Gute und schlechte Regimes: Staat und Politik Lateinamerikas zwischen globaler Ökonomie und nationaler Gesellschaft 9783964567109

Ausgehend von Diego Riveras Fresken der guten und schlechten Regierung (1924) sowie der aktuellen entwicklungspolitische

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Gute und schlechte Regimes: Staat und Politik Lateinamerikas zwischen globaler Ökonomie und nationaler Gesellschaft
 9783964567109

Table of contents :
Inhalt
Detailliertes Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Abkürzungen
Dank
1. Einleitung und Problemstellung
2. Herrschaftstechniken
3. Institutionen der Interessenartikulation
4. Politische Regimes und Regimewandel
5. Formale Demokratie und Menschenrechte
6. Staatsreform als Staatsaufgabe: Mexikos und Costa Ricas Strukturanpassungspolitik im Vergleich
7. Schlussbetrachtung
Anhang
Literaturverzeichnis

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Christian Suter Gute und schlechte Regimes

Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kritik / Historia y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft / Lingüística Serie C: Geschichte und Gesellschaft / Historia y Sociedad Serie D: Bibliographien / Bibliografías Herausgegeben von / Editado por: Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann C: Geschichte und Gesellschaft / Historia y Sociedad, 4

Christian Suter

Gute und schlechte Regimes Staat und Politik Lateinamerikas zwischen globaler Ökonomie und nationaler Gesellschaft

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1999

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Iberoamericana / Editionen / C] Editionen der Iberoamericana = Ediciones de Iberoamericana. Serie C, Geschichte und Gesellschaft - Historia y sociedad. Frankfurt am Main : Vervuert Reihe Editionen, Serie C zu: Iberoamericana. - Hervorgegangen aus: Iberoamericana / Editionen / 03 4. Suter, Christian: Gute und schlechte Regimes. - 1 9 9 9 Suter, Christian: Gute und schlechte Regimes : Staat und Politik Lateinamerikas zwischen globaler Ökonomie und nationaler Gesellschaft / Christian Suter. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 (Editionen der Iberoamericana : Serie C, Geschichte und Gesellschaft ; 4) Zugl.: Zürich, Univ., Habil.-Schr., 1998 ISBN 3-89354-872-6 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Abb.: Wandgemälde El buen gobierno (oben) und El mal gobierno (unten); Universidad Autónoma Chapingo, obra mural de Diego Rivera. Museo Nacional de Agricultura Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany

Inhalt

Detailliertes Inhaltsverzeichnis

7

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

13

Abkürzungen

17

Dank

21

1.

Einleitung und Problemstellung

23

2.

Herrschaftstechniken

49

3.

Institutionen der Interessenartikulation

65

4.

Politische Regimes und Regimewandel

101

5.

Formale Demokratie und Menschenrechte

193

6.

Staatsreform als Staatsaufgabe: Mexikos und

7.

Costa Ricas Strukturanpassungspolitik im Vergleich

279

Schlussbetrachtung

397

Anhang

417

Literaturverzeichnis

455

Detailliertes Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

13

Abkürzungen

17

Dank

21

1.

Einleitung und Problemstellung

23

1.1

"Gute" und "schlechte" Regimes als Ausgangspunkt einer politischen Soziologie Lateinamerikas im 20. Jahrhundert

23

1.2

Nationalstaat und Zivilgesellschaft

31

1.3

Strukturelemente des politischen Systems und ihre gegenseitigen Verknüpfungen Politische Regimes Politische Herrschaft Interessenartikulation und Demokratie Staatliche Aktivitäten und Staatsaufgaben Externe Einflüsse

34 36 37 38 39 41

1.4

Der zeitliche und räumliche Rahmen der Untersuchung

43

1.5

Methodisches Vorgehen und Datenbasis

44

1.6

Gliederung und Aufbau

46

2.

Herrschaftstechniken

49

2.1

Überblick

49

2.2

Klientelismus

50

2.3

Korporatismus

55

2.4

Populismus

56

Detailliertes Inhaltsverzeichnis

8

2.5

Politische Religion

61

2.6

Staatliche Gewalt und Repression

63

3.

Institutionen der Interessenartikulation

65

3.1

Überbück

65

3.2

Politische Parteien Partei als Klub Personalistische Parteien Maschine-Parteien Ideologisch ausgerichtete Kaderparteien Korporatistische Staatsparteien Mischformen und Mobilität zwischen verschiedenen Typen Parteiensysteme

66 69 70 72 73 77 78 79

3.3

Interessenverbände

82

Produzentenverbände Gewerkschaften (Phasen des gewerkschaftlichen Wandels • Institutionelle Struktur und Mitgliedschaft • Beziehung zum politischen System)

84 87

3.4

Soziale Bewegungen

94

4.

Politische Regimes und Regimewandel

101

4.1

Überblick

101

4.2

Konzept und Typologie: Strukturelle Eigenschaften unterschiedlicher Regimeformen

102

Strukturelle Eigenschaften der verschiedenen Regimetypen Staatsklassenregimes

105 105

4.3

(Strukturelle Eigenschaften • Haiti unter François und Jean Claude Duvalier)

Exportbourgeoisien

110

(Strukturelle Eigenschaften • Kolumbien unter der Nationalen Front)

Industriebourgeoisien

117

(Strukturelle Eigenschaften • Brasilien 1964-1985)

Mittelschichtsbasierte populistische Regimes

123

(Strukturelle Eigenschaften • Argentinien unter Yrigoyen)

Unterschichtsbasierte populistische Regimes (Strukturelle Eigenschaften • Nicaragua unter dem FSLN)

130

Detailliertes Inhaltsverzeichnis Desartikulierte Regimes: Gestützt auf technokratisch-militärische Eliten (Strukturelle Eigenschaften * Chile unter Pinochet) Instabile Übergangsperioden: Absenz eines durchsetzungsfahigen Allianzpaktes Zusammenfassung der regimespezifischen Eigenschaften

136

142 144

4.4

Die Evolution politischer Regimes: Das Beispiel des refor144 mistischen Militärregimes von Velasco in Peru Der Weg in die Hegemoniekrise: 1948-1968 146 (Auf die Exportbourgeoisie gestütztes Regime • Mittelschichtsbasiertes populistisches Regime) Populistische und korporatistische Integrationsversuche unter 151 Velasco, 1968-1975 (Die Stellung der Staatsklasse • Die Bauernschaft * Die Industriearbeiterschaft • Die marginale Bevölkerung der hauptstädtischen Elendsviertel • Das zwiespältige Verhältnis zum nationalen und internationalen Kapital) Die Gründe für das Scheitern des korporatistischen Herrschaftsmodells 162 Die Hinterlassenschaft: Politische Desartikulation 166 (Politische Desaitikluaüon unter Morales Bermüdez • Formale Demokratie ohne politische Artikulation: Die zweite Regierung Belaünde) Schlussbemerkung 171

4.5

Komparative empirische Untersuchungen zu Struktur und Wandel politischer Regimes im 20. Jahrhundert Struktur und Wandel populistischer Regimes, 1900-1990 (Auftreten populistischer Regimes • Strukturelle Eigenschaften populistischer Regimes) Sequenzen des historischen Regimewandels, 1900-1990

173 175

184

4.6

Zusammenfassung und Ausblick

190

5.

Formale Demokratie und Menschenrechte

193

5.1

Überblick

193

5.2

Über die Demokratie in Lateinamerika im 20. Jahrhundert

194

5.3

Demokratie und Autoritarismus: die konzeptionelle Debatte Elitedemokratietheorien Pluralismustheorien Herrschaftssoziologische und neomarxistische Konzepte Autoritarismustheorien

199 200 201 202 204

10

Detailliertes

Inhaltsverzeichnis

Kritisch-partizipatorische Ansätze Neoliberale und neokonservative Konzepte Demokratie, Autoritarismus und Menschenrechte Ein mehrdimensionales quantifizierbares Demokratiekonzept: Formale Demokratie und Menschenrechte

206 206 207

5.4

Zur Messimg von formaler Demokratie und Menschenrechten Skalen der vergleichenden Demokratieforschung Operationalisierungen der vorliegenden Studie

212 212 218

5.5

Die Frage der Dimensionalität von Demokratie Methodisches Vorgehen Ergebnisse Kategoriengrenzen und -Übergänge

225 225 227 232

5.6

Validität der Menschenrechts- und Demokratiemaße Menschenrechtsskalen Formale Demokratie

233 233 235

5.7

Formale Demokratie und Menschenrechte im Zeitverlauf Der Entwicklungsverlauf auf gesamtregionaler Ebene Einzelstaatliche Entwicklungsmuster

238 238 242

5.8

Demokratie, Weltwirtschaft und Entwicklung

250

Bedingungen für formale Demokratie und Menschenrechte (Sozioökonomische Faktoren • Weltwirtschaftliche Faktoren • Soziokulturelle Einflüsse * Modellanordnung und Indikatoren • Methodisches Vorgehen • Empirische Befunde)

252

Entwicklungs- und Wachstumsrelevanz von Demokratie

269

210

(Modellanordnung für die WachstumsefTekte von Demokratie • Ergebnisse)

5.9

Zusammenfassung

277

6.

Staatsreform als Staatsaufgabe: Mexikos und Costa Ricas Strukturanpassungspolitik im Vergleich

279

6.1

Überblick

279

6.2

Vom importsubstituierenden zum exportgeleiteten Entwicklungsmodell: Strukturanpassung als Reformprojekt Fragestellungen des Fallstudienvergleichs Zur Auswahl der Länderfallstudien Methodisches Vorgehen

280 282 283 288

Detailliertes

6.3

Inhaltsverzeichnis

Mexiko: Strukturanpassung ohne Entwicklung — marktwirtschaftliche Reformpolitik, soziale Destabilisierung und Regimezerfall Herrschaftsformen und politisches Regime im nachrevolutionären Mexiko Vom "milagro mexicano" zu den "décadas perdidas" Strukturanpassung und marktwirtschaftliche Reformpolitik der 1980er und 1990er Jahre (Das erste Anpassungsprogramm 1983-1985: Misslungene Stabilisierung • Zweite Phase der Strukturanpassung: Anpassung ohne Entwicklung • Die Krise von 1994/95) Strukturanpassung und Arbeitsmarktpolitik Strukturanpassung und Sozialpolitik (Einkommensverteilung und Armutsentwicklung • Offensive Armutspolitik unter Präsident Salinas: Das Solidaritätsprogramm • Sozialpolitische Reformen von Präsident Zedillo: Privatisierung der Sozialversicherung) Strukturanpassung und Demokratie: Die politischen Reformen (Wahlrechtsreformen • Errichtung von Menschrechtskommissionen) Strukturanpassung und politisches Regime: Der Wandel in den Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft (Gewerkschaften • Soziale Bewegungen • Parteien • Unternehmerschaft und Wirtschaftsverbände) Ausblick

6.4

6.5

11

290 291 298 302

317 320

329

334

350

Costa Rica: Politische Kontinuität trotz Strukturanpassung Politisches Regime und Herrschaftsformen Vom Wirtschaftswunder zur Schuldenkrise Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogramme der 1980er und 1990er Jahre (Erfolgreiche Stabilisierung im zweiten Anlauf • Mittelfristige Strukturanpassung: Exportförderung und Staatsreform • Stabilisierungsprobleme und Rezession 1994-1996) Strukturanpassung und Arbeitsmarktpolitik Strukturanpassung und Sozialpolitik Strukturanpassung und Demokratie Strukturanpassung und politisches Regime: Der Wandel in den Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft (Gewerkschaften • Soziale Bewegungen • Wirtschaftsinteressen • Parteien) Ausblick

354 354 359

Zusammenfassung

394

361

372 378 381 384 393

Detailliertes Inhaltsverzeichnis

12

7.

Schlussbetrachtung

397

7.1

Überblick

397

7.2

Methodische Folgerungen: Validität von Demokratie- und Menschenrechtsindikatoren

397

Inhaltliche Ergebnisse und theoretische Folgerungen

399

Politische Regimes und Regimewandel (Zusammenhang zwischen Regimetyp und anderen Strukturelementen des politischen Systems • Die These vom Untergang des Populismus Sequenzen des Regimewandels im 20. Jahrhundert) Formale Demokratie und Menschenrechte (Der historische Verlauf formaler Demokratie • Demokratie als mehrdimensionale Erscheinung • Einzelstaatliche Variationen von formaler Demokratie und Menschenrechten • Bedingungen von formaler Demokratie und Menschenrechten • Die Wachstumsrelevanz formaler Demokratie) Strukturanpassung und marktwirtschaftliche Liberalisierung am Beispiel von Mexiko und Costa Rica (Die Anpassungsmodelle beider Länder im Leistungsvergleich • Demokratieverträglichkeit von Strukturanpassungspolitiken • Strukturanpassung und Regimestabilität)

399

7.3

7.4

403

408

Lateinamerika auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert

412

Regimewandel Strukturanpassung Formale Demokratie und Menschenrechte

412 414 415

Anhang

417

1.

417

2.

Datenanhang zu politischen Regimes (Verwendete Quellen für die Regimekodierungen • Liste der populistischen Regimes und ihrer Repräsentanten, 1900-1990) • Liste der 108 Regimeepisoden aus den elf größten Ländern, 1899-1990) Datenanhang zu formaler Demokratie und Menschenrechten (Datenbeschreibung der eigenen Menschrechstindikatoren • Detaillierte Datenbeschreibung zu den eigenen Indikatoren für formale Demokratie • Datenliste der Indikatoren für formale Demokratie und Menschenrechte, alphabetisch nach Ländern)

Literaturverzeichnis

424

455

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

Verzeichnis der Tabellen Tabelle 2.1: Tabelle 3.1 : Tabelle 4.1 : Tabelle 4.2: Tabelle 4.3:

Klientelismusformen und ihre strukturellen Charakteristika

51

Typologie politischer Parteien Lateinamerikas hinsichtlich ihrer organisatorischen Struktur

68

Überblick über die Typen politischer Regimes und ihre strukturellen Egenschaften

143

Phasen korporatistischer Herrschaftsbeziehungen der Staatsklasse gegenüber verschiedenen Allianzpartnern

153

Vorkommen von Wirtschaftsantagonismus, Korporatismus und Nationalisierungen nach Regimetyp

182

Tabelle 4.4:

Jährliches Exportwachstum nach Regimetyp, 1900-90

187

Tabelle 5.1:

Demokratiedimensionen und ihre Operationalisierung

219

Tabelle 5.2: Tabelle 5.3:

Faktorenanalyse von 17 Demokratieindikatoren Komponentenladungen von 13 Indikatoren für formale Demokratie und Menschenrechte, 1974-1995

228 231

Interkorrelationen verschiedener Menschenrechtsskalen, 1975-79 bis 1990-94

234

Interkorrelationen verschiedener Skalen für formale Demokratie, 1974-1995

237

Rangfolge der Länder auf den Dimensionen formale Demokratie und Menschenrechte

243

Tabelle 5.4: Tabelle 5.5: Tabelle 5.6:

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

14

Tabelle 5.7: Tabelle 5.8: Tabelle 5.9:

Bestimmungsfaktoren von Demokratie: Operationalisierungen

260

Bestimmungsfaktoren für Demokratie und Menschenrechte (gepoolte Zeitreihen-Regression, 1981-1991)

267

Bestimmungsfaktoren des Wirtschaftswachstums: Operationalisierungen und Quellen

273

Tabelle 5.10: Bestimmungsfaktoren des Wirtschaftswachstums mit verschiedenen Indikatoren für formale Demokratie (gepoolte Zeitreihen-Regression, 1981-1991) Tabelle 6.1:

275

Anpassungsprogramme, interne Stabilisierungsprogramme und Umschuldungsvereinbarungen Mexikos

306

Einkommensverteilung und Armutsbetroffenheit in Mexiko

322

Anpassungsprogramme, interne Stabilisierungsprogramme und Umschuldungsvereinbarungen Costa Ricas, 1979-1995

363

Tabelle 6.4:

Armutsmaße und Einkommensverteilung in Costa Rica

380

Tabelle 6.5:

Landkonflikte in Costa Rica, 1980-1996

391

Tabelle 6.2: Tabelle 6.3:

Verzeichnis der Abbildungen Abbildung 1.1:

Strukturelemente des nationalen politischen Systems

Abbildung 4.1:

Beziehungen zwischen Regime und Industriearbeiterschaft unter Velasco

157

Anzahl und Auftreten populistischer Regimes hinsichtlich der Übernahme der Regierungsgewalt, 1901/10-1981/90

176

Abbildung 4.3:

Auftreten populistischer Regimes 1901-1990

178

Abbildung 4.4:

Mittelschichts- und unterschichtsbasierte populistische Regimes, 1901-1990

180

Abbildung 4.2:

35

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

Abbildung 4.5: Abbildung 4.6:

Formen des im populistischen Diskurs artikulierten Eliteantagonismus

15

181

Sequenzen politischer Regimes im 20. Jahrhundert (elf Länder, 108 Episoden)

188

Abbildung 5.1:

Wahlpartizipation 1900-1990

195

Abbildung 5.2:

Demokratieverlaüf in Lateinamerika im Vergleich zu allen Ländern, 1900-1994

198

Abbildung 5.3:

Wahlpartizipation in Lateinamerika, 1970-1992

239

Abbildung 5.4:

Summenindex der Menschenrechtsverletzungen, Anzahl Länder mit schweren Menschenrechtsverletzungen und Anzahl "unfreie" Länder gemäß dem Index der bürgerlichen Freiheiten, 1974-1995 Formale Demokratie und Menschenrechte in Lateinamerika, 1981-1995 (Mittelwerte der Skalenwerte der latenten Variablen, 21 Länder) Einzelstaatliche Verlaufstypen von formaler Demokratie und Menschenrechten 1981-1995

Abbildung 5.5:

Abbildung 5.6:

240

242 244

Abbildung 5.7:

Modell der Bestimmungsfaktoren von Demokratie

261

Abbildung 5.8:

Modell der Bestimmungsfaktoren des Wirtschaftswachstums

272

Wirtschaftswachstum in Costa Rica und Mexiko, 1971-1997 (jährliche prozentuale Veränderung des realen Bruttoinlandproduktes)

284

Jahresinflationsraten in Costa Rica und Mexiko, 1971-1997

285

Formale Demokratie und Menschenrechte in Costa Rica und Mexiko, 1981-1995

286

Schematische Darstellung wichtiger Herrschaftsmechanismen im nachrevolutionären politischen System Mexikos

296

Abbildung 6.1:

Abbildung 6.2: Abbildung 6.3: Abbildung 6.4:

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

16

Abbildung 6.5:

Reales Bruttoinlandprodukt pro Kopf von Mexiko, 1900-1995 (in Pesos von 1980)

299

Abbildung 6.6:

Entwicklung der Reallöhne in Mexiko, 1970-1997

303

Abbildung 6.7:

Importe, Exporte und Handelsbilanz von Mexiko, 1970-1994 (in Mio. Dollar)

308

Abbildung 6.8:

Einnahmen, Ausgaben und Defizite des mexikanischen Staates, 1970-1994

309

ökonomisch aktive Bevölkerung und Beschäftigung im formellen Sektor Mexikos, 1980-1995

319

Abbildung 6.9:

Abbildung 6.10: Anzahl lokaler und nationaler Streiks in Mexiko, 1971-1995

336

Abbildung 6.11: Herrschaftsmechanismen Anfang der 1990er Jahre

351

Abbildung 6.12: Reales Bruttoinlandprodukt pro Kopf von Costa Rica, 1950-1995 (in Colones von 1966)

360

Abbildung 6.13: Einnahmen, Ausgaben und Defizite des costaricanischen Staates, 1970-1997 (Mio. Colones von 1966)

364

Abbildung 6.14: Exporte, Importe und Handelsbilanz von Costa Rica, 1970-1997 (in Mio. Dollar)

367

Abbildung 6.15: Entwicklung der Reallöhne in Costa Rica, 1973-97 (Indexwerte, 1980=100)

374

Abbildung 6.16: Arbeitslosigkeit, offene und verdeckte Unterbeschäftigung in Costa Rica, 1976-1997 (in Prozenten der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung)

377

Abbildung 6.17: Anzahl Streiks in Costa Rica, 1972-1996

385

Abbildung 6.18: Anzahl durch Streiks und Aussperrungen verlorene Arbeitstage in Costa Rica, 1972-1995

386

Abkürzungen

AD ADEX ANAPO APRA ARE ARENA AUSEE

Acción Democrática Asociación de Exportadores Alianza Nacional Popular Alianza Popular Revolucionaria Americana Alianza para la Recuperación Económica Alianza Renovadora Nacional Acuerdo de Unidad para Superar la Emergencia Económica

B1TU BIZ

Bustamante Industrial Trade Union Bank fUr Internationalen Zahlungsausgleich

CANACINTRA CAT CCE CCSS CGT CGTP CI CINDE CNA CNC CNDH CNI CNOP CNT CODESA CONACI CONAPS CONASUPO COPARMEX COPEI CORFO CSTC CTC

Cámara Nacional de la Industria de Transformación Certificado de Abono Tributario Consejo Coordinador Empresarial Caja Costarricense del Seguro Social Confederación General de Trabajo Confederación General de Trabajadores Peruanos Comunidad Industrial Coalición Costarricense de Iniciativas para el Desarrollo Confederación Nacional Agraria Confederación Nacional Campesina Comisión Nacional de Derechos Humanos Central Nacional de Informaciones Confederación Nacional de Organizaciones Populares Confederación Nacional de Trabajadores Corporación Costarricense de Desarrollo Confederación Nacional de Comunidades Industriales Comisión Nacional de Propiedad Social Comisión Nacional de Subsistencias Populares Confederación Patronal de la República Mexicana Partido Social Cristiano Corporación de Fomento de la Producción Confederación Sindical de Trabajadores de Colombia Confederación de Trabajadores de Colombia

18

Abkürzungen

CTCR CTM CTP CTRP CUT (Chile) CUT (Kolumbien)

Confederación de Trabajadores de Costa Rica Confederación de Trabajadores de México Confederación de Trabajadores del Perú Confederación de Trabajadores de la Revolución Peruana Central Unica de Trabajadores Central Unitaria de Trabajadores

DGEC DPJ

Dirección General de Estadística y Censos Dirección de Pueblos Jóvenes

EPR EPS EZLN

Ejército Popular Revolucionario Empresa de Propiedad Social Ejército Zapatista de Liberación Nacional

FCV FDN FDV FLN FSLN FZLN

Frente Costarricense de Vivienda Frente Democrático Nacional Frente Democrático de la Vivienda Fuerzas de Liberación Nacional Frente Sandinista de Liberación Nacional Frente Zapatista de Liberación Nacional

IDA IFE IMF IMSS INEGI

Instituto de Desarrollo Agrario Instituto Federal Electoral International Monetary Fund (Internationaler Währungsfonds) Instituto Mexicano del Seguro Social Instituto Nacional de Estadística, Geografía e Informática

JLP

Jamaica Labour Party

MAS MDB MIDEPLAN MNR MTSS

Muerte a Secuestradores Movimento Democrático Brasileiro Ministerio de Planificación Nacional y Política Económica Movimiento Nacionalista Revolucionario Ministerio de Trabajo y Seguridad Social

NAFINSA NAFTA NWU/TUC

Nacional Financiera North American Free Trade Agreement National Workers Trade Union/Trade Union Congress of Jamaica

ONDEPJOV

Oficina Nacional de Desarrollo de los Pueblos Jóvenes

PAC PAE P A N (Argentinien) P A N (Mexiko)

Programa de Aliento y Crecimiento Programa de Ajuste Estructural Partido Autonomista Nacional Partido Acción Nacional

19

Abkürzungen

PARAUSEE PARM PCM PCN PDM PECE PEMEX PIRE PLANADE PLN PND PNP PPC PRD (Domin. Rep.) PRD (Mexiko) PRI PRONASOL PRUD PSE PST PUP PUSC

Programa de Acción para Reforzar la Emergencia Partido Auténtico de la Revolución Mexicana Partido Comunista Mexicano Partido de Conciliación Nacional Partido Democrático Mexicano Pacto de Estabilidad y Crecimiento Petróleos Mexicanos Plan Inmediato de Reordenación Económica Plan Nacional de Desarrollo 1989-1994 Partido Liberación Nacional Plan Nacional de Desarrollo Peoples National Party Partido Popular Cristiano Partido Revolucionario Dominicana Partido de la Revolución Democrática Partido Revolucionario Institucional Programa Nacional de Solidaridad Partido Revolucionario de Unificación Democrática Pacto de Solidaridad Económica Partido Socialista de Trabajadores Partido Unión Popular Partido Unidad Social Cristiana

SAC SI SINAMOS SZR

Sociedad de Agricultura de Colombia Sociedad de Industrias Sistema Nacional del Apoyo a la Movilización Social Sonderziehungsrechte

TELMEX TFE TSE TSJ

Teléfonos de México Tribunal Federal Electoral Tribunal Superior de Elecciones Tribunal Superior de Justicia

UCR UTC

Unión Cívica Radical Unión de Trabajadores de Colombia

Dank

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 1998 von der Philosphischen Fakultät I der Universität Zürich als Habilitationsschrift angenommen. Die Arbeit ist das Ergebnis mehrerer Forschungsprojekte zu Fragen des Wandels von Staat und Politik in Lateinamerika, mit denen ich mich seit Anfang der neunziger Jahre beschäftigt habe. Der Anstoß, mich mit dieser Thematik zu befassen, ging von einer Vorlesung zum "Erbe des Kolumbus" aus, die ich anlässlich des 500. Jahrestag der Eroberung Lateinamerikas im Sommer 1992 an der Universität Zürich gemeinsam mit Ulrich Pfister veranstaltete. Ihm und den Studierenden verdanke ich aus den zahlreichen Gesprächen und Diskussion wichtige Anregungen, Ideen und kritische Kommentare. Mein besonderer Dank an dieser Stelle gilt Volker Bornschier. Er hat meine Forschungsarbeiten über all die Jahre hinweg begleitet und mit seiner persönlichen und fachlichen Unterstützung viel zum Gelingen des Buches beigetragen. Ein erstes Teilprojekt zur Thematik des Populismus und populistischer Regimes wurde 1992/93 von der Stiftung Weltgesellschaft/World Society Foundation in Zürich finanziell unterstützt. Die Ergebnisse aus dieser Initialforderung waren Ausgangspunkt für ein größeres Forschungsvorhaben zum Thema "Weltwirtschaftliche Verflechtung, Regimewandel und Demokratisierung in Lateinamerika", das vom Schweizerischen Nationalfonds im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 28 "Außenwirtschaft und Entwicklungspolitik" finanziert wurde (Gesuchsnummer 4028-35399). Martina Peitz, Michael Nollert, Hanspeter Stamm, Monica Budowski, Thomas Oegerli und Magda von der Heydt-Coca haben an diesem Projekt mitgearbeitet. Ihnen allen möchte ich für diese Zusammenarbeit herzlich danken. Eine Abschlussfinanzierung aus dem Kredit zur Förderung des akademischen Nachwuchses der Universität Zürich ermöglichte die Aufarbeitung der jüngsten Entwicklungen und die Niederschrift des Buchmanuskriptes. Der

22

Dank

Schweizerische Nationalfonds unterstützte schließlich die vorliegende Buchpublikation durch einen großzügigen Druckkostenbeitrag. All diesen Institutionen möchte ich meinen Dank aussprechen für die gewährte finanzielle Unterstützung. Wichtige Teile der Arbeit entstanden im Rahmen mehrerer Forschungsaufenthalte in Costa Rica und Mexiko in den Jahren 1993 und 1995/96. Viele Personen, Kolleginnen und Freundlnnnen haben mich in dieser Zeit unterstützt. Alle hier namentlich zu nennen, wäre nicht möglich. Stellvertretend für viele, möchte ich einige Personen erwähnen, deren Unterstützung mir besonders wertvoll war. Dank schulde ich Ilán Bizberg, dem Direktor des Centro de Estudios Internacionales, der mir den mehrmonatigen Aufenthalt am Colegio de México ermöglichte. Wertvolle Hinweise und Denkanstöße für meine Arbeit verdanke ich Carlos Alba, Viviane Brachet-Marquez, Evelyne Huber, Fabrice Lehoucq, Soledad Loaeza, Carlos Marichal, Lorenzo Meyer, Juan Molinar Horcasitas, Orlandina de Oliveira, Alberto Olvera, Ricardo de la Peña und Carlos Sojo. Monica Budowski, Göran Lindgren, Lorena Murillo, Ernesto Reyes und Dennia Román Solano schulde ich Dank für ihre Unterstützung bei der Beschaffung von Daten. Diana Luna war mir behilflich, mich im unwegsamen Gelände der staatlichen Verwaltung Mexikos zurechtzufinden und reproduktionsfahige Vorlagen für die Umschlagbilder von Diego Riveras Wandgemälde "El buen y el mal gobierno" zu beschaffen. Schließlich danke ich Martina Peitz und Beate Rothmaier, die mir bei den zeitaufwendigen Korrekturarbeiten eine große Hilfe waren.

Zürich, im Oktober 1998

Christian Suter

1 Einleitung und Problemstellung

1.1 "Gute" und "schlechte" Regimes als Ausgangspunkt einer politischen Soziologie Lateinamerikas im 20. Jahrhundert Der bekannte mexikanische Wandmaler Diego Rivera (1886-1957) malte seine beiden Fresken vom "guten" und "schlechten" Regime im Jahre 1924. Die Bilder el buen y el mal gobierno befinden sich an den gegenüberliegenden Wänden eines Treppenaufgangs im Verwaltungsgebäude der landwirtschaftlichen Universität von Chapingo. Diese wurde nach der Revolution auf dem verstaatlichten Grundstück einer ehemaligen großen hacienda errichtet. 1 Diego Rivera war ein politischer Maler. Seine Bilder thematisieren soziale Probleme und zeigen Herrschaftsbeziehungen auf. Sie enthalten politische Aussagen und Überzeugungen, die nicht an eine schmale Bildungselite, sondern an die breite Öffentlichkeit gerichtet sein sollen. Deshalb bevorzugte Rivera großformatige Wandmalereien an öffentlichen Gebäuden und Plätzen. Rivera zeigte damit lange vor dem Siegeszug des Fernsehens, dass Bilder und Bildergeschichten ein hervorragendes Medium zum Zwecke der politischen Interessenartikulation sind. Für Diego Rivera gab es keinen Zweifel: Die "gute" Regierung ist das nachrevolutionäre Regime Mexikos unter der Führung des Partido Revolucionario Institutionell (PRI) bzw. seiner Vorläufer. Riveras Bild zeigt, was eine "gute" Regierung im Kern ausmacht: Sie schafft die Grundlagen für wirtschaftliche und soziale Entwicklung und garantiert sozialen Ausgleich und politischen Frieden. Im rechten Teil des Gemäldes der "guten" Aus Platzgründen müssen sich die Umschlagbilder auf Ausschnitte beschränken. Rivera ließ sich für die Fresken vom gleichnamigen Gemälde Ambrogio Lorenzettis im öffentlichen Palast von Siena aus dem 14. Jahrhundert inspirieren.

24

1. Einleitung und

Problemstellung

Regierung bestellen die Bauern friedlich ihr Land; im mittleren und linken Teil des Bildes erkennt man Fabriken, Hafen- und Erdölförderungsanlagen, Eisenbahnen und eine Schule. Für die Durchführung dieses Projektes einer "nationalen Entwicklung" sind grundlegende staatliche Sozialreformen unerlässlich: In der rechten Türe des Bildes steht neben dem damaligen mexikanischen Staatspräsidenten Alvaro Obregón (1920-1924) der Sekretär des Landwirtschaftsministeriums, der für Landreform und Landverteilung in Chapingo verantwortlich war.2 Die Landverteilung an die campesinos thematisierte Rivera außerdem in einem eigenen Fresko, das sich im selben Raum befindet. Die Grundlage dieses reformerischen Staatshandelns des "guten" Regimes ist die am rechten unteren Bildrand symbolisierte politische Dreierallianz zwischen Arbeiterschaft, Bauern und Revolutionssoldaten. Die Art und Weise wie eine bestimmte Regierung in der Gesellschaft verankert ist, — ich verwende dafür den Begriff des politischen Regimes — ist eine der Grundfragen der voliegenden Studie. Das "schlechte" Regime, das vorrevolutionäre Mexiko, zeigt Diego Rivera als gewalttätig und repressiv. Die Armee, die im Dienste habsüchtiger in- und ausländischer Kapitalinteressen und der mit ihr liierten Kirche steht, terrorisiert die Bevölkerung: Gepanzerte Fahrzeuge, aus denen auf die Zivilbevölkerung geschossen wird, ermordete oder an Bäumen erhängte Oppositionelle und Landarbeiter, zerstörte Dörfer mit massakrierten Bewohnern. Der Hafen wird durch eine Intervention ausländischer Kriegsschiffe blockiert und die Erdölförderungsanlagen im Hintergrund stehen in Flammen. Am linken Rand des Freskos ist die politische Allianz des "schlechten" Regimes zu erkennen: Ein Offizier, ein Bankier oder Unternehmer mit dem Geldsäckel und ein verführter, gekaufter campesino ganz links mit dem typischen Hut der mexikanischen Bauern. Sie wird am rechten Rand des Wandgemäldes ergänzt durch den fettleibigen ausländischen Kapitalisten, der mit dem Segen eines Priesters einen Einheimischen besticht. Diego Riveras Charakterisierung der aus der Revolution hervorgegangenen Herrschaft des mexikanischen PRI als "gutes" Regime vermag am Ende des 20. Jahrhunderts zwar nicht mehr zu überzeugen. Hingegen steht die von ihm gestellte Frage nach der "guten" Regierungsführung gegenwärtig wieder 2

Bei den beiden Personen in der linken Türe, die Rivera erst nachträglich übermalte, handelt es sich um den Präsidenten Manuel Avila Camacho (1940-1946, rechts) und den damaligen Landwirtschaftsminister Marte R. Gómez (links).

1.1 "Gute" und "schlechte" Regimes

25

ganz oben auf der Agenda der entwicklungs- und wirtschaftspolitischen Diskussion in Lateinamerika. Der Anstoß dazu erfolgte durch das von der Weltbank zu Beginn der 1990er Jahre geprägte Konzept der good governance, der "guten Regierungsführung". Dieses neue entwicklungspolitische Leitkonzept, das mittlerweile auch von der Interamerikanischen Entwicklungsbank und von den OECD-Ländern im Rahmen ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit übernommen worden ist, stellt den Staat und die Neuorientierung der Staatstätigkeit in den Mittelpunkt. "Gute Regierungsarbeit" — so schreibt die Weltbank in ihrem jüngsten Weltentwicklungsbericht — sei kein Luxus, sondern eine unverzichtbare Notwendigkeit, um im herannahenden 21. Jahrhundert bestehen zu können.^ Das Weltbankkonzept der "guten Regierungsführung" orientiert sich in erster Linie an den politisch-institutionellen Rahmenbedingungen für einen effizienten und transparenten Ressourceneinsatz zum Zweck der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung.4 Zentrale Elemente einer "guten Regierungsführung" sind laut Weltbank Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, wirksame Eigentumsrechte bzw. der Zugang zu Eigentum und Kredit sowie die Schaffung eines günstigen politischen Umfeldes für Entwicklung. Mit diesem letzten Punkt sind explizit die im Rahmen der Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogramme formulierten Ziele und Kriterien angesprochen, nämlich: Preisstabilität, Wechselkursstabilität, Vermeidung von Preisverzerrungen, Liberalisierung des Handels und der Investitionstätigkeit.5 Mit dem Konzept der "guten Regierungsführung" soll demnach eine wirtschaftspolitische Umorientierung erreicht werden: Die Schaffung eines effizienten und effektiven Staatshandelns in einem wirtschaftlichen Umfeld, das durch globale, offene Märkte geprägt ist. Das Gegenstück der "guten Regierungsführung" ist für die Weltbank das "Syndrom der Gesetzlosigkeit", das durch drei Elemente hervorgerufen wird:6 1) Unvorhersehbare oder nicht durchsetzungsfähige Rechtsprechung, 2) ein hohes Niveau an Kriminalität und Gewalt gegen Personen und gegen Eigentum, 3) Korruption. Empirisch fassbar gemacht wurde das Ausmaß von "guter" und "schlechter Regierungsführung" durch eine Unternehmensbefra3 4 5 6

World Bank World Bank World Bank World Bank

(World Development Report 1997:17). (1989,1992,1994a). (World Development Report 1997). (World Development Report 1997:4,49).

26

1. Einleitung und

Problemstellung

gung, wobei die Investoren gebeten wurden, die Glaubwürdigkeit bzw. die Aspekte institutioneller Unsicherheit ihrer Länder zu beurteilen. 7 Eine "schlechte Regierungsführung" im Sinne einer niedrigen Glaubwürdigkeit bei den Investoren führt — so die Überlegung — zu einem Investitionsrückgang und einer Fehlverteilung von Ressourcen mit den entsprechenden negativen Wachstums- und Entwicklungseffekten. Im Gegensatz zu Riveras politisiertem Bild mit organisierten Interessengruppen und Machtfaktoren ist im Konzept der Weltbank der Markt, das heißt das Investorenverhalten, ausschlaggebend. Auch innerhalb der sozialwissenschaftlichen Debatte wird die Frage der Regierbarkeit vermehrt diskutiert. Goran Hyden, dessen Arbeiten das Weltbankkonzept stark beeinflusst haben, versteht unter "guter Regierungsführung" öffentliche Sanktionierbarkeit bzw. die Kontrolle der Staatsbürger über die Regierung, Autorität und Verantwortlichkeit der politischen Führung und eine soziale Gegenseitigkeit, welche in politischer Gleichheit, gegenseitiger Gruppentoleranz und in einer Offenheit der Interessenorganisationen zum Ausdruck komme. 8 Dieser letzte Punkt wird besonders in der aktuellen Diskussion zur Regierbarkeit (gobernabilidad) in Lateinamerika 9 hervorgehoben. Im Gegensatz zur technokratisch geprägten, auf die Frage der Regierungs/wArwrtg beschränkten Vorstellung der Weltbank, wird jedoch zumeist ein breites, politisch orientiertes Konzept vertreten, das auf Begriffe wie Demokratie, Menschenrechte, Herrschaft, Interessengruppen und -Organisationen Bezug nimmt. Neben den oben erwähnten Aspekten des effizienten und effektiven Ressourceneinsatzes durch staatliche Institutionen wird in diesen Ansätzen der Fähigkeit des Staates zur sozialen und politischen Integration besondere Bedeutung zugemessen. Dabei wird besonders die Akzeptanz strukturanpassungsbedingter Reformpolitiken thematisiert sowie — vor dem Hintergrund der mangelhaften Integrationsleistung bestehender politischer Institutionen — die Schaffung neuer Konsensfindungsverfahren und 7 8

9

Borner (1995), World Bank (World Development Report 1997). Hyden (1992). Die Wurzeln der gegenwärtigen Regierbarkeitsdebatte reichen allerdings bis in die 1970er Jahre zurück: Damals löste die Trilaterale Kommission eine Kontroverse über die "Regierbarkeit" westlicher Demokratien aus, die sie beeinträchtigt sah durch die Artikulation übermäßiger Ansprüche an den Staat seitens gesellschaftlicher Interessengruppen (Crozieret al. 1975). Vgl. dazu Flisfisch (1989), Malloy (1993), Alcántara (1994), Rojas Bolaños (1995), Sojo (1995), Domínguez und Lowenthal (1996), Peñas Domingo (1997), PNUD (1997).

1.1 "Gute" und "schlechte" Regimes

27

Formen der Interessenartikulation, die den Einbezug breiter Bevölkerungsteile und bislang ausgeschlossener Gruppen ermöglichen (z.B. indigener Gruppen und Bewegungen). Die verschiedenen Strömungen der gegenwärtigen Regierbarkeitsdebatte haben mit Diego Riveras Fresko gemein, dass sie vor dem Hintergrund tiefgreifender wirtschaftlicher, sozialer und politischer Transformationsprozesse entstanden sind. War es bei Rivera der Untergang der Diktaturen und Eliteherrschaften des 19. Jahrhunderts und das damit verbundene exportorientierte Wirtschaftsmodell, steht in der gegenwärtigen Debatte der durch die Globalisierung der nationalen Märkte und die Redemokratisierung hervorgerufene Strukturwandel im Vordergrund. Die wichtigen Grundfragen, die eine politische Soziologie Lateinamerikas für das ausgehende 20. Jahrhundert zu stellen hat, sind der Situation zu Beginn des Jahrhunderts überraschend ähnlich: Es geht um das Problem der Neugestaltung der Beziehungen zwischen Ökonomie, Politik und Gesellschaft. Damit wird die Frage gestellt nach dem Verhältnis zwischen Weltwirtschaft und nationaler Ökonomie, zwischen Markt und Staat, zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Die vorliegende Studie will zwischen den beiden großen Umbruchsphasen zu Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts einen Bogen spannen. Die oben genannten Grundfragen werden aus einer Perspektive des langfristigen politischen Wandels angegangen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen drei miteinander verknüpfte Prozesse, die sich sowohl auf die langfristige historische Dynamik als auch die aktuellen Transformationen erstrecken: 1) Politische Regimes und Regimewandel: Das Verhältnis zwischen Staat und nationaler Gesellschaft wird auf der Grundlage des Konzeptes des politischen Regimes untersucht. Politische Herrschaft, so der Grundgedanke dieses Konzeptes, gründet auf der Unterstützung durch gesellschaftliche Interessengruppen und Machtfaktoren, wobei sich entsprechend der Artikulationsfähigkeit der Interessen unterschiedliche Formen von Regimeallianzen und -antagonismen herausbilden. Die Analyse politischer Regimes soll zeigen, wie soziale Gruppen ihre Interessen artikulieren, wie Allianzen aufgebaut und wie politische Herrschaft institutionell verankert wird. Politischer Wandel wird aus dieser Sicht beschrieben als Veränderung politischer und sozialer Allianzen und der mit ihnen verbundenen Formen politischer Herrschaft: Der Wandel von den Eliteherrschaften des frühen 20. Jahrhunderts — symbolisiert durch die Allianz des "schlechten" Regimes in Riveras Fresko — zu massenbasierten politischen Allianzen wie sie sich etwa in der

1. Einleitung und Problemstellung

28

Form populistischer Regimes durchzusetzen vermochten — von Rivera dargestellt als Dreierallianz von Arbeiterschaft, Bauern und Militär. Folgende Forschungsfragen thematisieren Struktur und Wandel politischer Regimes: Was sind die strukturellen Charakteristika unterschiedlicher Formen politischer Regimes? Lassen sich regimespezifische Ausprägungen von Herrschaftsformen, des Musters der Interessenartikulation und der Staatsaktivitäten nachweisen? Welche Formen des Regimewandels prägten das 20. Jahrhundert in Lateinamerika? Was sind die internen und externen strukturellen Ursachen von Evolution und Zerfall politischer Regimes? 2) (Re)Demokratisierung: Als Eckdatum des Demokratisierungsprozesses in Lateinamerika wird gewöhnlich das Jahr 1978 bezeichnet. Damals ist Ecuador als erstes Land von der Militärherrschaft zu einer verfassungsmäßig abgestützten, mittels allgemeiner Wahlen bestimmten Regierung zurückgekehrt. 10 Obgleich bezüglich des politischen Liberalisierungsprozesses die letzten zwanzig Jahre am meisten interessieren, berücksichtigt die vorliegende Studie auch die längeren historischen Entwicklungsverläufe, da die Frage der Demokratisierung das 20. Jahrhundert insgesamt geprägt hat. Die Rückgewinnung formaler Demokratie ist zwar ein wesentliches, aber nicht das einzige Element politischer Liberalisierung. Ebenso bedeutsam ist die freie politische Artikulationsmöglichkeit und insbesondere die Anerkennung der Menschenrechte. Der gemeinhin angenommene enge Zusammenhang von formaler Demokratie und Menschenrechten wird in der vorliegenden Studie auf der Basis eines umfangreichen empirischen Datensatzes kritisch hinterfragt. Entsprechend werden hinsichtlich des Demokratisierungsprozesses die folgenden Fragen behandelt: Wie ist das Muster des (Re)Demokratisierungsprozesses in Lateinamerika? Können auf empirischer Ebene unterschiedliche Elemente oder Dimensionen von Demokratie nachgewiesen werden? Inwieweit konnte sich die offensichtliche Verbesserung der formalen Demokratie auch in einer Verbesserung der Menschenrechtssituation niederschlagen? Was sind die zeitlichen und räumlichen Variationen des Demokratieverlaufs? Was sind die Bedingungen von Demokratie und Menschenrechten — welche Rolle spielen diesbezüglich externe und interne Faktoren — und was sind die Entwicklungs- und Wachtumsfolgen von Demokratie? Fördern oder behindern demokratische Verhältnisse das Wirtschaftswachstum? 10

Przeworski (1991).

1.1 "Gute" und "schlechte" Regimes

29

3) Strukturanpassung und marktwirtschaftliche Liberalisierung: Dieser dritte Transformationsprozess wurde ausgelöst durch die verheerende Wirtschafts- und Finanzkrise von 1982 und verstärkt durch den Globalisierungsdruck weltweit konkurrierender Märkte. Von den drei betrachteten Transformationen ist das Reformprojekt der Strukturanpassung mit der marktwirtschaftlichen Liberalisierung der historisch jüngste Prozess. Obgleich vereinzelt bereits in den 1970er Jahren neoliberale Wirtschaftsreformen eingeleitet wurden — v.a. in Chile während der Diktatur von General Augusto Pinochet — erfolgte die entscheidende Wende von der binnenmarktorientierten Importsubstitutionsstrategie zum weltmarktorientierten Entwicklungsmodell erst im Verlaufe der 1980er Jahre. Auch wenn zwischen ca. 1930 und ca. 1970 die lateinamerikanischen Länder eine gewisse nationalstaatliche Autonomie erreichten, blieb ihre Binnenwirtschaft doch immer eng verknüpft mit der Entwicklungsdynamik der Weltökonomie. Aus der Sicht Lateinamerikas sind die gegenwärtigen verstärkten Globalisierungsprozesse deshalb nichts grundsätzlich Neues. Ungewohnt dürfte neben dem Ausmaß externer Einflüsse vielmehr der Umstand sein, dass der Nationalstaat unter einem doppelten Anpassungs- und Reformdruck steht: Einerseits seitens des Weltmarktes und den Akteuren des internationalen Umfeldes, andererseits durch die politischen Kräfte der nationalen Zivilgesellschaft. Folgende Forschungsfragen stehen bei der Behandlung des Prozesses der Strukturanpassung und der marktwirtschaftlichen Liberalisierung im Vordergrund: Was waren die staatlichen Reform- und Krisenbewältigungsstrategien im Gefolge der schweren Wirtschaftskrise der 1980er Jahre bzw. wie wird die von der Weltbank mittels Strukturanpassungsprogrammen angestrebte Politik der "guten Regierungsführung" umgesetzt? Wie ist der Erfolg dieser Programme zu beurteilen und welche sozialen, politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen haben sie? Können demokratische Strukturen trotz wirtschaftlicher Krisensituation und marktwirtschaftlicher Liberalisierung aufrechterhalten werden? Was sind die Konsequenzen der marktwirtschaftlichen Reformen für das politische Regime und für das Beziehungsgefüge zwischen Staat und Zivilgesellschaft? Die vorliegende Studie beabsichtigt, einen Beitrag auf drei Ebenen zu leisten: konzeptionell-theoretisch, methodisch und inhaltlich-empirisch. 1) Auf theoretischer Ebene wird eine konzeptionelle Integration angestrebt, die über bisherige Ansätze hinausgeht: Verschiedene, in der bisheri-

30

1. Einleitung und

Problemstellung

gen Forschungsliteratur nur lose miteinander verbundene, grundlegende Konzepte der politischen Soziologie Lateinamerikas — wie Klientelismus, Korporatismus, Populismus, Regimes, Typen politischer Parteien, Verbände, soziale Bewegungen, Demokratie und Menschenrechte, Staatsfunktionen — werden zueinander in Beziehung gesetzt. Gerade in der deutschsprachigen Lateinamerikaforschung hat die Enge der theoretischen Diskussion dazu geführt, dass Einzelfallstudien kaum in einen übergreifenden Fachdiskurs eingebettet werden. Die konzeptionelle Integration soll einen Beitrag zur Erweiterung der theoretischen Diskussion leisten. 2) Auf methodischer Ebene wird in verschiedener Hinsicht Neuland betreten. Im Bereich der quantitativ vergleichenden Forschung gilt dies besonders für den umfassenden Methodenvergleich zwischen den verschiedenen Demokratie- und Menschenrechtsindizes, wobei neben eigenen Indexkonstruktionen und Datenerhebungen alle in der neueren Forschung verwendeten Skalen mit einbezogen werden. In diesem Zusammenhang kann unter anderem gezeigt werden, dass einer der meist verwendeten Demokratieindikatoren, die Skala von Freedom House, erhebliche methodische Mängel aufweist. Das methodische Vorgehen beschränkt sich jedoch nicht auf quantitative Analysen. Vielmehr werden die oben genannten Grundfragen sowohl quantifizierend, das heißt auf der Ebene der Gesamtregion als auch qualitativ anhand ausgewählter Fallbeispiele behandelt. Damit können die allgemeinen länderübergreifenden Strukturprozesse in Beziehung gesetzt werden zu den individuellen, länder- und regimespezifischen Entwicklungen. 3) Auf der inhaltlichen Ebene werden empirische Befunde zu den oben genannten Grundfragen der drei behandelten Transformationsprozesse erarbeitet. Hinsichtlich des Wandels politischer Regimes wird unter anderem gezeigt, dass auf einzelstaatlicher Ebene wie auf der Ebene des ganzen Subkontinentes charakteristische Sequenzen zwischen verschiedenen Typen politischer Regimes existieren. Diese sind zum Teil in internen, politik-endogenen und zum Teil in externen, weltwirtschaftlichen Faktoren begründet. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Stadienmodelle der politischen Entwicklung formulieren ließen: Die vorliegende Arbeit belegt, dass die These, formuliert von verschiedenen Entwicklungstheorien, der lateinamerikanische Populismus ließe sich auf die Epoche von ca. 1920 bis ca. 1960 begrenzen, nicht haltbar ist. Die durch den lateinamerikanischen Populismus erreichte Mobilisierung trug maßgeblich zum Durchbruch der Demokratie im Verlaufe der 1980er Jahre bei. Die Arbeit weist nach, dass dieser Demokratisie-

1.2 Nationalstaat und Zivilgesellschaft

31

rungsprozess charakterisiert ist durch zwei Dimensionen, die sich zeitlich und zwischen den Ländern unterschiedlich entwickeln: Formale Demokratie und Anerkennung der Menschenrechte, wobei sich ein Auseinanderklaffen zwischen diesen beiden Dimensionen belegen lässt. Der Durchbruch zur formalen Demokratie — der nicht notwendigerweise auch den Schutz der Menschenrechte mit sich bringt — ist ein weitgehend autonomer, politikgesteuerter Prozess, der nur beschränkt durch externe oder interne strukturelle Faktoren der jeweiligen nationalen Gesellschaften erklärt werden kann. In ähnlicher Weise lässt sich über den Prozess der Strukturanpassung sagen, dass trotz weitgehend identischer externer Rahmenbedingungen und Zwänge die Umsetzung der staatlichen Reformen sehr unterschiedlich erfolgt. So kontrastiert das orthodoxe Anpassungsmodell Mexikos, das hauptsächlich auf einem drastischen Reallohnabbau in Kombination mit schockartigen Wechselkursabwertungen basiert, mit der erfolgreichen sozialintegrativen Strukturanpassung in Costa Rica. Die Überlegenheit des costaricanischen Reformprojektes lässt sich maßgeblich auf die umfassend ausgebaute demokratische Ordnung zurückführen. In den restlichen Abschnitten dieses Kapitels möchte ich zunächst die grundlegenden Begriffe und Konzepte vorstellen, auf die sich die vorliegende Arbeit stützt. Danach skizziere ich den zeitlichen und räumlichen Rahmen der Untersuchung und das methodische Vorgehen.

1.2 Nationalstaat

und

Zivilgesellschaft

Im traditionellen Staatsverständnis wird die Institution des Staates durch drei grundlegende Merkmale beschrieben: Der Staat kontrolliert ein bestimmtes Territorium (Staatsgebiet), er verfügt über eine Bevölkerung (Staatsvolk) und er besitzt bestimmte Regelsetzungskompetenzen (Staatssouveränität), insbesondere das Gewaltmonopol, das Recht der Besteuerung und die Rechtssetzung.11 Zur Ausübung seiner Funktionen hat der Staat eine ausdifferenzierte 11

Vgl. dazu Weber (1972,1966), Hättich (1987), Lehman (1988); zur Staatsausgestaltung in den westlichen Zentrumsgesellschaften vgl. Bornschier (1988,1996), in den Ländern der "Dritten Welt" bzw der Peripherie Elsenhans (1981,1985) sowie Hanisch und Tetzlaff (1981), in den lateinamerikanischen Gesellschaften Lauth (1985) und Mols (1987).

32

1. Einleitung und Problemstellung

organisationeile Basis — wie staatliche Verwaltung, das Rechtswesen, Armee und Polizei etc. —, an deren Spitze die Regierung steht. Der Staat ist in diesem Verständnis getrennt von der der nationalen, zivilen Gesellschaft, 1i

die ihrerseits ein Gegengewicht zur Staatsmacht bilden soll. Mit dem Begriff der Zivilgesellschaft ist das Feld der organisierten öffentlichen Auseinandersetzung gesellschaftlicher Interessen gemeint.13 Zivilgesellschaft bedeutet, dass autonome Artikulation und Organisation von Interessen möglich sind. Akteure der Zivilgesellschaft können sowohl formelle Organisationen — wie Gewerkschaften, Verbände, Parteien, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) — als auch informelle Vereinigungen — wie soziale Bewegungen und lokale Bürgerinitiativen — sein, vorausgesetzt, dass sie sich unabhängig artikulieren und nicht vom Staat vereinnahmt sind.14 Die Mütter des "Platzes des 1. Mai" in Argentinien gehören damit ebenso zur Zivilgesellschaft wie die im Anschluss an die Wahlen von 1988 in Mexiko gegründete Oppositionspartei PRD. Bedeutsam ist, dass die Interessenartikulation nicht im privaten, sondern im öffentlichen Raum stattfindet, dass der Bezugspunkt nicht einzelne Individuen, sondern organisierte Kollektive sind, und dass die Artikulation autonom erfolgt. Zivilgesellschaft setzt die Ausdifferenzierung einer Öffentlichkeitssphäre voraus. Aus diesen Gründen ist ein weiteres wichtiges Element einer funktionierenden Zivilgesellschaft, dass Medien und Foren vorhanden sind, mit denen Öffentlichkeit geschaffen werden kann. Die traditionelle Staatsauffassung und die strikte Trennung von Staat und Zivilgesellschaft sind jedoch in mehrfacher Hinsicht ergänzungsbedürftig.15 12

13

14 15

Dies gilt aber beispielsweise nicht für Gramsci's Vorstellung der "società civile", der wie auch Shils (1991) von einer Überschneidung von Zivilgesellschaft und Staat ausgeht Während im Englischen, Spanischen und Französischen mit den Begriffen der "civil society", "sociedad civil" und "société civile" einheitliche Begriffsbezeichnungen vorliegen, konkurrieren im Deutschen neben dem traditionellen von Hegel in seiner Staatsphilosophie eingeführten Begriff der "bürgerlichen Gesellschaft", die Konzepte der "Bürgergesellschaft" (Dahrendorf 1990) und der "Zivilgesellschaft". In der vorliegenden Studie wird der letztere Begriff verwendet, da er das hier betonte Element der freien (organisierten) Partizipation im öffentlichen Raum (im Sinne des citoyens) am besten verdeutlicht Zur Begriffsdebatte vgl. Dahrendorf (1991), Heins (1992), Kössler und Melber (1993), van den Brink und van Reijen (1995). Rueschemeyer et al. (1992). Vgl. dazu besonders Bornschier (1988), Lehman (1988), Willke (1992), Saladin (1995).

