierung sowie der Islamisierung des gesamten Bildungssystems gesehen, die im Jahre 1980 begonnen hat und bis heute in verschiedener Hinsicht fortdauert. Durch die Kulturrevolution wurden fundamentale Veränderungen in den Grundlagen, Zielen und dem System iranischer Universitäten durchgeführt, mit dem Zweck, ihre Rückkehr zum Islam beziehungsweise die Ausprägung einer islamischen Denkweise und Kultur zur Entwicklung eines islamischen bzw. göttlichen Menschen (ensan haye elahi) zu gewährleisten. Bildungsinstitutionen – und vor allem die Universitäten – waren die wichtigsten Grundlage für die politische Vergesellschaftung des Volkes, die einerseits zur Vereinheitlichung der Gesellschaft beitragen und anderseits die Legitimität und Stabilität des Staates beeinflussen sollten. Denn die neudefinierten Werte konnten nur durch neue Bildung, ein neues Erziehungssystem und im Rahmen der ideologisierten Universitäten übermittelt und vertieft werden. Das war aber keine einfache Angelegenheit, da der größte Teil der Universitäten (Studenten, Professoren und Mitarbeiter) als Kopf der Gesellschaft, nicht islamisch war. Es wird geschätzt, dass in den ersten Monaten nach dem Sieg der Revolution die islamisch-fundamentalistischen Studenten und islamischen Vereine nur etwa zehn Prozent der gesamten Struktur der Universitäten ausmachten. Die Liberalen, Linken, Nationalisten, Modschahedin und andere Personen und Gruppierungen bildeten die Universitätsmehrheit, die keinerlei Neigung zum islamischen Fundamentalismus hatte. Zur Festigung seiner Fundamente musste der islamische Staat demnach einen Filtrierungsprozess durchführen, denn sonst würde diese Meinungsvielfalt, Unstimmigkeit und Differenz in der Gesellschaft fortgesetzt werden, was wiederum das Ziel der Vereinheitlichung und Islamisierung der Gesellschaft unerreichbar machen würde. Von Februar 1979 bis März 1980 waren die Universitäten der Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen politischen Parteien und Gruppierungen, die ihren Sitz an den Universitäten hatten. Im Laufe der Zeit nutzten die islamistischen Studenten jede Gelegenheit, um die nichtisla487

Vgl. Interview mit Javad Bahonar: „Kulturrevolution und Universitäten“, in: „Al-samarat: Über die Einheit der Hawza und Universität“, Teheran: Jahad Daneshgahi Verlag, 1. Aufl. Dezember 1982, S. 32.

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

mistischen Gruppen (bewaffnet) anzugreifen. Diese Entwicklung wurde mit Khomeinis Rede im März 1980 beschleunigt, was sehr schnell zur Schließung der Universitäten für eine fast dreijährige Periode führte: Es muss eine grundsätzliche Revolution an allen Universitäten des Iran stattfinden, um die Professoren, die von Westen oder Osten beeinflusst sind, zu entfernen und damit an den Universitäten eine saubere (gesunde) Atmosphäre für die Lehre der (obersten) islamischen Wissenschaften entsteht. (… ) Die Studenten der religiösen Schulen (tolab) und Studenten der Universitäten sollen die Grundlagen des Islam grundsätzlich untersuchen, sich von den Doktrinen der abartigen Gruppen trennen und diese abartigen Denkrichtungen durch den wahren Islam ersetzen. Diese beiden Gruppen sollten wissen, dass der Islam an sich eine reiche Schule (maktabe ghani) ist, die es niemals nötig hat, an anderen Schulen zu hängen. Ihr alle solltet wissen, dass hybrides Denkens der größte Verrat gegen den Islam und die Muslime ist und dass das bittere Ergebnis dieses hybriden Den488 kens in den nächsten Jahren klar werden wird. Wie bedeutungsvoll die Säuberung der Universitäten von nicht-islamischen Studenten und Professoren für den islamischen Staat war, hatte Khomeini bereits einige Monate zuvor signalisiert: Falls unsere Universitäten nicht (gemäß dem Islam und von uns) geleitet werden, sind wir erledigt. Alles liegt in den Händen der Universitäten. Wenn ihr die Angelegenheit der Universitäten nicht ernst nehmt und wir unsere Kontrolle über sie verlieren, werden wir alles 489 verlieren. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Khomeini mit der Islamisierung der Universitäten vor allem die Islamisierung der Geisteswissenschaften meinte. Denn die Geisteswissenschaften sind direkt verbunden mit Ideologien und sind die Quelle von Fragestellungen, selbstständigem Denken und der Ausprägung diverser Denkrichtungen, die nicht unbedingt islamisch sind. 488 489

Vgl. Khomeinis Rede im März 1980, in: Sharafzadeh Bardar, M. (2004): „Kulturrevolution an den Universitäten im Iran“, Teheran: Pazhooheshkadeh Emam Khomeini va Enghelab-e Eslami Verlag, S. 194-5 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeinis Rede vom 11. Juni 1979, in: Tarbiat Mo’alem Universität (Hg.): „Imam und Kulturrevolution“, (1982), Teheran: Tarbiyat Mo‘alem Verlag, S. 10-11 (freie Übersetzung P. J.).

160

3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

Deshalb ist es keine Übertreibung, wenn die Kulturrevolution als Revolution der Geisteswissenschaften bezeichnet wird, denn sie zielte hauptsächlich auf die grundsätzliche Veränderung der Basis der Geisteswissenschaften und der Grundlagen des Denkens. In seiner Rede im Mai 1980 versuchte Khomeini seine Sichtweise der Islamisierung der Universitäten zu verdeutlichen: Manche haben gedacht, dass diejenigen, die die Säuberung und Islamisierung der Universitäten verlangen, sich einbilden, dass es zwei Arten von Wissenschaften gäbe, eine islamische und eine nicht-islamische. Es gäbe eine islamische und eine nicht-islamische Geometrie. Es gäbe eine islamische und eine nicht-islamische Physik. Sie protestieren, dass Wissenschaft nicht in islamisch und nicht-islamisch geteilt werden kann. Und manch andere bilden sich ein, wenn wir die Islamisierung der Universitäten verlangen, bedeute das, dass an den Universitäten nur Feqh und Usul und Tafsir (islamische Lehre) gelehrt werden solle. (…) Sie machen einen Fehler. Was wir sagen wollen ist, dass unsere Universitäten abhängig sind. Sie sind kolonia490 lisiert. Unsere Universitäten erzeugen Menschen, die „verwestlicht“ sind. Viele Lehrer (Professoren) sind verwestlicht und erziehen unsere Jugendlichen auch verwestlicht. Wir sagen, dass unsere Universitäten nicht die Universitäten sind, die für das Volk nützlich sind. (…) Wir sagen, dass unsere Universitäten grundsätzlich verändert werden sollen. (…) Wir sagen, obwohl unsere Jugendlichen gebildet sind, sind sie nicht erzogen worden. Oder, falls sie erzogen worden sind, haben sie keine islamische Erziehung. (…) Unseren Jugendlichen wird das Gehirn gewaschen. Sie erziehen verdorbene Jugendliche. Wir sagen nicht, dass wir die neuen Wissenschaften (Olum-e Jadideh) nicht haben wollen (…). Wir sagen, dass unsere Universitäten keine islamische Ethik haben. Sie haben keine islamische Erziehung. Wenn unsere Universitäten islamische Erziehung hätten, würden sie nicht zum Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Meinungen und Gedanken, die für diese Gesellschaft schädlich sind. (…) Es ist 490

Der Begriff „verwestlicht“ (pers. ‫ )غربزدگی‬hat einen sehr weiten Bedeutungsumfang und wird schon seit langem von iranischen Intellektuellen, Nationalisten, aber auch in religiösen Kreisen verwendet, und enthält daher nicht allein eine religiöse Konnotation. Auf Grund dieser Mehrdimensionalität des Begriffes ist es äußerst schwierig, eine Übersetzung auf Deutsch oder auch in andere Sprachen zu finden, die alle mit diesem Begriff verbundenen Phänomene umfassen würde.

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

so, weil sie den Islam nicht kennen und keine islamische Erziehung haben. Unsere Universitäten sollen grundsätzlich verändert und neugebaut werden, so dass unsere Jugendlichen eine islamische Erziehung bekommen. (…) Nicht dass unsere Jugendlichen westlich oder 491 östlich orientiert erzogen werden (…). Er geht sogar einen Schritt weiter und verlangt, dass die Universitäten und vor allem die Studenten (die er sonst als Kopf der Gesellschaft bezeichnet) nicht ihren eigenen Weg gehen sollen, sondern den Weg des Volkes, was wiederum bedeutet, dem Staat folgen zu müssen: Wir wollen (ich will), dass wenn das Volk gegen den Westen aufsteht, auch unsere akademischen Jugendlichen das tun.(…) Wenn das Volk gegen den Kommunismus aufsteht, dass auch unsere Akademiker das tun (…). Ich verlange von allen Jugendlichen (Studenten), es (diesen Prozess) nicht zu behindern und keinen Widerstand zu leisten, denn wenn sie dagegen protestieren, werden wir (werde ich) für 492 das Volk bestimmen, was (diesbezüglich) geschehen soll. Einige Tage nach dieser Rede Mitte April 1980 hat der „Rat der islamischen Revolution“ (showray-e enghelab-e eslami) mit Zustimmung von Khomeini allen politischen Gruppierungen, die an den Universitäten aktiv waren, eine dreitägige Frist für die Räumung ihrer Büros gesetzt. Diese Entscheidung führte zu heftigen Protesten seitens der Studenten und politischen Aktivisten. Die Situation eskalierte mit dem Angriff der islamischen Studenten (daneshjouyan-e khat-e emam) auf die Universitäten. Sie verkündeten: Wir bewegen uns nach dem Befehl vom Imam des Ommats, Khomeinis des Großen, (…) und Säuberung der Universitäten von schädlichen und antirevolutionären Elementen, Lösung des derzeitigen universitären Systems vom imperialistischen System und Schaffung eines islamischen Bildungs- und Bürokratiesystems sind unseren ers493 ten Ziele. 491

492 493

Vgl. ebd.: S. 18-20 (freie Übersetzung P. J.). In einer anderen Rede von 25. Mai 1981 sagt er ausdrücklich, dass der Islam die Entwicklung von Wissenschaft (damit meint er Naturwissenschaften), Technik und Industrie zustimme, aber die Universität als Kopf der Gesellschaft auf jeden Fall islamisch sein sollte. Damit meint er islamisches Denken und Erziehung. (Vgl. ebd.: S. 46-51). Vgl. ebd.: S. 20-21 (freie Übersetzung P. J.). Zu weiteren Reden Khomeinis bezüglich der Kulturrevolution vgl. ebd. Vgl. Bamdad Zeitung, 19. April 1980, S. 2, in: Roshan Nahad, N. (2004): „Kulturrevo-

162

3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

Durch diesen Angriff wurden viele Studenten und Aktivisten verwundet oder getötet, und bereits am 22. April 1980 waren alle Universitäten leer. Dieses Ereignis war der Beginn der Kulturrevolution an den iranischen Universitäten, wobei sie für eine fast dreijährige Periode geschlossen wurden. Viele Professoren und Studenten wurden entweder entlassen bzw. verhaftet oder haben das Land verlassen. Die nicht-islamischen Studenten und Professoren waren aber nicht die einzigen Opfer der Kulturrevolution. Auch die islamischen Gruppierungen, die eine andere Interpretation des Islam vertraten, wurden stark von Khomeini kritisiert. Er behauptete, dass die hawza elmiyeh (Schiitische Universität) sogar gefährlicher als die restlichen Universitäten werden könne, wenn sie eine abweichende Interpretation des Islams verbrei494 te. Zur Verwaltung der Kulturrevolution wurde am 13. Juni 1980 auf Befehl Khomeinis die „Zentrale der Kulturrevolution“ (setad-e enghelab-e farhangi: 495 Z.d.K.R.) gegründet. Die sieben Mitglieder dieser Zentrale waren vor allem dafür zuständig, die allgemeinen zukünftigen kulturellen Richtlinien der Universitäten zu bestimmen und zudem gläubige und revolutionäre Studenten und Dozenten zur Bildung der Planungsräte auszuwählen. Diesen Planungsräten oblag es, Maßnahmen hinsichtlich der Planung der Fakultäten, Fachgebiete und Curricula, aber auch kulturelle Leitsätze für die Universitäten auf der Basis der islamischen Kultur zu bestimmen. Zudem sollten sie den Inhalt der Lehrbücher gemäß den Zielen der Islamischen Republik Iran verändern, die ideologische Qualifikation der Dozenten, die an den islamischen Universitäten lehren wollten, prüfen und sie dementsprechend auswählen, um da496 durch zur Islamisierung der Universitäten beizutragen. So war die erste Maßnahme der Z.d.K.R. die Bildung von sechs Planungs-

494 495

496

lution in der Islamischen Republik Iran“, Teheran: Verlag der Markaze Asnade Melli, S. 130 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Wahdat-Hagh, W. (2003): S. 206. Am 10. Dezember 1982 wurde die Zentrale der Kulturrevolution von Khomeini durch den „Obersten Rat der Kulturrevolution“ ersetzt. Dieser Rat wurde seitdem eine feste Institution der Islamischen Republik Iran, die unter anderem folgende Ziele verfolgt: Entfernung von der westlichen kulturellen Irrlehre und deren Ersetzung durch die lehrreiche islamische Kultur, Ausprägung der Kulturrevolution und Vertiefung der islamischen Kultur auf allen Ebenen der iranischen Gesellschaft, Ausprägung der allgemeinen Kultur der Säuberung der Seele im wissenschaftlichen und kulturellen Umfeld, Ablehnung des Materialismus und der westlichen Denkrichtungen. Der Präsident der Islamischen Republik Iran ist der Vorstand dieses Rates. Vgl. Roshan Nahad, N. (2004): S. 147-151; und Grämmer, G. (2003): S. 381.

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

räten für Technik und Maschinenbau, Landwirtschaft, Medizin, Naturwissenschaften, Kunst und Geisteswissenschaften, die ein angemessenes Curriculum und Lehrbücher für die zukünftigen islamischen Universitäten entwickeln sollten. Die Mitglieder dieser Räte waren Professoren und Studenten des jeweiligen Faches, deren Treue zur Revolution nachgewiesen worden war. Die Z.d.K.R. und die Planungsräte führten während der Schließungsperiode der Universitäten hauptsächlich folgende Maßnahmen durch: Veränderung der Curricula und des Inhalts der Lehrbücher gehörte zu den wichtigsten Aufgaben der Planungsräte. Die zuständigen Personen für die Durchführung dieser Maßnahme und die Autoren der jeweiligen Fachbücher sollten zwar gutes Fachwissen besitzen, dennoch sollte vorher ihre Treue zum Islam und zur Revolution überprüft worden sein. In Bezug auf den Inhalt aller sechs genannten Fachrichtungen wurden Veränderungen vorgenommen, wobei diese Maßnahmen, wie im folgenden näher dargestellt wird, am stärksten die Geisteswissenschaften betrafen. Einige Kurse, die „gefälschtes Wissen“ behandelten, wurden aus den Curricula aller Fächer gestrichen. Auch Bilder von Frauen ohne Kopftuch wurden aus den Büchern entweder gestrichen oder mit einigen Korrekturen (z.B. durch Einzeichnen einer Kopfbedeckung bei den jeweiligen Bildern) versehen. Zudem wurden in die Curricula aller Fächer islamische Module (Geschichte des Islams, Koranunterricht, islamische Ethik etc.) integriert. Nach dem Tod von Khomeini wurde sogar sein Testament zu diesen Modulen hinzugefügt. Diese Regelung verfolgte das Ziel, dass im Rahmen des Studiums nicht nur fachliche, sondern auch islamische Kompetenzen angeeignet werden, die die islamischen Werte im Sinne des Staates in der Gesellschaft verbreiten und schützen. In einem weiteren Schritt wurden zwecks Säuberung der Universitäten von „Feinden des Islam“ die Dozenten und Studenten einem rigorosen Auswahlverfahren unterzogen, um dadurch auf Befehl Khomeinis die Universitäten von den Feinden des Islams zu säubern. Zu den wichtigsten Sachen, die zur Voraussetzung der Reform gehören, ist die Säuberung aller Zentren, vor allem kultureller und wissenschaftlicher Zentren zu rechnen. Mit Hilfe von Räten – die mit wissenschaftlichen, engagierten und der Revolution gegenüber loyalen Personen besetzt sind – und Unterstützung von Vorsitzenden, Dozenten, Studenten und Lehrern werden die wissenschaftlichen und

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3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

erzieherischen Zentren von verderbten und korrupten Elementen (Personen) und Dienern und Anhängern des alten Regimes gesäubert; wenn (…) diese Personen – die automatisch den Ausländern dienen – (…) innerhalb des Landes und insbesondere aus wissenschaftlichen und erzieherischen Zentren nicht herausgefiltert werden, können wir nicht von innerer und geistiger Abhängigkeit gerettet werden, und demzufolge können wir in keinerlei Hinsicht unab497 hängig werden. Nach Khomeini bilden die Dozenten und Professoren die Hauptsäule der Universitäten und falls diese nicht engagiert und loyal sind, würden sie enormen Schaden anrichten: (...) und die Hauptquelle all dieser Miseren waren Professoren, die nicht engagiert waren, und durch sie wurden Personen erzogen, die 498 unsere Gesellschaft zerstört haben. Nach dieser Rede wurden viele Dozenten mit liberaler, marxistischer und nicht-islamischer Denkrichtung sowie diejenigen, die eine Neigung zum monarchischen System hatten bzw. im alten Regime Aufgaben erfüllt und Posten besetzt hatten, gewaltsam entlassen, verhaftet oder in Rente geschickt. Viele andere haben das Land verlassen. Khomeini persönlich verlangte von den islamischen Kräften ausdrücklich die Entlassung solcher Lehrkräfte: Die Opponenten (…) ihr Verrat ist klar. Eure Zahl ist größer, euer Argument ist von mehr Bedeutung. Sammelt euch. Sagt die Sachen. Den Rektor, den Lehrer (Professor), von dem ihr wisst, dass er ein 499 Kommunist ist, werft ihn raus aus der Universität. Viele Professoren und Dozenten waren von der Säuberungspolitik betroffen. Nachdem die Universitäten von „korrupten Dozenten“ gesäubert worden waren, wurden neue Vorschriften zur Einstellung neuer Dozenten festgelegt. Danach sollten die neuen Dozenten in zwei voneinander unabhängigen Verfahren sowohl fachlich als auch ideologisch, moralisch und nach ihrer religiösen und politischen Integrität überprüft werden. Das bedeutete, dass die je497 498 499

Vgl. Khomeini, R. (2000 f): S. 82, in: Sharafzadeh Bartar, M. (2004), S. 290 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeini, R. (2000 g): S. 170, in: ebd. (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Grämmer, G. (2003): S. 397.

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

weiligen Kandidaten der Islamischen Republik Iran und ihrer Verfassung Treue zeigen und die Einhaltung (taqvaye amali) islamischer Vorschriften nachweisen sollten. Zudem sollten sie nicht mit dem alten Regime, der Freimauerei und politischen Parteien, die andere Ansichten als die der Islami500 schen Republik Iran vertraten, zusammengearbeitet haben. Neben den Lehrkräften wurden auch Studenten als „westlich gebildet“ bezeichnet und des Verrates gegen das Land beschuldigt. Zunächst wurden über 56.000 Studenten mit Anschuldigungen wie „liberal“, „links“ und „nichtbzw. anti-islamisch“ der Universitäten verwiesen, verhaftet oder sogar hinge501 richtet. Um die gesäuberte Atmosphäre aufrechtzuerhalten, verabschiedete die Z.d.K.R. im Frühling 1982 – nach Wiedereröffnung eines kleinen Teils der 502 Universitäten – als nächsten Schritt die allgemeinen Kriterien für die Zulassung von Studenten. Bei der Auswahl der Studenten wurden ebenso wie bei den Lehrkräften wissenschaftliche, aber auch moralische, ideologische und islamische Parameter überprüft. Die wissenschaftlichen Kriterien wurden durch die schon im alten Regime existierende Nationale Universitätsauf503 nahmeprüfung (konkur) getestet. Moralische und religiöse Integrität der Studenten bedeutete, dass ihnen keine Zusammenarbeit mit oppositionellen Gruppen und Parteien, Freimauerei oder Kooperation mit dem alten Regime 500 501

502

503

Vgl. Roshan Nahad, N. (2004): S. 214-15. Bei der Schließung der Universitäten im April 1980 betrug die Anzahl der Studenten an allen iranischen Universitäten um die 170.000. Nach der Wiedereröffnung der Universitäten 1982 waren 117.000 Studenten übrig geblieben. Es heißt, dass über 30 Prozent aller Studenten vor der Wiedereröffnung von den Säuberungsmaßnahmen betroffen waren. In Frühling 1982 wurden die Studenten, denen weniger als 25 Leistungspunkte bis zum Ende ihres Studiums fehlten, an die Universitäten gerufen. Erst am 18. Dezember 1982 wurden fast alle Fakultäten für alle Studenten eröffnet. Allein die Studenten der Geisteswissenschaften durften erst zu einem späteren Zeitpunkt ihr Studium wieder aufnehmen. Die bereits unter dem Schah-Regime durchgeführte Nationale Universitätsaufnahmeprüfung ist eine schriftliche Prüfung des allgemeinen und speziellen Abiturwissens für das gewählte Studienfach. Sie war bereits vor der Revolution eine Lösung für die ungleiche Entwicklung der Anzahl der Studienbewerber und der verfügbaren Universitäten und Studienplätze. Während sich die Anzahl der Schüler der Sekundarschulen von 1953 bis 1978 mehr als vervierundzwanzigfachte, wurde die Kapazität der Universitäten nicht entsprechend dieser Entwicklung erhöht. Deshalb konnten bis Anfang der 70er Jahre nur etwa 1/8 dieser Schülerinnen und Schüler – und zwar diejenigen, die die Aufnahmeprüfung der Universitäten (Konkur), die einmal jährlich stattfand, bestanden hatten – an den Universitäten studieren. Die restlichen Schüler sollten entweder bis zum nächsten Jahr warten, um wieder an der Prüfung teilnehmen zu können, oder hatten ihre Ausbildung direkt an anderen höheren Bildungseinrichtungen aufgenommen.

166

3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

nachgewiesen werden konnte. Der gesellschaftliche und politische Hintergrund des jeweiligen Bewerbers wurde v. a. von „Studenten der Linie des Imam“ in einem diskriminierenden und äußerst zeitaufwendigen Verfahren überprüft. Dafür wurden die Nachbarn, Familien, Bekannten und sogar der Freitagsprediger bzw. Mullah an der Moschee des Wohnsitzes des Bewerbers befragt. Wie Menashri deutlich machte, würde allein eine negative Äußerung seitens der Befragten über die islamische, politische und ideologische Einstellung des jeweiligen Studienbewerbers genügen, um seine Zulassung an der Universität zu verhindern, gleich wie qualifiziert der jeweilige Bewerber 504 oder sogar wie glaubwürdig der Befragte gewesen ist. Zudem hatten der Befragende oder die Mitglieder des jeweiligen Auswahlkomitees enormen Einfluss auf die Aufnahme oder Ablehnung der jeweiligen Kandidaten. Kannten sie den Bewerber oder irgendjemanden aus seiner Familie persönlich, zu dem sie aus persönlichen Gründen eine Abneigung empfanden oder mit dem sie eine offene Rechnung hatten, wurde dem Bewerber die Zulassung untersagt. Viele Bewerber wurden Opfer dieses rachsüchtigen Verhaltens. Das Ausmaß dieser unbegründeten Absagen wurde so hoch, dass sogar Khomeini diese Situation kritisierte. Daraufhin wurde diese Regelung 1984 verändert. Danach sollten die Befragungsverfahren von Nachbarn und Bekannten abgeschafft und stattdessen, Informationen hinsichtlich der politischen Aktivitäten des jeweiligen Bewerbers nur vom Ministerium für Geheimdienst und Gerichte sowie hinsichtlich seiner moralischen Einstellung vom Ministerium für Bildung und Erziehung eingeholt werden. Ein anderer Grund für die Blockierung der Bewerber lag in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage. Die meisten Mitglieder der Untersuchungskomitees kamen aus sozial schwachen Schichten, da sich der islamische Staat als „Regierung der Armen“ (dowlat-e mostaz’afin) präsentierte und die Schuld an der Armut dieser Schichten den „schmerzlosen Wohlhabenden“ (morafahin-e bi dard) gaben. Deshalb waren viele Auswahlkomitees bei der Zulassung der mittleren bzw. oberen Schichten besonders streng. In diesem Zusammenhang wurde eine neue Regelung geschaffen, wonach den Bewerbern aus sozial schwachen Schichten sowie den Mitgliedern der islamischen Organisationen eine feste Quote an jährlichen Studienplätzen eingeräumt wurde. Demgemäß gehörten 1/3 aller Studienplätze den Bewerbern aus armen Schichten, 1/3

504

Vgl. Menashri, D. (1992): “Education and the Making of Modern Iran”, Ithaca, NY: Cornell University Press, S. 317,

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

den Anhängern der islamischen Organisationen und das restliche Drittel al505 len anderen Bewerbern. Um jegliche oppositionelle bzw. nichtislamische Aktivitäten an den Universitäten zu verhindern, wurden zudem Disziplinar-/und Sicherungskomitees an den Universitäten eingerichtet, die das Verhalten der Studenten beobachten und jegliche Abweichung von offiziellen Verhaltensrichtlinien bestraften. In Artikel 2 der Satzung des Disziplinarkomitees heißt es: Auf Grund der Heiligkeit von Wissenschaft und Moral sowie der Wissenschafts- und Forschungsatmosphäre im heiligen Islam und im islamischen Staat und zum Schutz der allgemeinen Rechte der Studenten ist jeder Student verpflichtet, sich während seines Studiums und überall – sei es in oder außerhalb der Universität – jeder Tat, die gegen die Moral und das Prestige der „Studenten“ ist, (...) zu enthalten. Sonst 506 wird er/sie gemäß der Regelungen dieser Satzung bestraft. Diese Komitees, die sich bis heute an allen Universitäten erhalten haben, haben eine lange Liste von Aufgaben. Unter anderem gehört dazu die Überwachung der studentischen Aktivitäten und Gruppen an den Universitäten, die Erkennung und Bekämpfung von Verschwörungen der inländischen und ausländischen Feinde der Revolution, die Erkennung und Bekämpfung von politischen und Sicherheitsverstößen, Überwachung der Mitgliedschaft der Studenten in politischen und gesellschaftlichen Parteien und Gruppierungen sowie die Erkennung von korrupten und antirevolutionären und antiislamischen Personen. Aber auch die Überwachung der Kontakte zwischen weiblichen und männlichen Studenten, ihres Aussehens und ihrer Bekleidung ge507 hören dazu – letzteres vor allem bei den Frauen. Das Ausmaß der Bestrafung reicht von einer schriftlichen Mahnung bis hin zur jahrelangen Suspendierung vom Studium bei politischen Angelegenheiten. Im Laufe der Jahre wurden viele Studenten wegen der Äußerung von 505 506

507

Vgl. Grämmer, G. (2003): S. 280-284; Roshan Nahad, N. (2004): S. 170-171; Sharafzadeh Bartar, M. (2004): S. 292-3. Vgl. Satzung des Disziplinarkomitees der Islamischen Republik Iran, in: Oberster Rat der Kulturrevolution, „Studentendisziplinarverordnung der Islamischen Republik Iran“, unter: http://www.modares.ac.ir/file/AeenNamehEnzebati.pdf?p=L3V wbG9hZHMvVEFSQklBVC9UQkxfUEFHRV9GSUxFL0FlZW5OYW1laEVuemViY XRpLnBkZi4zMTA zODlfUEFUSA&n=QWVlbk5hbWVoRW56ZWJhdGkucGRm. Vgl. ebd.; und Islamische Azad Universität, Damavand: „Aufgaben der Verwaltung von Sicherheits- und Geheimdienst an der Universität“, unter: http://presidency.damavandiau.ac.ir/fa/contents/ProtectionSection/Protection2/%D9%88%D8%B8%D8%A 7%DB%8C%D9%81.%D8%AD%D8%B1%D8%A7%D8%B3%D8%AA.html.

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3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

Forderungen, ihrer Nähe zu Reformern, aber auch auf Grund der Teilnahme an Wahlkampagnen vom Studium suspendiert. Die Überwachung des Unterrichts betrifft jedoch nicht nur die Studenten, sogar die Professoren werden in ihrem Reden und Tun beaufsichtigt. Vor allem in den Unterrichtsstunden der Geisteswissenschaften sind immer verdeckte Studenten dabei, die die Aussagen der Dozenten, Fragen der Studenten und Diskussionen überwachen sowie die kleinsten Abweichungen von den Richtlinien oder islamischbzw. regierungskritische Anmerkungen melden. Die Aktionen dieser Gruppe von islamischen Studenten wurden zwar im Laufe der Zeit mit einer gewissen Ironie seitens der Studenten und Dozenten wahrgenommen, dennoch sind diese Aktionen (die im Rahmen der zweiten Phase der Kulturrevolution viel schärfer geworden sind) ein wichtiges Hindernis auf dem Weg zu Debatte und Analyse im Rahmen einer wissenschaftlichen Institution. Auf der anderen Seite führten solche Aktionen zur Entwicklung einer Atmosphäre von Misstrauen an den Universitäten und, wie später erläutert wird, in der Gesellschaft, was das Aufkommen anderer Gruppierungen sehr erschwerte. Nach herrschender Meinung sollte die Atmosphäre an den Universitäten neben den Säuberungen durch bestimmte Maßnahmen heilig werden. Eine naheliegende Aktion ist das Halten des Freitagsgebets an der Universität Teheran, was bereits ab dem 27. Juli 1979 eingeführt wurde. Im Laufe der Zeit folgten auch andere Städte, weshalb die Freitagsgebete in einigen Städten an den jeweiligen Universitäten stattfinden. Das Freitagsgebet in Iran ist ein äußerst politisches Ereignis, denn im Rahmen der ersten Predigt werden vom Prediger (emam jom’e), der selbst vom Führer erwählt wird, innen- und außenpolitische Themen besprochen. In diesem Sinne ist die Tribüne des Freitagsgebets die Tribüne des Staates. Durch die Auswahl der Universitäten als Ort des Freitagsgebetes sollte zweierlei signalisiert werden: Erstens sollte die Bevölkerung, die nicht im direkten Kontakt mit den Universitäten steht, aber auch die ausländischen Betrachter glauben, dass die Stimme der Universität gleich der Stimme des Staates sei. Auf der anderen Seite signalisierte der Staat den Universitäten, dass die Geistlichen überall Präsenz haben und ihre Stimme über der der Universität steht. Es ist öfter vorgekommen, dass die Freitagsprediger in ihrer Rede die Akademiker direkt angegriffen und ihnen Eigensinnigkeit und Rebellion vorgeworfen haben. Zudem wurde jährlich ein enormes Budget für die Organisierung der religiösen Rituale sowie religiöse Feier- und Trauertage an den Universitäten investiert. Die Islamisierung der Universitäten hatte einen besonderen Einfluss auf 169

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

die Studentinnen. Die Frauen sollten in islamischer Kleidung (mit Kopftuch oder Tschador) an den Universitäten erscheinen. Zudem wurde ihr Studium in Fächern wie Maschinenbau, Naturwissenschaften und Landwirtschaft zunächst stark eingeschränkt. Diese Einschränkungen blieben bis 1991 bestehen. Jedoch wurde eine vollständige Trennung von weiblichen und männlichen Studenten nie wirklich eingeführt, obwohl in späteren Jahren auch einige Frauenuniversitäten eröffnet wurden. Von den oben dargestellten Maßnahmen waren alle Universitäten und Fächer betroffen. Dennoch erfuhren die Geisteswissenschaften noch schärfere Regelungen, weil die Natur dieser Fächer sie zur großen Bedrohung der Vereinheitlichungsziele des Staates machte.

3.2.1

Kulturrevolution und Geisteswissenschaften: Bemühungen zur Einheit von Hawza und Universität

Die Geisteswissenschaften wurden bereits seit Beginn der Entstehung des islamischen Staates auf Grund ihrer besonderen Natur mehr als jedes andere Fach unter die Lupe genommen, und die grundsätzliche Veränderung des Inhalts dieser Fächer war ein Hauptgrund für die Schließung der Universitäten. Khomeini und viele andere Geistliche hatten darauf bestanden, dass es zwischen den Wissenschaften einen großen Unterschied gebe und deshalb mit ihnen unterschiedlich umgegangen werden sollte. Die Naturwissenschaften haben im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften keinen direkten Bezug zur Ideologie. Gleich von wo die Naturwissenschaften stammen, sie sind alle gleich, deshalb stellen sie keine ernsthafte Bedrohung für den Islam dar: Es besteht kein Unterschied, ob die Mathematik (eine mathematische 508 Formel) vom Gehirn von Nasir-ad-Din Tousi stammt oder von Euklid. Es besteht kein Unterschied, ob Physik oder Chemie aus dem 509 Kopf des Archimedes stammen oder von Ommar Khayyam. Sie sind alle gleich. Aber Geisteswissenschaften sind anders. Die huma510 nistischen Themen sind mit Werten verbunden. Fast alle Fächer der Geisteswissenschaften wie Soziologie, Politikwissenschaft, Philosophie, Rechtswissenschaften, Wirtschafts- sowie Erziehungs508 509 510

Iranischer Mathematiker, Astronom, Theologe, Philosoph und Forscher des 13. Jh. Iranischer Mathematiker, Astronom, Philosoph und Dichter des 11. und 12. Jh. Vgl. Mesbah Yazdi, M. T. (1982): “Karnameh dafter hamkariy-e hawza daneshgah”, Teheran, Sadr Verlag, S. 19-20, in: Sharafzadeh Bartar, M. (2004): S. 279.

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3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

wissenschaften wurden von massiven „Säuberungsmaßnahmen“ betroffen. Diese heftige Auseinandersetzung mit den Geisteswissenschaften wurzelt vor allem in drei Gründen: Der erste Grund ist politischer Natur. Die Geisteswissenschaften waren bzw. werden in vielen Gesellschaften, vor allem in denjenigen, die früher zu Kolonien gehörten, noch immer als Kolonialwissenschaft angesehen. Das liegt daran, dass die wissenschaftlichen Studien vieler Orientalisten und Anthropologen, aber gerade auch von Ökonomen und Ingenieuren zur erfolgreichen Verfolgung und Umsetzung des Kolonialinteresses beitrugen und deshalb niemals neutrale und vorurteilsfreie Wissenschaft darstellten. Zwar wurde das direkte Kolonialsystem im internationalen Rahmen weitgehend abgeschafft, aber das Ansehen der Geisteswissenschaften leidet heute noch 511 unter ihrer Parteilichkeit. Im Iran sprechen viele Geistliche, unter anderem Khomeini und Motahhari, stets von „Wissenschaften, die den Interessen des Ostens und Westens dienen“ und stellen die Neutralität dieser Fakultäten grundsätzlich in Frage. Daneben werden die Geisteswissenschaften stets in Verbindung mit säkularem Denken gesehen, was wiederum eine reale Gefahr für die islamische Ideologie darstellt. Die anderen beiden Gründe sind ideologisch und wurzeln im grundsätzlichen Konflikt zwischen den Geisteswissenschaften und dem Islam, was zur Schwächung der Stellung der Geisteswissenschaften in vielen islamischen Ländern geführt hat. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Geisteswissenschaften und der Weltanschauung, der Ideologie und dem Wertesystem. Die Natur der Geisteswissenschaften ist verbunden mit Zweifel, Ablehnung und selbstständigem Denken. Diese Elemente stehen im direkten Konflikt zur islamischen Basis der „Unterwerfung“ (was die Bedeutung des Begriffes „Muslim“: „der sich Unterwerfende“ zeigt). Zudem bilden diese Grundelemente die drei Hauptsäulen der Geisteswissenschaften, nämlich: 512 Freiheit, Individualität und Gleichheit. Diese drei Säulen markieren weitere wichtige Konfliktpunkte zwischen dem Islam und diesen Wissenschaften. Freiheit ist direkt verbunden mit Denk- und Meinungsfreiheit und demzufolge einem kritischen Denken, das dem Prinzip der Unterwerfung prinzipiell widerspricht. Individualität bedeutet, dass es die Freiheit nicht nur kollektiv, 511 512

Vgl. Shariati, S. (2010): „In Abwesenheit und Unwissenheit. Islam und Geisteswissenschaften“, in: Mehrname Journal, Teheran: Nr. 1, Feb. 2010. Vgl. Bahrami, P. (2012): „Kulturrevolution und Homogenisierung der Gesellschaft: Ein Interview mit Ata Hoodashtian“, unter: http://archive.radiozamaneh.com/ taxonomy/term/11721.

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

sondern auch individuell gibt, was zur Pluralität in der Gesellschaft führen würde. Das Thema Gleichheit ist ebenso von kritischer Bedeutung, denn der Islam ist konstitutiv für viele Ungleichheiten, zum Beispiel zwischen Männern und Frauen oder Muslimen und Nicht-Muslimen. Der dritte Grund liegt in der Vielfalt der Meinungen und Denkorientierungen, die durch Geisteswissenschaften zustande kommen. Geisteswissenschaften erzeugen nicht nur diese Vielfalt, sondern geben auch Lösungen und Vorschläge, wie die menschliche Gesellschaft und die Politik mit dieser Vielfalt umgehen sollen. Der Islam im Ganzen und der islamische Staat im Iran im Besonderen können jedoch auf Grund ihrer Vereinheitlichungsziele diese Vielfalt nicht tolerieren; denn für sie gibt es nur einen richtigen Weg, nämlich die Unterwerfung gegenüber Gott und das islamische Denken. Mit Beginn der Kulturrevolution begann eine große Debatte darüber, in welchem Ausmaß die Geisteswissenschaften verändert werden sollten. So wurden Seminare und Tagungen organisiert, um eine angemessene islamische Antwort auf diese Frage zu finden. Es wurden diverse Konzepte vorgestellt, die allgemein in drei Gruppen geteilt werden können: Die erste Gruppe war der Ansicht, dass jegliche Art von Geisteswissenschaften oder Denkschulen, die aus Westen, Osten bzw. nichtislamischen Länder stamme, eliminiert werden sollen, denn es gebe in diesen Fächern kein Gutes und deshalb stellten sie „versteckte Blasphemie“ dar. Anhänger dieser Gruppe schlugen deshalb vor, diese perversen Wissenschaften vollständig durch Bücher von islamischen Denkern wie Ibn Khaldun bzw. iranischislamische Denker wie Avicenna zu ersetzen. Zwar ist die Untersuchung von iranischen und gar islamischen Geisteswissenschaftlern vor allem Philosophen, von großer Bedeutung, dennoch zeigt dieser Vorschlag einen wichtigen Denkfehler. Denn die Vertreter dieser Ansicht übersehen die Entwicklung der Gesellschaft, ihre steigende Komplexität und die ihnen derzeit gegenüberstehenden Herausforderungen, für die die Philosophen und Wissenschaftler der vorherigen Jahrhunderte keine für heute angemessene Antwort haben können. Die zweite Gruppe vertrat die Meinung, dass, da Wissenschaft keine geographischen Grenzen kennt und es keine Aufteilung des Geisteswissenschaften in heimisch und ausländisch geben könne, ihrer Meinung nach alle Fächer ohne jegliche Veränderung weiter gelehrt werden sollten. Diese Meinung wurde vor allem von Professoren dieser Fächer vertreten. Die dritte Gruppe war der Meinung, dass alle kolonialistischen, imperia172

3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

listischen sowie islamfremden Ideologien, vor allem die nationalistische Ideologie der Pahlavi-Dynastie, aus den Lehrbüchern und Curricula gestrichen und durch die Lehre vom „politischen Denken im Islam“, „Politik und Staat im Islam“, „Imperialismus und seine antiislamischen Natur“ und „Theo513 rien der Revolution“ etc. ersetzt werden sollten. Sie bezogen sich auf die Anweisung von Khomeini: Verändert grundsätzlich (…) die Lehrbücher und filtriert alles heraus, was zugunsten des Kolonialismus und Imperialismus ist, und ersetzt es durch islamischen und revolutionären Unterricht, der unsere Kinder wachsam und unsere junge Bevölkerung unabhängig und frei 514 erzieht. Diese Unstimmigkeiten hinderten die Arbeit der zuständigen Komitees beim Entwurf des Lehrplans der Geisteswissenschaften, da deren Mitglieder ebenfalls keine klare Vorstellung und Abstimmung darüber hatten, was als islamische Werte bezeichnet und inwiefern sie im Rahmen der Geisteswissenschaften konzipiert werden sollten. Zudem gab es einen Mangel an Dozenten, die die islamische Weltanschauung und deren Grundlinien für die Lehre der Geisteswissenschaften ausreichend fanden. Auf Grund der Meinungsverschiedenheiten unter diesen Gruppen schaltete Khomeini sich persönlich ein und erklärte, dass die Regelung der Angelegenheiten der Geisteswissenschaften nicht allein die Aufgabe der Universitäten sei, sondern die Universitäten sollten in Zusammenarbeit mit den Hawza ein Konzept gemäß den islamischen Vorschriften und Werten für die jeweiligen Fächer entwickeln. Der Bereich der Geisteswissenschaften ist Khomeini zufolge der Aufgabenbereich der islamischen Wissenschaftler: Die menschlichen Angelegenheiten und die erzieherischen Angelegenheiten müssen von denjenigen gelehrt werden, die wissen, was islamische Erziehung bedeutet und was (überhaupt) Islam ist. Nicht, dass manche (Akademiker) glauben, dass der Islam nichts über die Gesellschaft gesagt hat oder nur wenige erzieherische Punkte beinhaltet. Was die menschlichen und erzieherischen Angelegenheiten angeht, ist der Islam tiefsinniger als alle anderen Schulen. Diese An513 514

Vgl. Sharafzadeh Bartar, M. (2004): S. 272-276; und Hosseini, A. A. (1977): „Islamischer Wandel in Universitäten. Sammlung von Artikeln der Seminare für Höhere Bildung“, Bd. 1-2. Vgl. Khomeini, R. (2000 h): S. 194 (freie Übersetzung P. J.).

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gelegenheiten haben die höchste Priorität im Islam. (…) Experten sind notwendig, und bezüglich dieser Themen sollen Experten der Hawza (zu den Universitäten) geholt werden. Bittet die Hawza um Hilfe, in denen solche Experten vorhanden sind, und (dann) öffnet die Universitäten. Dennoch für die Geisteswissenschaften holt Hilfe von Wissenschaftlern der iranischen Hawza, vor allem Hawzeh von 515 Qom. Wie sich aus den Äußerungen von Khomeini herauskristallisiert, sollten unter dem Konzept „Einheit von Hawza und Universität“ (vahdat-e hawza va daneshgah) nicht alle Wissenschaften durch islamische Wissenschaften ersetzt werden, denn Khomeini hat immer wiederholt, dass das Land neue Technologien und Wissenschaften brauche. Dabei handelte es sich vielmehr darum, dass Studenten aller Fächer islamische Erziehung bekommen und dadurch zur Ausprägung der islamischen Moral in der Gesellschaft beitragen sollten. Speziell bei den Geisteswissenschaften ging es dabei darum, dass die Studenten dieser Fächer außer islamischer Erziehung mit der islamischen Konzeption der Führung von Gesellschaft und Politik bekannt gemacht werden, die Schwäche der westlich und östlich orientierten Denkrichtungen erkennen und zur Gestaltung eines islamischen Staates beitragen, in der es kaum Probleme gäbe, (weil die gesamte Bevölkerung das islamische Denken und die selben Meinungen, Interessen und Ziele vertreten und verfolgen würde) und falls einige Probleme entstünden, würden sie gemäß islamischen Vorschriften behandelt. Die Idee der „Einheit von Hawza und Universität“, die bereits vor der Revolution von islamischen Intellektuellen, wie Ali Shariati, erwähnt worden war, war ein Ziel und gleichzeitig ein Mittel zur Islamisierung der Universitäten und der Gesellschaft: Diejenigen, die die Einheit von Universität und Fevziye (Hawza von Qom) nicht dulden, (wissen dass) diese Einheit zur Islamisierung der 516 Universitäten führen würde. Und andererseits diente diese Idee der Vorbeugung vor Meinungsverschiedenheiten und vor der Entwicklung verschiedener Parteien: 515 516

Vgl. Khomeini, R. (2000 d): S. 415, in: Sharafzadeh Bartar, M. (2004), S. 276 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Khomeini, R. (2000 g): S. 429 (freie Übersetzung P. J.).

174

3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

Wenn die Universität sich von den Geistlichen trennt und die Geistlichen sich von der Universität trennen (und) beide sich von (anderen Gruppen und vom) Volk trennen und (infolgedessen) verschiedene Parteien entwickelt werden, haben wir Angst, dass unsere Revolution 517 ihr Ziel nicht erreichen würde. Diese Einheit wurde trotz vieler Bemühungen und Propaganda innerhalb der über 30-jährigen Entstehung des islamischen Staates kaum erreicht. Das lag zunächst an organisatorischen Gründen. Bereits seit Beginn der Kulturrevolution und dem Aufruf Khomeinis zur Einheit von Hawza und Universität gab es nicht nur einen großen Mangel an islamisch orientierten Dozenten im Bereich Geisteswissenschaften, sondern es bestand auch wenig Möglichkeit, alle Dozenten durch Geistliche und Kleriker zu ersetzen, vor allem, weil mit der Entstehung des islamischen Staates die Kleriker viele Posten erhalten hatten und ihnen für die Übernahme der Lehre an den Universitäten kaum 518 Zeit übrig blieb. Obwohl die Geistlichkeit im Laufe der Zeit diverse Posten 519 an den Universitäten übernahm, lag das Scheitern dieser Einheit vor allem an Unterschieden ihrer Denkaxiome. Die Grundlage des Denkens an den Universitäten basiert auf Skepsis und Zweifeln. Im Rahmen der Universitäten wird der Versuch unternommen, das Unbekannte zu verstehen und vormalige Gewissheiten in Frage zu stellen. In der Hawza dagegen beginnt alles mit Gewissheit, und Kritisieren und Zweifeln finden dabei keinen Platz. Wird in der Hawza eine bestimmte Ansicht zu einem bestimmten Thema unterrichtet, wird diese Ansicht kaum analysiert und kritisiert. Es wird sogar kaum daran gedacht, dass diese Ansicht Schwächen aufweisen und fehlerhaft sein kann. Die Hawza betrachtet alles ideologisch und glaubt an eine absolute Wahrheit. Die Universitäten jedoch akzeptieren niemals eine solche absolute Wahrheit. Darin liegt ein wichtiger Konfliktpunkt zwischen Hawza und Universitäten, denn die Hawza sind fest davon überzeugt, dass die Meinungsverschiedenheiten an den Universitäten 517 518 519

Vgl. Khomeinis Rede vom 5. Juli 1979, in: Tarbiat-e Mo’alem Universität (Hg.) (1982): S. 142 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. Soroush, A. (o.J.): „Zentrale der Kulturrevolution vom Anfang bis Heute“, Teheran: Universität der Revolution, Bd. 4, S. 59, in: Roshan Nahad, N. (2004), S. 185. Um die Ziele der „Einheit von Hawza und Universität“ zu erreichen, wurde im Laufe der Zeit die Anzahl der Geistlichen an den Universitäten erhöht. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war im Jahr 2005 die Ernennung von Ayatollah Amid Zandschani, der als erster Geistlicher Präsident der Universität Teheran wurde. Nach zwei Jahren und durch mehrtägige Proteste der Studenten wurde ihm sein Amt entzogen.

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

zur Abweichung von der Wahrheit führen, und deshalb bezeichnen sie die Universitäten als Quelle der Korruption. Auf Grund dieser Unterschiede wurde die Einheit von Hawza und Universität nicht erreicht und wird auch wohl nie erreicht werden. Dennoch nahm die Einmischung der Geistlichkeit an den Universitäten durch das Projekt „Einheit von Hawza und Universität“ zu und breitete sich weit im Bereich der Lehrtätigkeit aus. Im Februar 1985 wurde die Organisation und der Verlag SAMT (Organisation für Forschung und Verfassung universitärer Lehrbücher für Geisteswissenschaften) mit dem Ziel des Verfassens von Lehrbüchern für die geisteswissenschaftlichen Fächer auf der Basis der islamischen Werte und von Lehrbüchern der islamischen Lehre gegründet. Im Rahmen dieser Organisation, die hauptsächlich von Geistlichen, aber auch von Absolventen der islamischen Fächer gesteuert wird, wurden seitdem tausende Bücher in diversen Fächern wie islamische Wirtschaft, islamische Politik, Grundsätze des islamischen Rechts etc. veröffentlicht. Wirft man jedoch einen Blick auf die Liste der bisher veröffentlichten Bücher dieses Verlages, so sieht man eine bereite Reihe von Publikationen und Büchern diverser europäischer und amerikanischer Autoren und Theoretiker in allen Berei520 chen der Philosophie bis hin zu Wirtschaft, Politik und Psychologie. Obwohl durch Veröffentlichung dieser Bücher hauptsächlich das Ziel verfolgt wurde, an diesen Theorien Kritik zu üben und ihre Schwäche im Vergleich zum Islam zu zeigen, wurden dadurch die Studenten mit diesen Denkschulen 521 bekanntgemacht. Auf der anderen Seite traten mit steigendem Kontakt der Kleriker und Geistlichen zu den Universitäten diese ebenfalls mit den Ideen und Denkrichtungen internationaler Philosophen und Theoretiker in Verbindung, was zum Aufkommen einer neuen Gruppe sogenannter religiöser Intellektueller im Rahmen des islamischen Staates geführt hat, die eine unterschiedliche Interpretation des Islam vertreten. Das Zusammenkommen dieser Gruppe mit denjenigen islamisch orientierten Personen, die bereits am Anfang der Revolution wegen ihrer unterschiedlichen Auffassung des Islams von der politi520 521

Vgl. Organisation für die Forschung und das Setzen von Universitätslehrbüchern in den Geisteswissenschaften (SAMT): „Bücherliste“, unter: http://www.samt.ac.ir/ index.aspx?siteid=1&pageid=200&g=0. Nicht nur der SAMT-Verlag ist für die Veröffentlichung der geisteswissenschaftlichen Bücher zuständig. Es gibt viele andere Verlage, die trotz intensiver Zensur versuchen, die Akademiker und Studenten mit den Werken internationaler Denker, politischen Theorien und sozialen Strukturen bekannt zu machen. Darunter zu nennen sind der Amir Kabir Verlag, Ney Verlag, Markaz Verlag, Farabi Verlag, etc.

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3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

schen Bühne ausgeschlossen worden waren, und der neuen Generation junger Studenten bildete den Höhepunkt dieser Entwicklung während der achtjährigen Regierung des Reform-Präsidenten Mohammad Khatami. Während seiner Amtszeit wurde 19 Jahre nach der Revolution eine Regierung gewählt, deren Politik auf „Meinungsfreiheit“, „Pluralismus“, „Dialogführung“ und „gesellschaftlicher Toleranz“ aufgebaut war. Ein Jahr nach seiner Wahl appellierte Khatami sogar für die Freiheit des Individuums: Um der Religion zu dienen, sollen wir sagen, dass Religion und Freiheit kompatibel sind; die Religion, die dem Menschen Respekt verleiht, respektiert an aller erster Stelle seine Freiheit. Wir müssen die 522 Hindernisse der Freiheit beseitigen. Nun war diese Ansicht so weit entfernt von der Homogenitätspolitik des Staates, dass es immer wieder zu Konflikten zwischen den Anhängern des Führers und Reformisten kam. Am Ende konnten die islamischen Fundamentalisten diesen Kampf für sich entscheiden, indem sie Ahmadinedschad als Nachfolger von Khatami bei seinem Wahlkampf unterstützten und ihn auf dem Weg zum Präsidentenamt begleiteten. Im Verlauf der Amtszeit Ahmadinedschads wurde die zweite Phase der Kulturrevolution eingeleitet, um die im Laufe der Jahre innerhalb des islamischen Staates entstandene Heterogenität zu bekämpfen und zu den Grundsätzen des islamischen Staates zurückzukehren. Während der zweiten Phase der Kulturrevolution wurden erneut viele angesagte iranische Professoren, die während der Regierung der Reformisten zur Zusammenarbeit eingeladen worden waren, entlassen bzw. zwangsweise in Rente geschickt. Zahlreiche Studentinnen und Studenten wurden verhaftet bzw. zwangsexmatrikuliert, wodurch sie teilweise für immer vom Studium 523 an den Universitäten des Iran suspendiert worden sind. Es wurden in dieser Periode allein über 90 studentische Zeitschriften und diverse Zeitungen verboten. Auch förderte Khameneie die Islamisierung der Universitäten und verlangte von der Regierung, durch verschiedene Pläne diesen Prozess zu be522

523

Vgl. Hamshahri Zeitung, (26.07.1998): „Präsident bei seinem Besuch der Kulturbeauftragten: Die Hindernisse auf dem Weg der Freiheit sollen beseitigt werden“, Nr. 1598, unter: http://www.hamshahrionline.ir/hamnews/1377/770504/ siasi.htm#siasi9. Ihre Suspendierung vom Studium könnte nach dem Regierungswechsel aufgehoben werden. Denn Hasan Rohani, der Nachfolger von Ahmadinedschad, der bei den Präsidentschaftswahlen von 2013 gewählt wurde, steht den Reformern nahe.

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

schleunigen. Vor allem kritisierte Khameneie in seiner Rede von 31. August 2009 die hohe Anzahl von Studenten in den geisteswissenschaftlichen Fächern und verlangte die Islamisierung und Einschränkung des Studiums solcher Fächer, denn: Viele geisteswissenschaftliche Fächer sind auf Philosophien basiert, deren Grundlage Materialismus und Missachtung (Unglaube an) der islamischen und göttlichen Lehre ist. Das Studium dieser Fächer ver524 ursacht Skepsis und Zweifel an den Grundlagen der Religion. Da zudem an den iranischen Universitäten nur die islamischen Geisteswissenschaften gelehrt werden sollten und die Anzahl islamischer Professoren für die Lehre für über zwei Millionen Studenten dieser Fächer nicht ausreiche, solle die Regierung des Präsidenten Ahmadinedschad, so Khameneie, unbedingt schnellstmöglich einen Plan zur Lösung dieses Problems finden und ihn durchführen. Zudem verlangte er die Verbreitung einer Atmosphäre von Knechtschaft und religiösem Glauben an den Universitäten, um das Denken, Handeln und Verhalten der Studenten vor Verdorbenheit zu bewah525 ren. Diese Kampagne war eine Reaktion auf das steigende liberale, säkulare und demokratische Denken und dessen Förderung an den Universitäten und innerhalb der Gesellschaft während der achtjährigen Amtszeit von Präsident Khatami (1997–2005), zugleich war dies eine Blütezeit für die reformistischen Parteien in Iran. Daraufhin gründete der Oberste Rat der Kulturrevolution ein Untersuchungskomitee, um für die Islamisierung der Universitäten in drei Bereichen, nämlich Professoren, Lehrbücher und Studenten, gemäß den Forderungen des Führers ein Konzept zu entwickeln. Viele Professoren und Studenten wurden aus den Universitäten verwiesen, und viele Bücher wurden aus den Bibliotheken entfernt und vom Markt genommen. Zudem wurde nach und nach die Anzahl der geisteswissenschaftlichen Fächer an den iranischen Universitäten eingeschränkt. Allein an der Allameh Tabatabaei Universität in Teheran, einer der renommiertesten geisteswissenschaftlichen Universitäten des Iran, wurden im Jahr 2011 13 von 18 geisteswissenschaftlichen Fächern 524

525

Vgl. Khameneies Rede vom 30. August 2009, (freie Übersetzung P. J.), in: Radio Farda, Politikredaktion (31.08.2009): „Khameneie kritisierte das Studium von zwei Millionen Studenten der Humanwissenschaften“, unter: http://www.radiofarda.com/ content/f4_Khamenei_criticize_human_science/1810881.html. Vgl. ebd.

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3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

gestrichen. Auch an vielen anderen Universitäten wurden Fächer wie Journalismus, Psychologie, Philosophie, Sozialwissenschaften gestrichen bzw. die 526 Anzahl der Studienplätze stark gesenkt. Saeedi, der Vertreter des geistli527 chen Führers bei den Revolutionsgarden, bezeichnete die Entwicklung der nicht-islamischen Geisteswissenschaften an den Universitäten und das damit verbundene Phänomen des „Denkens“ als die größte Bürde des Staates und forderte den Kampf gegen die Entwicklung der Geisteswissenschaften: Wir sind gefesselt (ma gereftare) mit Wissenschaft, Denken, Humanität und dem Übersetzungssystem. Denken, Wissenschaft und überset528 zerische Verwaltung sind im Konflikt mit islamischen Grundlagen. Um die Bedrohungen durch die Geisteswissenschaften zu minimieren, begann zudem das „Komitee der Islamisierung der Universitäten“ seit Januar 2013 seine Aktivitäten, mit dem Ziel, die Geisteswissenschaften zu wandeln und Universitäten zu islamisieren, vor allem durch Kontrolle von Lehrbüchern und Auswahl der Lehrkräfte an den Universitäten. Kamran Daneshjoo, Wissenschafts- und Forschungsminister, sagte in seiner Rede (2009) vor dem Präsidenten der iranischen Universitäten: Sie haben kein Recht, jemanden an den Universitäten einzustellen (damit meint er die Professoren), der dem Führer und der Verfassung nicht Gehorsam leistet. Ich sage es deutlich, wir brauchen nur dieje529 nigen, die dem Führer und der Verfassung gehorchen. Zu beachten ist, dass sogar der Vorsitzende der Vertreter des Führers an den Universitäten bestätigte, dass in den Präsidentschaftswahlen von 2009 über 70 Prozent der Universitätsprofessoren, Studenten und Akademiker die Kan526 527

528 529

Vgl. Etemad Zeitung, Teheran (06.08.2011): S. 1 Die iranischen Revolutionsgarden (sepahe pasdaran-e enghelab-e eslami) sind eine paramilitärische Organisation, die am 5. Mai 1979 von Khomeini zum Schutz des Staates gegründet wurde und zur Zeit eine der wichtigsten Säulen des islamischen Staates bildet. Im Laufe der Zeit sind ihre Spuren in allen politischen, aber auch wirtschaftlichen Bereichen des Landes zu finden. Es gibt kaum einen wirtschaftlichen Bereich, in dem die Revolutionsgarden nicht aktiv sind. Vgl. Kalameh (31.01.2011): „Saeedi: Die Revolutionsgarde beendet das größte Problem der religiösen Autorität durch grundsätzliche Wandlung der Humanwissenschaften“, http://www.kaleme.com/1389/11/11/klm-45805/?theme=fast. Vgl. BBC Persian, Politikredaktion (05.03.2010): „Kamran Daneshjoo: Universitäten sind kein Platz für Professoren und Dozenten, die gegen das Regime aktiv sind“, unter: http://www.bbc.co.uk/persian/iran/2010/03/100305_l17_daneshjoo_ university.shtml.

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didaten der Reformisten unterstützt haben, obwohl bereits Monate vor diesen Wahlen Khameneie in verschiedenen Reden auf seine Unterstützung für Ahmadinedschad hindeutete. Dies bedeutet, dass die Universitäten sich trotz enormem Islamisierungsdruck innerhalb von 30 Jahren als Kritiker des Staates und geistige Führer entwickelt haben und der Politik von Hören und Gehorchen nicht folgen wollten. Anders formuliert haben sich die Universitäten nicht zum Forum für die Erziehung von Anhängern des Staates, sondern zu einen Forum für die Entwicklung einer neuen Generation von Kritikern des Staates entwickelt. Das war eine schwere Niederlage für die Homogenisierungspolitik des Staates. Zu den weiteren Maßnahmen, die während der zweiten Phase der Kulturrevolution an den Universitäten getroffen wurde, gehörte der erneute Druck zur Vereinigung von Hawza und Universität, die Verschärfung der Geschlechtertrennungsmaßnahmen und die verstärkte Überwachung der Lehrstunden an der Universitäten. In manchen Universitäten werden sogar die Lehrstunden vollständig auf Tonträger aufgenommen. Der Staat unternimmt den Versuch, durch diese Regulierungen sein ideologisches Ziel, nämlich die Erziehung von islamisch denkenden und handelnden Menschen und sein ideologisch-politisches Ziel, nämlich die Bekämpfung der Subjektivität als Quelle der Abweichung, der Kritik, des Widerstands und der Wandlung, zu erreichen. Ein Prozess, der – wie auch die Erfahrung aus der ersten Phase der Kulturrevolution gezeigt hat – langfristig innerhalb der Gesellschaft des Iran zum Scheitern verurteilt ist, wenn er auch den Universitäten, der Gesellschaft und dem Land enormen Schaden zugefügt hat. 530

3.2.2

Konsequenzen der Kulturrevolution

Die Auseinandersetzung einer Gruppe von Geistlichen und radikal islamischen Studenten mit den rationalen Wissenschaften wie (nicht-islamische) Philosophie, durch die sie beeinflusst worden sind, gehört zu den wenigen positiven Leistungen der Islamisierung der Geisteswissenschaften. Ansonsten konnten weder das Projekt Einheit von Hawza und Universität noch die Kulturrevolution als Ganze die vorgeschriebenen Ziele in nachvollziehbarem Umfang erreichen. 530

Vgl. BBC Persian, Politikredaktion (12.12.2009): „Vertreter des geistigen Führers an der Universitäten: 70% der Akademiker haben nicht Ahmadinedschad gewählt“, unter: http://www.bbc.co.uk/persian/iran/2009/12/091212_wmj-mohammadianuniversities.shtml

180

3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

Die wissenschaftlichen Ziele der Kulturrevolution im Sinne von Indigenisierung der Wissenschaft und Erreichen der hohen internationalen wissenschaftlichen Fortschritte in kurzer Zeit (sowie in längerem Zeitraum) wurden nicht nur nicht erzielt, sondern die Universitäten erlebten vor allem während der ersten Phase der Kulturrevolution starke wissenschaftliche Tiefpunkte. Das lag hauptsächlich an mangelhaft qualifizierten Wissenschaftlern. Wie bereits gesehen verloren die Universitäten durch die Säuberungsmaßnahmen eine große Anzahl von qualifizierten Dozenten und Studenten, die entweder getötet, zwangsexmatrikuliert bzw. entlassen wurden oder das Land verließen. Während die Revolutionäre dadurch angeblich ihr Ziel, die Säuberung der Universitäten von westlich sowie östlich orientierten Fachkräften erreichten, fügten sie dadurch dem Land enormen Schaden im Bereich von Wissenschaft und Technologie zu. Das Land litt vor allem unter dem Mangel an Dozenten. Deshalb wurden die übrig gebliebenen Dozenten mit der Lehre in unterschiedlichen Universitäten überlastet, was ihnen kaum Zeit für Forschung ließ und zur Senkung der Qualität von Forschung und Lehre führte. Zudem konnten die Dozenten wegen ständiger Überwachungsmaßnahmen sich nicht ohne Bedenken der Forschung und Lehre widmen. Um das Defizit an Dozenten zu decken und zudem die Anzahl der politischen Vertreter des Regimes an den Universitäten zu erhöhen, wurden wenig qualifizierte Studenten und Absolventen, aber auch Absolventen der Hawza ohne Vorhandensein notwendiger Qualifikationen und allein auf der Basis ihrer politischen und ideologischen Orientierung als Dozenten an den Universitäten, vor allem in kleineren Städten, tätig, was ebenfalls zum qualitativen Nieder531 gang der wissenschaftlichen Forschung geführt hat. Dieser Verlust an Qualität der Forschung und Präsenz der Universitäten innerhalb der ersten Jahre der Kulturrevolution spiegelte sich gleichzeitig auf internationaler Ebene wider. Gemäß der Statistik des Institute of Scientific Information (ISI) sank die Anzahl von veröffentlichten wissenschaftlichen Artikeln iranischer Universitäten in den international anerkannten Fachzeit532 schriften von 450 im Jahre 1979 auf nur noch 120 im Jahre 1985. Ein weiterer Grund für diesen Rückgang lag darin, dass die veröffentlichten Artikel 531 532

Vgl. Zare'e, H. (2010): „Dominanz von Apolitismus über die Politikwissenschaft. Wissenssystem und Institution der Universität im Iran. Ein Interview mit Javad Tabatabaei“, in: „Mehrname Journal“, Teheran: Nr. 2, April 2010. Vgl. Khosrokhavar, F. u.a. (2002): “Report on Science in Post Revolutionary Iran. Part I: Emergence of a scientific community?”, in: “Critique. Critical Middle Eastern Studies”, 13: 2, S. 210.

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

die (neuen) islamischen und religiösen Positionen der iranischen Wissenschaft darstellen sollten. Last but not least spielte die lange Periode der Schließung der Universitäten während der ersten Phase der Kulturrevolution eine wichtige Rolle, wobei viele Universitäten den Anschluss an den wissenschaftlichen Fortschritt und die internationalen Forschungsmöglichkeiten verpasst haben. Im politischen und ideologischen Sinne waren die Anstifter der Kulturrevolution zumindest kurzfristig erfolgreicher. Durch die schnelle und lang anhaltende Schließung der Universitäten in der ersten Phase wurden die anomischen Zustände an den Universitäten, die durch Aktivitäten diverser politischer Gruppierungen und Oppositioneller entstanden waren, kurzfristig erfolgreich bekämpft. Auch in der zweiten Phase sind kurzfristige Erfolge festzustellen. Dort wo zahlreiche Anhänger der Reformisten-Parteien und Kritiker der Vereinheitlichungspolitik des Staates entlassen und verhaftet wurden, wurden für eine sehr kurze Zeit die politischen Aktivitäten und die laute Ausübung von Kritik sowie die Analyse der Schwächen des Staates und der damit verbundenen gesellschaftlichen Probleme unterdrückt. Gleichzeitig wurde die Kulturrevolution das staatliche Projekt zur Bekämpfung des freien Denkens und der freien Meinungsäußerung, der Andersdenkenden und Kulturschaffenden, was sich in der Entlassung von hunderten von Wissenschaftlern, Studenten und Professoren widerspiegelte und außerordentlich negative Auswirkungen auf die Fundamente der Universitäten als junge Institutio533 nen der iranischen Gesellschaft hinterließ. Die Islamisierung der Universitäten beziehungsweise die Ausprägung islamischen Denkens in Lehrbüchern und Curricula wurde ebenfalls nur lückenhaft umgesetzt. Das lag vor allem daran, dass keine klare Vorstellung darüber präsentiert wurde, inwiefern die Lehrstoffe islamisiert werden sollten, eine Frage, die sogar im Rahmen der zweiten Phase der Kulturrevolution unbeantwortet blieb. Die Integration von islamischer Lehre in alle Fächer und vor allem in die Geisteswissenschaften führte zwar zweifelsohne zur Entwicklung bzw. Vertiefung islamischer Werte und Lehre bei bestimmten Gruppen von Studenten und zur Auseinandersetzung von Studenten mit den Grundlagen der politischen und gesellschaftlichen Einstellungen des Islam oder besser gesagt, den Einstellungen des islamischen Staates; dennoch führ533

Das erste moderne Polytechnikum im Iran wurde im Jahr 1851 von Amir Kabir und die erste iranische Universität, nämlich die Universität Teheran, im Jahr 1934 von Reza Schah Pahlavi gegründet.

182

3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

te diese Integration im Laufe der Zeit und mit steigender Kenntnis der humanistischen und liberalen Denkschulen des Westens und zunehmendem Bewusstsein der Studenten dazu, dass seitens der neuen Generationen von Studenten und Intellektuellen vielfältige Kritik sowohl an der staatlichen Interpretation des Islam als auch am Islam als Ganzem ausgeübt wurde, was, wie des Weiteren ausführlich dargestellt wird, zu wachsenden Konflikten zwischen den neuen gebildeten Generationen und dem Staat beigetragen hat. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Kulturrevolution ein ideologisches Mittel zur Erreichung der Vereinheitlichungsziele des islamischen Staates und gleichzeitig ein politisches Projekt zur Bekämpfung der Andersdenkenden und der politischen Opposition war, die in vielerlei Hinsicht den Universitäten als den wichtigsten wissenschaftlichen Orten des Landes erheblichen Schaden zufügte und für einen längeren Zeitraum zum intellektuellen wie wissenschaftlichen Verfall innerhalb der Universitäten geführt hat. Vom Ausmaß dieses Schadens waren nicht nur die Universitäten, sondern weit mehr noch Wirtschaft, Politik und Gesellschaft betroffen. Wirtschaft und Industrie litten für einen längeren Zeitraum unter einem starken Mangel an Experten und Fachkräften. Wirtschaftliche Depression als Folge der internationalen Sanktionen, insbesondere auf Grund des achtjährigen ersten Golfkrieges (Iran-Irak-Krieg 1980–88) und das Bedürfnis nach Fachkräften und Experten waren und sind wichtige Gründe für den Misserfolg der Kulturrevolution. Denn für den Wiederaufbau des enorm beschädigten Landes sah sich die Regierung von Präsident Rafsandschani gezwungen, die iranischen Experten und Wissenschaftler, die bereits während der Kulturrevolution aus den Universitäten und sogar aus dem Land ausgewiesen worden waren, zum großen Teil ungeachtet ihrer ideologischen Orientierungen wieder einzuladen. Durch die Kulturrevolution wurde die Entwicklung eines legalen Aktionsraums für die Aktivitäten der politischen Opposition als wichtiges Gegengewicht zur Regierung und Staatspolitik blockiert. Zudem hatten die Kulturrevolution und die damit verbundene Einschränkung der Meinungsäußerung zur Folge, dass das Land während der Krisenjahre nach Gründung der Islamischen Republik Iran wertvolles Humankapital, vor allem Wissenschaftler verlor, die als Berater viele Fehlentscheidungen und Verluste hätten verhindern können. Um die ideologische Homogenität an den Universitäten zu schaffen, wurden an ihrer Stelle junge, unerfahrene und extremistische Gruppen auf Verwaltungs-, Lehr-, und Führungsebenen der Universitäten 183

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

eingestellt, deren Fehlentscheidungen und radikales Vorgehen sogar von staatlichen Institutionen und im Rahmen der Seminare und Untersuchungen bezüglich der Analyse der Kulturrevolution kritisiert worden sind. Überdies wurde während der Phase der Kulturrevolution der politische Druck auf die Studenten und Dozenten so groß, dass dies jegliche Art von Innovation, Meinungsaustausch, Analyse und Entwicklung neuer Methoden zur Bewältigung anstehender Herausforderungen lahmlegte und der Versuch fast erfolgreich endete, die Universitäten – vor allem in den ersten Jahren nach der Revolution –, vom Kopf der Gesellschaft zu machtlosen Marionetten des Staates herabzustufen. Trotz des großen Schadens, der den Universitäten zugefügt wurde, wurde das Ziel „Islamisierung der Universitäten“ im Rahmen der Kulturrevolution nicht wirklich erreicht. Insbesondere lag dieser Misserfolg daran, dass trotz Entlassung vieler Studenten und Professoren und Durchführung verschiedener ideologischer Interviews bei der Einstellung neuer Dozenten und Wiederimmatrikulation von Studenten eine bemerkenswerte Anzahl von Lehrkräften und Studenten, denen vor und während der Revolution keine auffällige politische Aktivität zu Gunsten des alten Regimes und oppositioneller Gruppierungen nachgewiesen werden konnte, wieder an den Universitäten aufgenommen wurde. Die Mitglieder der Zentrale der Kulturrevolution und die jeweiligen Komitees waren sich vielleicht damals nicht bewusst, dass diese Dozenten und Studenten in säkularen Universitäten (in- und außerhalb des Iran) studierten und es fast unmöglich war, dass sie langfristig die Dominanz der islamischen Ansichten über Wissenschaft und Denken an den Universitäten akzeptieren und sich auf die Homogenisierungspolitik des Staates auf akademischer und gesellschaftlicher Ebenen einlassen würden. Um während der ersten Phase der Kulturrevolution an die Universitäten zurückkommen zu können, präsentierten sie sich angeblich als Befürworter des Regimes und überzeugten die Muslime. Waren sie wieder an den Universitäten zugelassen, begannen sie im Laufe der Jahre ihre Auseinandersetzung mit den staatlichen Vorschriften und Vorstellungen von der Einheitlichkeit des universitären Denkweisen wiederaufzunehmen. Obwohl durch die Regelungen der Kulturrevolution die Zusammensetzung der Professorenschaft geändert wurde und viele Islamisten Lehrstühle erhielten, blieb dennoch die herrschende Ansicht unter der Dozenten unverändert. Im Laufe der Zeit wurden sogar manche Fundamentalisten von den wissenschaftlichen Argumentationen beeinflusst und kritisierten im Nachhinein die Maßnahmen der Kultur184

3.2 DIE KULTURREVOLUTION AN DEN UNIVERSITÄTEN

revolution. Dadurch, dass die Professoren und Vorsitzenden einiger Fakultäten tatsächlich nicht islamisch orientiert waren, wurden die vorgeschriebenen Regelungen der Komitees auch nicht vollständig durchgeführt. Zudem ermöglichte die Amtszeit von Präsident Khatami den Universitäten, einige hochqualifizierte iranische Professoren für sich zu gewinnen, die dem Staat sogar sehr kritisch gegenüberstanden. Gerade wegen dieser Misserfolge an den Universitäten wurde die Islami534 sierung nunmehr auf alle gesellschaftlichen Ebenen ausgeweitet. So entschied sich der Staat fast vier Jahre nach Beginn der ersten Phase der Kulturrevolution an den Universitäten, die ideologische Säuberung und islamische Erziehung auf allen anderen Ebenen und in allen Institutionen der Gesellschaft mit Hilfe einer neuen Institution durchzuführen.

3.3

Erweiterung der Kulturrevolution

Bereits am Anfang der Kulturrevolution wurde deutlich, dass das Ziel dieses Projekts nicht nur Islamisierung der Universitäten, sondern Islamisierung der Gesellschaft und Politik in jeder Hinsicht war. Aus diesem Grund wurde drei Jahre nach Beginn der Kulturrevolution an den Universitäten die Zentrale der Kulturrevolution aufgelöst und zwecks „Erweiterung und Vertiefung der islamischen Kultur auf allen Ebenen der Gesellschaft, Verstärkung der Kulturrevolution und Erhöhung (Verbesserung) der öffentlichen Kultur und Säuberung der kulturellen und wissenschaftlichen Atmosphäre von materialistischen Gedanken und Verleugnung von Erscheinungen der Verwestli535 chung“ am 10. Dezember 1983 auf Befehl von Khomeini durch den „Obersten Rat der Kulturrevolution“ (showray-e aliy-e enghelab-e farhangi) ersetzt. Seitdem ist dieser Rat eines der wichtigsten staatlichen Organe des Landes. Der Aufgabenbereich dieses Rates umfasst ein breites Spektrum. Neben der Fortsetzung und Vollendung der Projekte der Z.d.K.R. und der Verwaltung der Angelegenheiten der Hohen Bildungseinrichtungen und Universitäten entscheidet er über die Angelegenheiten aller Bildungsstufen und kulturellen Organe bzw. Bereiche und versucht sie islamisch zu regeln beziehungsweise sie islamisch zu vereinheitlichen. Anders formuliert beinhaltet der Aufgabenbereich dieses Rates die Überwachung und Lenkung aller geistig-kultureller Vorgänge des Landes. Dazu gehören die Kodifizierung der 534 535

Vgl. Janati, A. u.a. (1997): „Oberster Rat der Kulturrevolution. Zukünftige Aufgaben“, in: „Keihan-e Farhangi Zeitschrift“, Teheran: N. 132, S.7, in: Roshan Nahad, N. (2004), S. 228. Vgl. www.farhanoelm.ir.

185

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

Richtlinien der Kulturpolitik der Islamischen Republik Iran, Determinierung der Entwicklungsrichtung und Ziele der kulturellen, bildungserzieherischen, wissenschaftlichen und Forschungspläne, Festlegung der Richtlinien der Einstellung von Professoren, Dozenten und Lehrer und Bestimmungskriterien der jeweiligen Auswahlkomitees, Überwachung und Kontrolle der Inhalte und Struktur der Lehrbücher gemäß islamischen Vorschriften, Entwerfen von Plänen zwecks Erweiterung und Herrschaft der islamischen Kultur und Konzeptionen zwecks Herstellung von vollständiger Einheit von Hawza und Universität. Dafür ist es notwendig, dass die Universitäten, Schulen und kulturellen sowie künstlerischen Zentren nach Maßgabe der islamischen Kultur 536 umgewandelt werden. Auf Grund der großen Reichweite seiner Aktivitäten, die direkt mit ideologischen und politischen Prinzipien und Zielen des Staates verbunden sind, hat dieses Organ eine außerordentliche politische Bedeutung für den Staat, was mit Blick auf einige seiner derzeitigen Vorstandsmitglieder deutlich 537 wird: die Präsidenten der drei Staatsgewalten, fünf Minister, mindestens drei Parlamentarier der Kultur- und Bildungskommissionen, Leiter des Rundfunks der Islamischen Republik Iran, Vorsitzende des kulturellen und gesellschaftlichen Rats für Frauen und Familie, Vorsitzende der Organisation für islamische Propaganda, Vorsitzende der Organisation für islamische Kultur und Kommunikation sowie Vorstand der Vertreter der Führer der Universitä538 ten. Obwohl dieser Rat kein gesetzgebendes Organ ist, sind alle seine Be539 schlüsse auf Befehl von Khomeini und Khameneie als Gesetz zu betrachten: Durchführung der Beschlüsse dieses Rates soll (…) vom Präsidenten gesichert werden; das heißt, dass das Bildungs- und Erziehungsministerium, Ministerium für Gesundheit und Ministerium für Wissenschaft und Forschung nicht wagen sollen, die Durchführung seiner 536 537

538 539

Vgl. Satzung des obersten Rates der Kulturrevolution, in: www.farhangoelm.ir. Minister der folgenden Ministerien: Ministerium für Bildung und Erziehung; Ministerium für Jugend und Sport; Ministerium für Gesundheit, Behandlung und medizinische Bildung; Ministerium für Kultur und islamische Führung; Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Technologie. Die derzeitige Anzahl der Vorstandsmitglieder des Obersten Rates der Kulturrevolution beträgt 40 Mitglieder. Vorstandsvorsitzender ist immer der Präsident. Für die vollständige Liste der Mitglieder vgl. www.farhangoelm.ir. Ali Khameneie ist seit dem Tod von Khomeini im Jahre 1989 der politische und geistliche Führer des Iran.

186

3.3 ERWEITERUNG DER KULTURREVOLUTION

Beschlüsse zu verweigern. Diese Beschlüsse müssen unbedingt verwirklicht werden. Wir haben soviele wichtige Persönlichkeiten, deren Zeit so wertvoll ist, hier gesammelt. Wenn ihre Beschlüsse nicht durchführt werden, ist es sinnlos. (…) Alle Führungskräfte sollen es sich zur Pflicht machen, ihre Beschlüsse durchzuführen. (...) Sagt nicht, dass dieser Rat nicht das Parlament ist. (…) Imam (Khomeini) hat es gesagt und wir sagen es auch, die Beschlüsse dieses Rates sind 540 dem Gesetz gleichzusetzen. Als Spitze der kulturellen Führung des Landes überwacht dieser Rat mit Hilfe seiner 17 Ausschüsse und Komitees alle Aspekte der kulturellen, künstlerischen, ideologischen und politischen Vorgänge. Beschlüsse über den islamischen Dresscode der Angestellten des öffentlichen Dienstes, Studenten, Professoren, Schauspieler und Mitarbeiter der Medien, Erweiterung der Hidschab-Propaganda, Entdeckung und Bekämpfung von Phänomenen der Verwestlichung in der Gesellschaft wie Kleidung, Musik, Filme, Bücher und westliches Verhalten, Erweiterung der antizionistischen und antiamerikanischen Propaganda und Vertiefung des Geistes des Dschihad ( jihad) in allen Bevölkerungsgruppen, Verstärkung der islamischen und koranischen Werte, Kultur und Kunst in der Gesellschaft durch Bildung und Medien, Bekämpfung der antiislamischen Propaganda des Westens, Überwachung aller Medien, Rundfunk, Kino, Musik, Theater, Internet etc. und Feststellung von Rechtslinien zwecks ihrer Säuberung von westlichen Elementen und sogar die Überwachung der Produktion von Spielzeugen gehören zu den umfang541 reichen Aufgabenbereichen des Rates. Zwecks Durchsetzung der Islamisierung und Homogenisierung der Gesellschaft stehen den Mitgliedern des Rates alle Macht- und Propagandamittel und enorme finanzielle Kapazitäten zur Verfügung. Verbreitung des islamischen Geistes ist vor allem eine Bildungsangelegenheit und wird durch Beschlüsse dieses Rates und anhand direkter und indirekter Bildungsmaßnahmen an den Schulen, in der Presse und in den Medien, aber auch in religiösen Einrichtungen wie Moscheen umgesetzt, was im Folgenden näher dargestellt wird.

540 541

Vgl. Khameneie, in: www.farhangoelm.ir (freie Übersetzung P. J.). Vgl. www. farhangoelm.ir und http://pcci.ir/index.phpoption=com_content&view= article&id=92:6&catid=161:1&Itemid=480; und http://pcci.ir/index.php?option= com_content&view=article&id=865:880728111026&catid=161:1&Itemid=483.