1.2 Nationalstaat

und

Zivilgesellschaft

33

Abgesehen davon, dass die klassischen Elemente von Staatlichkeit im lateinamerikanischen Kontext schon immer schwach ausgebildet waren, verlieren sie auch weltweit immer mehr an Bedeutung. Am deutlichsten kommt dies wohl im einzelstaatlichen Souveränitätsverlust zum Ausdruck. Neben der Einbindung in globale Regelungssysteme (sogenannte internationale Regimes wie GATT) und der Bildung regionaler Wirtschaftsgemeinschaften (EU, NAFTA, Mercosur) ist der wachsende Einfluss transnationaler Wirtschaflsunternehmungen und des international organisierten Verbrechens besonders augenfällig. Im Falle Lateinamerikas kommt — im Gefolge der Wirtschafts- und Finanzkrisen — die beträchtliche Einflussnahme multilateraler Finanzorganisationen, insbesondere des Internationalen Währungsfonds (IMF), hinzu. Aber auch die Elemente des Staatsvolkes und des Staatsgebietes erscheinen angesichts weltweiter Migrationsströme und der wirtschaftlichen Globalisierungstendenzen zunehmend fragwürdig als Charakteristika von Staaten. 16 Neuere Konzepte orientieren sich bei der Bestimmung des Staatszwecks wieder vermehrt an den Staatsaufgaben, wobei bei der Frage, was die bedeutsamsten künftigen Aufgabenbereiche des Nationalstaates sind bezie17 hungsweise sein sollen, unterschiedliche Akzente gesetzt werden. Unbestreitbar ist, dass der Nationalstaat seit dem späten 19. Jahrhundert und insbesondere im Verlaufe der Nachkriegsära seine Funktionen sowohl in den westlichen Zentrumsgesellschaften wie in Lateinamerika beträchtlich ausgeweitet hat. Der moderne Staat sollte nicht nur Kontrollinstanz und Garant von Freiheit, Ruhe und Ordnung, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit sein. Vielmehr wurde er auch verantwortlich gemacht für die wirtschaftliche Entwicklung und die soziale Absicherung der Staatsbürgerinnen und -bürger. Diese Funktionsausweitung, wie sie im Rahmen der Herausbildung des Wohlfahrtsstaates erfolgte, 18 war nicht zuletzt Antwort auf partizipative Forderungen, die innerhalb der Zivilgesellschaft artikuliert wurden. In den meisten Ländern Lateinamerikas hat der Staat im Gefolge des wirtschaftlichen Einbruchs der frühen 1980er Jahre seine Aktivitäten grundlegend reformiert. 16 17

18

Vgl. Altvater und Mahnkopf (1996). Legitimität bei Bomschier (1988, 1996), Schaffung einer wissensbasierten Infrastruktur bei Willke (1992), soziale und kulturelle Integration bei Saladin (1995), Standortsicherung im globalen Wettbewerb der Nationalstaaten um knappes Kapital bei Hirsch (1995). Alber (1982), Ewald (1993).

1. Einleitung und Problemstellung

34

Im Geiste des eingangs erwähnten Konzeptes der "guten Regierungsführung" wurden makroökonomische Stabilisierung, neoliberale Strukturanpassung und die Schaffung marktwirtschaftlicher Strukturen zu den vordringlichsten Zielen staatlichen Handelns erklärt. Auch die strikte Trennung von Staat und Zivilgesellschaft ist sehr problematisch. Dies trifft in besonderem Maße auf die Gesellschaften Lateinamerikas zu, wo der Staat einerseits die Zivilgesellschaft in vielfacher Weise durchdrungen hat — zum Beispiel in Form korporatistischer Staatsparteien oder klientelistischer Beziehungen zu sozialen Bewegungen — und andererseits selbst von gut artikulierten, starken Interessengruppen penetriert wird. Der Problematik der Interpénétration von Staat und Zivilgesellschaft wird in der vorliegenden Studie mit der konzeptionellen Unterscheidung zwischen "Staat" und "Regime" Rechnung getragen. In Anlehnung an Collier und Collier wird mit "Staat" die institutionelle Ausgestaltung des Staatshandelns, das heißt die staatlichen Institutionen bezeichnet, wie Regierung, öffentliche Verwaltung, Staatsuntemehmen.19 Der Begriff des "politischen Regimes" bezieht sich demgegenüber wie bereits erwähnt auf die soziale Verankerung des Staatshandelns und auf die Beziehungen zwischen den Machtträgern einer Regierung zu den politischen Interessengruppen. Mit der Unterscheidung von Staat und Regime kann eine weitere konzeptuelle Schwäche zahlreicher Zivilgesellschaftsansätze, nämlich die mangelhafte Verknüpfung mit Herrschaftskonzepten, vermieden werden.

1.3 Strukturelemente des politischen Systems und ihre gegenseitigen Verknüpfungen Der Wandel von Staat und Politik in den lateinamerikanischen Ländern wird in der vorliegenden Studie vor dem Hintergrund eines einfachen Strukturmodelles für das politische System untersucht. Damit soll, wie einleitend erwähnt, eine konzeptionelle Integration von bisher nicht miteinander verbundenen Ansätzen erreicht werden. Die grundlegenden Strukturelemente des politischen Systems und ihre gegenseitigen Verknüpfungen sind in Abbildung 1.1 dargestellt. Ich unterscheide vier Grundelemente: politisches 19

Collier und Collier (1991).

1.3 Strukturelemente des politischen Systems

35

Regime, politische Herrschaft, Interessenartikulation und Demokratie, Staatsaktivitäten und -aufgaben. Diese Strukturelemente betreffen sowohl Staat wie Zivilgesellschaft, wobei der Staat, der eher im rechten Teil der Abbildung (Staatsaktivitäten) zu verorten ist, über politische Regimes und Herrschaftsmuster mit der nationalen Zivilgesellschaft verknüpft ist, die im linken Teil der Abbildung (Interessenartikulation und Demokratie) lokalisiert werden kann. Das nationale politische System ist als Teil des umfassenderen internationalen Systems externen wirtschaftlichen und politischen Einflüssen ausgesetzt, die auf alle vier Strukturelemente einwirken können. Abbildung 1.1: Strukturelemente des nationalen politischen Systems Externe Einflüsse: - unmittelbar, z.B. Interventionen - mittelbare Einwirkung auf Sozialstruktur durch weltwirtschaftliche Wachstumszyklen

Externe Einflüsse: z.B. durch int Regimes, IMF, externe Wirtschaftsgruppen, weltwirt. Konjunkturlagen

Politisches Regime (Herrschaftspakt zwischen sozialen + polit. Kräften) J Interessengruppen, Allianzen Sozial- und Klassenstruktur

Staatsaktivitäten, A Staatsaufgaben J Polit., wirtschaftl., soziale Ordnung Reformpolitik, Strukturanpassung Selbstprivilegierung

l- Foren/Medien: Öffentlichkeiten, Massenmedien, Versammlungen, Manifestationen, Wahlen - Organisationen: Parteien, Verbände, Bewegungen - Formale Demokratie und Menschenrechte Externe Einflüsse: z.B. durch externe Interessengruppen

'

I I I

I Politische Herrschaft, l Herrschaftstechniken -

Klientelismus Korporatismus Populismus Politische Religion Gewalt, Repression

Externe Einflüsse: z.B. externe Unterstützung von Antisubversionsstrategien

1. Einleitung

36

Politische

und

Problemstellung

Regimes

Als politisches Regime bezeichne ich den Herrschaftspakt zwischen politisch relevanten sozialen Gruppen, Klassen und Faktionen. Dieser Pakt braucht keineswegs in einem formellen Bündnis zu bestehen; er kann eine Kombination von formellen und informellen Elementen sein. Einzelne Regimeepisoden können, müssen aber nicht mit Amtsperioden von Regierungen zusammenfallen. So kann sich der soziale und politische Allianzpakt während einer Amtszeit substantiell verändern, oder es können sich mehrere Regierungen mit identischer sozialstruktureller Verankerung folgen. 20 Die spezifische Form politischer Regimes wird letztlich erst sichtbar mittels einer Analyse informeller, persönlicher Netzwerke, ferner darin wie die Regierung ihre Beziehungen zu den Foren und Institutionen der Interessenartikulation gestaltet. Eine Analyse von Regimes, so wie der Begriff hier definiert wird, untersucht die Art und Weise, wie soziale Gruppen politische Institutionen errichten oder in ihrem Interesse manipulieren, um Allianzen aufzubauen, die die Machtausübung im Staat ermöglichen. Je nach Grad der Ausdifferenzierung und des Kräftepotentials der verschiedenen Sozialkräfte sowie der von ihnen eingegangenen Koalitionen und Gegenallianzen bilden sich unterschiedliche Typen politischer Regimes heraus. Insgesamt werden in der vorliegenden Arbeit sieben idealtypische Regimeformen unterschieden, die in Kapitel 4 ausführlich dargestellt sind. Aus Abbildung 1.1 geht hervor, dass das politische Regime als zentrales Strukturelement des nationalen politischen Systems betrachtet wird, das andere Bereiche der Politik beeinflusst. Eine wichtige Frage der vorliegenden Studie stellt sich deshalb zu regimespezifischen Ausprägungen wichtiger Politikbereiche wie Herrschaftsformen, Muster der Interessenartikulation sowie Staatsfunktionen und -aktivitäten. Politische Regimes sind dynamische Strukturen. Die Analyse von Veränderungen in der allianzmäßigen Struktur politischer Regimes und die Diskussion der Beziehungen zwischen politischen Regimes und Mechanismen ihrer herrschaftsmäßigen Verankerung stellen zwei zentrale, miteinander verbundene Problemfelder in der Erforschung der politischen Systeme der lateinamerikanischen Länder dar. 20

Diese Verwendung des Regimebegriffes orientiert sich an den Arbeiten von Evans (1989, 1992, 1995) sowie von Heintz und Hischier (vgl. Heintz und Hischier 1983a, 1983b, Hischier 1987).

1.3 Strukturelemente

Politische

des politischen

Systems

37

Herrschaft

Herrschaft kann in Anlehnung an Max Weber verstanden werden als Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.21 Politische Herrschaft meint also eine institutionalisierte Form der Machtausübung in Lebensbereichen, die vom Regime als politisch relevant erachtet werden. 22 Obgleich die staatlichen Institutionen die wichtigsten Instrumente der Herrschaftsausübung darstellen, kann nicht nur der Staat, sondern jede Organisation Macht und Herrschaft ausüben. Staatsaktivitäten, soweit sie normierend ins Leben der Bürger eingreifen, implizieren die Herrschaft des zugrundeliegenden politischen Regimes. Von Ausnahmesituationen wie dem totalitären Staat abgesehen, sind die Möglichkeiten zur Herrschaftsausübung jedoch immer begrenzt. Eine Eigenschaft, die die politischen Systeme Lateinamerikas von denjenigen der westlichen Zentrumsländer abhebt, ist die Tatsache, dass politische Herrschaft oft nur zum Teil durch staatliche Aktivitäten konstituiert wird, beispielsweise über demokratisch legitimierte Rechtssetzung, sondern direkt aus dem politischen Regime hervorgeht. In der Terminologie von Max Weber sind dies "traditionale Herrschaft" und "charismatische Herrschaft": "Traditionale Herrschaft" beruht auf dem Glauben an die Legitimität der bestehenden Machtverhältnisse und die Befugnisse der gegenwärtigen Mächtigen, "charismatische Herrschaft", auf der Hingabe an die Heiligkeit, Heldenkraft oder Vorbildlichkeit einer Person und der von ihr geschaffenen Ordnung. 23 Neben der Bedeutung charismatischer Herrschaft, die sich insbesondere in Populismus und politischer Religion manifestiert, sind klientelistische und korporatistische Herrschaftstechniken in den politischen Systemen Lateinamerikas von großer Wichtigkeit. Das Wesen dieser verschiedenen Herrschaftsformen wird ausführlich in Kapitel 2 behandelt.

21 22

23

Weber (1972:28). Der Herrschaftsbegriff, der ein relativ stabiles Verhältnis von Herrschern und Beherrschten bezeichnet, ist zu unterscheiden vom Begriff der Macht, der allgemeiner und unspezifischer ist und sich auch auf einmalige Situationen beziehen kann. Zur konzeptionellen Debatte vgl. Imbusch (1998). Weber (1972: 140).

38

Interessenartikulation

1. Einleitung und

Problemstellung

und Demokratie

Die Begriffe der Interessenartikulation und -Organisation beziehen sich auf die Institutionen, die definieren, welche politischen Interessen überhaupt relevant sind, sowie auf Prozesse, die politische Gruppen und die von ihnen vertretenen Interessen zu Koalitionen zusammenführen. Die Chancen der Interessendurchsetzung der verschiedenen sozialen und politischen Gruppen sind meist sehr ungleich verteilt. Kleine Gruppen, die aufgrund ihrer sozioökonomischen Stellung über die entsprechenden Organisationsfahigkeiten verfügen, können sich besser durchsetzen als große artikulationsschwache Bevölkerungsteile. Eine einfache Konzeption des politischen Regimes geht davon aus, dass es von den wirtschaftlich mächtigsten Gruppen gebildet wird. In langfristiger Perspektive trifft dies mit Einschränkungen zu. Da aber in den meisten Situationen keine Gruppe eindeutig dominiert, sind in der Regel politische Prozesse der Selbstartikulierung und der Koalitionenbildung notwendige Voraussetzung zur Bildung eines politischen Regimes. Interessenartikulation und -aggregation sind deshalb relevante Dimensionen eines politischen Systems. Die Organisation und Akkumulation von gesellschaftlichen Interessen setzen das Vorhandensein von formalen Institutionen der Interessenartikulation voraus. Drei Institutionen sind in den politischen Systemen der lateinamerikanischen Staaten von besonderer Wichtigkeit: Parteien, Verbände und soziale Bewegungen. Die drei Organisationsformen unterscheiden sich in ihrem Institutionalisierungsgrad — im allgemeinen hoch bei Verbänden und Parteien, niedrig bei sozialen Bewegungen —, in der Zugänglichkeit für Mitgliedschaften — Beschränkung auf spezifische Berufsinteressen bei Verbänden, Betroffenengruppen bei sozialen Bewegungen — und in den Strategien der politischen Einflussnahme. Diese drei Institutionen werden in Kapitel 3 behandelt. Neben den formalen Institutionen spielen öffentliche Plattformen, Foren und Medien eine wichtige Rolle. Sie umfassen ein breites Spektrum von differenzierten formalen Organisationen, wie Parlament, Presse, Radio und Fernsehen, bis zu Institutionen mit informellem Charakter — wie Kundgebungen, Manifestationen, Kaffeehaus- und Stammtischgespräche, öffentliche Diskussionsveranstaltungen oder Hinterzimmer von Parteisekretariaten. Der Einfluss der Informationsmedien — allen voran des Fernsehens — auf den politischen Entscheidungsprozess ist beträchtlich; nicht ganz zu Unrecht wer-

1.3 Strukturelemente des politischen Systems

39

den sie deshalb als eigentliche politische Macht bezeichnet. Der freie Zugang der gesellschaftlichen Interessengruppen zu den Foren und Medien der Interessenartikulation ist eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung und Aufrechterhaltung demokratischer Strukturen. Über die Kontrolle des öffentlichen Raumes wie Plätze, Straßen und Versammlungslokale, Fernsehkanäle und Radiostationen, Pressehäuser und Verlage kann die Interessenartikulation gesellschaftlicher Gruppen maßgeblich beeinflusst werden. Das Strukturelement der Interessenartikulation ist in der vorliegenden Arbeit — neben dem Konzept des politischen Regimes — von besonderer Relevanz, da es in engem Bezug zur Frage der Demokratisierung und der Menschenrechte steht. Demokratie, wie sie in der vorliegenden Arbeit verstanden wird, zeichnet sich durch eine dicht strukturierte, offene und autonome Interessenartikulation aus, die nicht durch Formen politischer Herrschaft eingeschränkt wird. Der Demokratisierungsprozess in Lateinamerika wird zusammen mit der Frage der Menschenrechte in Kapitel 5 thematisiert. Ein Spezifikum von politischen Systemen in den lateinamerikanischen Ländern ist die geringe Autonomie von Interessenartikulation und der begrenzte Demokratiegehalt. Viele Regimes unternehmen aktive Anstrengungen, ihre politische Herrschaft derart zu gestalten, dass die Muster der Interessenartikulation und -aggregation zu Gunsten ihrer eigenen Stabilität funktionieren. Damit ist erstens Repression gemeint, zweitens die systematische staatliche Unterstützung bestimmter Kanäle der Interessenartikulation (z.B. Parteien). Schließlich können dominante Ideologien eine politische Sprache bestimmen, die gewisse dem Regime als legitim erscheinende Interessen auszudrücken erlaubt, während sie andere Interessen sprachlos bleiben lässt. Diese Bestrebungen zur Selbstreproduktion politischer Regimes und zur Abschottung des Systems gegen äußere Einflüsse impliziert eine geringe Institutionalisierung des politischen Wandels. Ein solcher ist nur durch das unter Umständen gewaltsame Aufbrechen der bestehenden Systemzusammenhänge möglich.

Staatliche Aktivitäten und Staatsaufgaben Hauptziel staatlichen Handelns ist die Gestaltung einer bestimmten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung. Eine zweckmäßige Ordnung auf wirtschaftlicher Ebene orientiert sich an Effizienzkriterien. Die soziale

40

1. Einleitung und Problemstellung

und politische Ordnung sollte demgegenüber eine möglichst umfassende Integration aller Gesellschaftsmitglieder anstreben, während kulturelle Ordnung Identitäts- und Sinnstiftung bezweckt. Zwischen den verschiedenen Ebenen kommt es jedoch häufig zu Zielkonflikten, beispielsweise zwischen wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Integration. Hinzu kommt, dass die verschiedenen Nationalstaaten hinsichtlich der Qualität und der Kosten der von ihnen gestalteten Ordnungen in einem internationalen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. 24 Die verschiedenen politischen Regimes versuchen, die jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ordnungen im eigenen Interesse zu formen. Dies kann bedeuten, dass die wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse im Interesse der Gruppen beeinflusst werden, die das Regime unterstützen. Beispiele hierfür sind der Aufbau einer regulären Armee zur Herstellung von Ruhe und Ordnung im Interesse einer exportorientierten Agraroligarchie, die Durchführung einer Landreform zugunsten von Kleinbauern und Landlosen oder die Reprivatisierung von Staatsbetrieben zum Vorteil von Finanz- und Wirtschaftsinteressen. Der Staat und seine Organisationen stellen selbst wichtige Pfründe dar. Vor allem bei einem geringen Entwicklungsniveau bildet die Versorgung der sozialen Anhängerschaft mit staatlichen Pfründen oder pfrundähnlichen Dienstleistungen — wie dem Bau einer Straße in den Heimatbezirk des Staatspräsidenten — eine bedeutende Form der Beeinflussung staatlicher Aktivitäten durch das politische Regime. Ein politisches Regime kann mit seinen Staatsaktivitäten die eigene Herrschaft stabilisieren. Abgesehen von einem Repressionsapparat sind damit auch der Einsatz staatlicher Mittel zur Verfestigung von Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten gemeint — zum Beispiel durch den Aufbau oder die Unterstützung von Staatsparteien oder von staatlichen Gewerkschaften. Staatliches Handeln kann jedoch auch mittelbar die Formen politischer Herrschaft und die Interessenartikulation beeinflussen. So können bestimmte

24

Vgl. dazu Bomschier (1988). Bereits Max Weber wies in seiner Staatssoziologie darauf hin, dass die Herausbildung und Aufrechterhaltung des abendländischen Kapitalismus konkurrierende Nationalstaaten voraussetzt: "Der einzelne Staat musste um das freizügige Kapital konkurrieren, das ihm die Bedingungen vorschrieb, unter denen es ihm zur Macht verhelfen wollte" (Weber 1966:17).

1.3 Strukturelemente des politischen

Systems

41

Herrschaftsformen infolge von staatlichen Sparpolitiken zusammenbrechen (z.B. klientelistische Strukturen). Staatliche Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogramme, die die verschiedenen sozialen Gruppen und wirtschaftlichen Sektoren in unterschiedlichem Ausmaß treffen, rufen entsprechende Veränderungen im politischen Kräfteverhältnis hervor. Staatshandeln und Staatsaktivitäten haben sich in den lateinamerikanischen Ländern im Gefolge der Wirtschaftskrisen der 1980er Jahre grundlegend verändert. Dieser Wandel, der im Rahmen der Strukturanpassungsprozesse erfolgte, wird anhand zweier Länderfallstudien zu Mexiko und Costa Rica in Kapitel 6 behandelt.

Externe Einflüsse Die bisherige Beschreibung der Strukturelemente bezog sich auf die nationalen Binnenstrukturen der politischen Systeme. Nationalstaaten sind jedoch wie eingangs betont, eingebunden in weltwirtschaftliche, weltpolitische und weltgesellschaftliche Strukturen und Prozesse. Dies manifestiert sich in globalen Kapital-, Güter- und Kommunikationsströmen, in weltpolitischen Regelungssystemen, in der Herausbildung gemeinsamer Werte und in einem internationalen Schichtungssystem von Zentrums- und Peripheriegesellschaften. 25 Entsprechend sind die verschiedenen Strukturelemente des nationalen politischen Systems nicht nur durch interne Prozesse miteinander verbunden, sondern werden auch durch externe weltwirtschaftliche, weltpolitische und weltgesellschaftliche Faktoren beeinflusst. So haben weltwirtschaftliche Konjunkturlagen und Wachstumszyklen Auswirkungen auf Sozialstruktur und Staatsfunktionen. Eine wichtige Frage im Rahmen der vorliegenden Studie stellt sich zur Bedeutung von weltwirtschaftlichen Einflüssen wie Welt25

Vgl. dazu Heintz (1969,1982), Bornschier (1988), Chase-Dunn (1989), Arrighi (1995), Altvater und Mahnkopf (1996). Die Existenz globaler Disparitäten zwischen Zentren und Peripherien bedeutet aber nicht, dass in diesem Schichtungssystem keine Mobilität möglich ist. In Anlehnung an Chase-Dunn (1989) und Arrighi (1995) können Zentrumsregionen als Wirtschaftsräume verstanden werden, die durch kapitalintensive Produktionstechniken, qualifizierte Arbeitskräfte und vertraglich gesicherte, vergleichsweise hohe Löhne gekennzeichnet sind. Demgegenüber dominieren in Peripherien arbeitsintensive Produktionstechniken, Formen unfreier Arbeit bzw. ungeschützte Arbeitsverhältnisse und niedrige Löhne.

42

1. Einleitung und Problemstellung

marktentwicklung und Strukturanpassungsdruck auf politische Regimes, die Struktur der Interessenartikulation und den Demokratisierungsprozess. Der moderne Nationalstaat entstand sowohl in den westlichen Zentrumsgesellschaften wie in den Gesellschaften Lateinamerikas in engem Zusammenhang mit weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Prozessen. Wie eingangs erwähnt, spielten in Lateinamerika externe Einflüsse insbesondere seit dem späten 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle für Struktur und Wandel der nationalen politischen Systeme. Dabei können drei Phasen weltwirtschaftlicher Integration unterschieden werden.26 Die erste Phase setzte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein, als die Länder Lateinamerikas als Rohwarenproduzenten erstmals umfassend in die Weltwirtschaft eingegliedert wurden. Charakteristisch für diese bis ca. 1930 dauernde Epoche war die hohe Spezialisierung einzelner Länder auf wenige Güter. Zudem entwickelte sich der Exportsektor in etlichen Fällen zyklisch: Nach Erschöpfung der Vorräte oder Einbrüchen der internationalen Konjunktur verlagerte sich die Produktion auf ein neues Gut. Ein Beispiel dafür ist die Verschiebung von der Silber- zur Zinnproduktion in Bolivien um die Jahrhundertwende. Mit der weltwirtschaftlichen Integration entstanden auch unterschiedliche Elitegruppen, wobei die zyklische Dynamik Verschiebungen in der politischen Elite bewirkte. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 und die anschließende Finanzkrise lösten den Zusammenbruch der weltwirtschaftlichen Integration über Rohwarenexporte und Auslandsinvestitionen aus. Das exportbasierte Entwicklungsmodell wurde durch die binnenmarktorientierte Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung abgelöst. Diese zweite Phase, die bis Beginn der 1970er Jahre dauerte, bedeutete zwar eine stärkere staatliche Regulierung der wirtschaftlichen Außenbeziehung — zum Beispiel durch das Zollregime und die Währungsbewirtschaftung —, nicht aber eine Abschottung der nationalen Wirtschaft von Prozessen der globalen Ökonomie. Aufgrund der meist geringen Effizienz des importsubstituierenden Industriesektors blieben die Länder Lateinamerikas weiterhin auf die traditionellen Exportsektoren angewiesen. Darüber hinaus war am Aufbau der binnenmarktorientierten Industriesektoren auch das Auslandskapital beteiligt, das sich dadurch geschützte Märkte verschaffen konnte.27 26 27

Dazu Halperin Donghi (1991), Bulmer-Thomas (1994), Tobler und Bernecker (1996). Bornschier und Chase-Dunn (1985).

1.4 Der zeitliche und räumliche

Rahmen

43

Die dritte Phase setzte mit dem Scheitern des binnenmarktorientierten Entwicklungsweges in den 1970er Jahren ein und war durch eine verstärkte weltwirtschaftliche Integration gekennzeichnet. Dies betraf zunächst, bedingt durch den Preisboom der 1970er Jahre, den traditionellen Rohwarenhandel und die Auslandsverschuldung. Nach der Schuldenkrise von 1982 beeinflussten internationale Finanzorganisationen sowie die staatlichen und privaten Großgläubiger im Rahmen von Schuldenregelungen und Strukturanpassungsprogrammen die nationale Wirtschaftspolitik der lateinamerikanischen Länder. Mit der verstärkten Reorientierung auf ein exportgeleitetes Entwicklungsmodell kam es neben Primärgüterexporten auch zum Aufbau eines industriellen Exportsektors, vor allem für Halbfabrikate.

1.4 Der zeitliche und räumliche Rahmen der Untersuchung Die vorliegende Studie setzt sich zwei zeitliche Schwerpunkte: Erstens will sie die kurz- und mittelfristigen Entwicklungen der letzten 15-20 Jahre vertieft behandeln, die die oben erwähnte letzte Phase der weltwirtschaftlichen Integration Lateinamerikas betreffen. Diesbezüglich interessieren besonders die Demokratisierung und die Strukturanpassung. Dabei werden auch die jüngsten Entwicklungen (bis 1997) so weit wie möglich mit einbezogen. Die gegenwärtige Situation und die Veränderungen der letzten Jahre sind jedoch in langfristige historische Prozesse der Staatsentwicklung eingebettet. Der zweite zeitliche Schwerpunkt liegt deshalb auf den generellen Prozessen des politischen Wandels seit der Jahrhundertwende. Darin sind auch die oben genannte erste und zweite Phase der weltwirtschaftlichen Integration Lateinamerikas eingeschlossen, in deren Verlauf die heute bedeutsamen politischen Akteure, Machtfaktoren und Institutionen entstanden sind. Diese längerfristige Perspektive zeigt sich vor allem in den Analysen zum Wandel politischer Regimes, da das Regimekonzept für diesen Zweck besonders geeignet ist. Aber auch in den beiden ausführlichen Länderfallstudien zur Strukturanpassungspolitik in Mexiko und Costa Rica werden solche langfristigen Prozesse berücksichtigt. Der räumliche Rahmen der Studie umfasst — mit Ausnahme der Kleinststaaten — grundsätzlich alle politisch unabhängigen Länder Lateinamerikas und der Karibik. Der Begriff "Lateinamerika" bezieht sich im Rahmen dieser

44

1. Einleitung und Problemstellung

Studie auch auf die englischsprachigen Staaten der Karibik wie Jamaika und Trinidad und Tobago. Das Größekriterium für den Ausschluss der Kleinststaaten ist eine Bevölkerungszahl von weniger als 1 Mio. Einwohner im Jahre 1990. Dies bedeutet, dass die Stichprobe für die länder- und regimevergleichenden Analysen maximal 22 Staaten umfasst.28 Dabei werden Prozesse sowohl auf der regionalen Ebene des gesamten Subkontinentes als auch auf dem nationalen Niveau einzelner Länder oder Regimes untersucht. Darüber hinaus wird, wie erwähnt, die globale Ebene der Weltwirtschaft im Sinne externer Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen von nationaler Politik mit einbezogen.

1.5 Methodisches Vorgehen und Datenbasis Die oben genannten Fragen werden mit unterschiedlichen Methoden und unter Einbezug verschiedener Datenquellen untersucht. In methodischer Hinsicht wird grundsätzlich mit vergleichenden Verfahren gearbeitet.29 Raum und Zeit sind die grundlegenden Achsen der vergleichenden Analyse. Dies setzt Querschnittvergleiche zwischen Ländern und Längsschnitt- bzw. Zeitvergleiche zwischen und innerhalb von Ländern voraus. Im einzelnen werden drei verschiedene methodische Vorgehensweisen angewendet: Eine erste Perspektive der vergleichenden Analyse beinhaltet die Bildung idealtypischer Konstrukte und deren Konfrontation mit der Realität. Im Verständnis Max Webers sind Idealtypen einseitige Akzentuierungen bzw. Steigerungen einzelner Gesichtspunkte.30 Idealtypen kommen in ihrer Reinheit nicht in der Wirklichkeit vor, vielmehr stellen sie Bezugspunkte für den Vergleich mit der Wirklichkeit her. In der vorliegenden Arbeit liegt diese Vorgehensweise u.a. der Konstruktion unterschiedlicher Typen politischer Regimes

28

29

30

Im Einzelnen handelt es sich um folgende Länder. Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Haiti, Honduras, Jamaika, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Trinidad und Tobago, Uruguay und Venezuela. Zur Methodik der vergleichenden Analyse vgl. Przeworski und Teune (1970), Przeworski (1987), Kohn (1989), Ragin (1991), Berg-Schlosser und Müller Rommel (1997). Weber (1972:10,1985:191ff.).

1.5 Methodisches Vorgehen und Datenbasis

45

(Kapitel 4), Typen politischer Parteien (Kapitel 3) oder Verlaufsformen der Demokratisierung zugrunde (Kapitel 5). Eine zweite Vorgehensweise sind quantifizierende vergleichende Analysen, wobei die Suche nach möglichen Generalisierungen im Vordergrund steht. Typischerweise handelt es sich hier um ein variablenorientiertes Vorgehen mit einer Vielzahl von Fällen unterschiedlicher Ausprägung. Dabei wird versucht, Unterschiede in bestimmten Aspekten mit Unterschieden in anderen Aspekten in Zusammenhang zu bringen. In der vorliegenden Arbeit basieren die länder- und regimevergleichende Analysen (Kapitel 4 und 5) auf dieser Vorgehensweise. Eine dritte Vorgehensweise der vergleichenden Analyse sind Einzelfallvergleiche. Typischerweise handelt es sich bei dieser fallorientierten Perspektive um Paarvergleiche. Dabei sollten die Kontexte der verglichenen Fälle möglichst identisch sein mit Ausnahme der durch die Fragestellung bestimmten Aspekte. Der Vergleich der Anpassungspolitik zwischen Mexiko und Costa Rica (Kapitel 6) folgt dieser Perspektive. Das fallspezifische Vorgehen ermöglicht darüber hinaus, Ursachenstrukturen vertieft zu untersuchen, die mit der oben beschriebenen generalisierenden Perspektive nicht oder nur unvollständig zu erfassen sind. Als Datenbasis für die empirischen Analysen wurden unterschiedliche Datenquellen benutzt, wobei neben sekundärstatistischen Quellen auch eigene Datenerhebungen durchgeführt wurden. Die verschiedenen Datenbestände können in drei Gruppen gegliedert werden: 1) Regimespezifische Datenbestände (vgl. Kapitel 4): Einheiten dieser Datenbestände sind politische Regimes bzw. Regimeepisoden. Die Datenbestände umfassen zusätzlich zu den Regimekodierungen regimespezifische Angaben zu politischen und sozioökonomischen Strukturen sowie zu weltwirtschaftlichen Verflechtungsformen. Neben einem Datensatz, der im Zeitraum 1900-1990 Angaben zu 108 Regimeepisoden der elf größten Länder Lateinamerikas enthält (alle Regimetypen), wurde ein ausschließlich auf populistische Regimes bezogener Datensatz mit über 70 Regimeepisoden zusammengestellt, der nicht nur die größeren, sondern auch die kleineren Länder einbezieht. 2) Länderspezifische Datenbestände (vgl. Kapitel 5): Diese Datenbestände sind auf der Ebene von Ländern und Jahren organisiert. Die Indikatoren sind auf jährlicher Basis für die 22 berücksichtigten Länder Lateinamerikas erhoben und umfassen den Zeitraum 1974-1995. Kernstück

46

1. Einleitung und Problemstellung

dieses Datensatzes sind 17 Indikatoren für Demokratie. Neben Angaben zur Wahlpartizipation und dem Ausmaß des Parteienwettbewerbes enthält dieser Datensatz eigene Erhebungen zur Situation der Menschenrechte. Sieben Indikatoren messen auf jährlicher Basis das Vorkommen schwerer Menschenrechtsverletzungen — Folter, extralegale Hinrichtung, Verschwindenlassen, Haft ohne Anklage — und enthalten Angaben zu den involvierten Akteuren, den Tätern und Opfern der politischen Verfolgung. Neben diesen politischen Daten wurden auf sekundärstatistischer Basis Angaben zu relevanten binnen- und außenwirtschaftlichen Größen erhoben. 3) Fallspezifische Datenbestände (für vertiefte Länderfallstudien, vgl. Kapitel 6): Auf der Ebene der einzelnen Fallstudien wurden fallspezifische Datenbestände und Zeitreihen zu politischen, sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren mit einem Schwerpunkt auf den Zeitraum 1970-1997 erhoben. Diese Datenbestände, die auch unpublizierte Akten einschließen, wurden im Rahmen von Feldaufenthalten zusammengestellt und dienen hauptsächlich der Analyse von Strukturanpassungs- und Reformpolitiken in Mexiko und Costa Rica.

1.6 Gliederung und Aufbau Der weitere Aufbau dieser Studie orientiert sich am oben beschriebenen Strukturmodell des nationalen politischen Systems. Die Diskussion beginnt mit den konzeptionell ausgerichteten Teilen (Kapitel 2 und 3 zu den Herrschaftstechniken und den Institutionen der Interessenartikulation), fuhrt über die allgemeine, generelle Dynamik (Kapitel 4 zu politischen Regimes) zu den aktuelleren Transformationsprozessen (Kapitel 5 zu Demokratisierung und Kapitel 6 zu Strukturanpassung). Kapitel 2 befasst sich mit den verschiedenen Formen und Techniken politischer Herrschaft, die im politischen System lateinamerikanischer Gesellschaften von Bedeutung sind, insbesondere Klientelismus, Korporatismus, Populismus, politische Religion und Gewalt. Sodann setzt sich Kapitel 3 mit den grundlegenden Institutionen der Interessenartikulation — Parteien, Verbänden und sozialen Bewegungen — auseinander. Kapitel 4 thematisiert Struktur und Wandel politischer Regimes. Zunächst werden Konzept und Typologie beschrieben und die strukturellen Eigenschaften von verschiede-

1.6 Gliederung

undAußau

47

nen Regimetypen auf der Basis ausgewählter Kurzbeispiele illustriert. Danach wird der Regimewandel anhand einer detaillierten Regimefallstudie (Peru unter Velasco) sowie anhand quantifizierender Regimevergleiche aufgezeigt. Ausgehend von einem mehrdimensionalen, empirisch einlösbaren Demokratiekonzept wird in Kapitel 5 eine detaillierte empirisch-quantitative Analyse verschiedener Demokratie- und Menschenrechtsindikatoren präsentiert. Neben der Frage der Dimensionen von Demokratie werden die Bestimmungsfaktoren von Demokratie und die Wachstumsrelevanz demokratischer Strukturen untersucht. Kapitel 6 befasst sich im Rahmen von zwei ausgewählten Länderfallstudien zu Mexiko und Costa Rica mit dem Zuammenhang zwischen Staatsaktivitäten und weltwirtschaftlicher Verflechtung. Dabei werden die kontrastreichen und unterschiedlich erfolgreichen Bewältigungsstrategien, die diese zwei Länder zur Überwindung der tiefen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise der 1980er Jahre verfolgt haben, miteinander verglichen. Das abschließende Kapitel 7 trägt die wichtigsten Ergebnisse und Folgerungen zusammen und schließt mit einigen Überlegungen zu den künftigen Entwicklungsverläufen der drei in dieser Studie behandelten Transformationsprozesse.

2 Herrschaftstechniken "Um zu verhindern, dass die Massen (...) übermäßige Ansprüche stellen, müssen sie zuerst organisiert werden, so dass sie in der Obhut von verantwortlichen und korrekt geführten Organisationen davon abgebracht werden können, für die Ungerechtigkeit Partei zu ergreifen (...)." Juan Domingo Perón, argentinischer Staatspräsident 1946-1955,1973-1974. 1

2.1 Überblick Dieses Kapitel stellt die verschiedenen Herrschaftstechniken dar, die in den politischen Systemen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert von Bedeutung waren: Klientelismus, Korporatismus, Populismus, politische Religion sowie staatliche Gewalt. Abschnitt 2.2 enthält eine Beschreibung klientelistischer Herrschaftstechniken. Dabei wird zwischen traditionellem Klientelismus, bürokratischem Klientelismus, Massenklientelismus und internationalen Klientelismusstrukturen unterschieden. Klientelismus ist eine informelle, weitgehend personalistisch gestaltete Form der Herrschaftsbeziehung. Im Gegensatz dazu bezieht sich der Begriff des Korporatismus, der in Abschnitt 2.3 erläutert wird, auf eine institutionell abgestützte Herrschaftsform. Populistische Herrschaftstechniken, die auf charismatischen Führerfiguren, der Anrufung an das Volk und der Artikulation eines Eliteantagonismus beruhen, werden in Abschitt 2.4 dargestellt. Abschnitt 2.5 beschreibt das von Apter entlehnte Konzept der politischen Religion, d.h. die Verwendung von religiösen Elementen zum Zwecke des Aufbaus politischer Herrschaft. 2 Der letzte Abschnitt 2.6 befasst sich mit staatlichem Gewalthandeln und Repression. Diese Form politischer Herrschaft wird auf der empirischen Ebene durch den Einbezug der politischen Menschenrechte berücksichtigt.

1 2

Perón zit. in Fayt (1967:111). Vgl. Apter (1965).

50

2.2

2. Herrschaftstechniken

Klientelismus

Der Begriff des Klientelismus oder der Patronage entstammt ursprünglich der anthropologischen Forschung und findet sich insbesondere in Arbeiten, die sich mit der Analyse lokaler, bäuerlicher Gesellschaften befassen. In den letzten zwei Jahrzehnten fand der Klientelismusbegriff auch Eingang in soziologische und politikwissenschafUiche Studien. In diesen neueren Arbeiten wird das Konzept des Klientelismus zur Analyse moderner politischer Parteien und Bürokratien verwendet. Damit hat sich zugleich der Schwerpunkt von der Beschäftigung mit lokalen, bäuerlichen Gesellschaften zur Analyse nationaler Politiksysteme verlagert.3 Klientelismus wird gewöhnlich als Austauschbeziehung zwischen sozial ungleich gestellten Akteuren verstanden. Scott definiert Klientelismus als Spezialfall einer dyadischen Bindung zwischen zwei Personen, die eine weitgehend instrumenteile Freundschaft beinhaltet und innerhalb derer ein Individuum mit höherem sozio-ökonomischem Status (Patron) seinen Einfluss und seine Ressourcen benutzt, um einer Person mit niedrigerem Status (Klient) Schutz und/oder Begünstigungen zu gewähren, die ihrerseits als Gegenleistung dem Patron allgemeine Unterstützung und persönliche Dienste anbietet.4 Der Begriff des Klientelismus bezieht sich demnach auf informelle Machtund Herrschaftsstrukturen. Er beschreibt ein Beziehungs- und Austauschmuster zwischen zwei Personen oder zwei Gruppen, die eine ungleiche soziale Stellung einnehmen. Die sozial höher gestellte Person wird als Patron, die sozial niedriger gestellte Person als Klient bezeichnet. Der Patron gibt seinem Klienten Schutz, materielle Vorteile oder Zugang zu Institutionen des Machtzentrums, während der Klient dem Patron Loyalität, Gefolgschaft, Treue und Dienste anbietet. Die soziale und wirtschaftliche Basis des Patrons bildet typischerweise der Großgrundbesitz sowie die Kontrolle politischer und administrativer Ämter. Ein wichtiges Merkmal der Beziehung zwischen Patron und Klient ist die Ungleichheit. Allerdings ist die Beziehung nicht nur durch

3

4

Für einen Überblick zur Klientelismusforschung vgl. Kaufiman (1974), Eisenstadt und Lemarchand (1981), Schmidt et al. (1977), Clapham (1982), Weber Pazmino (1991). Wichtige Fallstudien zu Lateinamerika sind die Arbeiten von Dietz (1977), Grindle (1977), Nunes Leal (1977), Diaz Uribe (1986), Roninger (1987), Edie (1991), Fox (1994) und Martz (1997). Scott (1972).

51

2.2 Klientelismus

Zwang gekennzeichnet wie etwa bei der Sklaverei, sondern beruht insofern auf Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit, als beide Seiten am Tauschhandel, bzw. am Gut des Tauschpartners interessiert sind. Ein weiteres Charakteristikum des Klientelismusbegriffs besteht darin, dass die klientelistische Bindung personalistisch ist, d.h. der Tausch grundsätzlich zwischen zwei Individuen stattfindet. Im Folgenden werden vier Unterformen von Klientelismus unterschieden, deren wichtigste Charakteristika in Tabelle 2.1 zusammengefasst sind. Tabelle 2.1: Klientelismusformen und ihre strukturellen Charakteristika Traditioneller Klientelismus

Bürokratischer Klientelismus

MassenKlientelismus

Internationaler Klientelismus

Art der Beziehung

personalistisch

personalistisch

unpersönlich, zu sozialen Gruppen

unpersönlich, zwischen Staaten

Geltungsbereich, Interaktionsfelder

lokale Machtverhältnisse, v.a. ländliche

organisationelle Hierarchien, pol it. Institutionen (Parteien, Bürokratien, Gewerkschaften)

soziale Gruppen und Schichten (städt Arme, Staatsangestellte) und Staatsmacht

zwischenstaatliche Beziehungen

Ressourcen des Patrons

Grundbesitz, Schutz, administrative Kontakte

Zugang zu öffentlichen Ressourcen

Zugang zu öffentl. Ressourcen, Gesetzesbestimmungen

Zugang zu int Militär- und Wirtschaftshilfe, Schutz

Ressourcen des Klienten

ökonomische Dienste, Loyalität

Loyalität, Unterstützung

WahlunterstUtzung (nationale Wahlen)

Gefolgschaft, Wahlunterstützung in int. Gremien

Sozialstruktur

rigide, hierarchisch, dyadische Bez., häufig in Form von familiären Bindungen stabilisiert

triad. PatronBroker-Klient Bez. bzw. Ketten dyad. PatronKlient Bez., häufig expansiv und instabil

schwach institutionalisiert, besonders bei hoher Wahlkonkurrenz nur begrenzte Loyalität durch Klienten

schwach institutionalisiert

52

2.

Herrschaftstechniken

Traditioneller Klientelismus: Ein erster Typ, der zumeist als traditioneller, agrarischer Klientelismus bezeichnet wird, findet sich in einfachen bäuerlichen Gesellschaften. Die klientelistische Struktur ist hier durch eine dyadische Beziehung zwischen lokalen Notabein 5 und kleinbäuerlichen Klienten gekennzeichnet. Als Gegenleistung für die Schutzfunktion des Patrons, auch im Sinne der Gewährleistung sozialer Sicherheit, leisten die Klienten v.a. wirtschaftliche Dienste. Finanziell basiert die Stellung des Patrons auf seinem individuellen, ökonomischen und sozialen Status als Großgrundbesitzer. Die lokale Gewalt wird in weitgehender Autonomie vom Patron kontrolliert. Die nationale Zentralmacht ist fern und gar nicht oder nur schwach präsent. Der Zugang zum nationalen Zentrum wird durch den Patron vermittelt. Die klientelistische Beziehung ist auch ideologisch stark verankert im Sinne einer moralischen Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfeleistung. Sie ist häufig symbolisiert in der quasi-familiären Bindung der Patenschaft zwischen Patron und Klient. Dieser traditionelle, agrarische Klientelismus steht im Zentrum der frühen anthropologischen Arbeiten. Bürokratischer Klientelismus: Der zweite Klientelismustyp wird als moderner, kollektiver Klientelismus, häufig auch als Parteipatronage, bürokratischer Klientelismus oder Klientelismus der Organisationen bezeichnet. Er bezieht sich auf die klientelistische Organisation politischer Institutionen — v.a. Parteien, Bürokratien, Gewerkschaften — innerhalb des modernen Nationalstaates. Klientelismus ist hier ein Mittel, um sich Loyalitäten innerhalb der Bürokratie von Institutionen zu verschaffen, etwa durch konkurrierende Eliten. Gleichzeitig werden über diese Institutionen breite Teile der Bevölkerung mittels eines staatlichen Verteilungssystems von Gütern, Begünstigungen, Arbeitsplätzen an die nationale Regierung angebunden. Dabei überlagert dieser bürokratische häufig den traditionellen, agrarischen Klientelismus, indem die vormals weitgehend unabhängigen lokalen Patrons selbst einem nationalen Machtzentrum verpflichtet werden. Der Patron wird nun zum Vermittler oder "Broker" zwischen den lokalen Klienten und der nationalen Zentralmacht. Im Gegensatz zum dyadischen Beziehungsmuster des traditionellen Klientelismus ist der moderne Klientelismus durch eine triadische Beziehung (Patron-Broker-Klient) gekennzeichnet. Manche Autoren sprechen auch von einer Kette hierarchisch organisierter Patron-Klient-Dya-

Im spanischsprachigen Lateinamerika häufig caciques, in Brasilien coroneles genannt, in der Regel die jeweiligen Großgrundbesitzer der Region.

2.2

Klientelismus

53

den, v.a. innerhalb großer Institutionen wie Parteien und nationalen Bürokratien. Dabei nimmt dasselbe Individum in der einen Beziehung die Rolle des Patrons und in der anderen diejenige des Klienten ein. Bei solchen klientelistischen Ketten finden die Beziehung und der Austausch immer nur innerhalb der Dyaden, d.h. zwischen benachbarten Positionen innerhalb der Hierarchie statt. Die finanzielle Basis der Patronage bildet nicht mehr der individuelle, soziale Status des Patrons sondern seine Zugehörigkeit zur Organisation oder seine Position in ihr. Im Unterschied zum traditionellen Klientelismus sind die sozialen Schranken zwischen Patron und Klient beim bürokratischen Klientelismus weniger stark ausgeprägt. Sie sind für den Einzelnen überwindbar, auch wenn dies in der Realität nur wenigen gelingt. In Parteien und Bürokratien stellen klientelistische Strukturen zugleich Mobilitätssysteme dar, innerhalb derer ein sozialer Aufstieg möglich ist. So kann der Klient u.U. selbst einmal die Position des Patrons einnehmen. Eine besonders effiziente Aufstiegsstrategie bildet hier die Heirat des Klienten mit der Tochter des Patrons. Massenklientelismus: Eine dritte Form des Klientelismus wird in der Literatur häufig unter Parteipatronage und bürokratischem Klientelismus behandelt. Sie stellt die nichtinstitutionalisierte Anbindung von ganzen Bevölkerungsgruppen durch den Staat außerhalb moderner Organisationen wie Bürokratien und Parteien und außerhalb traditioneller, lokaler Patronage dar. Im Unterschied zu den oben diskutierten Klientelismusformen ist die Bindung zwischen Patron und Klient entpersonalisiert. Es werden nicht mehr einzelne Individuen, sondern ganze Gruppen und Schichten als Klientel eingebunden. Der klientelistische Tausch erfolgt nicht mehr direkt zwischen Patron und Klientel, sondern indirekt z.B. in Form von Entwicklungsprojekten, Gesetzesbestimmungen etc. Da die klientelistische Bindung nicht mehr personalistisch verankert ist, bleiben solche klientelistischen Strukturen sehr instabil. Wichtigste Ressource des Klienten ist Loyalität und politische Gefolgschaft. Eine entscheidende Rahmenbedingung bildet dabei die im Gefolge sozialer Mobilisierungsprozesse erkämpfte politische Partizipation, insbesondere das allgemeine Stimm- und Wahlrecht. Der Klient drückt seine Loyalität und Zustimmung in Form seiner Stimmabgabe für die politische Partei des Patrons aus. Internationale Klientelismusstrukturen: Neben den oben beschriebenen lokalen, organisationellen und nationalen Klientelismusformen finden sich klientelistische Strukturen auch auf internationaler Ebene, im Verhältnis zwi-

54

2. Herrschaftstechniken

sehen unterschiedlich mächtigen Staaten. Besonders ausgeprägt waren diese internationalen Klientelismusstrukturen zur Zeit des Kalten Krieges bzw. der Systemkonkurrenz zwischen den Großmächten. Die USA und die Sowjetunion gewährten in der Rolle eines internationalen Patrons ihren Klienten militärischen Schutz und wirtschaftliche Hilfe als Gegenleistung für außenpolitische Gefolgschaft. Internationaler Klientelismus spielt auch beim Abstimmungsverhalten in internationalen Gremien, insbesondere bei den Vereinten Nationen, eine wichtige Rolle. Für ihre Loyalität gegenüber den Großmächten bei kritischen Abstimmungen erhalten die Klienten finanzielle Begünstigungen, z.B. Zugang zu Entwicklungshilfekrediten. Aufgrund dieser Überlegungen lassen sich die Bedingungen für die Herausbildung klientelistischer Strukturen auf lokaler, organisationeller, nationaler und internationaler Ebene folgendermaßen umschreiben: 1) Zunächst muss vom Patron wie vom Klienten ein Interesse an einer Austauschbeziehung bestehen. So muss beispielsweise der Patron Interesse an Loyalität haben und der Klient Interesse an Begünstigungen und Zugangskanälen zum Zentrum. 2) Klientelistische Strukturen basieren auf sozialer Ungleichheit. Die wichtigsten Ressourcen und Machtmittel sind nicht allgemein zugänglich, sondern werden von einer Elite kontrolliert. Der Zugang zu Begünstigungen ist nicht nach allgemeingültigen, universalistischen Kriterien, sondern partikularistisch geregelt. 3) Im politischen System gibt es Elemente politischer (Massen-)Partizipation, z.B. als Folge sozialer Mobilisierungsprozesse. Dies gibt dem Klienten seine wichtigste Ressource, das Stimm- und Wahlrecht, in die Hand. 4) Die sozialen und politischen Interessen organisieren sich nicht entlang von Klassenstrukturen oder Interessengruppen; es existiert keine Solidarität unter den Angehörigen einer Klasse. Klientelistische Strukturen können auch zerfallen. Dies ist dann der Fall, wenn eine der beiden Parteien keinen Nutzen mehr im Austausch sieht, etwa wenn der Zugang zu Land, bzw. zum wirtschaftlichen und politischen Machtzentrum universalistisch wird und der Patron seine frühere Monopolstellung verloren hat. Weiter kommt es zu einer Desintegration klientelistischer Strukturen, wenn der Patron nicht mehr in der Lage ist, seine Schutzfunktionen wahrzunehmen oder nicht mehr bereit ist, dem Klienten Begünstigungen zu verschaffen. Umgekehrt lösen sich klientelistische Formen ebenso auf, wenn der Patron die Dienste oder die Loyalität der Klienten nicht mehr benötigt, beispielsweise als Folge von Einschränkungen der politischen Partizipationsrechte.

2.3 Korporatismus

55

2.3 Korporatismus Der Begriff des Korporatismus wurde früher häufig zur Bezeichnung der Herrschaftstechnik faschistischer Systeme (Mussolini, Franco) benützt. Seit den frühen 1970er Jahren wird der Begriff—oft unter der Variante des Neokorporatismus — aber auch zur Beschreibung von modernen Gesellschaften und ihrer politischen Systeme verwendet. Besonders zu Lateinamerika sind zahlreiche Studien, die diesen Ansatz verwenden, durchgeführt worden. 6 Nach der Definition von Stepan bezieht sich Korporatismus auf ein bestimmtes Muster von Politiken und institutionellen Arrangements, die die Repräsentation von Interessen gestalten.7 Wo korporatistische Strukturen vorherrschen, garantiert oder gründet der Staat selbst Interessenorganisationen, versucht ihre Anzahl zu regulieren und verleiht ihnen die Erscheinung eines quasi-repräsentativen Monopols mit speziellen Prärogativen. Im Gegenzug beansprucht der Staat das Recht, die Interessengruppen zu überwachen, um die autonome Artikulation von klassenbasierten, konfliktiven Ansprüchen zu verhindern. Schmitter unterscheidet zwischen "sozietalem" und "staatlichem" Korporatismus.8 Während sich staatlicher Korporatismus weitgehend wie oben definieren lässt, bezeichnet der sozietale Korporatismus eine Struktur, in der die Monopole oder Oligopole der Interessenrepräsentation nicht durch staatliche Interventionen entstanden sind, sondern vielmehr von außen in den Staat penetrieren und ihn kontrollieren. Sozietaler Korporatismus findet sich häufig in hochentwickelten Ländern — beispielsweise das Vernehmlassungsverfahren im Schweizerischen Gesetzgebungsprozess — er ist dagegen in Lateinamerika relativ selten.9 Im Rahmen dieser Studie wird deshalb unter Koiporatismus ausschließlich staatlicher Korporatismus verstanden. 6

7 8 9

Vgl. Schmitter (1974) als wegweisende konzeptuelle Arbeit sowie die Studien in Malloy (1977), Schmitter und Lehmbruch (1979) und Stepan (1978). Stepan (1978: 46). Schmitter (1974). Wichtige Ausnahmen sind Kolumbien und Chile (ca. 1940-1973, sowie seit dem Sturz Pinochets). Im Rahmen der neueren Konzertierungsdebatte wird für Lateinamerika verschiedentlich ein Regelungssystem nach dem Vorbild des europäischen Neokorporatismus gefordert (vgl. etwa Grewe und Mols 1994). Zur europäischen Korporatismus- bzw. Neokorporatismusdebatte vgl. Kriesi (1983), Lijphart und Crepaz (1991) und Nollert (1992).

56

2. Herrschaftstechniken

Korporatismus basiert auf einer Ideologie des organischen Staats, die auf antike und kirchliche Denkmuster zurückgeht und die zu liberalen und marxistischen Denkweisen im Widerspruch steht. Stepan sieht den Begriff des Korporatismus in Opposition zu früheren politikwissenschaftlichen Ansätzen, die bei der Analyse von Interessenartikulation und -aggregation den selbstständigen Einfluss des Staats vernachlässigen. Stark gestützt auf die Literatur zu Populismus und bürokratischen Autoritarismus unterscheidet Stepan zwischen "einschließendem" und "ausschließendem" Korporatismus. Im ersten Fall wird versucht, bestehende autonome Interessenorganisationen auf kooptative Weise einzubinden. Dabei werden primär verteilungsorientierte, wohlfahrtsfördernde Strategien verwendet. Beispiele sind Mexiko unter Cárdenas (1934-1940) oder Argentinien unter Perón (v.a. 1946-1955). Im Fall des ausschließenden Korporatismus wird versucht, autonome Interessenorganisationen zu zerstören und allenfalls neue, durch den Staat zwangsweise kontrollierte Assoziationen zu ersetzen. Repression spielt bei diesen Versuchen eine große Rolle (Brasilien 19641985). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist insbesondere der Typ des einschließenden Korporatismus von Bedeutung. Im Unterschied zum Klientelismus handelt es sich beim Korporatismus um eine vergleichsweise stark institutionalisierte Form politischer Herrschaft. Der erfolgreiche Aufbau korporatistischer Herrschaftsstrukturen setzt in der Regel eine vorgängige Mobilisierung von Massenpotentialen voraus, was um so einfacher ist, je weniger stark autonome Interessengruppen artikuliert sind. Die Kooptation von Massenpotentialen gelingt um so besser, je weniger soziale Reformen bereits durchgeführt worden sind. Mit der Inkorporierung erfolgt eine Eingliederung bzw. Anbindung der mobilisierten Gruppen an die korporatistischen Institutionen (Partei, Gewerkschaften). Dies ist die Voraussetzung für die Kontrolle der Massenpotentiale bildet (vgl. das einleitende Zitat von Perón).