187

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

3.3.1

Islamische Bildung und Erziehung in den Schulen

Die Säuberung der Schulen hatte bereits vor der Gründung des Obersten Rates der Kulturrevolution und einige Monate nach den Geschehnissen an den Universitäten begonnen. Nach der Rede von Khomeini zu Beginn des Schuljahrs 1981 fand die Säuberung der Bildungssphäre ihre Auswirkung auch an den Schulen: Die glaubenstreuen Schüler, Studenten und Dozenten (sind) verpflichtet, mit all ihrer Kraft zu versuchen, die Verdorbenen ausfindig zu machen und die Bildung und Erziehung von ihrem Schmutz zu reinigen. Die Einflussnahme dieser Kräfte ist nicht nur auf die Universitäten begrenzt, da es für diese Heuchler und Abtrünnigen wichtiger ist, an den Gymnasien und anderen Schulen Einfluss zu gewinnen, um diese Jugendlichen für ihr abweichendes Verhalten an den 542 Universitäten vorzubereiten. Danach kam es zu einer Welle von Entlassungen und Verhaftungen von über 40.000 Lehrern, die entweder zu oppositionellen Gruppierungen gehörten oder sich gegen Khomeini oder den islamischen Staat kritisch äußerten, denn 543 nach Khomeini galt: „Nicht-Maktabis können keine Maktabis erziehen.“ Um wieder an die Schulen zurückkehren zu können, sollten sie einen Reuebrief (tobeh-nameh) verfassen und sich von ihren Äußerungen und ihrem angeblich nichtislamischen Glauben distanzieren und für die Zukunft die Unterstützung des Staates zusichern. Dennoch wurden einige oppositionelle Lehrer und Schüler verhaftet und vor islamische Gerichte gestellt. Als Folge waren Schüler und Lehrer sehr erschüttert und versuchten fortan, sich an die Richtlinien des Ministeriums für Bildung und Erziehung und islamischer Or544 gane und Vereinigungen zu halten. Nach Gründung des Obersten Rates der Kulturrevolution wurden die wichtigsten Schritte zur Islamisierung des Bildungssystems begonnen. Am 14. Februar 1988 wurde vom Parlament ein Gesetz verabschiedet, in dem die Hauptziele der Bildung und Erziehung in zwei Artikeln und insgesamt 16 Absätzen festgelegt wurden. Außer den Absätzen 6 und 7 Artikel 2 dieses Gesetzes, in denen es sich um Lehre der Wissenschaften (auch islamischen 542 543 544

Vgl. Botschaft des Imam zum Anfang des Schuljahres am 23.09.1981, in: Grämmer, G. (2003): S. 385. Vgl. Wahdat Hagh, W. (2003): S. 223. Vgl. Grämmer, G. (2003): S. 284-5.

188

3.3 ERWEITERUNG DER KULTURREVOLUTION

Wissenschaften) zwecks Unabhängigkeit und Entwicklung des Landes handelt, beinhaltet der Rest der Absätze religiöse, ideologische und politische Zwecke, wie Verstärkung und Vertiefung der religiösen und ideologischen Grundsätze des Islams, Verankerung des Glaubens an Gott und die Propheten und Imame, Lehre der islamischen Weltanschauung, Beten, Lernen von Gebeten und Durchführung islamischer Zeremonien, Bedeutung der islamischen Brüderschaft sowie Glaube und Folgsamkeit gegenüber dem obersten 545 Rechtsgelehrten (valiye faghih). Diese Lernziele werden bereits mit der 546 Kindergartenzeit obligatorisch. Aufgrund dieses Gesetzes wurden grundsätzliche Veränderungen in der Organisation und den Inhalten der Lehrbücher und Curricula durchgeführt. Diese Änderungen begannen mit dem Ersetzen der Namen von Schulen durch islamische Namen bzw. Namen von Imamen, Geistlichen, aber auch Märtyrern. Der Schultag beginnt in allen Stufen mit der Rezitation einiger Verse aus dem Koran und mindestens einer Erzählung von Mohammad oder Imamen auf dem Schulhof. Der Koran und der Religionsunterricht sind feste Bestandteile aller Bildungsstufen, und die jeweiligen Bücher dafür werden 547 überwiegend von Gelehrten der Hawza verfasst. Ebenfalls Pflicht ist für alle Schüler der Unterstufe und Oberstufe der Sekundarschulen der Unter548 richt der arabischen Sprache als der Sprache des Korans. Zudem wird in vielen Schulen das Mittagsgebet von einem Kleriker durchgeführt, und die Schüler sind in manchen Schulen direkt oder indirekt (wegen des Einflusses auf die Note in Disziplin) gezwungen, daran teilzunehmen. Die Anzahl von Gebetsräumen bzw. Gebetshallen an iranischen Schulen sowie der dort beschäftigten Kleriker ist seit Anfang der Aktivitäten des oberen Rates der Kulturrevolution enorm gestiegen. Zweck dieser Entwicklung ist es, die Kultur 545 546 547

548

Vgl. Safavi, A. (2004): „Geschichte der Bildung und Erziehung im Iran. Von der Antike bis 2001“, Teheran: Roshd Verlag, S. 185-6. Vgl. „Ziele der Bildung und Erziehung im Kindergarten und in Grundschulen“, in: ebd.: S. 187. Der Inhalt dieser Bücher behandelt sogar die Frage, wie sich ein Muslim oder Muslime kleiden sollen oder wie die Trauerfeier für den Todestag der Imame (besonders des 4. schiitischen Imam) durchgeführt werden soll etc. Außerdem geht es um die Frage, was geschehen würde, wenn man diesen Anweisungen nicht folgen würde. Vgl. Daftar-e Barname Rizi va Talif Ketabhaye darsi (Organization für die Planung und Verfassung von Lehrbüchern) (Hg.): „Himmlische Geschenke. Lehrbuch der islamischen Bildung und Erziehung, 3. Klasse“, unter: http://www.chap.sch.ir/sites/ default/files/lbooks/91-92/4/kole%20ketab-C12.pdf. Jedoch beschränkt sich der Unterricht in der arabischen Sprache eher auf die Grammatik, so dass die Schüler trotz mehrerer Jahre Sprachunterricht kaum Arabisch sprechen bzw. verstehen können.

189

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

des Betens in den Kindern und Jugendlichen zu verankern. Die Präsenz der Kleriker im Bildungssystem des Iran ist aber weit über die Abfassung von Büchern und das Veranstalten der Gebetsstunden hinaus an den Schulen entwickelt worden. Deren Präsenz stieg vor allem durch die Gründung der „Institution der Zusammenarbeit von Hawza und dem Bildungs- und Erzie549 hungsministerium.“ Die Kleriker wurden im Laufe der Zeit, vor allem seit 2005, als Schulleiter, Erziehungs- sowie Religionsberater, aber auch Lehrer 550 für politische Erziehung an den Schulen tätig. Allein von 2009 bis 2011 ist die Anzahl der an den Schulen beschäftigten Kleriker um über 30 Prozent ge551 stiegen. Zudem spielen sie eine wichtige Rolle bei den Normalschulen und Lehrerbildungsuniversitäten (daneshgah-e tarbiyat-e mo’alem). Die islamische Bildung und Erziehung erfolgt vor allem durch die Fächer Sozialkunde und Geschichte. In beiden Bereichen sollte die pan-iranistische Zielsetzung der Pahlavi-Dynastie durch den Pan-Islamismus ersetzt werden. Die Geschichte des Iran wird zwar in den Geschichtsbüchern gelehrt, aber der wichtigste Teil beinhaltet die Geschichte des Iran nach dem Einbruch des Islam. Auch wurde die Geschichte des Islam, unter anderem der Krieg des Propheten, seine Auswanderung von Mekka nach Medina, aber auch die Lebensgeschichten von Imamen nach dem Tod des Propheten in die Curricula integriert. Auf der anderen Seite werden im Fach Sozialkunde, neben der Einteilung in soziale und politische Organisationen und Ordnungen (wie Verfassung und die drei Gewalten), nicht nur die Rolle eines Muslims in der Gesellschaft (wie das Festhaltung am islamischen Dresscode zum Schutz der Gesellschaft und seine aktive Teilnahme an religiösen Feiertagen, besonders an der Trauerfeier wie Ashura), sondern auch die Prinzipien des velayate faghih dargestellt und seine Gefolgschaft als Pflicht dargestellt. Bei näherer Betrachtung dieser Bücher finden wir sehr widersprüchliche Passagen. Beispielsweise lesen wir im Buch zur Sozialkunde: Gott hat nicht alle Menschen gleich erschaffen und sie sind in ihrer 549

550 551

Vgl. Organisation für die Zusammenarbeit zwischen Hawza und dem Ministerium für Bildung und Erziehung: „Bildungs- und Erziehungsministerium: Unser Bildungssystem soll Koran-orientierter werden“, unter: http://www.hamkariha.ir/nws/ snt1962.aspx. Vgl. BBC Persian, Politikredaktion (25.05.2010): „Hawzas Kontrolle über die Lehrbücher“, unter: http://www.bbc.co.uk/persian/iran/2010/05/100525_l07_iran89_ textbooks_schools.shtml. Vgl. Fars Nachrichtenagentur, Provinzredaktion (05.06.2012): „Bildungs- und Erziehungsminister: 30-prozentiger Zuwachs der Kleriker an den Schulen“, unter: http://www.farsnews.com/newstext.php?nn=13910615000681.

190

3.3 ERWEITERUNG DER KULTURREVOLUTION

Denkweise und ihrem Geschmack unterschiedlich. Wir sollen diese Wahrheit akzeptieren, dass die Menschen unterschiedliche Denkweisen und Gefühle haben, und sie können erst dann ein harmonisches Zusammenleben führen, wenn sie ihre Unterschiede akzeptieren und sich gegenseitig wie Brüder behandeln. (…) In der islamischen Gesellschaft sind alle Brüder. (…) In der Sozialkunde des ersten Jahres der Unteren Oberstufe (sal-e aval-e rahnamayi) haben wir im Kapitel „Führung“ gesagt, dass in einer Gruppe die Mitglieder frei sind, ihre Meinungen zu äußern und der Gruppenleiter ihren Meinungen zuhört. Wenn jedoch der Gruppenleiter eine Entscheidung trifft, sollen diejenigen, deren Meinungen von der des Gruppenleiters abweichen, gemäß seinen Anweisungen handeln. Deshalb stellen wir fest, dass in einer islamischen Gesellschaft erst dann Einheit und Homogenität zustande kommt, wenn die Menschen trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten und trotz der Tatsache, dass sie diese Unterschiede zum Ausdruck bringen dürfen, sich den Entscheidungen des Füh552 rers unterwerfen und nur seinen Anweisungen folgen müssen“. Anhand dieses Beispiels kann man gut zeigen, wie die unlösbaren Widersprüche in der islamischen Konzeption aussehen. Einerseits werden die Pluralität und individuelle Unterschiede anerkannt, dennoch wird gleichzeitig ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die islamische Gesellschaft homogen sein sollte und deshalb die Bevölkerung nur den Entscheidungen des Führers folgen soll. Andere Phänomene in iranischen Lehrbüchern sind die Lehre der Wertlosigkeit der Welt und die starke Betonung des Jenseits, die Verfolgung eines einfachen Lebensstils (vor allem anhand der Bilder in den Lehrbüchern), die Verbreitung eines islamischen Vorbilds für Frauen, deren Rolle überwiegend als Mutter und Hausfrau dargestellt wird (was der gesellschaftlichen Realität widerspricht). Aber auch die starke Betonung der „Kultur des Märtyrertums“ ist ein wichtiger Bestandteil der Lehrbücher. Allein innerhalb der dreijährigen Stufe der unteren Oberschule (Rahnamayi) wurden Begriffe wie „Märtyrer“ und „Märtyrertum für den Islam“ allein in den Büchern für die Fächer Religion, Literatur und Sozialkunde 101 Mal wiederholt, und mehrere Lektio552

Vgl. Sozialkunde des 3. Jahres der unteren Oberschule (rahnamayi) im Schuljahr 2012-13, Teheran: Verlag der Veröffentlichung der Lehrbücher im Iran, S. 72-73, (freie Übersetzung P. J.), in: http://www.chap.sch.ir/sites/default/files/lbooks/ 91-92/4/kole%20ketab-C12.pdf.

191

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

nen sind diesen Themen gewidmet. Dabei wird das glückliche Leben, das die „Märtyrer“ im Jenseits erwartet, akzentuiert und darauf hingedeutet, dass die Muslime ihr Leben für den Islam opfern sollen. 553 Die Gründung von „Koranschulen“ seit 2012 zwecks Verhinderung der Ausprägung von Abnormalität in der islamischen Gesellschaft und Bildung des islamischen Lebensstils von Kindheit an, Verstärkung der Aktivitäten der schulischen Basij und religiösen Prediger an den Schulen, Veranstaltung von Ausflügen zu religiösen Gebieten und Städten, aber auch zur Grabstätte von Khomeini, Bedeckung der Schulhöfe und Korridore mit Versen aus dem Koran, Erzählungen von Imamen, aber auch politischen Sätzen wie Teilen von Khomeinis Reden, beispielsweise: „Gehorcht euren obersten Rechtsgelehrten (Führern), damit euch nichts zustößt“, gehören zu weiteren Aktivitäten zwecks Islamisierung des Bildungssystems und der Erziehung einer islamisch denkenden Generationen. In den letzten Jahren wurde die Islamisierung der Schulen beschleunigt. Neben den oben erwähnten Anordnungen wurde zwecks Geschlechtertrennung die Anzahl der männlichen Lehrkräfte an den Mädchenschulen stark gesenkt (Frauen dürfen nach der Grundschule nicht mehr in Jungenschulen lehren), und von nun an kann nur in Ausnahmefällen ihre Tätigkeit an Mädchenschulen genehmigt werden. Zudem wurden im Rahmen der zweiten Phase der Kulturrevolution, seitens der Hawza, aber auch des Obersten Rates der Kulturrevolution, das Thema Moschee-Schulen zur Diskussion gestellt. Danach soll neben jeder Schule entweder eine Moschee gebaut oder der Unterricht an den Moscheen abgehalten werden. Zwar wurde dieser Vorschlag nicht als Gesetz verabschiedet und eingeführt, dennoch wurde durch das Projekt „Schule-Moschee-Assoziation“ die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Moscheen verstärkt. Beispielsweise bieten die Moscheen während der Ferien diverse kulturelle Programme an, an denen die Schüler zum Teil kostenlos teilnehmen können, wobei der Versuch unternommen wird, sie spielerisch mit islamischen Werten vertraut zu machen. Für die Verschärfung der Islamisierungsmaßnahmen an den Schulen gibt 553

Am 22. Mai 2012 wurde der Beschluss des Bildungs- und Erziehungsministeriums zur Gründung der Koranschulen im Land den jeweiligen Ämtern erteilt. Die Koranschulen sind hauptsächlich Grundschulen und ihr Curriculum beinhaltet neben den üblichen Fächern wie Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte etc. bis zu sechs Extrastunden Koranunterricht und koranische Qualifikationen. Vgl. Jam-e Jam Nachrichtenagentur, Bildungsredaktion (08.07.2012): „Bildungs- und Erziehungsministerium erteilte den Auftrag zur Inbetriebnahme der Koranschulen“, unter: http://www1.jamejamonline.ir/newstext.aspx?newsnum=100814128235.

192

3.3 ERWEITERUNG DER KULTURREVOLUTION

es v.a. zwei Gründe. Zunächst liegt das an der Erkenntnis des Staates, dass die bisherigen Islamisierungsmaßnahmen zum großen Teil nicht erfolgreich waren und ein bemerkenswerter Anteil der neuen Generation sich weit von 554 den islamischen Werten weg entwickelt hat. Zum anderen liegt der Grund für diese Politik in der Feststellung, dass es viel schwieriger ist, die Islamisierung an den Universitäten durchzuführen, anstatt die Gedanken der ganz jungen Menschen von Anfang an zu beeinflussen. Morteza Moghtada’ie, der Leiter der Hawza von Ghom, hat diese Tatsache folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Falls wir es schaffen, das Bildungs- und Erziehungssystem (an den Schulen) zu islamisieren, besteht kein Bedarf mehr, die Universitäten zu islamisieren, denn (dadurch) sind die Schüler grundsätzlich rich555 tig erzogen worden. Der Versuch, islamische Werte in den Gedanken und im Verhalten der neuen Generationen von Kindheit an zu verankern, zeigt sich auch in Kinderbüchern und Hörbüchern und in den Theater- und Fernsehprogrammen für Kinder und Jugendliche, in denen versucht wird, die Werte des Islam hochzu556 halten. Die Islamisierung der Gesellschaft wird zugleich durch indirekte Bildungsmaßnahmen für alle Altersgruppen verfolgt, die anhand dreier Beispiele dargestellt wird. 554

555 556

Dabei ist zu beachten, dass die islamische Erziehung der Kinder innerhalb der Familie (außer bei den religiösen Familien) nicht sehr gepflegt wird. Vor allem bei den Familien mit akademischer Bildung der Eltern ist dieses Phänomen zu beobachten, denn ihre Werte unterscheiden sich erheblich von den islamischen Werten, die vom Staat verbreitet werden. Vgl. Modares oloom, M. (12.06.2010): „Islamisierung der Schulen. Die absolute Kontrolle der Regierung über das Bildungssystem?“, unter: http://www.rahesabz.net/ story/17219/ (freie Übersetzung P. J.). Nicht alle im Iran veröffentlichten Kinderbücher und produzierten Theater- und Kinderprogramme beinhalten religiöse Themen, und es werden jährlich zahlreiche Märchenbücher und literarische Werke für Kinder und Jugendliche veröffentlicht, die weder ideologische noch politische oder religiöse Inhalte haben. Dennoch ist die staatliche Investition in solche kulturellen Produkte, die die Richtlinien des Staates präsentieren, sehr hoch. Die kulturellen Produkte ohne ideologischen Inhalt erhalten kaum finanzielle Unterstützung vom Staat und müssen sogar für das Erteilen der Veröffentlichungs- bzw. Produktionserlaubnis viele Hürden überwinden. Im Gegensatz dazu werden die staatlichen Produkte für Kinder mit religiösen und ideologischen Inhalten, zum Beispiel CDs, Hörbücher und Märchenbücher, sogar zum größten Teil kostenlos den Kindergärten und Moscheen gegeben, damit diese sie den Kindern schenken.

193

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

3.3.2

Medien, Moscheen, Bibliotheken

Medien sind die wichtigsten Propagandamittel des Staates zwecks Homogenisierung der Gesellschaft. Der staatliche Rundfunk widmet die meisten seiner Kapazitäten den islamischen Vorträgen und Sendungen. Wurden im Jahr 1977 von insgesamt 4554 Stunden produzierter Fernsehprogramme nur 117 Stunden (das heißt, nur 2,5% der insgesamt produzierten Programme, und das nur in einem Sender) den religiösen Programmen gewidmet, ist diese Zahl 2007 auf mehr als 21 Prozent aller Fernseh- und Radioprogramme ge557 stiegen. Im Jahr 2007 haben von insgesamt 62.983 produzierten Fernsehprogrammen 13.415 Programme einen religiösen Inhalt und ebenso von ins558 gesamt 173.841 Radiosendungen 34.137 Programme. Es stehen zurzeit keine genauen Statistiken von 2008 bis heute zur Verfügung. Es wird aber geschätzt, dass die Anzahl der religiösen Sendungen während der Regierung von Präsident Ahmadinedschad stark angestiegen ist. Sogar 2007 stellen die religiösen Sendungen die größte Kategorie der produzierten Programme. Zu beachten ist, dass diese Statistiken nur die direkten religiösen Sendungen wie religiöse Vorträge etc. beinhalten. Religiöse und ideologische Programme sind aber Inhalt fast aller anderen Sendungen und sogar in den Nachrichten zu sehen. Seit 2009 sollen alle Nachrichtensprecher am Beginn der Sendung außer der Formulierung „Im Namen Gottes“ auch den Propheten und seine Familie grüßen. Zudem werden in Filmen, TV-Serien, Talkshows, Serviceprogrammen, Hörspielen, Kinderprogrammen und sogar Kochsendungen religiöse und ideologische Inhalte einbezogen. Zudem sind in den letzten Jahren Radio- und Fernsehanstalten gegründet worden, die rund um die Uhr religiöse Programme ausstrahlen. Darunter zu nennen sind der Koransender, das Koran-Radio und Radio Neday-e Islam. Um jede Art der Abweichung von islamischen Vorschriften zu verhindern, werden alle Sendungen und Programme in vielerlei Hinsicht überwacht und mehrmals zensiert, wodurch die Qualität des Rundfunks in Iran drastisch gesunken ist. Das ist ein wichtiger Grund, warum Satellitenschüsseln (zum Empfang ausländischer Sender) innerhalb der Grenzen des Iran sich so sehr verbreitet haben. Eine beachtliche Ausnahme innerhalb der 35-jährigen Konsolidierung der Islamischen Republik Iran ist während der Amtszeit von Präsident Mohammad Khatami festzustellen. Zum Beispiel haben im Jahr 2003 von den 557 558

Außer Provinz-TVs und Radiosendungen. Vgl. http://amar.sci.org.ir/: Statistische Daten für Kultur und Massenmedien 1977 und Statistische Daten für Kultur und Tourismus 2007.

194

3.3 ERWEITERUNG DER KULTURREVOLUTION

insgesamt 29.513 produzierten Radiosendungen nur 3793 Programme religiösen Inhalt. Die höchste Zahl der produzierten Radiosendungen war in diesem Jahr den politischen Sendungen gewidmet (16.821 Sendungen). Von 45.857 produzierten Fernsehsendungen waren 7657 mit religiösem Inhalt. Die höchste Anzahl der Fernsehprogramme dieses Jahres sind in der Kategorie 559 „gesellschaftliche Sendungen“ zu finden. Neben dem Rundfunk gehören die Printmedien zu den bedeutsamsten Propaganda- sowie Bildungsmitteln des Staates zwecks Islamisierung des Landes. Bücher und Zeitschriften waren in zweierlei Hinsicht von den Islamisierungsmaßnahmen betroffen. Zunächst wurden mit Beginn der Kulturrevolution viele „verdorbene Bücher“ entweder vollständig vernichtet oder in nicht zugänglichen Archiven gelagert. Um die Schädigung der Gesundheit der islamischen Gesellschaft zu verhindern, wird die Veröffentlichung aller Printmedien und Bücher vom Ministerium für Kultur und islamische Führung überwacht, und kein Buch kann ohne Genehmigung dieses Ministeriums veröffentlicht werden. Eine größere Anzahl von Büchern vor allem im Bereich Philosophie, Theologie, Politikwissenschaften, Sozialwissenschaften und Literatur sind von der Zensur vor, während und nach der Veröffentli560 chung betroffen oder es wird ihnen überhaupt keine Genehmigung erteilt. Auf Grund dieser starren Politik bezüglich Autoren und Medien hat Iran im internationalen Ranking seit Beginn der Revolution eine der schlechtesten 561 Platzierungen bezüglich der Pressefreiheit. Zwecks Ausprägung islamischer Erziehung und Bildung islamisch denkender Generationen machte der Staat eine enorme Investition in religiöse und ideologische Bücher. Seit Gründung der Islamischen Republik Iran erleben die Bücher mit religiösem Inhalte einen enormen Zuwachs im Vergleich 562 mit anderen Themenbereichen. Seitdem liegen fast immer über 20 Prozent aller Veröffentlichungen in diesen Bereichen. Außerdem ist die Anzahl der 559 560 561

562

Vgl. http://amar.sci.org.ir/ Statistische Daten von 2003 für Kultur und Tourismus. Vgl. Hejazi, A. (2011): “You don’t deserve to be published. Book Censorship in Iran”, in: LOGOS (Journal of the World Publishing Community), Vol. 22, Issue 1, S. 53-62. Vgl. Reporter ohne Grenzen: „Rangliste der Pressefreiheit“, unter: http://www.reporter-ohne-grenzen.de/ranglisten/rangliste-2013/. Zu beachten ist, dass sich die Stellung des Iran in diesem Ranking während der Amtszeit von Präsident Khatami verbessert hatte. Bereits vor der Revolution waren die religiösen Bücher die am häufigsten veröffentlichten Werke. (Vgl. http://amar.sci.org.ir/. Statistische Daten zur Kultur in den Jahren 1974–79.) Es liegt höchstwahrscheinlich an der hohen Anzahl von veröffentlichten Koranausgaben und Nahjol Balagheh.

195

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

religiösen Zeitschriften außerordentlich gestiegen. Zwar hat Iran dank großer Investitionen in ideologische Bücher eine der oberen Positionen im internationalen Ranking in Hinblick auf die Anzahl der veröffentlichten 563 Buchtitel; werden diese Veröffentlichungen jedoch qualitativ betrachtet, ist im Laufe der Jahre ein deutlicher Rückgang festzustellen. Anhand dieser Bücher wird nicht der Versuch unternommen, den Menschen zum selbständigen Denken zu ermutigen, sondern es werden Unterwerfung, Fatalismus und 564 Nachahmung betont. Zurzeit werden außer dem Koran, mafatihol-janan 565 und nahjol Balagheh, die immer zu den am häufigsten veröffentlichten Büchern gehörten, Bücher über den Hidschab, das Beten und Gebete, das Jenseits, Bestrafungen nach dem Tod, Geschichten über die Imame und Propheten, diverse Koranexegesen, Einflüsse der Sünden auf das menschliche Leben, aber auch ideologisch-politische Bücher wie die Werke und Vorträge von Khomeini und Veröffentlichungen über die Statthalterschaft der Rechtsgelehrten mit staatlicher finanzieller Unterstützung millionenfach neu aufgelegt. Beispielsweise wurde das Buch von Ayatollah Javadi Amoli, mit dem Titel „Schlüssel des Lebens“ (mafatihol-hayat) allein im Jahr 2012 92-mal neu566 herausgegeben. Dieses Buch, das als beste Quelle des islamischen Lebensstils bezeichnet wurde, beinhaltet fünf Kapitel, die das private Leben des Einzelnen bis hin zu seiner Interaktion mit dem islamischen Staat untersuchen und in denen die islamische Lebensweise vorgeschrieben wird, an die sich die 567 Muslime halten sollen. Der Staat hofft, dass durch die Anweisungen dieses Buches die Bevölkerung insgesamt sich zu aufrichtigen Muslimen entwickelt und ihre Lebensweise islamisch homogenisiert wird. Eine beträchtliche Anzahl dieser Bücher wird in allen staatlichen Institutionen, Organisationen und Verwaltungsbehörden, Moscheen, Kulturhäusern, religiösen Einrichtungen, aber auch an Schulen unter den Angestellten, Besuchern, Schülern und Studenten kostenlos verteilt. Dank dieser Bücher 563 564 565 566 567

Vgl. http://www.worldometers.info/books/. Ein Buch mit ausgewählten Suren des Koran, Taaqeebat-e Namaz (Handlungen der Anbetung nach dem Gebet), Erzählungen von Ahl-e Beit (Familie des Propheten) und Ziyarat-Nameh (Gebete für religiöse Orte). Die berühmteste Sammlung von Predigten, Briefen, Tafsire (Interpretationen des Koran) und Erzählungen, die Ali (dem ersten Imam der Schiiten) zugeschrieben worden sind. Vgl. Revagh Kultur und Forschungsgruppe (28. 03. 2013): „Marktbestseller 2012: das populärste Buch des Jahres war ein religiöses Werk“, unter: http://www.bookfest.ir/ fa/index.php?Page=definition&UID=200509. Vgl. Javadi Amoli, A. (2011): „Mafatihol Hayat”, Teheran, Qom: Osra Verlag.

196

3.3 ERWEITERUNG DER KULTURREVOLUTION

verfügen viele Moscheen über eine Bibliothek, wodurch ihre Stellung als kul568 turelle Zentren verstärkt werden sollte. Die Erweiterung der Anzahl und der Bau neuer Moscheen und anderer religiöser Einrichtungen wie ememzadeh, tekiyeh etc. als Zentren für islamischen Glauben und Kultur gilt als wichtiges Ziel des Obersten Rates der Kulturrevolution. Gemäß den vorhandenen Daten gab es in den 70-er Jahren zir569 ka 5600 Moscheen in Iran. Diese Zahl verzehnfachte sich bis zum Jahr 1996 570 (57.635 Moscheen) und betrug im Jahr 2010 gar 72.000. Während sich die Bevölkerung seit Beginn der Revolution mehr als verdoppelte, erlebten die Moscheen ein Wachstum um das 128-fache. Es ist geplant, dass bis 2025 die Anzahl der Moscheen 92.000 erreichen soll. Moscheen, teils sogar mehrere, sind heutzutage in allen Dörfern und Kleinstädten des Iran zu finden und werden immer prächtiger gebaut. Durch Milliardeninvestitionen für den Bau von Moscheen werden zwei wichtige Ziele verfolgt: Die Moscheen werden als Vertreter des Staates bezeichnet. Durch den Bau von Moscheen signalisiert der Staat, dass er die Nähe zur Bevölkerung pflegt und quasi immer für sie da ist. Dadurch sollte die Solidarität der Bevölkerung mit dem religiösen Führer und den Institutionen vor allem in den kleinen Dörfern und Städten 571 steigen. 568

569 570 571

Die Bibliotheken der Moscheen, besonders in Großstädten und in besseren Stadtvierteln, verfügen durchaus auch über geschichtliche, wissenschaftliche und belletristische Werke, darunter auch von europäischen und amerikanischen Autoren. Außerdem sind Nachhilfebücher für Schüler fast aller Stufen in solchen Bibliotheken zu finden. Ansonsten aber sind die Bibliotheken der Moscheen durchaus religiös orientiert. Ein Ziel war, dass die Bibliotheken der Moscheen sich im Laufe der Zeit zu einer wichtigen Konkurrenz für andere Bibliotheken entwickeln. Vgl. Abrahamian, E. (1998): „Der Iran zwischen zwei Revolutionen“, Teheran: Ney Verlag, S. 532. Vgl. Quran News Agency. http://ca.iqna.ir/qom/news_detail.php?ProdID=732321. Diese Angaben beinhalten keine weiteren religiösen Einrichtungen außer Moscheen. Bereits vor der Revolution verfügten die Kleriker über die fast vollständige Unterstützung der unteren Schichten der Gesellschaft und der religiösen Familien. Dieser Teil der Gesellschaft war vor allem mit seiner wirtschaftlichen Lage sehr unzufrieden. Der Staat scheiterte trotz verschiedener wirtschaftlicher Fortschritte an einer gleichmäßig balancierten Verteilung des Wohlstands. Das Nationaleinkommen des Landes stieg durch den steigenden Ölpreis und Ölexport enorm an, jedoch wurden die meisten Investitionen in großen Städten und vor allem im Dienstleistungssektor durchgeführt. Der landwirtschaftliche Sektor, von dem fast die Hälfte der Bevölkerung abhing, fand nur wenig Beachtung. Deshalb sank das Einkommen dieses Sektors im Laufe der Zeit, so dass 1977 nur 14,7 Prozent des nationalen Outputs aus diesem Sektor stammten. Das war auch der Grund, warum Kinder aus diesen Regionen nach dem Studium in großen Städten nicht mehr zurückkehren wollten. Wäh-

197

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

Mehr Bedeutung hat aber die erzieherische Rolle der Moscheen. Im Rahmen der Programme und Vorträge (vor allem der Predigten nach dem Gebet) in den Moscheen werden religiöses Denken, Fatalismus, vernunftsferne Denkweise (kheradgorizi), Begehren nach dem Jenseits, Nachahmung, Wertlosigkeit der weltlichen Ambitionen und vor allem Egalitarismus gelehrt, wodurch Vernünftigkeit und Bewusstsein keinen Raum für Entfaltung 573 finden können. An dieser Stelle können die Ziele des Staates anhand eines Vergleichs zwischen der Wachstumsrate der Moscheen und der Entwicklung von Bibliotheken als der wichtigsten Quellen für die Weitergabe und Förderung von Wissen, Denken, Aufklärung und Infragestellung von Macht und Religion besser geklärt werden. 572

572 573

rend dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation bekamen viele dieser Familien Unterstützung von Geistlichen. In jeder Straße, gleich ob in Dörfern oder Städten, gab es eine Moschee, und in jeder Moschee gab es mindestens einen Kleriker, der immer für die Menschen da war. Sie pflegten die Nähe zu den schwachen, aber auch wohlhabenden religiösen Familien vor allem der Bazarian (Händler); durch ihre guten Kontakte zu kleinen Händlern und Großhändlern hatten sie wirtschaftlichen Einfluss und konnten den schwachen Familien helfen, während der Staat angeblich nicht für sie sorgte. Durch diese Versorgung der schwachen Schichten der Gesellschaft gewannen die Geistlichen deren Unterstützung, die für sie, die aus ihrer traditionellen Rolle treten und die politische Macht übernehmen wollten, von großer Bedeutung war. In späteren Phasen ihres Widerstands gegen den Schah machten sie deshalb „die religiöse Gerechtigkeit“ zu ihrem Motto. Viele Angehörige der schwachen Schichten konnten sich weder mit dem Staat noch mit den Intellektuellen und den immer mehr anwachsenden mittleren und oberen Schichten der Gesellschaft identifizieren und trennten sich von ihnen. Vgl. Tayefi, A. (2005): „Paradox der Tradition und Moderne. Moschee und Bibliothek“, unter: http://www.iran-emrooz.net/index.php/think/more/3295/. Trotz dieser Investitionen ist im Laufe der letzten 35 Jahre die Anzahl der Moscheebesucher vor allem in größeren Städten stark gesunken, und es wird immer wieder nach Lösungen gesucht, um das Dilemma der leeren Moscheen zu lösen und sie für die Jugendlichen attraktiver zu machen. Parallel dazu wurden durch eine Innovation des „Instituts für die spirituelle Gesundheit“ (moasese-ye behdasht-e Ma’anavi) Standorte für die Kleriker, aber auch männliche sowie weibliche Absolventen der Hawza in vielen öffentlichen Bereichen wie U-Bahn-Stationen, Parks etc. geschaffen, damit diese sich dort mit den Bürgern über ihre religiösen, aber auch gesellschaftlichen Fragen unterhalten und ihnen Ratschläge erteilen können. Gleichzeitig heißt es offiziell aber auch, dass dadurch der Versuch unternommen wird, die neu entwickelten mystischen Schulen innerhalb der Bevölkerung zu bekämpfen. Vgl. u.a.: Iranpost, Gesellschaftsredaktion (15.10.2011): „Mit Rückgang der Moscheebesucher werden Kleriker zu öffentlichen Orten geschickt“, unter: http://www.iranost. biz/index.php?page=1&newsitemId=6689&contentFilterTime=year.

198

3.3 ERWEITERUNG DER KULTURREVOLUTION

Tabelle 4: Entwicklung der Anzahl der Moscheen und Bibliotheken 574 (eigene Darstellung) Jahr

Anzahl der Moscheen

Anzahl der Bibliotheken

1978

5600

368

2000

57 635

1 049

2011

72 000

2 800

1978 verfügte Iran über 368 öffentliche Bibliotheken. Fast zwanzig Jahre später hatte deren Zahl fast verdreifacht (1049 Bibliotheken) und beträgt im 575 Jahr 2011 über 2800 Bibliotheken. Das heißt, dass zur Zeit eine Bibliothek für jeweils 25.714 Bürger und eine Moschee für je 1000 Menschen zur Verfügung stehen. Anders formuliert beträgt die Anzahl Moscheen das 25-fache der Anzahl der Bibliotheken. Die Bibliotheken sind ein Fundort für Forschung, Erzeugung und Vertiefung von Wissenschaft, die selbst wiederum die notwendigen Mittel zur Entwicklung von Rationalismus und zur Entfaltung der Vernunft darstellen. Dadurch stellen sie ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Fatalismus, Passivität und Unterwerfung dar. Der Staat hat das enorme Risikopotential der Bibliotheken festgestellt und deshalb versucht, durch Gründung der Bibliotheken in den Moscheen einerseits und massive Zuteilung religiöser Bücher für die öffentlichen, schulischen und universitären Bibliotheken andererseits die Bibliotheken in den Dienst der Religion zu stellen und sie zu Orten der islamischen Vergesellschaftung zu machen.

3.4

Bilanz und Ergebnis des Islamisierungsprojekts in Iran

Das Islamisierungsprojekt hat enorme Folgen für Irans Gesellschaft, Politik sowie für die Wirtschaft. Darunter zu nennen sind Qualitätsrückgang des Bildungssystems, Schwächung des gegenseitigen Vertrauens in der Gesellschaft, Entwicklung eines Doppellebens und einer damit verbundenen Persönlichkeits- und Identitätskrise sowie enorme Verluste an Humankapital als einem der wichtigsten Entwicklungsfaktoren jedes Landes. Der Qualitätsrückgang des Bildungssystems beruht auf verschiedenen 574

575

Vgl. Statistikzentrum des Iran: amar.sci.org.ir/. Fars Nachrichtenagentur, Provinzredaktion (14.06.2012): „Generalsekretär der öffentlichen Bibliotheken: Die Anzahl von Bibliotheken wird auf 3200 steigen“, unter: http://www.farsnews.com/ newstext.php?nn=13910324001515, und http://www.iqna.ir/qom/news_detail.php? ProdID=732321. Vgl. http://www.farsnews.com/newstext.php?nn=13910324001515.

199

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

Gründen; durch ideologische und religiöse Normsetzung hat das Land eine bemerkenswerte Anzahl von qualifizierten Lehrkräften und Studenten verloren, deren Ideen und Denkweise nicht nur als anormal, sondern auch als sündhaft bezeichnet wurden. Auf der anderen Seite liegt dieser Qualitätsverlust an unausgewogenen finanziellen Investitionen und der Verteilung dieser Mittel. Wie bereits aufgeführt, wurde im Rahmen der Islamisierung der Gesellschaft und Schulen großer Wert auf islamische Propaganda und Stärkung der Moscheen als Kultur- und Erziehungszentren gelegt. Das jährliche Budget der Moscheen ist seit Anfang der Herrschaft der islamischen Regierung enorm gestiegen, und es werden jährlich mehrere Milliarden in deren Bau und Renovierung investiert. Die große Aufmerksamkeit für die Moscheen und andere religiöse Zentren ging jedoch auf Kosten des Bildungssystems. Das Bildungs- und Erziehungsministerium hat innerhalb vieler Jahre nach Gründung der Islamischen Republik Iran ein durchschnittliches Budgetdefizit von 30 Prozent erlitten und ist nicht in der Lage, das Gehalt der Lehrer 576 vollständig zu zahlen. Da das Einkommen vieler Lehrer nicht ausreichend ist, sind viele von ihnen auf einen zweiten Job angewiesen. Dies alles führte zu steigender Unzufriedenheit der Lehrkräfte und sinkender Motivation, was direkte Auswirkungen auf die Qualität der Bildung hatte. Trotz steigender Schulden des Ministeriums bei den Lehrkräften und der Weigerung des Bildungsministeriums wegen des angeblichen Budgetdefizits ca. 200.000 Lehrkräfte neu einzustellen, wurden 2011 über 20.000 Koranlehrer an den Schulen eingestellt. Die Vernachlässigung des Bildungssystems und die Verstärkung der islamischen Erziehung wird anhand eines Vergleichs deutlich. Hatte das Bildungsministerium im Jahr 2011 über 38 Prozent Budgetdefizit, wur577 den im Jahr 2012 die Budgets der Moscheen verfünffacht, obwohl sie von der Zahlung jeglicher Kosten für Strom, Gas und Wasser befreit sind. Die steigende Anzahl der Kleriker und Studenten der Hawza an den Universitäten und Schulen als Lehrkräfte ohne Vorhandensein der notwendigen wissenschaftlichen und erzieherischen Qualifikationen ist ebenfalls ein wichtiger Faktor für den Rückgang der Lehrqualität im Bildungssystem. Der Höhepunkt dieser Politik wurde im Rahmen der zweiten Phase der Kulturrevolution erreicht, wo Ayatollah Amid Zandschani ohne jeglichen universitären 576 577

Vgl. Mohammadi Asl, A. (2010): „Bildungs- und Erziehungsbudget im Iran“, in: „Gozaresh Journal“, Teheran: Vol. 216, März und April 2010, S. 21-23. Vgl. Etedal Nachrichten- und Analysezentrum (04.05. 2011): „5-fache Erhöhung des Budgets der Moscheen“, unter: http://etedaal.ir/news/3313/default.aspx.