2.4

Populismus

In der einschlägigen Fachliteratur wird unter dem Populismuskonzept eine verwirrende Vielfalt oft gegensätzlich erscheinender Phänomene behandelt. So werden populistische Bewegungen als autoritär oder basisdemokratisch,

2.4

Populismus

57

politisch rechts- oder linksstehend beschrieben. Innerhalb der Populismusliteratur, bestehen drei verschiedene Stränge oder Diskussionszirkel, die aber nur lose miteinander verbunden sind: 10 1) Die Diskussion um den historischen Populismus, v.a. in den USA, in Russland und Osteuropa; 11 2) die Diskussion um den autoritären (Rechts-)Populismus der 1980er Jahre in den westlichen Gesellschaften; 3) die Populismusdiskussion, die sich auf die Gesellschaften Lateinamerikas, Asiens und Afrikas bezieht. 12 Auffallend ist eine gewisse Ungleichzeitigkeit zwischen diesen drei Strängen. Während der Rechtspopulismus der westlichen Gesellschaften in den 1980er und 1990er Jahren wieder vermehrt diskutiert wurde, hatte die Populismusdiskussion in Lateinamerika ihre Blütezeit in den 1960er Jahren. Zahlreiche Autoren sind der Ansicht, dass der Populismus nach den 1960er Jahren in Lateinamerika keine Bedeutung mehr habe. Diese These vom Ende des Populismus in der Peripherie widerspricht allerdings dem Wiederaufleben populistischer Strömungen in den vergangenen Jahren. 13 Innerhalb der entwicklungssoziologischen Literatur wurde das Populismuskonzept insbesondere in Lateinamerika aufgegriffen. 14 In einer wichtigen Arbeit definierte der argentinische Soziologe Torcuato di Telia Mitte der 1960er Jahre Populismus als "eine von der Mittelschicht gestützte politische Bewegung mit einer Anti-status-quoIdeologie, die die Massenunterstützung der städtischen Arbeiterklasse und/oder der Bauernschaft genießt, wobei die Bewegung nicht als Folge einer autonomen Organisation von Arbeiter- und Bauernschaft entsteht." 15

Als günstige Entstehungsbedingung für den Populismus betrachtete er eine schwache Mittelschicht, die durch eine schmale Oberschicht dominiert werde.

10 11 12 13 14

15

Vgl. etwa Gellner und Ionescu (1969), Canovan (1981), Dubiel (1986). Dazu u.a. Lipset (1950). Worsley (1967,1969), Moscoso Perea (1989), Hentschke (1998). Beispielsweise Garcfa und Fujimori in Peni, Aristide in Haiti. Zum Stand der theoretischen Diskussion vgl. Moscoso Perea (1989). Unter den zahlreichen Einzel fallstudien zu populistischen Bewegungen, Ideologien, Führern und Regimes in Lateinamerika vgl. besonders Weffort (1973, 1980), Mitchell (1977), Drake (1978), Sharpless (1978), Quintero (1980), Conniff (1981), Grugel (1992); Ansätze zu einer komparativen Perspektive finden sich in van Niekerk (1974), Ianni (1975), Conniff (1982), Dix (1985) sowie in Dornbusch und Edwards (1992). Di Telia (1965: 47).

2. Herrschaftstechniken

58

Sehr ähnlich argumentiert auch der italienisch-argentinische Soziologe Gino Germani. 16 Der Populismus, so Germani, entziehe sich der RechtsLinks Klassifikation. Er bilde eine Bewegung, die mehrere Klassen umfasse. Er verlange Gleichheit der politischen Rechte und die Partizipation des einfachen Volkes, enthalte jedoch gleichzeitig autoritäre Elemente, häufig in Zusammenhang mit einer charismatischen Führung. Der Populismus fordere soziale Gerechtigkeit, verteidige den Kleinbesitz, enthalte eine starke nationalistische Komponente und lehne das Klassenkonzept ab. Mit seiner Verteidigung der Rechte der "kleinen Leute" richte er sich gegen die privilegierten und mächtigen Interessengruppen. Die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung populistischer Bewegungen ist nach Germani die soziale Mobilisierung breiter Bevölkerungsteile, bevor sich eine organisierte Arbeiterklasse formieren konnte, die in der Lage gewesen wäre, die mobilisierten Massen zu absorbieren und ihre politischen Interessen auszudrücken. Als weitere Bedingungsfaktoren nennt Germani auch einen ausgeprägten Antagonismus zwischen der Mittelklasse und der Oberschicht (Aristokratie, Großbürgertum) sowie eine erst schwach ausdifferenzierte Mittelklasse, die sich noch in der Formierungsphase befinde und sich entsprechend auch noch nicht deutlich von der Unterschicht abzugrenzen versuche. Der in der vorliegenden Arbeit verwendete Populismusbegriff basiert auf den folgenden drei Merkmalen oder Kriterien: 1) Anruf an das Volk und Artikulation eines Eliteantagonismus: Sehr allgemein lässt sich zunächst festhalten, dass populistische Bewegungen oder Führer an das "Volk" appellieren. Damit ist auch das im umgangssprachlichen Gebrauch zentrale Element der Volksnähe und Volksverbundenheit angesprochen. Dieses Appellieren ans Volk erfolgt jedoch in einer unspeziflschen Art und Weise, d.h. man wendet sich an das ganze Volk bzw. an die gesamte Nation, insbesondere die "kleinen Leute" und nicht an bestimmte Klassen, Schichten oder Interessenverbände. Mit der Anrufung an das Volk ist gleichzeitig die Artikulation eines Antagonismus zu herrschenden Eliten und Machtgruppen verbunden. 17 Dieser Antagonismus kann sich gegen unterschiedliche Segmente der Elite richten — Wirtschaftselite, koloniale Verwaltung, ausländische Grosskonzerne, Bildungselite, politische Elite, ethnische Elite. Gleichzeitig werden partizipatorische Forderungen artikuliert. 16 17

Germani (1978: 88). Vgl. Laclau (1981).

2.4

Populismus

59

Dies können Forderungen nach politischer Teilnahme sein, beispielsweise nach Stimm- und Wahlrecht, oder Forderungen nach wirtschaftlicher und sozialer Teilhabe wie etwa nach Zugang zu wirtschaftlicher Entwicklung und Wohlstand oder nach nationaler Verfügungsmacht über die natürlichen Rohstoffe. 2) Klassenübergreifender Charakter, bzw. Ideologie: Typischerweise setzt sich das klassenübergreifende Bündnis einer populistischen Allianz aus Mittel- und Unterklassen zusammen, wobei häufig marginale Gruppen aus der traditionellen Elite die Führungsrolle übernehmen. Der Charakter des populistischen Bündnisses variiert dabei je nachdem, welche Gruppen sich an der Allianz beteiligen, beispielsweise ob auch Teile der oberen Mittelschicht oder lediglich der unteren Mittelklasse eingeschlossen sind, ob nur städtische Unterklassen, die städtische Marginalbevölkerung oder auch die Bauernschaft mit einbezogen sind. 3) Charismatische Führerfiguren: Dieses Charakteristikum hängt unmittelbar mit dem klassenübergreifenden Charakter und der losen Organisationsform populistischer Bewegungen zusammen. Gerade weil eine straffe Organisation aufgrund der heterogenen Zusammensetzung der sozialen Basis nicht oder nur sehr schwer realisierbar ist, wird charismatische Führerschaft zu einem wichtigen Integrationsmechanismus.18 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird der Populismusbegriff einerseits als Technik der politischen Herrschaft verstanden, andererseits aber auch zur Charakterisierung von politischen Regimes verwendet, die sich dieser Technik in besonderem Ausmass bedienen. Als Herrschaftstechnik bezieht sich Populismus auf die obigen Kriterien 1) und 3). Ein populistisches Regime muss zusätzlich Kriterium 2) erfüllen. Das Konzept des populistischen Regimes geht auch insofern über den engeren Begriff der populistischen Herrschaftstechnik hinaus, als sich populistische Regimes auch anderer Techniken politischer Herrschaft bedienen können (insbesondere Klientelismus). Aufgrund der sehr vielfältigen mit dem Populismus assoziierten Phänomene haben mehrere Autoren versucht, verschiedene Populismustypen zu bestimmen. 19 Germani unterscheidet beispielsweise zwischen liberalem und nationalem Populismus. 20 Liberaler Populismus liegt vor, wenn die städti18 19 20

Vgl. das in Kapitel 1 erwähnte Konzept der charismatischen Herrschaft bei Max Weber. Vgl. hierzu Di Telia (1965), Germani (1978), Dix (1985). Germani (1978: 96).

60

2.

Herrschaftstechniken

sehen Unterklassen im populistischen Bündnis nur schwach vertreten sind und die in der populistischen Allianz tonangebenden Mittelklassen in erster Linie politische Partizipation fordern. Typisches Beispiel des liberalen Populismus ist Yrigoyen und die radikale Bewegung in Argentinien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die wichtigste Forderung dieser in den frühen 1890er Jahren gegründeten Bewegung bildete das allgemeine Stimm- und Wahlrecht für Männer und die repräsentative Demokratie. Nationaler Populismus entsteht, wenn im populistischen Bündnis der Einfluss der Unter- und Arbeiterklasse stärker wird und nicht nur politische, sondern auch soziale und ökonomische Partizipation gefordert wird. Klassisches Beispiel des nationalen Populismus ist der argentinische Peronismus in den 1940er und 1950er Jahren. Weitere Formen des Populismus sieht Germani, wenn bäuerliche Massen mit eingeschlossen sind — wie etwa bei der mexikanischen Revolution oder beim bolivianischen MNR (Movimiento Nacionalista Revolucionario) —, doch wird dies nicht im Detail ausgeführt. Zahlreiche Autoren haben versucht, den Populismus einer bestimmten Epoche zuzuordnen. So wird die Blütezeit des Populismus in Lateinamerika generell auf die Phase von 1920-1965 datiert, die mitunter auch als "populistische Periode" bezeichnet wird. 21 Zur historischen Einordnung des Populismus formulierte der von der modernisierungstheoretischen Tradition herkommende Germani für die Entwicklung der lateinamerikanischen Gesellschaften ein eigentliches Stadienmodell mit sechs Stufen. 22 Ein ähnliches Periodisierungs- und Klassifizierungsschema präsentiert O'Donnell, der populistische Systeme in Abgrenzung zu den historisch vorgelagerten oligarchischen und den nachfolgenden bürokratisch-autoritären Systemen als eine die Masseninteressen einschließende Struktur versteht. 23 Diese basiert auf einer MultiKlassenallianz der Urbanen und industriellen Schichten, also den Interessen des Industriebürgertums wie auch der städtischen Mittel- und Unterschichten. Auch in der dependenztheoretischen Literatur wird der Populismus häufig als spezielle Entwicklungsphase verstanden. So betrachten Cardoso und Faletto den Populismus als Periode, die durch die Realisierung einer nationalen Entwicklung im Rahmen der Importsubstitution gekennzeichnet war. 24 In die-

21 22 23 24

Conniff (1982: 6). Germani (1978: 98). O'Donnell (1973). Cardoso und Faletto (1976).

2.5 Politische

Religion

61

sem Sinne stehe der Populismus zwischen den älteren auf die Ausfuhr von Rohstoffen ausgerichteten Exportoligarchien des 19. Jahrhunderts und der seit den 1960er Jahren unter Führung multinationaler Konzerne durchgesetzten, abhängigen Industrialisierung des Binnenmarktes. Die These des Populisms als historisch begrenztes Stadium wird durch die empirischen Ergebnisse der vorliegenden Studie jedoch nicht gestützt. 25

2.5 Politische

Religion

Der Begriff der politischen Religion stammt von Apter und bezeichnet allgemein die Verwendung von sonst in religiösen Systemen üblichen Denkmustem in der Politik. 26 Im Verständnis der vorliegenden Arbeit stellt politische Religion ein Mittel dar, Herrschaft ohne staatliche Institutionen zu sichern und mit einer Ideologie Prozesse der Interessenartikulation und -akkumulation zu steuern bzw. zu kontrollieren. Darüber hinaus bietet politische Religion die Möglichkeit, an traditionelle Sinnsysteme anzuknüpfen und sie durch die Einbindung in ein modernistisch und national (also nicht mehr lokal und ethnisch) ausgerichtetes Sinnsystem zu überwinden und aufzulösen. Auf diese Weise kann moderne, nationale Autorität geschaffen werden. Insgesamt erlaubt politische Religion, politische Macht in einem Kontext geringer Institutionalisierung aufzubauen und zu erhalten. Sie stellt deshalb eine wichtige Basis für den Aufbau von Massenparteien als Mobilisierungsmaschinen dar. Folgende Elemente sind zu nennen: Transzendentale Werte: Unabhängigkeit, Entwicklung etc. sind solche Werte. Sie sind häufig transzendental und nicht instrumenteil, da sie als absolute Werte gesetzt werden, zu deren Erreichung keine konkreten Handlungsmuster angeboten werden. Kult: Basis des Kults bildet ein kollektiver rite de passage — die Bildung des Kreises der Eingeweihten in einer symbolischen Neugeburt. Im Bereich der Politik sind verschiedene dramatische Ereignisse zur Kultbildung benützt worden, so besonders der Unabhängigkeitskampf, Revolutionen und Kriege — im Sinne einer identitätsbildenden kollektiven Violenz. In Bolivien führte 25

Ausführlich dazu vgl. Kapitel 4.

26

Apter (1965: 292).

62

2. Herrschaftstechniken

beispielsweise der Chaco-Krieg gegen Paraguay (1932-1935) zur Bildung einer generación del Chaco, die massgeblich am Aufbau des populistischen MNR beteiligt war. Ähnliches lässt sich auch zu den lateinamerikanischen Revolutionen in Mexiko, Kuba und Nicaragua sagen. Im Rahmen der Organisation des Kults kommt dem Priester—und allenfalls Propheten—als Vermittler der transzendentalen Werten eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Im Bereich der Politik ist dies der charismatische Führer einer Massenpartei (=der Kultgemeinde). Heilige Texte: Heilige Texte erhalten ihre Relevanz meist in einer Phase der Konsolidierung einer politischen Religion, in der der Führer möglicherweise bereits nicht mehr präsent ist. Eine neue Führerkaste kann ihre Position mit der Exegese der heiligen Schriften legitimieren. Ein historisches Beispiel für politische Religion ist die 12-tägige Sozialistische Republik Chiles von 1932 und die daraus hervorgegangene sozialistische Partei Chiles während der 1930er Jahre. 27 In der kurzen Zeit ihrer Existenz entfaltete die Sozialistische Republik eine hektische gesetzgeberische Aktiviät und erlangte vor allem bei den nicht-organisierten Unterschichten durch Verteilung von Kleidern, Nähmaschinen und Nahrungsmitteln eine legendäre Popularität. Die zentrale Figur der Junta war Lufitwaffenchef Marmaduke Grove, der bereits 1930 im Rahmen eines Umsturzversuchs in einem rot bemalten Flugzeug über die Anden geflogen war. Im Jahre 1933 schlössen sich verschiedene linke Gruppen zur sozialistischen Partei zusammen. In Erinnerung an die sozialistische Republik wurde der 4. Juni zum Parteifeiertag erhoben. Dank der charismatischen Führung von Grove und einer politischen Religion konnte trotz vager Programmatik und heterogener Parteimitgliedschaft eine beträchtliche Massenmobilisierung erreicht werden. Grove wurde von seinen Anhängern nicht selten mit Christus oder Moses verglichen: Er habe das Unglück der Armen auf seine Schultern genommen und seinen hohen Stand geopfert, um den Massen zu dienen. Er selbst beschrieb den Sozialismus seiner Partei folgendermaßen: "Mehr als ein Programm, besteht es ganz aus Glauben; ganz aus einem Konzept, aus einer politischen, ökonomischen und sozialen Religion, die es zu verwirklichen gilt" 28

Dieses Beispiel verdeutlicht wesentliche Elemente von politischer Religion: Ein identitätsbildendes dramatisches Ereignis (die Sozialistische Republik), 27 28

Vgl. Drake (1978, Kap. 3,5,6). Grove zit. in Drake (1978:150).

2.6 Staatliche Gewalt und Repression

63

ein als Hohepriester verehrter Führer, der die Sorgen der Gefolgschaft auf sich nimmt und einer Lösung entgegenführt (Grove in der Rolle von Christus) und schließlich eine Kultorganisation (die sozialistische Partei).

2.6 Staatliche Gewalt und Repression Die Thematik der staatlichen und parastaatlichen Gewalt wurde in der Lateinamerikaforschung vergleichsweise spät aufgegriffen. Dies ist insofern erstaunlich, als staatliches Gewalthandeln und gesellschaftliche Violenz die Geschichte Lateinamerikas im 20. Jahrhundert mitgeprägt haben. Davon zeugen nicht nur die zahlreichen Guerillaepisoden und Bürgerkriege, sondern auch verschiedene Massaker durch staatliche Sicherhheitskräfte an Gewerkschaftsmitgliedern, politischen Aktivisten, indígenas und ethnischen Minderheiten.29 Ausgangspunkt der meisten neueren Untersuchungen sind die groben Menschenrechtsverletzungen, die durch die autoritären Militärregierungen während der 1970er und 1980er Jahre verübt worden waren. Entsprechend nimmt im Rahmen der Autoritarismusforschung staatliche Gewalt als Mittel zur Herstellung bzw. zur Aufrechterhaltung politischer Herrschaft eine wichtige Rolle ein. Die politische, auf die innere Sicherheit ausgerichtete Rolle des Militärs, von der Autoritarismusforschung30 als "neuer Professionalismus" bezeichnet, entstand auch vor dem Hintergrund der gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Guerillabewegungen und regulärer Armee. Gewalthandeln im Sinne einer bewaffneten Auseinandersetzung ist also nicht nur eine bevorzugte Herrschaftstechnik autoritärer Regierungen, sondern auch eine Gegenstrategie von aufständischen Gruppen, revolutionären Bewegungen und Gegeneliten. Staatliches Gewalthandeln ist nicht auf Militärregierungen beschränkt, auch wenn sich diese in besonderem Maße dieser Herrschaftstechnik bedienen. Umgekehrt ist Hannah Arendt31 beizupflichten, dass sich politische Herrschaft auch in autoritären Regimes nie ausschließlich auf Gewaltinstru-

29 30 31

Vgl. Tobler und Waldmann (1991). Die Autoritarismusforschung wird weiter unten in Kapitel S.3 behandelt. Arendt (1970,1986).

64

2. Herrschaftstechniken

mente stützen kann und dass Gewalt deshalb von Macht und Herrschaft (bzw. anderen Herrschaftsformen) zu unterscheiden sei. Gewalt und Repression bezeichnen die Anwendung von physischem Zwang zum Zwecke der Machterhaltung. In der vorliegenden Untersuchung wird unter Repression illegitime staatliche Gewaltanwendung gegenüber politischen Akteuren verstanden. Staatliche Gewaltanwendung innerhalb des rechtlichen, verfassungsmäßig abgestützten Rahmens, wie beispielsweise bei der Verbrechensbekämpfung, wird hingegen nicht thematisiert. Unter Repression können sehr unterschiedliche Formen staatlichen Gewalthandelns fallen. Bewusst wird hier ein enger politischer Gewalts- und Repressionsbegriff verwendet, der eine Rechtsverletzung im Sinne der politischen Menschenrechte enthält. Wie in Kapitel 5 im Detail ausgeführt, beziehen sich die politischen Menschenrechte in ihrem Kern auf die körperliche und psychische Unversehrtheit des Menschen. Staatliches und parastaatliches Gewalthandeln umfasst somit Vergehen gegen das Leben, extralegale Hinrichtungen, Folterungen, das Verschwindenlassen von Personen und andere grausame Handlungen, aber auch Inhaftierungen ohne rechtliche Grundlage. Gewalt als Herrschaftstechnik setzt in der Regel spezielle Instrumente zu Repressionszwecken voraus, wie Sondereinheiten von Polizei und Armee oder mit ihnen verbundene, verdeckt operierende zivile Gruppen. Staatliches Gewalthandeln ist gegen bestimmte politische Akteure und Gruppen gerichtet. Davon sind nicht nur organisierte politische Gruppen und Aktivisten betroffen. Auch wenig politisierte Bevölkerungsgruppen und Minderheiten wie bespielsweise indígenas können Opfer staatlicher Gewalt werden. Häufig sind dabei nicht nur die unmittelbaren Opfer das Ziel der Gewalt, sondern breitere Bevölkerungsgruppen, die durch Abschreckung und Einschüchterung in ihrem politischen Verhalten beeinflusst werden sollen.

32

Vgl. Stohl und López (1984,1986).

3 Institutionen der Interessenartikulation "Jetzt, wo wir unsere Legitimität wiedererlangt haben, werden wir daran arbeiten, Engagement und Bewusstsein des Arbeiters wiederherzustellen (...)• Ich bin sicher, dass wir mit einer Million Mitglieder die große Politik des Landes und das Parlament beeinflussen können. (...) Zu unseren grundlegenden Herausforderungen gehört es, mehr und besser zu werden." Manuel Bustos, Präsident des chilenischen Gewerkschaftsdachveibandes CUT.1

3.1 Überblick Dieses Kapitel widmet sich den drei wichtigsten Institutionen der Interessenartikulation im lateinamerikanischen Kontext des 20. Jahrhunderts: Politische Parteien, Verbände und soziale Bewegungen. Die Analyse dieser Institutionen und ihrer Beziehungen zu Staat und politischem Regime zeigen, wie die im vorangegangenen Kapitel dargestellten Herrschaftstechniken institutionell abgestützt werden. Institutionen, bei denen der Aspekt der Mobilisierung und der öffentlichen Artikulation von Interessen nicht im Vordergrund steht, wie dies bei der katholischen Kirche und beim Militär der Fall ist, werden nicht behandelt, auch wenn sie wichtige Machtfaktoren sein mögen. Im Folgenden wird zunächst in Abschnitt 3.2 eine Typologie der lateinamerikanischen politischen Parteien hinsichtlich ihrer organisatorischen Struktur entwickelt und mit Fallbeispielen illustriert. Abschnitt 3.3 beschäftigt sich sodann mit Verbänden, die die Interessen spezifischer Berufsgruppen wahrnehmen, wobei zwischen Produzentenverbänden und Gewerkschaften unterschieden wird. Abschnitt 3.4 befasst sich schließlich mit den sozialen Bewegungen, die im Gegensatz zu Parteien und Verbänden einen niedrigen Institutionalisierungsgrad aufweisen und in der Regel weniger langlebig sind.

1

Interview von Bustos in Rojas Hernández (1993:10).

66

3. Institutionen

3.2 Politische

der

Interessenartikulation

Parteien

Im Hinblick auf das Paradigma der politischen Modernisierung 2 ist die Analyse politischer Parteien deshalb von großer Bedeutung, weil diese eine politische Vermittlung zwischen Staat und Bevölkerung leisten. Darüber hinaus soll die ideologische Ausrichtung von Parteien Gewähr für die wertmäßige und emotionelle Einbindung der Bevölkerung ins politische System bieten, wodurch ihnen bei der politischen Sozialisation und damit der Reproduktion des politischen Systems eine zentrale Stellung zukommt. Schon früh bestand eine weitgehende Einigkeit darüber, dass die politischen Parteien Lateinamerikas diese Funktion kaum erfüllen. Vielfach handelt es sich um Elite-Organisationen mit einem geringen Ausbau der Basisstruktur. Ihre Bedeutung im politischen Prozess ist auch in parlamentarischen Umgebungen meist geringer als diejenige von Interessenverbänden und Militär und die ideologische Ausrichtung ist häufig diffus. In den 1970er und 1980er Jahre hat dies zu einem Rückgang an Studien über Parteien geführt. 3 Erst infolge des Redemokratisierungsprozesses hat die politische Bedeutung von Parteien und damit auch das Interesse der sozialwissenschaftlichen Forschung wieder zugenom4

men. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit politischen Parteien einerseits zur Analyse des Demokratisierungsprozesses. 5 Andererseits wird argumentiert, dass Parteien eine Rolle spielen bei der Art und Weise, wie Herrschaft institutionell verankert ist. Die Analyse politischer Parteien kann etwas darüber aussagen, auf welche Weise der Herrschaftspakt institutionell abgestützt ist. Dies wiederum ist Voraussetzung für das Verständnis der Dynamik politischer Regimes, die im nächsten Kapitel behandelt werden. Das Schwergewicht der folgenden Ausführungen liegt auf einer Typologie, die Parteien hinsichtlich ihrer — stark variierenden — organisatorischen Struktur einteilt. Die klassische Gesamtdarstellung zum lateinamerikanischen Parteienwesen stammt von Alexander. 6 Er teilt die lateinamerikanischen Parteien in acht vorwiegend ideologisch definierte Kategorien ein: Personalistische, konser2

Almond und Coleman (1960), Apter (1965), Huntington (1968).

3

Vgl. ReidMartz (1980).

4

Ameringer (1992), Mainwaring und Scully (1995).

5

Vgl. dazu Kapitel 5.

6

Alexander (1973).

3.2 Politische

67

Parteien

vative, liberale, radikale, sozialistische, christdemokratische, totalitäre und nationalrevolutionäre Parteien. 7 Diese Typologie ist sehr problematisch, weil die ideologische Orientierung der meisten lateinamerikanischen Parteien diffus und schwankend ist. Stärker analytische Typologien, die auf andere Merkmale, etwa auf die organisatorische Struktur oder die funktionale Ausrichtung, abstützen, sind selten formuliert worden und besitzen meist ebenfalls einen geringen Wert.® Kurz hingewiesen sei auf die von Scott vorgenommene Kategorienbildung, die in der Tradition der Modernisierungstheorie steht. 9 Seine Analyse geht von den Funktionsproblemen moderner politischer Systeme aus, insbesondere von denjenigen der Integration der Bevölkerung in politische Entscheidungsprozesse (bzw. Partizipation) und der politischen Sozialisation zu einem Gefühl des Bürgersinns. Parteien werden dahingehend klassifiziert, wieweit sie diesen Funktionen der politischen Modernisierung gerecht werden. Dabei werden drei Typen gebildet: 1) Traditionelle Parteien, die sich aus personalistischen und regionalen Gruppen innerhalb der Elite zusammensetzen und eine monopolistische Kontrolle dieser herrschenden Elite über das politische Geschehen implizieren; 2) Radikale Parteien, welche die Integration der städtischen Mittelschichten ins politische System gewährleisten, ohne eine weitergehende Erweiterung des politischen Raums zu stimulieren (insbesondere in Argentinien und Chile); 3) Massenbasierte modernisierende Parteien, die, ausgehend von einer nationalistischen Ideologie, eine institutionelle Brücke zwischen lokalen, partikulären Zielen der nichtintegrierten Massen und der nationalen Politik zu schlagen versuchen. Der Grund, weshalb Typ 3 bislang selten aufgetreten ist und die Funktion der politischen Modernisierung nur partiell erfolgreich ausüben konnte, wird in der starken regionalen, sozialen und wirtschaftlichen Heterogenität der lateinamerikanischen Länder gesehen.

7

Nationalrevolutionäre Parteien sind gut institutionalisierte Parteien, welche üblicherweise mit populistischen Projekten assoziiert werden: Der PRI (Partido Institucional)

in Mexiko, die APRA (Alianza Popular

Revolucionario

Revolucionaria

Americana)

in

Peru, die ältste organisierte Massenpartei Lateinamerikas, die Acción

Democrática

in

Venezuela, der MNR (Movimiento

Nacionalista

PLN (Partido Liberación

in Costa Rica sind die wichtigsten Beispiele.

8

Vgl. ReidMartz( 1980).

9

Scott (1969).

Nacional)

Revolucionario)

in Bolivien und der

68

3. Institutionen

der

Interessenartikulation

Die folgenden Ausführungen zu Formen lateinamerikanischer Parteien präsentierten eine eigene, in Tabelle 3.1 zusammengefasste Typologie der lateinamerikanischen Parteien hinsichtlich ihrer organisatorischen Struktur. Die unterschiedenen Parteiformen sind als Idealtypen gedacht. Wie bei Alexanders Typologie kann in der Realität nicht jede Partei eindeutig einem Typ zugeordnet werden. Der Besprechung der einzelnen Typen seien zwei allgemeine Bemerkungen vorausgeschickt. Erstens: Was die ideologische Ausrichtung anbelangt, so lässt sich grob zwischen populistischen und nichtpopulistischen Parteien unterscheiden. Abgesehen von der "Klub"-Partei (Typ 1 in Tabelle 3.1) können alle Typen populistische Techniken anwenden. Dies impliziert, dass Populismus organisatorisch unterschiedlich abgestützt sein kann. Zweitens: Parteien können ihre organisatorische Struktur ändern, besonders wenn sie von der Opposition in die Regierung wechseln und umgekehrt. Am Schluss der Typologie werde ich auf solche "Karrieren" oder "Biographien" von Parteien eingehen. Tabelle 3.1: Typologie politischer Parteien Lateinamerikas hinsichtlich ihrer organisatorischen Struktur Institutional, des Parteiapparats

Beziehung zu Interessengruppen

Tragende soziale Gruppe

Einbindung von Unterschichten

1. Partei als Klub

gering

eng: komplementär, Interpenetration

Elite

trad. Klientelismus

kons./lib. Partei (Kolumbien)

2. Personalistische Partei

gering

keine

Mittelschicht Elite

Massenklientel./trad. Klientel.

Velasquistas (Ecuador)

3. MaschinePartei

mittel

mittel: kooptiert

Mittelschicht

Massenklien. büro. Klien.

Radikale (Argentinien)

4. Ideolog. ausgerichtete Kaderpartei

hoch

eng: von Partei organisiert

Mittelschicht

Mobilisierung, bürokrat. Klientelismus

COPEI (Venezuela)

5. Korporat. Staatspartei

mittel

eng: kontrolliert, Identität

Staatsapparat

bürokratischer Klientelismus

PRI (Mexiko)

Parteityp

Beispiele

3.2 Politische

Parteien

69

Partei als Klub Die Partei stellt in diesem Fall eine lose Assoziation von Notabein dar, die höchstens in Wahlen eine größere Bedeutung und formalere Gestaltung erlangt. Die Parteiarbeit besteht aus Gesprächen von gleichgesinnten Personen mit homogenem sozialem Hintergrund. Die kolumbianische Politik, in der das Element der Klub-Partei noch eine beträchtliche Rolle spielt, ist deshalb schon als "conversation among gentlemen" beschrieben worden. 1 0 Analog wurden die chilenischen Parteien bis in die 1920er Jahre nach den Klubs benannt, in denen sich ihre Parlamentarier jeweils zum Gespräch trafen. Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern spielten Elite-Klubs bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle als sozialer Raum, in dem politische Allianzen vermittelt und ausgehandelt wurden. Der Gegenstand dieses Aushandelns ist im Wesentlichen die Kontrolle über die staatliche Maschinerie, d.h. das Verteilen von Regierungsämtern und Verwaltungsposten, die die Ausübung von Patronage erlauben. Die Teilnehmer an diesem "Gespräch" sind in der Regel Patrons aus Systemen des traditionellen, vielfach agrarischen Klientelismus. Während auch andere Parteitypen Patronage-Parteien darstellen, ist bei der Klub-Partei wesentlich, dass sie nur beschränkt ein Vehikel für die öffentliche Debatte und institutionelle Vertretung politischer Interessen und Werte darstellt. Politik findet vielmehr im sozial geschlossenen Kontext von EliteKlubs statt. Dem entspricht die Rolle der Ideologie: Sie scheint vielfach ein nur lose intemalisierter persönlicher Wert der Parteianhänger zu sein, der der emotionalen und personalen Identifikation der politischen Lager dient. Zwischen Ideologie und politischer Programmatik besteht dagegen meist nur ein geringer Zusammenhang. Beispiele für Klub-Parteien sind die traditionellen Elite-Parteien der Konservativen und Liberalen. Klub-Parteien dominierten das politische Leben Lateinamerikas im 19. Jahrhundert; sie spielen aber in verschiedenen Ländern auch im 20. Jahrhundert eine Rolle, u.a. in Brasilien, Kolumbien, 11 Uruguay und Panama.

10 11

Wilde (1978). Ausführlich dazu vgl. das Fallbeispiel zu den Exportbourgeoisien in Kapitel 4.3.

3. Institutionen der

70

Personalistische

Interessenartikulalion

Parteien

Personalistische Parteien benützen keine oder nur eine diffuse ideologische Chiffre und dienen allein der Unterstützung eines populären oder mächtigen Politikers. Die Ressource dieses Politikers kann entweder in seiner Kontrolle über den staatlichen Patronageapparat oder in seiner Fähigkeit zu Massenappellen bestehen. Regierungs- und Oppositionsparteien unterscheiden sich in dieser Hinsicht stark, denn personalistische Oppositionsparteien ohne die Fähigkeit zu Massenappellen sind politisch erfolglos. Entsprechend spielt bei personalistischen Oppositionsparteien der Populismus eine beträchtliche Rolle. Im Unterschied zu den Klub-Parteien — in denen persönliche Loyalitäten und personalistische Faktionen ebenfalls wichtig sind — stützen sich personalistische Parteien nicht auf traditionellen oder bürokratischen Klientelismus, sondern primär auf Massenklientelismus. Parteien dieses Typs entstehen in Situationen, in denen außerhalb der Elite wahlberechtigte Gruppen entstanden sind und gleichzeitig aber nur Klub-Parteien existieren, die sich keine politische Integration dieser Gruppen leisten können. Die Stärke personalistischer Parteien liegt allein in der charismatischen Ausstrahlung und der Rednergabe des Führers, der mit populistischen Appellen eine Massenmobilisierung erreichen kann. Langlebige personalistische Parteien entstanden dort, wo ein populärer Politiker jahrzehntelang trotz Wahlsiegen von der Herrschaft ausgeschlossen wurde, was eine Institutionalisierung der Partei in der Form des Übergangs zu den nachfolgenden Typen verhinderte. 12 Dies war besonders in kleineren Ländern der Fall, in der sich populistisch ausgerichtete Regimes wegen des geringen Potentials zu einer importsubstituieren-

12

Ein Beispiel dafür ist José Maria Velasco Ibarra (1893-1979), der zwischen den 1930er und den 1960er Jahren fünfmal jeweils für l ^ t Jahre Präsident Ecuadors war und viermal vom Militär gestürzt wurde. Die von ihm gewonnenen Wahlen wiesen immer eine hohe Stimmbeteiligung auf. Sein Charisma konnte somit einen großen Teil des politischen Raums mobilisieren. Lange besass er überhaupt keine organisierte politische Basis. Ab den 1950er Jahren formierten sich im ganzen Land lokale Velasquista-Komitees, deren einzige Programmatik in der Unterstützung seiner Wahl bestand. Die Aktivisten setzten sich zusammen aus Juristen, Handwerkern, kleinen Ladenbesitzern und ärmeren Leuten sowie einigen Geschäftsleuten und Bankiers. Er konnte also über die Elite hinaus wahlberechtigte Kreise mobilisieren. In den 1960er Jahren organisierte sich seine Anhängerschaft in einem Frente Populär Velasquista; nach dem Tod Velascos zerfiel die Partei um 1980 rasch (Quintero 1980, Cueva 1982, Menéndez-Carrión 1986).

3.2 Politische

Parteien

71

den Industrialisierung nur beschränkt durchsetzen konnten. Die wichtigsten Beispiele sind die bereits erwähnten Velasquistas in Ecuador und die Panameüistas in Panama unter Arias. Die nicht-populistische Variante personalistischer Parteien sind meist relativ kurzlebige, von ehemaligen Diktatoren organisierte Gruppierungen. Zweck dieser Parteien ist es, den Diktator über Wahlen wieder an die Macht zu bringen oder wenigstens an einem durch Wahlen vermittelten politischen Prozess teilzuhaben. Diese Parteien verfügen nicht nur über keine Ideologie, sondern auch über keine vom Führer (caudillo) abgelöste Maschinerie zur Gewährung von Patronage wie dies bei den Klub- oder die Maschine-Parteien der Fall ist (Typen 1 und 3). Da die relevanten Patronagequellen vor allem aus Regierungsämtern oder hohen Verwaltungspositionen bestehen, sind die Träger dieser Parteien vornehmlich unter der Elite zu finden. Beispiele sind die Unión Nacional Odriista in Peru (relevant 1956-1968), deren Führer 19481956 Diktator gewesen war, oder das Movimiento Democrático Pradista (relevant 1956-1963), dessen Führer 1939-1945 das Land regiert hatte und der mit dieser Partei dank der Unterstützung durch die APRA die Wahlen von 1956 gewann. Die Partei bestand letztlich nur aus Freunden von Prado. Auch etliche brasilianische Parteien des Zeitraums 1945-1964 hatten einen ähnlichen personalistischen Charakter. Ein wichtiges Beispiel, das zwischen diesem "Diktator"-Personalismus und dem populistischen Personalismus liegt, ist schließlich die Bewegung ANAPO {Alianza Nacional Popular), die in Kolumbien von 1961 bis zu den frühen 1970er Jahre bedeutsam war. Die Gruppe war ein Vehikel des früheren Diktators Rojas Pinilla (1953-1957) zur Wiedererlangung der Macht. Ein wichtiges Element der Mobilisierungsstrategie bestand in diffusen populistischen Appellen an alle, die mit dem Regime bzw. den herrschenden, miteinander verbündeten Liberalen und Konservativen Parteien unzufrieden waren. Rojas Pinilla scheiterte 1970 in der Wahl zum Präsidenten wahrscheinlich nur aufgrund von Wahlbetrug. Da nun klar war, dass die Bewegung nie die Kontrolle über die staatlichen Patronagequellen erlangen würde — der Exdiktator war schon über 70 Jahre alt, litt unter Herzbeschwerden und starb 1975 — verlor die Partei rasch ihre Stärke. 13

13

Dix (1987: 104-106).

72

3. Institutionen der

Interessenartikulation

Maschine-Parteien Im Unterschied zu den bisher besprochenen Typen können Maschine-Parteien eine Massenanhängerschaft mobilisieren. Einerseits erreichen sie dies durch populistische Appelle und durch Elemente des Massenklientelismus, z.B. durch die Versprechung einer Arbeits- oder Sozialversicherungsgesetzgebung. Stabilisiert wird jedoch die Beziehung zwischen Anhängerschaft mit Hilfe einer sog. "Maschine". 14 Damit sind im Wesentlichen zwei Formen von bürokratischem Klientelismus gemeint: Erstens die Kooptation wichtiger Führer der Interessenverbände von Bevölkerungssegmenten außerhalb der Elite (Gewerkschaften, allenfalls Bauernorganisationen), denen als Gegenleistung für die Gewährung von politischer Unterstützung Positionen in der Regierungsbürokratie zugehalten werden. Zweitens werden Parteimitgliedern über die erwähnten, nun als broker dienenden Führer von Interessenverbänden oder über lokale Parteisekretariate kleine Dienstleistungen gewährt. Vor allem wenn das zweite Element eine große Bedeutung annimmt, kann eine Maschine-Partei eine vergleichsweise hohe institutionalisierte Bindung erreichen (gemessen etwa an der Mitgliederzahl). Die Erfassung der Parteimitglieder durch einen Parteiapparat ist dabei meist nicht sehr ausgeprägt. Die Bindung der Mitglieder an die Partei hat nicht affektiven, wertmäßigen Charakter, sondern bleibt von dem andauernden Gewähren von Patronage abhängig. Kann sie nicht mehr gewährt werden, zerfällt die Anhängerschaft rasch. Im Fall von kooptierten Führern von Interessenorganisationen kann ein ganzes Bevölkerungssegment wegfallen und sich die Partei spalten. Das klassische Beispiel einer gut mobilisierenden Maschine-Partei ist die Radikale Bürgerunion in Argentinien, die ausführlich in Kapitel 4.3 beschrieben wird. Ein anderes Beispiel einer Maschine-Partei ist das bolivianische Movimiento Nacionalista Revolucionario. Diese in den frühen 1940er Jahren entstandene faschistoide Partei kämpfte sich 1946-1952 als populistische Allianz zur Macht durch. An die Regierung gelangt, führte sie unter anderem eine umfassende Landreform und eine Nationalisierung des Minensektors durch. Spätestens ab 1956 begann sich die Partei in verschiedene Faktionen zu spalten. Die zentrale Führerfigur ist bis heute Victor Paz Estenssoro. 15 14 15

Vgl. Scott (1969). Präsident 1952-1956, 1960-1964, 1985-1989.

3.2 Politische

Parteien

73

Hernán Siles Zuazo 16 war ab etwa 1970 Chef einer linken Parteigruppierung. Zwischen 1944 und 1956 bildete die Bergwerksgewerkschaft einen zentralen Pfeiler der Partei. Die Beziehung entstand dadurch, dass das 1944 an der Regierung beteiligte MNR sich den Gouverneursposten in der wichtigsten Bergbaustadt sicherte, den ersten Gewerkschaftskongress ermöglichte und den Gewerkschaftsführer Juan Lechin, ebenfalls bis in die 1980er Jahre ein zentraler Politiker des Landes, unterstützte. Die "Klassenallianz" — das MNR war vor allem eine Partei der städtischen Mittelschichten — kam somit durch eine rein personalistische Beziehung zustande, wobei Lechin als power broker fungierte. Im Jahre 1952 führte die Ankündigung der Landreform zu einer in Bolivien bis anhin unbekannten Mobilisierung der indigenen Bevölkerung mit Massenaufmärschen von Zehntausenden von Menschen. Die Bauernschaft wurde vor allem über das Gewerkschaftswesen in die Partei eingegliedert, indem Führer Vergünstigungen erhielten — z.B. Devisen und Autos, was wichtig für die kommerzielle Integration der neu entstandenen Kleinbauernschicht war. Der Parteiapparat war sowohl unter der Arbeiter- wie Bauernschaft minimal ausgebaut; er fiel vielfach mit dem Gewerkschaftsbüro zusammen. Die geringe Ausdifferenzierung eines Parteiapparats, der politische Wünsche der Basis hätte aufnehmen und verarbeiten können, ebenso wie die Integration der oberen Parteiebene durch wenige power brokers, wird für die rasche Fragmentierung der Partei verantwortlich gemacht. 17

Ideologisch ausgerichtete

Kaderparteien

Herausragend an diesen Parteien ist ihre vergleichsweise konsistente Ideologie sowie die Tatsache, dass sie die Bevölkerung und Interessenorganisationen aktiv gemäß ihrer ideologischen Konzepte organisieren. Der Begriff der Kaderpartei meint also nicht eine Beschränkung der Parteiorganisation auf die Parteifunktionäre, sondern vielmehr die Tatsache, dass sich die Parteien überhaupt um die Ausbildung von ideologisch und organisatorisch geschulten Kadern sowohl im Bereich der Parteiarbeit selbst wie im Bereich von Interessenorganisationen der Unterschicht (Arbeiter, Bauern) kümmern. Gleichzeitig sind diese Parteien lokal in Sektionen dicht organisiert. Die vergleichs16

Präsident 1 9 5 6 - 1 9 6 0 , 1 9 8 2 - 1 9 8 5 .

17

Klein (1969: 3 7 5 - 3 8 7 ) , Mitchell (1977), von der Heydt-Coca (1982).

74

3. Institutionen der

Interessenatrtikulation

weise klare ideologische Ausrichtung heißt allerdings nicht, dass diese Parteien sich ausschließlich auf einzelne soziale Gruppen gestützt häitten. Die meisten Parteien dieses Typs waren und sind Vehikel von klassenübeirgreifenden Allianzen. Beispiele sind einerseits die beiden ältesten ideologisch ausgerichteten nationalrevolutionären Parteien — die APRA in Peru und die Acción Democrática in Venezuela — andererseits weniger ausgeprägt populistische Parteien wie die chilenischen Sozialisten seit den 1950er Jahren und die in etlichen Ländern seit den 1960er Jahren bedeutsamen Christdemokraten.18 Generell lässt sich aber sagen, dass bei den ausgeprägt populistisch mobilisierenden Parteien in dieser Kategorie das Element des Aufbaus einer straffen Parteiorganisation weniger stark ausgeprägt ist, und dass sich diese Parteien anderen Typen leichter annähern. Meist handelt es sich auch um historisch ältere Parteien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Besonders die Christdemokraten repräsentieren dagegen einen relativ neuen Typ von Partei, der die organisatorische Kompetenz der stark mit der Gewerkschaftsbewegung verbunden Kommunisten und teilweise der Sozialisten mit der Fähigkeit zum Aufbau klassenübergreifenden Allianzen populistischer Maschine-Parteien kombiniert. Das folgende Beispiel sei deshalb dieser ideologischer Ausrichtung entnommen. Die venezolanische COPEI (Comité de Organización Política Electoral Independiente) hat ihre Ursprünge wie die anderen modernen Parteien des Landes im Widerstand gegen den langjährigen Diktator Gómez um 1930. Sie entstand als katholische Studentengruppe, deren jahrzehntelanger Anführer Rafael Caldera war. Die ideologische Ausrichtung der Partei entwickelte sich nach dem zweiten Weltkrieg in Anlehnung an europäische Vorbilder. Der Durchbruch zu einem parlamentarischen System kam in Venezuela erst 1958. In den Präsidentschaftswahlen gewann Romulo Betancourt von der Acción Democrática (AD). Caldera hatte nur etwa ein Drittel der Stimmen und belegte den dritten Rang. Im Unterschied zur dritten Partei verblieb die COPEI bis 1964 in der vereinbarten Koalitionsregierung mit der AD. Dies gewährte der Partei nicht nur eine Quelle der Ämterpatronage. Darüber hinaus war unter den vier Parteien mit nennenswerter Gefolgschaft in der Arbeiterbewegung (neben den erwähnten die Kommunisten) 1958 die Bildung von Einheitsgewerkschaften beschlossen worden, in denen die Vorstände mit 18

An der Regierung in Chile 1964-1968 und seit 1990, in Venezuela 1968-1973, 19781983, in El Salvador 1984-1989, in Costa Rica 1990-1994.

3.2 Politische

Parteien

75

einer Liste bestimmt wurden, die von den vier Parteien zusammengestellt worden war. Für die COPEI bedeutete dies einen massiven Zuwachs an Einfluss, da sie bislang nur über eine schwache Stellung in der Gewerkschaftsbewegung verfügt hatte und nun in allen Gewerkschaftsleitungen wenigstens minimal vertreten war. In den folgenden Jahren wurden die dadurch gegebenen Möglichkeiten effizient ausgenützt: 1962 wurde in Caracas eine Schule für christdemokratische Gewerkschaftsführer eröffnet, in der besonders junge Aktivisten in Strategie und Taktik der Gewerkschaftsorganisation ausgebildet wurden. Dadurch gewann die COPEI allmählich einen festen, auch ideologisch abgesicherten Einflussbereich in der Gewerkschaftsbewegung und konnte so zahlreiche Parteimitglieder rekrutieren. Nach dem Zerfall der die AD unterstützenden Studentenbewegung in den frühen 1960er Jahren war zudem die christdemokratische Studentenbewegung über längere Zeit die einzige regierungsfreundliche Kraft an den Universitäten. 1964 ging die Partei in eine loyale Opposition, fuhr aber weiter fort mit dem Aufbau von Basisorganisationen bei Arbeiter- und Bauemgewerkschaften sowie von Parteizellen in Regionen, in denen die COPEI schwach vertreten war. Der ideologischen Schulung von lokalen Parteiführern wurde dabei großes Gewicht beigemessen. Mitglieder wurden selektiv rekrutiert, beispielsweise hatten Leute, die mit der vorangegangen Diktatur assoziiert waren und nun in den Parteien alternative Patronagequellen suchten, keinen Zugang. Zwar verdankte die Partei ihren Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen 1968 in erster Linie einer Spaltung der AD, doch stieg ihr Wähleranteil 1958-1978 kontinuierlich von 16 auf 40%. 19 Der Aspekt der organisatorischen Kompetenz dieses Parteientyps wird nicht zuletzt aus dem Vergleich mit der mächtigeren Gegenspielerin der COPEI, der AD, ersichtlich. 20 Die COPEI konnte sich zu einer emstzunehmenden politischen Konkurrenz aufbauen, obwohl die AD wichtige symbolische Ressourcen wie die Führerschaft im Aufstand gegen Gómez aber auch wichtige Teile des politischen Raums organisatorisch bereits besetzt hatte. 21 Die AD verfügte 1958 somit über die stärkste Parteiorganisation. Später verließ sich die Partei jedoch stärker auf Populismus oder Massenklientelismus.

19

Alexander (1973: Kap. 17), Nohlen (1993).

20

Vgl. Martz (1966). Aufbau einer dichten lokalen Parteiorganisation 1937-1939 aufgrund der Reisen Betancourts durchs ganze Land; starke Stellung in der Arbeiter- und Bauernbewegung.

21

76

3. Institutionen der

Interessenartikulation

Römulo Betancourt erreichte 1959-1964 eine immense Popularität durch die Landreform, den Ausbau der ländlichen Infrastruktur 22 und den Aufbau einer nationalen Ölindustrie. 23 Anders als die Christdemokraten schaffte es die Partei jedoch nur in bescheidenem Mass, ihre durchaus vorhandene Parteiorganisation mittels der gewonnenen Popularität institutionell zu verstärken. Mit der Erdölbonanza der 1970er Jahre fand allein eine Verstärkung des Maschine-Elements statt. Konkret zeigt sich der Stillstand im Ausbau der Partei als Kaderpartei etwa im Verlust der Kontrolle über die Städte in den späten 1980er Jahren als Folge der Proteste gegen die Stabilisierungs- und Strukturanpassungspolitik der Regierung von Perez: Es entstand eine Basisbewegung von Quartiervereinen, 24 die von der AD nur zum kleinen Teil beeinflusst werden konnten. Die Geschichte von AD und COPEI legt nahe, in der ideologisch ausgerichteten Kaderpartei ein erfolgreiches Modell für Oppositionsparteien zu sehen, während Regierungsparteien stärker dem Modell der Maschine-Partei zuneigen, die die Unterhaltung eines straffen Parteienapparats weniger notwendig macht. Zum Schluss sei noch auf die ideologischen Kader-Parteien eingegangen, die sich am Leninismus orientierten oder sich von ihm inspirieren liessen. In den meisten Ländern blieben diese Parteien auf eine gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterschaft, also auf eine klassenbasierte Mobilisierung, beschränkt. Bis zu den 1980er Jahren war ihr Wahlerfolg mit Ausnahme Chiles (1950er bis frühe 1970er Jahre) bescheiden. Zwei neuere Parteien konnten jedoch wesentlich weiter ausgreifen: die kubanischen Kommunisten und die nicaraguanischen Sandinisten. 25 Mit dem Zerfall der sozialistischen Systeme in Osteuropa verloren die kommunistisch ausgerichteten Kaderparteien allerdings ihre hauptsächlichen ideologischen und im Falle Kubas auch finanziellen Ressourcen.

22 23 24

Schule, Gesundheit, Abwasser, Elektrizität, Kredit Vollverstaatlichung durch Pérez in den 1970er Jahren. Allein in Caracas 200. Ausführlicher hierzu vgl. die Fallstudie zu den unterschichtsbasierten populistischen Regimes in Kapitel 4.3.

3.2 Politische

77

Parteien

Korporatistische

Staatsparteien

Korporatistische Staatsparteien dominieren die Parteienlandschaft, ohne Oppositionsparteien völlig auszuschließen. Hervorragendes Kennzeichen ist die Integration von Interessenverbänden in die Parteiorganisation. Die Partei wird damit zum Vehikel für eine korporatistische Herrschaftstechnik. So wurde etwa die mexikanische Revolutionspartei (heute PRI) unter Cárdenas 1938 in vier Sektoren gegliedert: Arbeit, repräsentiert durch die 1936 gegründete Einheitsgewerkschaft, Bauern, repräsentiert durch den von der Arbeiterbewegung abgespaltenen Nationalen Bauernverband, der sector popular und das Militär. Im sector popular waren die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, die nicht dem nationalen Gewerkschaftsverband angeschlossen worden waren wie Staatspersonal und Lehrerschaft, die Kleinbauern außerhalb des Nationalen Bauernverbands, die freien Berufe sowie die Jugend- und Frauenverbände organisiert. Der Militärsektor wurde 1940 in den sector popular integriert. Die Parteiorganisation und damit auch die individuelle Parteimitgliedschaft ist damit wenig von den Interessenverbänden differenziert. Die große Bedeutung der Partei im Staatsapparat impliziert, dass Anhänger bzw. Wähler vor allem über bürokratischen Klientelismus rekrutiert werden. 2 6 Das langlebige Modell des PRI hat außerhalb Mexikos nur beschränkte Nachahmungen gefunden, vor allem von Seiten reformistischer oder sich reformistisch gebender Militärregierungen. Hinzuweisen ist auf den salvadodänischen PRUD, der ein reformistisches Aushängeschild der Militärherrschaft darstellte. Er wurde bewusst nach dem mexikanischen Vorbild aufgebaut, konnte aber nicht zuletzt wegen der geringen Legitimität der Regierung keinen so weitreichenden zivilen Apparat aufbauen wie der PRI. Bezeichnenderweise wurde der PRUD und seine Nachfolgeorganisation ab den frühen 1960er Jahren von den Christdemokraten unter Duarte stark zurückgedrängt. 28 In Panama wies der von Torrijos 1978 gegründete PRD eine am PRI orientierte Organisationsstruktur auf, degenerierte aber unter Noriega rasch. Schließlich kann auch das oben behandelte bolivianische MNR als geschei-

26 27

28

Ausführlicher dazu in Kapitel 6.3. Partido Revolucionario de Unificación Democrática, relevant 1950-1960, Nachfolgeorganisation Partido de Conciliación Nacional (PCN) bis 1979. Zunahme von Wahlfälschungen, Repression etc.; vgl. Webre (1979), Baloyra (1982).

78

3. Institutionen ¿er

Interessenartikulation

terter Versuch zum Aufbau einer korporatistischen Staatspartei bezeichnet werden.

Mischformen und Mobilität zwischen verschiedenen

Typen

Wie erwähnt sind die oben beschriebenen Formen lateinamerikanischer Parteien als Idealtypen zu verstehen. In der Realität treten Mischformen häufig auf. Die vorgestellten Typen können dabei als orientierende Extrempunkte oder Dimensionen betrachtet werden, auf denen die Parteien rangieren. So spielt das Maschine-Element sowohl in den traditionellen elitistischen Parteien Kolumbiens wie auch in den chilenischen Kaderparteien der 1960er Jahren eine wichtige Rolle. Was sie unterscheidet, ist aber eben das Element des Elitismus verbunden mit einer wenig ausgeprägten Parteiorganisation oder der Kaderpartei. Dieser Unterschied erklärt bis zu einem gewissen Grad die unterschiedliche politische Kultur der beiden Länder, insbesondere in den kritischen frühen 1970er Jahren. Die idealtypische Betrachtung von Mischformen kann aber auch dazu dienen, verschiedene Basen einer über Parteien abgestützten Herrschaft zu unterscheiden. Ein Beispiel bietet der Aufstieg Peröns, der sich 1946 auf drei Parteien stützte: Eine stark in der Gewerkschaftsbewegung verankerte Arbeiterpartei, eine Faktion der Radikalen sowie eine ad hoc gebildete dritte Gruppe. Diese drei Elemente umfassen eine Kaderpartei (Arbeiterpartei), einen Teil der oben geschilderten "Maschine" der Radikalen und eine personalistische Bewegung. Diese drei Pfeiler unter einen organisatorischen Hut zu bringen, erwies sich in der Folge als schwierig. Besonders die peronistische Frauenpartei, die von Evita geleitet wurde, blieb eine weitgehend personalistische Bewegung, gebunden an die Popularität des Führerehepaars und die Verleihung des Frauenstimmrechts von 1947. Die peronistische Bewegung konnte viele Mitglieder gewinnen, die Parteiorganisation wie auch die Integration der Arbeiterbewegung blieben jedoch schwach. Was die Existenz von "Mobilitätskanälen" anbelangt, so ist einerseits die Maschine-Partei als gewisser Endpunkt von Partei-"Biographien" anzusehen. Die Konkurrenz zwischen elitistischen Parteien, die Machtübernahme von personalistischen Parteien sowie ein Ausgreifen von an die Macht gelangten Kaderparteien über das von ihnen zuvor ideologisch organisierte Bevölkerungssegment führen alle zu einer stärkeren Betonung des Maschine-Ele-

3.2 Politische

Parteien

79

ments in der Parteisttruktur.29 Andererseits wurde oben die ideologisch klar fixierte Kaderpartei als Modell für die Erschließung eines bereits dicht vorstrukturierten politischen Raums vorgestellt. Dieser Parteityp dürfte in Zukunft eine größere Rolle spielen, da die Anpassungs- und Stabilisierungspolitiken die Patronage-Möglichkeiten und damit die Basis von MaschineParteien untergraben.

Parteiensysteme In Anlehnung an die Arbeiten von Sartori (1976) wird öfters zwischen Einparteien-, Zweiparteien- und Mehrparteiensystemen unterschieden.^® Im gegenwärtigen Abschnitt sollen zwei Themen diskutiert werden: Die Logik von Zweiparteiensys temen und der funktionale Bezug zwischen Parteien in einem Mehrparteiensystem, die durch Allianzen miteinander verbunden sind. Zweiparteiensyste me: In einigen Ländern Lateinamerikas besteht ein mehr oder weniger klar artikuliertes Zweiparteiensystem. Im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre hat sich dessen Zahl noch vermehrt. Ein traditionelles Zweiparteiensystem einer konservativen und einer liberalen Partei herrscht in Kolumbien und Uruguay. Zweiparteiensysteme historisch junger Parteien bestehen in Argentinien (1983-1994), Costa Rica (seit 1984), Venezuela (ca. 1970-1993) sowie in Jamaika und Trinidad und Tobago. In Kolumbien und Uruguay handelt es sich um Eliteparteien, die sich bis zu einem gewissen Grad zu Maschine-Parteien ausgeweitet haben. In den übrigen Ländern ist die traditionelle Elite in der Parteipolitik nur marginal vertreten; es dominieren populistische Maschine- und Kaderparteien. Die Zwei-Parteienstruktur ist deshalb mehr oder weniger klar artikuliert, weil besonders bei den schwach institutionalisierten, noch stark dem "Klub"-Modell folgenden, traditionellen Parteien in Uruguay und Kolumbien die vertikale Kontrolle gering und damit der Konflikt zwischen Faktionen stark ausgeprägt ist. In Kolumbien führte dies im Verlauf der 1940er Jahre zu einer zunehmenden Violenz, die in eine

29 30

Bereits erwähnte Beispiele: kolumbianische Parteien, venezolanische AD. Für Lateinamerika vgl. McDonald und Ruhl (1989); zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung vgl. Lange und Meadwell (1991: 89-91). In einer Weiterfühning dieses Gedankens haben Mainwaring und Scully (1995) auf der Basis des Institutionalisierungsgrades des Parteiensystems eine Typologie entwickelt.

80

3. Institutionen

der

Interessenartikulation

Militärdiktatur mündete. Gelöst wurde das Problem der vertikalen Kontrolle durch eine "Nationale Front" der beiden dominierenden Parteien (1958— 1986), die eine Teilung der Regierungsverantwortung vorsah. 31 Anders als im europäischen Kontext kann somit der Aspekt der vertikalen Kontrolle über den Faktionskonflikt den ideologischen und interessenmäßigen Kontrast zwischen den beiden Parteien dominieren. Worin besteht die Funktion von Zweiparteiensystemen in Lateinamerika? In einem Kontext, der durch klientelistische Muster gekennzeichnet ist, sind Klienten daran interessiert, sich einerseits an einen möglichst mächtigen Patron mit einer weitgespannten Kontrolle von Patronageressourcen anzuschließen. Es liegt aber auch in ihrem Interesse, die Übermacht eines einzigen Patrons zu verhindern, da dieser sonst nicht mehr auf ihre Unterstützung angewiesen ist. Ein Zweiparteiensystem garantiert somit für Klienten eine Kombination von Stabilität und Konkurrenz. Die Herausbildung von Zweiparteiensystemen in Lateinamerika stellt die Stabilisierung einer durch Wahlen kontrollierten klientelistischen Politik dar. Typische Allianzen in Mehrparteiensystemen: Spätestens während der Phase der importsubstituierenden Industrialisierung und der damit einhergehenden Verstädterung weitete sich der politische Raum aus. Es wurde daher für politische Regimes wichtig, über politische Kanäle zu den neu entstandenen politisch relevanten Bevölkerungskreisen, v.a. städtischen Mittel- und Unterschichten zu verfügen. Eliteparteien (Klub-Parteien) oder Militärregimes, die unfähig zur vertikalen Penetration waren im Sinn des Aufbaus von Maschine-Parteien, konnten sich in irgendeiner Weise mit Parteien verbinden, die über die Infrastruktur zur Organisation der Bevölkerung außerhalb der Elite verfügten. Diese Verbindung konnte die Form einer durch Repression erzwungenen convivencia annehmen (Peru 1956-1962), aus einer formalen Koalition bestehen (Panama 1989) oder schließlich in eine Parteienfusion münden (Dominikanische Republik 1984). Im Fall von Militärregimes kann die Zusammenarbeit das Heranziehen von Mitgliedern der fraglichen vermittelnden Parteien als politische Organisatoren und Mobilisatoren bedeuten. Zwei Typen von Parteien konnten die organisatorische Basis für die Herrschaft ziviler Eliteparteien oder eines Militärregimes abgeben: Kleine ideologisch ausgerichtete Kaderparteien (Typ 4), die die politische Durchorganisation der von ihnen angesprochenen sozialen Gruppe nicht oder noch nicht 31

Vgl. das Fallbeispiel zur "Nationalen Front" in Kapitel 4.3.

3.2 Politische

Parteien

81

erreicht hatten oder aber populistisch ausgerichtete personalistische Parteien (Typ 2). Besonders die jüngeren, seit den 1960er Jahren aufgebauten christdemokratischen Kaderparteien, haben sich in neuerer Zeit in mehreren Ländern zu einer organisatorischen Basis konservativer Parteipolitik entwickelt. In den peruanischen Wahlen der 1980er Jahre wie in der oppositionellen, gegen Noriega gerichteten Koalition in Panama 1989 stellten die Christdemokraten die bestorganisierte Komponente dar. 32 In der Dominikanischen Republik entstand nach Trujillos Ermordung (1961) eine revolutionäre christlichsoziale Partei, die von der venezolanischen COPEI unterstützt wurde. Die Wahlen von 1966 wurden von Joaquin Balaguer gewonnen, der 1956-1961 Vizepräsident Trujillos war. Die Christdemokraten kooperierten mit ihm. Auf Wunsch Balaguers fusionierten sie 1984 mit seiner Partei, wobei Balaguer der Führer wurde und der Parteinamen der Christdemokraten übernommen wurde. Die Partei diente als Vehikel für Balaguers Wahlsiege von 1986 und 1990.34 Die steigende Bedeutung der Christdemokraten und ihre Eingliederung in größere Parteiensysteme kann als Ausdruck einer verstärkten Formalisierung konservativer Politik über Klub-Parteien oder schwache personalistische Parteien hinaus gesehen werden. Gleichzeitig kann natürlich die fehlende Autonomie der christ-demokratischen Bewegung mit einem Verschwinden reformistischer Ziele zugunsten der Stabilisierung der Vorherrschaft traditioneller Eliten einhergehen. Andere ideologisch ausgerichtete Kaderparteien, die in einigen Fällen eine politische Vermittlerrolle gespielt haben, sind insbesondere kommunistische Parteien. In Wahlen waren diese Parteien mit wenigen Ausnahmen wie in Chile während der 1960er Jahre marginal. Gleichzeitig verfügten sie über eine straffe Organisation und über das Know-how zur politischen Mobilisierung. Sie bildeten deshalb während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts das Vorbild für die oben besprochenen ideologisch ausgerichteten Kaderparteien, die eine Massengefolgschaft aufbauen konnten. Politisch relevant wurden die Kommunisten selbst nur in Nischenfunktionen: Die reformistischen Militärregierungen in Panama und schwächer in Peru haben sich um 1970 der Mitglieder der kommunistischen Partei als politischer Organisatoren bedient. Die Partei war attraktiv, da sie nicht über einen Massenanhang gebot, der dem

32 33 34

Scranton (1991:159). Balaguer siegte auch 1970 und 1974 und regierte bis 1978. McDonald und Ruhl (1989: 327), Nohlen (1993).

82

3. Institutionen der

Interessenartikulation

Regime hätte gefährlich werden können und trotzdem über die für das Regime notwendigen, vom Militär aber kaum beherrschten politischen Kompetenzen verfügte.35 Die Alternative dazu, sich auf eine Kaderpartei mit organisatorischen Kompetenzen abzustützen, besteht darin, sich einer politischen Kraft mit der Fähigkeit zu Massenappellen zu bedienen. Dies kann eine personalistische Partei sein oder ebenfalls eine Kaderpartei, die aber bereits eine organisatorische Erschließung der Bevölkerung erreicht hat. In diesem Fall findet gewöhnlich ein Tausch statt in dem Sinn, dass der Partei mit der Fähigkeit zu Massenappellen im Gegenzug für die Unterstützung einer Elitepartei eine gewisse legale politische Tätigkeit zugestanden wird. Derartige Kombinationen setzen ein entsprechend repressives Klima mit Parteienverboten voraus. Beispiele sind Peru und Panama um 1960: Die personalistische Partei der Pradistas gewann die Wahlen von 1956 nur mit dem Versprechen, die APRA zu legalisieren. In Panama gewann der liberale Kandidat die Wahlen ähnlich mit dem Versprechen, die 1952 entzogenen Bürgerrechte wiederherzustellen. Koalitionen der geschilderten Art stellen sich vorwiegend in kleineren Ländern ein, in denen die traditionellen Eliteparteien die Ausweitung zur Maschine-Partei nicht erreicht haben. Gleichzeitig haben diese Länder auch nur beschränkt eine Phase der importsubstituierenden Industrialisierung und nationalen Integration mit der Möglichkeit des Überhandnehmens von ideologisch ausgerichteten Kaderparteien oder korporatistischen Staatsparteien erlebt. Entsprechend lässt sich auf einer allgemeinen Ebene die politische Entwicklung Panamas und Perus seit etwa 1950 als Auseinandersetzung um die Institutionalisierung einer Verbindung zwischen der Elite und der weiteren Bevölkerung interpretieren.36

3.3 Interessenverbände Verbände sind politische Organisationen, die die spezifischen Interessen bestimmter Berufsgruppen vertreten. In den meisten Ländern Lateinamerikas können zwei Typen von Interessenverbänden unterschieden werden: gremios 35 36

Zu Panama vgl. Ropp (1982). Vgl. hierzu die ausführliche Fallstudie zu Peru in Kapitel 4.4.

3.3

Interessenverbände

83

económicos (Produzentenverbände) und sindicatos (Gewerkschaften). Im Gegensatz zu den meisten Produzentenverbänden sind Gewerkschaften Institutionen zur Artikulation von Masseninteressen. Während zum Gewerkschaftswesen zahlreiche Studien existieren, haben Interessenorganisationen von Produzenten nie dieselbe Aufmerksamkeit erhalten. Angesichts der Bedeutung korporatistischer und klientelistischer Arrangements in Lateinamerika ist diese Vernachlässigung jedoch nicht gerechtfertigt. 37 Produzentenverbände und Gewerkschaften haben je nach der Verfassung der politischen Herrschaft eine unterschiedliche Beziehung zum Staat: 38 1) In einer Umgebung, die durch einen staatlich gesteuerten Korporatismus geprägt ist wie beispielsweise in Mexiko, werden sowohl Produzentenverbände wie Gewerkschaften stark vom Staat reguliert und kontrolliert. Individuelle Beziehungen von einzelnen Unternehmern zur Regierungsspitze sind als Mittel der Interessenwahrnehmung bedeutsamer. 2) In pluralistischen Kontexten mit ideologisch ausgerichteten Kaderparteien (Chile, Venezuela) hingegen zeichnen sich die Produzentenverbände durch eine hohe Autonomie gegenüber dem Staat auf und können ihn allenfalls beeinflussen, während die Gewerkschaften autonom organisiert sind und diese Autonomie gegenüber staatlichen Penetrationsversuchen verteidigen. In derartigen Kontexten können Produzentenorganisationen für die Interessenartikulation der Elite eine ähnlich große Bedeutung erhalten wie Parteien: Während der Einfluss der konservativen und liberalen Parteien in Chile seit den späten 1930er Jahren zurückging, konnten die Produzentenorganisationen auf die Besetzung wenigstens der sie direkt interessierenden Ministerposten Einfluss nehmen. 3) Wo sich die traditionellen Parteien zu Maschine-Parteien erweitert haben wie etwa in Kolumbien, spielen zwar Produzentenverbände eine ähnlich selbständige Rolle, doch können sich Gewerkschaften nur als Maschinen im Rahmen von Parteiapparaten entfalten und werden vom Staat stark kontrolliert. 37

Ausführliche Fallstudien existieren zu Brasilien (Schmitter 1971) und zu Kolumbien (s.u.), komparativ angelegte systematisierende Ansätze sind jedoch kaum vorgelegt worden (Ausnahme: Kaufman 1977). Wichtige vergleichende Studien zum Gewerkschaftswesen stammen von Alexander (1965), Spalding (1977), Waldmann (1983b), González Casanova (1984), Zapata (1986), Bergquist (1986), Boris (1990), Collier und Collier (1991), Grewe und Mols (1994); zu den einzelnen Länder existieren zudem zahlreiche Fallstudien (zu Mexiko vgl. z.B. Roxborough 1986, Bizberg 1990, Middlebrook 1995, Zapata 1995).

38

Kaufmann (1977:123-130).

84

3. Institutionen

der

Interessenartikulation

Produzentenverbände Produzentenverbände gehören in Lateinamerika zu den ältesten und stabilsten Institutionen der Interessenartikulation. Viele dieser Organisationen wurden bereits im 19. Jahrhundert gegründet — häufig in Zusammenhang mit dem Übergang einer nationalen Wirtschaft zur Exportproduktion von landwirtschaftlichen Gütern. Produzentenverbände können sowohl Sprachrohr der Elite, beispielsweise der Großgrundbesitzer, als auch Interessenvertreter von Kleinproduzenten wie der Kleinbauern sein. Im letzteren Fall spielen die Dienstleistungen, die diese Verbände ihren Mitgliedern gewähren eine Wichen

tige Rolle. Produzentenverbände übernehmen damit parastaatliche Funktionen. Zwischen den mächtigen Produzentenverbänden und der Regierungsspitze kommt es insbesondere in Regimes, die sich auf Exportinteressen stützen, häufig zu einer gegenseitigen Penetration: Die Verbände haben in ihrem Vorstand Regierungsmitglieder und umgekehrt haben die Repräsentanten der Verbände einen direkten Zugang zum Präsidenten oder können Einsitz nehmen in wichtige staatliche Kommissionen und Gremien. Die politische Stellung von Produzentenverbänden soll im Folgenden anhand des Beispiels von Kolumbien aufgezeigt werden. 4 0 Die älteste Interessenorganisation ist die 1871 gegründete S AC (Sociedad de Agricultores de Colombia). Analoge Organisationen wurden überall in Lateinamerika mit dem Übergang zu einem verstärkten Export von Agrarprodukten gegründet. Sie sind meist ältere und stabilere Medien der Interessenartikulation der Großgrundbesitzer-Elite als die Parteien. In Fällen der Bedrohung durch Nicht-Eliten-Regimes werden sie zu den wichtigsten Sprachrohren der Elite. Zwischen den 1920er und den 1950er Jahren wurden wichtige Branchenverbände geschaffen, so 1927 FEDECAFE (Kaffee-Produzenten), 1936 ASOBANCARIA (Bankenverband), 1944 ANDI (Großindustrie), FENALCO (Handel) und 1951 ACOPI (Kleinindustrie). Diese Phase reflektiert die Diversifizierung und kommerzielle Erschließung der kolumbianischen Wirtschaft. Zwischen den 1950er und den 1970er Jahren vermehrten sich die zum Teil kleinen und hochspezialisierten Verbände drastisch (total um 1985: rund 150) und nahmen nicht nur die Funktion von Interessenverbänden wahr, sondern boten ihren Mitglieder auch Dienstleistungen an. Die meisten Verbände 39

Zugang zu Krediten, Aufbau von Infrastruktur, Vermarktung.

40

Vgl. Bailey (1977), Dix (1987), Osterling (1988), Martz (1997).

3.3 Interessenverbände

85

arbeiten unterschiedlich eng mit dem Staat zusammen. Die Kombination von Staatsausbau und Herausbildung eines feingliedrigen Netzes von Interessenverbänden war seit den 1950er Jahren ein wichtiges Mittel, angesichts der violencia (1946-1959) eine Entpolitisierung von partikulären Forderungen gegenüber dem Staat zu erreichen. Im Folgenden werden die Beziehungen der kolumbianischen Interessenverbände zum Staat einerseits und zu ihren Mitgliedern andererseits näher diskutiert. Beziehungen zum Staat: 1) Die Produzentenverbände haben je nach ihrer Macht ex officio Sitze in staatlichen Körperschaften inne. Die SAC, die aufgrund der Differenzierung der Interessenrepräsentation der Elite einen Teil ihres früheren Einflusses verloren hat, hatte 1981 Delegierte in folgenden Körperschaften: Im nationalen Agrarrat des Landwirtschaftsministeriums, im Lohn- und Arbeitsrat des Arbeitsministeriums, im Sozialversicherungsinstitut und in der nationalen Eisenbahngesellschaft. Sie konnte somit die Gestaltung von Löhnen und Preisen im Agrarsektor direkt beeinflussen. ANDI, wohl die einflussreichste Organisation, hatte Repräsentanten in über 60 nationalen und regionalen Direktionen. 2) Interpenetration mit der Regierungsspitze: Die größten Verbände haben in ihrem Vorstand Regierungsmitglieder. So bestand in den 1980er Jahren der Vorstand von FEDECAFE aus acht Vertretern der Kaffeepflanzer und sieben Regierungsmitgliedern, darunter der Außenminister, der Finanzminister, der Landwirtschaftsminister, der Entwicklungsminister sowie der Generaldirektor der Agrarbank. Umgekehrt ist der Generaldirektor von FEDECAFE schon als zweitmächtigster Mann Kolumbiens bezeichnet worden. Er hat direkten Zugang zum Präsidenten und ist ständiges Mitglied von zwei der drei wichtigsten Wirtschaftskommissionen: des nationalen Rats für Wirtschafts- und Sozialpolitik und des Hauptrats für Außenhandel. 3) Zu den Jahresversammlungen der Produzentenverbände werden regelmäßig führende Regierungsmitglieder als Redner eingeladen, was diese dazu benützen, wichtige Maßnahmen der Regierung bekannt zu geben. Diese Ereignisse etablieren den Dialog mit dem Staat primär auf einer symbolischen Ebene, die aber nicht unterschätzt werden sollte. In Studien zu anderen lateinamerikanischen Ländern ist die Präsenz von Regierungsmitgliedern an Jahresversammlungen von Produzentenverbänden als Hinweis auf die Etablierung einer institutionalisierten korporatistischen Beziehung zwischen Regierung und Privatwirtschaft interpretiert worden.

86

3. Institutionen der

Interessenartikulation

Beziehungen zu den Mitgliedern: Die Interessenverbände haben sich vor allem seit den 1950er Jahren zu spezialisierten Dienstleistungsunternehmen zugunsten ihrer Mitglieder entwickelt. So ist FEDECAFE nicht allein eine Elite-Organisation, sondern gewährt über 302'000 kleinen Pflanzern, die mit ihren Familien immerhin ca. 6% der Bevölkerung repräsentieren, vielfaltige Dienstleistungen. Die Organisation führt ein mit Zollerträgen finanziertes Ausgleichslager, um Preisschwankungen beim Kaffee abzufedern, organisiert Forschungen zur Züchtung besserer Sorten, die sie dann bei ihren Mitgliedern auch einführt, unterstützt die Bildung von Organisationen, die günstige Kredite vergeben wie Kreditgenossenschaften oder Kooperativen und hat zum Ausbau der ländlichen Infrastruktur beigetragen. 41 Schließlich erfüllt die Organisation parastaatliche Funktionen: Sie führt statistische Erhebungen durch und vertritt die kolumbianische Regierung in internationalen Organisationen. Als anderes Beispiel sei noch auf FENALCO (Handel) hingewiesen. Angesichts der Diversität des Handelssektors wurde die Vereinigung als stark dezentralisierte Dienstleistungsorganisation aufgebaut. FENALCO hat maßgeblich zur Etablierung einer nationalen Handelsbank, einer Handelsversicherung, einer Datenbank mit Informationen zur Kreditvergabe und einer nationalen Clearingstelle für Schecks beigetragen. FENALCO unterhält regionale Zentren mit spezialisierten Juristen, um ihre Mitglieder zu unterstützen. Die Beispiele zu einigen wichtigen Produzentenverbänden zeigen einerseits die Bedeutung der Interessen Wahrnehmung außerhalb der Parteien (sozietaler Korporatismus). Diese wird trotz der vordergründig demokratischen Verhältnisse durch die geringe Effizienz von Parteien und Parlament erklärt, was ich mit der Dominanz der Maschine-Politik und der dadurch bedingten geringen zeitlichen Möglichkeiten der Parlamentarier zur Akkumulation spezialisierten Wissens begründe. Andererseits zeigen die Beispiele eine große Bedeutung der parastaatlichen Funktion der Interessenverbände. Letztlich hängt dies ebenfalls mit der geringen Fähigkeit des politischen Systems im engeren Sinn (Parlament, Regierung) zusammen, Forderungen aus der Bevölkerung zu verarbeiten.

41

Straßen, Brücken, Wasserversorgung, medizinische Versorgung, Schulen.

87

3.3 Interessenverbände

Gewerkschaften Gewerkschaftliche Organisationen verstehen sich als Interessenvertreter von Arbeitnehmern und Lohnabhängigen, also jenen sozialen Gruppen, die keine Verfiigungs- und Kontrollmacht über Produktionsmittel haben. Damit ist eine Rahmenbedingung für die Herausbildung dieser Form von Interessenorganisalion angesprochen: Gewerkschaften können entstehen, wenn ein nennenswerter Teil der Bevölkerung in Arbeits- und Lohnbeziehungen eingebunden ist. Eine Hauptschwierigkeit, mit der die Gewerkschaften konfrontiert sind, ist die Mobilisierung der abhängig Beschäftigten. Neben einer Vielzahl von rechtlichen Einschränkungen durch den Staat, die im Extremfall bis zum Verbot gewerkschaftlicher Aktivitäten reichen, bilden Kommunikationsprobleme und klientelistische Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein großes Hindernis. Diese strukturellen Schwierigkeiten betreffen besonders den informellen Sektor, also Kleinbetriebe mit wenig Angestellten mit häufig nur temporären Arbeitsverhältnissen. Dies bedeutet, dass sich Gewerkschaften vor allem im Bereich des formellen Proletariats etablieren können und entsprechend auch vorwiegend Interessenvertreter des formellen Proletariats sind. Phasen des gewerkschaftlichen

Wandels

Ausformung und Wandel des lateinamerikanischen Gewerkschaftswesens stehen in einem engen Zusammenhang mit den Formen und den Phasen der weltwirtschaftlichen Integration Lateinamerikas. 1) Die Anfange des Gewerkschaftswesens reichen ins späte 19. Jahrhundert zurück, als mit der weltwirtschaftlichen Integration Lateinamerikas als Rohstofflieferant auch Arbeitnehmerverbände entstanden. Die ersten gewerkschaftlichen Aktivitäten erfolgten dabei in jenen Ländern, die früh in die Weltwirtschaft integriert wurden und in jenen Wirtschaftssektoren, die eng mit der Rohstoffexportproduktion verbunden waren. Die wichtigsten Gewerkschaften waren zumeist jene der Eisenbahner und Hafenarbeiter42 oder der Bergwerksarbeiter.43 Daneben bildeten sich aber auch früh Arbeitnehmerorganisationen in der städtischen Leichtindustrie insbesondere im Druckerei- und Textilgewerbe, wobei das handwerkliche Element noch stark 42 43

Beispielsweise in Argentinien, aber auch in Peru. Beispielsweise in Chile, Bolivien oder Mexiko.

88

3. Institutionen der Interessenartikulation

vertreten w a r . 4 4 Aufgrund des hohen Anteils der in der Landwirtschaft Beschäftigten war das gewerkschaftliche Mobilisierungspotential

relativ

klein. Für Chile wird der Organisationsgrad in der gewerkschaftlichen Blütezeit zu Beginn der 1920er Jahre auf lediglich 3 - 4 % geschätzt. 4 5 2 ) Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre und dem damit verbundenen

Machtverlust

der traditionellen

Eliten wurden

die

Gewerkschaften, die über eine effiziente Organisation zur Mobilisierung von Massenunterstützung verfügten, zu begehrten Bündnispartnern von Mittelschichten, aber auch von anti-oligarchisch ausgerichteten Militärs. Als Folge der teilweise staatlich unterstützten Mobilisierung und durch die Erweiterung des Mobilisierungspotentials durch die Binnenindustrialisierung wuchs der gewerkschaftliche Organisationsgrad erheblich. In dieser Phase wurde das institutionelle Gefüge geschaffen, das eine Partizipation der Gewerkschaften innerhalb des politischen Systems erlaubte. 3 ) Mit der Krise der frühen Phasen der Importsubstitution und der damit einhergehenden Etablierung autoritärer Militärregierungen in den 1960er Jahren veränderte sich das politische Umfeld für die Gewerkschaften grundlegend. Ziel dieser Regimes war die Ausgrenzung und die politische Desartikulierung von massenbasierten Interessengruppen. Die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften und damit ihre politische Rolle wurden stark eingeschränkt. In vielen Ländern wurden die Arbeits- und Sozialgesetze zuungunsten der Gewerkschaften revidiert. Grundrechte, wie Versammlungsund Koalitionsfreiheit wurden aufgehoben, das Streikrecht

beschnitten.

Durch die Auflösung von nationalen Dachverbänden oder durch eine Kompetenzverlagerung von den Dachverbänden zu den Betriebsgewerkschaften (z.B. Tarifverhandlungen) wurde die institutionelle Struktur der Gewerkschaften geschwächt. Die Tätigkeit der Gewerkschaften war häufig nur in der Illegalität möglich. Um die Gewerkschaften zu schwächen, wurden ihnen häufig auch ihre Dienstleistungsfunktionen entzogen. Die repressive Politik führte zu einer verstärkten Politisierung. Gewerkschaften spielten daher eine wichtige Rolle im politischen Widerstand. 4 ) In den 1980er Jahren haben sich die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen für die Gewerkschaften in gegensätzlicher Weise entwickelt. Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 1982 und die im Anschluss daran

44

Beispielsweise in Brasilien, Mexiko und Peru.

45

Nolle (1986:29.43).

3.3

89

Interessenverbände

initiierten neoliberalen Anpassungs- und Sparprogramme haben die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften eher geschwächt. Mit dem Verlust von Arbeitsplätzen in gewerkschaftlich überdurchschnittlich organisierten Branchen und Sektoren wie dem Bergbausektor in Bolivien, der Bananenwirtschaft in Costa Rica oder dem Staatssektor in allen Ländern ist es insgesamt zu einem Rückgang der Mitgliederzahlen gekommen. Neue Arbeitsplätze entstanden demgegenüber eher in schwach organisierten Bereichen wie in den neuen Exportsektoren oder im informellen Sektor. Hinzu kommt, dass die Gewerkschaftsbewegung in verschiedenen Ländern zunehmend durch den solidarismo, eine alternative Organisationsform, konkurriert wird. 46 Umgekehrt ist mit der Rückkehr zu demokratischen Strukturen die Gewerkschaftsarbeit wieder legalisiert und dadurch erleichtert worden. 47 Die krisenbedingte Verknappung der staatlichen Ressourcenbasis hat im allgemeinen zu einer Lockerung der Beziehungen zwischen dem politischen Regime und den Gewerkschaften geführt, da die klientelistischen Netze nicht oder zumindest nicht mehr im selben Ausmass finanziert werden können. Das wachsende Konfliktpotential zwischen Staat und Gewerkschaften ergibt sich außerdem auch dadurch, dass der von den staatlichen Strukturanpassungsprogrammen besonders betroffene öffentliche Sektor in der Regel zu den gewerkschaftlich am stärksten organisierten gehört. Hinsichtlich der institutionellen Struktur zeigen sich sowohl Anzeichen wachsender Institutionalisierung wie auch umgekehrt der zunehmenden Fragmentierung. Dies illustrieren die konträren Beispiele von Kolumbien und Costa Rica. In Kolumbien führte die klientelistische Anbindung der Gewerkschaftsführung zu einem wachsenden Konflikt zwischen Basis und Führung. Als Folge davon kam es bei den kooptierten Gewerkschaften zu massiven Abspaltungsbewegungen. Gleichzeitig wurde 1986 unter Führung unabhängiger und kommunistischer Gewerkschaften ein einheitlicher Dachverband außerhalb der kooptierten Gewerkschaften geschaffen, der zu Beginn der 1990er Jahren zur wichtigsten Gewerkschaftszentrale des Landes wurde. 48 In Costa Rica entstand demgegenüber innerhalb der Gewerkschaftsbewegung eine Spaltung über die Frage, welche Strategien die Gewerkschaften gegenüber den staatli-

46

Besonders stark verbreitet ist der solidarismo tel 6.4.

in Costa Rica; ausführlich dazu vgl. Kapi-

47

Vgl. Mc Guire (1992), Rojas Hernández (1993), Grewe und Mols (1994).

48

Lopez-Al ves (1990).

3. Institutionen der

90

Interessenartikulation

chen Sparmaßnahmen ergreifen sollten. Eine gemäßigte Gruppe bemühte sich um einen Stillhaltepakt, während die militante Faktion das Regime mit Streiks der Bananenarbeitergewerkschaft unter Druck setzte. Die Niederlage der militanten Gewerkschaftsgruppen gegen Arbeitgeber und Staat führten zu einem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften im politischen System. 4 9 Institutionelle Struktur und

Mitgliedschaft

Das Gewerkschaftswesen in Lateinamerika ist zumeist stark fragmentiert. So existieren gemäß den jeweiligen arbeitsrechtlichen Bestimmungen verschiedene konkurrierende Organisationstypen, die außerdem ideologisch unterschiedlich ausgerichtet sind. In den meisten Ländern kann zwischen Betriebsgewerkschaften, lokalen Industriegewerkschaften, Berufsgewerkschaften, Gewerkschaften verschiedener Berufe, regionalen und nationalen Branchengewerkschaften sowie branchenübergreifenden, nationalen Dachverbänden unterschieden werden. Am weitesten verbreitet sind Betriebsgewerkschaften und lokale Industrie- und Berufsgewerkschaften. Die Segmentierung des Gewerkschaftswesens wird noch dadurch verstärkt, dass es keine umfassende vertikale Integration gibt. So sind Betriebsgewerkschaften oder lokale Industriegewerkschaften nicht notwendigerweise in der entsprechenden Berufsgewerkschaft organisiert, sondern können sich direkt einem nationalen Dachverband anschließen oder auch unabhängig bleiben. Überregionale und branchenübergreifende Gewerkschaften sind im Vergleich zu den lokalen Verbänden meist schwach. Außerdem existieren in der Regel verschiedene ideologisch konkurrierende Dachverbände. Neben kommunistischen, sozialdemokratischen und christdemokratischen Dachverbänden, die zumeist den jeweiligen Weltgewerkschaftsverbänden angehören, bestehen noch weitere (z.B. verschiedene populistische) Dachverbände. 5 0 Der Einfluss der Dachverbände auf ihre Mitgliedsgewerkschaften ist zumeist schwach. Tarifver49 50

Vgl. weiter unten, Kapitel 6.4. In Kolumbien beispielsweise existierten bis Mitte der 1980er Jahre vier Dachverbände: Die sozial-liberale CTC (Confederación de Trabajadores de Colombia), die der liberalen Partei nahesteht (1974 ca. 25%), die christlich-konservative UTC (Unión de Trabajadores de Colombia), 1946 von Jesuiten gegründet, die enge Beziehungen zur konservativen Partei hat (1974 ca. 40%), die kommunistische CSTC (Confederación Sindical de Trabajadores de Colombia-, 1974 20-25%) und die christlich-soziale CGT (Confederación General de Trabajo-, 1974 10-15%), eine linke Absplitterung der UTC (Rott 1979:136ff.). Ähnliches gilt für Peru (vgl. die Fallstudie in Kapitel 4.4).

3.3 Interessenverbände

91

handlungen werden häufig auf lokaler Ebene von Betriebsgewerkschaften autonom geführt. Allerdings gibt es auch Länder mit einer weniger fraktionierten Struktur. In Chile konnte sich ein einheitlicher Dachverband (CUT, Central Unica de Trabajadores) durchsetzen, der ca. 70% der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer vertrat und von den Kommunisten und Sozialisten dominiert wurde. 51 In den korporatistisch an den Staat gebundenen Gewerkschaften dominiert die Einheitsgewerkschaft, so zum Beispiel in Mexiko, wo die mit der Regierungspartei verbundene CTM (Confederación de Trabajadores de México) über 50% aller gewerkschaftlich Organisierten auf sich vereinigt, oder in Argentinien unter Perón, wo der repräsentativsten Gewerkschaft eines Industriezweigs von der Regierung das Vertretungs- und Verhandlungsmonopol verliehen wurde. 5 2 Erwartungsgemäß liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Länder mit einer stärkeren industriellen Basis generell höher — z.B. Argentinien, Chile, Mexiko — als in schwach industrialisierten Staaten. Der Organisationsgrad ist aber zusätzlich davon abhängig, wie stark die Gewerkschaften in das politische Regime eingebunden sind. Er ist vor allem in jenen Ländern groß, in denen die gewerkschaftliche Mobilisierung durch das Regime unterstützt wurde. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist darüber hinaus in den verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren sehr unterschiedlich. Die Rahmenbedingungen für die Organisierung der Beschäftigten sind in Großbetrieben generell besser als in Kleinunternehmen. Besonders ungünstig sind die Voraussetzungen in der Landwirtschaft, ausgenommen die kapitalintensive Exportwirtschaft. Den höchsten Organisationsgrad weisen in der Regel der Transportsektor, der öffentliche Dienst, der Bergbau und die verarbeitende Industrie auf. Beziehung zum politischen

System

Die Beziehungen der lateinamerikanischen Gewerkschaften zum politischen System sind geprägt durch gegensätzliche Strategien: Der politischen Integration durch korporatistische und klientelistische Bindungen stehen Desartikulationsstrategien seitens der Staatsmacht und Autonomiebestrebungen seitens

51

Nolte (1986).

52

Ähnlich auch in Kuba unter Batista; vgl. Spalding (1977).

53

Ausgeprägt in Mexiko, Argentinien, Brasilien; vgl. Mielke (1983).

92

3. Institutionen

der

Interessenartikulation

der Gewerkschaften gegenüber. Entsprechend ihrem Grad der Anbindung an das politische Regime lassen sich drei Typen unterscheiden: 1) Regierungs- oder Einheitsgewerkschaften mit einer korporatistisch strukturierten Beziehung zum herrschenden Regime: Einheitsgewerkschaften erhalten als Gegenleistung für ihre politische Unterstützung vom Regime ein Vertretungs- und Verhandlungsmonopol für den Sektor der Arbeitnehmerschaft. 5 4 Typische Beispiele sind die peronistische CGT (Confederación General de Trabajo) und die mexikanische CTM (Confederación de Trabajadores de México). Die enge Bindung an das herrschende Regime vergrößerte die Ressourcenbasis dieser Gewerkschaften durch staatlich unterstützte Eintreibung von Gewerkschaftssteuern, Beiträge von Unternehmen, Zugang zu staatlichen Patronageressourcen beträchtlich. Neben der Tarifpolitik auf betrieblicher und berufsständischer Ebene beinhaltet die Haupttätigkeit dieser Gewerkschaften die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen für ihre Mitglieder. Dazu zählen Rechtshilfe, Bildungsprogramme, Frei Zeiteinrichtungen und medizinische Versorgung. Gewerkschaften, die über korporatistische Beziehungen an den Staat gebunden sind, übernehmen auch staatliche Funktionen im Gesundheits- und Sozialversicherungsbereich: In Argentinien verwalteten die peronistischen Gewerkschaften beispielsweise die von Arbeitgebern und Arbeitnehmer über Lohnprozente finanzierten Sozialeinrichtungen wie Altersheime und Krankenhäuser. 55 Die Gewerkschaften verwandelten sich dadurch allmählich in Dienstleistungskonglomerate, geführt von einer Arbeiteraristokratie, die nur noch wenig Beziehungen zur Basis hatte. Die Bereitstellung von Dienstleistungen für die Mitglieder ermöglichte gleichzeitig die Befriedung und Demobilisierung der gewerkschaftlichen Basis. 2) Richtungsgewerkschaften mit klientelistischen Bindungen an das politische Regime oder an Eliteparteien: Wie erwähnt, bestehen in den meisten Ländern ideologisch konkurrierende Richtungsgewerkschaften. Insbesondere in Ländern, in denen keine radikale populistische Umgestaltung des politischen Systems stattfand, haben die Eliten die Gewerkschaften über eine klientelistische Anbindung der Gewerkschaftsführung ins politische System integriert. Beispiele dafür sind Ecuador, Kolumbien, Uruguay und El Salvador. Das Ziel war dabei weniger, dem Regime eine Massenbasis zu verschaffen, sondern vielmehr die Kontrolle über die massenbasierte Interessenartiku-

54

Vgl. die Definition des Korporatismus in Kapitel 2.

55

Vgl. James ( 1 9 8 8 : 1 6 9 ) .

3.3

Interessenverbände

93

lation zu erhalten. Die Integration der Arbeiterschaft war deshalb immer gepaart mit Desartikulation und Repression. Das Grundproblem dieses Typus besteht in der Entfremdung der kooptierten Gewerkschaftsführung von einer zunehmend militanten Basis, die im Gegensatz zum korporatistischen Typ weit weniger von sozialen Dienstleistungen profitiert. Die ungenügende Aktionsbereitschaft der Gewerkschaftsführung zusammen mit mangelhaften Dienstleistungsangeboten kann zu Mitgliederschwund, zu Absplitterungen und zu gewerkschaftlichen Neugründungen führen. Dies erklärt die geringe institutionelle Konstanz des Gewerkschaftswesens in den meisten Ländern dieses Typs. Klientelistische Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Staat entwickeln sich nicht nur in Eliteherrschaften, sondern auch in populistischen Regimes, wobei in diesen Fällen auch Massenklientelismus eine wichtige Rolle spielt — im Gegensatz zu den personalistisch organisierten Klientelbeziehungen bei Eliteherrschaften. Ein Beispiel dafür sind die zwei großen konkurrierenden Gewerkschaften Jamaikas, BITU (Bustamante Industriell Trade Union) und NWU/TUC (National Workers' Union/Trade Union Congress of Jamaica), die beide von charismatischen Führern gegründet und geleitet wurden — die BITU von Alexander Bustamante, NWU/TUC von seinem Cousin Norman Manley. Die Gewerkschaften und ihre Führer spielten eine wichtige Rolle in der Unabhängigkeitsbewegung. Jamaika wurde 1962 formell unabhängig, hatte aber ab 1944 begrenzte Autonomie. Mit den ersten Wahlen liierten sich beide Gewerkschaften mit den politischen Parteien ihrer Führer: BITU mit der JLP (Jamaican Labour Party), NWU/TUC mit der PNP (People's National Party). Seit den ersten Wahlen wechselte nach jeder zweiten Wahl, also alle 8-10 Jahre, die Regierungsverantwortung. Mit dem Regierungswechsel verändert sich auch der Zugang zu den staatlichen Patronageressourcen, was zu wiederholten Mitgliederwanderungen zwischen den zwei Gewerkschaften führte. 5 6 3) Oppositions- bzw. autonome Gewerkschaften: Oppositionelle Richtungsgewerkschaften und unabhängige Gewerkschaften verfolgen eine autonome, vom politischen Regime unabhängige Politik. In der Regel handelt es sich dabei um sozialistische und kommunistisch ausgerichtete Gewerkschaften oder um schwach institutionalisierte Basisgewerkschaften, die keinem Dachverband angehören. Unabhängige Gewerkschaften sind die militantes56

Mielke (1983).

94

3. Institutionen der

Interessenartikulation

ten. Betrachtet man beispielsweise die Streikaktivitäten in Kolumbien, so zeigt sich, dass die mit den herrschenden Eliteparteien liierten Gewerkschaften (die den Konservativen nahestehende UTC und die mit den Liberalen assoziierte CTC) eine deutlich niedrigere Streikneigung aufweisen, als die vom Regime ausgegrenzte kommunistische CSTC und die unabhängigen Gewerkschaften. 57 Unabhängige Gewerkschaften waren besonders in der Frühphase der lateinamerikanischen Gewerkschaftsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitet, als ihre Beziehung zum politischen System durch Ausgrenzung und fehlende Partizipation charakterisiert war. Dazu gehörten unter anderem Organisierungs- und Streikverbote sowie die rechtliche Verfolgung von Gewerkschaftsführern. Ähnliches gilt auch für die Zeit der autoritären Militärregierungen der 1960er und 1970er Jahre. Ob die neoliberale Umgestaltung der lateinamerikanischen Ökonomien längerfristig zu einer größeren Autonomie des Gewerkschaftswesen gegenüber dem Staat beitragen wird, ist aufgrund der widersprüchlichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern demgegenüber ungewiss.

3.4 Soziale

CO

Bewegungen

Soziale Bewegungen sind im Gegensatz zu Parteien und Verbänden nur schwach institutionalisiert. Ihnen fehlt insbesondere eine formale Organisation. Sie haben deshalb häufig einen spontanen Charakter und werden von Bevölkerungsgruppen getragen, die nicht oder nicht ausreichend in das politische System integriert sind. Soziale Bewegungen entstehen aus Protest gegen bestimmte soziale Verhältnisse und sie richten die entsprechenden Forderungen an die Herrschaftseliten — in der Regel an den Staatsapparat, teilweise auch an die Repräsentanten der Wirtschaft. Gewöhnlich handelt es sich um konkrete Themen wie die Forderung nach Land bei Bauernbewegungen oder nach Preisreduktionen bei städtischen Lebenshaltungskostenbewegungen. Ideologisch ausgefeilte Programme sind hingegen wenig relevant. Neben dem Themen- und Problembezug spielen charismatische Führerinnen und Führer eine wichtige Rolle für die Integration der Bewegung. Beispiele 57

Lopez-Alves (1990:123).

58

Vgl. dazu die Fallstudien in Kapitel 6.

3.4 Soziale

Bewegungen

95

dafür sind Evita Perón für die argentinische Frauenbewegung oder Chico Mendes für die brasilianische Bewegung der Gummizapfer. Dieses Element deutet auf die große Bedeutung populistischer Techniken hin. Soziale Bewegungen sind aufgrund ihrer strukturellen Eigenschaften, zu denen schwache Institutionalisierung, Protestverhalten, konkreter Themenbezug und fehlende ideologische Verankerung gehören, auch willkommene Bündnispartner für populistische Führer oder populistische Regimes. Soziale Bewegungen entstehen in Situationen, in denen die von ihnen aufgegriffenen Themen und Problemfelder von den traditionellen Institutionen der Interessenvertretung vernachlässigt werden oder wenn Parteien und Verbände nicht genügend präsent sind, wie dies im informellen ländlichen und städtischen Sektor in Lateinamerika häufig der Fall ist. Aus diesen Gründen bietet sich die Organisationsform der sozialen Bewegungen insbesondere für die Interessenartikulation marginalisierter Gruppen an. Seit den 1970er Jahren ist in verschiedenen Ländern Lateinamerikas ein Anwachsen der Aktivitäten von sozialen Bewegungen zu beobachten. 60 Ein wichtiger Grund hierfür war die Auflösung der traditionellen formalen Institutionen der Interessenrepräsentation wie Parteien und Gewerkschaften durch die Militärregierungen. Soziale Bewegungen übernahmen in der Folge auch Funktionen von Parteien und Gewerkschaften, so in Chile und Argentinien. Mit dem Übergang zu demokratischen Strukturen zerfielen viele dieser Bewegungen, da ihre Anliegen wieder von Gewerkschaften und Parteien aufgegriffen wurden. Teilweise kam es auch zu einer direkten Integration von Teilen früherer sozialer Bewegungen in das Gewerkschaftswesen. Ein anderer hauptsächlich in den 1980er und 1990er Jahren bedeutsamer Faktor für die Zunahme sozialer Bewegungen bildet die Ressourcenknappheit des Staates und die in diesem Zusammenhang durchgeführten Sanierungsund Stabilisierungsprogramme.61 Im städtischen Bereich hatte dies zur Folge, dass der Staat weniger Möglichkeiten hatte, dringende sozialpolitische Maßnahmen durchzuführen. Dadurch öffnete sich für soziale Bewegungen einerseits ein politischer Raum zur Artikulation von Forderungen, andererseits

59 60

61

Tanow (1994). Vgl. hierzu Seligson und Booth (1979), Slater (1985), Foweraker und Craig (1990), Camacho und Menjivar (1989), Reusch und Wiener (1991), Escobar und Alvarez (1992), Haber (1992), Olvera (1995). Ausführlich dazu vgl. die Fallstudien zu Mexiko und Costa Rica in Kapitel 6.

3. Institutionen der

96

Interessenartikulation

zeigte sich auch die Notwendigkeit von Selbsthilfeaktionen. Im ländlichen Bereich führte die Strukturanpassungspolitik unter anderem zu einer Kreditverknappung, die besonders Kleinbauern betraf, zu einer verstärkten Konkurrenz der Binnenmarktproduktion durch den Abbau von Preisgarantien und zu einer verstärkten Nachfrage nach Land als Folge der Ausdehnung der landwirtschaftlichen Exportproduktion. Soziale Bewegungen sind aufgrund ihrer schwachen Institutionalisierung häufig kurzlebig und instabil. Rasche Mobilisierungsphasen wechseln abrupt mit Phasen der Demobilisierung, was zu eigentlichen Mobilisierungs- und Protestzyklen führt. 6 2 Integration und Zusammenhalt wird über Erfolg zwar verbessert, gleichzeitig kann der Erfolg einer sozialen Bewegung aber auch ihr Ende bedeuten, da der Problembezug entfällt. Eine Möglichkeit zur Stabilisierung der Bewegung besteht in ihrer Institutionalisierung als eigenständige Organisation oder in Verbindung mit bestehenden Verbänden oder Parteien. Die Beziehungen sozialer Bewegungen zum politischen System sind geprägt durch das Wechselspiel von Autonomie und klientelistischer Anbindung. Soziale Bewegungen entstehen zunächst als autonome Organisationen der Interessenartikulation. Ist ihre Mobilisierung und ihr Drohpotential genügend groß, kann es zu einer zumindest partiellen Berücksichtigung ihrer Forderungen kommen. Da die Forderungen sozialer Bewegungen zumeist an den Staat gerichtet sind, ist die Voraussetzung für eine klientelistische Beziehung grundsätzlich gegeben. Der Staat kann sich auf diese Weise eine soziale Basis im mobilisierten, zumeist informellen Sektor verschaffen. Die schwache Institutionalisierung, die sozialen Bewegungen eigen ist, ist dabei ftir die Staatsmacht attraktiv, da sie die Einrichtung stabiler klientelistischer Beziehungen erleichtert. Auch wenn sich soziale Bewegungen bewusst außerhalb der herkömmlichen politischen Institutionen artikulieren, zielen sie somit letztlich immer auf eine politische Integration ab. Soziale Bewegungen können nach ihren Trägern beziehungsweise ihrer sozialen Basis gegliedert werden. Dies bestimmt zu einem beträchtlichen Teil auch die Forderungen sowie die angewandten Mobilisierungsstrategien. Zu den wichtigsten sozialen Bewegungen Lateinamerikas gehören Bauern- und Landlosenbewegungen, Stadtteil- und Nachbarschaftsbewegungen, Bewegungen indigener Völker, Menschenrechtsbewegungen, Bewegungen kirchli62

Tarrow (1994).

3.4 Soziale

Bewegungen

97

eher Basisgemeinden, Frauenbewegungen, Studentenbewegungen und Ökologiebewegungen. Bauernbewegungen artikulieren die Interessen von Kleinbauern und Landlosen, wobei es sich aufgrund der heterogenen sozialen Gruppen mit ihren zum Teil gegensätzlichen Interessenlagen zumeist um institutionell getrennte Bewegungen handelt. Mitglieder von Kleinbauembewegungen sind campesinos, die über eigenes oder gepachtetes Land verfügen. Großbauern sind nicht mit eingeschlossen, da sich diese üblicherweise in den traditionellen Landwirtschaftskammern organisieren. Zentrale Forderungen von Kleinbauernbewegungen sind Verbesserungen der Produktionsbedingungen, wie bessere Kreditbedingungen, Erhöhung oder Rücknahme von Senkungen der Produzentenpreise, Beratung, Infrastruktur und Vermarktung. Um ihre Forderungen durchzusetzen, organisieren Bauernbewegungen Demonstrationen und Straßenblockaden, teilweise bauen sie auch Produktions- und Vermarktungsgenossenschaften auf. 6 3 Im Mittelpunkt der Aktivitäten von Landlosen- und Landarbeiterbewegungen steht demgegenüber der Kampf um Landressourcen. Gefordert werden beispielsweise Agrarreformen mit der Enteignung von unzureichend genutztem oder ungenutztem Land. Methoden der Interessenvertretung bilden in erster Linie Landbesetzungen. Die Entstehung von Stadtteil- und Nachbarschaftsbewegungen muss vor dem Hintergrund der massiven Verschlechterung der materiellen Versorgung als Folge der Wirtschaftskrise der 1980er Jahre interpretiert werden. Bewegungen des städtisch informellen Sektors waren allerdings bereits in den 1960er und frühen 1970er Jahren von großer Bedeutung, wobei es damals in erster Linie um die Legalisierung illegal erstellter Siedlungen ging. Da in den 1980er Jahren Frauen und Kinder von der materiellen Unterversorgung und den hohen Lebenshaltungskosten besonders betroffen waren, spielten sie bei der Mobilisierung von städtischen Bewegungen häufig die zentrale Rolle. Beispiele dafür sind die Volksküchenbewegung in Peru oder die Hausfrauenbewegung in Argentinien. Die Forderungen dieser Bewegungen beziehen sich auf die Legalisierung des Wohnbesitzes, Preisreduktionen auf Nahrungsmitteln sowie den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie dem Transportwesen, der Energie- und Wasserversorgung und der Gesundheitsversorgung. Neben Landbesetzungen, Protestmärschen, Demonstrationen und 63

Zu Bolivien vgl. Krempin (1986), zu Costa Rica Weller (1991), zu Mexiko Harvey (1990a, 1990b).

98

3. Institutionen der

Interessenartikulation

Kaufstreiks spielt der Aufbau von Selbsthilfeorganisationen wie beispielsweise Volksküchen eine wichtige Rolle. Menschenrechtsbewegungen entstanden als Folge massiver Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Militärregimes während den 1970er Jahren. Auch bei der Mobilisierung dieser Bewegungen spielten Frauen eine tragende Rolle, so etwa in Argentinien und Uruguay. Nach der Demokratisierung war eine zentrale Forderung dieser Bewegungen, die Amnestiegesetze, die zum Schutz der Militärs erlassen worden waren, wieder aufzuheben. Ein Beispiel dafür war die Comisión Nacional pro Referéndum, die sich in Uruguay Ende der 1980er Jahren formiert hatte, um die von der Regierung erlassene Generalamnestie sämtlicher durch Polizei und Militär in Zusammenhang mit Antisubversionsaktionen begangener Verbrechen zu bekämpfen. Trotz der fehlenden organisationeilen Basis sammelte diese Bewegung innerhalb kurzer Zeit die für ein Referendum notwendigen Unterschriften (630'000). Nach der Abstimmungsniederlage von 1989 löste sich die Bewegung jedoch rasch auf. Die Politisierung vor allem in der Hauptstadt dürfte aber dazu beigetragen haben, dass bei den Wahlen von 1990 ein linkes Bündnis die hauptstädtische Verwaltung übernehmen konnte. 6 4 Bewegungen indigener Völker stützen sich auf die jeweiligen ethnischen Gruppierungen. Im Mittelpunkt ihrer Forderungen stehen die Wahrung ihrer kulturellen Identität, territoriale Rechte und Schutz traditioneller Lebens- und Produktionsräume gegenüber wirtschaftlicher Erschließung und Ressourcenplünderung sowie politische Selbstbestimmungsrechte. Indigene Bewegungen entstanden hauptsächlich in Ländern und Regionen mit umfangreichen, marginalisierten indigenen Bevölkerungsteilen, so etwa in Guatemala und in Mexiko. Die große Stärke dieser Bewegungen, die Nutzung ethnischer Identität als Mobilisierungsbasis, ist zugleich ihre größte Schwäche, da dadurch die Bildung von ethnienübergreifenden Allianzen erschwert wird. Die Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere der Aufstand indigener Völker in Chiapas, machen dennoch deutlich, dass indigene Bewegungen in Lateinamerika künftig ein wichtiger politischer Faktor sein werden. 65 In verschiedenen Ländern Lateinamerikas sind als Folge der Umweltprobleme Ökologiebewegungen entstanden, die zum Teil mit indigenen Bewegungen verbunden sind. Im Gegensatz zu den Umweltbewegungen in den 64 65

Seligmann (1991). Harvey (1996), Karlen und Wimmer (1996).

3.4 Soziale

Bewegungen

99

hochentwickelten Zentrumsgesellschaften artikulieren die meisten dieser Bewegungen nicht in erster Linie postmaterialistische Wertvorstellungen wie Selbstverwirklichung, Partizipation und andere ideelle Werte. Ihr Mobilisierungserfolg beruht im Gegenteil gerade darauf, dass sie die Umweltproblematik direkt mit der unzureichenden oder bedrohten materiellen Versorgung verbinden. Ein Beispiel dafür ist die Bewegung der Gummizapfer im brasilianischen Amazonasgebiet. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Beziehungen zwischen Ökologiebewegungen in Peripherie- und Zentrumsgesellschaften. Die Bewegungen der Gummizapfer und der indigenen Völker in Brasilien verfügten beispielsweise über sehr gute Kontakte zu Umweltschutzbewegungen und Nichtregierungsorganisationen in westlichen Industrieländern. So luden amerikanische Ökologiegruppen Vertreter der brasilianischen Bewegung nach Washington ein und vermittelten Gespräche mit Parlamentariern und Weltbankvertretern, was dazu beitrug, dass sich die Weltbank aus bestimmten Projekten zurückzog und bei der brasilianischen Regierung intervenierte. 66 Dieses Beispiel zeigt, dass sich in spezifischen Bereichen Ansätze einer "globalen" Zivilgesellschaft herausbilden können. 6 7 Soziale Bewegungen haben sich verschiedentlich zu Guerillabewegungen weiterentwickelt, insbesondere wenn das herrschende politische Regime die Mobilisierung mittels Repression zu unterbinden versuchte. Dies gilt besonders für die Studentenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Die schlagkräftigste Guerillabewegung der 1980er Jahre, der sendero luminoso in Peru ging aus einer radikalen Studentenfront hervor. Auch der FSLN in Nicaragua (Frente Sandinista de Liberación Nacional) wurde von Studenten gegründet. Desgleichen stützte sich die in den 1960er Jahren insbesondere in Argentinien, Brasilien und Uruguay aktive Stadtguerilla hauptsächlich auf radikale Gruppen der Studentenschaft. 68 Das aktuelle Beispiel der Zapatistischen Guerillabewegung EZLN in Mexiko (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) verdeutlicht, dass auch indigene Bewegungen und Bauernbewegungen zur bewaffneten Auseinandersetzung übergehen können. Auch im Falle der EZLN spielten studentische Gruppen aus der zerschlagenen Stadtguerilla der 1970er Jahre eine wichtige Rolle für Mobilisierung und Aufbau

66 67 68

Seul (1989). Held (1995). Vgl. dazu Waldmann (1983a), Ziegler (1986), Hertoghe und Labrousse (1990), Wickham-Crowley (1991).

100

3. Institutionen

der

Interessenartikulation

der Guerilla. 69 Guerillabewegungen unterscheiden sich in verschiedener Hinsicht von sozialen Bewegungen. Neben der bewaffneten Form der Auseinandersetzung sind es die straffe Organisation und eine Sozialrevolutionäre Ideologie. Damit Guerillabewegungen politischen Erfolg erreichen können, sind sie auf die Unterstützung durch die zivilen Interessengruppen wie soziale Bewegungen, Gewerkschaften aber auch Parteien angewiesen. Erst die Schaffung eines breit abgestützten Bündnisses mit Gewerkschaften, Parteien, sozialen Bewegungen, der Kirche und den Unternehmern ermöglichte es dem FSLN in Nicaragua die Familiendynastie von Somoza zu stürzen. Auch die erstaunliche Stärke und Einflusskraft der mexikanischen Zapatisten ist nicht auf ihre Zahl oder ihre Waffen zurückzuführen, sondern auf die breite Unterstützung und Sympathie, die sie bis weit in die Mittelschicht hinein zu mobilisieren vermochten.