200

3.4 BILANZ UND ERGEBNIS DES ISLAMISIERUNGSPROJEKTS IN IRAN

Abschluss durch den Forschungsminister zum Präsidenten der Universität 578 Teheran ernannt wurde. Der wichtigste Faktor jedoch für den Qualitätsverlust des Bildungssystems liegt wohl darin, dass die Bildungsinstitutionen an der Durchführung ihrer eigentlichen Aufgaben, nämlich Diskussionsführung, Fragestellung, Kritik, Analyse, Planung und Beratung auf Grund fehlender Freiheit, umfangreicher Kontrolle der Bildungsatmosphäre und herrschenden islamischen Dogmatismus gehindert worden sind. Diese ständige Überwachung führt zudem dazu, dass das Gefühl von Sicherheit und gegenseitigem Vertrauen unter der Bevölkerung auf allen Ebenen der Gesellschaft geschwächt worden ist, was wiederum Meinungsaustausch, Dialogführung und Zusammenarbeit in vielerlei Hinsicht behindert oder sogar unmöglich gemacht hat. Eine der gravierendsten Folgen der Islamisierungsmaßnahmen ist wohl die Entwicklung von Persönlichkeits- und Identitätskonflikten, eines Doppellebens und der Ausprägung doppeldeutigen Verhaltens in der Gesellschaft. Denn wenn die Unterschiede nicht akzeptiert werden und die Menschen wegen Meinungsverschiedenheiten unter Druck gesetzt werden, sind sie gezwungen, ihre Gedanken und ihr wahres Selbst – in der Öffentlichkeit – zu verbergen. Durch die Islamisierungspolitik versucht der Staat, alle Lebensbereiche der Bevölkerung gemäß islamischen Vorschriften zu regeln und ihr Leben und Handeln zu kontrollieren. Zur Aufrechthaltung der guten bzw. optimalen islamischen Ordnung dringt der Staat in alle Sphären des gesellschaftlichen sowie des privaten Lebens des Einzelnen ein. Anders formuliert versucht der islamische Staat, alle Grenzen zwischen dem gesellschaftlichen und individuellen Leben der Bevölkerung zu verwischen und alles unter seine Kontrolle zu bringen. Khamenei forderte immer wieder die Verfassung einer islamisch-iranischen Lebensmethode, in deren Rahmen Vorgaben u.a. für Kleidung, Heirat, Familienführung, Erholung und Hobby und Verhalten für alle privaten und gesellschaftlichen Ebenen des Lebens der Iraner festgelegt 579 werden sollten. Unter solchen Umständen sind die Einzelnen gezwungen, 578

579

Ayatollah Zandschani war der bislang einzige geistliche Präsident der Universität Teheran (2005–2007) und besaß keinen universitären Abschluss. Er studierte in Hawza. Nach und während seiner Ernennung zum Präsidenten der Universität Teheran protestierten viele Studenten so ausdauernd, dass ihm nach zwei Jahren das Amt entzogen wurde. Vgl. Moavenat-e Barname rizi va nezart-e Rahbordiy-e Rayis jomhoori ( Generalsekretariat des Präsidenten für Planung und strategische Kontrolle): „20 Fragen des geistigen Führers zur Lebensweise der Iraner“, unter: http://www.oiip.ir/ Portal/Home/ShowPage.aspx?Object=NEWS&ID=1b8e4ce6-6f04-425d 8815-

201

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

ein gespaltenes Leben zu führen, das oft sehr widersprüchlich ist. Bei der Arbeit (vor allem im öffentlichen Dienst), während des Studiums und sogar bei einem einfachen Termin bei einer Behörde versucht sich die Bevölkerung an die Vorschriften zu halten, im Rahmen ihres Privatlebens dagegen versuchen sie, soweit wie möglich ihren eigenen Lebensstil zu verwirklichen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Thema Hidschab. Während die Frauen gezwungen sind, in der Öffentlichkeit mit Kopfbedeckung zu erscheinen, lehnen sie das im Privatbereich (wie auf privaten Versammlungen, auf Partys und bei Feier580 lichkeiten) ab. Vereinheitlichung und die totalitären Ziele des Staates bilden eine Antithese zu modernen Gesellschaften, in denen Pluralität und individuelle und gesellschaftliche Freiheit anerkannt werden. Der Staat versucht durch vielfältige Kontrolle und enorme Investitionen an den religiösen Zentren, eine gehorsame und homogene Masse zu erziehen. Denn die unabhängigen und frei denkenden Bürger stellen eine große Gefahr für die heilige Macht des Staates dar. Doppeldeutiges Verhalten wird in solchen Gesellschaften zu einer Überlebenstechnik, die jedoch im Laufe der Jahre bei vielen Menschen eine Identitätskrise verursacht. Trotz enormen politischen Drucks zur Islamisierung des Bildungssystems und der Gesellschaft sind die staatlichen Maßnahmen sogar laut staatlichen Organisationen zum großen Teil daran gescheitert, Gesellschaft und Bildung 581 in ihrem Sinne zu islamisieren. Die Gründe für dieses Scheitern sind vielfältig und liegen vor allem an der steigenden Unglaubwürdigkeit des Staates, der starken Abweichung der staatlichen Maßnahmen von der gesellschaftlichen Realität, der Verbreitung alternativer und moderner Kommunikationstechniken und Medien, steigender direkter oder indirekter Kontakte aller Schichten der Bevölkerung mit dem Ausland, der Unfähigkeit der Islamisierungsmaßnahmen zur Beantwortung der neuen Bedürfnisse und Forderungen und nicht zuletzt am steigenden Bildungsniveau der Bevölkerung. Ein wichtiges Zeichen für den Misserfolg der Islamisierungsmaßnahmen ist laut den staatlichen Behörden im starken Rückgang der Moscheenbesu-

580 581

6e614adc7639&WebPartID=6e705ef1-eb91-46e6-8ea0-5961530df054&CategoryID= 0f07ab54-14c7-40c4-ba54-4fcc9a2fb345. Durch die Veröffentlichung des oben erwähnten Buches „Schlüssel des Lebens“ wurde der Versuch unternommen, eine Antwort auf diese Forderung zu geben. Viele Frauen der Ober- und Mittelschicht gehören zu dieser Gruppe. Dennoch werden in religiösen Familien die islamischen Vorschriften auch im privaten Bereich eingehalten. Vgl. Wahdat Hagh, W. (2003): S. 207-8.

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3.4 BILANZ UND ERGEBNIS DES ISLAMISIERUNGSPROJEKTS IN IRAN

cher zu sehen. Die zuständigen Behörden in Iran beschweren sich über „leere Moscheen“, wobei sie gleichzeitig die Gründung weiterer Moscheen 583 verlangen. Dieser Rückgang der Anzahl der Moscheenbesucher beruht auf diversen politischen und gesellschaftlichen Gründen. Die zunehmende Unglaubwürdigkeit des Staates und wachsende Diskrepanz zwischen Staat und Bevölkerung spielt dabei eine zentrale Rolle. Denn die islamische Regierung hat es trotz vieler Versprechungen nicht geschafft, den Erwartungen der Bevölkerung gerecht zu werden. Wirtschaftliches und gesellschaftliches Missmanagement, besonders die wachsenden wirtschaftlichen Probleme der Bevölkerung sind wichtige Faktoren, die zum zunehmenden Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem Staat beigetragen haben. Jahrelang hat der Staat versucht, Moscheen als religiösen Standort des islamischen Staates zu präsentieren, und mit zunehmendem Abstand zum Staat wurde auch der Abstand zu den Moscheen immer größer. Moderne Medien und Informationsquellen sind überdies ein wichtiges Hindernis auf dem Weg zur Durchsetzung der Vereinheitlichungsziele des Staates. Trotz starken Widerstands der Regierung gegen neue Medien und Kommunikationstechniken, vor allem Satellitenfernsehen und Internet, sind diese in der iranischen Gesellschaft weit verbreitet. Dadurch hat die Bevölkerung neben den staatlichen Medien andere Informationsquellen, die vor allem zwei Funktionen erfüllen: Indem die ausländischen und im Ausland aktiven iranischen Medien über die politischen Geschehnisse des Landes berichten, führen sie zur steigendem Misstrauen gegenüber den staatlichen Medien, die unter ständiger Zensur arbeiten. Das Propagandasystem des Staates 582

582

583

Die Anzahl der Moscheebesucher wurde mehrere Male von Khomeini als Erfolgszeichen der islamischen Politik erklärt, und leere Moscheen wurden von ihm als Bedrohung und Zeichen des Misserfolges der Islamisierung bezeichnet. Denn die Moscheen seien Khomeini zufolge die Zentren der islamischen Kultur, deren Misserfolg zugleich Misserfolg des islamischen Staates bedeuten würde. Deshalb warnte Khomeini vor leeren Moscheen: „Das ist eine Verschwörung, dass (sie) schrittweise die Moscheen leeren wollen. Ihr müsst wachsam sein und eure Moscheen, Mehrab und Minbar schützen. (…) Verstärkt die Moscheen und macht sie mit Menschen voll“. (Freie Übersetzung P. J.), in: Khomeini, R. (02.06.2011): „Habt keine Angst vor dem Phantom, habt Angst vor dem Tag, an dem die Moscheen leer sind“, unter: http://namaz.namaz.ir/page.php?page=showarticles&cat=16&id=89&office=namaz. Ayatollah Ghera’ati, der Vorstand der Gebetsinstitution des Iran (setad-e eghamey-e namaz), behauptet sogar, dass die wirtschaftlichen Sanktionen und die schwere wirtschaftliche Lage des Landes durch die sinkende Zahl der Moscheebesucher verursacht worden sind. Vgl. Ebrat News (12.09.2012): „Ghara’ati stellte die Frage, ob wir den Grund für einige Sanktionen und Strafen nicht doch in unserem Verhalten suchen sollten?“, unter: http://ebrat.ir/?part=news&inc=news&id=47335.

203

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

wurde dadurch in vielerlei Hinsicht erfolgslos. Auf der anderen Seite stellen diese Medien Vergleichsmaßstäbe, wodurch die Bevölkerung andere politische und gesellschaftliche Systeme kennenlernt und neue Erwartungen entwickelt, die im islamischen Staat kein Gehör finden. Die Verbreitung des Internet und steigende direkte bzw. indirekte Kontakte mit anderen Ländern spielen bei der Gestaltung dieser Erwartungen eine wichtige Rolle. Die iranische Bevölkerung hatte bereits vor der Revolution zahlreiche Kontakte mit ausländischen, vor allem westlichen Ländern gehabt. Dieser Kontakt hatte sich im Laufe der Jahre auf verschiedene Weise entwickelt. Während der größere Teil der Bevölkerung durch migrierte und geflüchtete Familienangehörige, Medien und das Internet indirekt von den Entwicklungen im Ausland erfahren hat, sind viele andere durch ihre Reisen, Auslandsaufenthalte oder Studium mit dem Ausland in direkten Kontakt getreten. Es steht keine genaue Statistik über die Anzahl der im Ausland lebenden Iraner zur Verfügung, jedoch es wird geschätzt, dass über vier Millionen Iraner im Ausland leben, darunter auch viele Studenten. Im Jahr 1962 betrug die Anzahl der iranischen Studenten im Ausland zirka 15.000, bis 1977 stieg diese 584 Zahl auf über 40.000. Nach der Statistik des Generaldirektors für Stipendien und Austauschstudierende des Ministeriums für Wissenschaft studieren im Jahr 2013 über 60.000 iranische Studenten im Ausland, von denen 419 Sti585 pendiaten des Staates sind. Das heißt, dass über 98 Prozent aller Studenten ihr Studium im Ausland aus privaten Mitteln finanzieren. Sowohl die Stipendiaten als auch die sonstigen Studenten werden in ihrem Umgang mit demokratischen Gesellschaften von deren Einfluss geprägt, und im Falle ihrer Rückkehr können sie die Vereinheitlichungsmaßnahmen des Staates nicht dulden und versuchen, zu gesellschaftlichen und politischen Wandlungen beizutragen. Die Entwicklung von Parteien und Zeitun584 585

Vgl. Katouzian, H. (2010): S. 285. Vgl. Entekhab News (08.04.2013): „Die letzte Statistik der im Ausland studierenden Iranerinnen und Iraner wurde veröffentlicht“, unter: http://www.entekhab.ir/fa/ news/105115; und Hamshahri Zeitung, Gesellschaftsredaktion (09.06.2010): „60 000 iranische Eliten im Ausland“, unter: http://hamshahrionline.ir/details/109322. Bemerkenswert ist, dass von 1980 bis 2010 die Anzahl der staatlichen Stipendiaten im Ausland zirka 12.000 Studenten betrug. (Vgl. Universitätsnewsletter (29.22.2010): „Statistik der Stipendiaten im Ausland nach der Revolution“, unter: http://nameh. irphe.ir/News_Detail.aspx?News_ID=2204). Sie müssen an einem ideologischen Interview teilnehmen und die Vorschriften der Regierung auch im Ausland akzeptieren. Für Frauen heißt das zum Beispiel, dass sie im Ausland in der Öffentlichkeit ebenfalls mit Kopftuch erscheinen sollen.

204

3.4 BILANZ UND ERGEBNIS DES ISLAMISIERUNGSPROJEKTS IN IRAN

gen gehört zu den wenigen Einflüssen der Studenten aus ausländischen Staa586 ten. Zudem lassen sich die neuen Generationen durch ihr steigendes Bildungsniveau nicht so leicht von der Propaganda der Regierung beeinflussen. Das steigende Bildungsniveau der Bevölkerung war einerseits das Ergebnis des Alphabetisierungsprojekts und andererseits der Steigerung der Kapazitä587 ten der Universitäten. Investition in Bildung als einer der wichtigsten Faktoren der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung wurde bereits wäh586

587

Der Einfluss der Iraner, die im Ausland studiert haben, auf die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse des Landes ist beträchtlich und umfasst ein breites Wirkungsfeld von der Entwicklung der ersten iranischen Verfassung bis hin zur Entwicklung von Parteien und gesellschaftlichen Bewegungen. Die erste Gruppe von iranischen Studenten wurde bereits vor mehr als 160 Jahren nach Europa geschickt. Nach Gründung von Darol-Fonun, der ersten modernen Universität im Iran im Jahr 1851, stieg die Anzahl der iranischen Stipendiaten und betrug 100 Studenten jährlich. Diese Studenten waren diejenigen, die, beeinflusst von Europa, die Entwicklung der iranischen Verfassung und der Gesetzlichkeit gefördert und dies im Rahmen der konstitutionellen Revolution verwirklicht haben. Zudem trugen sie zur Gründung und Entwicklung von modernen Schulen, Zeitungen und Parteien sowie der Frauenbewegung im Iran bei. Der Einfluss von iranischen Stipendiaten im Ausland war auch in antimonarchischen Bewegungen zu beobachten. Beispielsweise gründeten die in Europa und Amerika studierenden Iraner (die ironischerweise meistens Stipendiaten der Pahlavi-Herrschaft waren) die „Confederation of Iranian Students – Nation Union“, die enormen Einfluss auf die Bewegungen der Studenten innerhalb und außerhalb des Iran gegen die Pahlavi-Dynastie ausgeübt haben. Mehr zu diesem Thema bei: Behnam, J. (1996); Maragheyi, Z. A. (1907): „Reisebericht von Ibrahim Beig“, Mumbai; Etehadieh, M. (1994): „Die Frau in der KadscharGesellschaft. Kultur- und Kunstmagazin“, Nr. 55-56, Oktober und September 1994; Bamdad, B. M. (1969): „Iranische Frau. Von der konstitutionellen Revolution bis zur Weißen Revolution“, Teheran: Ibn Sina Verlag; Arasteh, A. R. (1969): “Education and Social Awakening in Iran 1850-1968”, Leiden: E. J. Brill, 2. Ed.; Roshdieh, F. (1991): „Biographie eines Pioniers der Wissenschaft. Roshdieh: Gründer der modernen Kultur des Iran“, Teheran; Kermani, N. (1997): “History of the Awakening of the Iranians”, Teheran: Peikan Verlag, 5. Aufl., Vol. 1; und Afary, J. (1996). Nicht ausreichende Kapazität der Universitäten für die Bewerber ist ein begleitendes Phänomen im Bildungssystem des Iran. Bereits vor der Revolution waren die Kapazitäten der Universitäten nicht ausreichend und deshalb konnten nur diejenigen studieren, die die Aufnahmeprüfung der Universitäten (Konkur) bestanden hatten. (Mehr dazu bei: Arasteh, A. R. (1969): S. 96-98). Dieses Problem wurde nach der Revolution nicht nur nicht behoben, sondern sogar verstärkt, denn nach der Revolution wurde auf Befehl von Khomeini eine wachsende Anzahl von Kindern gefordert, die die Armee des verborgenen Imam bilden sollten. Durch diese Politik verdoppelte sich bereits 15 Jahre nach der Revolution die Bevölkerung des Iran. Um Studienmöglichkeiten für einen größeren Teil der Bevölkerung zu schaffen, wurde im Jahr 1982 auf Empfehlung von Rafsandschani und mit Bestätigung von Khomeini die Islamische Azad Universität (islamische freie Universität) gegründet. Diese Universität ist privat, und im Gegensatz zu staatlichen Universitäten sollen hier Studiengebühren bezahlt werden. Die Gründung der Azad Universitäten in allen Re-

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3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

rend der Herrscher der Pahlavi-Dynastie begonnen, wodurch in moderne Bildungseinrichtungen und Institutionen wie auch in die Bekämpfung des Analphabetismus investiert wurde. Wenige Monaten nach der Gründung der islamischen Republik wurde im Januar 1980 die Bekämpfung des Analphabetismus im Rahmen einer von Khomeini ins Leben gerufenen Kampagne namens „Alphabetisierungsbewegung“ (nehzat-e savad amouzi-e iran) fortgesetzt. Wie bereits angedeutet, verfolgte dieses Projekt neben der Alphabetisierung der Erwachsenen das Ziel, die islamische Kultur und die politische 588 Ideologie des Staates unter der Bevölkerung zu verbreiten. Durch dieses Projekt wurden bis 2010 über 9 Million Menschen gebildet, und dadurch sank 589 die Quote der Analphabeten in Iran unter neun Prozent. Zudem sehen wir seit Beginn der Revolution einen enormen Zuwachs an Studenten. Der Grund für dieses Wachstum lag neben dem Wunsch Khomeinis nach vollständiger Unabhängigkeit des Landes im Bereich Forschung, Wissenschaft und Technik vor allem daran, dass es eine Lösung für die Notlage war, in der sich Iran seit Beginn der Revolution befand. Wie bereits ge sehen, verloren die Universitäten im Rahmen der Kulturrevolution eine bemerkenswerte Anzahl von qualifizierten Kräften, darunter auch viele Frauen, deren Zulassung und Zugang zu einigen Fachbereichen eingeschränkt und teils sogar verboten wurde. Dennoch zog sich der Staat auf Grund des Beginns und der langen Dauer des Krieges zum großen Teil von seiner Position

588 589

gionen des Iran, sogar in kleinen Städten, war eine Revolution im Bereich der Hochschulbildung des Iran. Denn ab diesem Zeitpunkt war ein Studium auch für die Bevölkerung der ländlichen Regionen und kleinen Städte einfacher zu erreichen. Vor allem für Mädchen der religiösen und traditionellen Familien, die ihre Töchter nicht gern zwecks Studium in größere Städte schicken wollten, war es eine gute Gelegenheit, die Erlaubnis der Familie zum Studium zu bekommen. Dennoch ist ein Studium an der Azad Universität ebenfalls nur nach Bestehen der Aufnahmeprüfung (Konkur) möglich. Das Bestehen des Konkurs übte einen immer größeren Druck auf die Jugendlichen, aber auch auf die Familien aus. Denn trotz des Aufbaus von Filialen der Azad Universität in zahlreichen Städten des Iran ist die Kapazität der gesamten staatlichen und Azad Universitäten nicht ausreichend, um den Bedarf der Bevölkerung zu decken. Jährlich gelingt es tausenden Bewerbern nicht, an den Universitäten aufgenommen zu werden. Diese Situation hat sich im Laufe der Zeit verschlechtert. Zurzeit gehört über die Hälfte der iranischen Bevölkerung zu den jungen Menschen unter 24, die zum großen Teil studieren wollen. In den letzten Jahren hat die Regierung die Gründung anderer privater Universitäten (daneshgah hay-e gheir-e entefaee) gestattet, die jedoch qualitativ nicht mit den staatlichen und Azad Universitäten zu vergleichen sind. Vgl. Mehran, G. (1992): “Social implications of literacy in Iran”, in: Comparative Education Review, Vol. 36, No. 2, Mai 1992, S. 194-211. Vgl. “World Statistics Pocketbook 2011”, series V, Nr. 36, United Nations, Department of Economics and Social Affairs, S. 95.

206

3.4 BILANZ UND ERGEBNIS DES ISLAMISIERUNGSPROJEKTS IN IRAN

zurück. Das Land, das unter dem Krieg und wirtschaftlichen Sanktionen litt, brauchte zwecks Befriedigung der Grundbedürfnisse und für den Aufbau des Landes Fachkräfte und Experten. Deshalb wurden in den ersten Jahren nach Ende des Krieges und während der Amtszeit von Präsident Rafsandschani viele entlassene Professoren und andere Experten zur Zusammenarbeit eingeladen. Andererseits war der Staat, da die Männer an der Front kämpften, gezwungen, die Präsenz der Frauen in der Gesellschaft zu verstärken. Deshalb förderte der Staat Bildung und Ausbildung der Frauen in diversen Fächern. Dieser aus der Not entstandene Prozess wurde im Laufe der Zeit so beschleunigt, dass seit 2006 die Anzahl der weiblichen Studenten die der männlichen Studenten überschritten hat. Zwar verwendete der Staat diesen schnellen Zuwachs als Prestigefaktor und Beweis gegen die Oppositionellen, die darauf hinwiesen, dass die Freiheit der Frauen nach der Revolution stark eingeschränkt worden sei. Dennoch wurde, wie im nächsten Abschnitt erläutert wird, im weiteren Verlauf dieses Prozesses die hohe Anzahl der gebildeten Frauen zu einem Hemmnis auf dem Weg zur Islamisierung des Landes. Allerdings muss erwähnt werden, dass die durchgeführten Regelungen zur Islamisierung der Universitätssphäre, wie der islamische Dresscode für Männer und Frauen und manche Geschlechtertrennungsmaßnahmen, dazu beigetragen haben, dass die religiösen und traditionellen Familien, die während der Pahlavi-Dynastie nicht bereit waren, ihre Töchter und Frauen an die Universitäten zu schicken, den Frauen nicht nur das Studium erlaubten, sondern es sogar förderten. Ein anderes Motiv zur Förderung des Studiums der Frauen liegt darin, dass die Regierung glaubte, dass Frauen durch das Studium an islamischen Universitäten als zukünftige Mütter die kommende 590 Generation gemäß islamischen Vorschriften und als „Ensan-e Maktabi“ er591 ziehen würden. 590 591

Mit Ensan-e Maktabi meint Khomeini die Menschen, die sowohl religiös als auch ideologisch der Schule des Islams anhängen. Vgl. Wahdat Hagh, W. (2003): S. 222; und Razaghi, L. (26.05.2013): „Chancenorientiertes vs. risikoorientiertes Vorgehen. Ein Interview mit Zahra Shohaie“ (roykard-e tahdid mehvar dar moghabel-e forsat mehvar), in: Shargh Zeitung, Nr. 1742, 26.05.2013, S. 7, unter: http://sharghdaily.ir/1392/03/05/Files/PDF/13920305-1742-87.pdf. Es muss jedoch erwähnt werden, dass die steigende Anzahl der Akademiker und Studenten im Iran auch am großen Interesse der Familien an der Bildung ihrer Kinder liegt. Es werden seitens der Familien jährlich Milliarden Rials (iranische Währung) in Vorbereitungskurse für die Aufnahmeprüfung an den Universitäten investiert. Ein hohes Bildungsniveau der Kinder ist einerseits eine Sache des Prestige, gleichzeitig aber auch ein Versuch, dadurch eine bessere Stelle zu finden und die Zukunft zu sichern.

207

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

Tabelle 5: Wachstum der gebildeten Bevölkerung 1966–2006 592 (eigene Darstellung)

Jahr

Gesamtzahl Bevölkerung

Anzahl Gebildete

Anteil in %

Anzahl gebildete Männer

Anzahl gebildete Frauen

GesamtAnzahl Anzahl Zahl der männliche weibliche Studenten Studenten Studenten

1966

19.372000

5.556000

28,6

3.928000

1.628000

n.b.

n.b

n.b.

1976

27.113000

12.877000

47,4

8.198000

4.679000

151905

n.b.

n.b.

1986

38.709000

23.913000

61,7

14.078000

9.835000

167971

118886

49085

1996

52.295000

41.582000

79,5

22.465000

19.118000

1.192538

732779

459759

2006

63.920000

54.082000

84,5

28.835000

25.247000

2.480685

1.230400

1.250285

Wie weiter aufgeführt wird, sind die neuen Generationen, vor allem die Frauen, nicht dazu bereit, die vom Staat vorgeschriebenen Rollen zu übernehmen. Bildung, globale Phänomene wie das Internet und steigende Kontakte mit anderen Gesellschaften haben dazu geführt, dass die jungen Generationen sich über die Grenzen der Islamisierungsziele des Staates hinaus entfaltet haben. Sie wollen nicht mehr als Teil des Ommat, sondern als Individuen betrachtet werden, die die Gestaltung ihres privaten und gesellschaftlichen Lebens selbst in die Hand nehmen und sich nicht von den Regelungen und dem Vereinheitlichungsdruck des Staates beeinflussen lassen. Die steigende Diskrepanz zwischen dem Staat und der Bevölkerung spiegelt sich auf politischer Ebene zum Beispiel in der Entwicklung neuer politischer Parteien und dazu gehöriger Zeitungen wider, die versuchen, trotz starker Unterdrückung eine frische Luft in die politische und gesellschaftliche Atmosphäre des Iran zu bringen, was während der Amtszeit von Präsident Khatami zum Teil verwirklicht wurde. Khatami erkannte die Individualität des Menschen und das Prinzip der gesellschaftlichen Pluralität an. Während seiner Amtszeit wurden diverse Zeitungen und eine breite Reihe von politischen und sozialwissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften veröffentlicht, die einerseits die neuen Herausforderungen der Gesellschaft untersuchten und andererseits versuchten, angemessene Lösungen dafür vorzuschlagen. Zudem wurden diverse Diskussionsveranstaltungen und kulturelle Programme 592

Vgl. Daten des Statistikzentrums des Iran: http://amar.sci.org.ir/.

208

3.4 BILANZ UND ERGEBNIS DES ISLAMISIERUNGSPROJEKTS IN IRAN

zwecks Steigerung der Toleranz in der Gesellschaft durchgeführt. Meinungsverschiedenheiten wurden in dieser Periode nicht als Gefahr, sondern als Chance angesehen, die einerseits zur Minderung der Konflikte zwischen Staat und Bevölkerung beitragen sollten und andererseits zur Bekämpfung der neuen Herausforderungen und zum vernünftigen Umgang mit neuen Erwartungen und den Forderungen der Bevölkerung, von ihrem Potenzial Gebrauch zu machen. Die Partizipation der Bevölkerung an den gesellschaftlichen und politischen Sphären sowie die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und der Bevölkerung waren weitgehend divergent in Hinblick auf die ideologischen Überzeugungen des Führers und der Gruppierungen, die nicht bereit waren, die neuen Forderungen der jungen Generationen zu hören und sich der Realität einer gewandelten Gesellschaft anzupassen. Während die Bevölkerung Anerkennung der Individualität und Pluralität auf allen Ebenen der Gesellschaft fordert, ist es für den ideologisch orientierten Staat undenkbar, von den religiösen Zielen, nämlich der Entwicklung eines islamischen Ommat, abzuweichen. Die Unzufriedenheit der Führer mit der liberalen Politik von Khatami zeigte sich in deren voller Unterstützung von Ahmadinedschad, einem fundamentalistischen Präsidenten, der die Rückkehr zu den islamischen Werten der Revolution forderte, und während seiner Amtszeit begann eine neue Welle gegen Individualität, Denkfreiheit und freie Meinungsäußerung. Diese starre Politik führt dazu, dass es immer wieder zu neuen Konflikten zwischen dem Staat und der Bevölkerung kommt. Wie diese Konflikte aussehen, wird im folgenden Abschnitt anhand zweier Beispiele erläutert. Es ist aber erwähnenswert, dass die Wahl von Präsident Rohani im Jahr 2013, der liberale Ansichten vertritt und gute Kontakte zu den Reformisten (eslah talaban) pflegt, als Zeichen dafür gelten kann, dass der Staat den enormen Druck seitens der jungen Bevölkerung nicht mehr aushalten konnte.

3.5

Zwischenresümee

Die Islamische Republik Iran ist ein ideologisches System, das sich insofern von der Moderne unterscheidet, als in dessen Rahmen im Gegensatz zur Moderne der Staat nicht ein menschliches Konstrukt, basiert auf menschlichem Willen und Vernunft, darstellt, sondern ein göttliches Phänomen, in dessen Rahmen menschlicher Wille und Autonomie als Quelle des Narzissmus und Anarchie und menschliche Vernunft als unfähig für die Verwaltung des menschlichen Lebens betrachtet werden. Dem Staat ist nach dieser Ideologie 209

3 IRAN: DIE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN SUBJEKT UND STAAT

von Gott die Aufgabe erteilt worden, die Menschen gemäß maßgebenden religiösen Normen zu führen, so dass sie in dieser Welt und im Jenseits das wahre Glück, nämlich Aufgehen in Gott erreichen. Dementsprechend gibt es nur einen richtigen Weg und ein richtiges Ziel, die von jedem Einzelnen verfolgt werden sollen. Deshalb versucht der Staat ungeachtet der zeitlichen und räumlichen Entwicklungen, einen Ommat (islamisches Volk) zu erziehen, der gemäß der Scharia lebt und sich dem religiösen Staat unterwirft. Die vom Staat präsentierte Ideologie blickt auf die Vergangenheit und damit verbundene Regelungen, um eine islamische Utopie zu errichten, in deren Rahmen Subjektivität, Individualität und Pluralität strikt geleugnet werden. Diese Ablehnung hat in aller erster Linie Einfluss auf das Rechtssystem, in dem Gott das alleinige Gesetzgebungsrecht hat und die Fähigkeit des Menschen zur Gesetzgebung als nicht in Betracht kommend zurückgewiesen wird. Verfassungsgemäß ist das Ziel des Staates Etablierung der islamischen Weltanschauung in der Gesellschaft und Gestaltung eines homogenen Ommat, der nur ein Ziel verfolgt, nämlich Aufgehen in Gott. Dieses Ziel ist im Rahmen des Islam bestimmt und kann nicht durch von Menschen ausgewählte Ziele ersetzt werden. Der Staat ist verpflichtet, die Bevölkerung zwecks Erreichung dieses Zieles zu führen, und die Bevölkerung ist dazu verpflichtet, dem Staat zu gehorchen. Die ideologische Utopie der Islamischen Republik Iran ist vereinheitlicht, 593 in dem Sinne, dass alle Menschen islamisch denken und handeln. Da Denken die Basis des Handelns, Veränderung und Wandlung ist, sind die größten Hindernisse auf dem Weg der Errichtung eines islamischen Staates die Andersdenkenden. Das liegt vor allem darin, dass freies Denken zur Subjektbildung führt und ein Subjekt sich nicht von Vorschriften der Vergangenheit und durch einen Anderen führen lässt. Das Subjekt ist kritisch gegenüber allem, was die Vergangenheit und sogar die Gegenwart angeht, es ist zukunftsbzw. gegenwartsorientiert, setzt sich neue Ziele und entwickelt neue Ansprüche, was die Vereinheitlichung gefährdet oder sogar zerstört. Deshalb spricht Khomeini von Säuberung der Gedanken als der Basis der Säuberung 594 der Gesellschaft. Aus diesem Grund wurde durch die nach der Revolution von 1979 durchgeführte Kulturrevolution der Versuch unternommen, mit allen Mitteln, von Gewaltanwendung bis hin zu Islamisierung der Bildung und Erziehung, die Gesellschaft von nicht-islamischen Gedanken zu säubern und 593 594

Vgl. Präambel der V.d.I.R.I; vgl. Punkt 3.1. Vgl. ebd.

210

3.5 ZWISCHENRESÜMEE

ein homogenes Ommat zu gestalten. Das war auch der Grund, warum dieses Islamisierungsprojekt zuallererst an den Universitäten begonnen wurde, denn sie sind die Zentren der Gedankenbildung. Wie bereits aufgeführt, erlitt das Land durch diese Säuberungsmaßnahmen enorme Verluste an Humankapital und Entwicklungsmöglichkeiten. Nicht nur Universitäten wurden wertvoller Wissenschaftler beraubt, sondern der Arbeitsmarkt und die Wirtschaft litten enorm unter dem Fachkräftemangel, vor allem in einer Zeit, in der das Land in einen langen Krieg verwickelt worden und auf diese Menschen angewiesen war. Bekämpfung des freien Denkens und der Entfaltung der Subjektivität erfolgte auch deshalb, weil diese die Basis jeder Art von Freiheiten sind. Freiheit an sich ist zunächst ein Gedanke, der sich in Zusammenhang mit dem Bewusstsein entwickelt, wobei jedes Bewusstsein auf Selbstbewusstsein und Subjektivität beruht, die mit dem Denken erzeugt werden. Subjektivität, freies Denken, individuelle, soziale und politische Freiheit und Selbstbewusstsein bringen ein System, dessen Existenz auf der Verfolgung der starren und alten Vorschriften basiert, aus dem Gleichgewicht und stellen für diese eine große Bedrohung dar. Jede Art von Bedrohung der religiösen Tradition v.a. durch Andersdenken und jede Art von Grenzüberschreitung wird als Bedrohung der Gesellschaftsintegrität und des Selbst verstanden, tabuisiert und gilt als illegitim. Deshalb versuchte der Staat, durch enorme Investitionen in Islamisierungsprojekte bei Bildungsinstitutionen, Medien und kulturellen Organisationen islamisch denkende und handelnde Menschen in seinem Sinne zu erziehen und damit die Entwicklung von Heterogenität zu verhindern. Jedoch wie oben dargestellt, scheiterte der Staat trotz aller Unterdrückungsmaßnahmen nicht nur daran, die islamisch denkenden und handelnden Menschen zu erziehen, sondern die Islamisierungspolitik führte sogar zu steigendem Widerstand seitens der Bevölkerung. Dieses Scheitern ist neben wachsendem Meinungs- und Informationsaustausch unter der Bevölkerung innerhalb und außerhalb des Landes dank der Globalisierungsphänomene wie Internet und Satellitenfernsehen und zunehmenden Kontakten mit dem Ausland das Ergebnis eines gestiegenen Bildungsniveaus der Bevölkerung, was im Folgenden anhand zweier Beispiele näher dargestellt wird.

211

Teil 4

Give people a handout or a tool, and they will live a little better. 595 Give them education, and they will change the world. 595

World Bank Publications (1999): “Education Sector Strategy”, Washington D.C., S. iii.

212

4

Gegensätze zwischen Vereinheitlichungsdruck und Autonomie des Subjekts Zwei Beispiele: Frauenpolitik und Arbeitsmarkt

4.1

Frauen zwischen Fortschrittswille und Einschränkung durch die Scharia

Die Situation der Frauen im heutigen Iran zeigt eine unausgewogene Konstellation. Teils haben Frauen in manchen Bereichen wie Bildung außerordentliche Fortschritte gemacht, so dass, wie bereits gesehen, die Anzahl der Frauen mit akademischen Abschlüssen die der Männer in den letzten Jahren übertroffen hat. Auf der anderen Seite jedoch sind sie mit gesellschaftlichen und politischen Strukturen konfrontiert, die sich in eine gegensätzliche Richtung entwickeln, um jeglichen Fortschritt bezüglich der Lage der Frauen zu verhindern oder sogar rückgängig zu machen. Die paradoxe Lage der Frauen im Iran ist durch diverse widersprüchliche Variablen zustande gekommen. Einerseits ist das Land von globalen Wandlungen wie der Frauenbewegung beeinflusst, wodurch Frauen einen neuen Bewusstseinshorizont erlangt haben, der ihnen ermöglicht hat, ihr individuelles, soziales, wirtschaftliches und politisches Vermögen in vielerlei Hinsicht zu steigern. Viel mehr ist aber diese Situation das Resultat der letzten Jahre des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts als der Transformationsphase des Iran zu einer modernisierten Gesellschaft, die selbst mit vielen 596 Disparitäten zu kämpfen hatte. Wie alle anderen Länder der Welt hatten 596

Mit der Gründung von Darol Fonun im Jahre 1851 und zunehmenden Kontakten iranischer Studenten, Geschäftsleute und einflussreicher Familien nach Europa und mit westlichen Denkschulen begannen auch die ersten Schritte der Frauenbewegung im Iran. In den letzten Jahren des 19. Jh. sollte sich die Passivität der Frauen und die unausgewogene Stellung von Männern und Frauen in privaten sowie gesellschaftlichen Sphären ändern. Es bildeten sich Gruppierungen von Frauen, die die wenigen Gelegenheiten nutzten, um in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Sie warteten nicht, bis die Regierung Schritte zur Verbesserung ihrer Situation und die Investition in ihre Bildung begann, sondern wurden selbst aktiv. Sie organisierten und gründeten neue Schulen, die jedoch immer wieder von den traditionellen und religiösen Schichten attackiert wurden. Sie begannen langsam an den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen teilzunehmen, was vor allem durch die Gründung der neuen Schulen geschah. Mit der Alphabetisierung konnten sie nun die Zeitungen lesen und sich über die politischen und gesellschaftlichen Geschehnisse informieren und sogar ihre Meinungen durch selbst veröffentlichte Zeitungen präsentieren. Auf diesem Weg wurden sie von den intellektuellen Männern stets unterstützt. Frauen waren auch im Laufe der konstitutionellen Revolution sehr aktiv, organisierten Proteste und unterstützten die Männer, obwohl das erste Parlament jegliche Kundgebungen der Frauen und ihre politischen Aktivitäten, vor allem auf Grund der hohen Beteiligung der traditionellen und religiösen Abgeordneten und der Macht der Geistlichen bei der Gesetzgebung, für verboten erklärte. Mit Gründung der Pahlavi-

213

4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

die iranischen Frauen nicht nur mit einer maskulinen Gesellschaftskultur, sondern auch mit religiösen Vorschriften zu kämpfen, die den Frauen niemals freiwillig die Gelegenheit gegeben hätten, die traditionellen Strukturen zu durchbrechen und sich gesellschaftlich und politisch zu entwickeln. Instanzen der mangelnden kulturellen Gleichberechtigung sind zwar für die Untersuchung der gesellschaftlichen und individuellen Wandlung der Frauen äußerst wichtig, dennoch beschäftigt sich diese Studie nur mit dem Einfluss der Religion auf die rechtliche und gesellschaftliche Situation der Frauen nach der islamischen Revolution.

4.1.1

Das islamische System der Rechte der Frauen in lran

Im Laufe der 1960er Jahre wurde im Zuge der Modernisierung die Rechtslage der iranischen Frauen in vielerlei Hinsicht verbessert. Das lag einerseits an der Modernisierungspolitik der Pahlavi-Dynastie und andererseits am wachsenden sozialen Bewusstsein der urbanen Frauen durch ihr steigendes Bildungsniveau und ihre soziale Präsenz. Dadurch wuchs auch ihr politisches Bewusstsein. Sie forderten mehr Rechte und Freiheiten, was im Rahmen der Dynastie im Jahre 1925 wurden beträchtliche Versuche zwecks Modernisierung des Landes durchgeführt, von denen auch Frauen profitieren sollten. Es wurden Schulen und Gymnasien für Mädchen gegründet, und die Frauen bekamen direkt nach der Gründung der ersten modernen Universität des Iran das Recht zum Studium. Die Partizipation und Präsenz von Frauen in der Gesellschaft wurde enorm gefördert, sogar gegen den Willen der religiösen und traditionellen Schichten der Bevölkerung, aber auch gegen den Willen der Geistlichen, die wegen der Modernisierungsversuche, viel mehr aber wegen der Zwangsentschleierung der Frauen zum großen Gegner der ersten Pahlavi (Reza Schah Pahlavi) geworden waren. Im Laufe der Herrschaft von Mohammad Reza Pahlavi stieg die Präsenz der Frauen in der Gesellschaft. Die Anzahl der Studenten und berufstätigen Frauen in vielen Bereichen nahm zu, und durch Alphabetisierungspläne des Staates in Dörfern und kleinen Städten sollte sie weiter steigen. In dieser Zeit erreichte der Konflikt zwischen den Geistlichen und dem Herrscher seinen Höhepunkt, als das Parlament beschloss, den Frauen das Wahlrecht zu gewähren. Zudem wurden viele Artikel im Familienrechtsbuch zu Gunsten der Frauen verändert und es wurden ihnen viel mehr Rechte erteilt. Die Anzahl der Frauen, die als Anwältin oder auch Richterin arbeiteten, stieg gleichfalls an. Nach der islamischen Revolution wurden diese neuen Rechte der Frauen gemäß der Scharia wieder eingeschränkt. Mehr dazu bei: Khodadad, M. (2008): „Die ersten Zeitschriften der Frauen im Iran“, in: „Hafez. Zeitschrift für Literatur und Kunst“, Nr. 49, S. 23-26; Etehadieh, M. (1994): S. 27-50; Bamdad, B. M. (1969); Arasteh, A. R. (1969); Rostam-Kolayi, J. (2002): “Foreign Education. The Women’s Press and the Discourse of Scientific Domesticity in early Twentieth Century Iran”, in: “Iran and the Surrounding World. Introduction to Culture and Cultural Politics”; Keddie, R. u.a. (ed.), Seattle u.a.: University of Washington Press; Browne, E.G. (1914): “The Press and Poetry in modern Persia”, London u.a.: Cambridge University Press; Afary, J. (1996); und Katouzian, H. (2010).

214

4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

Reformen auch viel Gehör fand. Es wurde ein Frauenministerium ins Leben gerufen, und im Jahr 1963 wurde den Frauen im Rahmen der Weißen Re598 volution das aktive und passive Wahlrecht erteilt. Das Heiratsalter der Frauen wurde von 15 auf 18 Jahre und von Jungen von 18 auf 20 Jahre heraufgesetzt. Es wurden verschiedenen Kliniken für Geburtenkontrolle eingerichtet und Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft gesetzlich erlaubt. Das im Jahr 1967 verabschiedete „Familienschutzgesetz“ führte ebenso zur Verbesserung der rechtlichen Situation der Frauen. Dadurch wurden Scheidungsfragen an Familiengerichte übertragen, was bisher nur von Geistlichen geregelt wurde. Die Männer konnten sich von nun an 597

597

598

Diese Modernisierungsversuche wurden nicht nur vom Schah, sondern auch von den Parlamentariern gefordert und unterstützt. Denn die Gestalt des Parlaments veränderte sich im Vergleich zum ersten Parlament 1906–1907. Im Gegensatz zur großen Anzahl höchst konservativer und traditioneller Abgeordneter des ersten Parlaments vertraten viele Abgeordnete vor allem in späteren Phasen der Pahlavi-Dynastie säkulare und zum Teil westlich orientierte Ansichten, was vor allem in ihrer säkularen und westlich orientierten Bildung wurzelte. 1906–1907 trugen über 40 Prozent aller Abgeordneten einen Titel wie Hadsch oder Seyyed, der sich auf religiöse Ehrung und Frömmigkeit bezog. (Mit dem Ehrentitel Hadsch oder Hadschi wird derjenige bezeichnet, der die islamische Pilgerfahrt nach Mekka und die damit verbundenen Zeremonien vollzogen hat. Seyyed ist der Ehrentitel von Nachkommen des Propheten Mohammad). Sie gehörten zu den Fachhandwerkern und Bazzarian (Kaufleuten). In den folgenden Jahren ist ein deutlicher Unterschied festzustellen: Viele Abgeordnete dieser Ära trugen Doktor- bzw. andere akademische Titel oder hatten eine säkulare Bildung in den neuen Bildungseinrichtungen im Land oder außerhalb des Iran erworben (vgl. Arasteh, A. R. (1969): S. 43-44), die von den europäischen Prinzipien der Demokratie beeinflusst und von der Beteiligung der Frauen in der Gesellschaft und der Verbesserung der rechtlichen Lage der Frauen überzeugt waren. Um den Entwicklungsmotor des Landes anzutreiben, erklärte Mohammad Reza Schah im Januar 1963 ein Reformprogramm, das vor allem eine Landreform beinhaltete und dem Zweck diente, in kürzester Zeit die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation des Landes zu verbessern. Dadurch sollte der Iran bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zu den modernsten und am besten entwickelten Ländern der Welt gehören. Dieses Programm, das als „Weiße Revolution“, aber auch als „Revolution vom Schah und vom Volk“ bezeichnet wird, wurde am 26. Januar in einem Referendum verabschiedet. Ursprünglich beinhaltete dieses Programm sechs Punkte, unter anderem die Bekämpfung des Analphabetismus und die Erteilung des aktiven und passiven Wahlrechts an Frauen. Zudem sollten durch diesen Reformplan das feudale System abgeschafft und Ackerland von Großbesitzern (Khans) an Bauern verteilt werden. Um das zu finanzieren und die Großbesitzer entschädigen zu können, wurden staatliche Unternehmen privatisiert. Außerdem sollten dadurch die Arbeiter und Angestellten der Unternehmen am Gewinn beteiligt werden. Auch wurden alle Wälder und Weideflächen im Rahmen dieser Reform verstaatlicht. Diese 6 Punkte wurden in späteren Phasen der Weißen Revolution mit weiteren 13 Punkten ergänzt. (Vgl. Pahlavi, M. R. (1980): “Answer to History”, Modern Man Verlag, S. 108-130).

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

nicht mehr ohne gültigen Grund von ihren Frauen trennen. Die vom Islam gestattete Polygamie wurde stark begrenzt und Männer durften nur mit Einverständnis ihrer ersten Frau wieder heiraten (z.B. im Falle von Unfruchtbarkeit der Frau). Den Frauen wurde zudem das Scheidungsrecht erteilt, was bis jetzt nur Männern eingeräumt war. Außerdem durften die Frauen durch die599 ses Gesetz ohne Erlaubnis ihrer Männer außerhalb des Hauses arbeiten. Diese Gesetze, die nochmals im Jahre 1975 zugunsten der Frauen modifiziert wurden und zur enormen Verbesserung ihrer Situation beitrugen, widersprachen zum großen Teil der Scharia und stellten sie als altertümlich und nicht zeitgemäß dar. Die Verabschiedung dieser Gesetze führte zu heftigen Protesten seitens der Geistlichen. Khomeini nannte die Erteilung des Wahlrechts an Frauen eine große Verschwörung gegen den Islam und die Geistlichkeit. In seiner Rede am 28. September 1962 behauptete er, dass von 10 Millionen iranischer Frauen nur eine Gruppe von hundert Straßenmädchen (yek mosht zane harjayie) das Wahlrecht verlangen und Erteilung dieses Rechtes an sie den Islam in Gefahr bringen würde: Die Regierung verabschiedet ein Gesetz gegen die Scharia; Sie gibt den Frauen das Wahlrecht (...). Sie wollen unsere sittsamen (najib) 600 Mädchen zur Armee schicken (…). Die sittsamen Mädchen des

599 600

Vgl. Abrahamian, E. (2012): S .273; und Grämmer, G. (2003): S. 258-9. Die Aufnahme der Frauen in die Armee war eine Notlösung zwecks Bekämpfung des Analphabetismus der Frauen. Im Rahmen der Weißen Revolution wurde ein Hilfskörper, nämlich eine „Wissensarmee“ (Sepah-e Danesh) zwecks Bekämpfung des Analphabetismus aufgebaut, die viele Erfolge erzielte. Vor Gründung der Wissensarmee waren die gebildeten jungen Leute nicht dazu bereit, in die Dörfer zu gehen und dort als Lehrer zur arbeiten. Zur Behebung dieses Problems griff die Regierung zu neuen Maßnahmen. Demnach sollten iranische Jugendliche, die bereits das Diplom (Abitur) hatten, nach einem viermonatigen Wehrdienst in der Armee den Rest ihres Wehrdienstes in Dörfern und kleinen Städten leisten und die dortigen Einwohner, sowohl Kinder als auch Erwachsene, unterrichten. In den ersten Jahren der Arbeit der Wissensarmee besuchte nur eine geringe Anzahl von Mädchen und Frauen den Unterricht. Das lag, wie Grämmer erklärt, vor allem am Einspruch der Geistlichen, die die Bildung von Frauen als Gefahr des „sittlichen Verfalls“ und der Vernachlässigung der den Frauen zugeschriebenen Rolle – in der die Ehe und die ehelichen bzw. mütterlichen Pflichten zentraler Bestandteil sind – darstellten. (Grämmer, G. (2003): S. 170.) Das am 5. Juli 1968 verabschiedete Gesetz sollte zur Behebung dieses Problems beitragen. Demgemäß sollten nun auch die Absolventinnen der oberen Sekundarschulen (diejenigen mit Diplom) zum Militärdienst eingezogen und in die Wissensarmee eingegliedert werden. Mit der Einbeziehung von weiblichen Lehrsoldaten besuchten mehr Mädchen und Frauen die Schulklassen.

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4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

Volkes haben in der Schule einen Lehrer (und nicht immer Lehrerin601 nen) (…). Der Koran und der Islam sind in Gefahr. Der Widerstand der Geistlichen, besonders Khomeinis, gegen die Frauenrechte wurde so heftig, dass in dessen Verlauf Khomeini des Landes verwie602 sen wurde. Ebenfalls verfasste Mottahari im Jahr 1967 eine Reihe von Artikeln in der Zeitung „Die Moderne Frau“ (zan-e rooz), kritisierte die neuen Gesetze als „bloßes Nachahmung des Westens“ und versuchte, die Rechte der Frauen im Islam mit einer darin versteckten Logik zu erklären und den Staat (Pahlavi-Dynastie) und die Bevölkerung zur Rückkehr zu islamischen Regelungen – auch bezüglich der Angelegenheiten der Frauen – zu ermutigen. Diese Artikel, die später als Buch mit dem Titel „System der Rechte der Frauen im Islam“ veröffentlicht wurden, bildeten eine wichtige Basis für die Rechtslage der Frauen in der Verfassung und für das Zivilrecht der Islamischen Republik Iran, in dessen Rahmen fast alle bis zur Revolution den Frauen erteilten Rechte für nichtig erklärt wurden. Artikel 3 Absatz 14 der Verfassung der Islamischen Republik Iran beinhaltet zwar die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, dennoch wird diese Gleichberechtigung in Artikel 20 nur unter Berücksichtigung islamischer Prinzipien gesichert: Jedes Mitglied des Volkes, ungeachtet ob Frau oder Mann, genießt gleichermaßen den Schutz des Gesetzes und unter Berücksichtigung islamischer Prinzipien, alle menschlichen, politischen, wirtschaftli603 chen, sozialen und kulturellen Rechte. Was diesen gleichmäßigen Schutz des Gesetzes und die in Artikel 3 erwähnte Gleichbehandlung von Männern und Frauen gemäß islamischen Prinzipien

601 602

603

Khomeinis Rede vom 8. Oktober 1962, in: Dehnavi, M. (1981): „Eine Reihe von Schriften, Reden, Botschaften und Fatvas von Imam Khomeini“, Teheran: S. 35 (Freie Übersetzung P. J.). Der Widerstand der Geistlichkeit gegen die Weiße Revolution und die Reformpläne des Schahs beschränkte sich nicht nur auf Frauenangelegenheiten wie Wahlrecht, Bildung und Berufstätigkeit. Schon die Landreform erlebte die Geistlichkeit als einen beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden. Durch dieses Reformprogramm wurde ihre Stellung in vielerlei Hinsicht geschwächt, beispielsweise ihre Stellung als Lehrer in den Dörfern oder als Richter. Khomeini kam 10 Tage vor dem Sieg der Revolution zurück in den Iran und gründete, wie bereits gesehen, mit Unterstützung der islamischen Fundamentalisten die Islamische Republik Iran. Vgl. V.d.I.R.I. (Freie Übersetzung P. J.).

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

bedeutet, wird anhand der Untersuchung einiger Passagen aus dem Zivilrechtsbuch und Strafgesetzbuch der Islamischen Republik Iran verdeutlicht. Die (Nicht-)Gleichstellung von Männern und Frauen beginnt mit ihrem unterschiedlich festgelegten Volljährigkeitsalter im Islam. Während Jungen nach Artikel 1210 Absatz 1 des Zivilrechtes ab dem 15. Lebensjahr volljährig 604 sind, sind es Mädchen bereits ab dem 9. Lebensjahr. Im Strafrecht bedeutet dieser Artikel, dass falls ein neunjähriges Mädchen eine Straftat begeht, sie wie eine Erwachsene bestraft wird, während ein Junge sich erst mit Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres strafbar machen kann. Auch bezüglich des Heiratsalters ist dieser Unterschied relevant. Das islamische Zivilrecht setzte das in der Pahlavi-Ära festgelegte Heiratsalter von 18 Jahren für Mädchen auf 13 Jahre herab, und eine Ehe vor diesem Alter 605 wurde nach Artikel 1041 verboten. Allerdings erklärt dieser Artikel, dass die Ehe für Mädchen vor dem Pubertätsalter (13 Jahre) mit Einwilligung des gesetzlichen Vertreters und Zustimmung des Gerichtes erlaubt ist. Es wird viel damit argumentiert, dass Fatemeh (die Tochter des Propheten und das Symbol der perfekten Muslima, die vor über 1400 Jahren lebte) bereits im Alter von neun Jahren geheiratet hat, und deshalb könnten alle anderen Mädchen ebenfalls in diesem Alter heiratsfähig sein. Wird dieser Artikel mit Artikel 36 Abs. 2 des Präsidentschaftswahlgesetzes in Iran verglichen, ist ein erheblicher Widerspruch festzustellen. Nach diesem Artikel erreichen alle Ju606 gendlichen erst im Alter von 16 Jahren die notwendige Reife zum Wählen. Anders formuliert, obwohl ein Mädchen bereits mit Zustimmung ihres Vertreters beispielsweise im Alter von 10 Jahren heiraten kann, wird ihr in einem anderen Gesetz wegen fehlender Reife die Teilnahme an politischen Aktivitäten untersagt. Während Jungen für das Heiraten die Einwilligung ihres Vaters bzw. ihres gesetzlichen Vertreters nicht benötigen, legt Artikel 1043 des iranischen Zivilgesetzes fest, dass Mädchen in jedem Alter (auch wenn sie volljährig 604 605 606

Vgl. Mansour, J. (Hg.) (2007): „Verfassung und Zivilrechtsbuch der Islamischen Republik Iran“ (V.u.Z.R.d.I.R.I.), Teheran: Dowran Verlag, S. 325. Das Pubertätsalter für Jungen ist das fünfzehnte Lebensjahr. Um vor diesem Alter zu heiraten, benötigen sie ebenfalls die Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters sowie die Zustimmung des Gerichtes. Das Wahlalter wurde nach der Revolution mehrere Male verändert. Wurde 1981 die Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres für die Teilnahme an Wahlen festgelegt, so wurde 1999 das Wahlalter auf die Vollendung des sechzehnten Lebensjahres erhöht. Während der Amtszeit von Präsident Khatami wurde sogar gemäß internationalem Standard das Wahlalter auf die Vollendung des 18. Lebensjahres festgelegt, was seit 2008 wieder auf den Beginn des 16. Lebensjahres gesenkt worden ist.

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4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

sind) zum Heiraten die Erlaubnis ihres Vaters (oder Bruders, Onkels, etc.) bzw. gesetzlichen Vertreters benötigen. Erst wenn keine plausiblen Gründe für die Verweigerung der Einwilligung vorliegen, kann das Zivilgericht dem Mädchen diese Erlaubnis erteilen. Motahhari rechtfertigt diese Regelung: Dieser Umstand hat nichts mit der Unmündigkeit der Frau zu tun, sondern mit der Psyche der Frau und des Mannes. Der Mann ist Sklave der Leidenschaft, während die Frau Gefangene ihrer Liebe ist. Die Liebeserklärung des Mannes ist die sicherste Falle für ein unerfahrenes Mädchen. Daher ist es notwendig, dass sich ein Mädchen, das noch keine Erfahrung im Umgang mit Männern besitzt, sich mit ihrem Vater, der die Gefühle der Männer besser beurteilen kann, 607 berät und nötigenfalls um seine Einwilligung bittet. Es wird empfohlen, dass die Väter bzw. gesetzlichen Vertreter den zukünftigen Ehemann für ihre Tochter unter den jeweiligen Kandidaten auswählen sollen. Kommt eine Ehe zustande, dann muss die Frau in vielerlei Hinsicht ihrem Mann gehorchen. Motahhari schreibt: In der Dauerehe muss die Frau, ob sie es will oder nicht, den Mann als Oberhaupt der Familie akzeptieren und seinen Befehlen im Rah608 men der Interessen der Familie gehorchen. 607

608

Vgl. Motahhari, M. (1990 c): „Das System der Rechte der Frau im Islam“, Qom, Teheran: Sadra Verlag, 14. Auflage, S. 94 (Übers. Davani, F. (2010): S. 93). An dieser Argumentation ist in mindestens zweierlei Hinsicht Kritik zu üben. Einerseits ist die Erlaubnis des Vaters bzw. gesetzlichen Vertreters keine Garantie für eine glückliche Ehe. Andererseits verweigert dieses Gesetz die Einwilligung der Mütter, obwohl sie bereits Erfahrung im Umgang mit Männern besitzen. Trotzdem weist Motahhari darauf hin, dass sogar der Prophet nach der Meinung seiner Tochter über den jeweiligen Heiratskandidaten gefragt und erst nach ihrer Zustimmung der Ehe zugestimmt hat. (Vgl. ebd.). Vgl. Motahhari, M. (1990 c): S. 56. Im Islam gibt es zwei verschiedene Arten von Ehe. Die eine ist eine Dauerehe und die andere eine „Ehe auf Zeit“ (sigheh). Nach diesen Vorschriften Vorschriften kann jeder Mann gleichzeitig mit vier Frauen in eine Dauerehe und mit einer unbegrenzten Anzahl von Frauen in einer „Ehe auf Zeit“ verheiratet sein. Die Frauen wiederum dürfen nur mit einem Mann gleichzeitig verheiratet sein. Vers 3 in der 4. Sure „an-Nisa“ (die Frauen) im Koran lautet: „Und wenn ihr fürchtet, in Sachen der (eurer Obhut anvertrauten weiblichen) Waisen nicht recht zu tun, dann heiratet, was euch an Frauen gut ansteht, (ein jeder) zwei, drei oder vier“. (Übersetzung: http://www.koransuren.de/koran/sure4.html). Dieser Vers sieht aber vor, dass Polygynie nur dann zu bevorzugen ist, wenn der Mann die Fähigkeit besitzt, seine Frauen gerecht zu behandeln: „Und wenn ihr fürchtet, (so viele) nicht gerecht zu behandeln, dann (nur) eine, oder was ihr (an Sklavinnen) besitzt! So könnt ihr am ehesten vermeiden, Unrecht zu tun.“ (Vgl. ebd.). Dennoch ist Polygynie in islamischen Ländern weit verbreitet. Obwohl das

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

Diese Regelung wurde auch in Artikel 1105 des iranischen Zivilgesetzes festgelegt. Der Mann als Familienvorstand bestimmt über den Wohnsitz wie über die Berufstätigkeit seiner Frau. Verstößt seiner Meinung nach der Beruf seiner Frau gegen seine Ehre und die der Familie, kann er die Berufsaus609 übung seiner Frau verbieten. Dies kann jederzeit geschehen, denn laut Artikel 1106 und 1107 des Zivilgesetzes ist der Mann verantwortlich für den 610 Unterhalt der Frau bzw. der Familie und nicht die Frau. Deshalb hat ihre Berufstätigkeit keinen Einfluss auf die wirtschaftliche Lage der Familie. Dennoch sieht Artikel 1108 vor, dass dann, wenn eine Ehefrau ihren ehelichen Pflichten nicht nachkommt, sie keinen Anspruch auf Unterhalt hat. Das kommt beispielsweise vor, wenn die Frau ohne Erlaubnis ihres Mannes das 611 Haus verlässt, ohne seine Erlaubnis etwas kauft oder jemanden einlädt etc. Die Frau bedarf in diesem Sinne für jede Aktivität der Erlaubnis ihres Mannes, sogar wenn sie ihre Eltern besuchen möchte. Ist der Mann nicht damit einverstanden, kann er ihr dies verbieten. Auch wenn Frauen ins Ausland verreisen wollen, benötigen sie die schriftliche Zustimmung ihres Ehemannes. Die wichtigste Aufgabe der Frau in der Familie ist, möglichst früh möglichst viele Kinder zu bekommen und sie islamisch zu erziehen. Nach der Revolution startete die Regierung eine große Propagandakampagne mit der Absicht, die Geburtenrate zu steigern, um auf diese Weise die Armee des Verborgenen Imam bilden zu können. Nach Khomeini ist jedes Kind ein Soldat des

609

610 611

iranische Zivilrecht nach der Revolution Polygynie und die Ehe auf Zeit anerkennt, wurde dieses Phänomen dennoch innerhalb der iranischen Bevölkerung (im Gegensatz zu anderen arabischen bzw. islamischen Ländern) kaum als positiv akzeptiert. Die Frauen oder Männer, die im Rahmen einer Polygynie oder „Ehe auf Zeit“ verheiratet sind, werden meist als abnormal oder lüstern angesehen. Vgl. Artikel 1114 und 1117 des Zivilrechts d.I.R.I. Die Ehefrau kann nur dann den Wohnsitz bestimmen, wenn sie dies im Ehevertrag festgelegt hat. Auch wenn die Frau vor ihrer Ehe berufstätig war, darf der Mann ihre Berufstätigkeit nicht mehr verbieten. Sogar wenn die Frau wohlhabend ist, muss sie nichts zu den Haushaltskosten beitragen. Mehrangiz Kar (eine der bedeutendsten iranischen Anwältinnen und Menschenrechtsaktivistin) deutet darauf hin, dass es öfter vorkommt, dass Ehefrauen wegen ehelicher Gewalterfahrungen den Wohnsitz verlassen. Der Mann kann sich im Gericht auf Artikel 1114 berufen, dass seine Frau das Haus ohne seine Erlaubnis verlassen hat. Diese Aussage reicht völlig aus, um das Recht der Frau auf Unterhalt aufzuheben. Vgl. Kar, M. (2002): „Eine Studie über die Gewalt gegen die Frauen im Iran“, Teheran: in: Davani, F. (2010): S. 94.

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4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

verborgenen Imam, das ihm beim Kampf gegen die Feinde des Islam zur Seite steht. Zudem ist die Frau verpflichtet, durch Bewahrung ihrer Keuschheit zur Stärkung der Grundlagen der Familie beizutragen. Die Keuschheit und Sittsamkeit der Frau sind ihre wichtigsten Eigenschaften für den Schutz der Familie. Fehlen diese Eigenschaften einer Frau und bleibt sie in ständigem Kontakt mit fremden Männern, so bestehe die große Gefahr, dass die Frau sich ständig in fremde Männer verliebe (da sie von Natur aus emotional orientiert ist) und die Männer, die sogar verheiratet sind, sich in sie verlieben, wodurch die Familien zusammenbrechen würden. Deshalb ist es laut Khomeini und Motahhari (und auch vielen anderen schiitischen Gelehrten) äußerst notwendig, dass die Frau verschleiert bleibt und soweit wie möglich vom Kontakt mit fremden Männern ferngehalten wird. Dafür beziehen sie sich auf Vers 31 der Sure des Lichtes im Koran: Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber) ihre Augen niederschlagen, und ihre Keuschheit bewahren, den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht (normalerweise) sichtbar ist, ihren Schal sich über den (vom Halsausschnitt nach vorne heruntergehenden) Schlitz (des Kleides) ziehen und den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, niemandem offen zeigen, außer ihrem Mann, ihrem Vater, ihrem Schwiegervater, ihren Söhnen, ihren Stiefsöhnen, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und ihrer Schwestern, ihren Frauen, ihren Sklavinnen, den männlichen Bediensteten, die keinen Geschlechtstrieb (mehr) haben, und den Kindern, die noch nichts von weiblichen Geschlechtsteilen wissen. Und sie sollen nicht mit ihren Beinen aneinanderschlagen und damit auf den Schmuck aufmerksam machen, den sie (durch die Kleidung) verborgen (an ihnen) tragen. Und wendet euch allesamt (reumütig) wieder Allah zu, ihr Gläubigen Viel612 leicht wird es euch (dann) wohl ergehen. 612

Vgl. Koran, Übers.: http://www.koransuren.de/koran/sure24.html. Außer vor den erwähnten Verwandten in diesem Vers sollen die Frauen ab dem neunten Lebensjahr vor anderen Männern verschleiert erscheinen, das heißt außer ihrem Gesicht und den beiden Händen (ohne die Handgelenke) muss alles verschleiert sein. Motahhari jedoch geht einen Schritt weiter und behauptet, da die Frauen und Töchter des Propheten sogar ihr Gesicht und ihre Hände verschleiert haben, ist es nicht übertrieben, wenn verlangt wird, dass die Frauen ebenfalls diese beiden Stellen bedecken (Motahhari, M. (1994 b): S. 184-186; 204-216).

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

Somit ist der Hidschab (die Verschleierung) im iranischen Strafgesetz verankert; Artikel 638 sieht vor, dass eine Frau, die unverschleiert in der Öffentlichkeit erscheint, mit einer Haftstrafe von 10 Tagen bis zu zwei Monaten 613 oder einer Geldstrafe bestraft werden muss. Nach Motahhari hat der Hidschab vier wichtige Funktionen. Zunächst bringt er Seelenfrieden. Denn fehlen Hidschab und kontrollierter Kontakt zwischen Männern und Frauen, kann die Begierde nach Sex nie stillgestellt werden. Männer und Frauen stellen sich, so Motahhari, in ihren Phantasien Geschlechtsverkehr mit diversen Partnern vor, werden immer gieriger nach 614 Sex und finden nie Seelenfrieden. Zudem führe der Hidschab dazu, dass die familiären Strukturen gestärkt werden. Denn wenn Männer in der Gesellschaft nur verschleierte Frauen zu Gesicht bekommen, wird ihre Phantasie nicht sex-orientiert bzw. sie entwickeln kein Vergleichsbild zu ihrer Frau. Sie werden nur Lust auf Sex mit ihrer eigenen Ehefrau haben, die sie auch nackt sehen können. Infolgedessen werden Männer und Frauen früh heiraten und ihre sexuellen Bedürfnisse nur im Rahmen der Ehe als der einzigen legitimen Institution für Sexualität im Islam befriedigen. Die dritte Funktion des Hidschab liege in der Stärkung der Stabilität der Gesellschaft. Wenn die Frauen sich durch den Hidschab vor fremden Männern bedecken, können sich sowohl Männer als auch Frauen besser auf ihre Arbeit konzentrieren und erreichen deshalb eine höhere Effizienz bei der Arbeit und in der Gesellschaft. Motahhari schreibt: Können die Mädchen und Jungen, die in separaten Räumen studieren oder in einer Atmosphäre studieren, in der Frauen sich vollständig bedecken und kein Make-up tragen, besser lernen und denken und dem Dozenten zuhören als dann, wenn neben jedem Jungen ein 613

614

Vgl. Mansour, J. (Hg.) (2007 b): „Iranisches Strafgesetzbuch“, Teheran: Didar Verlag, 49. Aufl.. Was aber unter „verschleiert“ zu verstehen ist, wurde im Gesetz nicht deutlich erklärt. Deshalb gibt es verschiedene Interpretationen dafür. Für manche bedeutet das Tragen von Nagellack und für andere beispielsweise das Tragen eines hellen Mantels oder Kopftuches, „unverschleiert“ zu sein. Vgl. Davani, F. (2010): S. 95-96. An einer anderen Stelle seines Buches behauptet jedoch Motahhari, dass der Hidschab deshalb wichtig sei, weil dadurch die sexuelle Phantasie der Männer erregt wird! Anders formuliert behauptet er, dadurch dass Männer wegen des Hidschab die Körper der Frauen gar nicht zu Gesicht bekommen, würden sie darüber phantasieren, was unter dieser Verschleierung verdeckt worden ist, und das mache Frauen für sie attraktiv! Vgl. Motahhari, M. (1994 b): S. 73-74.

222

4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

Mädchen mit Make-up und im Minirock sitzen würde? Kann ein Mann, der auf der Straßen, im Bazar, im Büro, in der Fabrik usw. ständig die Gesichter von Make-up tragenden, aufreizenden Frauen sieht, sich besser auf seine Arbeit konzentrieren oder in einer Atmo615 sphäre, in der er nichts davon zu Gesicht bekommt?“ Die letzte Funktion des Hidschab liegt Motahhari zufolge darin, dass er den Frauen mehr Wert und Respekt verleiht. Denn jede Frau, die den Hidschab trägt, signalisiert die Tatsache, dass sie nicht als Sexualobjekt zur Verfügung 616 steht, und dadurch würden Männer ihr mehr Respekt schenken. Auf der anderen Seite ist der Hidschab nach Motahhari die einzige Waffe, mit der die Frau mehr Respekt von ihrem Mann gewinnen kann, denn: Wir haben (ich habe) bereits erwähnt, dass im Hinblick auf körperliche Kraft der Mann ganz gewiss stärker als die Frau ist. Auch im Hinblick auf das Gehirn und die Denkfähigkeit ist diese Stärke festzustellen. Die Frau hat hinsichtlich dieser zwei Aspekte nicht die notwendige Kraft im Vergleich zur Stärke der Männer. Aber hinsichtlich der Gefühle ist die Frau stärker als Männer. Die Einhaltung einer Grenze zwischen der Frau und dem Mann ist immer eines der mysteriösen Mittel gewesen, die die Frau zwecks Erhaltung ihrer Position und des Respekts gegenüber dem Mann benutzt hat. Der Islam ermutigt die Frauen, diese Waffe zu benutzen. Der Islam hat ausdrücklich betont, dass je keuscher die Frau sich bewegt und sich vor den Blicken der Männern bedeckt, desto mehr wird sie respektiert 617 werden. Dieser Paragraph zeigt eine der vielen sexistischen Äußerungen der islamischen Gelehrten gegenüber den Frauen. Aufgrund dieser Behauptung können die Frauen sich nicht durch ihre individuellen und gesellschaftlichen Gaben und Leistungen Respekt schaffen, denn sie sind in dieser Hinsicht grundsätzlich schwächer als Männer. Auch im nächsten Abschnitt ist diese sexistische Ansicht zu beobachten, in dem Motahhari die Verschleierung als eine Notlösung für die perverse Natur der Frauen darstellt: Der Grund, warum der Islam den Frauen den Befehl zur Verschleie615 616 617

Vgl. Motahhari, M. (1994 b): S. 93 (freie Übersetzung P. J.). Vgl. ebd.: S. 84-95. Vgl. ebd.: S. 95 (freie Übersetzung P. J.).

223

4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

rung erteilt hat (und nicht den Männern) liegt darin, dass der Wunsch, sich zu verzieren und sich zu zeigen, nur den Frauen eigen ist (…). Nirgendwo auf der Welt gibt es Beispiele dafür, dass Männer durchsichtige Kleidung anziehen und aufreizendes Make-up tragen. Das ist die Natur der Frau, dass sie die Männer zu verführen versucht und sie zu ihren Gefangenen machen möchte. Da die Perversion von Nacktheit und Anziehung nur den Frauen eigen ist, gelten 618 deshalb die Verschleierungsregelungen nur für sie. Wegen dieser perversen Eigenschaft der Frauen schlagen Motahhari und Khomeini vor, dass die Ehemänner bzw. die Väter soweit wie möglich die Präsenz ihrer Frauen bzw. Töchter in den gesellschaftlichen Sphären, in denen Männer und Frauen zusammen treffen, vermeiden. Motahhari bezieht sich auf einen Rat von Emam Ali (der erste Imam der Schiiten und Schwiegersohn des Propheten) an seinen Sohn: Versuche soweit wie möglich, dass deine Frau mit fremden Männern keine Kontakte hat. Nichts (als das) wird die Keuschheit einer Frau aufrechterhalten. Genauso gefährlich, wie das Ausgehen der Frauen (von zuhause) und ihre Kontakte zu fremden Männern außerhalb des Hauses sind, ist es gefährlich wenn du fremde Männer mit dir nach Hause nimmst und deine Frau die Erlaubnis hat, mit ihnen zuhause in Kontakt zu kommen. Wenn es möglich ist, mach es deiner Frau unmöglich, dass sie außer dir einen anderen Mann kennen619 lernt. 618

619

Vgl. Motahhari, M. (1994 b): S. 88 (freie Übersetzung P. J.). Gleichzeitig wurden ältere Frauen im Koran von der Verschleierung befreit. (Vgl. Vers 60, Sure des Lichtes). Dazu schreibt Motahhari: „Sie sind ältere Frauen, die als Frau in Rente gegangen sind! Das heißt, dass sie für Männer sexuell nicht mehr attraktiv sind und deshalb keine Hoffnung auf Heiraten haben. Es kann sein, dass sie Verlangen danach haben, aber sie haben keine Hoffnung“ (vgl. Motahhari, M. (1994 b): S. 167-8). Zudem gelten die VerschleierungsvVorschriftenorschriften nur für freie Frauen. Sklavinnen und Dienerinnen sind davon befreit. Auch dürfen die leibeigenen Männer die Füße und Haare ihrer Herrin zu Gesicht bekommen (vgl. ebd.: S. 159, 176, 194), so als seien sie weder ein Mann noch ein Mensch. Diese Vorschriften zeigen, dass die Dienerinnen und Sklaven nicht gemäß den Gesetzen der freien Muslime behandelt werden. Die sexuelle Ausnutzung dieser Gruppe von Frauen wird kaum bestraft. Vgl. Ali ibn Abi Talib: Nahj al Balagha, Brief Nr. 31: in: Motahhari, M. (1994 b): S. 235-236. In diesem Buch bringt Motahhari diverse Beispiele von Erzählungen, die dem Propheten oder seiner Familie zugeschrieben worden sind. Er schreibt z.B., dass Fatemeh, die Tochter des Propheten, der Meinung war, dass es das Beste für eine Frau ist, wenn kein fremder Mann sie sieht und sie ebenfalls keinen fremden Mann zu Gesicht bekommt. Vgl. ebd.: S. 237.

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4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

Motahhari bezeichnet diese Ansicht als einen moralischen Rat und folgert daraus, dass es notwendig ist, dass die Gesellschaft soweit wie möglich nach Geschlechtern getrennt bleibt. Die Frauen sollen möglichst zu Hause bleiben und falls sie berufstätig sind, sollten Regelungen geschaffen werden, dass Männer und Frauen sich als Kollegen nicht sehen bzw. so wenig Kontakte wie möglich miteinander haben. An den Universitäten, an den Schulen und allen anderen Orten sollte Motahhari zufolge eine strenge Trennung zwischen Männern und Frauen erfolgen. Die Frauen sollen darauf achten, dass sie, wenn sie in der Öffentlichkeit erscheinen müssen, keine farbige Kleidung (Schleier) tragen, denn durch farbige Kleidung ziehen sie die Blicke der Männer auf sich. Deshalb wurden in den ersten Jahren nach der Revolution allen Frauen, aber auch Mädchen (sowohl in ihren Schuluniformen, als auch außerhalb der Schule) das Tragen farbiger Kleidung untersagt. Sogar Mädchen unter 9 Jahren, sollten in dunkelfarbiger Uniform (meist dunkelblau, grau oder dunkelbraun, wenn nicht schwarz) und Kopfbedeckung in der Schule erscheinen, was bis heute Frauen 620 bei der Arbeit im öffentlichen Dienst betrifft. Die Darstellung der Frau als Wesen mit perversen Neigungen führte dazu, dass bis heute eine Frau, die auf der Straße oder in ihrem Arbeitsbereich sexuell missbraucht bzw. belästigt wurde und versucht, eine Beschwerde bei der Polizei oder bei Behörden einzulegen, oft mit dem zynischen Satz „selber schuld“ konfrontiert wird, sogar wenn sie den Schleier trägt. Denn nach ihrer Ansicht (auch die von Motahhari und Khomeini), ist die Frau selbst die Quelle jeder sexuelle Belästigung, und zwar durch ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihre Redeweise etc. Motahhari rät deshalb dazu, dass Frauen so leise sprechen sollen, dass kein Fremder ihre Stimme hören kann. Außerdem sollen sie kein Parfum in der Öffentlichkeit tragen, da die Düfte der Frauen die Männer sexuell reizen 621 könnten. Diese Anmerkungen zeigen, dass Motahhari, der im Rahmen der theoretischen Diskussionen Frauen als wertvoll und gleichrangige Menschen wie Männer präsentiert, hinsichtlich der Regelungen im Alltagsleben der Frauen und ihrer Präsenz in der Gesellschaft keinerlei Flexibilität und Anerkennung von Freiheitsräumen zeigt. Auch bezogen auf die Gleichberechtigung von 620

621

Wegen der Proteste der Familien wurde die strenge Farbenregelung für die Schuluniform der Mädchen abgeschafft. Zur Zeit sind die Schuluniformen der Mädchen in allen Stufen farbenfroh und eine Kombination von Weiss/Rosa, Weiss/Pink, Weiss/Hellblau, Grün etc. Vgl. Motahhari, M. (1994 b): S. 258-260.

225

4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

Männern und Frauen vor dem Gesetz äußert er sich sehr kritisch. Seiner Ansicht nach sind Mann und Frau in ihrem Dasein als Mensch gleich, dennoch sind sie zwei verschiedene Arten von Menschen, mit unterschiedlichen Eigenschaften und unterschiedlicher Psyche. Deshalb sei die Gleichberechtigung der Geschlechter, die im Rahmen der Frauenbewegung in Europa und 622 Amerika entstanden ist, ein fehlerhaftes System. Das islamische Rechtssystem nämlich unterscheidet in rechtlicher Hinsicht zwischen Mann und Frau, was sich auch im Strafgesetzbuch widerspiegelt. In vielen Strafprozessen ist die Aussage einer Frau vor Gericht ungültig oder nur halb so viel wert wie die Aussage eines Mannes. Beispielsweise bei Diebstahl, vorsätzlicher Tötung oder Homosexualität der Frauen (Lesbianis623 mus) sind die Aussagen der Frauen ungültig, obwohl zum Beispiel bei Homosexualität meistens nur Frauen anwesend sind. In anderen Fällen, wie Totschlag, Verlust der Jungfräulichkeit der Frau oder Ehebruch wird zwar die Aussage der Frau als Zeugin akzeptiert, aber ihre Aussage ist nur halb so viel wert wie die Aussage des Mannes. Dass heißt, dass die Aussage von zwei 624 Frauen als äquivalent zur Aussage eines Mannes berechnet wird. 625 Auch beim Blutgeld liegt diese ungleiche Regelung vor. Artikel 550 des islamischen Strafgesetzes legt fest, dass das Blutgeld der Frau die Hälfte des Blutgeldes für einen Mann beträgt. Auch wenn ein Mann eine Frau tötet und die Familie des Opfers die Todesstrafe verlangt, muss sie zunächst die Hälfte des Blutgeldes an den Täter zahlen, denn das Blutgeld des Mannes beträgt 626 das zweifache der Frau. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass aus den rechtlichen islamischen Grundlagen die Ungleichheit der Geschlechter und die Einschrän622 623 624 625

626

Vgl. Motahhari, M. (1990 c): S. 14-26. Vgl. Abs. 1 Artikel 199 und Abs. 1 Artikel 237 des islamischen Strafgesetzbuches des Iran, verabschiedet am 01.03.2013. Vgl. Artikel 237 und 74 in: ebd. Blutgeld (diyyeh) ist der Betrag, der gemäß Scharia vom Täter oder seiner Familie an die Opferfamilie gezahlt wird. Es wird in der Scharia argumentiert, dass die Tötung eines Mannes als Haupternährer der Familie für diese einen größeren Verlust bedeutet, als wenn eine Frau getötet wird. Dieses Gesetz aber lässt alleinstehende Mütter und die Frauen, welche die einzigen berufstätigen Mitglieder der Familie sind und deren Männer aus besonderen Gründen wie z.B. Krankheit nicht arbeiten können, außer Acht. Diese Regelung gibt es auch beim Thema Erbe. Mehr zum Thema der Ungleichberechtigung von Männern und Frauen in iranischen Gesetzen vgl.: Ebadi, Sh. (2002): „Rechte der Frauen in den Gesetzen der Islamischen Republik Iran“, Teheran: Ganje Danesh Bibliothek Verlag; und Mehrpour, H. (2000): „Ausschnitte aus den Rechten der Frauen“, Teheran: Etelaat Verlag.

226

4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

kung der Frau in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht hervorgehen. Die Frau steht überwiegend im Schatten eines Mannes, sei es Vater, Bruder oder Ehemann und wird hauptsächlich mit ihrer Rolle als Mutter (einer islamischen Mutter) definiert und nur als solche respektiert, nicht durch ihre Teilnahme am sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben. Artikel 5 der verabschiedeten Gesetze des obersten Rates der Kulturrevolution, nämlich die „Richtlinien für die Berufstätigkeit von Frauen in der Islamischen Republik Iran“, definiert die Hauptbeschäftigung der Frauen als „Mutter“ und „Ehefrau“. Außerhalb dieser Rolle wird der Frau kaum Freiheit eingeräumt, meistens mit der Begründung, Frauen seien zu emotional und könnten kaum besser als Männer denken und Entscheidungen treffen. Die Teilnahme der Frau am sozialen Leben wird erst dann gefördert, wenn sie mit politischer Bedeutung verbunden ist, beispielsweise die Teilnahme an Wahlen oder an staatlich-politischen Protesten gegen Feinde des Islam. Ansonsten verlangt die islamische Tradition den Rückzug der Frau aus dem öffentlichen Leben und ihre ausschließliche Anwesenheit im familiären Bereich unter vollständiger Abhängigkeit von ihrem Ehemann; eine Rollendefinition, die längst nicht mehr zur Lebensweise der gebildeten iranischen Frauen passt.