69

Vgl. Kapitel 6.3.

4 Politische Regimes und Regimewandel "Womit lässt sich einfacher, schneller und mächtiger mit der nationalen Produktion zugleich der Reichtum der Privatleute und des Staates mehren? Womit lässt sich dies entschiedener und einfacher herbeiführen als durch die Verkehrswege. (...) In Peru werden die Schienenwege alles schaffen: Handel, Industrie und sogar Eigentum (...)." "Wir versprachen dem Land eine Politik des Wandels, der die Entwicklung des Landes ermöglichen sollte. Wir halten Wort. Wir versprachen dem Land die in der Vergangenheit so oft angekündigten Strukturreformen. Wir führen sie durch. (...) Wir wollen und wir machen eine zutiefst peruanische Revolution." Manuel Pardo (erstes Zitat) und Juan Velasco (zweites Zitat), peruanische Staatspräsidenten 1872-1876 bzw. 1968-1975. 1

4.1

Überblick

Ziel dieses Kapitels ist es, Struktur und langfristigen Wandel der politischen Systeme Lateinamerikas im 20. Jahrhundert auf der Grundlage des Konzeptes des politischen Regimes zu beschreiben. Zu diesem Zweck wird in Abschnitt 4.2 das Regimekonzept erläutert und eine Typologie politischer Regimes entwickelt. In Abschnitt 4.3 werden die sieben idealtypischen Regimeformen anhand ihrer allianzmäßigen sozialen Basis und ihrer strukturellen Charakteristika, das heißt der Herrschaftstechniken, der Formen der Interessenartikulation, der Staatsfunktionen sowie der Machterhaltungsprobleme genauer dargestellt. Danach wird in Abschnitt 4.4 anhand einer detaillierten Regimefallstudie die spezifische Dynamik einer einzelnen Regimeepisode beleuchtet: das reformistische Militärregime von Velasco in Peru einschließlich Vorgeschichte und Hinterlassenschaft. Der abschließende Abschnitt 4.5 präsentiert sodann generalisierende empirische Ausagen zur langfristigen Dynamik populistischer Regimes und zum historischen Regimewandel in Lateinamerika auf der Basis eines regimevergleichenden, quantitativen Ansatzes für das gesamte 20. Jahrhundert.

1

Zit. in Kornberger (1988: 66,84).

102

4. Politische Regimes und

Regimewandel

4.2 Konzept und Typologie: Strukturelle Eigenschaften unterschiedlicher Regimeformen Der Begriff des politischen Regimes bezieht sich — wie im einleitenden Kapitel beschrieben — auf die die soziale Verankerung der Staatsführung. Er bezeichnet die formelle oder informelle Allianzbildung zwischen politisch relevanten Klassen und Gruppen, die zum Zweck der politischen Machtausübung, nämlich der Kontrolle über Staats- und Regierungsführung, eingegangen wird. Regimes unterscheiden sich systematisch durch die ihnen zugrundeliegende Allianz von Klassen und Gruppen. Ausgangspunkt der im folgenden dargestellten Typen politischer Regimes ist deshalb die Bestimmung von politisch relevanten sozialen Klassen und Gruppen. 2 Die Klassenstruktur Lateinamerikas lässt sich nicht alleine durch das aus marxistischer Perspektive relevante Kriterium des Besitzes an bzw. der Kontrolle über Produktionsmittel bestimmen. Vielmehr definieren auch die Form der Arbeitsverhältnisse und die Form des Erwerbseinkommens unterschiedliche Interessenlagen. Beim Erstgenannten ist der Gegensatz zwischen formeller, vertraglich geregelter Anstellung und ungeschützten Verhältnissen im informellen Sektor von Bedeutung, beim Letzeren die Unterscheidung zwischen Profiten, Salären, Honoraren und Tributen oder Pfründen. Neben den Produktions- und Arbeitsverhältnissen spielen des Weiteren auch raumbezogene infrastrukturelle Verhältnisse eine wichtige Rolle für die Mobilisierung gemeinsamer Interessen: Prekäre Wohnverhältnisse und fehlender oder mangelhafter Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen können klassen- und gruppenübergreifende Interessen bewirken. Ebenso können ethnische und religiöse Zugehörigkeiten Ausgangspunkt von Mobilisierungsprozessen sein, wobei sich ethnische und klassenbestimmte Konfliktlinien überlagern können. Schließlich dürfen auch "strategische Gruppen", d.h. einflussreiche politische Interessen, die nicht klassen-, sondern eher gruppenmäßig organisiert sind, nicht vergessen werden. Damit sind besonders Berufsgruppen angespro-

2

Der hier vertretene Regimebegriff orientiert sich an Evans (1989,1992,1995) sowie den späten Arbeiten von Peter Heintz. Die von Heintz zusammen mit Hischier entwickelte formale Regimetypologie basiert im Wesentlichen auf Allianzstrukturen zwischen politischer Macht, wirtschaftlicher Macht und Massenpotentialen, nimmt jedoch wenig Bezug auf die konkreten politischen Allianzen (vgl. Heintz und Hischier 1983a, 1983b, Hischier 1987).

4.2 Konzept und Typologie

103

chen, die auf institutionelle Machtgrundlagen zurückgreifen können, wie etwa Gruppierungen innerhalb des Militärs oder der Kirche aber auch der Unternehmerschaft. 3 In Anlehnung an Portes lassen sich im Einzelnen die folgenden sozialen Klassen und Gruppen unterscheiden, die für die Frage von Regimeallianzen von Bedeutung sind: 4 1) Zur Staatsklasse oder bürokratischen Klasse gehören das Militär und die Verwaltungsspitzen der zivilen Bürokratie. Zwar liegt das Hauptinteresse der Staatsklasse in der Selbstprivilegierung, also in der Selbsterhaltung, der Ausdehnung und in der wirtschaftlichen Besserstellung. Da jedoch bürokratische Institutionen in verschiedenen Ländern und über die Zeit hinweg unterschiedlich ausgeprägt sind, kann die Staatsklasse dieses Hauptinteresse politisch unterschiedlich formulieren und in verschiedenartige Allianzen einbringen. 2) Das Großbürgertum setzt sich aus verschiedenen Gruppen mit zum Teil gegensätzlichen Interessen zusammen. Seine wirtschaftliche Basis liegt im Großgrundbesitz und dem darauf basierenden Agrarexportsektor, im Bergbau, im Handels- und Finanzsektor sowie in der Industrie. Das Großbürgertum zerfallt meist in unterschiedliche Faktionen. Diese unterscheiden sich klassenmäßig voneinander: Besitzer von traditionellen, wenig kommerzialisierten haciendas, verschiedene exportorientierte Gruppen, Handels- und Finanzbürgertum, Industriebürgertum und ausländisches Unternehmertum. Des Weiteren grenzen sie sich ideologisch ab — liberal vs. konservativ — oder durch ihre unterschiedliche regionale Basis. Die Unternehmerschaft der importsubstituierenden Industrie etwa entwickelt andere Interessen als die mit dem Export von Primärgütern assoziierten Gruppen. 3) Die städtische Mittelschicht besteht aus dem Bildungsbürgertum, den freien Berufen — Ingenieuren, Juristen, Ärzten etc. — und aus nummerisch unfangreichen Randgruppen der Staatsklasse, die sozial weit von den bürokratischen Verwaltungsspitzen entfernt sind. Dazu gehören Lehrer und untere Verwaltungsangestellte. 4) Das formale städtische und ländliche Proletariat verfügt über rechtlich gesicherte Arbeitsverhältnisse und ist zumeist in den großen Unternehmen angestellt. In der Regel sind diese Gruppen gewerkschaftlich organisiert. 5) Das informelle Kleinbürgertum setzt sich aus Klein- und Familienunternehmen zusammen. Wirtschaftlich ist es zum Teil über Subcontracting-Ver3 4

Vgl. dazu Evers und Schiel (1988). Portes (1985).

104

4. Politische Regimes und

Regimewandel

hältnisse mit dem formellen Unternehmenssektor liiert. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass sich das informelle Kleinbürgertum häufig aus der formellen Arbeiterschaft rekrutiert.5 6) Das informelle städtische und ländliche Proletariat bildet die soziale Unterschicht. Ihre Arbeitsverhältnisse sind ungeschützt und häufig besteht kein Zugang zur sozialen Infrastruktur wie Versicherungswesen und öffentlichen Dienstleistungen. Das informelle Proletariat ist in der Regel nicht gewerkschaftlich organisiert. Auf der Grundlage dieser Klassenverhältnisse und Grupppeninteressen werden folgende sieben idealtypische Formen politischer Regimes unterschieden: 1) "Staatsklassenregimes", die auf der Staatsbürokratie fußen; 2) "Exportbourgeoisien", die sich auf die exportorientierten Segmente des Großbürgertums, insbesondere Produzenten von Rohwaren wie Pflanzer und Minenbesitzer sowie auf die Handels- und Finanzinteressen stützen; 3) "Industriebourgeoisien", die auf einer Allianz von einheimischem Industriebürgertum, Staatsklasse und ausländischen Wirtschaftsinteressen basieren; 4) "mittelschichtsbasierte populistische Regimes", charakterisiert durch eine Allianz von Teilen der traditionellen Elite und der formalen Mittelschicht; 5) "unterschichtsbasierte populistische Regimes", die sich auf eine breite Allianz zwischen formalem Proletariat — Arbeiterschaft, organisierter Bauernschaft — und/oder des informellen Sektors mit Teilen der Mittelschicht und der Staatsklasse, unter Umständen auch des nationalen Industriebürgertums stützen; 6) "desartikulierte Regimes", deren soziale Basis sehr schmal ist und sich weitgehend auf technokratische Segmente innerhalb der Staatsklasse beschränkt; 7) "Übergangsperioden", in denen sich kein stabiler Herrschaftspakt herauszubilden vermag. Konkrete Allianzformen, also die "Realtypen" weisen aufgrund von Misch- und Übergangsformen gewöhnlich nicht die Reinheit und Eindeutigkeit der genannten Idealtypen auf. 6 Der analytische Nutzen der Regimetypologie besteht darin, dass zwischen der sozialstrukturellen Verankerung des Regimes und den angewandten Herrschaftstechniken, den Mustern der Interessenartikulation sowie den staatlichen Aktivitäten ein systematischer Zusammenhang angenommmen wird. Mit anderen Worten: Variationen in der Regimekonstellation hängen mit Variationen anderer Elementen des politischen Systems zusammen. Die 5

So Portes (1985).

6

Vgl. Kapitel 1.5.

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

105

Regimetypen

Beschreibung der Eigenschaften verschiedener Regimetypen nimmt deshalb die in den beiden voranstehenden Kapiteln entwickelten Konzepte auf wie Herrschaftstechniken oder Typen politischer Parteien und setzt sie miteinander in Beziehung.

4.3 Strukturelle Eigenschaften der verschiedenen

Regimetypen

Die Darstellung der strukturellen Eigenschaften der sieben Regimetypen orientiert sich an den in Kapitel 1 definierten Strukturelementen politischer Systeme: Politische Allianzformen als soziale Basis des Regimes, Herrschaftstechniken, Interessenartikulation und Staatsfunktionen. Des weiteren wird auf die Strukturprobleme der Regimetypen eingegangen. Die Idealtypen werden zunächst charakterisiert und danach mit je einem Fallbeispiel illustriert.

Staatsklassenregimes Strukturelle Eigenschaften Soziale Basis von Staatsklassenregimes sind Gruppen, die sich primär aus der staatlichen Verwaltung rekrutieren, einschließlich der damit verbundenen Staatsbetriebe.7 Außerhalb der Staatsbürokratie bestehen praktisch keine politisch artikulierten Gruppen. Dieser Regimetyp tritt vor allem in Situationen auf, die durch eine geringe kapitalistische Entwicklung gekennzeichnet sind; in Lateinamerika trifft dies insbesondere auf die Karibik und Mittelamerika zu. Seine strukturelle Voraussetzung liegt im "stark-schwachen" Staat zahlreicher wenig entwickelter Länder. Einerseits ist der Staat stark, insofern als er den modernen, monetären, kapitalistischen Sektor beherrscht: Der überwiegende Teil der lohnempfangenden Angestellten arbeitet in der Verwaltung oder in Staatsunternehmen und die meisten Investitionen werden durch ihn getätigt. Andererseits ist der Staat insofern schwach, als er bezüglich sei7

Zu Staatsklassenregimes vgl. Elsenhans (1981). Inhaltlich verwandte Konzepte sind der "predatory state" von Evans (1989, 1992), der "patrimonial-bürokratische Staat" bei Weber (1972) und die "neopatrimonialen Regimes" von Bratton und van de Walle (1994).

106

4. Politische Regimes und Regimewandel

nes Einkommens stark vom Weltmarkt abhängig ist. Elsenhans hat diesen Sachverhalt treffend mit dem Begriff der Rohstoffrente umschrieben, die aus Steuern von multinationalen Konzernen im Mineralsektor oder der Besteuerung landwirtschaftliche Exportgüter, produziert von Bauern, bestehen kann. Gleichzeitig gibt es kaum Kontrollinstanzen, die verhindern, dass der Staat zum Spielball von Partikularinteressen einzelner Clans, Cliquen und Faktionen wird. Staatsklassenregimes basieren im Wesentlichen auf tributären Produktionsverhältnissen. Ihre finanzielle Grundlage ist die zentralisierte, bürokratische Aneignung von Mehrprodukt. Diese Aneignung erfolgt durch Steuern, Abgaben oder Tribute, die die Staatsklasse den Produzenten abfordert. Darüber hinaus verfügt die Staatsklasse selbst über die Besitzrechte an Produktionsmitteln wie zum Beispiel Boden oder Staatsbetriebe. Traditionelle feudale Regimes, schwache Herrschaften von Kriegsherren wie die in den meisten Ländern Lateinamerikas im 19. Jahrhundert herrschende caudillaje und moderne, postkoloniale Staatsklassenregimes entsprechen diesem Regimetyp. Anders als traditionelle Staatsklassenregimes basieren postkoloniale Staatsklassenregimes nicht auf landwirtschaftlichem Mehrprodukt im ursprünglichen Sinn. Am ehesten ist dies noch dort der Fall, wo die in der Ära der Kolonialisierung aufgebaute Produktion von cash crops für den Weltmarkt eine große Rolle spielt. Damals wurde zur Stimulierung der Weltmarktintegration oft eine Geldsteuer verlangt, was voraussetzte, dass der Bauer jenseits von Grundnahrungsmitteln ein auf dem Weltmarkt absetzbares Produkt anbaute. Klarer wird die zentralisierte Aneignung von Mehrprodukt, wo wenige transnationale Konzerne den Abbau von Rohstoffen kontrollieren und der Staat im Wesentlichen von den Steuererträgen dieser Unternehmen lebt. Neben diesen klassischen tributären wirtschaftlichen Grundlagen von Staatsklassenregimes ist eine weitere Quelle anzuführen: Besonders für die ärmsten Länder stellt Entwicklungshilfe eine wichtige Einkommensquelle der Staatsklasse dar. Diese Länder können somit die Illegitimität der internationalen Entwicklungs- und Wohlstandsungleichheit zur Unterstützung der wirtschaftlichen Basis ihrer Regimes ausnützen. Augenfällig wird dieser Aspekt etwa dort, wo Projekte "integrierter ländlicher Entwicklung" für eine bestimmte Zeit auch die laufenden Kosten bestimmter Verwaltungsabteilungen tragen. Schließlich können groß angelegte Entwicklungsprojekte neue Stellen für die Staatsklasse schaffen.

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

107

Die Institutionen der Interessenartikulation — Parteien, Verbände, Parlament — sind in Staatsklassenregimes nur sehr schwach ausgeprägt. Der Zugang zur Macht erfolgt weitgehend nach familiären, klientelistischen Prinzipien. Dementsprechend schwach ist die politische Mobilisierung. Zahlreiche dieser Regimes sind durch eine schwache, schlecht organisierte und wenig aktive Staatspartei charakterisiert. Auf der anderen Seite kennzeichnen totalitäre Neigungen viele Regimes: In den Medien ist einzig die Problemdefinition dei politischen Elite zu vernehmen, ihre Sprache, ihre Symbole und Slogans dominieren absolut. Ein wichtiges Medium zur Artikulation oppositioneller Iiteressen bildet in einer solchen Situation politischer Humor. Politische Herrschaft in modernen Staatsklassenregimes basiert hauptsächlich auf einer Kombination von Klientelismus und Repression. Insbesondere dort, wo die militärischen Segmente der Staatsklasse in der Regimeallianz ein; wichtige Rolle spielen, sind repressive Techniken und die Beschränkung bürgerlicher Freiheitsreche verbreitet. Ist der Staat die Grundlage zur Aieignung von Mehrprodukt, so besteht Herrschaft für den Einzelnen der Saatsklasse im Bemühen, einen möglichst großen Teil dieses Mehrprodukts für sich selbst zu ergattern. Dies drückt sich zunächst in einem hohen Anteil der Saläre an den Staatsausgaben aus. Daneben werden Staatsbetriebe systematisch ausgehöhlt: Material wird hinterzogen und in eigene Geschäfte gelenkt, Kredite von Staatsbanken werden ohne Rentabilitätsprüfung an liierte Personen und Unternehmen verliehen. An sich braucht dies nicht illegitim zu sein — im Gegenteil: Traditionelle Vorstellungen von familialem und ethnischem Klientelismus tragen dazu bei, dass oben angeeignete Mittel wieder nach unten zu Verwandten oder ins Dorf fließen. Elemente von politischer Religion können zusätzlich und im Unterschied zu anderen Regimetypen dizu eingesetzt werden, die "conspicious consumption" der Staatsspitze zu legitimieren. Da die Verteilung des kollektiv angeeigneten Mehrproduktes nach partikulären Gesehtspunkten entlang von verwandtschaftlichen, traditionellklientelistischen Linien erfolgt, ist es leicht möglich, dass sich bestimmte Faktionen oder Cliquen der Staatsklasse benachteiligt fühlen. Diese mögen deswegen \ersucht sein, durch einen Umsturz zu einer dominierenden Stellung im Regime zu gelangen. Besonders gilt dieses Argument für ethnische Gruppen ocer für das Militär. Ein zweiter problematischer Punkt des Herrschaftsmodills von Staatsklassen liegt darin, dass staatliche Strukturen nicht endlos zun: Profit von Einzelpersonen ausgehöhlt werden können; irgend-

108

4. Politische Regimes und Regimewandel

wann stellt sich das Problem der Substanzerhaltung. Früher oder später werden deshalb in den meisten Regimes dieses Typs Reformanstrengungen zur Eindämmung von Korruption, Materialentfremdung und zur Steigerung der administrativen Effizienz unternommen. Elsenhans (1981) hat daher vom Dilemma von Selbstprivilegierung und Legimitationszwang bei Staatsklassen gesprochen: Redistribution muss zwar kontinuierlich weiter geführt werden, aber die Struktur darf nicht zu sehr geändert werden, da sonst das Fundament des Regimes selbst bedroht würde. Im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts treten Staatsklassenregimes in der oben beschriebenen realtypischen Form praktisch nicht mehr auf. Höchstens einige Regimes in kleinen, armen Ländern können diesem Typ zugeordnet werden. Beispiele sind die Herrschaften von Alfredo Stroessner in Paraguay (1954-1989) und Rafaël Trujillo in der Dominikanischen Republik (19301961). Die massive Unterstützung des Aufbaus moderner Militärapparate durch die USA erhöhte in verschiedenen kleineren Ländern das politische Gewicht der militärischen Faktion der Staatsklassen. Neben der Dominikanischen Republik betraf dies insbesondere Guatemala und Nicaragua. Soweit sich hier Ansätze von Staatsklassenregimes entwickelten, basierten sie auf einer starken Repression von politischen Potentialen außerhalb der Staatsklasse. Das Regime der Somoza in Nicaragua (1937-1979) etwa steht zwischen einem Staatsklassenregime (Rolle der guardia national) und der Herrschaft einer Faktion der Exportoligarchie.

Illustrationsbeispiel: Haiti unter François und Jean Claude Duvalier 1986)

(1957-

Die soziale Basis dieses Regimes wird durch die militärische und zivile Staatsklasse und Teile der schwarzen Mittel- und Unterschichten gebildet. Die politische Macht ist in den Händen des Familienclans der Duvaliers sowie seiner Entourage konzentriert. Insbesondere unter François Duvalier wurde auch die religiöse Vodou Hierarchie ins Regime eingebunden. Einen wichtigen Machtfaktor bildete außerdem die Geheimpolizei. Unter Jean Claude Duvalier kam es zu einer graduellen Verschiebung in der Regimebasis, indem die zuvor marginalisierte Mulattenelite in die Regimeallianz eingebunden wurde.8

8

Zum Regime von Duvalier vgl. Dupuy (1989) und Mo'ise (1990).

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

109

Die Ressourcenbasis der Staatsklasse bildeten verschiedene Staatsmonopole (z.B. für Weizen, Mehl, Zement), die Rohstoffrente (Kaffee, bis 1983 Bauxit), Staatsunternehmen (z.B. in der Zucker- und der Speiseölproduktion) sowie die Auslandshilfe. In den Jahren 1976-1980 betrug der Anteil der Entwicklungshilfe an den öffentlichen Investitionen 70% und der gesamten Investitionen 44%. 9 Ein wichtiges Element staatlicher Tätigkeit bestand im Aufbau und der Restrukturierung des staatlichen Gewaltapparates. Die zuvor von der Mulattenelite kontrollierten Führungspositionen wurden durch schwarze Gefolgsleute von Duvalier ersetzt. Gleichzeitig sicherte sich Duvalier das Recht auf Besetzung von militärischen Kommandoposten. Darüber hinaus wurde eine direkt Duvalier unterstellte und über persönliche Loyalitätsbeziehungen mit ihm verbundene Präsidialgarde und Geheimpolizei Volontaires de la Sécurité National als paramilitärisches Repressionsinstrument geschaffen. Diese wurden im Volksmund nach mythologischen Schreckensgespenstern Tontons Macoutes benannt. Rekrutierungspotential der Geheimpolizei bildete hauptsächlich der urbane und ländliche informelle Sektor. Die Auswahl der Mitglieder erfolgte durch Duvalier persönlich. Die Kombination von Klientelismus und einer auf dem Patronagesystem aufbauenden umfangreichen Korruption sowie staatliche Repression waren die hauptsächlichen Techniken politischer Herrschaft. Ein 1982 nach fünf Monaten entlassener Finanzminister und ehemaliger Weltbankangestellter bezifferte die in der Bürokratie verlorengegangenen Ressourcen auf 36% der Staatseinnahmen. Korruptionspraktiken erfolgten auf allen Stufen der Staatsbürokratie. 10 Staatliche Gewalt wurde durch die Tontons Macoutes ausgeübt. Dies führte zu einer weitgehenden Desartikulation alternativer politischer Kräfte. Eine herrschaftsstabilisierende Rolle spielte neben repressiven und klientelistischen Techniken insbesondere unter François Duvalier die Artikulation einer schwarz-nationalistischen Ideologie verbunden mit populistischen Elementen — ein gegen die Mulattenelite gerichteter Antielitismus. Die Gründe für den Regimezerfall liegen einerseits in der wachsenden außenpolitischen Isolation und im Druck der USA, die aufgrund von Menschenrechtsverletzungen die finanzielle Hilfe suspendierte. Andererseits 9 10

Dupuy (1989: 174). Zum Beispiel bei der Zollabfertigung oder im Bereich der öffentlichen Versorgung; vgl. Dupuy (1989: 171f.).

no

4. Politische Regimes und Regimewandel

bildete sich eine breit abgestützte Oppostionsbewegung, die kirchliche Basisgruppen, Gewerkschaften, Studenten- und Schülerbewegungen und Intellektuelle umfasste und ab 1985 das Regime mit Massendemonstrationen und Generalstreiks unter Druck setzte.

Exportbourgeoisien Strukturelle Eigenschaften Die soziale Basis von Exportbourgeoisien oder -Oligarchien ist das mit der Exportproduktion verknüpfte Unternehmer- und Grundbesitzertum. Zumeist handelt es sich hierbei um Produzenten von Rohwaren wie Pflanzer oder Minenbesitzer und Unternehmer des Handels- und Finanzsektors, der zuweilen eng mit internationalen Interessen liiert ist. Auch das industrielle Wirtschaftsbürgertum kann Teil dieser Allianz sein, wenn es personell eng mit Exportinteressen verbunden ist. Regimes dieses Typs treten vor allem in einer Phase auf, in der ein Land in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert wird und kapitalistische Klassen mit Ausnahme der Exportbourgeoisie noch wenig artikuliert sind. Dementsprechend gehörten um die Jahrhundertwende zahlreiche lateinamerikanische Länder diesem Typ an. Ein Beispiel für die neuere Zeit ist Kolumbien, dessen politisches System auch in der Nachkriegszeit durch Exportbourgeoisien geprägt wurde. Einige mittelamerikanische Länder wie El Salvador und Guatemala können als fragile und bedrohte Varianten dieses Typs bezeichnet werden. Angesichts des geringen Umfangs der oligarchischen Elite sind politische Institutionen meist wenig ausdifferenziert. Das Muster der Interessenartikulation in diesen Regimes wird dominiert durch Klub-Parteien und Produzentenverbände, insbesondere Vereinigungen der Großgrundbesitzer. Gerade weil diese Formen der Interessenvertretung informell sind, können sich in der Praxis eine Reihe von Konstellationen entwickeln, die im Wesentlichen davon abhängen, wie homogen die Elite ist. In dieser Hinsicht lassen sich vier solcher Konstellationen unterscheiden: 1) Homogenität: Ist die Elite homogen, so kann Politik tatsächlich ausschließlich in einer Klub-Atmosphäre stattfinden. Eine Öffentlichkeit mit Presse und politisiertem Parlament fehlt weitgehend und Produzentenorgani-

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

111

sationen bzw. Eliteklubs sind wichtiger als politische Parteien. Eine politische Basis des Regimes bei den breiten Volksmassen fehlt. Diese Variante konnte sich vor allem in kleineren Ländern über längere Zeit halten. El Salvador repräsentiert einen solchen Typ. Politik wurde durch die beiden Vereinigungen der Kaffeepflanzer manipuliert und die Macht wurde innerhalb eines kleinen Kreises von Familien weitergereicht. 2) Starke In-, schwache Out-group: In diesem Fall ist die Elite in zwei Lager gespalten, die sich jedoch ideologisch kaum unterscheiden wie zum Beispiel Konservative und Liberale. Die Institutionen des Landes werden durch die dominierende Gruppe beherrscht; ein Machtwechsel kommt meist nur durch Bürgerkrieg oder als Folge von Spaltungen innerhalb der dominierenden Gruppe zustande. Solange die In-group herrscht, funktioniert die Interessenvertretung ähnlich wie im Fall einer homogenen Elite, doch ist das System wegen der Versuche der Out-group, durch Umsturz oder Bürgerkrieg an die Macht zu gelangen, längerfristig weniger stabil. Zudem gelingt es der schwächeren Out-group häufig, zur Stärkung ihrer Position neue Mobilisierungsbasen unter den städtischen Mittelschichten zu erschließen und auf diese Weise den politischen Diskurs auf Bevölkerungskreise außerhalb der Elite auszuweiten. Längerfristig führt dies zu einem Rückgang des Einflusses der Elite und zum Entstehen populistischer Regimes mit neuen Formen der Interessenvertretung. Ein Beispiel für diesen Prozess bildet der Aufstieg der Radikalen in Argentinien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 3) Fragmentierung der Elite: In diesem Fall ist die Elite in zwei gleichstarke oder mehrere Gruppen fragmentiert, wobei auch hier ideologische Unterschiede weniger bedeutsam sind als regional oder sozial differenzierte Klientelsysteme. Beispiele hierfür sind Kolumbien sowie Chiles Parlamentarische Republik (1891-1920/25, mit Nachwirkungen bis 1973). Diese Konstellation ist sehr instabil, und die soziale Form des Klubs reicht deshalb nicht aus, um die Interessen der Elite zu harmonisieren und auf den Staatsapparat zu übertragen. Die instabile Situation führt dazu, dass die verschiedenen Elitefaktionen im Kampf gegeneinander ihre klientelistischen Netzwerke zur Basis hin auszubauen suchen, um ihre jeweilige Position zu stärken. Dies kann eine latente bürgerkriegsnahe Situation hervorrufen. Zur Systematisierung dieser Konkurrenzsituation werden parlamentarischen Formen — einschließlich des Pressewesens als Forum der Diskussion — größeres Gewicht beigemessen; sowohl Kolumbien wie Chile (bis 1973) zählen zu den ältesten formalen Demokratien Lateinamerikas, wobei das hohe Konfliktniveau häu-

112

4. Politische Regimes und

Regimewandel

fig mit einer entsprechend prekären Menschenrechtssituation einhergeht. 11 Wahlen und parlamentarische Arbeit dienen nicht primär der Funktion von Interessenartikulation und ihrer legitimen Umsetzung via Gesetze in systematische Herrschaft, sondern der Vergrößerung und der Alimentierung von persönlichen Klientelsystemen. So betrachten einige Autoren Kolumbiens Parteien als reine Wahlparteien und ein Parlamentssitz ist meist nur eine kurze Station in einer längeren Karriere in einflussreichen klientelistischen Netzen. In Chile verwendeten in den 1960er Jahren die Parlamentarier 5090% ihrer Zeit für Angelegenheiten ihrer Klientel und nicht für die Legislation. 12 Die Ausdehnung der klientelistischen Mobilisierung nach unten impliziert, dass die Elite die Kontrolle über den politischen Prozess teilweise an lokale politische Broker von geringem sozialem Status (caciques, gamonales) verliert. Dies hat zweierlei zur Folge: Einerseits eine sehr hohe lokale Politisierung, und andererseits eine schwindende Fähigkeit des parlamentarischen Systems zur Verarbeitung der Elite-Interessen. Deshalb spielen die Interessenverbände der Elite, also vor allem die Produzentenverbände auch bei diesem Untertyp eine zentrale Rolle. Ihren Einfluss machen sie aber weniger über das parlamentarische System geltend als vielmehr direkt über die Verwaltung. Die für sie maßgeblichen Teile des Staates werden von ihnen eigentlich "kolonisiert", wie es weiter oben in Kapitel 3.3 anhand von Kolumbiens FEDECAFE dargestellt wurde. 4) Schwache Artikulation der Elite — Entwicklungsdiktatur: Diese letzte Variante bezieht sich auf Situationen, in denen die nationale Elite zu klein oder zu schwach ist, um eine klubartige Struktur auszubilden. Als Folge davon besteht kaum ein politisches Leben, und die Regierung stützt sich auf eine kleine Gruppe ab, die vor allem damit beschäftigt ist, die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Entwicklung des Exportsektors zu schaffen und sich selbst an der Macht zu halten. Entwicklungsdiktaturen geraten dadurch in die Nähe von Staatsklassenregimes, von denen sie sich nur durch ihre Politik zugunsten des Exportsektors unterscheiden. Die Konstellation, die zu einer derartigen Variante führt, kann unter folgenden Bedingungen auftreten: Entwicklungsdiktaturen können zu Beginn der Weltmarktintegration entstehen, wenn noch kaum eine Exportbourgeoisie existiert und es erst die wirt11 12

Vgl. das in Kapitel 5 behandelte Demokratiemuster Kolumbiens. Valenzuela(1977:132f.).

4.3 Strukturelle Eigenschaften der Regimetypen

113

schaftlichen und staatlichen Voraussetzungen für einen Entwicklungspfad zu legen gilt. Etliche Fälle haben deshalb später einer der drei oben genannten Varianten Platz gemacht. 13 Auch nach den Anfangsstadien der Weltmarktintegration können Entwicklungsdiktaturen vorkommen, so etwa im Fall des mexikanischen Porfiriats (1876-1911) oder der Diktatur von Gömez in Venezuela (1908-1935). Zwei Gründe können hierfür angegeben werden: Erstens ein starker Regionalismus, der möglicherweise in einer lokalen Konzentration der Exportwirtschaft begründet ist; zweitens eine Konzentration der Exportproduktion in wenigen Händen wie etwa Erdöl im Fall von Venezuela oder die ausländisch kontrollierte Bananenproduktion in Mittelamerika. Die Struktur und Kohäsion der Elite und das daraus folgende Muster der Interessenvertretung bestimmen auch die Staatsfunktionen und die dominanten Herrschaftstechniken dieses Regimetyps. Hinsichtlich der staatlichen Aktivitäten beschränken sich diese Regimes grundsätzlich auf die Optimierung der Bedingungen für die Exportproduktion von Rohwaren. Dies bedeutet einmal die Schaffung der rechtlichen Grundlagen einer kapitalistischen Produktion. Falls agrarischen Entwicklungsmuster die Errichtung des Regimes kennzeichnen, spielt die Kommerzialisierung des Bodens, also die Enteignung des indigenen Kommunalbesitzes, eine wichtige Rolle. 14 Sodann ist eine Exportinfrastruktur zu schaffen sowie die für eine kontinuierliche Produktion notwendige Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. Dies verlangt Infrastrukturinvestitionen sowie den Unterhalt eines zentralisierten Repressionsapparats. Diese Aufgaben können meist aus den anfallenden Steuern finanziert werden. Eine steigende Ausrichtung auf Rohwarenexporte ging deshalb historisch oft mit Prozessen der Staatsbildung einher wie etwa Verfassungsgebung, Ausbau des Rechtswesens oder der Aufbau einer professionellen Armee. Nur dort, wo klientelistische Beziehungen auf ein tieferes soziales Niveau übergreifen, werden ansatzweise Entwicklungsaufgaben wahrgenommen. Da diese stark der politischen Notwendigkeit der Aufrechterhaltung von Klientelbeziehungen und weniger Effizienzkriterien folgen, gehen solche Politiken mit einer gewissen Staatsverschuldung einher.

13

14

Typische Beispiele sind die Regimes von General Mitre in Argentinien (1862-1868; Rock 1985:125ff.), General Campero in Bolivien (1887-1891; Klein 1969:13-20), Bairios in Guatemala (1873-1885) oder Balmaceda in Chile (1887-1891). So zum Beispiel in El Salvador während der 1870er und 1880er Jahre; vgl. Browning (1971.)

114

4. Politische Regimes und Regimewandel

Aus dem oben Gesagten geht hervor, dass im Fall von relativ homogenen Eliten einzig Repression die Herrschaft stabilisiert. Werden hingegen verstärkt klientelistische Basen mobilisiert, so spielen auch Netze von traditionellem Klientelismus, die aber vertikal stark ausgedehnt sind, eine große Rolle. Entsprechend der variierenden Struktur der Elite sind auch die Probleme, mit denen diese Regimes konfrontiert sind, äußerst unterschiedlich: 1) Sinkende Exporterlöse: Ein Problem, das diesen Regimes generell zu schaffen machen kann, ist ein allfälliger Rückgang der Exporterlöse in einer Weltwirtschaftskrise. Zahlreiche Regimes sahen sich in einer solchen Situation Zerfallserscheinungen ausgesetzt. 2) Fragmentierung der Elite: Wie bereits erwähnt, kann die Fragmentierung der Elite (Untertyp 3 oben) in einer Situation geringer Institutionalisierung zu einer sehr konfliktiven Situation führen. Die häufigen Phasen von Violenz in Kolumbien zeigen diese Gefahr des Auseinanderbrechens des politischen Systems. 3) Aspirationen der Mittel- und Unterschichten: Ist die exportorientierte kapitalistische Entwicklung einigermaßen erfolgreich, so entstehen neue Klassen mit eigenen politischen Aspirationen (städtische Mittel- und Arbeiterschichten, ländliche Unterschichten). Im Fall einer geteilten oder fragmentierten Elite (Untertypen 2 und 3) können nicht an der Macht beteiligten Elitefaktionen diesen Sachverhalt für sich nutzen. Aus der Allianz zwischen ihnen und diesen neuen Schichten entstehen in der Regel mittelschichtsbasierte populistische Allianzen. Ist die Elite homogen oder herrscht eine Entwicklungsdiktatur, erfolgt dieser Übergang relativ spät und reichlich konfliktiv. Illustrationsbeispiel: Kolumbien unter der Nationalen Front

(1958-1986)

Kolumbien ist das einzige größere Land Lateinamerikas, das noch in den 1980er Jahren ein Regime hat, das sich als Exportbourgeoisie bezeichnen lässt. Ein Grund hierfür bildet die extreme geographische Fragmentierung des Landes, die die Bildung nationaler Strukturen lange erschwert hat. Ein nationaler Zusammenschluss politischer Kräfte ergab sich aus einer Akkumulation von lokalen Klientelsystemen, die zwecks Stärkung ihrer Position Allianzen schlössen. Als Resultat entstand eine Zwei-Parteienstruktur. Als einziges Land Lateinamerikas ist Kolumbien bis in die 1980er Jahre (seit ca. 1850) durch eine Dualität zwischen einer konservativen und einer liberalen Partei, die sich ideologisch minimal voneinander unterscheiden, gekennzeichnet.

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

115

Mit der 1958 von den Liberalen und Konservativen vereinbarten Frente Nacional wurde eine Allianz zwischen den beiden Elitefaktionen gebildet. Bis 1974 galt bei abwechselndem Präsidentenamt die paritätische Besetzung innerhalb der Regierung, der Verwaltungsorgane und der Justiz. Danach wurde elektorale Konkurrenz bei gleichzeitiger "angemessener" Berücksichtigung der jeweiligen Oppositionspartei bei der Postenvergabe vereinbart. Die Übereinkunft zwischen den Parteien wurden erst 1986 endgültig aufgekündigt. 15 Aus diesen Gründen wird die gesamte Periode 1958-1986 als eine einzige Regimeepisode behandelt. Die soziale Basis des Regimes wird im Kern seit dem späten 19. Jahrhundert durch die auf den Export von Kaffee gestützte Schicht von Plantagenbesitzern, Kaufleuten und Bankiers gestellt. Dies schloss aber den Einbezug weiterer wirtschaftlichen Eliten, insbesondere aus der Industrie, nicht aus. Es besteht eine starke Interpénétration der verschiedenen wirtschaftlichen Eliten. 16 Traditionelle klientelistische Strukturen spielen zur Machterhaltung in dieser formalen Elite-Demokratie eine wichtige Rolle. 17 Die Elite gewährt als Gegenleistung für die Wahlunterstützung ihrer sozialen Basis staatliche Ressourcen wie Arbeitsplätze, Stipendien oder Entwicklungsprogramme. Zwischen den Wählern und den Parlamentarien stehen Lokalbosse. Sie veranlassen Parlamentarier zu Dienstleistungen und stellen diesen umgekehrt 18 ein Stimmreservoir zur Verfügung. Dies bedeutet, dass Parlamentarier selten an der Gesetzgebung interessiert sind. Ihre Aufgabe besteht ihrer eigenen Ansicht nach primär darin, sicherzustellen, dass ihre jeweiligen Lokalitäten und Departemente einen möglichst hohen Anteil an den materiellen Ressourcen erhalten, die das nationale Budget verteilen kann. Der Kongress spielt auch eine zentrale Rolle bei der Vermittlung zwischen der Wählerschaft und den zentralen Regierungs- und Verwaltungsabteilungen in Bogotá. Das Parlament leidet entsprechend unter chronischem Absentismus und die Kompetenz der Parlamentarier gegenüber der Bürokratie ist gering. Entscheidende Gesetzesprogramme werden vor allem dann verabschiedet, wenn sich wich15 16

17 18

Vgl. Dix (1987), Collier und Collier (1991:761). Zum Beispiel starke Kaffee-Interessen in der Industrie; vgl. Bagley et al. (1987), Dix (1987), Hartlyn (1988). Martz(1997). Schmidt (1974,1980).

116

4. Politische Regimes und

Regimewandel

tige Parteiführer, die nicht einmal im Parlament sitzen müssen, darauf geeinigt haben. 19 Neben den Politikern kann auch die depolitisierte Bürokratie auf lokaler Ebene Güter verteilen, was zu einem partiellen Wandel und dem Zerfall traditioneller Klientelbeziehungen geführt hat. 20 Produzentenorganisationen prägen die Interessenartikulation in Kolumbien. Eine massive Ausdehnung von Produzentenverbänden erfolgte ab den 1940er Jahren, also parallel zum Ausbau des modernen kolumbianischen Staates. Alle diese Interessenorganisationen vermeiden, damit sie ihren Zweck erfüllen können, streng jede parteipolitische Affiliation. Ihre Beziehung zum Staat ist stark strukturiert und sehr eng. Sie stellen zum Teil institutionell Direktorensitze in staatlichen Agenturen. Umgekehrt penetriert der Staat auch die Interessenverbände.21 Im Rahmen von Elitekarrieren besteht eine starke Interpénétration zwischen politischen Behörden einerseits und den Interessenorganisationen andererseits: In den 1960er Jahren hatten 56% der früheren Minister und Behördenmitglieder, 42% der Parlamentsabgeordneten und 43% der Top-Bürokraten im Verlauf ihrer Karriere auch eine leitende Position bei Interessenorganisationen inne. 22 Es versteht sich, dass Interessenorganisationen der Unterschicht — Gewerkschaften, Bauernverbände — wesentlich schwächer und auch geringer in dieses System integriert sind. Kolumbien liegt zwar bezüglich des Entwicklungsstands etwa in der Mitte des weltweiten und auch des lateinamerikanischen Schichtungssystems, doch gehört es zu den Ländern mit der höchsten Landkonzentration und der größten Einkommensungleichheit. Der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt liegt am unteren Rand des Spektrums: 117. Position von 130 weltweit, 15. von 18 in Lateinamerika. Das Bildungssystem ist sehr elitär — so werden mehr Ausgaben für 23*000 Studenten zur Verfügung gestellt als für 1.5 Mio. Volksschüler in ländlichen Gebieten. 23 Der Anteil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt gehörte zu Beginn der 1980er Jahren zu den niedrigsten in ganz Lateinamerika. 24 Diese Angaben zeigen, dass die Staatsfunktionen bis zu Beginn der 1980er Jahre trotz einer Modernisierung und der während der unpolitischen Ära der Nationalen Front vollzogenen Technisie19 20 21 22 23 24

Dix (1987:164f.). Schmidt (1974). Vgl. die Ausfuhrungen in Kapitel 3.3. Bailey (1977), Dix (1987: Kap. 6). Dix (1987:192). World Bank, World Development Report (1985).

4.3 Strukturelle Eigenschaften der Regimetypen

117

rang nicht grundlegend über eine Förderung von vorwiegend auf den Export ausgerichteten landwirtschaftlichen und industriellen Interessen hinausgekommen sind. Dennoch hat die Technisierung des Staats und die damit verbundene Verschiebung bzw. Zurückbindung traditioneller Klientelbeziehungen eine Veränderung in der Problemstruktur des Regimes hervorgebracht. Die von vielen nach dem Ende der Nationalen Front befürchtete Repolitisierung der Bürokratie ist weitgehend ausgeblieben. Vielmehr scheint sich der Trend eines gewissen Legimitätsverlusts der traditionellen klientelistischen Politik gehalten zu haben — sichtbar in der weiterhin niedrigen Wahlbeteiligung. Gleichzeitig machte sich eine neue Konfliktlinie bemerkbar, als die von den traditionellen Quellen der Patronage verlassene und sozial nicht integrierte Bevölkerung neue Quellen suchte. Diese fand sie in den 1970er Jahren in der populistischen ANAPO (Alianza National Populär) und in den 1990er Jahren in verschiedenen linken Bewegungen.25 Diesem Trend steht allerdings die Entstehung einer Gegenelite in Form der Rauschmittelbourgeoisie und der bewaffneten Guerilla entgegen.

Industriebourgeoisien Strukturelle Eigenschaften Der auf dem industriellen Wirtschaftsbürgertum basierende Regimetypus ist vergleichsweise jung. Da er mit bestimmten, historisch neueren Formen der internationalen Arbeitsteilung, den Auslandsinvestitionen von transnationalen Konzemen im Konsumgütersektor, verknüpft ist, entstehen solche Regimes vor allem in den 1960er und 1970er Jahren. Typisches Beispiel in Lateinamerika ist Brasilien. Soziale Basis von Industriebourgeoisien ist die Dreierallianz zwischen Staatsklasse, einheimischem Industriebürgertum und ausländischem Unternehmertum.26 Innerhalb der Staatsklasse spielen Militärs und zivile Technokraten eine prägende Rolle. Herausragendes Merkmal ist die unternehmerische Rolle des Staates. Das zentrale Ziel staatlichen Handelns ist die Erzeugung wirtschaftlichen Wachstums und Entwicklung im Sinne einer 25 26

Union Patriötica, Alianza Democrdtica-M-19. Vgl. Evans (1979).

118

4. Politische Regimes und

Regimewandel

nachholenden Industrialisierung. Deshalb kann dieser Regimetyp — im Gegensatz zu Exportoligarchien — auch als entwicklungsorientiertes kapitalistisches Regime bezeichnet werden. 27 Das Regime versucht sich primär über Wachstumserfolge und weniger über politische Partizipation zu legitimieren. Da das einheimische Unternehmertum nicht in der Lage ist, diese Aufgabe alleine zu bewältigen, muss der Staat wichtige ökonomische Funktionen übernehmen. Für die Finanzierung der Entwicklungsbestrebungen spielt das Auslandskapital eine zentrale Rolle. Zwischen den drei Allianzpartnern können allerdings auch Widersprüche aufbrechen. So können die unternehmerischen Funktionen der Staatsklasse längerfristig die Interessen des Industriebürgertums tangieren. Dies dürfte besonders dann der Fall sein, wenn die Unternehmerschicht relativ breit ist oder die Expansionsmöglichkeiten ihre Grenzen erreicht haben. Zwischen Auslandskapital und Staatsklasse kann es zu Konflikten kommen, wenn die Unternehmenspolitiken transnationaler Konzeine für den Wachstums- und Entwicklungspfad des Landes nicht mehr förderlich sind wie beispielsweise bei Gewinnabzügen. Die wichtigste Funktion des Staates bildet seine unternehmerische Rolle beim Aufbau und bei der Expansion des Industriesektors. Dies verlangt staatsinterventionistische Maßnahmen und die Errichtung von Staatsunternehmen. Die Industrialisierungsbestrebungen werden zu einem beträchtlichen Teil über Auslandskapital finanziert: Einerseits durch die Ansiedlung transnationaler Konzerne, die neben Kapital zugleich technologisches Knowhow zur Verfügung stellen, andererseits durch die Aufnahme von Auslandskrediten insbesondere bei internationalen Banken, aber auch bei internationalen Organisationen. Entwicklungsorientierte auf industrielle Interessen gestützte Regimes zeichnen sich durch eine ausgeprägte Wachstumsideologie aus. Wirtschaftliche Erfolge und damit verbunden die Kompetenz in wirtschaftspolitischen Angelegenheiten bilden die Basis zur Legitimation politischer Herrschaft. Die Verkündung der jährlichen Wachstumsraten wird deshalb meist zu einem Ritual umfunktioniert. Interessenverbände, vor allem Gewerkschaften und Unternehmerorganisationen, werden häufig korporatistisch an das Regime gebunden. Wenn das Regime den Parlamentarismus und allgemeine Wahlen 27 Vgl. hierzu die verwandten Konzepte des "unternehmerischen Regimes" bei Heintz und Hischier (1983a, 1983b) und Hischier (1987) und des "developmental state" bei Evans (1989,1992,1995).

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

119

beibehält, spielen auch klientelistische Strukturen für die Organisierung des notwendigen Stimmenpotentials eine Rolle. Neben dem bürokratischen Klientelismus wird häufig auf bereits bestehende Klientelnetze der traditionellen ländlichen Elite zurückgegriffen, die damit als Allianzpartner ins Regime eingebunden wird. Eine letzte Form der Herrschaftstechnik sind Repression und Beschränkung der bürgerlichen Rechte. Dies ist insbesondere dort der Fall, wo die militärische Bürokratie eine wichtige Rolle innerhalb der Staatsklasse spielt. Repressive und klientelistische Techniken sind dabei meist substitutiv. Die Institutionen der Interessenartikulation sind in der Regel nur schwach ausgebildet. Parteien, Interessenverbände und Parlament werden zwar nicht notwendigerweise aufgelöst, doch stehen sie unter starker Kontrolle der Regierung. Ein direkter persönlicher Zugang zu Machtträgern (Klientelismus) ist für die Interessendurchsetzung häufig wichtiger als eine institutionalisierte Interessenvertretung. Das Hauptproblem für die Aufrechterhaltung des Regimes bildet die Erzielung des hohen wirtschaftlichen Wachstums. Aufgrund der Legitimation des Regimes als Garant für Wachstum und Entwicklung wird es durch wirtschaftliche Rezessionen besonders stark getroffen. In solchen Situationen wird auch die Allianz zwischen Staatsklasse, Unternehmerschaft und Auslandskapital durch zunehmende interne Spannungen bedroht. Dem Regime bleibt häufig nichts anderes übrig, als die politische Partizipation auszuweiten. Dies kommt zumeist auf Druck des am Regime beteiligten einheimischen Bürgertums zustande, das seine Zugehörigkeit zum Regime nicht mehr mit dessen wirtschaftlichen Kompetenzen zu legitimieren vermag. Illustrationsbeispiel: Brasilien 1964-1985 Die langjährige brasilianische Militärherrschaft lässt sich in vier Phasen untergliedern. In der Anfangsphase unter Präsident Castello Branco (1964— 1967) setzte sich zunächst ein Regime durch, das man als desartikuliert bezeichnen könnte: Die Interessenorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften wurden zerschlagen, die politische Opposition unterdrückt. Die soziale Basis des Regimes war sehr schmal und beschränkte sich vor allem auf das Militär. Wirtschaftspolitisch wurde ein pointiert liberaler Kurs gesteuert, teilweise mit Versuchen zur Privatisierung von Staatsunternehmen sowie 28

Zu diesem Typus siehe S. 136ff.

120

4. Politische Regimes und Regimewandel

strikten Stabilisierungspolitiken mit drastischer Reduktion der Staatsausgaben. Während der Präsidentschaft von Costa e Silva (1967-1969) und Mèdici (1969-1974) blieb die repressive Politik bestehen, doch änderten sich soziale Basis, Wirtschaftspolitik und Staatsfunktion entscheidend. Die soziale Basis wurde auf die für kapitalistische Regimes typische Trias von Staatsklasse, Auslandskapital und einheimischem Unternehmertum verbreitert, wobei vor allem in ländlichen Gebieten auch die traditionelle Elite, also die Zucker- und Kaffeeoligarchie, beteiligt war. 29 Unter der Leitung von Finanzminister Delfini Neto wurden staatsinterventionistische Politiken verfolgt, die zum brasilianischen Wirtschaftswunder mit seinen hohen Wachstumsraten führten. Die dritte Phase umfasst die Jahre der Präsidentschaft von Geisel (1974-1979). In dieser Phase baute der Staat seine ökonomischen Funktionen durch die Errichtung von Staatsunternehmen im Kapitalgütersektor und in der Schwerindustrie stark aus. Gleichzeitig kam es zu einer politischen Liberalisierung, die mit der Wiederzulassung der Parteien 1979 den Höhepunkt fand. Die letzte Phase während der Präsidentschaftszeit von Figueiredo (1979-1985) ist durch den Zerfall des brasilianischen Wachstumsmodells im Rahmen der weltweiten Rezession der 1980er Jahre gekennzeichnet.30 Die Regimeallianz war allerdings nicht frei von Spannungen und Widersprüchen. So war das nationale Unternehmertum zwar an staatlichen Subventionen interessiert, nicht aber an der Übernahme der Unternehmerfunktion durch den Staat. Gegen Ende der 1970er Jahre kam es denn auch zu einer wachsenden Opposition seitens einheimischer Unternehmer gegen die unter Präsident Geisel initiierte staatsinterventionistische Politik im Bereich des Kapitalgütersektors. In der Beziehung zwischen Staatsklasse und Auslandskapital kam es unter anderem zu Spannungen bei der Preisfestsetzung für Automobile. 31 Die Funktion des brasilianischen Staates als Garant wirtschaftlicher und industrieller Entwicklung prägte zugleich das Selbstverständnis des ReVgl. Evans (1979), Cardoso (1986). Die Bedeutung der Dreierallianz zwischen Staat, nationalen und internationalen Kapitalinteressen zeigt sich in der Eigentumsstruktur der Großunternehmen. Unter den 100 größten Unternehmen waren 1979 36 Staatsbetriebe, 37 private von einheimischen Unternehmen kontrollierte Betriebe und 27 ausländische Unternehmen. In zahlreichen Unternehmen waren Staat, einheimisches Kapital und Auslandskapital gemeinsam beteiligt (wie z.B. bei der Erdölgesellschaft PETROBRAS). 30 31

Vgl. Stepan (1988). Evans (1979), Cardoso (1986).

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

121

gimes. 32 In einer ersten Phase des brasilianischen Entwicklungsmodelles bildete eine hauptsächlich auf den Binnenmarkt ausgerichtete Fabrikation langlebiger Konsumgüter (Automobile) den industriellen Führungssektor. Finanziert wurde diese industrielle Expansion durch Auslandsdirektinvestitionen seitens transnationaler Konzerne. Nach der Ölkrise von 1973/74 wurde die Industrieforderung im Rahmen des zweiten nationalen Entwicklungsplanes (1975-1981) auf die Schwer- und Kapitalgüterindustrie (Stahlindustrie) sowie den Energiesektor (Alkoholprogramm, Atomprogramm) verlagert. Finanziert wurde diese zweite Industrialisierungsphase durch die Aufnahme von Auslandskrediten auf den internationalen Kapitalmärkten. Als Folge der industriellen Expansion wandelte sich Brasilien von einem typischen Rohstofflieferanten (Kaffee, Zucker) zu einem Industriegüterexporteur (Stahl, Maschinen, Transportmittel, Waffen). So stieg der Anteil der Fertigprodukte am Gesamtexport von 8% im Jahre 1965 auf über 50% zu Beginn der 1980er Jahre. 33 Im Zentrum der Herrschaftsideologie des Regimes stand wirtschaftliches Wachstum und Entwicklung. Das Regime entwickelte die Doktrin, dass die brasilianische Gesellschaft noch nicht das notwendige Entwicklungsstadium erreicht habe, das die Praktizierung einer "wahren" Demokratie erlaube. Es wurde argumentiert, dass stabile demokratische Institutionen eine umfassende wirtschaftliche Entwicklung voraussetzten. Das Regime versuchte somit, seine politische Herrschaft durch hohe Wachstums- und Entwicklungsleistungen zu legitimieren. Anstelle politischer Partizipation wurde die Teilhabe an wirtschaftlichen Wachstumsgewinnen angeboten. 34 Obgleich der Militärputsch von 1964 damit legitimiert wurde, dass der wachsenden Korruption der herrschenden politischen Parteien Einhalt geboten werden müsse, begann das Regime klientelistische Strukturen aufzubauen oder sich bereits bestehender Netzwerke zu bedienen, um sich bei Wahlen den Erfolg der regierungstreuen ARENA-Partei (Alianga Renovadora National) sichern zu können. 35 Hierzu wurden die staatlichen Ressourcen über eine 32

Tatsächlich verzeichnete Brasilien mit durchschnittlich 11.5% (1968-1974) bzw. 8% (1975-1980) ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum sowohl im Vergleich zu früheren Entwicklungsphasen als auch im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern (vgl. Baer 1989).

33

Kaufman (1979: 236), Zenk (1982: 160). Martins (1986). Malloy (1993).