4.1.2

Die heutigen iranischen Frauen und ihre Widerstandsstrategien gegen islamische Regelungen

Aus Sicht der westlichen Bevölkerung und sogar westlicher Wissenschaftler stellen die dargestellten Konstellationen iranische Frauen als Opfer dar, was nicht ganz der Realität entspricht. Die iranischen Frauen handeln aktiv gegen diese Regelungen und Strukturen und erfinden immer wieder neue Strategien, um sich mehr Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Spannungen zwischen den iranischen Frauen und dem Staat haben seit Beginn der Herrschaft der islamischen Regierung zugenommen. Die Frauenbewegungen, deren Spuren seit den letzten Jahren des 19. Jh. im Iran zu finden sind, sind trotz des Drucks von fundamentalistischer Seite nicht untergegangen, sondern in anderen Formen innerhalb der letzten 35 Jahre weitergeführt worden. Der Beginn der Frauenbewegung im Iran war direkt mit dem Beginn der Alphabetisierung der Frauen einige Jahre vor der konstitutionellen Revolution verbunden. Sie konnten dadurch diejenigen Zeitungen und Bücher lesen, die sich für die gesellschaftliche und politische Wandlung im Lande enga227

4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

gierten. Dadurch haben sie sich einerseits mehr an den politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen beteiligt und kämpften an der Seite ihrer Männer für diese Revolution. Auf der anderen Seite gewannen sie an Selbstbewusstsein und forderten die Änderung der patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft, verlangten mehr Rechte und opponierten bewusst gegen einschränkende Regelungen für Frauen. Sie waren die erste Gruppe von ira nischen Frauen, die ihr Schicksal selbst – und frei von religiösen und kulturellen Zwängen – in die Hand nehmen wollten. Im Laufe der Zeit und mit steigender Alphabetisierungsrate und wachsendem Bildungsniveau der Frauen wurde dieser Konflikt auf politischer und gesellschaftlicher Ebene verschärft, was sich bis zum heutigen Tag fortsetzt. Anders formuliert ist die Frauenbewegung und das Streben der Frauen im Iran nach Gleichbehandlung kein neues Phänomen, sondern diese Bewegungen haben eine mehr als 100-jährige Geschichte hinter sich, die durch die Frauenpolitik der islamischen Regierung nicht einfach unterdrückt werden konnte. Wie bereits aufgeführt, waren der nach islamischer Ideologie bevorzugte Ausschluss der Frauen aus der Berufswelt und die Einschränkung ihrer akademischen Bildung nach der Revolution infolge der katastrophalen wirtschaftlichen Lage des Landes nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Lage war so ernst, dass der Staat sich gezwungen sah, gegen seine ideologischen Überzeugungen zu handeln. Dennoch versuchte der Staat, diesen Weg für Frauen soweit wie möglich zu erschweren. Der strenge islamische Dresscode und die Verhaltensrichtlinien für Frauen an den Universitäten und am Arbeitsplatz sowie die Beschränkung bzw. Untersagung des Studiums bzw. der Berufsausübung von Frauen in einigen „nur für Männer bestimmten Fächern“ sind 627 Beispiele dafür. Trotz allem wuchs das Bildungsniveau der Frauen stark an und überstieg 628 bald das der Männer. Dadurch kam es erneut zu einem Identitäts- und Rollenkonflikt zwischen den gebildeten Frauen und den islamischen Vorschriften, was beispielsweise am steigenden Heiratsalter der Frauen, sinkender Fertilitätsrate, veränderter Erziehung der Kinder und Teilnahme an der Ent627

628

Allein im Jahr 1997 war die Zulassung der Frauen in 38 Fächern untersagt worden. Außerdem dürfen Frauen in manchen Berufen, beispielsweise als Richterin, nicht arbeiten. Zudem ist die Beschäftigung der Frauen in gefährlichen Bereichen (auch Schwerarbeit) verboten. Diese Vorschriften änderten sich zum Teil im Laufe der Jahre. Zum Beispiel können Frauen heutzutage als Feuerwehrfrau arbeiten, was vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen war. Der Anteil der Frauen an den Universitäten ist in iranischen Universitäten tatsächlich höher als in den meisten Ländern Mitteleuropas. Vgl. Davani, F. (2010): S. 87.

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4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

scheidungsbildung innerhalb der Familie sowie steigender sozialer und politischer Präsenz sowie am Widerstand gegen den Hidschab zu sehen ist. Das Heiratsalter der Frauen wurde zwar im Rahmen des islamischen Zivilgesetzes stark gesenkt, jedoch zeigen die statistischen Daten einen Befund, der im Gegensatz zum gewünschten Ziel steht. Während 1976 das durchschnittliche Heiratsalter der Frauen bei 19,7 Jahren lag, betrug diese Zahl im Jahr 2011 23,4 und für Frauen mit akademischem Abschluss lag sie noch 629 mindestens zwei Jahre höher. Viele Studien belegen dieses Ergebnis und zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen steigendem Bildungsniveau 630 der Frauen und steigendem Alter der Eheschließung. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der wichtigste ist, dass Frauen bevorzugen, vor der Ehe zu studieren und ihr Studium abzuschließen. Falls sie direkt nach dem Abitur die Aufnahmeprüfung an der Universität bestehen und mit 18 Jahren das Studium beginnen, werden sie (im besten Fall) erst im Alter von 22 Jahren 631 das Bachelorstudium beenden können. Viele von ihnen, die sich bessere Berufsperspektiven wünschen, setzen das Studium fort und promovieren, was ebenfalls einige Jahre in Anspruch nimmt. Vor dem Eintritt in eine Ehe möchten diese jungen Frauen arbeiten und möglichst finanziell unabhängig sein. Sie akzeptieren die traditionelle Rollenverteilung nicht mehr und ver632 langen nach einer Veränderung ihrer Position als Ehefrau in einer Ehe. Zudem möchten sie viel erleben; reisen, diverse Kurse besuchen und feiern, bevor sie die Verantwortung für eine Familie übernehmen. Da viele Frauen an Universitäten außerhalb ihrer Herkunftsstadt oder in einer anderen Provinz aufgenommen werden, beginnen sie viel früher als ihre Vorfahren ein selbständiges Leben (obwohl die meisten von ihnen finanziell von ihren Familien unterstützt werden). Der islamische Rat, soweit wie möglich den Frauen und Töchtern zu verbieten auszugehen, lässt sich unter diesen Bedingungen kaum noch durchsetzen. Studium und Berufstätig629

630

631 632

Vgl. Statistisches Zentrum Iran, in: http://salnameh.sci.org.ir/TableShow/ printversion.aspx und Safiri Kh. (2006): „Frauen und akademische Bildung“, Journal der Fakultät Literatur und Geisteswissenschaften der Universität Teheran, Vol. 15, Nr. 56-57, S. 113. Vgl. Safiri, Kh. (2006): S. 101-127; und Kari, F. (2003): „Einfluss von akademischer Bildung und Berufstätigkeit auf das steigende Alter der Eheschließung“, Al-Zahra Universität, Teheran; und Mehryar A. H., Aghajanian A. (2002): „Women’s Education and Labor Force Participation and Fertility Decline in Iranim Iran“, unter: http://faculty.uncfsu.edu/aaghajanian/papers/femalelaborforce%20participation fertility.pdf. Das Bachelorstudium dauert im Iran vier Jahre. Vgl. Saroukhani, M. B. (1999): „Die Soziologie der Familie“, Teheran: Soroush Verlag.

229

4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

keit geben ihnen die Möglichkeit, Männer zu treffen und Erfahrungen im 633 Kontakt mit ihnen zu sammeln. Wird ein iranisches Mädchen im Alter von 27 Jahren darauf angesprochen, dass ihre Mutter in diesem Alter bereits zwei oder drei Kinder gehabt habe, sagt sie häufig „Ich bin selbst noch ein Kind. Ich habe noch viel zu entdecken.“ An der islamischen Rolle einer Frau als Mutter wird viel Kritik geübt, denn eine Frau ist vor ihrer Rolle als Mutter zunächst ein Mensch, der das Recht auf Leben hat und sich kaum von den 634 traditionellen und religiösen Vorschriften unterdücken lassen möchte. Fühlen sich die Frauen bereit für die Ehe, möchten sie ihren zukünftigen Mann selbst wählen können. Studien zeigen, dass die Anzahl der Frauen, die im Jahre 2005 ihre Ehemänner selbst ausgewählt haben, mehr als doppelt so 635 hoch ist wie vor 20 Jahren. Die meisten von ihnen sehen die gegenseitige 636 Liebe als wichtigste Grundlage für den Beginn einer Ehe und können nicht akzeptieren, dass ihre Väter bzw. gesetzlichen Vertreter den Mann auswählen, mit dem sie (eventuell) bis ans Ende ihres Lebens unter einem Dach leben sollen. Anstatt dessen verlangen sie unabhängige Entscheidungsbildung bei der Auswahl ihrer Ehemänner und sprechen von gegenseitigem Verständnis zwischen den Partnern. Viele Frauen aus der Mittelschicht bzw. aus höheren Schichten der Gesellschaft heiraten ihren Freund, mit dem sie zuvor über Jahre in einer Partnerschaft gelebt haben. 633

634

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Zu beachten ist, dass ein großer Teil der iranischen jungen Generation bereits mit 15 oder 16 Jahren sich einen Freund oder eine Freundin sucht, also entweder in einer festen Beziehung steht oder noch experimentiert, wie die Beziehung mit dem anderen Geschlecht sein kann. Es war noch vor zehn Jahren schwierig für einen Jungen und ein Mädchen, ungestört als Paar auf der Straße zu gehen. Heutzutage sind diese Paare vor allem in großen Städten zu sehen. Aber auch in kleinen Städten fangen die Jugendlichen früh damit an, das andere Geschlecht kennen zu lernen. Beginnen sie mit dem Studium, haben viele diesbezüglich bereits einige Erfahrungen hinter sich. Diese Umstände waren für viele religiöse bzw. traditionelle Familien vor 15 Jahren unakzeptabel. Für den Staat und streng religiöse Familien ist diese Situation eine große Gefahr für den Islam, die unbedingt bekämpft und beseitigt werden muss. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass dieser Weg für junge iranische Frauen nicht leicht war. Vor allem die Mädchen aus religiösen und traditionellen Familien hatten es sehr schwer, zwecks Studium von zu Hause auszuziehen. Im Laufe der Jahre jedoch erlebten die iranischen Familien eine enorme Wandlung im Denken, was die persönliche Freiheit ihrer Töchter angeht. Vgl. Mashini, F. (2009): „Situation der iranischen Frauen 30 Jahre nach der Revolution“, in: Ayin Journal für Soziologie und Geisteswissenschaften, Teheran: Februar und März 2009, Nr. 19-20, S. 128. Vgl. Jalayipour, H. (2006): „Vier soziologische Evaluationen der Stellung der Frauen im Iran“, in: „Soziales Wohlfahrtsjournal“, Teheran: Nummer 21, S. 39-71.

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4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

Auch beim Thema der außer- bzw. vorehelichen Sexualität ist eine große Wandlung zu sehen. Die Möglichkeit, ein sexuelles Leben außerhalb bzw. vor der Ehe zu führen, war im Laufe der Geschichte für Männer viel einfacher. Mädchen wurde Sexualität vor der Ehe auf Grund der Heiligkeit der Jungfräulichkeit untersagt. Im Laufe der letzten Jahre hat jedoch unter den Frauen der höheren und zum Teil der mittleren Schichten eine Bewegung begonnen, in deren Rahmen der Verzicht auf Geschlechtsverkehr wegen der Bewahrung der Jungfräulichkeit für den Ehemann, der höchst wahrscheinlich vor seiner Ehe bereits eigene sexuelle Erfahrungen gehabt hat, als ungerecht angesehen wurde. Sie sehen die Sexualität als den wohl privatesten Bereich des menschlichen Lebens und leisten Widerstand gegen diejenigen, die auf Grund traditioneller und religiöser Überzeugungen sich in das Sexualleben anderer Menschen einmischen oder vorehelichen Geschlechtsverkehr als Zeichen der Verdorbenheit bezeichnen. Im Laufe der Zeit hat sich diese Ansicht unter den jungen Generationen (sowohl Männer als auch Frauen) ver637 breitet, obwohl viele Frauen einen hohen Preis dafür zahlen sollten. Sie sind sich einig, dass es besser wäre, vor der Ehe das sexuelle Zusammensein erlebt zu haben, denn sogar gemäß staatlichen Statistiken ist sexuelle Unzu638 friedenheit in einer Ehe einer der wichtigsten Scheidungsgründe im Iran. Der Vorstand der kulturellen und sozialen Kommission des Stadtrats Teheran erklärte im Jahr 2012 als größte Herausforderung und Gefahr der islamischen Gesellschaft die „Zunahme des Zusammenlebens von unverheirate639 ten Paaren“. Tatsächlich ist die Anzahl von jungen Frauen und Männern, 637

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Die Quote der illegalen Abtreibungen von unverheirateten Frauen im Iran ist seit einigen Jahren enorm gestiegen. Die Abtreibung der Kinder, die in einer außerehelichen Beziehung gezeugt wurden, kann jedoch kaum in Krankenhäusern erfolgt sein. Die Ärzte, die diese Operationen illegal durchführen, machen sich strafbar. Deshalb konnten sich viele Frauen nach einer Abtreibung und im Fall von Komplikationen nur schwer behandeln lassen und werden deshalb sogar für immer kinderlos bleiben. Im Laufe der Zeit und mit der Verwendung von Verhütungsmitteln ist die Zahl solcher Abtreibungen leicht gesunken. Zudem lassen sich viele Frauen operieren (falls sie einen anderen Mann als ihren (Sexual-)Partner heiraten möchten), wenn sie vor der Ehe sexuelle Erfahrungen hatten und dadurch ihre Jungfräulichkeit verloren haben. Durch diesen Eingriff wird die Jungfräulichkeit wieder hergestellt. Diese Operation, die mit hohen Kosten verbunden ist, ist ebenfalls illegal, wird aber sehr häufig durchgeführt. Vgl. Hamshahri Zeitung, Gesellschaftsredaktion (10.03.2013): „16 Scheidungen pro Stunde. Die wichtigsten Gründe: Fremdgehen, sexuelle Probleme und Inflation“, unter: http://www.hamshahrionline.ir/details/204746; und Pour abdollahi, Sh. (10.12.2011): „Sex. Eine wichtige Scheidungsursache im Iran“, unter: http://www. bbc.co.uk/persian/iran/2011/12/111210_l10_shp_iran_divorce_sex.shtml. Vgl. Khazr Heidari, F. (31.12.2012): „Sorgen der iranischen Regierung über das stei-

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

die in einer Partnerschaft zusammenleben, fortwährend gestiegen. Dadurch, dass immer mehr Männer und Frauen die Gelegenheit zu Sexualität vor der Ehe nutzen, wird die Ehe nicht mehr als notwendige Institution für die Befriedigung sexueller Bedürfnisse betrachtet. Neben wirtschaftlichen Problemen ist dieses Phänomen ein wichtiger Grund für das steigende Alter der Eheschließung von Männern und Frauen und sogar den Verzicht auf die Ehe im Iran. Eine Gefahr für die staatliche Ideologie stellt diese Entwicklung insofern dar, als gemäß Artikel 10 der iranischen Verfassung die Familie die fundamentale Einheit der islamischen Gesellschaft ist und ihre Heiligkeit geschützt sowie ihre Fundamente auf der Grundlage des islamischen Rechts und der islamischen Ethik durch den Staat gestärkt werden müssen. So gering heute das Interesse der Frauen (auch der Männer) an einer Eheschließung sein mag, so sehr steigt zugleich die Anzahl der jährlichen Scheidungen im Iran. Betrug und Untreue (seitens beider Partner), sexuelle Unzufriedenheit und wirtschaftliche Probleme, aber auch Meinungsverschiedenheiten zwischen den Partnern sind die wichtigsten Gründe dafür, dass über 640 16 Prozent aller Ehen in die Brüche gehen. Im Jahr 2011 hat sich im Vergleich zum Stand von vor 15 Jahren die Anzahl der Scheidungen vervier641 facht. Für das Jahr 2012 zeigen die statistischen Daten einen Rückgang der Heiratsquote um 9,5 Prozent und eine Erhöhung der Scheidungsquote um 642 über 6 Prozent im Vergleich zu 2011. Die jungen Iranerinnen geben sich mit der Rolle als Pflegerin des Bildes der hingebungsvollen Mutter und Ehefrau nicht mehr zufrieden und möchten ihre Pläne für ihre eigene Entwicklung durchsetzen. Vor allem die berufstätigen Frauen, die finanziell unabhängig 643 sind, haben es viel leichter, sich von ihren Männern zu trennen.

640 641 642

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gende außereheliche Zusammenleben von Paaren“, unter: http://www. radiofarda.com/content/f4_iran_worry_unmarried_couple_life/24812949.html. Vgl. http://www.mehrnews.com/detail/News/2010874. Vgl. Statistisches Zentrum Iran, in: http://salnameh.sci.org.ir/TableShow/ printversion.aspx. [Letzter Aufruf: 08.09.2014] Vgl. BBC Persian, Politikredaktion (05.05.2013): „Verbandsvorsitzender der Sozialarbeiter des Iran: unvergleichlicher Rückgang der Ehe und Zunahme von Scheidungen im Iran“: unter: http://www.bbc.co.uk/persian/iran/2013/05/130505_nm_ marriage_divorce.shtml. Trotzdem gibt es immer noch Frauen, die wegen ihrer Kinder das Leben in einer unglücklichen Ehe fortsetzen, denn laut iranischem Recht haben die Väter das alleinige Sorgerecht für die Kinder ab deren siebten Lebensjahr (vgl. Artikel 1169 des Zivilgesetzbuchs d.I.R.I.), es sei denn, der Vater ist krank (physisch oder psychisch), süchtig oder lehnt selbst diese Verantwortung ab. Zu beachten ist, dass das Scheidungsrecht immer noch nur den Männern gehört, außer in einigen Ausnahmefällen (wie körperliche Gewalt gegen Frauen, Sucht, schwere psychische oder physische

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4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

Auch bezüglich der Pflichten und Rechte in einer Partnerschaft und der familiären Angelegenheiten lässt sich ein großer Unterschied zwischen der älteren Generation und jungen gebildeten iranischen Frauen feststellen. Die Studien zeigen, dass eine große Anzahl von gebildeten Frauen der Meinung ist, dass sowohl Männer als auch Frauen für die Finanzierung des Lebensunterhaltes verantwortlich sind. Dennoch ist festzustellen, dass je höher das Bildungsniveau der Frauen ist, sie desto weniger die islamischen Vorschriften akzeptieren, in deren Rahmen die Frau ihrem Mann in jeder Hinsicht gehorchen soll. Im Gegenteil verlangen sie von ihren Ehemännern, dass sie beide gleichermaßen an der Entscheidungsbildung über alle Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens beteiligt sind. Zudem bestehen die Frauen darauf, 644 dass die Männer sich im Haushalt und bei der Kindererziehung beteiligen. Anders als in den islamischen Vorschriften vorgesehen, bitten die iranischen Frauen nicht für jede Aktivität um die Erlaubnis ihres Mannes (Ausnahme sind stark religiöse Frauen). Die Stellung des Mannes als Oberhaupt der Familie wurde dadurch mit der Zeit immer mehr geschwächt. Mit steigendem Bildungsniveau änderte sich auch die Fertilitätsrate der Frauen. Je höher das Bildungsniveau der Frauen, desto weniger Kinder bringen sie zur Welt. Im Durchschnitt bekommen iranische Frauen zurzeit 1,8 645 Kinder. Auch bekommen sie im Vergleich zu Frauen mit niedrigerem Bil646 dungsniveau ihr erstes Kind später. Dieser Verlauf ist vor allem dem Familienregelungsgesetz, verabschiedet am 26. Mai 1993, zu verdanken, wodurch versucht wurde, die Anzahl der Kinder pro Familie zu senken. Artikel zwei dieses Gesetzes sieht vor, dass alle Studentinnen und Studenten in allen Fächern und allen Universitäten ein Pflichtseminar namens „Familienregelung 647 und Geburtenkontrolle“ besuchen müssen. Im Rahmen dieses Seminars

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Krankheiten, Impotenz und Unfähigkeit zur Zahlung des Unterhalts). Vgl. Artikel 1133, 1119,1129; und 1130 des Zivilgesetzbuches d.I.R.I. Vgl. Jalayipour, H. (2006); Mashini, F. (2009); Safiri, Kh. (2006); und Ra’efat jah, M., Saroukhani, B. (2004): „Die Auswirkungen sozialer Faktoren auf die Neudefinierung der sozialen Identität unter Frauen mit akademischer Bildung“, in: Frauenforschungsmagazin, Vol. 2, Nr. 1. Diese Untersuchungen zeigen, dass je niedriger das Bildungsniveau der Frauen, desto leichter akzeptieren und respektieren sie die religiösen und traditionellen Rollenverteilungen. Vgl. Mirzayi, Y. (12.04.2012): „Der wichtigste Grund für die sinkende Fertilitätsrate ist das steigende Bildungsniveau der Frauen: ein Interview mit Professor Habib-allah Zanjani“, in: Donyaye Eghtesad Zeitung, Teheran: Nr. 2686, S. 28; und http://www.jamnews.ir/detail/News/115983. Vgl. Mehryar, A. H., Aghajanian, A. (2002); und Safiri, Kh. (2006). Vgl. Journal des Arbeitgeberverbands Iran: „Familien- und Bevölkerungsregelungs-

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

sollten junge Frauen und Männer mit den Verhütungsmethoden und neuen Methoden für die Gesundheit und Hygiene der Frau während der Schwan648 gerschaft u.ä. vertraut gemacht werden. Diese neue Generation von Müttern betrachtet ihr Kind keineswegs als Soldat des verborgenen Imam, sondern als ein Wesen, das seinen Wünschen nachgehen und dadurch zur Gestaltung seines eigenen Lebens beitragen soll. Auch die Erziehungsmethode der gebildeten Mütter unterscheidet sich von derjenigen der Mütter mit niedrigerem Bildungsniveau sowie Müttern älterer Generationen. Studien zufolge setzen sie bei der Erziehung mehr auf Förderung und Ermutigung als auf Bestrafung. Zudem gehen sie respektvoller mit ihren Kindern um und fragen bei der Entscheidungsbildung in familiären 649 Angelegenheiten auch nach der Meinung ihrer Kinder. Das erzieherische Ziel dieser Mütter liegt nicht darin, gute Muslime, sondern ein selbstbewusstes, zielstrebiges, verantwortungsvolles und möglichst glückliches Kind zu erziehen. Außerhalb der familiären Sphäre zeigen die Frauen ebenfalls immer mehr Präsenz, jedoch haben sie hier mit großen Problemen zu kämpfen, vor allem, was den Arbeitsmarkt betrifft. Angesicht der Tatsache, dass das Bildungsniveau der Frauen enorm gestiegen ist, wäre zu erwarten, dass ihr Zugang zum Arbeitsmarkt (vor allem zu lukrativen Arbeitsverhältnissen) in gleichem Maß gewachsen wäre. Die 648

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gesetz“, unter: http://www.icea.ir/?page_id=1949. Die Familienregelungspolitik wurde bereits während der Pahlavi-Herrschaft im Iran eingeführt. Nach der Revolution forderte Khomeini von Muslimen so viele Kinder wie möglich zu bekommen, denn für ihn war jedes Kind ein Soldat des verborgenen Imam und deshalb „ein Dorn in den Augen der Feinde des Islam“. Wegen des Krieges litt das Land unter einer schweren wirtschaftlichen Depression und einer hohen Arbeitslosenquote, und deshalb war die Weiterführung dieser Politik nicht mehr möglich. Deshalb wurde das Familienregelungsgesetz während der Amtszeit von Präsident Rafsandchani unter dem Motto „Zwei Kinder sind genug“ wieder ins Leben gerufen. Das Familienregelungsgesetz sah vor, dass die Familien für das vierte Kind (und mehr) keine staatlichen Unterstützungen erhalten werden. Im Rahmen der angebotenen Seminare, die von Frauenärzten und Frauenärztinnen gehalten wurden, wurden zudem vor allem Männer in einem Semester mit der Anatomie der Frauen und ihren physischen und psychischen Schwankungen während ihrer monatlichen Periode und der Schwangerschaft vertraut gemacht. Außerdem wurden die Studenten und Studentinnen über gefährliches sexuelles Verhalten und ansteckende sexuelle Krankheiten unterrichtet. Diese Seminare gehörten zu den seltenen Seminaren, die getrennt für Männer und Frauen stattgefunden haben. Wie später zu sehen ist, wurde dieses Gesetz während der Amtszeit von Präsident Ahmadinedschad außer Kraft gesetzt und die Politik von Khomeini am Anfang der Revolution samt seinen Forderungen wieder ins Leben gerufen. Vgl. Safiri, Kh. (2006).

234

4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

Realität sieht jedoch anders aus. Zwar bilden die iranischen Frauen fast die Hälfte der Bevölkerung und verfügen über immer bessere Qualifikationen, jedoch sank ihr Anteil am Arbeitsmarkt (vor allem im öffentlichen Bereich als dem Hauptbereich der iranischen Wirtschaft) im Jahr 2006 auf lediglich 12 Prozent, während diese Zahl im Jahr 1976 immerhin noch 13 Prozent betrug. Dieser Anteil sank im Jahr 2008, nach Verschärfung der Islamisierungspläne der Regierung von Präsident Ahmadinedschad, auf 7 Prozent. Zu beachten ist, dass diejenigen Frauen, die die Ideologie des Staates teilen bzw. in die Regierung integriert sind, auf dem Arbeitsmarkt eine ungleich größere Handlungsmacht als andere Frauen haben. Die Statistiken für das Jahr 2006 zeigen, dass über 88,7 Prozent der Frauen mit akademischen Abschlüssen arbeitslos sind. Verursacht wurde diese Konstellation vor allem durch die Politik des Staates, die die aktive Teilnahme 650 und Teilhabe der Frauen an der wirtschaftlichen Sphäre nicht duldet. Seit Beginn der zweiten Phase der Kulturrevolution wird in staatlichen Medien immer mehr propagiert, dass der Tätigkeitsbereich der Frauen das Haus und nicht wirtschaftliche Sphären seien. Das liegt u.a. daran, dass die Kontakte von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt vielfältig und nicht hundertprozentig kontrollierbar sind, was den religiösen Vorschriften widerspricht. Die mehrfachen täglichen Kontakte zwischen Männern und Frauen sind jedoch ein fester Bestandteil des Alltags im Iran und bilden eine Selbstverständlichkeit. Gleich ob im Taxi, Bus und im Büro bei der Arbeit, bei Verwaltungsbehörden und an den Universitäten und auch beim Einkauf im Supermarkt kommen Männer und Frauen ins Gespräch. Sogar in dieser Hinsicht zeigen sich die Frauen viel selbstbewusster, achten kaum auf die traditionell vorgeschriebenen Schamgrenzen, sagen vielmehr ihre Meinung sehr laut und deutlich und protestieren öfter gegen kleine Ungerechtigkeiten und sexistische Äußerungen. Sogar die Frauen, die keinen Beruf außerhalb des Hauses ausüben, wissen ihre Arbeit als Hausfrau heutzutage mehr zu schätzen. Diese Entwicklung ist weit entfernt vom Idealbild der islamischen Gesellschaft und einer Muslimin. So schwer es die Frauen auch haben, im öffentlichen Bereich zu arbeiten, so versuchen sie zunehmend, auf dem privaten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen bzw. sich finanziell so weit wie möglich unabhängig zu machen. Sie arbeiten 650

Vgl. Davani, F. (2010): S. 88; Mashini, F. (2009): S. 128; und Peivandi, S. (2011): „Bildung der Frauen als Wandlungsfaktor der iranischen Gesellschaft“, unter: http://www.bbc.co.uk/persian/iran/2011/03/110309_l25_peivandi_women_day_ iwd2011.shtml.

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

als Verkäuferin, Sekretärin und Angestellte, sogar Taxifahrerin, aber auch Investorin, Architektin, Anwältin, Autorin, Verlegerin, Journalistin etc. in privaten Bereichen. Mittlerweile entwickeln Frauen ihr eigenes Modelabel oder sind im internationalen Handel und an den Börsen tätig. Auch sind sie in den Bereichen Kunst und Film ehrgeizig und präsent. International renommierte iranische Schauspielerinnen, Filmautorinnen und Regisseurinnen, wie Manije Hekmat, Niki Karimi, Pouran Derakhshandeh und Tahmineh Milani versuchen trotz aller Einschränkungen, in ihren Filmen die Probleme der Frauen und die Paradoxien ihrer Lebensführung in Hinblick auf die traditionelle 651 bzw. islamische Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Ferner versuchen die Frauen, im politischen und sozialen Bereich aktiv zu bleiben. Vor allem durch Gründung von NGOs und Vereinen wie „Verein der reformistischen Frauen“ und „Mütter des Friedens“ sowie die aktive Gestaltung der Kampagnen gegen Ungleichbehandlung der Geschlechter fordern sie die Verbesserung der rechtlichen und politischen Lage der Frauen, aber auch der Männer. Die Anzahl dieser NGOs und Frauenaktivistinnen ist im Laufe der Zeit immer mehr gestiegen, wobei die Mitglieder mit enormer Unterdrückung, Bedrohung, Inhaftierung und Folter zu kämpfen haben. Frauen zeigen für die Teilhabe an der Politik großes Interesse und kämpfen seit Jahren um Positionen, jedoch mit nur wenig Erfolg. Die Besetzung einiger staatlicher Posten durch Frauen ist untersagt worden, darunter zu nennen ist das Amt des Präsidenten und Geistlichen Führers. Der Anteil von Parlamentarierinnen ist seit Beginn der Herrschaft der Islamischen Republik 652 meist unter 3 Prozent gehalten worden. Auch bei der Besetzung der Ministerien ist die Lage nicht besser. In der mehr als 35-jährigen Regierungszeit der islamischen Herrscher hat eine einzige Frau ein Amt als Ministerin über653 nommen, und diese wurde noch vor Ende ihrer Amtszeit entlassen. 651

652

653

Die Menge der kritischen Filme über die Situation der Frauen in der iranischen Gesellschaft und über die Ungleichbehandlung von Frauen im rechtlichen Raum ist während der Amtszeit von Präsident Khatami stark gestiegen. Manche diese Filme wie „Drei Frauen“ von Manije Hekmat wurden international sehr erfolgreich (sie wurden auch bei der Berlinale 2007 gezeigt). Dabei gibt es neben iranischen Regisseurinnen auch viele männliche Filmemacher, die ihre Filme diesen Themen gewidmet haben. Vgl. Sharif, L. (06.05.2012): „Anzahl der weiblichen Abgeordneten in neun Legislaturperioden: Anteil der Frauen am Haus des Volkes“, Hamshahri Zeitung, unter: http://hamshahrionline.ir/details/169329. Die einzigen Ausnahmen sind das fünfte, sechste und siebte Parlament, die hauptsächlich in die Amtszeit von Präsident Khatami fallen. Aber auch da erreichte dieser Anteil nur maximal fünf Prozent. Marzieh Vahid Dastdjerdi wurde während der Amtszeit von Präsident Ahmadined-

236

4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

Ihre Kritik an dieser Politik zeigen die iranischen Frauen, indem sie immer wieder in großer Zahl bei den parlamentarischen-, aber auch Präsidentschaftswahlen kandidieren, obwohl sie bereits wissen, dass sie wegen ihres Geschlechtes als disqualifiziert erklärt werden. Dennoch beteiligen sie sich zunehmend an Wahlen, werden Mitglied in politischen Parteien und verfol654 gen die politischen Ereignisse. Bei fast allen Kundgebungen und Protesten sind Frauen immer in der ersten Reihe dabei, kämpfen für ihre Rechte und fordern die Entwicklung eines demokratischen Systems. Diese aktiven Handlungen zeigen sich in ihrer starken Teilnahmequote an Wahlen, vor allem seit den Präsidentschaftswahlen von 1997, ihrer zahlreichen Teilnahme an den Studentenprotesten von 1999 und 2009, an den Protesten an den Universitäten auf Grund des Beginns der zweiten Kulturrevolution und an den massenhaften Protesten gegen die umstrittene Wiederwahl von Präsident Ahmadinedschad im Jahr 2009, die mehrere Wochen angehalten haben. 655 Eine andere bedeutsame und subtile Strategie iranischer Frauen gegen islamische Regelungen ist beim Thema Hidschab zu beobachten. Vieles, was in den ersten Jahren der islamischen Regierung verboten war, gehört heute zur Normalität. Zwar wurde das Verschleierungsgesetz nicht außer Kraft gesetzt, und die Frauen müssen noch immer mit einer Kopfbedeckung in der 656 Öffentlichkeit erscheinen, jedoch ersetzen die meisten Frauen die von den Fundamentalisten verlangten schwarzen Schleier durch farbenfrohe Kopftücher – wobei sie vorn und hinten viele Haare hervorschauen lassen –, farbi-

654

655 656

schad als Gesundheitsministerin gewählt. Widersprüchlich ist diese Wahl insofern, als die Frauenpolitik von Präsident Ahmadinedschad zur frauenfeindlichsten Politik seit Beginn der islamischen Regierung gehört, was zu erheblicher Kritik seitens der iranischen Frauen führte. Der Vorschlag von Frau Dastdjerdi für das Amt seitens Ahmadinedschad war nur ein Versuch, dieser Kritik an seiner Politik zuvorzukommen und damit sein Prestige zu verbessern. Zu beachten ist, dass Frau Dastdjerdi mit dem Chefredakteur der Zeitschrift „Kayhan“, einer der wichtigsten staatlichen Zeitungen, verheiratet ist. Vgl. Mashini, F. (2009): S. 210. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch die Frauen, die zu den Anhängerinnen des Regimes gehören, politisch und gesellschaftlich sehr aktiv geworden sind. Zwar präsentieren sie sich als wahrhafte Muslime und fordern die Rückkehr der iranischen Frauen zur ihrer im Islam vorgesehenen Rolle, auch sie haben sich jedoch durch ihre Präsenz in Gesellschaft und Politik von islamischen Ordnungen und der idealen Rolle einer Frau entfernt, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. „Subtiler Widerstand trägt der Tatsache Rechnung, dass dieser auf den ersten Blick nicht als Widerstand erkennbar ist und unterschwellig verläuft“. Vgl. Davani, F. (2010): S. 101. Zu beachten ist, dass das Verschleierungsgesetz sowohl für iranische als auch nichtiranische Frauen, ob Muslim oder nicht Muslim, gilt.

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

ge und enge Mäntel, kurze Hosen und kurze Ärmel, was, wie bereits erwähnt, harte Strafen nach sich ziehen kann. Viele Frauen gehen nicht ohne Make-up und Nagellack aus dem Haus und wissen ihre Attraktivität in Szene zu setzen. In den letzten Jahren setzen einige Frauen, wo dies möglich ist, beispielsweise im Kino oder beim Autofahren, sogar das Kopftuch ab und achten kaum auf die Korrektheit ihres Hidschab. Die meisten Frauen aus der Mittelschicht und den oberen Schichten verzichten im Privatbereich – zuhause oder auf Partys – völlig auf eine Kopfbedeckung oder den islamischen Dresscode. Stattdessen schenken sie ihrem Aussehen sehr viel Beachtung, was sich in hohen Ausgaben für Schönheitskorrekturen (vor allem im Gesichtsbereich) und Make-up-Produkte widerspiegelt. Mit diesem Verhalten signalisieren iranische Frauen dem Staat ganz bewusst, dass ihr Aussehen zum Privatbereich ihres Lebens gehört und sie sich zeitgemäß und nach ihrem eigenen Geschmack kleiden wollen, der der islamischen Kleiderordnung für Frauen völlig widerspricht. Das ist das Alltagsbild vieler iranischer Frauen, das leider in westlichen Medien kaum zu sehen ist. Das Rollen- und Verhaltensmuster, das der islamische Staat für Frauen vorgibt, steht immer mehr als Konfliktpotenzial zwischen dem Staat und der neuen Generation von gebildeten iranischen Frauen, die sich trotz diverser Pressionen und einschränkender Regelungen immer bewusster emanzipieren. Diese neue Generation von Frauen fordert das Recht auf Verwirklichung und Gleichbehandlung. Wurden die Frauen in den ersten Jahren der Gründung der islamischen Regierung stark unterdrückt, ist im Laufe der Zeit eine Generationen unabhängiger Frauen entstanden, die für ihre Rechte und die Änderung diskriminierender Gesetze aktiv kämpfen. Diese Wandlung ist vor allem das Resultat des steigenden Bildungsniveaus der Frauen, wodurch sie selbständiges Denken und Handeln lernen und erleben, die aktuellen Situationen kritisieren und Wandlung und Neugestaltung ihres eigenen Lebens als denk- und entscheidungsfähige Wesen fordern. Das Idealbild vom Leben, das diese Frauen haben, steht in vielerlei Hinsicht in Konflikt mit dem Frauenideal des islamischen Staates, und deshalb geht der Staat gezielt gegen diese Wandlungen vor.

4.1.3

Staatliche Reaktion auf die Frauenbewegung

Iranische Frauen erhielten zum Ende der achtjährigen Amtszeit von Präsident Rafsandschani und während der Amtszeit von Präsident Khatami größere Entwicklungs- und Handlungsräume, die nicht mit den fundamentalisti238

4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

schen Ansichten des geistigen Führers und seiner machtvollen Anhänger in Einklang standen; daher betrachteten diese die Reformpolitik von Präsident Khatami als große Gefahr für die islamischen Grundwerte und hielten es für notwendig, den Aufstieg einer fundamentalistischen Regierung zu unterstützen. Im Jahr 2005 kam Ahmadinedschad, der fundamentalistische Bürgermeister von Teheran, der allerdings großen Teilen der Bevölkerung nicht be657 kannt war, mit ihrer Unterstützung an die Macht. Er verfolgte vor allem ein Ziel, nämlich den Iran zu den Wurzeln der Revolution zurückzuführen und die vollständige Umsetzung der islamischen Utopie von Khomeini zu verwirklichen. Seine Amtszeit war, wie bereits aufgeführt, der Beginn einer neuen Phase der Islamisierung der Gesellschaft oder der zweiten Kulturrevolution. Ein wichtiges Ziel dieser Bewegung war, die Frauen zu ihrer wahren islamischen Position, nämlich dem privaten Bereich der Familie, zurückzuleiten. Dabei wurde das steigende Bildungsniveau der Frauen nicht als enormes Entwicklungspotenzial des Landes sondern als Quelle vieler gesellschaftlicher Abnormitäten bezeichnet, die zur Senkung der Heiratsquote, zum Anwachsen der Zahl von Scheidungen und den liberalen Forderungen der Frauen, zur Schwächung der islamischen Familienstrukturen und insgesamt zu einem gesellschaftlichen Chaos geführt habe. Laut Studien des Forschungszentrums des Siebten Parlaments und Studien der Regierungsorganisationen schadet das steigende Bildungsniveau der Frauen den Strukturen der Familien und ihrer Heiligkeit. Ahmad Tavakkoli, Vorsitzender des Forschungszentrums des Siebten Parlaments, war der Ansicht, dass dadurch, dass gebildete Frauen nur auf der Suche nach Ehemännern mit akademischer Bildung seien und dadurch, dass zurzeit die Quote der gebildeten Frauen viel höher als die der Männer sei, viele Frauen unverheiratet blieben oder außereheliche Beziehungen führten, was eine große 658 Gefahr für das Wesen der Familie und die islamischen Vorschriften sei. 657

658

Gleichzeitig wurden viele liberale bzw. Reformkandidaten für die Teilnahme an den parlamentarischen Wahlen vom Wächterrat für disqualifiziert erklärt (obwohl einige von ihnen bereits in den letzten Amtsperioden Parlamentarier waren). So hatten die fundamentalistischen Parteien, zu denen auch die Partei von Ahmadinedschad gehört (Allianz der Erbauer des Islamischen Iran), die überwiegende Mehrheit im Parlament gewonnen und so stand seiner Regierung kein Hindernis im Weg, um seine Politik durchzuführen. Vgl. Hamshahri Zeitung, Bildungsredaktion (01.06.2008): „Geschlechterrationierung der Universitäten unter Kritik“, unter: http://hamshahrionline.ir/details/53818; und Yeganeh, B. (27.02.2008): „Geschlechterrationierung an den Universitäten. Ein anderes Beispiel für Geschlechterdiskriminierung“, Radio Farda, unter: http://www. radiofarda.com/content/f1_girls_universities/436671.html.