34 35

122

4. Politische Regimes und

Regimewandel

Steuergesetzesänderung zentralisiert. Dies hatte zur Folge, dass Bundesstaaten und lokale Verwaltungen, die zuvor relativ autonom waren, finanziell direkt von der nationalen Regierung abhängig wurden. So konnte das Regime klientelistische Netzwerke bis zur lokalen Ebene kontrollieren und Druck auf missliebige Präfekte und Gouverneure ausüben. 36 Repressive Herrschaftstechniken wurden insbesondere gegenüber den vom Machtzentrum ausgeschlossenen Oppositionsgruppen angewendet, insbesondere gegenüber der Linksopposition, wichtigen Politiker des früheren populistischen Regimes, Teilen der Gewerkschaften, Bauernbewegungen und den progressiven Vertretern der Kirche. Neben offener Gewalt wurden Mitgliedern der Opposition die politischen Rechte aberkannt. Als Folge der politischen Demobilisierung konnten sich autonome Interessengruppen nur begrenzt artikulieren. Parteien und Parlamentarismus wurden jedoch nicht abgeschafft. Anstelle des Mehrparteiensystems installierte das Regime 1966 ein Zweiparteiensystem, bestehend aus der Regierungspartei ARENA und der offiziellen Oppositionspartei MDB (Movimento Democrdtico Brasileiro), der eine begrenzte Opposition gestattet wurde. Innerhalb der ARENA organisierten sich die ehemaligen oligarchischen Kräfte, aber auch Teile der früheren populistischen Parteien, während sich die oppositionelle MDB aus Vertretern der früheren populistischen Arbeiterpartei, aber auch der Mittelschicht zusammensetzte. 37 Mit dem künstlichen Zweiparteiensystem gelang es dem Regime, die zuvor dominierende populistische Allianz aus städtischer Unter- und Mittelschicht und Teilen der Elite zu zerbrechen und gleichzeitig die zuvor zersplitterten oligarchischen Kräfte mit Teilen der Mittelschicht — dazu gehörten vor allem Vertreter der Industrie und zivile Technokraten — zu einer Allianz zu verbinden. Neben den Friktionen zwischen den Allianzpartnern sowie innerhalb der militärischen Staatsklasse war der Zusammenbruch des Wachstumspfades im Gefolge der Schuldenkrise von 1982 die Hauptursache für den Regimezerfall. Das Bruttoinlandprodukt schrumpfte in den Jahren 1982-1985 jährlich um durchschnittlich 6%. Angesichts der wirtschaftlichen Rezession verbunden

36

Beispielsweise waren Präfekte nach Wahlsiegen der Oppositionspartei MDB gezwungen, zur regierenden ARENA-Partei überzutreten. Dieses Phänomen des adesismo war weitverbreitet; so wechselten nach den Lokalwahlen von 1972 rund zwei Drittel der von der Oppositionspartei gestellten Präfekten zur Regierungspartei (Cammack 1982).

37

Kinzo (1988: 20).

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

123

mit hoher Inflation und einem massiven Rückgang der Beschäftigung verlor das Regime seine wichtigste Legitimationsquelle: Die wirtschaftspolitische Kompetenz. Die Wachstumsideologie geriet auch deshalb unter Druck, weil sich trotz hohen Wirtschaftswachstums die soziale Ungleichheit vergrößert hatte. Als Folge der wachsenden Verarmung kam es im Zusammenhang mit Stabilisierungsmaßnahmen in den 1980er Jahren in mehreren Städten mehrmals zu spontanen Aufständen und Unruhen.38

Mittelschichtsbasierte

populistische

Regimes

Strukturelle Eigenschaften Populistische Regimes stützen sich auf Allianzen, die soziale Gruppen außerhalb der Elite einbeziehen. Mit der Bezeichnung dieser Regimes soll deutlich gemacht werden, dass populistische Herrschaftstechniken, also die Artikulation eines Eliteantagonismus und das Vorhandensein charismatischer Herrschaft, ein Charakteristikum dieser Regimes bilden. Mit Hilfe populistischer Herrschaftstechniken klassenübergreifende Allianzen zu schließen, ist in Lateinamerika das hauptsächliche Mittel, um Nicht-Elitegruppen in irgendeiner Form an der Macht zu beteiligen. Es werden zwei Unterformen populistischer Regimes unterschieden, die sich dahingehend voneinander abgrenzen, welche Nicht-Elitegruppen sie in die Regimeallianz einbeziehen. Die beiden Unterformen unterscheiden sich stark hinsichtlich ihrer Herrschaftstechniken und der Verfassung von Foren der Interessenartikulation. Die soziale Basis von mittelschichtsbasierten populistischen Regimes bildet die Allianz zwischen Teilen der traditionellen Oberschicht und der formalen städtischen Mittelschicht, also Vertreter des Bildungsbürgertums, Beamte, Handwerker und Angestellte. Gleichzeitig werden auch schwache Versuche unternommen, die Unterschichten an das Regime zu binden. Beispiele für diesen Regimetyp finden sich in Argentinien unter der radikalen Partei von Yrigoyen (1916-1930) und Alfonsin (1983-1989), in Chile während der Präsidentschaft von Alessandri (1920-1924) und Frei (1964-1970), in Peru während der ersten Amtszeit von Belaünde (1963-1968) sowie in Costa Rica während der Herrschaft des PLN.39 Mittelschichtspopulistische 38

Walton (1989:319).

39

Vgl. Kapitel 6.4.

4. Politische Regimes und

124

Regimewandel

Regimes entwickeln sich häufig aus kapitalistischen auf Exportbourgeoisien gestützten Regimes heraus. Eine wichtige Rolle spielen dabei marginalisierte Teile der Elite, die gezwungen sind, eine soziale Basis außerhalb der Elite zu mobilisieren. Eine andere strukturelle Voraussetzung bildet das Vorhandensein eines Reformpotentials für politische Partizipation. Beim Zimmern der Klassenallianz spielen charismatische Führer, die gewissermaßen als Patron für das ganze Land fungieren, eine entscheidende Rolle. Mit Elementen des Massenklientelismus werden die städtischen, im formellen Sektor beschäftigten Schichten an das Regime gebunden. Bei einigen Regimes dieses Typs erfolgt eine mittelfristige Herrschaftsstabilisierung zusätzlich dadurch, dass die Mittelschichten über bürokratischen Klientelismus eingebunden werden. Vorrangiges Ziel von mittelschichtsbasierten populistischen Regimes ist die Ausweitung von Bürgerrechten; dies soll über eine partizipatorische Demokratie erreicht werden. Deshalb ist in diesem Zusammenhang auch von liberalem Populismus gesprochen worden. 40 Der Ausbau und die Stabilisierung von Grundrechten steht somit oft im Zentrum der Regierungsarbeit. Ein Beispiel hierfür sind die Bemühungen in Argentinien unter Alfonsin, die Zuständigkeit der Justiz auf das Militär auszudehnen. Darüber hinaus ergreifen diese Regimes meist zahlreiche Sozialreformen, die besonders die städtischen Gruppen, die am formalen Wirtschaftssektor teilhaben, begünstigen. Hierzu gehört die Einführung oder der Ausbau des Arbeitsrechts — Minimallohn, Ferienanspruch, Streikrecht, Pensionskassen — sowie eine Lohnpolitik zu Gunsten der Lohnempfänger. In einigen wenigen Fällen wurden schließlich staatliche Ressourcen für den Aufbau von Strukturen des bürokratischen Klientelismus verwendet. Die Interessenartikulation mittelschichtsbasierter populistischer Regimes ist in der Regel durch eine als Mobilisierungsmaschine dienende Massenpartei geprägt. 41 Allerdings steht sie in einer pluralistischen Umgebung, das heißt in einem parlamentarischen System und stößt daher auf die starke Gegnerschaft der institutionellen Vertretungen der Oligarchie. Das können Produzentenorganisationen sein, aber auch konservative oder liberale Parteien, die sich auf traditionellen Klientelismus stützen. Opposition entsteht unter

40 41

Germani (1978). Parteityp Maschine-Partei, vgl. Kapitel 3.

4.3 Strukturelle Eigenschaften der Regimetypen

125

Umständen auch seitens der Unterschicht, also durch Gewerkschaften, sozialistische oder unterschichtsbasierte populistische Parteien. Bei ihrer Machterhaltung sehen sich mittelschichtsbasierte populistische Regimes mit den folgenden Hauptproblemen konfrontiert: 1) Die sehr stark auf Verteilung ausgerichtete Staatstätigkeit dieser Regimes lässt sich nur schwer über längere Zeit aufrechterhalten, besonders wenn die traditionelle Wirtschaftselite die Erschließung neuer Steuerquellen dank des liberalen politischen Umfelds verhindern kann. 42 In diesem Fall bleibt nur eine steigende Staatsschuld als Ausweg. Kann auch diese Strategie nicht mehr weiter verfolgt werden, bricht das Regime zusammen, sobald die Verteilung nicht mehr gewährleistet ist. Etliche dieser Regimes mündeten so in einen Militärputsch verbunden mit einer Verschuldungskrise.43 2) Die meisten Regimes bekundeten Probleme damit, die im Populismus begründete charismatische Herrschaft durch Formen des bürokratischen Klientelismus zu institutionalisieren, da das liberale politische Umfeld dem letztlich entgegensteht. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal des Programmes cooperación popular unter Belaúnde in Peru.44 3) Wie bereits erwähnt, sehen sich mittelschichtsbasierte populistische Regimes häufig alternativen, oftmals stärker klassenbasierten politischen Massenpotentialen gegenüber. Das Ende dieser Regimes ist deshalb häufig verbunden mit einem Übergang zu populistischen Allianzen, die sich auf die Unterschichten stützen.45 4) Ökonomisch fußen mittelschichtsbasierte populistische Regimes meist auf einer traditionellen Exportwirtschaft, die durch die zuvor dominante Exportoligarchie aufgebaut worden war. Im Vergleich zu unterschichtsbasierten populistischen Regimes forcieren mittelschichtsbasierte den Aufbau einer binnenmarktorientierten Industrie weit weniger. Dies hat zur Folge, dass die dem Regime ablehnend gegenüberstehenden Exporteliten aufgrund ihrer ungebrochenen wirtschaftlichen Hegemonie weiterhin einen großen politischen Einfluss haben. Falls traditionelle Elitegruppen am Regime beteiligt sind, manifestiert sich diese Problematik im Interessengegensatz zwischen städtischen Mittelschichtsgruppen und Oligarchie, die zu einem Zerfall der Allianz fuhren können.

42 43 44 45

Zum Beispiel Besteuerung der Landwirtschaft, der Einkommen. Zum Beispiel Belaünde in Peru, Yrigoyen in Argentinien. Vgl. weiter unten, Abschnitt 4.4. Wie bei Velasco in Peru 1968-1975 oder bei Allende in Chile 1970 -1973.

126

4. Politische Regimes und

Illustrationsbeispiel: Argentinien unter Yrigoyen (1916-1922,

Regimewandel

1928-1930)

Das mittelschichtsbasierte Bündnis der Radikalen Bürgerunion UCR (Unión Cívica Radical) löste 1916 bei den ersten Wahlen mit allgemeinem Männerwahlrecht 46 die seit den 1880er Jahren herrschende Exportbourgeoisie des Partido Autonomista Nacional (PAN) von der politischen Macht ab. Die soziale Basis des radikalen Regimes bildete eine Allianz von Teilen der ländlichen Aristokratie, vor allem der Viehzüchter aus der Provinz Buenos Aires, mit einem breiten Spektrum städtischer Mittelklassen, die hauptsächlich im Dienstleistungssektor beschäftigt waren. Dazu gehörten Staatsangestellte — 25% der erwerbstätigen einheimischen Bevölkerung von Buenos Aires waren im Staatsdienst beschäftigt — sowie freie Berufe, Kleinhandel und Gewerbe und die Kleinunternehmerschaft. Die Allianz zwischen ländlichen Eliteinteressen und Urbanen Mittelschichten zeigte sich auch in der Verteilung der Regierungsposten im ersten radikalen Kabinett: Von den acht Ministerien waren fünf durch Viehzucht treibende Landbesitzer aus der Provinz Buenos Aires besetzt, die eng mit der Exportwirtschaft verbunden waren. Die restlichen drei Ministerien wurden von wichtigen Parteimitgliedern eingenommen. 47 Nach dem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen von 1916 versuchte die Radikale Bürgerunion auch, ihre städtische Basis über die Mittelschichten hinaus auf die Arbeiterklasse auszuweiten. Als Mittel für den Aufbau einer Allianz mit der Arbeiterschaft diente der Regierung der Umgang mit Streiks. Yrigoyen unterstützte anfänglich streikende Arbeiter, indem er den Einsatz von Polizei und Armee zurückhielt. Gleichzeitig versuchte er, persönliche und klientelistische Beziehungen zu den wichtigen Gewerkschaftsführern aufzubauen. Die Opposition durch die im radikalen Bündnis integrierte traditionelle Elite verunmöglichte jedoch eine längerfristige Integration der Arbeiterschaft in das populistische Bündnis. Yrigoyen gelang es schließlich lediglich, zur gut organisierten Hafenarbeitergewerkschaft und deren Führung engere Kontakte aufrechtzuerhalten. Um sich die Unterstützung der städtischen Mittelschichten zu sichern, war das Regime von Yrigoyen darauf angewiesen, durch einen Ausbau der Bürokratie das Arbeitsplatzangebot für die obere Mittelschicht auszuweiten. Desgleichen wurde von den Radikalen die universitäre Bildung stark gefördert, um so die Bildungsansprüche der Mittelschichten zu befriedigen. Anfänglich 46 47

Nur fiir Einheimische, nicht für Immigranten. Die Ausführungen zu diesem Abschnitt basieren auf Rock (1975).

4.3 Strukturelle Eigenschaften der Regimetypen

127

beabsichtigte Yrigoyen offenbar auch, im Rahmen öffentlicher Infrastrukturprojekte Arbeitsplätze für die städtische Arbeiterschaft zu schaffen. Dieses Vorhaben wurde jedoch aufgrund der fehlenden finanziellen Basis nicht realisiert. Erst Ende der 1920er Jahre, in der zweiten Amtszeit von Yrigoyen, kam es zu einem Wandel in Richtung der Förderung eines nationalen Entwicklungsweges. Die wichtigste Finanzquelle des Staates bildeten Importsteuern, die jedoch den Konsum der städtischen Schichten belasteten — also die eigentliche soziale Basis des Regimes. Der Versuch Yrigoyens, eine milde Einkommenssteuer einzuführen, scheiterte jedoch am Widerstand der Exportoligarchie, die im Kongress weiterhin die Mehrheit stellte. Eine weitere Finanzquelle bildete die interne und externe Staatsverschuldung, insbesondere in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Die dominante Form der politischen Herrschaft der Radikalen verband eine ausgeprägte populistische Ideologie mit einem personalistischen Führungskult um Yrigoyen einerseits und bediente sich andererseits klientelistischer Techniken. 1) Populistische Ideologie: Die populistische Ideologie der UCR richtete sich gegen die traditionelle Elite und appellierte gleichzeitig an die gesamte Nation im Sinne des einfachen Bürgers. Wie bei populistischen Diskursen charakteristisch, wurde das Klassenkonzept ausdrücklich abgelehnt: "Wir akzeptieren weder Klassenunterschiede, noch dass irgendwelche Klassen in der argentinischen Republik bestehen sollten (...). Wir akzeptieren nicht, dass es ein Proletariat und eine kapitalistische Klasse geben soll, auch wenn 95% aller Argentinier in diejenige Gruppe fallen würden, die in Europa als Proletariat bezeichnet wird."48

Der mit der populistischen Ideologie verbundene Führungskult um Yrigoyen führte dazu, dass politische Probleme und Sachgeschäfte personalisiert wurden. So setzte sich bei den Radikalen die Konvention durch, jede Erklärung und Aussage zu einer bestimmten Problematik mit einer Lobrede auf den Führer zu beginnen. 2) Klientelismus: Die Mobilisierung von Wahlunterstützung für die Radikale Bürgerunion erfolgte wesentlich über klientelistische Strukturen. In den wichtigsten Städten organisierte die UCR vor der Präsidentenwahl von 1916 ein System von Bezirksbossen und lokalen Parteikomitees, deren Aufgabe darin bestand, in ihrem Wahlbezirk als Gegenleistung für Wahlunterstützung 48

Der radikale Abgeordnete Francisco Beirö zitiert in Rock (1975: 118); Übersetzung durch den Verfasser.

128

4. Politische Regimes und

Regimewandel

kleinere materielle Begünstigungen zu gewähren, etwa die Beschaffung von Wohnungen, die Verteilung billiger Nahrungsmittel wie das sogenannte pan radical, Rechtsberatung, medizinische Versorgung oder die Veranstaltung von Quartierfesten besonders vor Wahlen. Neben dieser modernen klientelistischen Struktur der Parteipatronage, die in den Urbanen Zentren realisiert wurde, stützte sich die UCR auf dem Lande auf traditionelle Klientelismusformen, indem sie sich die Unterstützung lokaler Patrons (Großgrundbesitzer) erkaufte. Dies wurde natürlich durch den Umstand erleichtert, dass Teile der traditionellen Aristokratie im radikalen Bündnis integriert waren. Nach der Übernahme der politischen Macht spielte auch die Verteilung von Posten in der Staatsbürokratie unter den Parteianhängern eine wichtige Rolle. Die Interessenartikulation wurde geprägt durch die Radikale Bürgerunion, die wohl die erste Maschine-Partei Lateinamerikas war. Die Radikale Bürgerunion bildete die erste auf nationaler Ebene organisierte Massenpartei Argentiniens mit einem entsprechend hohen Mobilisierungsgrad. Alleine in Buenos Aires betrug die Mitgliedschaft zu Beginn der 1920er Jahre 50'000 Personen. Allerdings musste sich die Radikale Bürgerunion gegenüber gegnerischen Parteien und Bewegungen durchsetzen, die ebenfalls die städtische Bevölkerung zu mobilisieren versuchten wie etwa die Sozialistische Partei. Neben den Parteien existierten außerdem zahlreiche von der Radikalen Bürgerunion unabhängige, anarchistisch und syndikalistisch ausgerichtete Gewerkschaften. Eine grundlegende Schwierigkeit der Radikalen bestand darin, dass sie sowohl die Interessen der traditionellen Oligarchie als auch diejenigen der städtischen Mittelschichtsgruppen berücksichtigen mussten. Eine zu starke Identifikation des Regimes mit den städtischen Gruppen konnte eine Opposition der Elite provozieren. Dies zeigte sich etwa, als es den ländlichen Eliten gelang, die geplante Einkommenssteuer zu verhindern. Ein anderer Streitpunkt zwischen ländlichen und städtischen Interessen bildete der Versuch der radikalen Regierung, die Preise für wichtige Nahrungsmittel — Weizen, Fleisch, Zucker — mittels Subventionen niedrig zu halten. Höhepunkt der Spannungen zwischen städtischen Gruppen und der ländlichen Elite innerhalb der UCR erfolgte 1924 mit der Abspaltung eines Teils der ländlichen Elite, die die Unión Cívica Radical Antipersonalista gründete. Friktionen innerhalb des mittelschichtsbasierten populistischen Bündnisses zeigten sich auch, als Yrigoyen begann, Gewerkschaften in ihren Forderungen und Streiks zu unterstützen, um die Wahlhilfe der Arbeiterschaft zu gewinnen. Solange die Streiks lokal begrenzt blieben, war die Strategie Yri-

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

129

goyens relativ erfolgreich. Der Ausbruch des Generalstreiks von 1919 bewirkte jedoch, dass die Unvereinbarkeit der Interessen der verschiedenen im populistischen Bündnis integrierten Gruppen — traditionelle Exportgruppen, Mittelschicht, z.T. organisierte Arbeiterklasse — manifest wurde. Es kam zu einer Organisierung der konservativen Opposition, wobei es der Exportoligarchie und den ausländischen (britischen) Handels- und Finanzinteressen gelang, mit der Gründung einer rechtsradikalen Bewegung (Liga Patriötica Argentina) die Armee und auch Teile der Mittelklasse zu mobilisieren. Die Folge davon war, dass das Regime von Yrigoyen die Unterstützung der Arbeiterschaft aufgab und die Arbeiterschaft mit Hilfe repressiver Mittel zu kontrollieren versuchte. Höhepunkt der Arbeiterproteste und der Repression durch den Staat und para-militärischer Gruppen war die als semana trägica bekannt gewordene blutige Niederschlagung des Generalstreiks vom Januar 1919. Ökonomisch basierte das Regime der Radikalen auf der Exportwirtschaft, die von der zuvor politisch dominanten Exportoligarchie aufgebaut worden war. Mit Ausnahme der letzten zwei Jahre des Regimes versuchten die Radikalen nicht, eine eigenständige ökonomische Basis aufzubauen. Dies hatte ftir die Stabilität des Regimes schwerwiegende Konsequenzen: Im ökonomischen Bereich dominierte nach wie vor die auf politischer Ebene oppositionelle Exportoligarchie. Dank ihrer ökonomischen Hegemonie hatte die Exportoligarchie auch unter dem radikalen Regime einen großen politischen Einfluss. Die Radikalen ihrerseits konnten die Exportoligarchie nicht entscheidend schwächen, da sie sich sonst selbst die ökonomische Basis entzogen hätten. Die fortwährende Erweiterung der Bürokratie zwecks Postenbeschaffung für die städtischen Mittelschichten erforderte eine Expansion der Staatsausgaben. Insbesondere in weltwirtschaftlichen Krisensituationen war dies jedoch nicht mehr möglich. Dies zeigte sich, als im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 die Staatseinnahmen drastisch zurückgingen und hohe Defizite entstanden. Yrigoyen war schließlich gezwungen, die Staatsausgaben massiv zu kürzen, was Lohnkürzungen und Entlassungen beim Staatspersonal zur Folge hatte — zum Teil konnten nicht einmal die Löhne termingerecht bezahlt werden. Mit den Ausgabenkürzungen zerfiel zugleich das Patronagesystem und die Radikalen verloren innerhalb kürzester Zeit die Unterstützung der Mittelklassen. Es kam zu Demonstrationen von öffentlichen Angestellten und Studenten, ursprünglich die Kerngruppe in der sozialen Basis des radikalen Re-

130

4. Politische Regimes und

Regimewandel

gimes. Im September 1930 wurde Yrigoyen durch einen Militärcoup gestürzt, hinter dem neben der Armee die ländliche Elite und das Auslandskapital standen. Bemerkenswerterweise kam es zu keinen Protesten oder Demonstrationen für das radikale Regime seitens städtischer Gruppen.

Unterschichtsbasierte

populistische

Regimes

Strukturelle Eigenschaften Die soziale Basis von unterschichtsbasierten populistischen Regimes setzt sich zusammen aus einer Allianz von Teilen der Staatsklasse, der nationalen Industriebourgeoisie, Teilen der Mittelschicht, der Arbeiterklasse sowie des informellen Sektors. Aufgrund dieser sehr heterogenen sozialen Basis können je nachdem, welche Elitefaktionen sich mit welchen Massenpotentialen verbinden, unterschiedliche Allianzformen entstehen, die sich in ihren strukturellen Charakteristika voneinander unterscheiden. Die verbreitetste Grundallianz ist die Koalition zwischen Teilen der Staatsklasse wie dem Militär und der organisierten Arbeiterschaft. Das klassische Beispiele hierfür ist Mexiko unter Cárdenas (1934-1940) und dem PRI. Da Struktur und Dynamik des mexikanischen Regimes in Kapitel 6.3 ausführlich behandelt werden, bezieht sich das weiter unten präsentierte Illustrationsbeispiel auf einen anderen, allerdings weniger typischen Fall, nämlich Nicaragua unter der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN). Ein zweiter Allianztypus ist die Verbindung von militärischer Staatsklasse und Teilen der regionalen Elite mit Gruppen des informellen Sektors. Diese Konstellation war charakteristisch für das Regime von Velasco Ibarra in Ecuador mit seinen insgesamt fünf Regierungsperioden zwischen 1934 und 1972. Strukturelle Voraussetzungen für die Entstehung unterschichtsbasierter populistischer Regimes sind das Vorhandensein professionalisierter Militärkorps als zentraler Allianzpartner aus der Staatsklasse, eine starke gewerkschaftlich organisierte Unterschicht sowie ein unausgeschöpftes wirtschaftliches und soziales Reformpotential. Es sind insbesondere diese Regimes gewesen, die zur Befriedigung ihrer politischen Klientel eine breite nationale Entwicklungspolitik verfolgt haben. Hierzu gehören Nationalisierungen ausländischer Wirtschaftsinteressen. Dann wird eine Vertiefung der importsubstituierenden Industrialisierung angestrebt über den Aufbau einer Staatsindustrie und die Förderung der inlän-

4.3 Strukturelle Eigenschaften der Regimetypen

131

dischen Privatindustrie. Dies bildete nicht zuletzt die Basis der Integration von Unternehmer- und Arbeiterschaft Auch haben diese Regimes häufig vergleichsweise erfolgreiche Anläufe zur Landreform unternommen, besonders wenn die Bauern in die Allianz integriert waren. Die politische Herrschaft von unterschichtsbasierten populistischen Regimes ist durch die Kombination von populistischen, klientelistischen und korporatistischen Techniken gekennzeichnet Idealtypischerweise erfolgt dies in einer Abfolge von Mobilisierung, Inkorporierung und Demobilisierung.49 Das Fehlen dieser Sequenz deutet die Präsenz von strukturellen Problemen an, die die Lebensdauer dieser Regimes begrenzen.50 1) Mobilisierung: In der ersten Phase wird durch charismatische Führung, populistische Diskurse und massenklientelistische Techniken eine breite Mobilisierung erzielt. Diese noch schwach institutionalisierte Massenbasis wird meist vor der eigentlichen Machtübernahme formiert und dient als Mittel zur Machtergreifung. 2) Inkorporierung: In der zweiten Phase wird die Kontrolle über den Staat einerseits dazu benützt die Aspirationen der vorher mobilisierten Massen wenigstens oberflächlich zu befriedigen (Massenklientelismus). Andererseits werden diese Gruppen mit dem Mittel des einschließenden Korporatismus, der Formen des bürokratischen Klientelismus annimmt, dauerhaft an das Regime gebunden. Dies bedeutet dass der Zugang zu staatlichen Dienstleistungen und Ressourcen durch staatlich kontrollierte Organisationen wie Partei, Interessenorganisationen und autonome Institutionen gewährt wird, die sie in einer klientelistischen Art und Weise verteilen. 3) Demobilisierung: Sobald die Inkorporierung erfolgreich abgeschlossen ist, wird die Massenmobilisierung für die Erhaltung des Regimes nicht mehr benötigt, und die einzelnen Elemente der korporatistischen Struktur wandeln sich von einer partizipatorischen zu einer kontrollierenden Funktion. Hinsichtlich des Musters der Interessenartikulation spielen Parteien bei diesem Regimetyp meist eine relativ geringe Rolle als autonome Interessenvertreter. Allenfalls dienen sie als korporatistische Superstruktur zur Integra49 50

Stepan (1978: 64). Paradigmatische Beispiele, die nahe an diesen idealtypischen Verlauf heranreichen, sind die Entstehung des PRI und seine Stabilisierung unter Cárdenas und seinen Nachfolgern (vgl. Kapitel 6.3), die radikale Ära in Chile mit dem Aufbau der sozialistischen Partei (Phase 1, 1932-1938), die Volksfrontregierung (Phase 2, 1938-1941) und die späteren radikalen Präsidenten (Phase 3,1941-1953; Drake 1978), bzw. der Aufstieg und Niedergang des MNR in Bolivien in den 1950er und 1960er Jahren (Mitchell 1977).

132

4. Politische Regimes und Regimewandel

tion anderer Interessenorganisationen oder Patronagesysteme;51 in etlichen Regimes fehlen sogar Massenparteien. Fast wichtiger als Parteien sind Verbände und soziale Bewegungen. Gewerkschaften sind gewöhnlich die wichtigsten Allianzpartner des Regimes, die die Einbindung von Unterschichtsinteressen garantieren. Aber auch die traditionelle wirtschaftliche Elite versucht ihre Interessen weniger über Parteien, sondern eher über Interessenorganisationen zum Ausdruck zu bringen. Die meisten strukturellen Probleme von unterschichtsbasierten populistischen Regimes treten als Folge des Scheitems in einzelnen Phasen auf. 1) Gescheiterte Mobilisierung: Einige Regimes scheiterten schon zu Beginn, da sie keine Massenbewegung aufbauen konnten. Als Folge davon waren integrative Politiken höchstens von bescheidenem Erfolg. Es scheint, dass besonders einige Regimes, die aus einem "middle-class military coup" hervorgingen, diesem Problem unterlagen. Beispiele sind Peru unter Velasco53 sowie der "Militärsozialismus" von Toro und Busch in Bolivien.54 In beiden Fällen fehlte zuvor eine Mobilisierungsphase, beispielsweise im Rahmen bewaffneter Konflikte, die das Militär mit Prozessen der Koalitionenbildung mit massenbasierten politischen Kräften in Verbindung bringen konnte. 2) Schwache Inkorporierung: Andere Regimes des fraglichen Typs scheiterten beim Aufbau korporatistischer Strukturen während der reformistischen Phase. Entsprechend blieben sie weiterhin abhängig von distributiven Maßnahmen. Falls diese durch die wirtschaftlichen Umstände erschwert wurden, drohte rasch die Desintegration des Regimes. Beispiele sind Peröns zweite Regierung (1973-1976) und das postrevolutionäre Bolivien (1952-1964/69). Im Fall Boliviens führte die schwache Kontrolle über die Arbeiterschaft zu einer teilweisen Auslagerung der Regierungsgewalt in die Gewerkschaften und damit zu einer "Anspruchsinflation" gegenüber dem Regime. Nach 1956 wurde darauf zunehmend mit Versuchen zur Aufsplitterung und zum Ausschluss von wichtigen Teilen der Unterschicht reagiert.55 Ein ähnliches Problem hatte das Regime von Garcia in Peru (1985-1990), dem es aus finanziellen Gründen nicht gelang, anfanglich erfolgversprechende Formen des

51 52 53 54 55

Beispiel PRI in Mexiko, MNR in Bolivien. Vargas in Brasilien, Velasco in Peru. 1968-1975; vgl. Abschnitt 4.4. 1936-1939; Klein 1969: Kap. 8 und 9. Zum Beispiel mit dem Einsatz von Bauemmilizen gegen Arbeiter (vgl. Mitchell 1977).

4.3 Strukturelle Eigenschaften der Regimetypen

133

bürokratischen Klientelismus zur Einbindung der städtischen Armen dauerhaft zu institutionalisieren.56 3) Aus der Importsubstitutionsstrategie hervorgehende Wachstumsprobleme: Dieses Problem steht nicht in Zusammenhang mit Schwierigkeiten der Bewältigung der einzelnen Phasen. Die oft mit Auslandskapital unternommene Importsubstituierung führt längerfristig häufig zu wirtschaftlichen Krisenerscheinungen wie Inflation, Zahlungsproblemen und unrentablen Staatsbetrieben. Dies hat einen Rückgang von Quellen der Patronage zur Folge und verstärkt, besonders im Fall einer schwachen Inkorporierung, bereits bestehende Instabilitäten. Wie populistische Regimes, die sich auf Mittelschichten stützen, endeten eine Reihe von Regimes des fraglichen Typs in Verschuldungskrisen, so z.B. Perón in Argentinien 1955 und 1976 oder Velasco in Peru 1975/76. Die Hinterlassenschaft von unterschichtsbasierten populistischen Regimes bietet meist keinen Anknüpfungspunkt für neue Allianzpakte. Gewöhnlich stehen sich verschiedene, nicht zu einer übergreifenden Allianz fähige Massenpotentiale in einem Patt gegenüber. In Peru waren dies 1975 die APRA, Relikte der korporatistischen Strukturen Vélaseos — insbesondere der Gewerkschaftszentrale und des Bauernverbandes — und die Acción Popular Belaúndes. Es folgt entweder eine Übergangsperiode kurzlebiger schwacher Regierungen oder eine aktive, unter Umständen gewalttätige Desartikulation von Massenpotentialen zur Rückbindung von Ansprüchen an das politische System durch ein desartikuliertes Regime wie z.B. Chile nach 1973. Illustrationsbeispiel: Nicaragua unter dem FSLN (1979-1990) Anfänglich führte der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) ein breites Bündnis gesellschaftlicher Kräfte an, das aus der gemeinsamen Opposition gegen die langjährige Herrschaft des Somoza-Clans entstanden war. Ende 1980 kam es jedoch zur Abspaltung von Teilen der wirtschaftlichen Elite, beispielsweise des Unternehmerverbandes. Bis 1984 bestand eine Allianz zwischen FSLN und verschiedenen Zentrumsparteien wie den Sozialisten, Teilen der Christdemokraten und den Liberalen. Wichtigste Basis des Regimes bildete die Sandinistische Volksarmee und die mit dem FSLN liierten Massenorganisationen, die in allen gesellschaftlichen Bereichen veran56

Vgl. Graham (1991).

134

4. Politische Regimes und

Regimewandel

kert waren: städtische und ländliche Arbeiterschaft, Kleinbauern, informeller Sektor und Teile der Mittelschicht. Antagonistische Machtfaktoren waren die traditionellen Eliten, Wirtschaftsinteressen und die Kirche. 57 In wirtschaftspolitischer Hinsicht konzentrierte sich das Staatshandeln auf sozialreformerische Aktivitäten und den Aufbau einer Mischwirtschaft, die sich aus Privatunternehmen, Kooperativen und Staatsbetrieben zusammensetzen sollte. Neben Nationalisierungen (z.B. des Bankensystems) wurden eine umfassende Landreform, Arbeits- und Sozialgesetzgebung für Landund Industriearbeiterschaft, Alphabetisierungskampagnen und Gesundheitsprogramme durchgeführt. Damit verbunden waren die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Minimallohnbestimmungen sowie die Einführung eines kostenlosen Gesundheitsdienstes. Neben dem sandinistischen FSLN existierten zahlreiche Parteien, die aber keine Massenbasis hatten. Der FSLN bildete eine hierarchisch organisierte Kaderpartei mit entsprechend geringer Mitgliederzahl. 58 Die Entscheidungsstrukturen innerhalb der Partei waren ausgesprochen hierarchisch gestaltet. Alle Kompetenzen waren in den Händen eines neunköpfigen Direktoriums konzentriert, das Anfang 1979 anlässlich der Schlussoffensive als Führungsgremium der vereinten Guerilla gebildet wurde und paritätisch aus den ehemaligen drei FSLN-Guerillafaktionen zusammengesetzt war. Die Verankerung der Partei in der breiten Bevölkerung erfolgte über die Beziehungen zu den verschiedenen Massenorganisationen, die bis 1985 die wichtigste Form der Interessenartikulation und -repräsentation bildeten. 59 Ihre Mitgliederzahl betrug Mitte der 1980er Jahre ca. 800'000 Personen, was 50% der

57 58

59

Cruz Sequeira und Veläzquez (1986), Spalding (1987), Walker (1991). Vgl. Kapitel 3.2. Mitglieder sollten nur die "besten Arbeiter und die besten Bauern" werden. Entsprechend schwierig war es, Parteimitglied zu werden, wobei zwischen Parteiaspiranten (aspirantes) und regulären Parteimitgliedern (militantes) unterschieden wurde. U m Aspirant werden zu können, benötigte man die Empfehlung eines Parteibasiskomitees, die durch die lokale und regionale Parteileitung abgesegnet werden musste. Der Aspirant konnte dann nach einer Probezeit von 12-18 Monaten als reguläres Parteimitglied aufgenommen werden. Die Mitgliedschaft im FSLN, deren Kader vor der Machtübernahme etwa bei 500 lag, betrug 1981 lediglich 2000 und erhöhte sich danach auf 12'000 (1984) bzw. 20'000 (1987), das heißt auf lediglich 0.7% der gesamten Bevölkerung (Prevost 1991: 111). Sandinistische Verteidigungskomitess, Frauen- und Jugendorganisationen.

Gewerkschaftszentrale,

Kleinbauernverbände,

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

135

erwachsenen Bevölkerung entsprach. Als Folge der Förderung von Massenorganisationen durch das Regime erhöhte sich auch der Grad der gewerkschaftlichen Organisierung rapide von 11% im Jahre 1979 auf 56% im Jahre 1986. 60 Die Massenorganisationen waren über korporatistische Strukturen mit der Partei verbunden. So wurde die oberste Führungsebene der Massenorganisationen direkt vom FSLN eingesetzt. Auch auf der mittleren Führungsebene dominierten FSLN-Mitglieder oder deren Sympathisanten. Kandidaten, die nicht mit dem FSLN liiert waren, wurden häufig nicht zur Wahl zugelassen. Lediglich die lokale Führung wurde direkt von der Basis gewählt. 61 Die Massenorganisationen verwalteten einen Teil der staatlichen Ressourcen und waren aufgrund ihrer Dienstleistungsangebote für die Mitglieder interessant. Der vom Regime artikulierte Populismus war charakterisiert durch einen gegen die Somoza-Dynastie bzw. die USA gerichteten Eliteantagonismus. Er wurde symbolisch verankert in der Bezugnahme auf Augusto César Sandino und dessen Kampf gegen die USA und die von Somoza aufgebaute Nationalgarde während der 1930er Jahre. Der nationale Befreiungskrieg enthielt insofern Kultelemente, als er als kollektiver rite de passage der Nation empfunden wurde, der zur Herausbildung einer neuen nationalen Identität, dem sandinismo geführt habe. Das Bekenntnis zum sandinismo bedeutete nicht nur die Zugehörigkeit zum FSLN, sondern die Erfahrung des gemeinsamen Widerstandes und der Befreiung. 62 Ausschlaggebend für den Regimezerfall dürfte — neben der schwachen Inkorporierung — die Destabilisierungspolitik durch die USA 6 3 und die damit verbundenen hohen Kriegslasten aus dem Bürgerkrieg gewesen sein. Hinzu kam die Abspaltung bürgerlicher Gruppen vom Regime und die 60 61 62

63

Walker (1991: 4 1 - 5 5 , 6 4 , 1 2 7 ) . Serra (1991: 56). Dies gilt in geringerem Maße auch fiir die nationalen Freiwilligenkampagnen (Alphabetisierungskampagne, Gesundheitskampagne), bei denen symbolisch explizit auf den Befreiungskrieg Bezug genommen wurde. So wurde die Alphabetisierungskampagne z.B. als "zweiter Befreiungskrieg" bezeichnet; die Freiwilligen waren brigadistas, die in militärischen Kampfverbänden (Mannschaften, Kolonnen) an sechs verschiedenen Alphabetisierungsfironten des Landes kämpften. Handelsembargo, Blockierung von Krediten der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank, finanzielle und logistische Unterstützung der Contra-Armee und von Oppositionsparteien.

4. Politische Regimes und Regimewandel

136

Obstruktionspolitik durch Wirtschaftsinteressen, die sich auch in der Dekapitalisierung landwirtschaftlicher und industrieller Betriebe manifestierte. Ab Mitte der 1980er Jahre führte eine schwere Wirtschaftskrise zu drastisch sinkenden Reallöhnen bei hohen Inflationsraten und zu Massenentlassungen im öffentlichen Sektor. Im Gefolge der Krise und der vom Regime praktizierten Anpassungspolitik kam es zu einer Auflösung der das Regime stützenden Massenorganisationen - 04

Desartikulierte Regimes: Gestützt auf Eliten

technokratisch-militärische

Strukturelle Eigenschaften Die soziale Basis von desartikulierten Regimes ist, ihrer Bezeichnung gemäß, äußerst schmal. Im Allgemeinen besteht sie aus verschiedenen technokratischen Segmenten der Gesellschaft, vorab der Armee, Teilen der zivilen Bürokratie sowie der Privatwirtschaft. Externe Wirtschaftsinteressen spielen zusätzlich öfters eine wichtige unterstützende Rolle. Ein Hauptziel dieser Regimes besteht in der Demobilisierung und Desartikulation von Massenpotentialen. Dieser Regimetyp findet sich in Chile unter Pinochet (1973-1990) sowie in Argentinien unter Ongania (1966-1970) und unter Videla und seinen unmittelbaren Nachfolgern (1976-1983). Ein älteres Beispiel ist die Concordancia in Argentinien (1930-1943). In der Literatur werden diese Regimes häufig unter dem Begriff des bürokratischen Autoritarismus behandelt. Auch der Begriff des ausschließenden Korporatismus wird bisweilen auf sie angewandt. Beide Begriffe, besonders der letztere, greifen jedoch weiter aus und schließen auch Fälle wie Brasilien mit ein. 65

64

Betroffen davon waren v.a. die schwach institutionalisierten Organisationen, bzw. jene, die nicht mehr in der Lage waren, ihre Dienstleistungsfunktion für ihre Mitglieder aufrecht zu erhalten, wie die Verteidigungskomitees und die Frauenorganisation. Hingegen konnte sich der Verband der Klein- und Mittelbauern, dessen Mitgliedschaft durch die Landkooperativen institutionell abgesichert war und dessen Dienstleistungsangebote durch die Krise nicht oder weniger beeinträchtigt wurde, behaupten und sogar expandieren (Serra 1991).

65

Stepan (1978,1988), Collier (1979).

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

137

Die strukturelle Voraussetzung zur Entstehung desartikulierter Regimes bildet zunächst eine intensive politische Polarisierung in dem Sinn, dass sozial breit abgestützte politische Potentiale unfähig zur Schließung eines lebensfähigen Dominanzpakts sind. Dies gibt kleinen, häufig relativ apolitischen Gruppen in führenden Positionen erst die Chance zur Machtergreifung ohne die entsprechende politische Basis. In den meisten Fällen entstehen solche Regimes daher in einer Situation, in der eine populistische Allianz zerfallen ist, oder in der sich verschiedene, meist populistische Potentiale intensiv bekämpfen. 67 Als zweite Voraussetzung müssen sich gewisse technokratische Gruppen in der Gesellschaft entwickelt haben. Hierzu gehört einerseits ein gut professionalisiertes Militär, andererseits eine technokratische Elite. Insofern als auch technokratische Eliten des Privatsektors (Manager) im Regime eine Rolle spielen, kommt der wirtschaftlichen Entwicklung des Finanz- und Industriesektors ebenfalls eine gewisse Bedeutung zu. Desartikulierte Regimes sehen sich vorab als politische und wirtschaftliche "Sanierer" in einer chaotischen, kritischen und konfliktiven Situation. Im Rahmen dieses allgemeinen Programmes lassen sich besonders zwei für diese Regimes typische Bereiche staatlichen Handelns orten: 1) Stabilisierung der finanziellen Situation: Oft treffen diese Regimes als Erbe der vorangegangenen populistischen Regierungen eine chaotische Situation bei den Staatsfinanzen an. Diese werden mit orthodoxen Finanzpolitiken zu stabilisieren versucht. In diesem Bereich sind ausländische Einflüsse und Unterstützung am deutlichsten sichtbar: In der Regel werden gute Beziehungen zu ausländischen Gläubigern und ihren Institutionen unterhalten. Das Vertrauen der Gläubiger in die technokratische Kapazität der neuen Regimes führt oft zur paradoxen Situation, dass sich die Auslandsverschuldung trotz Sanierungsbemühungen noch massiv erhöht. 2) (Neo-)liberale Wirtschaftspolitik: Teil der Desartikulierungsstrategie ist ein Abbau der staatlichen Aktivitäten in zahlreichen Gebieten der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Hierzu gehört eine Deregulierung der Märkte — meist mit Ausnahme des Arbeitsmarktes —, ein Abbau der staatlichen Wirtschaftstätigkeit sowie ein Abbau der staatlichen Bürokratie. Dabei wird auch

66 67

So etwa Argentinien 1930-1943, nach Yrigoyen. Christ-Demokraten und Linksfront in Chile vor 1973; Peronisten und Anti-Peronisten in Argentinien vor 1976.

138

4. Politische Regimes und

Regimewandel

nicht zurückgeschreckt vor der Privatisierung von so traditionellen staatlichen Domänen wie dem Sozialversicherungswesen. Die wichtigste Herrschaftstechnik dieser Regimes sind Repression und Desartikulation. Ein Erfolg der technokratischen Sanierungsanstrengungen stellt allenfalls eine gewisse Legitimitätsbasis solcher Regimes dar und ermöglicht zeitweise ein niedrigeres Ausmaß von Repression. Bleibt ein Erfolg aus, spielt das Vorhandensein eines effizienten Repressionsapparats eine große Rolle. Unterstützt wird er durch eine gesetzgeberische Tätigkeit— vorwiegend über Dekrete —, die politische Artikulation möglichst minimiert. Hierzu gehört besonders das Verbot politischer Parteien und Interessenorganisationen (Gewerkschaften), deren Aktivisten oft verfolgt werden. Gesetzgebung und Repression dienen der Aufrechterhaltung eines desartikulierten Zustandes. Aufgrund der Desartikulationspolitik des Regimes ist die autonome Interessenartikulation weitgehend blockiert. Ein wichtiges Element der technokratischen Ideologie der Machtelite ist das Misstrauen gegenüber Politik und Politikern. Die zur Machtübernahme führende krisenhafte und chaotische Situation wird einer mangelnden Verarbeitungskapazität von Politik allgemein sowie den schlechten Charaktereigenschaften der Politiker generell zugeschrieben. Der politische Teil der "Sanierung" besteht daher möglichst in einer "Abschaffung" der Politik oder doch in einer möglichst weitgehenden Zurückbindung autonomer politischer Prozesse. Herkömmliche Prozesse der Interessenartikulation verlieren daher spürbar an Relevanz. Im schlimmsten Fall werden Parteien verboten und Aktivisten strafrechtlich oder physisch verfolgt, in weniger drastischen Fällen verliert eine bürgerliche Öffentlichkeit allgemein an Gewicht. Gesetzesdebatten im Parlament werden kürzer, die Presse übt Selbstzensur. Auf einer niedrigeren Ebene implizieren solche Prozesse aber auch, dass es zum Zerfall von klientelistischen Formen der Interessenvertretung kommt. 68 Dies bedeutet, dass eine politische Basis, die klientelistische Ansprüche an das System stellt, ebenfalls zurückgeht. Die politische Desartikulation ist also eine wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliche Sanierungsanstrengungen. Für die entsprechenden Bevölkerungsgruppen haben sie jedoch gravierende wirtschaftliche und soziale Einbußen zur Folge. KS Bürokratische Formen bei Interessenorganisationen, personalistische Formen bei vielen Parteiorganisationen.

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

139

Das Hauptmerkmal dieses Regimetyps ist gleichzeitig sein zentrales Problem: Der Mangel einer tragfähigen sozialen Basis. Der Misserfolg von Sanierungsbemühungen führt deshalb regelmäßig zum Regimezerfall. Eine wichtige Strategie zum Umgang mit diesem Problem ist die diesen Regimes eigene Begrenzung der eigenen Lebensdauer: Schon bald nach der Machtübernahme erklärt man sich selbst für temporär und legt detaillierte Marschpläne für die Abgabe der Macht vor — dies gilt nicht zuletzt für das sehr dauerhafte Regime von Pinochet in Chile. Illustrationsbeispiel:

Chile unter Pinochet

(1973-1990)

Die Vorgänge von 1973 sind bekannt: Mit dem Argument, die sozialistische Regierung Allendes habe den Boden der Verfassungsmäßigkeit verlassen, ergriffen konservative Militärs in einem blutigen Putsch die Macht, um das Land vor dem Marxismus zu retten. Entgegen den Hoffnungen konservativer und christdemokratischer Politiker, die den Putsch anfänglich unterstützten, behielt das Militär, dominiert vom Kommandanten des Heers, General Pinochet, die Macht. Mit einer radikalen Umstrukturierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sollte Chile bis 1990 zu einem entwickelten Land gemacht werden, dessen Bevölkerung dank ihres Wohlstands gegenüber den Verlockungen des Marxismus immun sein würde. Im Zentrum der schmalen sozialen Basis des Regimes stand die technokratische ausgerichtete Staatsklasse. Diese bestand neben dem Militär einmal aus einer Wirtschaftsequipe von bekannten Ökonomen, die ihre Ausbildung an der katholischen Universität von Santiago und in Chicago erhalten hatte. Daneben entfaltete sich im Zusammenhang mit der Privatisierung eine Schicht von zivilen Technokraten, Managern und Financiers außerhalb der Staatsklasse. Schließlich wurden im Gefolge der politischen Krise von 1984 Segmente der nicht-demokratischen Rechten in den Kreis des Regimes gezogen. 69 Die Staatsfunktionen wurden in den Dienst des Umstrukturierungs- und marktwirtschaftlichen Reformprojektes des Regimes gestellt. Die Regierung war überzeugt, dass eine neoliberale Wirtschaftspolitik die Wirtschaft zu einem makroökonomischen Gleichgewicht zurückführen und ein rasches

69

Zu Chile unter Pinochet vgl. Edwards und Edwards (1986), Tironi (1986), Valenzuela und Valenzuela (1986), Borzutzky (1987), Zeitlin und Ratcliff (1988), Garretón (1989, 1993), Bosworth et al. (1994).

4. Politische Regimes und

140

Regimewandel

Wachstum produzieren würde. Diese Wirtschaftspolitik war durch die drei Elemente der Deregulierung der Märkte, des Desengagements des Staats aus der Wirtschaftstätigkeit und schließlich der orthodoxen Finanz- und Budgetpolitik gekennzeichnet. Die folgenden Ausführungen beziehen sich kurz auf die ersten beiden Bereiche. 1) Deregulierung: Seit den späten 1930er Jahren verfolgte Chile eine durch den Staat geforderte Importsubstitutionsstrategie. Durch einen massiven Abbau der Zollschranken und eine Deregulierung der Binnenmärkte erfolgte ab etwa 1974 eine radikale Abkehr von der binnenmarktorientierten Entwicklungsstrategie. Dies führte mittelfristig zu einer Stagnation der industriellen Produktion und zum Entstehen neuer landwirtschaftlicher Exportsektoren — Früchte und Holzprodukte sind heute nach Kupfer die beiden wichtigsten Exportsparten. Im Widerspruch zur allgemeinen Politik wurden hingegen die Arbeitsmärkte weiterhin stark reguliert mit einer restriktiven Gewerkschafts- und Lohngesetzgebung. Zum Teil führte dies zu wirtschaftlichen Verzerrungen, die dem monetaristischen Grundkonzept zuwiderliefen. 70 Erklären lässt sich dies mit den politischen Bedürfnissen zur Desartikulierung von bedrohlichen Masseninteressen. 2) Privatisierungen: Im Zusammenhang mit der Importsubstitutionsstrategie erfolgte seit dem Wahlsieg der Volksfront von 1938 der Aufbau einer Staatsindustrie über die Staatsholding CORFO (Corporación de Fomento de la Producción). Unter Allende wurde ihr Umfang 1970-1973 erheblich vergrößert: von 46 Firmen (davon 1 Bank) auf 488 Firmen (davon 19 Banken). Ab 1974 erfolgte eine rasche Reprivatisierung, die weit über den Stand von 1970 hinausreichte: 1980 waren noch 23 Firmen in den Händen von CORFO (davon 11 im Verkauf)- Diese Verkäufe wurden stark subventioniert (ca. ein Drittel oder mehr des Buchwerts) und gelangten an wenige grupos genannte Beteiligungsgesellschaften: 1978 kontrollierten fünf grupos 250 größere Gesellschaften. Diese Operation trug maßgeblich zum Aufbau einer sozialen Basis des Regimes außerhalb der Staatsklasse bei. 71 Herrschaftstechnik und Interessenartikulation des Regimes trugen stark repressive Züge. Parteien und der Großteil der Interessenorganisationen wurden zunächst suspendiert und 1977 verboten. Die Verfolgungen oppositioneller Aktivisten und die damit verbundenen massiven Menschenrechts70

Vgl. hierzu die Arbeiten von Edwards und Edwards (1986) und Foxley (1983).

71

Vgl. Edwards und Edwards (1986:95-97).

4.3 Strukturelle Eigenschaften der

Regimetypen

141

Verletzungen sind hinlänglich bekannt. Im Folgenden soll auf drei Aspekte dieser desartikulierten, entpolitisierten politischen Kultur eingegangen werden: Die zeitliche Schwankung der Intensität von Repression, das Zusammenspiel von Wirtschaftsreform und einer autoritären Kultur, sowie die Desartikulation an der Basis. 1) Desartikulation an der Basis: Seit der Parlamentarischen Republik (1891-1920/24) hatte Chile ein parlamentarisches System, bei dem die Wähler über klientelistische Beziehungen ihre Stimmabgabe von den persönlichen Dienstleistungen der Politiker abhängig machen konnten. Die Lokalbehörden spielten in diesem System ein wichtige troßer-Funktion. 72 Entsprechend setzten die Bemühungen zur Zerstörung der bestehenden politischen Strukturen zuerst an dieser Basis nachhaltig ein. Eines der ersten Gesetze löste die Lokalbehörden auf und machte die Bürgermeister zu reinen Staatsangestellten. Hiermit fehlten ihnen auch die Ressourcen — d.h. die Möglichkeit, über die Steuerung des Wahlverhaltens politische Unterstützung zu gewähren oder zu entziehen — um auf die Zentralverwaltung Druck auszuüben. Dies führte dazu, dass strukturschwache Regionen noch mehr vernachlässigt wurden als früher. Es heißt aber auch, dass keine institutionellen Kanäle mehr zur Artikulation von Interessen existierten. 2) Wirtschaftsreform und autoritäre Kultur: Politische Interessen wurden, dem technokratischen Gesellschaftsverständnis der Machtelite entsprechend, möglichst versachlicht. Bedürfnisse sind nicht politisch, sondern auf dem Markt zu artikulieren. Im Umfeld der neoliberalen Wirtschaftspolitik überlebt nur, wer sich den Marktgegebenheiten optimal anpasst. Insofern wurde nicht nur ein politisches System zerstört, sondern es wurde mehr oder minder bewusst auf eine Vereinzelung der Bürger im wirtschaftlichen und sozialen Sinn hingearbeitet. Insofern ergänzten sich politische Repression und neoliberale Wirtschaftspolitik in Chile gegenseitig. 3) Zeitliche Schwankungen im Gebrauch von Repression: In der Geschichte des Regimes lässt sich eine repressive Anfangsphase bis etwa 1977, sodann eine Institutionalisierungsphase bis etwa 1983 und danach wieder eine verstärkte Neigung zu Repression feststellen, die ab 1988 dank einer Einigung der Opposition auf ein Nein gegen die weitere Präsidentschaft Pinochets zusammenbrach. Die Anfangsphase lässt sich als Konsolidierung der Macht und forcierte Desartikulierung interpretieren. Interessanterweise ist die 72

Valenzuela(1977).

142

4. Polltische Regimes und Regimewandel

mittlere Phase mit zwei Urnengängen 1978 und 1980 auch diejenige Phase, in der ein relativ hohes Wirtschaftswachstum erzielt wurde. Die Legitimität des Regimes unter der neuen Wirtschaftselite war verhältnismäßig hoch, und die angesprochene autoritäre Kultur funktionierte bis zu einem gewissen Grad. Dieses Herrschaftssystem brach jedoch mit der Wirtschaftskrise von 19811983 weitgehend zusammen.

Instabile Übergangsperioden: Allianzpaktes

Absenz eines

durchsetzungsfähigen

Übergangsperioden sind durch die Absenz eines durchsetzungsfahigen Allianzpaktes zwischen den gesellschaftlichen Kräften und Machtfaktoren gekennzeichnet. Das Patt zwischen den politisch relevanten Kräften hat zur Folge, dass sich kein stabiles Regime herauszubilden vermag. Diese Situation ist gekennzeichnet durch kurzlebige, schwache Regierungen mit häufig unterschiedlichen politischen Ausrichtungen. Im Unterschied zum desartikulierten Regime vermag sich bei diesen Übergangsperioden auch keine militärischzivile Technokratengruppe dauerhaft durchzusetzen. Staatsfunktionen und Formen institutionalisierter Herrschaft sind weitgehend inexistent. Es dominieren repressive Herrschaftstechniken, die aber — im Unterschied zu desartikulierten Regimes — zu keinem Erfolg führen. Hinsichtlich der Interessenartikulation dominieren Konflikte zwischen verschiedenen Allianzpakten. Dementsprechend ist das gesellschaftliche Konfliktniveau in diesen Übergangsphasen beträchtlich — revolutionäre Phasen, wie beispielsweise die mexikanische Revolution zu Beginn des Jahrhunderts oder in Nicaragua in den Jahren 1978-1979 sowie bürgerkriegsähnliche Zustände wie in Kolumbien während der violencia (1946-1958) sind typische Beispiele für Übergangsperioden. Ein anderes Beispiele für eine solche Situation bildet Haiti nach der Absetzung und der Flucht von Jean Claude Duvalier: Zwischen Februar 1986 und Dezember 1991 amtierten sieben verschiedene (Übergangs-)Regierungen. Der Versuch des Militärs, ein desartikuliertes Regime einzurichten (Namphy, Avril) scheitert ebenso wie das kurze populistische Regime von Jean-Baptiste Aristide von Februar 1991 bis September 1991.