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

Auch Heidarpour, ein Parlamentarier aus den fundamentalistischen Parteien, behauptete in einem Interview, dass die steigende Präsenz der Frauen in der Gesellschaft die Familie gefährde. Ein anderer Parlamentarier sagte in einem Interview, dass dadurch, dass die Frauen ohne Erlaubnis ihres Vaters bzw. Ehemannes nicht arbeiten bzw. in eine andere Stadt (zwecks Studium oder Arbeit) ziehen können, ihre Qualifikation für das Land keine Bedeutung habe. Steigendes Bildungsniveau der Frauen führe nur zur Steigerung der fa659 miliären Konflikte und zum Bruch der Heiligkeit der Familie. Interessant ist, dass die jeweiligen Parlamentarierinnen aus fundamentalistischen Parteien diese Idee gleichfalls unterstützten. Fatemeh Ajorloo, die selbst studierte und seit Jahren beruflich tätig ist, plädierte für die Einschränkung der Aufnahmequote der Frauen an den Universitäten und ihrer Berufstätigkeit zugunsten der Familie: Heutzutage hören wir schöne Mottos: Frauenrechte, feministische Sichtweise etc., aber wir haben kaum Mut gefunden, unseren Reichtum und unser Vermögen weltweit zur Schau zu stellen. Und Familie ist eins der wichtigsten unserer Vermögen (…) und ob wir es wollen oder nicht, der Islam hat den Männern die Aufgabe erteilt, für den 660 Unterhalt und die wirtschaftliche Sicherung der Familie zu sorgen. Sie schenkt dabei der tatsächlichen wirtschaftlichen Problematik keine Beachtung, wodurch die Frauen, ob daran interessiert oder nicht, gezwungen sind, auf Grund der hohen Inflation und des wirtschaftlichen Drucks berufstätig zu sein. Das betrifft im Übrigen auch die Frauen, die keine akademische Bildung haben. Um die islamische Funktion von Ehe und Familie zu stärken, wurde versucht, durch diverse Regelungen und Gesetze diese Entwicklung nach Möglichkeit aufzuhalten, darunter zu nennen sind die „Geschlechterrationierung“ (sahmiy-e bandiy-e jensiyati) und „Geschlechterlokalisierung“ (boomi saziy-e jensiyati). Durch Beschluss des Parlaments wurde seit 2006 jährlich die Aufnahmequote der Frauen v.a. an den staatlichen (kostenlosen) Universitäten gesenkt. Zudem wurde das Studium der Frauen in einigen Fächern, besonders in den 659 660

Vgl. Yeganeh, B. (27.02.2008). Vgl. Sarmayeh Zeitung, Gesellschaftsredaktion (07.03.2007): „Fatemeh Ajorloo in der Sitzung zwecks Geschlechterrationierung: Schutz der Grundlage der Familie ist wichtiger als für Aufruhr zu sorgen“, unter: http://www.magiran.com/npview.asp? ID=1367394.

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4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

Ingenieurswissenschaften und im medizinischen Bereich, an manchen staatlichen Universitäten verboten bzw. sehr eingeschränkt. Weiterhin wurde beschlossen, dass ab 2008 im Rahmen der„Geschlechterlokalisierung“ Frauen nur in der selben Stadt, in der ihre Eltern sesshaft sind, oder in einer zur Stadt der Eltern sehr nahe liegenden Stadt studieren dürfen, so dass die Familien angeblich die Tochter und ihre Aktivitäten besser kontrollieren können. Das Forschungszentrum des Siebten Parlamentes nannte folgende Gründe und Entwicklungen, die zur Durchführung diese Beschlüsse beigetragen haben: Schwierigkeiten bei der Bereitstellung von Wohnheimen für 661 Studentinnen und ihren Schutz vor gesellschaftlichem Schaden, nutzlos gebliebene Investitionen in die Ausbildung von Frauen zu Experten, die arbeitslos bleiben, geschlechtliche Wandlung auf dem Arbeitsmarkt zugunsten der Frauen (und nicht der Männer), (in Betracht ziehen von) physischen und psychischen Fähigkeiten (Schwächen) der Frauen, Entstehung von sozialem, kulturellem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht zwischen Männern und 662 Frauen. Auch an der Universität hatten Frauen mit verschärften Regelungen zu kämpfen. Die Geschlechtertrennung und die Anordnungen zum Tragen des Hidschab wurden innerhalb der Universitäten verschärft, und es wurde der Versuch unternommen, die Kontakte zwischen Studenten und Studentinnen soweit wie möglich zu verhindern. Es fand aber auch eine wichtige Änderung in den akademischen Curricula statt. Das bisherige Seminar über Familienregelung und Geburtenkontrolle wurde ab Wintersemester 2012/13 durch das Seminar „Die Ehre der Ehepartnerschaft“ (shokoohe hamsari) ersetzt, mit dem Ziel, die Fruchtbarkeitsrate zu steigern. Ungeachtet der Tatsache, dass bereits über 30 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter arbeitslos sind, forderten Ahmadinedschad und der geistlichen Führer, dass die irani663 sche Bevölkerung verdoppelt werden solle. In diesem Zusammenhang pro661 662 663

Unter gesellschaftlichem Schaden versteht das Parlament vor allem häufigen Kontakt mit Kommilitonen und Männern, Teilnahme an Partys, Rauchen, Alkoholkonsum etc. Vgl. http://www.radiofarda.com/content/f1_girls_universities/436671.html. Vgl. Fars Nachrichtenagentur, Internetredaktion (22.05.2012): „Lehre von Psychologie der Ehe in einigen Universitäten“, unter: http://www.farsnews.com/newstext.php?nn=13910302000443; und Daneshgah News (29.08.2012): „Seminar der Familienregelung und Geburtenkontrolle wird mit Beginn des neuen Semesters abgeschafft“, unter: http://daneshgahnews.com/0fa8767idcontent.htm; und Hamshahri Zeitung, Bildungsredaktion (14.11.2012): „ Der Befehl zur Abschaffung des Seminars zu Familienregelung und Geburtenkontrolle wurde erteilt“, unter: http://hamshahrionline.ir/details/191330.

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

pagieren die Medien verstärkt die Kinderzeugung. Eine Antwort auf die Frage, wie das Leben dieser Kinder finanziert werden soll, geben sie jedoch nicht. Die Regierung schaffte das Budget des Projektes „Bevölkerungskon664 trolle“ vollständig ab und begann seit 2013 ein Promoting-Projekt für Kinderzeugung, in dem das Gesundheitsministerium Gruppen zu Familien schickt, die von Haus zu Haus gehen und die Familien über die Methoden 665 der Kinderzeugung informieren. Gleichzeitig ist die Anzahl der Propagandasendungen in den Medien zur Rolle der islamischen Frauen stark gestiegen, wobei die dort präsentierte wichtigste Aufgabe der Frauen darin besteht, eine ideale Mutter und Ehefrau zu sein, die für die häuslichen Angelegenheiten und das Glück ihres Ehemannes zu sorgen hat. Sogar Khameneie betonte diese Rollenverteilung. In einer seiner Reden erklärte er, dass eine Ministerin in einer islamischen Gesellschaft zwar akzeptabel sei, dennoch sei es keine Sache, auf die die islami666 sche Gesellschaft stolz sein könne. Zudem plädieren Politik und Medien für die frühzeitige Eheschließung von Jungen und Mädchen. Um die junge Generation, die zum großen Teil ohne das Ziel der ehelichen Bindung sexuelle Kontakte hat, dazu zu zwingen, wurden Regelungen dahingehend geschaffen, dass in staatlichen Bereichen, aber auch bei einigen privaten Unternehmen nur verheiratete Personen eingestellt werden können. Diese radikale Frauen- und Familienpolitik spiegelt sich ebenfalls beim Familiengesetz. Einer der ersten und bedeutsamsten Schritte von Präsident Ahmadinedschads Regierung und des siebten Parlaments waren Änderungen im Familiengesetz zugunsten der Männer. Im Juni 2006 schickte die Regierung einen Gesetzesentwurf zum Parlament, der einige wichtige Änderungen im Familiengesetz vorschlug. Nach Artikel 23 dieses Entwurfs durften die Männer ohne Erlaubnis ihrer Ehefrauen nochmals heiraten, und es sollte dazu völlig ausreichen, wenn sie das Gericht über ihre finanzielle Leistungs664

665

666

Vgl. Jam-e Jam Zeitung, Gesellschaftsredaktion (06.07.2013): Gesellschaftsredaktion: „Das Reformationsgesetz der Familien- und demographischen Regelung wurde vom Präsident verabschiedet“, unter: http://www.jamejamonline.ir/NewsPreview/ 1109074730069116693. Im Rahmen dieser während der Regierungszeit von Präsident Rafsandschani und Khatami durchgeführten Projekte boten Krankenhäuser, Ärzte und Apotheken kostenlose Verhütungsberatung, kostenlose Kodomverteilung, Vasektomie und Sterilisation der Frauen an. Vgl. BBC Persian, Politikredaktion (19.04.2013): „Das iranische Gesundheitsmisterium lehrt den Bevölkerungszuwachs von Haustür zur Haustür“, unter: http://www. bbc.co.uk/persian/iran/2013/04/130419_l57_iran_population_control.shtml; und: http://www.farsnews.com/newstext.php?nn=13920130000225. Vgl. http://www.bbc.co.uk/persian/iran/2013/05/130512_l42_vid_ir_women.shtm.

242

4.1 FRAUEN ZWISCHEN FORTSCHRITTSWILLE UND EINSCHRÄNKUNG DURCH DIE SCHARIA

fähigkeit informieren, denn nach der Eheschließung müssten sie dann für zwei Haushalte bezahlen. Gemäß dem bisherigen Gesetz durften Männer ohne Einverständnis ihrer ersten Ehefrau nicht ein weiteres Mal heiraten. Zudem forderten die Artikel 17, 19, 20, 21, 30, 31 und 38 dieses Gesetzentwurfs, dass zum Schutz der Grundlagen der Familie und Verhinderung wachsender Scheidungsraten die Scheidungsprozesse deutlich schwieriger werden und länger verlaufen. Vor allem diese beiden Vorschläge führten zu enormen Protesten seitens der iranischen Frauen, Frauenrechtsaktivistinnen und Juristen. Durch Artikel 23 fühlten Frauen sich nicht nur beleidigt, weil für den weiteren Verlauf ihrer Ehe kein Wert auf ihre Meinung gelegt wurde und die Regierung dadurch den Weg zur Polygynie, einem kulturell nicht akzeptablen Phänomen im Iran, frei machen wollte, sondern diese Regelung führte aus Sicht der neuen Generationen zur Schwächung der Familie und der ehelichen Verbindung zwischen den Partnern. Zudem würde nach Ansicht der protestierenden Frauen diese Regelung dazu beitragen, dass wohlhabende 667 Männer junge Frauen ausnutzen. Die anderen im Rahmen dieses Gesetzesentwurfes vorgeschlagenen Regelungen machten die Situation der Frauen, die wegen Gewalttätigkeit ihres Mannes, aufgrund von Sucht oder ähnlichen Problemen die Scheidung verlangen, viel schwieriger, denn sie müssen nun sogar monatelang auf das Scheidungsurteil warten. Aus Sicht der Regierung sollten dadurch die Partner mehr Zeit zum Nachdenken finden, und höchstwahrscheinlich würden sie dadurch wieder zusammenfinden. Sie haben aber die Tatsache außer Acht gelassen, dass, wie bereits erwähnt, einer der wichtigsten Scheidungsgründe im heutigen Iran wirtschaftliche Probleme sind. Anstatt angemessene Lösungen für die Bekämpfung der Scheidungsgründe zu finden, versuchte die Regierung durch diesen Vorschlag, das Problem geradezu auszuradieren. Trotz enormer Proteste wurde dieser Gesetzesentwurf im März 2013 vom Wächterrat bestätigt und vom Parlament als Gesetz verabschiedet und ist seitdem in Kraft. Gleichzeitig begann die Regierung eine große Propagandakampagne für die Ausbreitung der Ehe auf Zeit und der Polygynie. Innerhalb der iranischen Gesellschaft wird die Ehe auf Zeit als „Scharia-Prostitution“ bezeichnet, weil 667

Vgl. Paydar, A. (2008): „Grundsätzliche Untersuchung der vorgeschlagenen Vorschriften über die (Erleichterung) der Polygynie“, in: http://www.1oo1news.biz/ index.php?page=2&articleId=1133. (Im Persischen wurde im Titel anstatt „grundsätzliche Untersuchung“ der Begriff „Autopsie“ verwendet.)

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

sich hierbei Frauen auf legale Weise den Männern zeitweise zur Verfügung 668 stellen und dafür bezahlt werden. Viele Frauenaktivisten und Journalisten, die gegen diese Entwicklungen protestiert bzw. über sie berichtet haben, wurden verhaftet, bedroht oder haben ihre Arbeit verloren. Auch junge Frauen, die mit ihrer islamisch unakzeptablen Kleidung und ihrem Aussehen subtil gegen den Staat protestieren, haben mit verschärften Aktivitäten der Hidschabpolizei zu kämpfen. Der Staat versucht durch solche Unterdrückungsmaßnahmen die iranischen Frauen gemäß einem islamischen Vorbild zu erziehen, demzufolge sie dem Staat, ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern zu gehorchen haben: Die einzige Aufgabe dieser homogen erzogenen Frauen besteht nurmehr darin, eine gehorsame Ehefrau und ergebene Mutter zu sein. Dieses Ideal kann in der iranischen Gesellschaft mit ihren emanzipierten, selbstbewussten und gebildeten Frauen nicht realisiert werden, denn die Frauen haben sich von traditionellen und religiösen Vorbildern bereits weit entfernt und kritisieren gezielt alte Regelungen, die sie an ihrem Dasein als Frau und Mensch hindern. Die eingrenzenden Regelungen des Staates führen im Grunde zu einem Teufelskreis: Je stärker die Einschränkungen, desto innovativer sind die Wege der iranischen Frauen, über die sie ihren Protest äußern.

4.2

Arbeitsmarkt: Die Suche nach den richtigen Qualifikationsmaßnahmen

Diese gezielte Politik zur Errichtung einer homogenen Gesellschaft, verbunden mit einem Kampf gegen Innovationen sowie andersdenkende und andershandelnde Menschen, ist keinesfalls nur auf die Frauenpolitik beschränkt. Auch auf dem Arbeitsmarkt ist diese Politik festzustellen, wo versucht wird, im Rahmen eines Auswahlverfahrens, das als gozinesh bezeichnet 668

Seitdem sind Agenturen gegründet, Webseiten und sogar Facebookseiten eingerichtet worden, die Frauen und Männern bei der Suche nach einem Partner helfen sollen. Auf solchen Webseiten oder bei derartigen Agenturen geben die Frauen ihre körperlichen Vorzüge an und teilen mit, wie viel Geld sie für eine Woche, einen Tag oder gar nur eine Stunde verlangen. (Eine Zeitehe kann aber auch mehrere Jahre dauern). Deshalb ist die Bezeichnung als legale Prostitution für diese Art von Eheverhältnis keine Übertreibung. Vor allem Männer mit religiösem Hintergrund begrüßen diese Art von sexuellen Beziehungen zu vielen Frauen, ohne dass sie sich gemäß dem Gesetz und der Scharia strafbar gemacht haben. Auch religiös orientierte junge Männer, die aus wirtschaftlichen Gründen keine Möglichkeit zum Heiraten finden, begrüßen diese Regelung. Das größte Problem bei der Ehe auf Zeit sind die dadurch gezeugten Kinder. Falls eine Frau innerhalb eines Monats mit mehreren Männern Geschlechtsverkehr gehabt hat, ist es schwierig, den leiblichen Vater ausfindig zu machen, der für das Kind sorgen soll.

244

4.2 ARBEITSMARKT: DIE SUCHE NACH DEN RICHTIGEN QUALIFIKATIONSMASSNAHMEN

wird, nur diejenigen als staatliche Beamte einzustellen, die gemäß der islamischen Ideologie denken und handeln. Durch dieses Auswahlverfahren wurde seit Beginn der islamischen Herrschaft nicht nur vielen qualifizierten Akademikern der Eintritt in den Arbeitsmarkt erschwert bzw. unmöglich gemacht, sondern dadurch verlor das Land immer wieder das enorme Potential dieses wissenschaftlich qualifizierten Humankapitals.

4.2.1

Auswahlverfahren und staatlicher Qualifikationsmaßstab für den Eintritt in den Arbeitsmarkt

Kurz nach dem Sieg der islamischen Fundamentalisten während der Revolution ordnete Khomeini am 19.9.1979 an, dass nur Gläubige, die an eine Isla669 mische Republik Iran glauben, Spitzenaufgaben übernehmen dürften. Diese Ansicht verbreitete sich jedoch weit über diese Berufsgruppen hinaus und umfasste bald alle Stellen im staatlichen Bereich, die über 70 Prozent der Gesamtwirtschaft des Iran einschließen. Seitdem besteht der Einstellungsprozess in staatliche Institutionen, Ämter und Ministerien aus zwei Phasen, in deren Rahmen jeweils die fachliche, aber auch die ideologische, politische und religiöse Qualifikation der jeweiligen Kandidaten überprüft werden sollen. Der wichtigste Teil des Auswahlverfahrens ist aber wohl der zweite Teil, der als gozinesh (Auswahl) bezeichnet wird. Innerhalb des politischen Systems des Iran bedeutet gozinesh die Auswahl von Angestellten, Beamten und Führungskräften für verschiedene Organe und Ämter des islamischen Systems anhand ideologischer, morali670 scher und politischer Verhaltensfaktoren. In diesem Sinne werden Kompetenz und Qualifikation nicht durch Maßstäbe wie Verantwortlichkeit, Entscheidungsfähigkeit oder Fähigkeit zur Teamarbeit bestimmt, sondern durch die ideologische, politische, moralische und religiöse Denk- und Verhaltensweise des Kandidaten, basierend auf seinem Frömmigkeits- bzw. Tugendvermögen (taqva). Taqva ist in islamischer Hinsicht eine Eigenschaft, die den Menschen daran hindert, Sünden und sündhaftes Verhalten sowie Ungehorsam gegen Gott zu begehen und ihn dazu bringt, ein gehorsamer Knecht zu sein. Taqva bedeutet darüber hinaus

669 670

Vgl. Wahdat Hagh, W. (2003): S. 206. Vgl. Azizan, M., Forschungszentrum der islamischen Wissenschaft (Hg.) (o.J.): „Auswahl (gozinesh) im Islam“, Zam Zam-e Hedayat Verlag, Teheran, unter: http://tooba.net/Books/Show/97/2-1.

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

„Selbstschutz vor Sünde“, „Angst vor Gott“, „Erfüllung von Gottes Geboten“ 671 und „Säuberung der Seele“. Politisch-ideologisch betrachtet ist taqva insofern bei den Auswahlverfahren von Bedeutung, als die Gesellschaft nur dann gesäubert werden könne, wenn fromme und rechtschaffene Personen die staatlichen Aufgaben übernehmen würden. Rechtschaffenes Gesetz und rechtschaffene Führungskräfte sind die zwei Säulen einer islamischen Gesellschaft; rechtschaffenes Gesetz ist der Koran, und um rechtschaffene Führungskräfte zu finden, ist gozinesh notwendig. Anders formuliert ist gozinesh das notwendige Mittel zum Schutz des Islams und islamischen Staates; denn werden verderbte Mitarbeiter in staatlichen Organen eingestellt, werden sie das gesamte System verderben. Sie sind die größte Gefahr für das islamische System, und diese Tatsache 672 macht die Einführung von gozinesh unvermeidlich. Somit gilt taqva in staatlichem Sinne als Qualifikationsmaßstab bei der Einstellung von Mitarbeitern und der Erteilung von Aufgaben an Führungskräfte. Zudem soll durch taqva Gerechtigkeit in der Gesellschaft geschaffen werden. Nach islamischer Ideologie sind die Menschen nicht gleich, und deshalb können sie auch nicht gleichberechtigt sein. Denn Gleichheit und Gleichberechtigung zwischen qualifizierten und wenig bzw. unqualifizierten Menschen würde Ungerechtigkeit bedeuten. Je frömmer das Denken und Handeln der Menschen, desto qualifizierter sind diese Menschen. Begründet wird diese Argumentation mittels Vers 13 in Sure 49 des Korans, wo fromme Men673 schen als die bei Gott geehrtesten Menschen bezeichnet werden. Im Sinne der Islamischen Republik Iran heißt dies: Je mehr das Denken und Handeln eines Menschen der religiösen Organisation bzw. dem religiösen Staat entspricht, desto frommer und qualifizierter ist er. Anders formuliert, je weniger der Mensch von seiner Vernunft Gebrauch macht, selbständig und kritisch denkt, entscheidet und handelt, desto kompetenter ist er in diesem ideologischen System. Gozinesh ist seit Beginn der Gründung der Islamischen Republik Iran ein unverzichtbarer Bestandteil des Systems. Wie bereits angeführt, begann kurz 671 672 673

Vgl. Forschungszentrum der islamischen Kultur und Wissenschaft (Hg.) (2010): „Koran-Enzyklopädie“, Ghom, Boostan-e Ketab-e Ghom Verlag, 1. Aufl., Bd. 8, S. 446, in: http://maarefquran.com/Files/viewdmaarefBooks.php?bookId=8 Vgl. Azizan, M.: „Gozinesh (Selektion) in Islam“, Zamzam-e Hedayat Verlag, unter: http://tooba.net/Books/Show/97/2-2. Vgl. Sure 49 „al-Hugurat“ (die Gemächer), Vers 13: „(…) und als der geehrteste gilt bei Gott derjenige von euch, der am frömmsten ist (…)“.

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4.2 ARBEITSMARKT: DIE SUCHE NACH DEN RICHTIGEN QUALIFIKATIONSMASSNAHMEN

nach der Revolution eine Säuberungswelle, wodurch viele qualifizierte Arbeitskräfte in und außerhalb der Universitäten ihre Arbeit wegen ihrer unislamischen Denkweise und wegen politischer Aktivitäten verloren haben. Das Ausmaß dieser willkürlichen Entlassungen und strengen Regelungen für die Einstellung neuer Arbeitskräfte durch gozinesh war so groß, dass selbst Kho674 meini am 5. Januar 1983 diese Vorgehensweise kritisierte. Danach wurde eine einheitliche Regelung für die Einstellung neuer Arbeitskräfte vom Bildungsministerium entworfen und eingeführt. Dieses Gesetz wurde ein Jahr später als einheitliches Auswahlgesetz bei allen anderen Organen des Staates (außer Nachrichtendienst, Polizei und Armee) verwendet. Nach diesem Gesetz sollen u.a. alle Bewerber für Stellen in staatlichen Ämtern und Institutionen, Ministerien oder revolutionären Organen, alle Lehramtskandidaten, die bereits die Aufnahmeprüfung an den Universitäten bestanden haben, Bewerber für die Stellen als Lehrer, Schulleiter, Schulverwalter und alle anderen Posten im Bereich Bildung und Erziehung, alle Universitätsprofessoren, alle studentischen Kandidaten für das staatliche Auslandsstipendium, Kandidaten für den Auslandsdienst usw. nach Kriterien des gozinesh ausgewählt wer675 den. Artikel zwei des Auswahlgesetzes von 1996 setzt sieben Kriterien für die Einstellung von Arbeitskräften fest, die durch gozinesh geprüft werden sollen. Darunter zu nennen sind der Glaube an den Islam oder eine andere in der Verfassung erwähnte offizielle Religion, Praktizierung der islamischen Vorschriften, Glaube und Gehorsam gegenüber dem Obersten Rechtsgelehrten, Anerkennung des Systems der Islamischen Republik Iran und der Verfassung, Unverdorbenheit und keine politische Zusammenarbeit mit politischen Gruppierungen, die gegen die Islamische Republik Iran tätig sind bzw. deren Aktivitäten gemäß der Verfassung verboten sind oder die Aktivitäten 676 gegen den islamischen Staat darstellen. Absatz 2 dieses Artikels sieht vor, dass im Falle von Kapazitätsbeschränkungen und einem Überschuss an Bewerbungen, die Bewerber aus wirtschaftlich schwachen Regionen, Bewerber, die in revolutionären Organisatio-

674 675 676

Vgl. Auswahlgesetz (ghanoon-e gozinesh) und Geschäftsordnung der Islamischen Republik Iran, unter: portal.farsedu.ir/Portal/(...)/ganon%20gozinesh.doc. Vgl. http://hmg.mop.ir/Portal/Home/ShowPage.aspx?Object=Event&ID=418f573d1cf7-4006-b4f5-468fe1cd16f6&LayoutID=71057903-3299-456c-977c-74811e42c7cd &CategoryID=57a78ba4-ac24-4072-a16d-7ad4183fb35a. Vgl. ebd. Zudem soll der Kandidat nicht vorbestraft oder süchtig sein.

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

nen (wie basidsch) aktiv Mitglied sind, Teilnehmer an Freitagsgebeten und 678 Gemeindegebeten und den Tschador tragende Frauen Priorität haben und 679 bevorzugt werden sollen. Diese Kriterien werden im Rahmen eines Vorstellungsgesprächs und einer Befragung von Nachbarn und der Familien der jeweiligen Bewerber über deren Denken und Handeln überprüft. So betrachtet ist gozinesh eine Art Inquisition (Ausforschung der Gedanken), obwohl diese gemäß Artikel 23 der iranischen Verfassung verboten ist und niemand auf Grund seiner Überzeugung angegriffen und bestraft werden darf. Zudem hat jeder Bürger gemäß Artikel 28 der iranischen Verfassung das Recht, den Beruf seiner Neigung zu wählen, sofern dieser nicht dem Islam, dem öffentlichen Interesse oder den Rechten anderer entgegen steht. Die Praxis von gozinesh ist mit keinem dieser in der Verfassung verankerten Artikel in Übereinstimmung zu bringen. Nehmen wir an, dass jemand sich als Buchhalter, Ingenieur, Verwaltungsbeamter, Chemielehrer, Arzt o. ä. bei einer staatlichen Organisation bewirbt und sich als fachlich qualifiziert erweist. Dann werden ihm während der gozinesh-Sitzung Fragen in mindestens diesen neun Bereichen gestellt: • Praktische Bereiche der Religion: Wie wird gebetet? Wie viele verschiedene Arten des Betens gibt es und wann, warum und wie werden sie praktiziert? Was ist Nachahmung und warum ist es notwendig? Was machen Sie, wenn das Urteil ihrer Instanz der Nachahmung von dem des Führers 680 abweichen würde? 677

677 678

679 680

Basidsch oder basidsch-e mostas-afin (die Mobilisierten der Unterdrückten) ist eine paramilitärische Miliz, deren Mitglieder zurzeit vor allem beim Einsatz gegen die Opposition und oppositionelle Bewegungen aktiv sind. Im Iran gibt es zwei Arten von Hidschab. Die eine ist der Tschador, ein schwarzes (auch farbiges) Tuch in Form eines umsäumten Halbkreises, mit dem Kopf und Körper (außer dem Gesicht und beiden Händen) umwunden werden. Der Tschador wird von religiösen Frauen getragen und ist gemäß dem Staat der „überlegene Hidschab“. Um die Frauen zum Tragen des Tschador zu ermutigen, veranstaltete der Staat sogar Tschador-Modenschauen in Teheran. Die meisten Frauen jedoch bevorzugen die zweite Art von Hidschab, nämlich Tragen von Mantel und Kopftuch. Bei der Einstellung in staatliche Ämter werden zwar die Frauen im Tschador bevorzugt, aber viele von ihnen tragen ebenfalls Mantel und Kopftuch, die jedoch unbedingt in dunklen Farben gehalten sein sollen. Vgl. ebd. Die Fragen, die in diesem Teil gestellt werden, sind durchaus kompliziert. Viele dieser Fragen können nur von tollab (Studenten bzw. Absolventen der religiösen Hochschule) beantwortet werden.

248

4.2 ARBEITSMARKT: DIE SUCHE NACH DEN RICHTIGEN QUALIFIKATIONSMASSNAHMEN

• Politik: Welcher Tag ist … (ein religiöses oder politisches Datum)? Wie wird der Wächterrat gewählt und welche Aufgaben sind ihm zugewiesen? Was denken Sie über die Ereignisse nach den Präsidentschaftswahlen von 2009? Was denken Sie über die Studentenbewegungen 1999 und 2009? Aus welchen Quellen hören Sie die Nachrichten des Tages? Welche ausländischen Zeitungen oder Nachrichtensendungen verfolgen Sie? Welche inländischen Zeitungen lesen Sie? Was denken Sie über den Krieg der Vereinigten Staaten von Amerika in Irak und Afghanistan? Was denken Sie über die Politik der USA? • Das Testament von Khomeini: Was ist das Geheimnis von Sieg und Fortbestand der Islamischen Republik Iran? Was ist die Meinung von Imam Khomeini über Freiheit in westlichem Sinne? Was ist die wichtigste Aufgabe der Bevölkerung des Iran zurzeit? Wer hat Islam und Iran in den letzten 50 681 Jahren den größten Schaden zugefügt? Was ist die Meinung von Imam Khomeini über die Vereinigten Staaten von Amerika? Was sind die schlechten Pläne an den Universitäten? • Koran: In welcher Sure steht ... Verse? Was bedeutet … in ... Sure? Welches Gebet steht in … Sure? Was sind die anderen Namen von ... Sure? In welcher Sure wurde die Geschichte von… erzählt? • Geschichte des Iran der letzten 150 Jahre: Welcher Tag ist der Beginn der Kulturrevolution? Wann wurden die Revolutionsgarden gegründet? Wer hat das erste Freitagsgebet der Islamischen Republik Iran gehalten? Nennen sie Beispiele für Schaden, den die USA dem Land zugefügt haben. Nennen Sie Beispiele für den Verrats des Modschahedins. Welchen Dienst hat Ayatollah … dem Iran geleistet. • Geschichte des Islam: Fragen über Politik, Krieg, aber auch Familie, Ehefrauen und Geschichte des Lebens des Propheten, seiner Kinder und aller 12 Imame der Schiiten. • Vereinte Nationen und Organisation für islamische Zusammenarbeit: warum wurde diese Organisation gegründet? Was sind die Unterorganisationen von V.N. und worin besteht ihre Aufgabe? Welche Länder sind NATOMitglied? Welche Länder sind Mitglied der OIC und warum wurde sie gegründet? • Ideologische und politische Schulen und Begriffe: Was ist Sozialismus? Nationalismus? Feudalismus? Kapitalismus? Humanismus? 681

Die Antwort auf diese Frage ist: Universitäten und Intellektuelle.

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

• Persönliche und familiäre Fragen: Welche Zeitungen liest ihre Familie? Haben Sie Familienangehörige im Ausland? Wenn ja, wo? Was machen diese dort? An welchem antiimperialistischen Protest haben Sie in letzter Zeit teilgenommen? Haben Sie Märtyrer in ihrer Familie? Schreiben Sie oder Ihre Geschwister, Vater, Mutter, Freunde und Bekannte Weblogs? Wenn ja, wie heißen diese und worüber schreiben Sie? Tragen Sie Jeans? Hören Sie 682 Musik? Etc. Durch diese Fragen sollen Frömmigkeit und politische Einstellung der jeweiligen Bewerber untersucht werden, wobei viele dieser Fragen die Grenzen des privaten Lebens der Personen bei weitem überschreiten. Beispielsweise werden Frauen mit den Fragen konfrontiert: Was machen Sie, wenn eines Tages, während Ihr Mann außerhalb des Hauses ist, Ihr Schwager bei Ihnen an der Tür klingelt? Öffnen Sie die Tür? Wie würden Sie sich anziehen? 683 Werden Sie ihn herein bitten? Etc. Wird diese Frau beispielsweise antworten, dass sie ihren Schwager ohne Kopfbedeckung begrüßt und ihn herein bitten würde (weil sie das ja tatsächlich so tun würde), wird Sie den Test aus mindesten drei Gründen nicht bestehen: Zunächst, weil Frauen vor ihrem Schwager grundsätzlich verschleiert erscheinen sollen, und zweitens, weil die Frau ihren Ehemann nicht darüber befragt und um seine Erlaubnis gebe684 ten hat. Zudem dürfen ein Mann und eine Frau, die nicht mahram sind, nicht zusammen allein in einem Zimmer bleiben. Die Privatsphäre des Bewerbers wird auch insofern verletzt, als das jeweilige Auswahlkomitee auch Nachbarn und Familien über Eigenschaften, Verhalten, Kleidung, Freunde, politische sowie gesellschaftliche Auffassungen und Aktivitäten des Kandidaten befragen wird. Es muss zudem beachtet werden, dass, so vorteilhaft das Wissen über religiöse Fragen ist, das Wissen über ideologische und politische Schulen nicht unbedingt von Vorteil für die Bewerbung sein muss. Denn wenn der Kandidat die Ideen kennt, die mit Säkularismus, Humanismus und derartigen Denkrichtungen verbunden sind, kann dies ein gewichtiges Zeichen dafür 682 683 684

Vgl. Behtarin Ketab: „Soal hay-e Gozinesh“ (Vorstellungsgespräch und GozineshFragen mit Antworten), unter: www.bartarinketab.ir. Vgl. Rahmani, M. (10.03.2008) : „8. März bei der Zentrale für iranische Frauen und der feministischen Schule“, unter: http://feministschool.org/spip.php?article266. Eine Frau soll vor allen Männern außer Ehemann, Sohn, Bruder, Vater, Onkel und Vater des Ehemannes verschleiert erscheinen und körperlichen Kontakt mit ihnen vermeiden. Die genannten Verwandten, vor denen die Frauen unverschleiert erscheinen dürfen, sind mahram.

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4.2 ARBEITSMARKT: DIE SUCHE NACH DEN RICHTIGEN QUALIFIKATIONSMASSNAHMEN

sein, dass er sich dafür interessiert und möglicherweise auch selbst solche Neigungen hat. Wenn aber jemand die Antwort auf solche Fragen nicht kennt, kann das so interpretiert werden, dass er die Antwort zwar weiß, dies 685 aber verbergen möchte. Wird der Bewerber nach dem gozinesh aufgenommen, so muss er sich bewusst sein, dass sein Verhalten und Reden während der Arbeit ständig über wacht wird. Außerdem sollen die Angestellten, denen berufliche Förderung erteilt werden soll, entweder nochmals an einem solchen Auswahlverfahren teilnehmen oder sie werden dazu verpflichtet, eine Reihe von Seminaren zu besuchen. Beispielsweise sind seit Juli 2010 die Professoren der medizinischen Fächer, die auf Grund ihrer fachlichen Kompetenzen gefördert werden sollen, dazu verpflichtet, zuvor eine 60-stündige Seminarreihe zu besuchen, zum Teil sogar geimeinsam mit ihren Familien. Im Rahmen dieser Veranstaltungsreihen sollen sie Seminare aus den Bereichen Philosophie der Ethik, politische Philosophie, Philosophie des Rechtes, Ethnologie, Theologie und 686 Religionswissenschaft besuchen. Durch diese Maßnahmen wird das Ziel verfolgt, die staatliche Ideologie und Denkweise unter den gebildeten Gruppen der Gesellschaft zwangsweise zu verbreiten und möglichst den Eintritt Andersdenkender in diese Bereiche zu verhindern. Der Bewerber soll sein Dasein als „Ich“, als unabhängig denkendes Wesen, während dieser Interviews vergessen. Ist er ideologisch und religiös nicht auf der gleichen Linie wie der Staat, wird er als Bedrohung angesehen, da er ja neues Denken in dem jeweiligen Arbeitsbereich verbreiten könnte. Und diese Möglichkeit ist in einem System, in dem die Homogenität ohne jede Ausnahme herrschen soll, nicht akzeptabel.

4.2.2

Die Folgen des Auswahlverfahrens und dagegen gerichtete Strategien der Bewerber

Die gravierendste Folge des gozinesh ist die Vergeudung des Potenzials und der Fähigkeiten der ausgebildeten Arbeitskräfte, in deren Bildung Milliarden von Dollars investiert worden sind, die sich aber nicht der staatlichen und re685

686

Vgl. Tabnak News (30.12.2012): „Ahmadinedschads Rat an Gozinesh-Angestellte“, unter: http://www.tabnak.ir/fa/news/294607/; und BBC Persian, Politikredaktion (31.12.2012): „Kritik von Ahmadinedschad an Gozinesh-Vorgängen“, unter: http://www. bbc.co.uk/persian/iran/2012/12/121231_l10_shariatmadari_ ahmadinejad.shtml. Vgl. Jahan-e Emruz, Inlandredaktion (20.07.2010): „Einfluss von kulturellen Tätigkeiten der Professoren auf ihre Förderung“, unter: http://www.jahannews.com/ vdciqwazut1ary2.cbct.txt.

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

ligiösen Ideologie beugen wollen. Viele Bewerber scheitern trotz ihrer fachlichen Kompetenzen am Gozinesh-Verfahren und sind deshalb gezwungen, für die Finanzierung ihres Unterhalts Berufe zu akzeptieren, deren Status weit unter ihren Qualifikationen liegt, oder sie bleiben für einen langen Zeitraum arbeitslos. Das führt zu großer Unzufriedenheit und sogar Depressionen und Passivität sowie zu einem Gefühl der Gleichgültigkeit, was die Zukunft be687 trifft. Eine andere Folge dieser Politik liegt darin, dass durch gozinesh in vielen Fällen die fachlich weniger kompetenten anstelle von hochqualifizierten Bewerbern bevorzugt werden. Das geschieht auf Grund ihrer Tätigkeiten oder ihrer Mitgliedschaft in basidsch, den Revolutionsgarden oder ähnlichen staatlichen Organen. Denn sie sind angeblich diejenigen, die die wahre Qualifikation, nämlich die Frömmigkeit, besitzen. Mohammadreza Rahimi, Vizekanzler von Präsident Amadinedschad, kritisierte beispielsweise im Rahmen der 688 zweiten Kulturrevolution die Einstellung von gheir-e moteahed -Professoren und verlangte die Einstellung von Basidschi-Dozenten bzw. -Professoren an 689 den Universitäten. Dabei wird außer Acht gelassen, dass ein großer Teil der jungen Bevölkerung, der sich ideologisch und religiös nicht mit dem Staat identifizieren kann, dazu gezwungen ist, sich bei den staatlichen Organen und Institutionen zu bewerben, denn der Staat ist der größte Arbeitgeber des Landes. Um einen Arbeitsplatz zu finden, müssen sie deshalb zwangsläufig während des Gozinesh-Prozesses und am Arbeitsplatz ihre wahre Denkweise bzw. ihr wahres Ich verstecken, was langfristig zu Identitätskonflikten und zu einem wachsenden Unzufriedenheitsgefühl führen muss. Wird der Bewerber aufgenommen und eingestellt, muss er einen bemerkenswerten Teil seiner Energie darin investieren, sich während der Arbeit als wahrhafter Muslim und Anhänger des geistlichen Führers darzustellen. Es wird geprüft, ob die Angestellten an den Freitagsgebeten und anti-imperialistischen bzw. religiösen Protesten und Kundgebungen teilnehmen, ob sie 687 688

689

Vgl. Fadayi, F. (13.07.2013): „Einfluss der Arbeitslosigkeit auf die Ausprägung von psychischen Erkrankungen“, Journal für Erziehung und Psychologie, unter: http://www.migna.ir/vdciv5az.t1avv2bcct.html. Mit dem Begriff gheir-e moteahed werden in der Sprache von Khomeini und der islamischen Regierung Personen bezeichnet, die aufgrund ihrer ideologischen und politischen Meinungsverschiedenheiten mit dem Staat als unzuverlässig und untreu gelten. Vgl. Modares oloom, M. (15.05.2010): „Priorität von politischer und ideologischer vor wissenschaftlicher Selektion in Einstellungsverfahren der Universitätsprofessoren“, unter: http://www.rahesabz.net/story/15472/.