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Einbezug der stadtischen und ländl. Unterschichten in klassenübergreifende Allianz; Bedeutung der Staatsklasse

Armee, schmale bürokraL Ruhe + Ordnung, Sanierung der Wirtschaft mit Segmente, inL WirttechokraL Massnahmen schaftsinteressen

Fèhlen eines durchsetzungsfähigen Dominanzpakts

Unterschichtsbasiertes populistisches Regime

Desartikuliertes Regime

Übergangsperiode

Im portsubstituie rende Industrialisierung

Allianz von Faktionen der Ober- mit stadtischen Mittelschichten

Mittelschichtsbasiertes populistisches Regime

Bürgerrechte, Beschäftigung für Mittelschichten

NaL Industriebourgeoisie Wie oben, zusatzlich star- Repression, Korporatis- schwach artikuliert kes Engagement in Ener- mus, bürokraL Klienin Allianz mit Staatstelismus gie und Basisindustrie klasse, Auslandskapital

Industrie bourgeoisie

Einlösung von Verteilungsansprüchen, schwache Inkorporierung, gescheiterte Mobilisierung Mangel einer legitimen Basis

CharismaL Führer, div. über Elite hinausgreifende Parteitypen

Rückgang öffentlicher Interessenvertretung

bürokraL und MassenKlientelismus, Korporatismus, Populismus, poliL Religion Repression

Konflikte zwischen verschiedenen Mobilisierungsmodellen

Einlösen von Verteilungsansprüchen, Opposition von Elite und Unterschicht

CharismaL Führer, Massenklientelismus, Populismus, poliL Reli- Maschine-, z.T. personalistische Parteien gion

Wie oben, zusätzl. Entzug der Legitimationsbasis durch Wirtschaftskrisen

Aspirationen stadtischer Repression, trad. Klien- Elitistische Klub-Partelismus teien, schwache Öffent- Mittel- und Unterschichten lichkeit

Optimierung privatwirt Produktionsbedingungen (Ruhe und Ordnung, ev. Infrastruktur)

Exportorientierte Agrar-, Handels- und Finanzbouigeoisie, internat. Wirtschaftsinteressen

Ansprüche der Gruppen außerhalb der Staatsklasse (inkl. trad. Elite)

Probleme

Exportbourgeoisie

1) bürokraL Klientelismus, Repression

:3

Zentralisierte Aneignung von Mehrprodukt und Produktionsmitteln

GO

StaatsbUrokratie, v.a. Militar



Staatsklassenregime

nicht vorhanden, da unterdrückt

S Interessenartikulation

«

Herrschaftstechniken

-C o

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Soziale Basis

c &

Regimetyp

4.3 Strukturelle Eigenschaften der Regimetypen 143

144

4. Politische Regimes und Regimewandel

Zusammenfassung der regimespezifischen

Eigenschaften

Die oben diskutierten verschiedenen Regimetypen und Unterformen sowie ihre Eigenschaften hinsichtlich der staatlichen Aktivitäten und Funktionen, der angewandten Herrschafitstechniken und des Musters der Interessenartikulation sind in Tabelle 4.1 zusammengefasst. Die These regimespezifischer Ausprägungen in wichtigen Elementen des politischen Systems lässt sich gut illustrieren anhand der unterschiedlichen Bedeutung klientelistischer und korporatistischer Herrschaftstechniken bei den verschiedenen Regimetypen. Traditioneller Klientelismus dominiert in Exportbourgeoisien. Bürokratischer Klientelismus spielt demgegenüber eine zentrale Rolle in Staatsklassenregimes. Darüber hinaus tritt bürokratischer Klientelismus in Kombination mit schwach ausgeprägtem Korporatismus in Industriebourgeoisien auf sowie — gepaart mit Massenklientelismus und Korporatismus — in unterschichtsbasierten populistischen Regimes. Reiner Massenklientelismus ist charakteristisch für mittelschichtsbasierte populistische Regimes. Klientelistische und korporatistische Strukturen sind hingegen inexistent in desartikulierten Regimes und Übergangsperioden. Ähnliche Variationen treffen auch für das Muster der Interessenartikulation zu, beispielsweise hinsichtlich der Relevanz verschiedener Parteitypen: Klub-Parteien finden sich in Exportbourgeoisien, Maschine-Parteien und personalistische Parteien in mittelschichtsbasierten populistischen Regimes. Ideologisch ausgerichtete Kaderparteien und korporatistische Staatsparteien sind demgegenüber für unterschichtsbasierte populistische Regimes charakteristisch. In Staatsklassenregimes und in Industriebourgeoisien ist das Parteiwesen demgegenüber nur schwach artikuliert und in desartikulierten Regimes fehlt es vollständig.

4.4 Die Evolution politischer Regimes: Das Beispiel des reformistischen Militärregimes von Velasco in Peru Politische Regimes sind keine statische, sondern zeitveränderliche Strukturen. Eine zentrale Frage stellt sich deshalb zu den Mechanismen, über die Herrschaft von Regimes aufgebaut und stabilisiert wird. Die Antwort erlaubt Rückschlüsse auf die innere Dynamik einzelner Regimes und damit auf ihren

4.4 Die Evolution politischer Regimes: Peru unter Velasco

145

"Erfolg" — im Sinn von Herrschaftsdauer — und auf die Prozesse, die zu ihrer Ablösung durch ein anderes Regime führen. Die Analyse des Regimewandels und der damit verbundenen Beziehungen zu Herrschaftsformen, Strukturen der Interessenartikulation und staatlichen Aktivitäten soll in diesem Abschnitt anhand einer detaillierten Einzelfallstudie zum reformistischen Militärregime von Velasco in Peru (1968-1975) entwickelt werden. 73 Seit seiner Machtergreifung hat dieses Regime eine breite sozialwissenschaftliche Forschung inspiriert. Dass auch noch in den 1980er und 1990er Jahren unterschiedliche Versuche zur abschließenden Beurteilung unternommen worden sind, zeigt die fortdauernde theoretische Relevanz dieses konkreten Regimes. 74 Einfachere Interpretationen knüpfen bei der begrifflichen Form des "intermediate regime" an , 7 5 Einige Studien thematisieren in spezifischerer Weise die Beziehungen zwischen den relevanten sozialen Klassen bzw. Faktionen und dem Staat. 76 Andere Arbeiten, etwa die bereits erwähnte Studie über den lateinamerikanischen Korporatismus von Stepan, 77 versuchen die Entstehung und die Dynamik des Regimes wesentlich expliziter unter dem Aspekt des Aufbaus von Machtpotentialen und ihrer wechselseitigen Beziehungen zu fassen. Mit dem Begriff der Hegemoniekrise, auf die das Regime Velascos eine strukturelle Antwort gesucht habe, weist schließlich die marxistisch inspirierte Diskussion ausdrücklich auf den Gesichtspunkt der Allianzbildung von Machtpotentialen hin, ohne allerdings einen Regimebegriff zu entwickeln.7® Im vorliegenden Abschnitt illustriere ich mit der reichen Literatur zur politischen Entwicklung Perus zwischen den 1950er und den 1980er Jahren das Argument, dass politische Regimes auf nationalstaatlicher Ebene eine strukturierte Abfolge aufweisen. Für die nachfolgende Diskussion der politischen Entwicklung Perus ergeben sich aus diesen Überlegungen folgende Orientierungspunkte: Zunächst gilt es, die Abfolge verschiedener Regierungen unter dem Aspekt des Regimes, der wechselnden Allianzen politisch relevanter so73

Eine frühere Fassung dieses Abschnittes findet sich in Pfister und Suter (1991).

74

Vgl. Jaquette und Lowenthal( 1987). So in unterschiedlicher Weise FitzGerald (1976) und Mansilla (1977: Kap. 4); zum Begriff vgl. Kalecki (1972). Neben FitzGerald (1976) vgl. insbesondere Becker (1983). Stepan (1978). Quijano (1973: 461-463, 1975), Cotler (1975: 47-50, 1978), Basurco Valverde (1985: 224f.).

75

76 77 78

4. Politische Regimes und Regimewandel

146

zialer Gruppen, zu verfolgen. Dann sind die spezifischen Ausprägungen der verschiedenen Regimes in den Bereichen staatlicher Aktivitäten, Herrschaftsformen und in Strukturen der Interessenartikulation aufzuzeigen. Besonderes Augenmerk ist dabei den Bemühungen zur Kontrolle der Interessenartikulation zu schenken, da sich in ihnen und in ihrem Scheitern die Strukturprobleme niederschlagen, die den Übergang zu einem anderen Regimetyp beeinflussen.

Der Weg in die Hegemoniekrise:

1948-1968

Etliche Autoren unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung charakterisieren den Zustand des politischen Systems Perus in den späten 1960er Jahren mit dem Begriff der Hegemoniekrise. 79 Das Vorhandensein einer Krise erklärt jedoch noch nicht, weshalb 1968 ein populistisch ausgerichtetes Regime an die Macht kam, das die Unterschichten über korporatistische Integrationsstrategien zu einer wichtigen Stütze der Herrschaft zu machen suchte. Vielmehr ist der Wandel in Peru zwischen den späten 1940er Jahren und 1968 von einem Regime, das sich auf die Exportbourgeoisie stützt (Odrfa und Prado 19481962) zu einem auf die städtischen Mittelschichten gestützten populistischen Regime (Belaünde 1963-1968) vergleichbar mit Entwicklungen in anderen lateinamerikanischen Ländern. 80 Auf die Exportbourgeoisie gestütztes Regime (1948-1962) Entsprechend des allgemein verbreiteten Musters von Regimes, die sich auf Kapitalinteressen stützen, wurde die peruanische Politik in den Jahren 19481962 durch die traditionellen hacienda-Besitzer des Hinterlands, die exportorientierten Zucker- und Baumwollplantagenbesitzer in den küstennahen Flussoasen sowie das städtische Handels- und Finanzbürgertum beherrscht. Odrfa (1948-1956) wurde dabei abgesehen von einer kurzen Anfangsphase vor allem von den hacienda-Besitzern der Sierra gestützt, während unter Prado (1956-1962) die modernere, exportorientierte Bourgeoisie dominierte.

79

80

Vgl. Quijano (1973) und die sich auf ihn beziehenden Arbeiten sowie allgemeiner Collier (1976: 10). Ausführlich dazu vgl. Abschnitt 4.5.

4.4 Die Evolution politischer Regimes: Peru unter Velasco

147

Wie weiter oben aufgezeigt, bauen politische Regimes mit dieser sozialen Basis auf die Perspektive einer klassischen außengerichteten Entwicklung. Ihre mittelfristige Stabilität hängt damit von einem günstigen internationalen Umfeld ab, weshalb sich diese Regimes historisch auf durch Rohstoffbooms gekennzeichnete Perioden konzentrieren. In Peru war dies nicht anders. Der Koreaboom der 1950er Jahre bewirkte bei zahlreichen Rohwaren beträchtliche Preishaussen und trug wesentlich zur Festigung eines auf exportorientierte Kapitalinteressen basierenden Regimes bei. Die Staatstätigkeit beschränkt sich entsprechend des verfolgten Entwicklungsmodelles in der Regel auf die klassischen Aufgaben der Sicherheit, der Schaffung grundlegender Rahmenbedingungen für die Wirtschaftstätigkeit und der Schaffung einer die Exportwirtschaft unterstützenden Infrastruktur. Vergleicht man allerdings die staatlichen Strukturen, die unter einigermaßen stabilen Regimes dieses Typs herrschen mit denen in vorhergehenden Perioden, so lassen sich öfters beachtliche Leistungen des "state and nation building" feststellen: Im Allgemeinen folgen durch Exportinteressen gestützte Regimes auf ein mit nur geringer Staatlichkeit einhergehendes caudillajeSystem oder auf eine instabile Übergangsperiode. Das letztere gilt auch für Odría, der mit seiner Machtergreifung 1948 eine Übergangsperiode beendete, die seit dem Sturz von Leguia (1930) anhielt und in der die einzelnen Regierungen entweder eine sehr schmale politische Basis hatten wie das repressive Regime von Benavides (1933-1939) oder aus instabilen Allianzen bestanden (Sánchez Cerro 1931-1933, Bustamante 19451948). Wichtige Leistungen seiner Regierung betrafen einerseits die Schaffung eines die Auslandsinvestitionen begünstigenden Investitionsgesetzes, das die institutionellen Rahmenbedingungen für die außengerichtete Entwicklung der 1950er Jahre klärte und verbesserte. Andererseits sorgte Odría mit starker Hand für Ruhe und Ordnung. Die APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana), eine der ältesten populistischen Parteien des Kontinents, wurde mindestens anfänglich durch Repressionsmaßnahmen stillgelegt. Seit Aktivisten aus ihren Reihen 1933 Sánchez Cerro ermordet hatten, stellte die APRA in den Augen des Militärs eine zentrale Bedrohung der politischen Stabilität dar.81 Mit dem Aufbau eines funktionierenden Repressionsapparates wurde die für die spätere Entwicklung bedeutsame Professio81

Bourricaud (1967), Stepan (1973: 60), Philip (1978: 41), Thorp und Bertram (1978: 210), Basurco Valverde (1985: 332f.).

148

4. Politische Regimes und

Regimewandel

nalisierung des peruanischen Militärs -in entscheidendem Maß unter Odrfa vollzogen. Neben dem Ausbau des Repressionsapparats gelang Odrfa durch politische Innovationen auch eine verbesserte institutionelle Absicherung seiner Herrschaft: In Analogie zum traditionellen Klientelismus des agrarischen Hinterlands baute er eine paternalistisch gefärbte, informelle Beziehung zu den hauptstädtischen Slums auf, die er auf diese Weise zu seiner Unterstützung mobilisieren konnte. Einerseits schuf er damit ein Gegengewicht zur stark in der Gewerkschaftsbewegung verankerten APRA, andererseits erleichterte er durch die bescheidene materielle Unterstützung der Slums die Land-StadtMigration und milderte dadurch den Reformdruck im Hinterland der Sierra, seiner wichtigsten politischen Basis. 82 Dank der stabilen Herrschaftsverhältnisse festigten sich auch die Institutionen der Interessenartikulation und -akkumulation. Der Übergang zur Nachfolgeregierung von Prado erfolgte durch Wahlen. Die peruanische Entwicklung der 1950er Jahre entspricht dabei der generellen Tendenz von durch Exportbourgeoisien gestützten Regimes, die sich als Wandel von einer "Entwicklungsdiktatur" zu einer elitistischen, durch informelle "Klub"-Strukturen geprägten Demokratie beschreiben lässt. 83 Ist der Aufbau einer staatlichen Basisinfrastruktur sowie die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Tätigkeit und den politischen Diskurs der Elite durch eine "Entwicklungsdiktatur" abgeschlossen, kommt es in der Regel zu einer Institutionalisierung des politischen Prozesses in Parteien und Wahlen. In einzelnen Fällen führte die in Parteien und Wahlen institutionalisierte Konkurrenz zwischen verschiedenen Elitefaktionen zur Bildung komplexer hierarchischer Netzwerke klientelistischen Charakters, wodurch sich die Stabilität eines auf Exportinteressen gestützten Regimes erhöhte. Beispiele sind die in Abschnitt 4.3 genannten Fälle von Chile und Kolumbien um die Jahrhundertwende. Im Peru der späten 1950er Jahre fand eine solche Entwicklung trotz der Rivalität zwischen den traditionellen hacienda-Besitzern des Hinterlands und der Exportoligarchie der Küstengebiete 84 nicht statt, und diese Tatsache ist m.E. grundlegend für das Verständnis der Entwicklung der 1960er Jahre.

82 83 84

Collier (1976: Kap. 4). Vgl. dazu die Ausführungen in Abschnitt 4.3. Caravedo (1974).

4.4 Die Evolution politischer

149

Regimes: Peru unter Velasco

Zwei Faktoren scheinen von entscheidender Bedeutung für die mangelnde Durchsetzungskraft eines oligarchischen "Klub"-Modells der Politik gewesen zu sein: Einmal waren wichtige Segmente des politischen Raums außerhalb der Elite bereits besetzt. Insbesondere stellte die gut organisierte Arbeiterschaft der agroindustriellen Betriebe der Küstenregion eine wichtige Machtbasis der APRA dar und ließ diese zu einem bedeutsamen politischen Faktor werden. Bezeichnenderweise hing die Stabilität der Regierung Prados, die weit weniger als Odria die Unterstützung der städtischen Slums gewinnen konnte, entscheidend von einem Stillhalteabkommen mit der APRA ab, der sog. convivencia. Darin zeigt sich die Relevanz einer populistischen Mobilisierung von Nicht-Elitegruppen, die in Chile und Kolumbien um die Jahrhundertwende noch fehlte: Sie stellte sich erst im Gefolge der Entstehung arbeitsintensiver industrieller oder agroindustrieller Wirtschaftszweige während der frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ein. 85 Der zweite Faktor besteht darin, dass der auf dem Bergbau und der Fischfangindustrie beruhende Aufschwung der Exportwirtschaft der 1950er Jahre die stärker subsistenzorientierte Landwirtschaft des Hinterlands kaum berührte. Die bestehenden Strukturen des traditionellen Klientelismus 86 erfuhren damit keine Erweiterung der Ressourcenbasis, die einer Expansion informeller Netzwerke förderlich gewesen wäre. Im Gegenteil wurden die traditionellen Abhängigkeitsverhältnisse durch Bevölkerungsdruck und Landknappheit zunehmend untergraben. In diesem Zusammenhang nahmen seit den späten 1950er Jahren Landbesetzungen stetig zu. 87 Die wirtschaftliche Basis des Regimes in einem expandierenden Exportsektor konnte dadurch den Zerfall klientelistischer Netze und die Entstehung eines politischen Vakuums nicht verhindern. Dies bewirkte, dass Mobilisierungsversuche populistischer Natur, die nicht von der Elite ausgingen, erfolgreich sein konnten. Mittelschichtsbasiertes populistisches Regime (Belaünde

1963-1968)

Im politischen Vakuum der frühen 1960er Jahre setzte sich bezeichnenderweise diejenige Kraft durch, die mit geringstem organisationellem Aufwand den größten Mobilisierungseffekt erzielen konnte: Die an diffuse Entwick-

85 86 87

Klaren (1973), Stein (1980), Goldberg (1983: Kap. 2-3). Cotler ( 1970:415-419), McClintock ( 1981 : Kap. 3). Cotler und Portocarrero ( 1969: 311).

150

4. Politische Regimes und Regimewandel

lungsaspirationen appellierende und vom charismatischen, eine breit angelegte populistische Kampagne führenden Belaúnde geleitete Acción Popular (AP). Darin zeigt sich der Grundsatz, dass eine Vergrößerung des politischen Raumes in einem Kontext geringer Institutionalisierung vor allem über "politische Religion" erfolgt. 88 Dementsprechend lag der Schwerpunkt der Bemühungen des Regimes darin, den politischen Raum organisatorisch dichter zu strukturieren und damit letztlich charismatische Herrschaft durch Formen bürokratischer Herrschaft zu stabilisieren. Klar fassbar werden diese Bemühungen im Ausbau des ländlichen Gemeindewesens und in der Durchfuhrung von Lokal wählen, welche von der AP in beiden Kampagnen des Zeitraums 19631968 gewonnen wurden. Ergänzt wurde die Penetration staatlicher und politischer Institutionen durch eine Entwicklungspolitik mit Schwergewicht auf dem Infrastrukturausbau: Mit dem Programm cooperación popular wurden lokale Infrastrukturvorhaben staatlich unterstützt, und Straßen- und Wohnungsbau waren Schwerpunkte der staatlichen Investitionsausgaben. Cooperación popular griff auf indigenes Gedankengut zurück; die Bevölkerung führte die öffentlichen Arbeiten selbst aus, während die Regierung Experten, Instrumente und Rohmaterial zur Verfügung stellte. Die Schaffung von cooperación popular war ein wichtiges Element des Parteiprogramms der Acción Popular, deren Aktivisten das Entwicklungsprogramm denn auch beherrschten. Cooperación popular sollte eine Herrschaftsstabilisierung in der Form eines bürokratischen Klientelismus bewirken. Ihr politischer — weniger der materielle — Erfolg war beträchtlich. 89 Wie in einer Reihe von ähnlich gelagerten Fällen gelang die Umwandlung von charismatischer Herrschaft in stabilere Herrschaftsformen nicht. Dies hing einerseits mit der nach wie vor starken Position der Oligarchie und andererseits mit der Tatsache zusammen, dass die lockeren Mittelklasseparteien, die das Regime unterstützten, nicht unbedingt die geeigneten Vehikel waren, um die von ihm selbst geschaffenen institutionellen Möglichkeiten zum Aufbau institutionalisierter Machtbasen auch auszunützen. Beim Regime Belaúndes zeigen sich diese Probleme darin, dass sich der Präsident im Parlament einer oppositionellen Mehrheit der APRA und der konservativen Gefolgschaft Odrías gegenüber sah. Diese Koalition verweigerte cooperación popular die benötigten Finanzmittel. Belaúnde musste vielmehr in die Schaf88 89

Vgl. Kapitel 2. Bourque und Palmer (1975:193-201), Kuczynski (1977: 51-70).

4.4 Die Evolution politischer

151

Regimes: Peru unter Velasco

fung einer alternativen Entwicklungsorganisation einwilligen, die der Opposition als Patronagequelle diente. Ein ähnliches Schicksal war der Politik der Förderung des Kooperativenwesens beschieden; diese Institution entwickelte sich rasch zu einem Betätigungsfeld der besser organisierten APRA. Schließlich ermöglichte das liberale institutionelle Umfeld die Entstehung zahlreicher, teilweise von Parteien abhängiger Basisorganisationen in Konkurrenz zu denjenigen der APRA, und zwar sowohl im ländlichen als auch im industriellen Bereich. 90 Das hauptsächliche Strukturproblem des Regimes bestand somit darin, staatliche Institutionen genügend rasch in den mit Mitteln der "politischen Religion" geschaffenen sozialen Raum auszuweiten und sie gleichzeitig zu kontrollieren. Die Aktivitäten der Regierung bewirkten vielmehr, dass staatliche Leistungen fragmentiert 91 oder zum Objekt eines intensiven Konflikts zwischen Parteien wurden. 92 Beides führte in eine Wirtschafts- und Finanzkrise, die maßgeblich zum Sturz Belaündes beitrug. Die genannten Strukturprobleme ließen für die nachfolgende Militärregierung eine korporatistische Strategie als sinnvolle Handlungsoption erscheinen.

Populistische und korporatistische Velasco, 1968-1975

Integrationsversuche

unter

Mit dem Militärputsch von 1968 entstand ein Regime, in dem die Integration der Unterschichten in die politische Machtstruktur mittels korporatistischer Methoden erstmals in Peru eine prägende Rolle spielte. Damit lässt sich die Periode Velascos mit anderen Regimes vergleichen, die auf nationalem Populismus und einschließendem Korporatismus beruhten. 93 Die Staatsklasse, sei es das Militär oder Teile der administrativen Bourgeoisie, spielt bei Regimes dieses Typs eine zentrale Rolle. Wie im vorangegangen Abschnitt beschrieben, ist für die Machtbasis des Regimes eine breite Allianz konstituierend, die Teile der städtischen und/oder der ländlichen Unterschichten, manchmal auch Teile des nationalen industriellen Wirtschafts90 91 92 93

Cotler und Portocarrero (1969:312-321), Scurrah und Esteves (1982:105-122). So im Falle des Entwicklungsprogramms cooperación popular. Zum Beispiel das Bildungswesen; Kuczynski (1977: 88-93). Germani (1978: Kap. 4), Schmitter (1974), Stepan (1978).

4. Politische Regimes und

152

Regimewandel

bürgertums umfasst. Zur Integration dieser breiten Allianz werden Methoden politischer Mobilisierung und Herrschaft angewendet, welche die Möglichkeiten mittelschichtsbasierter populistischer Regimes weit überschreiten. Regimes des fraglichen Typs erfahren im Verlauf ihrer Lebensdauer idealtypischerweise eine Abfolge von drei Phasen: Mobilisierung, Inkorporierung und Demobilisierung. Dies wurde in Abschnitt 4.3 geschildert. Die Bezeichnung dieser Abfolge als idealtypisch bedeutet, dass sie keineswegs generell auftritt, sondern vielmehr als Hintergrund zu betrachten ist, vor dem die strukturellen Probleme von Regimes dieses Typs analysiert werden können. Wie Tabelle 4.2 verdeutlicht, lässt sich zwischen 1968 und 1978 auch in Peru in Ansätzen ein derartiger Verlauf feststellen. Allerdings war die dritte Phase mit einem klaren Regimewechsel verbunden, der seinerseits in strukturellen Problemen der ersten beiden Phasen wurzelte. Um dieses frühzeitige Ende des Regimes zu erklären, diskutiere ich im folgenden die ersten beiden Phasen im Bereich der Allianz zwischen der Staatsklasse und verschiedenen sozialen Gruppen außerhalb der Elite. Die Stellung der

Staatsklasse

Mit Velasco ergriff ein reformistisches Segment des Militärs und damit der Staatsklasse die Macht. Dass dem so sein konnte, setzt eine Fraktionierung des Bürgertums in die Oligarchie und in das bürokratisch-administrative Kleinbürgertum voraus. Teilweise kam sie dadurch zustande, dass sich die peruanische Oligarchie traditionell wenig für Positionen in der schlecht bezahlten Administration interessierte. Wichtiger waren jedoch die von Odria ausgelösten Professionalisierungsprozesse, die zur Folge hatten, dass das Militär vermehrt eigenständige, institutionell definierte Interessen formulierte. Die zunehmend virulenter werdenden Bodenkonflikte in der Sierra, die in die Guerilla-Episode von 1965 mündeten, begünstigten die Ausrichtung dieser Interessen auf die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und auf eine sie garantierende Entwicklung. Die offensichtliche Unfähigkeit ziviler Politiker entwicklungsfördernden Reformen durchzusetzen, stellte einen wesentlichen Motivationsfaktor hinter der Machtergreifung von 1968 dar. Aus der Übereinstimmung der Revolutionsziele mit zentralen professionellen Interessen des Offizierskorps ergab sich der notwendige programmatische Konsens. 94

94

Stepan (1973,1978: Kap. 4), Kuczynski (1977:16). Philip (1978:101).

4.4 Die Evolution politischer Regimes: Peru unter Velasco

153

Tabelle 4.2: Phasen korporatistischer Herrschaftsbeziehungen der Staatsklasse gegenüber verschiedenen Allianzpartnern Allianzpartner

Phase I Mobilisierung

Phasell Inkorporierung

Phase III Demobilisierung

Bauern

autonom, schwach

D: Landreform (1969) I: CNA (1972)

Führungsmitglieder von CNA deportiert (1977), CNA aufgelöst (1978)

Arbeiter

Unterstützung CGTP (1970-71, autonom), offizielle Gewerkschaft CTRP (1972)

D: comunidad industrial (CI, 1970A71), propiedad social (EPS, 1974). I: CONACI (1974), CONAPS (1974-75)

Restriktives Streikrecht (1976), Inhaftierung von Gewerkschaftsführern (1976), Umstrukturierung der CI (1977), Stopp der EPS-Programme (1976)

Städtische Unterschichten

autonom, nicht institutionalisiert

D: Förderung der Stadtentwicklung (1968). I: eigenes SINAMOSBüro (1972)

Umstrukturierung von SINAMOS (1975), Aufhebung (1978)

Industriebürgertum

autonom

D: Importsubstituierende Industrialisierung I: - (informell)

Erklärungen der Abkürzungen: CNA: Confederación Nacional Agraria, CGTP: Confederación General de Trabajadores Peruanos, CTRP: Confederación de Trabajadores de la Revolución Peruana, CI: Comunidad Industrial, CONACI: Confederación Nacional de Comunidades Industriales, EPS: Empresa de Propiedad Social, CON APS: Comisión Nacional de Propiedad Social, SINAMOS: Sistema Nacional del Apoyo a la Movilización Social. Erklärungen Phase II: D: distributive Maßnahme, I: Integration über alleinvertretende Dachorganisation. Anmerkung: In Klammern ungefähre Jahresangaben.

In Peru entwickelte die führende Gruppe der Staatsklasse somit eine wesentlich andere Interessenlage als in Regimes, in denen soziale Gruppen außerhalb der Staatsklasse weitgehend marginal sind — d.h. in eigentlichen Staatsklassenregimes — und in denen das Interesse an Selbstprivilegierung dominiert. Sicher kamen unter Velasco Prozesse der Selbstprivilegierung vor; Ausgaben für neue Waffensysteme waren beträchtlich und trugen ihren Teil

154

4. Politische Regimes und Regimewandel

zur Verschlechterung der Zahlungsbilanzsituation ab 1973 bei. 95 In gewissem Sinn lässt sich der massive Ausbau der Bürokratie ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Selbstprivilegierung der Staatsklasse einordnen. Es wird geschätzt, dass dadurch gegen 200'000 Haushalte begünstigt wurden. 96 Allerdings ist diese Zahl auch vor dem Hintergrund der massiven Ausweitung der Staatsfunktionen zu sehen. Die Bauernschaft Zwar begünstigte das liberale Klima und die Konkurrenz zwischen verschiedenen politischen Parteien unter Belaünde die Entstehung von Bauerngewerkschaften. Insgesamt war jedoch die Interessenvertretung der Landbevölkerung mit Ausnahme der Arbeiterschaft aus den agroindustriellen Zuckerplantagen in den küstennahen Flussoasen während der späten 1960er Jahre nur schwach institutionalisiert. Die im Zusammenhang mit Landbesetzungen kurzfristig entstandenen sozialen Bewegungen lösten sich nach der Erreichung der Ziele oft rasch wieder auf. 97 Die unmittelbar nach der Machtergreifung in Angriff genommene Landreform war unter diesen Umständen eher Ausfluss der Ängste und des Reformwillens der Regierung als Folge eines starken Drucks von Seiten der Bauern. Sie nahm deshalb zunächst die Form einer im Vergleich zu den Bemühungen unter Belaünde starken Ausdehnung der staatlichen Penetration in den ländlichen Bereich an. Vom Staat gestellte Techniker und Verwalter spielten in den kollektiv verwalteten Betrieben und Genossenschaften teilweise eine beträchtliche Rolle, und die neu geschaffenen Landgerichte waren für die Durchsetzung der Reform gegenüber den Ansprüchen der Großgrundbesitzer von großer Bedeutung. Zwar wurde das auch machtpolitisch wichtige Ziel der Beseitigung des traditionellen Großgrundbesitzes weitgehend erreicht. Die Durchschlagskraft des Staats reichte jedoch nicht aus, um eine Dekapitalisierung zahlreicher Betriebe durch den scheidenden Großgrundbesitzer oder durch die Erhöhung des Eigenkonsums der Bauern zu verhindern. Außerdem profitierte nur eine Minderheit der Landbevölkerung von der Umverteilung 95

96 97

Zu den verschiedenen Aspekten der Selbstprivilegierung vgl. Villanueva (1982: 163169) und Philip (1978:109-113). Cleaves und Scurrah (1980: 32,72,77f., 250f.). Cotler und Portocarrero (1969), Cleaves und Scurrah (1980:178f.), McClintock (1981: 78f.).

4.4 Die Evolution politischer Regimes: Peru unter Velasco

155

— j e nach Schätzung zwischen 15% und einem guten Drittel. Dadurch sanken die Produktivität und die Ertragskraft vieler Betriebe, so dass die Landwirtschaft ihre Funktion als Motor der Binnenmarktausweitung nicht erfüllen konnte. 98 Da die Landreform zentral von der Regierung beschlossen und durchgeführt wurde, mobilisierte sie keine explizite Unterstützung unter der Landbevölkerung. Oft wurden die Vertreter des Staates als Eindringlinge empfunden, woraus eine geringe Identifikation mit den neugeschaffenen Betrieben resultierte." Angesichts der schwachen Mobilisierung der Landbevölkerung bestand auch kein Anknüpfungspunkt für ein "linkage" 100 zwischen Zentrum und Peripherie politischer Macht, d.h. für den Aufbau einer funktionierenden Interessenorganisation oder politischen Partei. Zwar versuchte die Regierung im Übergang zur Phase der Inkorporierung die Bauernschaft zu organisieren; 1972 wurde der traditionelle Verband der Agraroligarchie aufgelöst und durch die Confederación Nacional Agraria (CNA) ersetzt. Die CNA sollte die einzige vom Regime akzeptierte Vertretung des landwirtschaftlichen Sektors, der Landlose, Kooperativen sowie Klein- und Mittelbauern umfasste, darstellen. Die CNA war somit Teil einer korporatistischen Herrschaftsstruktur. In der Praxis entwickelte sich die nationale Struktur der CNA nur sehr langsam, und wesentlich artikuliertere, wenn auch kleine Interessenverbände brachten in Einzelfallen ihre Interessen weiterhin autonom und erfolgreich gegenüber dem Staat zum Ausdruck. Es lässt sich somit kaum von einer sehr effizienten korporatistischen Einbindung der Bauernschaft sprechen. 101 Die Industriearbeiterschaft Die Integration der Industriearbeiterschaft ins politische Regime vollzog sich einerseits über Kanäle der politischen Interessenartikulation und -akkumulation — d.h. auf der Ebene der Gewerkschaftsbewegung — und andererseits über Formen der Partizipation auf der Ebene des betrieblichen Eigentums und der Unternehmensführung. 102 Die Relevanz dieser zwei Bereiche für die Be98

Cleaves und Scurrah (1980: Kap. 4 und 7), Bourque und Palmer (1975).

99

Bartu (1979: Kap. 9), McClintock (1981: Kap. 10), Seligmann (1995). Lawson (1980). Cleaves und Scurrah (1980: Kap. 5), Seligmann (1995). Vgl. Knight (1975), Heymach (1979), Stephens Huber (1980), Scurrah und Esteves (1982), Haworth (1983), Palacios (1983).

100 101 102

156

4. Politische Regimes und

Regimewandel

Ziehung zwischen Regierung und Industriearbeiterschaft veränderte sich im Verlauf der Regimedauer entsprechend dem oben ausgeführten Phasenmodell: In der Mobilisierungsphase suchte das Regime die politische Unterstützung bestehender Gewerkschaftsverbände, während es später danach strebte, die Industriearbeiterschaft über die Schaffung von Formen betrieblicher Partizipation und den Aufbau staatlicher Gewerkschaftsverbände in eine korporatistische Herrschaftsstruktur einzubinden. 103 1) Mobilisierung im Rahmen der Gewerkschaftsbewegung: In den 1960er Jahren wurde die organisierte Arbeiterbewegung durch die APRA dominiert. Die Koalitionsabsprachen der APRA mit der Oligarchie 104 bewirkten jedoch eine zunehmende gewerkschaftliche Organisationstätigkeit links der APRA, die 1968 in der Gründung der kommunistischen CGTP (Confederación General de Trabajadores Peruanos) gipfelte. Das Militärregime unter Velasco versuchte sich zunächst auf die CGTP zu stützen, um damit die Dominanz der APRA-Gewerkschaften zu brechen. Da die autonome Interessenartikulation der Arbeiterschaft mit der Zeit für das Regime zunehmend bedrohlich wurde, baute es 1972 einen eigenen nationalen Gewerkschaftsverband auf, die CTRP (Confederación de Trabajadores de la Revolución Peruana). Da die CTRP jedoch in keiner Weise einen Alleinvertretungsanspruch beanspruchen konnte, wurde durch sie keine Inkorporierung der Arbeiterbewegung ins Regime erreicht. Die Konkurrenz zwischen verschiedenen Gewerkschaftszentralen förderte vielmehr die Mobilisierung der Arbeiterschaft im Rahmen einer pluralistischen Gewerkschaftsbewegung. Der sich daraus für die Regierung ergebende Kontrollverlust schlug sich in einer Intensivierung von Arbeitskonflikten und Streiks nieder. 105 2) Inkorporierungsprozesse im Rahmen der betrieblichen Mitbestimmung: Mit der Comunidad Industrial (Industriegemeinschaft; CI) und der Empresa de Propiedad Social (Sozialeigentumsunternehmen; EPS) schuf das Regime Vélaseos partizipative Formen betrieblicher Organisation. Die zahlenmäßig weit wichtigere CI wurde ab 1970 aus bereits bestehenden Unternehmen gebildet, während die wesentlich weitergehende Partizipationsform der EPS erst in den Jahren 1975/76 bei neugegründeten Firmen zur Anwendung kam.

103 104

105

Inkorporierungsphase; vgl. Tabelle 4.2 und Abbildung 4.1. Stützung von Prado 1956-1962; Oppositionsbündnis mit Odrfa während der Regierung von Belaünde. Höhepunkte 1973-1975; Stephens Huber (1980: 188-195).

157

4.4 Die Evolution politischer Regimes: Peru unter Velasco

Abbildung 4.1: Beziehungen zwischen Regime und Industriearbeiterschaft unter Velasco Regime^)

CNT

CTP

CTRP

CGTP

CONACI

CONAPS

CI

EPS

Gewerkschaftszentralen Institutionelle Beziehung Unterstützung Penetration

Betriebsformen

Erklärungen: Die Klammem geben die Jahre an, in denen die fraglichen Beziehungen bestanden. CNT: Confederación Nacional de Trabajadores, CTP: Confederación de Trabajadores del Perú, CTRP: Confederación de Trabajadores de la Revolución Peruana, CGTP: Confederación General de Trabajadores Peruanos, CONACI: Confederación Nacional de Comunidades Industriales, CONAPS: Comisión Nacional de Propiedad Social, CI: Comunidad Industrial, EPS: Empresa de Propiedad Social.

Im Rahmen der neuen Unternehmensformen erhielt die Arbeiterschaft betriebliche Mitbestimmungsrechte wie Einsitz ins Management, sowie Gewinn* und Kapitalbeteiligungen, wobei nur ein kleiner Teil der Arbeitskräfte von diesem Ressourcentransfer profitierte (ca. 8%). Die betriebliche Partizipation führte zu zahlreichen Konflikten zwischen der Unternehmerschaft und den Arbeitern und trug so ebenfalls zur gewerkschaftlichen Mobilisierung bei. Als Bindeglied zwischen dem Regime und den Unternehmen wurden nationale Körperschaften errichtet (CONACI, CONAPS). Allerdings gelang es dem Regime nicht, diese Institutionen zu kontrollieren und damit ein korporatistisches System zu installieren. Verantwortlich dafür waren einerseits Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Regimes und andererseits die erfolgreiche Unterwanderung dieser Institutionen durch die autonomen Gewerkschaften. Besonders deutlich zeigte sich dies bei den einzelnen CI sowie beim Nationalen Kongress der CI (CONACI), wo das Regime trotz des Rückzugs der materiellen Unterstützung und einer teilweise erfolgreichen Spal-

158

4. Politische Regimes und Regimewandel

tungsstrategie bereits zu Beginn (1974) die Kontrolle an die Gewerkschaften verlor.106 Wie aus Abbildung 4.1 hervorgeht, machte die Stellung der Arbeiterschaft im Regime insgesamt die folgende Entwicklung durch: Zu Beginn stützte sich Velasco auf ein bereits mobilisiertes autonomes politisches Potential innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Ab ca. 1970 versuchte das Regime, über distributive Maßnahmen politische Unterstützung innerhalb der Arbeiterschaft selbst zu mobilisieren und die so organisierten Potentiale gleichzeitig in eine korporatistische Herrschaftsstruktur einzubinden. Die staatliche Kontrolle der Interessenartikulation wurde jedoch verfehlt. Vielmehr unterstützten die vom Regime geschaffenen Institutionen die Herausbildung von autonomen Strukturen der Interessenartikulation und -akkumulation im Rahmen einer pluralistischen Arbeiterbewegung sowie innerhalb von betrieblichen Organen. Die marginale Bevölkerung der hauptstädtischen Elendsviertel Die in den städtischen Elendsvierteln 0barriadas, pueblos jóvenes) ansässigen Unterschichten wurden von der Regierung Vélaseos als wichtiges politisches Potential betrachtet, das es zu mobilisieren galt. 107 Die Attraktivität der Bewohner der barriadas als potentielle Allianzpartner für das Regime Vélaseos bestand darin, dass sie im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Marginalität nicht oder nur punktuell innerhalb bestehender politischer Kräfte organisiert waren. Gewerkschafts- oder parteiähnliche Institutionen fehlten weitgehend. Mobilisierungsanstrengungen liefen dadurch bei ihnen weniger Gefahr, durch oppositionelle Kräfte behindert zu werden. Gleichzeitig verfügte die Regierung mit der Legalisierung von Landeigentum über eine Ressource, die ein zentrales Anliegen der Slumbewohner betraf und das Regime verhältnismäßig wenig kostete. Während frühere Regimes nur sehr zögernd Eigentumstitel abgegeben hatten, wurden nach 1968 und insbesondere nach 1972 die Grundstücke rasch und in hoher Zahl legalisiert. Die Entwicklung des korporatistischen Herrschaftsmodells schlug sich im Bereich des Verhältnisses zwischen den pueblos jóvenes und dem Regime Vélaseos in einem Wandel von einer vorwiegend durch bürokratischen Kli-

106 107

Stephens (1980:151-160,215). Collier (1976: Kap. 7), Dietz (1977), Stepan (1978: Kap. 5).

4.4 Die Evolution politischer Regimes: Peru unter Velasco

159

entelismus geprägten Beziehung zu aktiven Bemühungen der Regierung zur Einbindung in eine korporative Struktur nieder. 1) Phase des bürokratischen Klientelismus: Mit der Oficina Nacional de Desarrollo de los Pueblos Jóvenes (ONDEPJOV) errichtete das Regime 1968 eine staatliche Institution zur Sanierung und Entwicklung städtischer Elendsviertel. Diese direkt dem Präsidenten unterstellte Organisation war zuständig für allgemeine Planungs-, Koordinierungs- und Überwachungsaufgaben sowie für die Verteilung von Landeigentumstiteln. Die Ausfuhrung der Projekte und die Vergabe von Eigentumstiteln wurde den jeweils zuständigen Ministerien übertragen, insbesondere der dem neugeschaffenen Wohnungsministerium unterstellten Dirección de Pueblos Jóvenes (DPJ). Die DPJ bildete die Nahtstelle in der Beziehung zwischen dem Regime und den pobladores, den Bewohnern städtischer Elendsviertel; alle staatlichen Leistungen gelangten über sie zu den pobladores. Zwischen ihren Beamten und den pobladores entstanden in der Folge typische Strukturen des bürokratischen Klientelismus. Innerhalb dieser Beziehung nahmen die pobladores die Rolle der Klienten, die Beamten der DPJ diejenige des Patrons ein. Die interne Organisation der Slums erfolgte autonom und ohne institutionelle Verankerung. Spontan aus dem Kreis der pobladores hervorgegangene Verhandlungsführer spielten eine wichtige Rolle als Broker. Das Regime stellte somit in erster Linie über die Beschleunigung und Umgestaltung administrativer Verfahren eine Beziehung zu den pueblos jóvenes her, eine Massenmobilisierung über politische Kanäle fand in dieser Phase nicht statt. 2) Inkorporierung über SINAMOS: In der ersten Hälfte des Jahres 1971 spitzten sich politische und soziale Konflikte in einer für das Regime gefährlich erscheinenden Weise zu. Im Mai fand mit der Besetzung von Pamplona eine der größten Landbesetzungen durch Slumbewohner statt. Um diese Entwicklung zu kontrollieren und womöglich in eine Mobilisierung zugunsten des Regimes umzulenken, wurde kurz darauf SINAMOS (Sistema Nacional del Apoyo a la Movilización Social) gegründet. Mit dieser Organisation, die an die Stelle von ONDEPJOV trat, stellte das Regime die Beziehung zu den pueblos jóvenes auf eine neue, politische Grundlage. Die lokale Organisation der Bewohner sollte nun von oben herab über SINAMOS strukturiert und in den Dienst des Regimes gestellt werden. Obwohl SINAMOS auch in anderen Bereichen aktiv war, war seine wichtigste Aufgabe die Mobilisierung der Bevölkerung in den pueblos jóvenes. Dies zeigt sich darin, dass neben zehn Regionalbüros im ganzen Land ein spezielles Büro fiir die pueblos jóvenes

160

4. Politische Regimes und Regimewandel

eingerichtet wurde, und dass der Militärkommandant von Lima diesem und nicht dem regionalen Büro vorstand. 108 Ziel von SINAMOS war, die lockere Beziehung zwischen der DPJ, autonomen lokalen Brokern und den pueblos jóvenes zu straffen und unter die Kontrolle des Staats zu bringen. SINAMOS verwaltete alle für die pueblos jóvenes vorgesehenen Ressourcen und Dienstleistungen und übernahm damit die Rolle eines institutionellen Brokers. Um in den Genuss staatlicher Leistungen zu gelangen, mussten sich die Siedlungen nach Vorgabe von SINAMOS in ein engmaschiges, hierarchisches Repräsentationssystem eingliedern lassen. Auf der untersten Hierarchiestufe rangierten die Haushalte, die sich in Blöcke, Quartiere, Sektoren etc. zu organisieren hatten; an der Spitze stand ein Exekutivkomitee, das als staatlich anerkannter Vertreter eines pueblo joven fungierte und in direkter Beziehung zum SINAMOS-Büro stand. In diesem mehrstufigen korporatistischen System der Interessenrepräsentation war einerseits die gesamte Bevölkerung integriert, doch umfassten andererseits die einzelnen Gremien auf den verschiedenen Hierarchiestufen nie mehr als 50 Vertreter, wodurch die Möglichkeit einer horizontalen Mobilisierung an der Basis begrenzt wurde. 109 Diesen Mobilisierungs- und Inkorporierungsversuchen war unterschiedlicher Erfolg beschieden. In jenen Siedlungen, die zuvor keine oder nur eine geringe autonome Interessenartikulation kannten, waren sie relativ erfolgreich. Hingegen leisteten die meist älteren Siedlungen, die über lokal gewachsene Formen der Interessenvertretung verfügten, häufig Widerstand gegenüber den staatlichen Kooptationsstragien. 110 Der Erfolg der korporatistischen Herrschaftsstrategie hing somit eng von der Existenz eines noch unstrukturierten politischen Raums ab. Das zwiespältige Verhältnis zum nationalen und internationalen Kapital Distributive und inkorporierende Politiken und damit das korporatistische Projekt insgesamt konnten letztlich nur nach Maßgabe einer Vertiefung der wirtschaftlichen Entwicklung erfolgen. Letztere wurde vor allem über einen binnenmarktorientierten Entwicklungspfad gesucht, der auf eine importsub-

108 109 110

Collier (1976,107f.). Stepan (1978: 170-174). Dietz (1977: 437).

4.4 Die Evolution politischer

Regimes: Peru unter Velasco

161

stituierende Industrialisierung ausgerichtet war. 111 Diese Ausrichtung prägte das Verhältnis des Regimes zum einheimischen und ausländischen Unternehmertum. 112 Die Beziehung war insofern zwiespältig, als das Regime den Kapitalinteressen zwar grundsätzlich wohlgesinnt gegenüberstand, gleichzeitig aber wirtschaftspolitische Ziele formulierte, die denjenigen der Unternehmer teilweise widersprachen. Hierzu gehörten neben der importsubstituierenden Industrialisierung auch die Oberhoheit des Staates über die natürlichen Ressourcen des Landes sowie — zum Zweck des bereits diskutierten Interessenausgleichs mit der Arbeiterschaft — eine starke Position des Staates im Produktionssektor. Hauptanliegen der staatlichen Interventionen im Industriesektor war es, finanzielle Ressourcen zu mobilisieren und vorhandenes Kapital in den wachstumsorientierten industriellen Sektor umzulenken. An diesem Ziel orientierte sich auch die Nationalisierungspolitik des Regimes: Ausländische Unternehmen, die vor allem Gewinne aus früheren Anlagen repatriierten und wenig neue Investitionen tätigten, wurden verstaatlicht, um den Ressourcenabfluss ins Ausland zu unterbinden. Umgekehrt wurden dynamische, wachstumsorientierte Unternehmen mit moderner Technologie, die das staatliche Monopol im Rohstoffsektor nicht bedrohten, vom Regime bevorzugt behandelt. Die Beziehung des Regimes zur einheimischen Unternehmerschaft war widersprüchlich und über die Zeit hinweg einem erheblichen Wandel unterworfen. In den ersten Jahren (1968-1970) war die Beziehung zwischen dem Nationalen Industriellenverband (SNI) und dem Regime ziemlich harmonisch. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die SNI während dieser Zeit von einer Gruppe moderner, dynamischer und teilweise exportorientierter Großunternehmen dominiert wurde, die von den großzügigen Subventionen für den Import und den Export von Industriegütern profitierte. Gleichzeitig bestanden informelle Beziehungen der Unternehmerschaft zum Machtzentrum des Regimes. Im Jahre 1971 übernahmen die Interessenvertreter der Kleinbetriebe, die mit arbeitsintensiven Technologien produzierenten, die Kontrolle über die SNI. Teilweise wegen der in diese Zeit fallenden Einführung der betrieblichen Mitbestimmung (CI ab 1970/71), die besonders die kleineren und mittleren Betriebe traf, kam es zu einer offenen Konfrontation zwischen der SNI und dem Regime, die Ende 1972 im Entzug der staatlichen Anerkennung 111

Thorp und Bertram (1978: 301-318), FitzGerald (1979), Weeks (1985).

1,2

Hunt (1975), Heymach (1979), Becker (1983), Ferner (1983), Stallings (1983).

162

4. Politische Regimes und Regimewandel

der SNI als nationaler Interessenvertretung aller Industrieller gipfelte. Die dominante Gruppe der kleinen und mittleren Industriellen organisierte sich neu in der SI (Sociedad de Industrias), wohingegen sich das regimefreundliche Segment der Großunternehmer in einer eigenen Institution formierte (ADEX, Asociación de Exportadores; 1973). Während die SI ihre Konfrontationsstrategie fortsetzte, versuchten die um ADEX gruppierte Faktion und die Regierung einen wechselseitigen Dialog zu institutionalisieren. Durch die Interpénétration von modernem Unternehmertum und staatlichen Verwaltungsspitzen — Manager gelangten auf Spitzenpositionen im expandierenden Staatssektor, während Offiziere leitende Stellen in der Privatwirtschaft erhielten — wurden zudem die bereits bestehenden informellen Beziehungen vertieft.113 Im Bereich des Verhältnisses zur Unternehmerschaft geriet somit das Projekt eines breiten Herrschaftspakts unter korporatistischen Vorzeichen in beträchtliche Widersprüche. Die gleichzeitige Integration dieser sozialen Gruppe und der Arbeiterschaft in die das Regime konstituierende Allianz erwies sich als unmöglich. Die Politik des Staates nahm deshalb gegenüber Teilen des Unternehmertums Formen des ausschließenden Korporatismus an. Nur die von der importsubstituierenden Industrialisierungspolitik begünstigte Gruppe von Großunternehmern und Managern war ins Regime integriert, doch waren diese Beziehungen stark informeller Natur.

Die Gründe für das Scheitern des korporatistischen modells

Herrschafts-

Um 1975 war das "Peruanische Experiment" gescheitert, war das Regime am Ende. Dies ist daraus ersichtlich, dass in diesem Jahr die Pressereform teilweise rückgängig gemacht wurde. Diese hatte ursprünglich das Ziel, mittels Verstaatlichung und Zuweisung der einzelnen Presseerzeugnisse zu vom Regime sanktionierten Interessenverbänden eine eigentliche korporatistische Öffentlichkeit zu schaffen. 114 Gleichzeitig wurde die in Ansätzen vorhandene Mobilisierungsmaschine des Regimes, SINAMOS, restrukturiert und redimensioniert. Dass der seit 1973 schwer kranke Velasco in einem unblutigen 113

Ferner (1983), Basurco Valverde (1985:211-217).

114

Booth (1983:167f.).

4.4 Die Evolution politischer

Regimes: Peru unter Velasco

163

Putsch durch General Morales Bermudez ersetzt wurde, ist unter diesen Umständen nur ein äußeres Zeichen. Im Folgenden bespreche ich die vier wichtigsten strukturellen Gründe für den Zerfall des Regimes von Velasco. 1) Mangelnde Mobilisierung: Das früher diskutierte idealtypische DreiPhasen-Modell eines sich auf korporatistische Methoden der Herrschaftssicherung stützenden Regimes sieht die Anfangsperiode als Zeit der stark populistisch gefärbten Massenmobilisierung. Eine solche Phase fehlte im Fall des Regimes von Velasco weitgehend. An der für die Initiierung einer korporatistischen Herrschaftsstrategie grundlegenden Autonomie des Staats fehlte es nicht. Die Autonomie wurde jedoch nicht zur Mobilisierung genutzt, sondern vielmehr zum Erlass distributiver Maßnahmen, auf deren Basis ab ca. 1971 Inkorporierungsversuche unternommen wurden. SINAMOS, das nationale "Mobilisierungssystem", wurde dagegen erst 1971 und damit zu spät gegründet und funktionierte kaum als Mobilisierungsmaschine. Erfolgreichere Regimes, die sich auf die Unterschichten stützten und vom Militär geprägt wurden, folgten auf eine Übergangsperiode. 115 In diesen Fällen war das Militär in das politische Geschehen involviert gewesen, hatte in engem Kontakt zu politischen Massenpotentialen gestanden und hatte dadurch Gelegenheit zur Erlernung von Mobilisierungsstrategien erhalten. Die in der Literatur wiederholt konstatierte politische Unbedarftheit der peruanischen Militärs dürfte im Fehlen dieser Konstellation in der Zeit nach Odrfa seinen Grund haben. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass in Peru 1968 das Militär bei weitem nicht das Ansehen der mexikanischen Revolutionsarmee genoss und dadurch weniger symbolische Ressourcen zu ihrer Verfügung hatte. Der historisch bedingten geringen Kapazität des Militärs zur politischen Mobilisierung steht die Besetzung relevanter politischer Räume durch vorhandene Strukturen der Interessenrepräsentation, v.a. im Bereich des Gewerkschaftswesens gegenüber. Sie engte den Handlungsspielraum zur Erschließung neuer Massenpotentiale entschieden ein. 2) Inkorporierung ohne "linkage": Wie erwähnt setzte ab 1971-1972 die zweite Phase des idealtypischen Verlaufsmodells — die Inkorporierung über korporatistische Organisationen — ein. Diese Institutionen funktionierten jedoch nur beschränkt als Foren der Interessenartikulation und dienten vorab als Kanäle der staatlichen Penetration. So blieb auch das "Mobilisierungssystem" SINAMOS vom Staat abhängig und entwickelte sich nicht zu einer politi115

Cârdenas in Mexiko 1934-1940, Perön in Argentinien 1943/6-1955.

164

4. Politische Regimes und

Regimewandel

sehen Partei mit autonomer personeller sowie ideologischer Basis. Außerhalb der städtischen Slums war es daher politisch weitgehend bedeutungslos. Aufgrund des Fehlens institutionalisierter Kanäle der Interessenartikulation ließ sich jedoch mit den vorangegangenen distributiven Maßnahmen keine stabile Unterstützung von Massenpotentialen aufbauen. Die relevanten sozialen Gruppen sahen sich oft gegen ihren Willen einem nur schwer beeinflussbaren Zugriff eines autonomen Staats ausgesetzt. Unter diesen Umständen hing der Erfolg der staatlichen Inkorporierungsstrategie vom Unvermögen der einzelnen Gruppen ab, ihre Autonomie zu wahren. Am besten gelang die Inkorporierung wie erwähnt im Bereich der städtischen Elendsviertel, in denen 1968 nur schwache und informelle Strukturen der Interessenartikulation (Patronage) bestanden. Bei der Bauernschaft, unter der sich schwache Ansätze zur gewerkschaftlichen Organisation fanden, ließen sich immerhin noch korporatistische Strukturen aufbauen, doch war ihre praktische Bedeutung bereits gering. Unter der Arbeiterschaft führte der Aufbau einer staatlichen Gewerkschaftszentrale zu einer Verschärfung der Konkurrenz zwischen verschiedenen Interessenorganisationen, und der institutionelle Ausbau im betrieblichen Bereich (CI, CONACI) verschaffte ihnen gleichzeitig Foren für eine weitgehend autonome Interessenartikulation. Anstelle der Inkorporierung und der Dämpfung des Konfliktniveaus wurde somit genau das Gegenteil erreicht, also eine Verstärkung klassenbasierter Mobilisierung und eine Erhöhung des Konfliktniveaus. Das politische System erfuhr eine Differenzierung: Die Mechanismen der Interessenartikulation und -aggregation lösten sich teilweise von den Strukturen der Herrschaftssicherung. Am ausgeprägtesten scheiterte die Inkorporierung beim Industrieunternehmertum, der sozial stärksten Gruppe der potentiellen Allianz: Die staatliche Politik ihr gegenüber war eher durch Bemühungen zur Fraktionierung als durch Inkorporierung geprägt. 3) Die Wirtschaftskrise: Es ist bekannt, dass Peru ab etwa 1975 in eine bis zu Beginn der 1990er Jahre andauernde Wirtschaftskrise geriet. Besonders schwere Krisenjahre mit negativen Wachstumsraten waren die Phasen 19761978,1982-1983, 1988-1991. Als Folge davon lag Anfang der 1990er Jahre das durchschnittliche reale Pro-Kopf-Einkommen 27% unter dem Niveau von 1975. 116 Das nationalkapitalistische Entwicklungsmodell des Regimes muss somit als gescheitert bezeichnet werden. Während die günstige Konjunktur 116

World Bank (World Data 1994).

4.4 Die Evolution politischer

165

Regimes: Peru unter Velasco

bis ca. 1972 distributive Maßnahmen erleichterte, führte die Verschlechterung der Wirtschaftslage zu einer drastischen Einschränkung des Manövrierraums. Wie weit das wirtschaftliche Scheitern des Regimes mit den oben diskutierten Problemen seiner strukturellen Entfaltung zusammenhängt, ist schwer zu beurteilen. Unbestreitbar waren externe Faktoren von beträchtlicher Bedeutung. 117 In einem unbestimmbaren Ausmaß spielten aber auch wirtschaftspolitische "Fehler" eine beträchtliche Rolle; über ihre Diagnose bestehen jedoch beträchtliche Meinungsunterschiede. Cline erkennt als wichtigsten Krisenfaktor einen Nachfrageüberhang, der durch eine AnspruchsinI I O

flation im politischen Bereich verursacht worden sei. Ein zweiter Diskussionsstrang argumentiert dagegen mit dem grundsätzlichen Widerspruch einer Politik der Importsubstitution: In einer Situation wenig wachsender Exporte von Primärgütern müsse der hohe Devisenbedarf des importsubstituierenden Industriesektors notgedrungen zu Zahlungsbilanzschwierigkeiten führen. Durch ineffiziente Regierungsarbeit, die in gewissen Fällen das Gegenteil der anvisierten Ziele erreichte, sei die Lage noch verschlimmert worden. 119 Mindestens teilweise lassen sich diese Faktoren auf die oben diskutierten Probleme des politischen Regimes zurückführen. Die ab 1973 erkennbare Anspruchsinflation lässt sich direkt mit dem Scheitern der Inkorporierungsphase und der Verstärkung autonomer Mobilisierungspotentiale in Verbindung bringen. Die Ineffizienz der Regierungsarbeit hing teilweise mit den Widersprüchen zwischen technokratischer und (nicht unbedingt qualifizierter) militärischer Regierungsführung, mit anderen Worten mit dem Scheitern beim Aufbau einer institutionellen Absicherung der Regierungsarbeit zusammen. Soweit die importsubstituierende Industrialisierung an die Grenzen des engen Binnenmarktes stiess, lässt sich schließlich auf die erwähnten politischen Gründe für den nur teilweisen Erfolg der Agrarreform verweisen. Die Wirtschaftskrise war wohl nur zum Teil ein externes Moment beim Zerfall des Regimes; zusätzlich stellt sie einen weiteren Aspekt der Schwierigkeiten des Regimes bei der Entfaltung eines korporatistischen Herrschaftsmodells dar.

117

1,8 119

Ausbleiben der Thunfischschwärme, Verschlechterung der Terms of Trade ab 1973, Anstieg des Zinsendienstes durch die Hochzinspolitik der USA; Cline (1981:303f.). Cline (1981: 298-301, 316f.). FitzGerald (1976: 69f.), Schydlowsky und Wicht (1983: 105f., 110-115).

166

4. Politische Regimes und

Regimewandel

4) Der Zerfall des programmatischen Konsensus: Das Scheitern der Inkorporierungsphase und der gleichzeitige Anstieg des Konfliktniveaus führten ab 1973 auch zu einer Zunahme der Artikulation von Interessengegensätzen im Offizierskorps. 120 Der um interne Entwicklung zentrierte programmatische Konsens zerfiel zusehends. Das institutionelle Interesse am Weiterbestehen eines homogenen Offizierskorps führte daraufhin in den Jahren 1974-1976 zur Formulierung eines neuen programmatischen Konsenses, der eine wesentlich geringere Rolle des Militärs in der Politik vorsah. Zur Kontrolle der überbordenden "Anspruchsinflation" sah dieses "liberale" Modell 121 die Desartikulation der entstandenen autonomen Mobilisierungspotentiale vor. Da dies einer Zerstörung der unter Velasco herrschenden Allianzstruktur gleichkam, ist gemäß der hier entwickelten Terminologie spätestens ab 1976 von einem Regimewandel zu sprechen.

Die Hinterlassenschaft:

Politische

Desartikulation

Den Zeitabschnitt zwischen der Absetzung Velascos bis mindestens zur Wahl von Garcia (1985) interpretiere ich als Übergangsperiode, wobei vor 1980 auch Elemente eines desartikulierten Regimes zu verzeichnen sind. Ich behaupte somit, dass trotz des institutionellen Wandels des politischen Systems — zwischen 1978 und 1980 fand der Übergang zu formal-demokratischen Strukturen statt — die politische Kräftekonstellation grundsätzlich konstant blieb. Damit sind folgende Merkmale gemeint: Einmal war die politische Macht auf eine kleine, nur wenig stabile Allianz abgestützt — zuerst das Militär, dann eine schmale zivile Politiker- und Technokratengruppe. Diese Allianz war starken internationalen Einflüssen unterworfen, insbesondere durch den IMF. Des Weiteren wurde eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik im Sinn eines Desengagements des Staats aus Institutionen zur Strukturierung von Interessenartikulation und -akkumulation betrieben; hier lässt sich von einem "wirtschaftsliberalen Herrschaftsmodell" sprechen. 122 Als Kehrseite dazu verlangte die Aufrechterhaltung der politischen Stabilität ein beträchtliches Repressionsniveau. Schließlich lässt sich tendenziell eine Abfolge er120 121 122

North (1983: 266). Cleaves und Scurrah (1980:25,91f.). Cleaves und Scurrah (1980:25,91f.); allgemein Heintz und Hischier (1983a: 107f.).

167

4.4 Die Evolution politischer Regimes: Peru unter Velasco

kennen von einer Phase aktiver Desartikulation der Massenpotentiale durch das Regime, das dadurch die für eine liberale Politik benötigten Autonomie gewinnen wollte (v.a. 1976-1978), hin zu einer mehr oder wenig stabilen Phase geringer politischer Artikulation. Politische Desartikulation

unter Morales Bermüdez

(1975-1980)

Oben wurde gezeigt, dass unter Velasco aufgebaute Institutionen der korporatistischen Interessenrepräsentation zunehmend zu Foren einer autonomen Interessenartikulation wurden. Institutionen zur Austragung der sich daraus ergebenden politischen Konflikte fehlten, so dass die Regierung um 1975 von allen Seiten unter Druck geriet. Die von der Regierung Morales Bermüdez in dieser Situation gewählte Strategie bestand in der Entdifferenzierung des politischen Systems, der Desartikulation politischer Potentiale. Unter Velasco geförderte Organisationen der Interessenrepräsentation wurden systematisch zurückgebunden, wenn nicht gar bekämpft: Der Bauernverband wurde, nachdem einzelne Führer verhaftet und exiliert worden waren, umstrukturiert und 1978 aufgelöst; dasselbe geschah mit SINAMOS. 123 Auch die organisierte Arbeiterschaft geriet ab 1976 in Gegesatz zum Regime, nachdem der radikale Flügel innerhalb der Armeeführung endgültig entmachtet war. Die Erosion der politischen und sozialen Basis verstärkte sich noch, denn die Regierung sah sich ab 1976 auch als Folge externen Drucks zur Einleitung von Stabilisierungsmaßnahmen gezwungen, um damit die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise zu überwinden. 124 Die Arbeiterbewegung unter der Führung der kommunistischen Gewerkschaften und der vormals vom Regime aufgebauten CTRP, setzte die Regierung von Morales Bermüdez unter starken Druck, der mit drei erfolgreichen landesweiten Generalstreiks zwischen Juli 1977 und Mai 1978 — den ersten seit 1919! — einen Höhepunkt erreichte. Das Regime reagierte zunächst mit dem Versuch, die oppositionellen Kräfte zu demobilisieren, indem es deren Artikulation und Organisation zu behindern suchte. Dazu gehörte eine Verstärkung der Pressezensur, die faktische Aufhebung der bürgerlichen Rechte durch die Verhängung eines vierzehnmonatigen Notrechtes und einer neunmonatigen nächtlichen Ausgangssperre in der Hauptstadt, die Unterdrückung von Streikaktivitäten sowie die Inhaftierung und

123 124

Cleaves und Scurrah (1980:185). Cline (1981: 305-310), Stallings (1983).

168

4. Politische Regimes und

Regimewandel

Exilierung von Gewerkschaftsführern. Darüber hinaus wurden die unter Velasco eingeführten Formen betrieblicher Mitbestimmung der Arbeiterschaft massiv abgebaut. So wurden ab Mitte 1976 die propiedad social-Piogramme sistiert, während die kollektiven Partizipationsformen der comunidad industriell modifiziert und in individuelle Beteiligungen umgewandelt wurden. Dies schwächte den Einfluss der Arbeiterschaft auf die Unternehmensfiihrung entscheidend, da die individuellen Beteiligungen von ihren Inhabern beliebig weiterveräußert werden konnten. 125 In dieser Entwicklung kommt die Zerstörung der institutionellen Beziehungen zwischen dem Staat und den potentiellen Allianzpartnern zum Ausdruck. Das ist der Grund dafür, dass die Regierung von Morales Bermüdez als radikaler Regimewandel anzusehen ist und nicht als Demobilisierungsphase in der Evolution eines sich auf korporatistische Herrschaftsmethoden stützenden Regimes. Gleichzeitig stellt sich jedoch die Frage, weshalb sich aus dieser Situation kein Regime bürokratisch-autoritären Zuschnitts, also ein eigentliches desartikuliertes Regime entwickelte. Drei sich ergänzende Erklärungen können hierfür gegeben werden: Erstens fehlte nach der Erfahrung unter Velasco im Militärapparat die Perspektive einer aktiven politischen Rolle; wie erwähnt legte die Situation ein professionelles Selbstverständnis mit niedrigem politischem Profil nahe. Zweitens hatte sich das Militär durch das Scheitern des korporatistischen Experiments als Allianzpartner weitgehend diskreditiert; die Allianz zwischen Militär, zivilen Technokraten sowie einheimischen und internationalen Kapitalinteressen, die im Fall von Brasilien in den 1960er und Chile in den frühen 1970er Jahren eine wichtige Rolle spielten, konnte so nicht entstehen. Schließlich blockierten sich die bestehenden politischen Potentiale nicht dermaßen, dass sich ein desartikuliertes Regime mit seiner schmalen sozialen Basis hätte entfalten können. 126 Sichtbar wird dies darin, dass die Desartikulierungspolitik der Regierung eine breite Solidarisierung der verschiedenen politischen Kräfte gegen das Regime auslöste, was die Isolierung der Militärs von allen zivilen Segmenten der Gesellschaft zur Folge hatte. Um einen geordneten Rückzug der Militärs zu gewährleisten, sah sich Morales Bermüdez deshalb ab Mitte 1977 gezwungen, einen Redemokratisierungsprozess einzuleiten. 127

125 126 127

Stephens (1980: Kap. 7). Stephens (1983: 84-87); allgemein Stepan (1978: Kap. 3). Abugattas (1987: 130-138).

4.4 Die Evolution politischer Regimes: Peru unter Velasco

169

Die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung von 1978 brachten im Vergleich zur Zeit vor 1968 eine grundlegende Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse an den Tag: Die APRA erzielte 35% und fünf verschiedene kommunistische, trotzkistische und maoistische Parteien versammelten insgesamt 33% der Stimmen auf sich; in den Wahlen von 1962 hatte die Linke noch lediglich 4% der Stimmen erhalten. 128 Mit den neuen linken Parteien entstanden erstmals politische Potentiale, die sich von den bisherigen populistischen Bewegungen (APRA, AP) durch ihren Klassencharakter deutlich absetzten. Die klassenbasierten Linkskräfte waren nicht nur innerhalb der Arbeiterschaft, sondern auch in den städtischen Elendsvierteln und dank der institutionellen Beziehung zum CNA und den kommunistischen Bauerngewerkschaften im ländlichen Bereich gut verankert. 129 Ihre Herausbildung war direkt durch die Mobilisierungspolitiken des Regimes von Velasco begünstigt worden; auch die sie schwächende Zersplitterung ist jedoch teilweise ein Erbe dieser Epoche. Formale Demokratie ohne politische Artikulation: Die zweite Regierung Belaünde (1980-1985) Der demokratisch an die Macht gelangte Belaünde ergriff zu Beginn seiner Amtszeit einige Maßnahmen zur Stärkung des Demokratisierungsprozesses und der autonomen Interessenartikulation, insbesondere durch die Garantie der Pressefreiheit und die Durchführung von Lokalwahlen. Das Weiterbestehen einer desartikulierten Situation unter Belaünde zeigt sich jedoch darin, dass es ihm nicht gelang, eine tragfahige politische Basis zu finden. Im Kontext der neuen Stärke klassenbasierter Potentiale 130 war der politische Raum für eine diffuse populistische Bewegung, die Belaündes AP war, wesentlich kleiner als in den 1960er Jahren. Angesichts der tiefen Wirtschaftskrise und der faktischen Zahlungsunfähigkeit des peruanischen Staates fehlten zudem die Ressourcen zur Finanzierung populistischer Politiken irgendwelcher Art. Schließlich wurde die Entfaltung der AP als Partei auch durch die Auswirkungen der unter Velasco aufgebauten Struktur des politischen Raums behindert: Im Gegensatz zu Verbänden und sozialen Bewegungen waren politische Par128 129 130

Stephens (1980:237). Petras und Hävens (1979). Linksparteien, in der Christlichen Volkspartei PPC (Partido Populär Cristiano) organisierte Unternehmerschaft.

4. Politische Regimes und

170

Regimewandel

teien geschwächt worden. Deshalb verfügten nach dem Ende der Militärherrschaft die verbandsmäßig organisierten Interessengruppen über eine stärkere Ausgangsposition als diejenigen, die ihre Interessen ausschließlich über das Parteiwesen artikulierten. Dies wirkte sich besonders für die AP nachteilig aus, da sie keine institutionellen Beziehungen zum Verbandswesen besaß. Demgegenüber waren die APRA und die klassenbasierten Linksparteien in der organisierten Arbeiter- und Bauernschaft sowie in den Basisgruppen der städtischen Elendsviertel verankert, während der PPC über Beziehungen zum lokalen Unternehmertum verfügte. Die fehlende soziale Verankerung des Regimes zeigt sich augenfällig in der Zusammensetzung des Kabinetts von Belaünde, das neben Militärs vorwiegend aus Technokraten bestand. Insbesondere die Wirtschaftspolitik wurde innerhalb eines kleinen und geschlossenen Technokratenzirkels formuliert. Damit wird ein anderer Aspekt fehlender Artikulation berührt: Der Regierung fehlte jegliche institutionelle Beziehung zu den wichtigen Sozialkräften, die über keine Möglichkeiten verfügten, ihre Vorstellungen und Forderungen ins politische System einzubringen. Durch seine neoliberale Wirtschaftspolitik schuf sich Belaünde nicht nur Opposition aus den Kreisen der organisierten Arbeiterschaft und der städtischen Unterschichten, die den Großteil der Anpassungskosten zu tragen hatten, sondern entfremdete sich auch zunehmend von der lokalen Unternehmerschaft. 131 Aufgrund der mangelhaften politischen und sozialen Abstützung musste Belaünde für seine Regierungstätigkeit häufig Zuflucht zu Sondervollmachten nehmen: So erließ er während seiner Amtszeit über 1100 Dekrete. 132 Zum desartikulierten Charakter trug schließlich bei, dass Belaünde nicht in der Lage war, das Militär zu kontrollieren. Über die von ihnen mitgestaltete Verfassung sicherten sich die Militärs vor ihrem Rückzug in die Kasernen eine weitgehende Autonomie in allen internen militärischen Angelegenheiten. 133 Entsprechend betrachtete das Militär auch die Niederschlagung der Guerillabewegung des sendero luminoso, die mit ihren Aktivitäten erstmals just nach dem Amtsantritt von Belaünde in Erscheinung trat, als primär interne Angelegenheit, in der es der politischen Führung gegenüber nicht verantwortlich sei. Präsident Belaünde stellte mehrere Provinzen und Departemente unter 131

Abugattas (1987:138-141).

132

Cotler (1995). Zagorski (1992).

133

4.4 Die Evolution politischer Regimes: Peru unter Velasco

171

Ausnahmerecht, wodurch die Armeeftihrung weitreichende Befugnisse erhielt. Ohne politische Kontrolle und ohne Sanktionierung allfälliger Übergriffe auf die Zivilbevölkerung bediente sich das Militär repressiver Methoden, die dementsprechend mit massivsten Beschneidungen der bürgerlichen Menschen* und Freiheitsrechte verbunden waren. 134 In den 1980er Jahren gehörte Peru denn auch zu denjenigen lateinamerikanischen Ländern mit den meisten und schwersten Menschenrechtsverletzungen. 135

Schlussbemerkung Das Beispiel Perus ist für die in diesem Kapitel gewählte Regime-Perspektive mit ihrem Schwergewicht auf der einer Regierung zugrunde liegende Machtallianz insofern ergiebig, als es bereits im kurzen Zeitraum zwischen den 1950er und den 1980er Jahren eine Abfolge verschiedenster Regimetypen aufweist mit jeweils charakteristischen Allianzen relevanter politischer Potentiale. Es sind dies ein auf Exportinteressen basiertes Regime (19481962), ein mittelschichtspopulistisches Regime (1963-1968), ein populistisches Regime, das die Unterschichten zu integrieren suchte (1968-1975), ein desartikuliertes Regime (1975-1980) bzw. eine Übergangsperiode (19801985). Jedes dieser Regimes entfaltet eine spezifische Entwicklungsdynamik, die sich aus seinen Korrelaten in anderen Bereichen des politischen Systems ergibt. Im auf Exportinteressen fußenden Regime findet sich ein Übergang von einer "Entwicklungsdiktatur", die vorab die staatliche, rechtliche und politische Infrastruktur für die Aktivitäten der Exportbourgeoisie schafft, zu einer durch informelle "Klub"-Strukturen geprägten elitistischen Demokratie. Das auf Unterschichten gestützte populistische Regime lässt sich mit Hilfe der idealtypischen Sequenz von Mobilisierung, Inkorporierung und Demobilisierung von Massenpotentialen in einer korporatistischen Struktur beschreiben. Im desartikulierten Regime und der anschließenden Übergangsperiode ist schließlich der Wandel von aktiver Desartikulation zu formaler Demokratie ohne politische Artikulation zu beobachten.

134

Willkürliche Verhaftungen, Zwangsumsiedlungen, Folterungen, Ermordungen und Massaker; vgl. Asociación Peruana de Estudio de la Paz (1990), Amnesty International (1991).

135

Ausführlich dazu in Kapitel 5.

172

4. Politische Regimes und

Regimewandel

Die politische Entwicklung Perus zwischen den 1950er und den 1980er Jahren insgesamt ist durch eine Differenzierung und nachfolgende Entdifferenzierung des politischen Systems geprägt. Die populistischen Kampagnen Belaündes nach 1956 belegen eine Expansion des politischen Raums mit geringen organisationeilen Mitteln. Das korporatistische Herrschaftsmodell Velascos war von einer starken Penetration staatlicher Institutionen begleitet, die gleichzeitig die Entstehung von Foren autonomer Interessenartikulation begünstigte. Vorab weil Institutionen zur Verarbeitung der daraus entstehenden politischen Konflikte fehlten, setzte mit der Regierung von Morales Bermüdez eine umgekehrte Bewegung zur politischen Desartikulation ein. Die Gründe für diese Entwicklung und die damit verbundene spezifische Abfolge politischer Regimes liegen mindestens teilweise in politik-endogenen Faktoren. Zunächst ist auf die mangelnde Stabilität des Regimes der Exportbourgeoisie zu verweisen. Die exportorientierten Branchen der 1950er Jahre berührten das Hinterland der Sierra kaum und führten damit zu keiner Vergrößerung der Ressourcen, die den politischen Patrons zur Manipulation klientelistischer Netze zur Verfügung standen. Die Art der Exportorientierung trug nicht zur Ausweitung der politischen Basis der traditionellen Elite bei. Die wirtschaftlichen Probleme derbreiten Landbevölkerung konnten dadurch zum Gegenstand populistischer Mobilisierungsanstrengungen gemacht werden, wobei die geringe Institutionalisierung des politischen Raums die Machterlangung durch ein vor allem auf das Charisma Belaünde setzendes, liberales populistisches Regime förderte. Erst die durch das liberale Umfeld ermöglichte Konkurrenz verschiedener politischer Gruppierungen um politische Potentiale außerhalb der Elite eröffnete die Perspektive für ein Regime, das verschiedene Unterschichtsgruppen durch korporatistische Strategien zu integrieren suchte. Der relative Misserfolg des Militärregimes von Velasco wurde hier erklärt durch die in der Professionsgeschichte begründete Unfähigkeit des Militärs zur Massenmobilisierung sowie durch die Besetzung relevanter Massenpotentiale durch Organisationen, die in früheren populistischen Phasen entstanden waren. Institutionen, die als Mittel der korporatistischen Einbindung gedacht waren, entwickelten sich dadurch zu Foren einer unabhängigen Interessenartikulation. Wie erwähnt, begünstigten die daraus hervorgehenden Konflikte den Übergang zu einem auf politische Desartikulation ausgerichteten Regime. Mit der Machtübernahme durch Garcia (1985-1990) und die langjährige Oppositionspartei APRA erfolgte eine Wiederkehr populistischer Herr-

4.5 Komparative

empirische

Untersuchungen

173

schafts- und Regimeformen. Das schwierige politische und wirtschaftliche Umfeld — Guerilla, Überschuldung, Rezession —, die Konkurrenz durch alternative, massenbasierte Interessenorganisationen und der offene Konflikt gegenüber den nationalen Wirtschaftsinteressen und den internationalen Gläubigern verunmöglichten jedoch eine institutionelle Verankerung des Regimes. Insbesondere in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit musste das Regime zu desartikulierenden Herrschaftstechniken Zuflucht nehmen wie z.B. häufiges Regieren per Dekret oder Sondervollmachten des Militärs bei der Aufstandsbekämpfung. Mit dem chaotischen Ende der APRA-Regierung 136 kam es zu einem Zusammenbruch des bisherigen Parteiensystems: Nicht nur die diskreditierte APRA, sondern auch der konservative PPC und Belaúnde's AP verschwanden praktisch vollständig von der politischen Bühne. Die Neuformierung und Umgestaltung der politischen Kräfte öffnete Raum für populistische Herrschaftstechniken und alternative populistische Allianzen, wie sie sich mit Alberto Fujimori und seiner Bewegung Cambio '90 durchzusetzen vermochten.137 Zwei Beobachtungen, die sich aus der Fallstudie Perus ergeben, sollen im nachfolgenden quantitativ ausgerichteten Abschnitt komparativ erhärtet werden: 1) das zeitliche Auftreten und die strukturellen Charakterisika populistischer Regimes; 2) die These, dass systematische Sequenzen politischer Regimes existieren, die mit strukturellen Widersprüchen erklärt werden können wie sie für die jeweiligen Regimetypen charakteristisch sind.

4.5 Komparative empirische Untersuchungen zu Struktur und Wandel politischer Regimes im 20. Jahrhundert Im Unterschied zu den in den zwei vorangegangenen Abschnitten gewählten methodischen Vorgehensweisen — idealtypische Charakterisierung und vertiefte Fallstudie — setzt der quantifizierende Regimevergleich eine vergleichsweise große Stichprobe von Regimes voraus, damit sinnvolle Aussagen gemacht werden können. Dies impliziert zunächst einen geringeren Detaillierungsgrad bei der Beschreibung der einzelnen Regimeepisoden. 136

Graham (1991,1992), Crabtree (1992).

137

Cotler (1995).

174

4. Politische Regimes und Regimewandel

Gleichzeitig müssten jedoch die in der Realität vorhandenen Allianzformen eindeutig einer der verschiedenen idealtypischen Regimeformen zugeordnet werden können. Misch- oder Übergangsformen, die zwischen den einzelnen Idealtypen stehen oder Merkmale verschiedener Idealtypen aufweisen, können im Gegensatz zur qualitativ vergleichenden detaillierten Fallstudie nicht behandelt werden. Der Mangel an Differenziertheit und Exaktheit wird jedoch wettgemacht durch den Vorteil der großen Zahl, die generalisierende Aussagen erlaubt. Quantitative Regimevergleiche sind demnach wenig geeignet für die Beurteilung der internen Regimedynamik während einer kurzen Zeitperiode, hingegen können sie Aufschluss verschaffen über den längerfristigen Regimewandel. Der zeitliche Rahmen für die nachfolgenden empirischen Regimevergleiche wurde deshalb bewusst sehr breit gehalten; er umfasst das gesamte 20. Jahrhundert. Eine Vollerhebung aller Regimeepisoden der lateinamerikanischen Staaten innerhalb dieses Zeitraums ist aufgrund der mangelhaften Informationsgrundlage allerdings nicht möglich. Besonders kürzere Regimeepisoden und Regimes kleinerer Länder sind in der Fachliteratur nicht oder nur ungenügend dokumentiert. Die quantitativen Regimevergleiche beschränken sich deshalb auf die größeren Länder und auf die im Sinne der Typologie deutlich artikulierten Regimes. Diese Beschränkungen sind aber auch inhaltlich durchaus gerechtfertigt: Die Ausdifferenzierung verschiedener politischer Kräfte, die die Voraussetzung für Allianzbildungen darstellt, erfordert eine gewisse Größe einer Gesellschaft bzw. das Vorhandensein wirtschaftlicher Expansions- und Transformationsprozesse. Die nachfolgenden regimevergleichenden Untersuchungen basieren auf zwei unterschiedlichen Vorgehensweisen. Zunächst wird für die zwei Varianten der populistischen Regimes eine Gesamterhebung aller Regimeepisoden angestrebt. Die Wahl fiel deshalb auf populistische Regimes, weil es sich hierbei um einen Regimetyp handelt, der im Verlaufe der gesamten hier betrachteten Zeitperiode vorkommt. Populistische Regimes sind außerdem in genügend großer Zahl aufgetreten, so dass eine ausreichend große Stichprobe vorhanden ist. Im zweiten Unterabschnitt steht nicht ein spezfischer Regimetyp im Vordergrund, sondern die Sequenzen zwischen allen sieben Typen. Hierzu wurden für die elf größten Länder Lateinamerikas alle Regimeepisoden seit dem späten 19. Jahrhundert kodiert.

175

4.5 Komparative empirische Untersuchungen

Struktur und Wandel populistischer Regimes,

1900-1990

Auftreten populistischer Regimes Populistische Regimes werden in der Fachliteratur vowiegend im Rahmen von Einzelfallstudien behandelt. Insbesondere zu den "klassischen" Fällen populistischer Regimes wie der radikalen und peronistischen Bewegung in Argentinien, dem getulismo in Brasilien, dem velasquismo in Ecuador, dem bolivianischen Movimiento Nationalista Revolucionario (MNR), der Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA) in Peru und der venezolanischen Acción Democrática (AD) liegen zahlreiche Einzelfallstudien vor. 138 Daneben gibt es aber zahlreiche weniger bekannte Fälle populistischer Artikulation, die häufig nicht unter dem Bezugspunkt des Populismus analysiert werden. 139 Insbesondere in der Forschung zu Mittelamerika und der Karibik wurde das Populismuskonzept kaum verwendet. Dies ist um so erstaunlicher, als sich in dieser Region zahlreiche populistische Bewegungen und Regimes artikuliert haben. 140 Eine systematische Erhebung populistischer Regimes in Lateinamerika seit dem frühen 20. Jahrhundert ergibt über 70 Fälle, definiert entsprechend der in Kapitel 2 entwickelten drei Kriterien: Mehrklassenallianz unter Einschluss massenbasierter Sozialkräfte, Artikulation eines Eliteantagonismus und Dominanz charismatischer Führerschaft.

138

139

140

Zu Argentienien vgl. Rock (1975), Germani (1978), Navarro (1982), Tamarin (1982), Schoultz (1983), zu Brasilien Ianni (1970), Weffort (1973,1980), Erickson (1977), Mendes (1977), Conniff (1981), zu Ecuador Martz (1980), Quintero (1980), Cueva (1982), Menéndez-Carrión (1986), zu Bolivien Dandier (1977), Mitchell (1977), von der HeydtCoca (1982), zu Peru Stein (1980,1982) und zu Venezuela Ellner (1982,1992). Z.B. die post-revolutionäre Phase in Mexiko (Basurto 1969,1982, 1992), grovismo und ibañismo in Chile (Drake 1978, Grugel 1992), gaitanismo und rojismo in Kolumbien (Sharpless 1978, Dix 1985,1987). Z.B. der Partido Revolucionario Dominicana (PRD) und das kurzlebige Regime von Juan Bosch in der Dominikanischen Republik, die zwei konkurrierenden populistischen Bewegungen (und Regimes) unter der charismatischen Führung von Bustamante und Manley in Jamaika, die guatemaltekische Revolutionsbewegung von 1944 und die nachfolgenden Regimes von Arévalo und Arbenz, der "Militärpopulismus" von Torrijos und Noriega in Panama, sowie die sandinistische Revolution in Nicaragua.

4. Politische

176

Regimes und

Regimewandel

Abbildung 4.2: Anzahl und Auftreten populistischer Regimes hinsichtlich der Übernahme der Regierungsgewalt, 1901/10-1981/90

1931-40

H l Anmerkung:

gut artikulierte R e g i m e s

1951-60

V/A

s c h w a c h artikulierte R e g i m e s

Schwach artikulierte populistische Regimes verfügen über die für populistische

Regimes typische soziale Basis, die Artikulation eines Eliteantagonismus oder charismatische Führerschaft sind jedoch nur schwach ausgeprägt. Quelle: Anhang 1, eigene Datenerhebung.

Abbildung 4.2 zeigt das zeitliche Auftreten populistischer Regimes hinsichtlich ihrer Machtergreifung. Verschiedene Regimes, die sich zwar auf eine Mehrklassenallianz stützten, jedoch nur eine schwache Ausprägung bezüglich der anderen zwei Definitionskriterien aufwiesen, wurden als "schwach artikuliert" eingestuft. 141 In der Abbildung deutlich sichtbar ist die in der einschlägigen Literatur ausführlich thematisierte "goldene Ära" des lateinamerikanischen Populismus zwischen den 1920er und den 1970er Jahren. Allerdings kam es bereits in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zur Herausbildung populistischer Regimes. Dies wird dokumentiert durch die Machtübernahme von Yrigoyen in Argentinien (ab 1916), durch das kurzlebige Regime von Billinghurst in Peru (1912-1914) sowie 141

Ein Beispiel für ein schwach artikuliertes populistisches Regime ist die Herrschaft des mexikanischen PRI während der Regierung von de la Madrid und Salinas (1982-1994; vgl. ausfuhrlich dazu Kapitel 6.3). Zur Regimecodierung und den dazu benutzten Quellen vgl. Anhang 1.

4J Komparative empirische Untersuchungen

177

durch das reformerische Regime von Batlle y Ordóñez in Uruguay. Entgegen der oft geäußerten These vom Zusammenbruch und dem Ende des Populismus 142 kam es auch in den 1970er Jahren zur Herausbildung populistischer Regimes. Illustrative Beispiele hierfür sind das im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Regime von Velasco in Peru sowie Panama unter Torrijos und Michael Manleys "Demokratischer Sozialismus" in Jamaika. Das in Abbildung 4.2 dargestellte Maß bezieht sich auf den Zeitpunkt der Regierungsübemahme populistischer Regimes. Die Lebensdauer populistischer Regimes variiert jedoch beträchtlich. Ein angemessenerer Indikator für die Präsenz populistischer Regimes ist aus diesen Gründen die Anzahl Länder, die in einem bestimmten Jahr durch populistische Regimes dominiert werden. Dieses Maß ist in Abbildung 4.3 aufgeführt. Es zeigt sich wiederum ein deutlicher Anstieg in der Anzahl populistischer Regimes während der 1920er Jahren gefolgt von einer Stabilisierung bis zu den 1940er Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt es zu einem erneuten Anstieg und einem Höhepunkt in den Jahren 1946-1947 und 1963-1970 (10 -12 Länder). Bis Ende der siebziger Jahre ist ein leichter Rückgang zu verzeichnen, der jedoch weit weniger ausgeprägt ausfallt, als dies in der Literatur im Allgemeinen angenommen wird. Dies ist zum Teil auf verschiedene langlebige und stabile populistische Allianzen zurückzuführen wie etwa die Herrschaft des mexikanischen PRI, die Allianz zwischen AD und COPEI in Venezuela oder das Regime von Torrijos in Panama. In den 1980er Jahren wächst die Zahl populistischer Regimes erneut an, wobei die populistische Artikulation zu einem großen Teil nur schwach ausgeprägt ist. Dieser Sachverhalt lässt sich damit erklären, dass im weltwirtschaftlichen Umfeld der 1980er Jahre die Artikulation des für Lateinamerika typischen Eliteantagonismus — der vornehmlich gegen externe Wirtschaftseliten gerichtet ist 143 — zunehmend schwieriger wurde, zumal sich zahlreiche populistische Regimes gezwungen sahen, IMF-konforme Strukturanpassungsprogramme durchzuführen. Beispiele für diese Problematik sind Garcías APRA in Peru, Michael Manleys PNP in Jamaika oder die zweite Regierung von Pérez in Venezuela.

142 143

So Drake (1982). Vgl. nachfolgender Abschnitt.

178

4. Politische Regimes und Regimewandel

Abbildung 4.3: Auftreten populistischer Regimes 1901-1990 (Anzahl Regimes mit Regierungsverantwortung) 14 12 10 8 6 4 2 0

1900

1910

1920

1930

I—I gut artikulierte Regimes

1940

1950

1960

1970

1980

1990

f - H alle Regimes (inkl. schwach artikulierte)

Anmerkung: Schwach artikulierte populistische Regimes verfligen über die für populistische Regimes typische soziale Basis, die Artikulation eines Eliteantagonismus oder charismatische Führerschaft sind jedoch nur schwach ausgeprägt. Quelle: Anhang 1, eigene Datenerhebung.

Strukturelle Eigenschaften populistischer

Regimes

Die Unterscheidung der insgesamt 59 gut artikulierten populistischen Regimes nach ihrer sozialen Basis ergibt 15 mittel- und 44 unterschichtsbasierte Regimes. Innerhalb der unterschichtsbasierten populistischen Regimes stützen sich 30 vorwiegend auf das formale Proletariat, während bei 14 Regimes die Unterstützung durch den informellen Sektor von größerer Bedeutung ist. 1 4 4 Die durchschnittliche Regimedauer beträgt neun Jahre. Erwartungsgemäß ist die Lebensdauer deijenigen Regimes, die sich auf die schwach organisierten und instabilen politischen Kräfte aus dem informellen

144

Typische Beispiele für die erste Variante unterschichtspopulistischer Regimes sind Perón in Argentinien, Mexiko unter dem PRI, die AD-Regierungen in Venezuela sowie die APRA während der Regierung von Garcia in Peru. Populistische Regimes, die sich weitgehend auf den informellen Sektor stützten, waren u.a. Velasco Ibarra in Ecuador, Ibañez in Chile (1952-1958) oder Rojas Pinilla in Kolumbien (1953-1957); ein jüngeres Beispiel ist das Regime von Alberto Fujimori in Peru.

4.5 Komparative

empirische

Untersuchungen

179

Sektor stützen am niedrigsten (durchschnittlich 5 - 6 Jahre), während Regimes, die auf der organisierten Arbeiterschaft basieren am längsten zu überleben vermögen (durchschnittlich 10-11 Jahre). Diese großen Unterschiede sind jedoch im Wesentlichen auf einige wenige besonders langlebige Regimes zurückzuführen. 145 Der Median der Regimedauer unterscheidet sich zwischen den beiden Varianten nur geringfügig. 146 Bereits Germani stellte die These auf, dass mittel- und unterschichtsbasierte populistische Regimes in einer historischen Sequenz aufeinander folgen. 147 Tatsächlich manifestiert sich dieses Muster auch bei einer Gesamtanalyse: Abbildung 4.4 zeigt, wie die Anzahl der auf Mittelschichtsinteressen gestützten Regimes in den ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts zunimmt und einen Höhepunkt um 1925 erreicht. 148 Auf Unterschichtsinteressen gestützte populistische Regimes etablierten sich demgegenüber erst Ende der 1920er Jahre und insbesondere in den 1940er und 1950er Jahren. Ihre Anzahl fluktuierte in der Nachkriegszeit allerdings beträchtlich, was auf eine teilweise schwache Institutionalisierung dieser Regimes hindeutet. In gewissem Widerspruch zur These der historischen Abfolge unterschiedlicher Typen populistischer Regimes steht jedoch, dass mittelschichtsbasierte populistische Regimes in den 1960er Jahren — wie etwa Belaünde in Peru, Frei in Chile — und in den 1980er Jahren wieder vermehrt auftreten. Ebenso widerspricht die generell hohe, wenn auch fluktuierende Anzahl populistischer Regimes während der 1970er und 1980er Jahre den gängigen Populismusthesen und Evolutionsmodellen, wie sie etwa den im Rahmen der Dependencia-Theorie u.a. von Cardoso und Faletto und O'Donnell formuliert worden sind. 149

145

146

147 148

149

Die Herrschaft des PRI in Mexiko, Vargas in Brasilien, Kuba unter Castro, Panama unter Torijos. Tatsächlich ergeben Untersuchungen mittels ereignisanalytischer Methoden keine signifikanten Unterschiede in der Regimedauer zwischen den beiden Varianten der unterschichtsbasierten populistischen Regimes. Eine ausführlichere Diskussion zu dieser Methodik und zur Frage der Überlebenszeit von Regimes findet sich im nächsten Abschnitt. Germani (1978); vgl. auch Kapitel 2. Beispiele für diese Regimes sind Batlle y Ordöfiez in Uruguay und Yrigoyen in Argentinien. Cardoso und Faletto (1976), O'Donnell (1973).

180

4. Politische Regimes und Regimewandel

Abbildung 4.4: Mittelschichts- und unterschichtsbasierte populistische Regimes, 1901-1990 (Anzahl Regimes mit Regierungsverantwortung) 10

\ At \ / A A

8 *

6



4

* 1 1 1 1 1

t

t

2 0 -

»

1900

1 $1

1

'fi 1 1910

1920

\

|vV7 , 1• * •I

1930

V

*

1940

[ - H mittelschichtsbasiert

« % %

1950 E 3

i

»

1

ti

* «

\J

it

$ *

1960

1970

1980

1990

unterschichtsbasiert

Quelle: vgl. Anhang 1, eigene Datenerhebung.

Eine These der vorliegenden Arbeit besagt, dass der Charakter des politischen Regimes bzw. die ihm zugrundeliegende Allianz sozialer Kräfte und Machtfaktoren das Muster der Herrschaftstechniken und Staatsaktivitäten beeinflusst. 150 Diese These soll für die zwei Varianten der populistischen Regimes auf der Basis einer historisch vergleichenden Analyse untersucht werden, wobei die folgenden drei Aspekte behandelt werden: 1) das Muster des im populistischen Diskurs artikulierten Eliteantagonismus, 2) das Vorhandensein klientelistischer und korporatistischer Herrschaftstechniken und 3) das Muster der politischen und sozialen Reformpolitiken. Die wichtigsten Ergebnisse sind in Abbildung 4.5 und in Tabelle 4.3 zusammengefasst. 1) Form des artikulierten Eliteantagonismus: Der von lateinamerikanischen Regimes artikulierte populistische Diskurs richtet sich überwiegend gegen externe und interne Wirtschaftseliten sowie gegen die einheimische politische Elite. Abbildung 4.5 zeigt, dass hingegen intellektuelle, militärische, ethnische und externe politische Eliten nur selten Zielscheibe eines populistischen Antielitismus sind. 150

Vgl. Kapitell und 4.2.

4.5 Komparative

empirische

181

Untersuchungen

Abbildung 4.5: Formen des im populistischen Diskurs artikulierten Eliteantagonismus (Anzahl Regimes) Ethnische Eliten Militärische Eliten Intellektuelle Eliten Externe politische Eliten Einheim. politische Eliten Externe Wirtschaftseliten Einheim. Wirtschaftseliten

Z32 23 2 >///////A 7 7ZZZA 4

0

5

10

15

20

25

30

35

Quelle: Anhang 1, eigene Datenerhebung.

Wie vermutet, lässt sich ein Zusammenhang zwischen Regimetyp und der Form des artikulierten Eliteantagonismus feststellen. So wird der Antagonismus, der gegen die wirtschaftlichen Eliten gerichtet ist, signifikant häufiger von unterschichtsbasierten populistischen Regimes geäußert. Dies trifft besonders auf den gegen ausländische Wirtschaftseliten artikulierten Gegensatz zu. Tabelle 4.3 dokumentiert, dass von 44 unterschichtsbasierten populistischen Regimes 35, das heißt 80%, einen Antagonismus gegen einheimische und ausländische Wirtschaftsinteressen artikulieren. Bei den mittelschichtsbasierten Regimes trifft dies hingegen nur auf 6 von 15, also auf 40% zu. Ähnliches gilt für den Antiintellektualismus. Dieser ist am verbreitetsten bei unterschichtsbasierten populistischen Regimes, die sich auf Gruppen des informellen Sektor stützen. Umgekehrt beschränkt sich der Antielitismus, der gegen militärische Eliten gerichtetet ist, auf mittelschichtsbasierte populistische Regimes. Dieser Sachverhalt hängt wohl damit zusammen, dass die militärische Staatsklasse im unterschichtsbasierten und Intellektuelle im mittelschichtsbasierten populistischen Regime in die Regimeallianz eingebunden sind. Lediglich bei dem gegen die politische Elite gerichteten populistischen Diskurs lässt sich kein regimespezifisches Muster erkennen.

182

4. Politische Regimes und Regimewandel

Tabelle 4.3: Vorkommen von Wirtschaftsantagonismus, Korporatismus und Nationalisierungen nach Regimetyp (Anzahl Regimes) Regime typ (soziale Basis)

Wirtschaftsantagon is.

Korporatismus

Nationalisierungen

Ja

Nein

N

Ja

Nein

N

Ja

Nein

N

Mittelschichtbas. popul. Regimes

6 40%

9 60%

15 100%

0 0%

13 100%

13 100%

2 13%

13 87%

15 100%

Unterschichtbas. popul. Regimes

35 80%

9 20%

44 100%

10 26%

29 74%

39 100%

14 39%

22 61%

36 100%

Insgesamt

41 70%

18 31%

59 100%

10 19%

42 81%

52 100%

16 31%

35 69%

51 100%

Fisher's Exakttest

.006

.04

.07

Anmerkungen: Wirtschaftsantagonismus: Artikulation eines Eliteantagonismus, der gegen interne und/oder externe Wirtschaftsinteressen gerichtet ist; Korporatismus: Vorliegen korporatistischer Herrschaftstechniken; Nationalisierungen: Durchführung umfassender Verstaatlichungen von ausländischen und/oder inländischen Unternehmen. Fisher's Exakttest: Signifikanzniveau gemäß einseitigem Test. Quelle: Anhang 1, eigene Datenerhebung.

2) Vorkommen klientelistischer und korporatistischer Herrschaftstechniken: Klientelistische Herrschaftstechniken, insbesondere bürokratischer Klientelismus und Massenklientelismus, kommen in populistischen Regimes häufig zur Anwendung (insgesamt bei 31 Regimes). Diese klientelistischen Herrschaftsstrategien basieren gewöhnlich auf staatlichen Sozialreformen und Verteilungspolitiken, die mit der Ausweitung der Staatsaktivitäten 151 und dem Aufbau des Sozialstaates verbunden sind. Beispiele klientelistischer Techniken sind Belaúndes Politik gegenüber der Lehrerschaft oder das von ihm initiierte Entwicklungsprogramm cooperación popular,152 Garcías Arbeitsbeschaffungsprogramm für die städtischen Armen in Peru, 153 die Verteilung von Nahrungsmitteln und die Gewährung medizinischer Versorgung und Rechtsberatung durch die Radikalen und unter Perón in Argenti151

152 153

Arbeitsbeschaffungsprogramme, Entwicklungsprogramme, Schaffung von Staatsunternehmen. Vgl. das Fallbeispiel in Abschnitt 4.4. Graham (1991).

4.5 Komparative empirische

Untersuchungen

183

nien, 154 die Bevorzugung bestimmter Regionen bei der Verteilung der amerikanischen Entwicklungshilfe durch Estimé in Haiti oder Michael Manleys "Land Lease"-Programm zugunsten der Bauernschaft in Jamaika. 155 Wie weiter oben erwähnt, kann Klientelismus auch ein Zwischenstadium beim Aufbau korporatistischer Strukturen darstellen. Es wurde argumentiert, dass eine solche Sequenz typisch für unterschichtsbasierte populistische Regimes sei. Insgesamt ist die erfolgreiche Institutionalisierung korporatistischer Strukturen aber selten. Nur 10 von 52 Regimes zu denen Angaben vorhanden sind, weisen korporatistische Herrschaftsstrukturen auf, wobei es sich bei allen um unterschichtsbasierte Regimes mit Unterstützung in der organisierten Arbeiterschaft handelt (vgl. Tabelle 4.3). Das wohl typischste Beispiel für korporatistische Herrschaftstechniken ist das Herrschaftsmodell der mexikanischen Revolutionspartei PRI. 3) Muster staatlicher Reformpolitik: Wie anhand von Einzelfallen bereits aufgezeigt, sind populistische Regimes aufgrund ihres Bezugs zu massenbasierten Sozialkräften grundsätzlich reformorientiert im Sinne sozialpolitischer Aktivitäten. Daneben haben sie — gerade wegen ihres Massenbezugs — häufig die politische Partizipation ausgeweitet. In Argentinien beispielsweise wurde das allgemeine, geheime Männerwahlrecht infolge der Forderung der (mittelschichtsbasierten) Radikalen Bewegung eingeführt (1912), während das Wahlrecht für Frauen durch das (unterschichtsbasierte) Regime von Perón verwirklicht wurde (1947). 156 Während Wahlrechtserweiterungen und Reformen der Arbeitsgesetzge1S7 bung sowohl von unterschichts- wie mittelschichtsbasierten populistischen Regimes durchgeführt wurden, ist die Realisierung von umfassenderen Sozialreformen, die die bestehenden sozialstrukturellen Verhältnisse berühren, auf unterschichtspopulistische Regimes beschränkt. So wurden beispielsweise Landreformpolitiken fast ausschließlich von unterschichtsbasierten Regimes verwirklicht. Von den 51 Regimes, zu denen hierzu Angaben vorliegen, führten 11 — darunter 10 unterschichtsbasierte — umfassende Landreformen durch. Beispiele sind die Landverteilungsmaßnahmen von 154 155 156 157

Rock (1975), Navarro (1982). Edie (1991). Vgl. Kapitel 5. Legalisierung von Gewerkschaften, Garantiemng des Streikrechts, Verbesserung der Arbeitsbedingungen etc.

184

4. Politische Regimes und Regimewandel

Cárdenas in Mexiko, von Arbenz in Guatemala, vom MNR in Bolivien sowie vom FSLN in Nicaragua. Dasselbe Bild zeigt sich bei den in Tabelle 4.3 aufgeführten Nationalisierungspolitiken, die häufiger in unterschichtsbasierten populistischen Regimes auftreten. Ein illustratives Beispiel hierzu ist die Verstaatlichung der von ausländischen Unternehmen aufgebauten Erdölindustrie, die von unterschichtsbasierten Regimes gefordert und auch tatsächlich verwirklicht wurde — im Gegensatz zu den mittelschichtsbasierten Regimes, die es bei Lippenbekenntnissen bewenden ließen. Beispiele solcher Nationalisierungspolitiken sind Perón in Argentinien, Busch in Bolivien, Vargas in Brasilien, Cárdenas in Mexiko, Velasco in Peru und Pérez in Venezuela. 158

Sequenzen des historischen Regimewandels,

1900-1990

Die Sequenzen politischer Regimes zu untersuchen, ist aus zwei Gründen bedeutsam: Erstens ergibt dies ein methodisches Instrument zur Analyse unterschiedlicher Muster von gerichtetem politischem Wandel. Soweit es gelingt, die strukturellen Korrelate von unterschiedlichen Sequenzen aufzuspüren, kann zudem eine Erklärung von politischem Wandel geleistet werden. Zweitens ermöglicht die Analyse von Sequenzen auch vertiefte Einblicke in die einzelnen Regimetypen. Die Erklärung des Zeitpunktes, an dem Sequenzen erfolgen, und die Feststellung, dass bestimmte Typen über bestimmte Sequenzen mit anderen Typen verbunden sind, trägt bei zum Verständnis der Bedingungen für die Entstehung und den Zerfall von Regimes. Die folgenden Analysen basieren auf einer Stichprobe von 108 Regimeepisoden aus den elf größten lateinamerikanischen Ländern. Für den Zeitraum zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und 1990 wurden sämtliche Regimeepisoden dieser Länder entsprechend der weiter oben dargestellten Typologie klassifiziert. 159 Einerseits werden die Regimesequenzen als solche

158 159

Philip (1982). Im einzelnen handelt es sich um folgende Länder: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Guatemala, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Peru und Venezuela. Die erste fiir jedes Land berücksichtigte Regimeepisode ist das im Jahre 1899 herrschende Regime. Angaben zu den einzelnen Regimeepisoden und den für die Kodierung verwendeten Quellen finden sich in Anhang 1.

4.5 Komparative empirische Untersuchungen

185

betrachtet (vgl. Abbildung 4.6), andererseits wird auf der Ebene der einzelnen Regimeepisoden das jährliche Exportwachstum berechnet (vgl. Tabelle 4.4). Dieses Maß ist ein Indikator für externe Einflüsse aus dem weltwirtschaftlichen Umfeld, in das nationale Politik und Ökonomie eingebettet sind. Außenhandelsdaten gehören zu den wenigen Indikatoren, die für alle größeren lateinamerikanischen Staaten über lange Perioden hinweg verfügbar sind. Im einzelnen sind mit dem Exportwachstum zwei relevante Variablen verbunden: Erstens wird argumentiert, dass ein dynamisches Exportwachstum Ausdruck einer starken Stellung der exportorientierten Bourgeoisie darstellt und ihre Stellung gleichzeitig noch verstärkt. Zweitens wird davon ausgegangen, dass das Exportwachstum relativ stark mit der staatlichen Ressourcenbasis korreliert. Das Exportwachstum drückt somit unter anderem den ressourcenmäßigen Handlungsspielraum aus, dem allfällige Verteilungspolitiken unterliegen — ein Problem insbesondere bei populistischen Regimes. Aus Abbildung 4.6 wird ersichtlich, dass bei den berücksichtigten elf Ländern unterschichtsbasierte populistische Regimes (N=31), Exportbourgeoisien (N=25), Übergangsperioden mit fehlendem dominanten Allianzpakt (N=27), mittelschichtsbasierte populistische Regimes (14) sowie desartikulierte Regimes (N=8) am häufigsten auftraten. Im nationalen Industriebürgertum verankerte Regimes (N=2) und Staatsklassenregimes N=l) kamen demgegenüber kaum vor. Letzteres ist dadurch bedingt, dass nur die großen lateinamerikanischen Ländern berücksichtigt worden sind, die über eine entsprechend differenzierte Klassenstruktur verfügen. Wie anhand des Fallbeispiels zu Peru aufgezeigt wurde, ist die Staatsklasse jedoch ein wichtiger Allianzpartner insbesondere bei populistischen Regimes. Die Dauer der einzelnen Regimeepisoden variiert zwischen 12 Monaten und 70 Jahren — diese Maximaldauer erreichte die Herrschaft des mexikanische PRI. Eine genaue Untersuchung der Regimedauer sollte mittels ereignisanalytischer Verfahren erfolgen, die eine Lösung für die Verzerrungen durch sogenannte "zensierte" Fälle anbieten, also jener Episoden, die zwar begonnen haben, aber noch nicht abgeschlossen sind. 160 Eine Analyse der Sterbetafeln der 108 Regimeepisoden zeigt, dass eine Häufung von Regimewechseln nach einer Verweildauer von 3 bis 6 Jahren stattfindet, was 160

Zur Methodologie von ereignisanalytischen Verfahren vgl. Diekmann und Mitter (1984, 1993), Biossfeld et al. (1986), Yamaguchi (1991); Anwendungen im Bereich der politischen Soziologie finden sich bei Hannan und Carroll (1981) und Gasiorowski (1995).

186

4. Politische Regimes und Regimewandel

teilweise mit den in Lateinamerika üblichen Amts- und Legislaturperioden von 4-6 Jahren zu erklären ist. Die verschiedenen Regimetypen weisen statistisch signifikant unterschiedliche Überlebenszeiten auf. 161 Der Median der Überlebensdauer für sämtliche Regimeepisoden beträgt 71 Monate. Am stabilsten sind Exportbourgeoisien (Median der Überlebenszeit: 210 Monate) und desartikulierte Regimes (Median der Überlebenszeit: 108 Monate), während die Übergangsregimes mit Abstand über die niedrigste Lebensdauer verfügen (Median der Überlebenszeit: 47 Monate). Die beiden Varianten der populistischen Regimes weisen ebenfalls eine unterdurchschnittliche Lebensdauer auf (Median der Überlebenszeit bei unterschichtsbasierten populistischen Regimes: 54 Monate, bei mittelschichtsbasierten populistischen Regimes: 67 Monate). 162 Dieser Befund stimmt mit den theoretischen Argumenten hinsichtlich der Stabilität und der regimespezifischen Herrschaftsstrukturen gut überein. Bei mittelschichtsbasierten populistischen Regimes wurde argumentiert, dass ihre politische Herrschaft durch schwach institutionalisierte Formen des Klientelismus gekennzeichnet sei und dass diese Regimes häufig von starken alternativen Massenpotentialen und Eliteinteressen bedroht werden. Bei den unterschichtsbasierten populistischen Regimes fällt auf, dass die Überlebensdauer stark variiert — bedeutend stärker als bei allen anderen Regimetypen. Ein Großteil dieser Regimes zerfallt innerhalb kurzer Zeit; der Höhepunkt der Wahrscheinlichkeit eines Regimeüberganges erfolgt nach 3-4 Jahren. Demgegenüber sind einige wenige Regimes sehr dauerhaft, insbesondere Mexiko unter der Herrschaft des PRI sowie Kuba unter Castro. Eine Erklärung für die hohe Stabilität dieser Ausnahmefälle bildet der erfolgreiche Aufbau korporatistischer Herrschaftsstrukturen. Die Stabilität von Exportbourgeoisien erklärt sich damit, dass die Interessenartikulation außerhalb des Regimes typischerweise nur schwach artikuliert ist.

161

162

Unterschiede in der gruppenspezifischen Überlebenszeit lassen sich mit dem verallgemeinerten Wilcoxon-Test prüfen. Diese gebräuchliche nicht-parametrische Teststatistik für Subgruppenvergleiche lässt sich anwenden, wenn identische Zensierungsmuster in den Subgruppen bzw. nur wenige zensierte Fälle vorliegen. Diese Bedingungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Die Gesamt-Scoresumme beträgt 27.1 und ist bei 4 Freiheitsgraden hochsignifikant (p bO

-3 C 3

Formen der Verletzungen

Menschenrechtsindikatoren

Ausmaß

Indikatoren für formale Demokratie

2. Datenanhang zu formaler Demokratie und Menschenrechten

Anhang Präs-2 Parl-2

-

CO CO CO co CO CO CO CO eo co CO CO eo

-

Parl-I

-

es CS CS CS CS CS es CS CS es CS es CS

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