252

4.2 ARBEITSMARKT: DIE SUCHE NACH DEN RICHTIGEN QUALIFIKATIONSMASSNAHMEN

während der Gebetszeit bei der Arbeit beten bzw. im Fastenmonat fasten. Sogar bei unbefristeten Arbeitsverträgen kann die Person wegen mangelhafter Präsenz bei solchen Aktivitäten bzw. unangebrachten Äußerungen eine Abmahnung bekommen und sogar ihre Arbeit verlieren. Große Unsicherheit besteht vor allem darin, dass die Person sich nicht sicher sein kann, wem sie am Arbeitsplatz vertrauen kann. Ein zusätzlicher Stresspunkt für Frauen ist der strenge Dresscode bei staatlichen Arbeitsplätzen. Zwar können die Frauen mittlerweile auch ohne Tschador zur Arbeit gehen (bei manchen Behörden ist das Tragen des Tschador jedoch Pflicht), dürfen jedoch nur dunkelfarbige Mäntel und Kopftücher (maghna-eh) tragen. Zudem ist das Tragen 690 von Make-up am Arbeitsplatz untersagt. Diese Beispiele zeigen, dass die Energie, die eigentlich in die Erfüllung der beruflichen Aufgaben und in die Entfaltung von Innovationen investiert werden sollte, durch diese Politik an ein Rollenspiel vergeudet wird, was ein weiterer Grund für die sinkende Arbeitsproduktivität im Lande ist. Dieser Qualifikationsmaßstab verstärkt die Unzufriedenheit und Enttäuschung der jungen Generationen, die für ein besseres Leben jahrelang Zeit und Energie in ihre Bildung und ihr Studium investieren, am Ende jedoch nicht aufgrund ihres fachlichen Könnens, sondern aufgrund religiöser und ideologischer Auswahlkriterien bewertet werden, wodurch ihnen viele Aufstiegsmöglichkeiten vorenthalten bleiben. Das ist ein wesentlicher Konfliktpunkt zwischen dem Staat und der jungen Bevölkerung, die trotzdem versucht, innovativ zu handeln und Strategien gegen diesen Prozess zu entwickeln. Die effektivste Strategie der Bewerber gegen den gozinesh liegt darin, sich penibel vorzubereiten, indem sie sich vor allem im Internet informieren bzw. sich gegenseitig mit ihren Erfahrungen, Ratschlägen und Vorschlägen hel691 fen. In Webseiten, Foren und Weblogs kann man die Listen von möglichen 690

691

Vgl. http://fair-family-law.name/spip.php?page=print&id_article=7455; und Khabaronline, Gesellschaftsredaktion (06.06.2012): „Von der Vereinheitlichung der Studentenbekleidung bis zum farbigen Tschador“, unter: http://www.khabaronline.ir/ detail/218593/. Bereits mit Beginn der Einführung des gozinesh in der Islamischen Republik Iran wurden diverse Bücher mit den jeweils gestellten Fragen im gozinesh veröffentlicht. Am 4. April 1982 kritisierte Khomeini die Veröffentlichung dieser Bücher und befahl ein Verkaufs- und Veröffentlichungsverbot dieser Art von Büchern. Es wurden jedoch weiterhin diesbezüglich neue Bücher zu gozinesh veröffentlicht. Vgl. Gozinesh-Gremium des Ministeriums für Gesundheit und medizinische Bildung: „Gozinesh-Gesetz“, unter: http://selection.behdasht.gov.ir/index.aspx?siteid= 97&pageid=4109.

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

vorkommenden Fragen finden. Beispielsweise veröffentlichte die Online-Bibliothek von bartarin ketab (das beste Buch) einen über 190-seitigen Fragenkatalog mit den Fragen, die in einem gozinesh vorkommen können, und den jeweils besten bzw. korrekten Antworten. In Weblogs erzählen die Bewerber von ihren eigenen Erfahrungen und geben sich gegenseitig Ratschläge darüber, wie man sich kleiden und verhalten soll, was man tun und besser lassen soll. Nach derart Vorbereitungen stellen sie sich während des gozinesh als wahrhafte Gläubige und treue Unterstützer der Islamischen Republik Iran dar. Zudem informieren sie ihre Verwandten, Bekannten und Nachbarn über die bevorstehenden Befragungen zu ihrer Person und bitten sie, sie als wahrhafte Muslime und Anhänger des Regimes darzustellen. Dadurch treten viele Arbeitskräfte in staatliche Organisationen ein, die sich zwar als das, was sie eigentlich nicht sind, darstellen, sich persönlich aber weit von den staatlichen Standards wegentwickelt haben und die kleinsten Gelegenheiten nutzen, um ihren Widerstand gegen die Vereinheitlichungspolitik des Staates zu zeigen. Die steigende Arbeitslosigkeit unter gebildeten Menschen, Ablehnung von nicht religiösen, jedoch kompetenten Arbeitskräften in staatlichen Bereichen, enormer ideologischer Druck und Repressalien z.B. durch Überwachung am Arbeitsplatz, ständige Unterdrückung der wahren Identität, der Denkweise und des Lebensstils, die zu Identitätskrisen und Unzufriedenheit führen, tragen dazu bei, dass viele gebildete junge Menschen das Land verlassen; ein Phänomen, das dem Land enorme Verluste an Geld- und Humankapital einträgt.

4.3

Brain drain: Resultat des Kampfes gegen abweichendes Denken und Verhalten

Die herrschende Logik auf staatlicher Ebene, nämlich dass innerhalb der Gesellschaft und Politik eine islamische Homogenität existiert und die Gesellschaft sowie das Leben des Individuums durch Muster islamischer Tradition gestaltet werden sollen, führten zu außerordentlich zahlreicher Auswanderung qualifizierter Fachkräfte in die OECD-Länder. Das Phänomen des brain drain begann bereits in den ersten Monaten 692 nach der Revolution und beschleunigte sich in den folgenden Jahren. Wäh692

Die massive Auswanderung iranischer Eliten und Experten erfolgte auch nach der Gründung der Rastachiz Partei (Partei der Auferstehung) von Mohammadreza Schah Pahlavi im Jahr 1975. Die Idee zur Gründung dieser Partei basierte auf dem Prinzip des demokratischen Zentralismus, wodurch Rastachiz als einzige Partei zur

254

4.3 BRAIN DRAIN: RESULTAT DES KAMPFES GEGEN ABWEICHENDES DENKEN UND VERHALTEN

rend der ersten Phase der Kulturrevolution verließen viele hoch qualifizierte Fachkräfte das Land und zogen in die USA oder in europäische Länder. Diese Entwicklung bereitete der Übergangsregierung von Bazargan und den gebildeten Schichten der Gesellschaft erhebliche Sorgen, worüber sie auch Khomeini berichteten. Khomeini aber begrüßte in seiner Rede vom 30. Oktober 1980 diese Entwicklung und verlangte sogar, dass jeder, der sich in den islamischen Iran nicht einpassen könne oder wolle, das Land zu verlassen habe – und dass man diesen Köpfen nicht nachtrauern solle: Ihr sagt, dass die Köpfe fliehen. Lasst diese verderbten Köpfe fliehen. Seid nicht bekümmert ihretwegen. Lasst sie ihre eigene Definition von Dasein verfolgen. Ist jeder Kopf mit – wie ihr es nennt – Wissenschaft ehrenhaft? Diese Akademiker, die ständig von Wissenschaft und Zivilisation des Westens sprechen (…) wir wollen diese Wissenschaft des Westens nicht (...). Sollen wir uns hinsetzen und wegen dieser geflohenen Köpfe trauern? Sollen wir uns über diese Köpfe, die in die USA und nach Großbritannien geflohen sind, Sorgen machen? (…) Ändert eure Gedanken. Wir müssen dieses Land ändern, diese Gedanken ändern. Unsere Universitäten sollen von dieser (verderbten) Denkrichtung gesäubert werden. (…) Lasst diese Köpfe fliehen und durch geeignete Köpfe ersetzt werden. Nun, da die islamische Regierung sie filtert, sitzt ihr besorgt da und fragt, warum wir sie filtern? (…) Warum stellt ihr den Islam im Frage? Fliehen sie? Zur Hölle mit ihnen. Lasst sie fliehen (…) Im Iran ist kein Platz mehr für sie zum Leben. Diese geflohenen Köpfe haben keinerlei Nutzen für uns. Lasst sie fliehen. Wenn ihr wisst, dass hier für euch ebenfalls kein Platz zum Leben ist, solltet ihr auch fliehen. Euer Weg 693 ist frei. Dieser sehr großzügige Umgang mit dem Verlust von Fachkräften, Experten und Wissenschaftlern („Köpfe“) zeigt, dass für Khomeini die Errichtung einer islamisch vereinheitlichten Gesellschaft die höchste Priorität hatte und er da-

693

gesetzlichen Partei des Iran ernannt wurde. Mohammadreza Pahlavi verlangte die Mitgliedschaft aller Iranerinnen und Iraner in dieser Partei; wollte jemand diese Pflichtmitgliedschaft ablehnen, sollte er das Land verlassen, so Mohammadreza Schah Pahlavi. Das Ausmaß der Auswanderung in dieser Zeit ist aber mit der postrevolutionären Periode nicht zu vergleichen, was möglicherweise daran liegt, dass weniger als zwei Jahre später die Revolution stattfand. Vgl. Khomeini, R. (2000 f): S. 400-401, 403-404.

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4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

her entschlossen war, die gesellschaftlichen Kosten dieser „Abstimmung mit den Füßen“ (Landesflucht) zu tragen. Nach Beginn des ersten Golfkrieges stieg die Abwanderungsquote der qualifizierten Fachkräfte rasant an. Nach einem Bericht des Internationalen Währungsfonds (IMF) sind allein 15 Prozent der Iranerinnen und Iraner über 694 25 Jahre, die als Mindestabschluss ein Diplom oder höhere akademische Abschlüsse vorweisen konnten, während der 1990er Jahre in die Vereinigten 695 Staaten von Amerika ausgewandert. Die Regierung von Präsident Khatami unternahm zwar Versuche, beispielsweise durch Gründung der „Nationalen Wissenschaftsstiftung des Iran“, die jungen Wissenschaftler im Lande zu fördern und so den Auswanderungsdrang zu minimieren oder sogar die bereits ausgewanderten hoch qualifizierten Experten wieder in den Iran einzuladen, doch ließ sich die Auswanderungsquote auf diese Weise auch nicht senken. Seit Beginn der Amtszeit von Präsident Ahmadinedschad und zugleich mit dem Beginn der zweiten Phase der Kulturrevolution stieg die Auswanderungsquote an qualifizierten Akademikern, Wissenschaftlern und Experten wieder stark an. Nach Statistiken des Parlamentes gehörten die über 60.000 Iranerinnen und Iraner, die bis 2010 das Land verlassen haben, zu den Genies, Eliten, Gewinnern der internationalen wissenschaftlichen Olympiaden und Spitzenabsolventen der besten Universitäten des Landes. Nach Statistiken des IMF liegt der Iran mit einer jährlichen Auswanderungszahl qualifizierter Fachkräfte und Wissenschaftler von 180.000 bis 200.000 an der Spitze der 90 untersuchten Länder. Das entspricht einem jährlichen Verlust von 50 Milliarden USDollar für das Land. Die Statistik der Pass-Behörde (edarey-e gozarnameh) des Iran zeigt, dass allein im Jahr 2008 täglich 3,2 Promovierte, 15 Masterabsolventen und 15 Bachelorabsolventen das Land verlassen haben. Über 25 Prozent der Absolventen iranischer Universitäten leben mittlerweile in 696 OECD-Ländern, 40 Prozent davon sind – mit steigender Tendenz – Frauen. 694 695 696

Mit Diplom wird das iranische Abitur bezeichnet. Vgl. Carrington, W. J., Detragiche, E. (1999): “How extensive is brain drain?”, in: “Finance and Development: a quarterly Magazine of the IMF”, June 1999, Vol. 39, Nr. 2. unter: http://www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/1999/06/carringt.htm. Vgl. Etemad Zeitung (15.07.2013): „Offizielle Statistik bis 2007: Über 30 Prozent der Sieger von wissenschaftlichen Olympiaden und Top-Sieger des Konkoors wandern aus“, unter: http://www.magiran.com/npview.asp?ID=2774921; und BBC Persian, Politikredaktion (14.02.2011): „Irans Wissenschaftsministerium: über 250.000 iranische Wissenschaftler und Experten leben in Nordamerika“, unter: http://www.bbc.co.uk/persian/iran/2011/02/110214_l28_250_thousand_iranian_ specialists_america.shtml; und Rabani, V. (23.05.2012): „Zunahme der Auswanderung gebildeter

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4.3 BRAIN DRAIN: RESULTAT DES KAMPFES GEGEN ABWEICHENDES DENKEN UND VERHALTEN

Ein großer Teil dieser Auswanderer kehrt nicht wieder zurück. Trotz der weiter zunehmenden Zahl qualifizierter iranischer Auswanderer und trotz der Bestätigung dieser Tatsache durch staatliche Behörden leugneten jedoch Ahmadinedschad und seine Regierung mehrmals diese anhaltende Entwick697 lung. Neben globalen Motiven für eine Auswanderung wie dem Wunsch nach Arbeit und Studium im Ausland ergaben die Untersuchungen über die Auswanderung junger iranischer Generationen Gründe wie mangelnde zivile Freiheiten, wenig Hoffnung für die Zukunft, Leben mit wenig emotionalem und mentalem Frieden, mangelnde soziale, politische, kulturelle, aber auch individuelle Freiheit, Unzufriedenheit mit den aktuellen Bedingungen, Wertlosigkeit von Wissenschaft und Wissenschaftlern und unterschiedliches und ungerechtes Umgehen mit religiösen und nicht religiösen Fachkräften sei698 tens des Staates.

4.4

Zwischenresümee

Auch in der Praxis ist die herrschende staatliche Logik zu sehen. Dass die Aufrechterhaltung der kollektiven islamischen Identität und gesellschaftlichen Homogenität das höchste Ziel des Staates ist, war sowohl bei der Frauenpolitik als auch bei den Auswahlkriterien auf dem Arbeitsmarkt festzustellen, was sich zu einer Kontroverse zwischen dem Staat und der gebildeten iranischen Bevölkerung, die immer mehr Recht auf Selbstentfaltung und Selbstbestimmung fordert, entwickelte. Das Idealbild einer Muslimin als einer Frau, deren wichtigste Aufgabe darin besteht, den Haushalt nach Anweisungen ihres Mannes zu verwalten und eine gute Ehefrau und hingebungsvolle Mutter zu sein, ist für junge ge-

697 698

Frauen aus dem Iran“, in: Shargh Zeitung, unter: http://www.magiran.com/npview.asp?ID=2684678; und: Mohseni, M. (24.11.2009): „Zunehmende Auswanderung der Eliten. Regierung leugnet brain drain“, unter: http://www.rahesabz.net/story/4408/; und Collymore, Y.: “Iran Faces Pressure to Provide Jobs and Address Health Disparities”, unter: http://www.prb.org/Articles/2004/IranFacesPressuretoProvideJobs AddressHealthDisparities.aspx. Vgl. http://www.ebtekarnews.com/Ebtekar/Article.aspx?AID=9925#46387; und Etemad Zeitung, Politikredaktion (15.05.2007): „Ahmadinedschad: Es existiert kein brain drain im Iran“, unter: http://www.magiran.com/npview.asp?ID=1405974. Vgl. Panahi, R. (2012): “Factors affecting the brain drain from Iran”, in: “Journal of Basic and Applied Scientific Research”, S. 2003-2015; Shahabadi, A. u.a. (2006): „Untersuchung des brain drain im Iran“, Handelsjournal Sommer 2006, S. 39-81; und Javdani, H. (2004): “Survey of Domestic Factors Contributing to the Academic Elites' Expatriation”, in: Quarterly Journal of Management & Development Process, Bd. 18, Nr. 4, S. 36-47.

257

4 GEGENSÄTZE ZWISCHEN VEREINHEITLICHUNGSDRUCK UND AUTONOMIE DES SUBJEKTS

bildete iranische Frauen nicht länger annehmbar. Sie protestieren gegen Passivität bei der Entscheidungsbildung für ihr eigenes Leben und haben ihr eigenes Idealbild einer modernen Frau entwickelt, die kritisch und selbständig denkt und aktiv handelt. Sie überschreiten dabei viele Grenzen, um sich von überkommenen religiösen Vorschriften zu befreien. Diese Entwicklung ist vor allem das Resultat ihres steigenden Bildungsniveaus, das im Vergleich sogar höher als in manchen europäischen Ländern ist. Dadurch steigt ihr Selbstbewusstsein, ihre Urteilskraft und ihr Selbstvertrauen, und infolgedessen stellen sie die religiös (und traditionell) begründeten Geschlechterrollen in Frage. Dieses Bewusstsein ist die Basis für die Entfaltung des eigenen Selbst, die mit Denken, Kritisieren und Neugestalten verknüpft ist. An diesem Punkt beginnt die moderne Identität der Frauen, eine Identität basierend auf Urteilsfähigkeit, aktivem Handeln und Ablehnung der Geschlechterstereotypen sowie der von der Religion vorgegebenen Rollenverteilung. Es ist ein Prozess, der keineswegs mit dem islamischen Idealbild einer Frau in Einklang steht. Das ist der Kernpunkt des Konflikts zwischen dem Staat und der neuen Generation von Frauen, die unablässig für mehr Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau und ihr Recht auf Selbstbildung und Selbstbestimmung kämpfen und ein politisch-ideologisches System ablehnen, dessen Rechtssystem den Frauen in vielerlei Hinsicht lediglich halb soviel Wert wie Männern zuspricht und das der Ansicht ist, dass Frauen nicht zu selbstständigem Denken und Entscheidungsbildung fähig sind und ihr Wesen nur im Schatten eines Mannes, sei es Vater, Bruder oder Ehemann, zur Geltung kommen kann. Davon haben sich die iranischen Frauen bewusst emanzipiert und mischen sich aktiv in die gesellschaftlichen und politischen Geschehnisse des Landes, eine Bewegung, die trotz Unterdrückungen nie wirklich aufgehalten werden konnte. Auch auf dem Arbeitsmarkt sind diese Konflikte zu erkennen. Der leitende Qualifikationsmaßstab des Staates für die Beschäftigung der großen Anzahl der Arbeit suchenden jungen Bevölkerung, nämlich Frömmigkeit (taqva), entspricht nicht im geringsten den Erwartungen dieser Generation, die jahrelang Zeit und Energie in Bildung investiert hat. Das Primat der religiösen Haltung vor der fachlichen Qualifikation und die ständige Überwachung der Beschäftigten führen zu wachsender Unzufriedenheit der jungen Generation. 258

4.4 ZWISCHENRESÜMEE

Brain drain ist das Resultat eines solchen Systems, das zwar den Staat seinem Ziel – Säuberung der Gesellschaft von nicht-islamisch Denkenden bzw. Andersdenkenden – näher bringt, dem Land jedoch einen hohen Verlust an Humankapital verursacht und zu steigender Unzufriedenheit innerhalb der Gesellschaft beiträgt.

259

Teil 5

260

5

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

5.1

Zusammenfassung

Greift man abschließend noch einmal die Frage auf, ob und inwiefern die Anerkennung oder Ablehnung der Subjektivität und Freiheit des Subjektes das rechtliche sowie politische System eines Landes beeinflussen, ist ein gravierender Einfluss auf die politische sowie rechtliche Struktur festzustellen. In einem modernen System wird der Mensch als Subjekt betrachtet. In diesem Sinne ist der Mensch vernünftig und im Besitz von Moral und Sittlichkeit, ist aber zugleich kein rein spirituelles, sondern auch ein fühlendes, leidenschaftliches Wesen. Das Ziel des menschlichen Lebens ist somit nicht religiös, sondern rein menschlich bestimmt, nämlich als Freiheit des Subjektes. Dabei ist mit Freiheit nicht Gesetzlosigkeit gemeint, sondern Freiheit des Subjektes bedeutet v.a., dass der Mensch nur den Gesetzen gehorchen soll, die er selbst erlassen hat. Diese Einstellung hat folgenden Einfluss auf die rechtliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung: • Das Subjekt ist das Fundament der Gesellschaft. Ein frei und kritisch denkendes und handelndes Wesen, das gegenwarts- bzw. zukunftsorientiert ist. • Dadurch, dass Menschen frei und unterschiedlich denken, entwickeln sie sich auch unterschiedlich. Die Pluralität ist keine Bedrohung, sondern eine Chance. • Das Subjekt ist der Motor von Kritik, Verbesserung und Wandlung der Gesellschaft. • Individuelle und kollektive Freiheit stehen parallel zueinander, keines kann das andere unterdrücken. • Werte und Regelungen der Vergangenheit sind kein Handlungsmuster und Gesetze für die Gegenwart und Zukunft. Statt dessen gestaltet der moderne Mensch (Subjekt) auf Basis seiner Vernunft, Moral und Sittlichkeit neue Gesetzesrahmen, die zeitgemäß seinen Bedürfnissen und Erwartungen gerecht werden. • Das Individuum darf sein Leben im Rahmen der menschlichen Gesetze frei gestalten. Diese Einstellung ermöglicht die Entwicklung einer auf der menschlichen Vernunft basierten Verfassung und eines gesellschaftlichen sowie politischen Systems, dass die Menschen als Bürger und ihre Rechte anerkannt und ihnen das Recht auf Selbstverwirklichung, Kritik und Verlangen nach Wandlung 261

5 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG

und Partizipation erteilt. In einem solchen dynamischen System stehen der Staat bzw. die Gesellschaft und die Individuen in vielerlei Hinsicht parallel zueinander und keiner kann das Recht der Anderen auf Freiheit (ohne ernste Folgen) unterdrücken. Vergleicht man dieses moderne System mit einem ideologisch-geprägten politischen System, das auf Grundlage der Religion verwaltet wird, werden die Differenzen augenfällig. Die islamische Politik des iranischen Staates unterscheidet sich in vielen Aspekten von einem modernen System. Diese Unterschiede beruhen v.a. auf der spezifischen Einschätzung des Individuums. Das politische System des Iran ist stark durch Ablehnung des Subjektivitätsprinzips und Einschränkung der individuellen Freiheit geprägt, das dem Menschen keine Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Gesetzgebung einräumt. In diesem System kann zwar der Mensch frei sein und sich frei entscheiden, aber diese Freiheit ist nur im Rahmen des Willens Gottes vorstellbar. Anders formuliert ist der Mensch stets abhängig von Gott – ein Phänomen, das im Rahmen dieser Studie als vermittelte Subjektivität bezeichnet wurde. Damit verfolgt das menschliche Leben ein rein numinöses Ziel, nämlich das Aufgehen in Gott. Diese Einstellung hat folgenden Einfluss auf allgemein rechtliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen des Iran: • Das Individuum wird als Verkörperung des ommat angesehen und soll sein Leben nach kollektiven Werten und den Vorschriften der Religion richten. Seine Identität wird nur im Zusammenhang mit der kollektiven islamischen Identität definiert, und es wird ihm kein Spielraum für Innovation und keine Selbstbestimmungsmöglichkeit in Bezug auf sein eigenes Leben gewährt. • Es gibt nur eine wahre Meinung, die in der islamischen Lehre zu finden ist. Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt kann es deshalb nicht geben. • Die individuelle Freiheit wird anhand religiöser Werte definiert und eingeschränkt. Sie steht stets im Schatten der kollektiven Freiheit. • Die religiösen Werte sind die Handlungsmuster und der Gesetzesrahmen für die Gegenwart und Zukunft. Sie gelten als heilig und dürfen nicht kritisiert oder verändert werden. Der Mensch ist nicht fähig, Gesetze zu erlassen und numinöse Gesetze zu ändern. Das Prinzip der vermittelten Subjektivität hat gravierende Folgen auf die Verfassung und die danach ausgerichtete Politik des Landes. Die Verfassung der Islamischen Republik Iran definiert als Ziel der Politik die Rückkehr zur 262

5 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG

islamischen Weltanschauung und die Erstellung einer vorbildlichen Gesellschaft auf Basis islamischer Prinzipien und Grundsätze. Staat ist in diesem Sinne die Umsetzung des Ideals eines in Religion und Denkweise gleichgerichtetes Volkes. Dabei erteilt die Verfassung die Souveränität und Gesetzgebungsautorität allein Gott. Auf Basis der Verfassung ist die Politik unter folgenden Grundprinzipien gestaltet und verwaltet: • Da nur Gott die Gesetzgebungsautorität hat, hat er allein das Recht auf Regieren. Das erklärt auch das Prinzip der „Statthalterschaft von Rechtsgelehrten“, womit der Staat als Vormund des Volkes deklariert wird. • Jeder Aufstand gegen den Staat ist somit Aufstand gegen Gott. • Das Individuum ist nur im Rahmen der islamischen Vorschriften frei und soll sich dem Staat und der Religion unterwerfen. • Der Staat ist Vormund des Volkes und seine Hauptaufgabe besteht darin, religiöse Werte zu schützen, die Gesellschaft in jeder Hinsicht zu säubern bzw. zu islamisieren und wahrhafte Muslime zu erziehen, die alle gleich denken und handeln. • Die Menschen sollen alle islamisch sein, sie müssen gehorchen, islamisch denken und handeln (Vereinheitlichung der Gesellschaft). Jede Art Abweichung von diesem Weg oder von dieser Denkart setzt der islamische Staat mit Häresie sowie der Bedrohung des Islam und der kollektiven Werte gleich. Dieses System verlangt absoluten Gehorsam und sieht in Andersartigkeit eine Gegnerschaft. Dieser Standpunkt erklärt den Grund für die Durchführung der sogenannten Kulturrevolution, die die Gesellschaft von Andersdenkenden zu säubern versucht. Die Gesellschaft soll durch diese Islamisierungspolitik vereinheitlicht werden und das Individuum in sich auflösen, eine Politik, die zu Beginn der Revolution an den Universitäten als dem „Kopf der Gesellschaft“ begonnen wurde, in der Gesellschaft verbreitet wurde und bis zum heutigen Tag auf verschiedenste Weise fortgesetzt wird. Das Islamisierungsprojekt hat in der Gesellschaft des Iran gravierende Folgen nach sich gezogen; beispielsweise wurde dadurch innerhalb der Gesellschaft eine Atmosphäre von Misstrauen ausgeprägt, die nicht nur die Entfaltung jeder Art von Innovation und Wandlung stark hindert, sondern die Zusammenarbeit auf gesellschaftlicher und politischer Ebene erschwert. Zudem erzeugt dieses System einen Identitätskonflikt in dem Teil der Bevölkerung, der sich vor allem durch sein steigendes Bildungsniveau von den islamischen Normsetzungen distanziert hat. Außerdem führten diese Unter263

5 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG

drückungsmaßnahmen dazu, dass das Land viel wertvolles Humankapital verloren hat, da insbesondere Menschen mit hohem Bildungsstand in diesem System keinen Raum für ihre persönliche Entwicklung und Entfaltung gefunden haben. Weiter ist festzustellen, dass die Vereinheitlichungspolitik zu zunehmenden Konflikten zwischen der Bevölkerung und dem Staat beigetragen hat. Die iranische Bevölkerung entwickelte gezielte Widerstandsstrategien gegen diese Politik und entfernte sich bewusst von den Islamisierungszielen der Gesellschaft. Im Laufe der Zeit hat sich eine Art Parallelgesellschaft im Iran entwickelt, die sich sehr von islamischen Lebensmustern unterscheidet. Dieser Unterschied ist ein wichtiger Beweis für die Entstehung von Subjektivität trotz erheblicher politischer Unterdrückung, vor allem als Folge des steigenden Bildungsniveaus der Bevölkerung. Bildung wird auch im Rahmen der modernen Theorien als Mittel zur Subjektbildung dargestellt. Sie steigert das Wissen, treibt das Denken an und hilft bei der Vernunftbildung, wodurch ein frei denkendes und frei handelndes Subjekt entsteht, das Autonomie und Freiheit verlangt. Bildung verfolgt außerdem die Selbstbildung und Wandlung des Menschen und seiner Gesellschaft zur Vollkommenheit. Ausgenommen sind die religiöse Bildung und Erziehung, die die Vernunft unterdrücken und dadurch die Freiheit und Selbstbildung verhindern. Dadurch behindern sie die individuelle, gesellschaftliche und sogar politische Entwicklung. Seit Gründung der Islamischen Republik Iran wurde die Bildung der Bevölkerung stark gefördert, wobei der Staat außer der technischen und wissenschaftlichen Modernisierung des Landes die Verbreitung der islamischen Denkweise und die Homogenisierung der Gesellschaft verfolgte. Doch der Versuch einer Islamisierungspolitik durch Bildung erwies sich als erfolglos, ja kontraproduktiv. Stattdessen haben sich die gebildeten iranischen Individuen zeitgemäß entwickelt und fordern nun ein ebenfalls zeitgemäßes politisches und rechtliches System, das ihren Bedürfnissen und neuen Erwartungen gerecht wird, sie von den Fesseln der Vergangenheit befreit und Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und Selbstbestimmung bietet. Sämtlich Forderungen, die dem islamischen Staat zufolge die Gesellschaft völlig aus dem Gleichgewicht bringen würden. Anstelle einer grundsätzlichen Untersuchung dieser neuen Bedürfnisse und der Einbeziehung neuer Ideen und Änderungsvorschläge bekämpft der Staat diese Entwicklung mit allen Mitteln. Dieses Vorgehen vergrößert jedoch nur die existierenden Konflikte, wie an 264

5 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG

den dargestellten gesellschaftlichen und politischen Widerstandsstrategien und Bewegungen zu erkennen ist.

5.2

Erkenntnisse

Theoretische Erkenntnisse

Bedeutung für den Iran

Politische und gesellschaftliche Stabilität ist langfristig möglich, wenn ein balanciertes Verhältnis zwischen Staat bzw. Gesellschaft und Individuum und seinen Freiheiten besteht.

Fehlendes Gleichgewicht zwischen individueller und kollektiver Freiheit (in politischem sowie gesellschaftlichem Sinn) ist der Grund für den zunehmenden Konflikt zwischen Staat und Bevölkerung im Iran.

Der moderne Mensch (Subjekt) ist autonom, gegenwarts- bzw. zukunftssowie vernunftorientiert und verlangt Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung. Er schafft einen Gesetzesrahmen, der seinen Bedürfnissen zeitgemäß gerecht werden kann.

Der Iran braucht eine neue Gesetzgebungsgrundlage auf einer nicht numinösen Basis, die zeitgemäß an die Wandlungen der Gesellschaft und die Bedürfnisse der Individuen angepasst werden kann.

Eine wichtige Folge der Gesetzgebung auf Basis menschlicher Vernunft ist die Akzeptanz der Kritisierbarkeit und Wandelbarkeit dieser Gesetze.

Gesetzgebung, die auf der Heiligkeit der Religion beruht, hindert jede Kritik und jeden Änderungsversuch. Wird den Gesetzen diese Heiligkeit genommen, können Sie leichter und schneller aktualisiert und gegebenenfalls sogar aufgehoben werden.

Freiheit und Subjektivität sind nicht voneinander zu trennen.

Das Verlangen nach Freiheit ist stark mit der Entstehung des Subjekts verbunden. Die Konflikte zwischen Individuen und Staat im Iran wurzeln u.a. in der Ablehnung der Subjektivität und Freiheit des Subjektes.

Das Subjekt identifiziert sich v.a. durch seine Individualität und sorgt für eine Vielfalt von Ansichten auf der individuellen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Ebene. Vielfalt ist unabdingbare Voraussetzung für Fortschritt.

Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten sind der Motor von Wandlung und Entwicklung. Homogenisierungspolitik behindert die gesellschaftliche und politische Dynamik und damit jeglichen Fortschritt.

Wird das Subjekt geboren, trägt es die Entwicklung bereits in sich, es kann sich in seinem Leben nur noch wandeln und weiterentwickeln.

Das Verlangen des Individuums nach Autonomie, Wandlung und Entwicklung kann nicht durch Homogenisierungspolitik beseitigt werden. Die Entwicklungen und Spuren, die die Vernunft und das Denken hinterlassen haben, können nicht von außen gelöscht werden.

Bildung hat einen gravierenden Einfluss auf die Entstehung des Subjekts und gilt somit als Verstärkung individueller, kultureller, gesellschaftlicher und politischer Prozesse.

Durch Bildung ist im Iran eine neue Generation entstanden, die nun Vernunftorientierung, Selbstbestimmung, Autonomie und Befreiung von alten Rechtsprinzipien und Handlungsmustern verlangt und sich gegen die Homogenisierungspolitik des Staates aktiv und bewusst wehrt. Das steigende Bildungsniveau der Bevölkerung ist ein wesentlicher Grund für wachsende Kritik sowie das Verlangen nach Veränderung und Selbstbestimmung seitens der Individuen.

265

5 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG Bildung ist zwar das wichtigste Mittel zur Übermittlung von Werten und Normen sowie deren Vergesellschaftlichung, dennoch fordert sie auch das Denken, Vergleichen und Kritisieren. Meinungsverschiedenheit und Pluralität sind das unvermeidbare Resultat (zumindest bei einer nicht rein religiösen Bildung).

Das Einsetzen der Bildung als Islamisierungsund Homogenisierungsmittel im Iran erwies sich als teils erfolgslos und als seine eigene Antithese, was an den Beispielen Frauenbewegung und Arbeitsmarkt deutlich wird. Die Islamische Republik Iran hat ungewollt durch Förderung der Bildung zu steigenden freiheitlichen Ansprüchen der Individuen beigetragen.

Subjektivität kennt kein Geschlecht. Sowohl Mann als auch Frau sind in der Lage, sich zum Subjekt zu entfalten und das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung zu verlangen.

Die Frauenbewegung im Iran ist v.a. das Ergebnis des steigenden Bildungsniveaus der Frauen, die sich nicht mehr mit den von der Religion vorgeschriebenen Rollen zufrieden geben wollen und aktiv gegen diese Rollenverteilung kämpfen.

Gebildete Individuen als wertvolle Fachkräfte sind der Motor von Wandlung und Entwicklung in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht.

Der Verzicht auf qualifizierte Arbeitskräfte aufgrund ideologischer und religiöser Abweichung vom staatlichen Ideal verursacht große wirtschaftliche und gesellschaftliche Schäden im Iran.

5.3

Chancen und Risiken

• Die Fortsetzung der bisherigen Homogenisierungspolitik verschärft nicht nur die Konflikte zwischen Staat und Bevölkerung, sondern verursacht enorme psychische und gesellschaftliche Probleme wie Depression, anwachsendes doppeldeutiges Verhalten und sinkendes gegenseitiges Vertrauen. • Die Fortsetzung der Homogenisierungspolitik ist zudem für die Weiterentwicklung des Landes ein Risiko, weil das Land auf hochqualifiziertes Humankapital angewiesen ist. • Der hohe Anteil der gebildeten Bevölkerung gilt als eine große Chance für die Entwicklung von Grundsätzen der Moderne.

5.4

Fragestellung für die weitere Forschung

Der Einfluss der Bildung auf den gesellschaftlichen und politischen Wandel des Iran bedarf noch vieler weiterer Untersuchungen. Es besteht beispielsweise Bedarf an einer tiefgreifenden Untersuchung und Inhaltsanalyse der Lehrbücher wie der Lehrmethoden sowohl an den Universitäten als auch an den Schulen im Iran. Diese Untersuchungen sind wichtig, vor allem weil sie die Grundlagen des gesellschaftlichen und politischen Handelns der Menschen beeinflussen. Es ist wichtig zu untersuchen, ob der Unterricht an den Schulen und Universitäten mit Analyse und Diskussionen zwischen Lehrenden und Lernenden verbunden ist, oder ob ein patriarchalisches Verhältnis 266

5 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG

zwischen ihnen besteht. Wird dem Schüler bzw. Studenten der Weg zu selbstständigem und kritischem Denken beigebracht oder herrscht das Prinzip des fleißigen Auswendiglernens und gläubigen Akzeptierens? Inwieweit haben sich Methoden und Inhalte im Laufe der Jahre verändert? Inwieweit wird Denken und Analysieren im Rahmen der Lehrbücher gefordert? Wichtig für die weitere Forschung bleibt auch die Frage nach dem Wesen der politischen Bildung. Welche Ziele sollen durch diese Bildung zwecks einer demokratischen Transformation verfolgt werden? Welche Institutionen können sie durchführen und vor allem, wie kann es überhaupt möglich sein, in einem System, das Subjektivität, Pluralität und Freiheit im modernen Sinn nicht anerkennt, eine politische Bildung durchzuführen, die den Menschen Toleranz gegenüber Anderen beibringt und zugleich diese Menschen zum unabhängigen und freien Denken und zur Entscheidungsbildung und aktiven Teilnahme an den politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen begleitet?

5.5

Schlussfolgerung

Diese Arbeit stellt mittels grundsätzlicher Erforschung der politischen Ideologien und Theorien der Gründer der Islamischen Republik Iran die Grundlinien der Politik des Landes näher dar und klärt einen wichtigen Teil der dar aus resultierenden gesellschaftlichen und politischen Konflikte und deren Gründe auf. Die Gesellschaft und Politik des Iran steht zu Beginn der 21. Jahrhunderts vor vielen großen Herausforderungen, die meines Erachtens nach nicht ohne Berücksichtigung des Wandels des Wesen des Individuums im Iran zu bewältigen sind. Eine grundlegende Untersuchung des modernen iranischen Individuums, seiner Bedürfnisse, Ansprüche, Wünsche und Ziele, ermöglicht dem Land, seinen eigenen Weg und seine eigene Art der Moderne auf Basis eigener kultureller, historischer, gesellschaftlicher und politischer Erfahrungen und Werte zu entwickeln. Dabei ist zu beachten, dass die Anerkennung von Subjektivität und die Freiheit des Individuums zur Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung, aber auch die Anerkennung von Pluralität innerhalb der Gesellschaft die ersten Schritte dieser Entwicklung sind.

267

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Danksagung Der erste und größte Dank gilt meinen Eltern, die mir immer mit unendlicher Liebe alles ermöglicht haben, und mir stets den Mut gegeben haben, Anderes zu denken, Neues zu entdecken und mein eigenes Leben zu gestalten. Alles in meinem Leben habe ich Ihnen zu verdanken. Großer Dank geht auch an meinen liebevollen Mann, der nie aufgehört hat, mich bei allen meinen Vorhaben mit ganzer Kraft zu unterstützen. Ich möchte mich hiermit bei ihm für seine unerschöpfliche Liebe und Unterstützung bedanken. Ich bedanke mich bei Herrn Prof. Dr. Peter Massing und Herr Dr. Behrooz Abdolvand für die Betreuung meiner Dissertation. Ein besonderer Dank geht an meine Freunde, Dr. Philipp Christoph Schmädecke und Dr. Fartash Davani, für ihre Kritik und liebevolle Unterstützung.

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Abstract This Dissertation investigates and describes the concepts of „Subjectivity“and “Freedom of Subject” as the fundaments of modernity and the way of they are formed and further developed through education. It also studies the influence they have on social and political structures and changes. The Study compares the conceptions of subjectivity in modern era in the theories of Kant and Hegel, and two prominent Iranian-Islamic theorists of Islamic Republic of Iran, Khomeini und Motahhari. This Comparison shows the grave consequences of different interpretations of the aforementioned concepts and respectively the acceptance and refusal of this concept on individual, social, and political freedom. While the modern conceptions, define subject as an autonomous, selfwilling, self-conscious and self defining agent, and free the human being from the regulations of the past (both religion and tradition), and grant him the authority of self legislation (Selbstgesetzgebung), self governing and self determination, the Islamic theorists of Islamic Republic refuse the authority of human being, and grant God the sole authority of legislation and governing. Based on this, they restrict the freedom of individuals for decision-making in private, social, and political spheres of life. The study shows however, that this idea policy has caused serious conflicts between state and the high number of educated Iranian population, who have new needs and expectations, which cannot be answered through old regulations and values.

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Islamkundliche Untersuchungen Catherine Mayeur-Jaouen/Alexandre Papas (eds.)

Family Portraits with Saints Hagiography, Sanctity, and Family in the Muslim World IU 317. Berlin 2013. Pb 440 pp., 978-3-87997-422-1 Stéphane Dudoignon/Christian Noack (eds.)

Allah’s Kolkhozes Migration, De-Stalinisation, Privatisation, and the New Muslim Congregations in the Soviet Realm (1950s–2000s) IU 314. Berlin 2014. Br 542 S., 978-3-87997-421-4 Firouzeh Saatchian

Gottes Wesen – Gottes Wirken Ontologie und Kosmologie im Denken von Shams-al-Din Muhammad al-Hafri (gest. 942/1535) IU 305. Berlin 2011. Br 380 S., 978-3-87997-401-6 Abolhassan Hadjiheidari

Nayeb Hosseyn Kaši – Straßenräuber oder Revolutionär? Eine Untersuchung zur neueren iranischen Geschichte (1850–1920) IU 304. Berlin 2011. Br 178 S., 978-3-87997-396-5 Yukako Goto Die südkaspischen Provinzen des Iran unter den Safawiden im 16. und 17. Jahrhundert IU 302. Berlin 2011. Pb 282 pp., 978-3-87997-382-8 ●

The Avicenna Institute of Middle Eastern Studies ● Éva M. Jeremiás (ed.)

At the Gate of Modernism: Qajar Iran in the Nineteenth Century Acta et Studia XII. Piliscsaba 2012. Hc 187 pp., 978-615-5343-01-8 Éva M. Jeremiás (ed.) Irano-Turkic Cultural Contacts in the 11th–17th Centuries Acta et Studia I. Piliscsaba 2003. Pb 253 pp., 963-8635-90-8 Klaus Schwarz Verlag GmbH • Fidicinstr. 29 • D-10965 Berlin Tel. +30-916 82 749 • +30-916 82 751 • Fax +30-322 51 83

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