Staat in Unordnung?: Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen [1. Aufl.] 9783839418024

Die Gründungen der Weimarer Republik in Deutschland sowie der Ersten Republik in Österreich 1918 waren von kontroversen

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Staat in Unordnung?: Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen [1. Aufl.]
 9783839418024

Table of contents :
Inhalt
Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen. Eine Einleitung
I. STAAT IN ORDNUNG?
Die doppelte Maria. Weibliche Führerschaft in Fritz Langs Metropolis
Politisches Vertrauen. Weibliche Abgeordnete in der Weimarer Republik
Frauen als Staatsbürgerinnen. Perspektiven der Berliner Publizistin Else Frobenius (1875–1952)
Aktion Vaterversorgung. Überlebenskampf, private Nischen, öffentliche Aufgaben
Staat und Familie − ein zerrüttetes Verhältnis? Familiennarrative als Erschütterungen konservativer Staatskonzeption
Zöglinge in Uniform. Zur schulischen Disziplinierung der Geschlechter
Antifeministische und antidemokratische Tendenzen im Staatsdenken der Zwischenkriegszeit. Männerbundfantasien bei Stefan George,Thomas Mann und Max Weber
Hitlerjunge Quex. Brüderhorden am Ende der Zwischenkriegszeit
II. STAAT IN UNORDNUNG?
Imaginierte Männlichkeit. Ernst Jünger oder Die totale Mobilmachung der organischen Konstruktion
Chor und Geschlecht im nationalsozialistischen Theater
Transnationale Räume und internationale Organisierung der deutschen Frauenbewegung in der Zwischenkriegszeit
Geschlechterordnung in Zeiten revolutionärer Unordnung. Hans Fleschs Revolutionsroman Die Amazone
Staat außer Haus. Literarische Gemeinschaften jenseits des Staatsgeistes
Wiener Mädel als Stützen des Staates? Geschlechterordnung im Wiener Film der 1930er Jahre
Sieben Filmbilder von Sex und Gender als demokratische Subversion. Ein Essay
Autorinnen und Autoren

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Stefan Krammer, Marion Löffler, Martin Weidinger (Hg.) Staat in Unordnung?

Gender Studies

Stefan Krammer, Marion Löffler, Martin Weidinger (Hg.)

Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen

Diese Publikation entstand im Rahmen des FWF-Projekts »Tropen des Staates. Denkfiguren des politischen Gemeinwesens.«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Stefan Krammer, Marion Löffler, Martin Weidinger Satz: Marion Löffler Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1802-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen. Eine Einleitung

Stefan Krammer, Marion Löffler, Martin Weidinger | 7

I. STAAT IN ORDNUNG? Die doppelte Maria. Weibliche Führerschaft in Fritz Langs Metropolis

Eva Horn | 25 Politisches Vertrauen. Weibliche Abgeordnete in der Weimarer Republik

Gisela Riescher | 47 Frauen als Staatsbürgerinnen. Perspektiven der Berliner Publizistin Else Frobenius (1875–1952)

Silke Helling | 61 Aktion Vaterversorgung. Überlebenskampf, private Nischen, öffentliche Aufgaben

Evelyne Polt-Heinzl | 75 Staat und Familie − ein zerrüttetes Verhältnis? Familiennarrative als Erschütterungen konservativer Staatskonzeption

Marion Löffler | 91 Zöglinge in Uniform. Zur schulischen Disziplinierung der Geschlechter

Stefan Krammer | 105 Antifeministische und antidemokratische Tendenzen im Staatsdenken der Zwischenkriegszeit. Männerbundfantasien bei Stefan George, Thomas Mann und Max Weber

Eva Kreisky | 119

Hitlerjunge Quex. Brüderhorden am Ende der Zwischenkriegszeit

Michael Rohrwasser | 139

II. STAAT IN UNORDNUNG? Imaginierte Männlichkeit. Ernst Jünger oder Die totale Mobilmachung der organischen Konstruktion

Roland Innerhofer | 157 Chor und Geschlecht im nationalsozialistischen Theater

Evelyn Annuß | 167 Transnationale Räume und internationale Organisierung der deutschen Frauenbewegung in der Zwischenkriegszeit

Ulla Wischermann | 181 Geschlechterordnung in Zeiten revolutionärer Unordnung. Hans Fleschs Revolutionsroman Die Amazone

Wolfgang Straub | 197 Staat außer Haus. Literarische Gemeinschaften jenseits des Staatsgeistes

Sabine Zelger | 213 Wiener Mädel als Stützen des Staates? Geschlechterordnung im Wiener Film der 1930er Jahre

Martin Weidinger | 227 Sieben Filmbilder von Sex und Gender als demokratische Subversion. Ein Essay

Frank Stern | 243 Autorinnen und Autoren | 253

Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen Eine Einleitung S TEFAN K RAMMER , M ARION L ÖFFLER , M ARTIN W EIDINGER „Die Ordnung kann gleichzeitig notwendig und natürlich (im Verhältnis zum Denken) und willkürlich (in Beziehung zu den Dingen) sein, weil ein und dieselbe Sache, je nach der Art, wie man sie betrachtet, an einem oder dem anderen Punkt der Ordnung plaziert (sic!) sein kann.“ (FOUCAULT 1991/1966, 87)

Die Ordnung des Staates mag notwendig, jene der Geschlechter natürlich erscheinen; doch willkürlich sind beide allemal. Was die einen als Ordnung betrachten, ist den anderen Unordnung, Chaos und Anarchie. Denn Ordnung ist vor allem „das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert“ (Foucault 1991/1966, 22). So gesehen steckt in jeder Ordnung auch ein Prinzip der Unordnung, und in jeder Unordnung kann ein verstecktes Ordnungsprinzip ausfindig gemacht werden. Kann es dann einen Staat in Unordnung überhaupt geben? Können Geschlechterverhältnisse in Unordnung sein? Wohl kaum. Doch die Relationen, die Abstände und die Nähe zwischen Staat und Geschlecht können sich verändern und gewohnte Ordnungsblicke irritieren. Scheinbare Unordnung des Staates und unordentliche Geschlechter(-verhältnisse) haben in der Zeit zwischen den Weltkriegen in Deutschland und Österreich zahlreiche Versuche angeregt, die Ordnungsraster zu korrigieren oder die „Dinge“ an ihre vermeintlich richtigen Plätze zu transferieren. In Folge des Systembruchs entwickelte sich in beiden Ländern eine außerordentlich lebendige, vielschichtige und kontroverse Debatte zu Staat

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und Gemeinwesen. Rhetoriken des vergeschlechtlichten Staates sowie vergeschlechtlichende Rhetoriken zur Beschreibung von Staatswahrnehmungen und -fiktionen sind wesentlicher Bestandteil dieses Diskurses (vgl. Kreisky/Löffler/Zelger 2011). Die Beiträge des vorliegenden Bandes spüren diesen Rhetoriken nach und werfen Schlaglichter auf bis dato wenig erforschte Dimensionen der zeitgenössischen Bearbeitung von Staatlichkeit in politischer Theorie, Literatur, Film, Theater und politischer Praxis. Sie fragen nach der vergeschlechtlichten Repräsentation von Herrschaft und ihrer potenziellen Überwindung, nach hegemonialen Vorstellungen und möglichen Veränderungspotenzialen. Dabei werden Sehnsüchte nach hierarchischer Geschlechterund Staatsordnung ebenso diskutiert wie Wahrnehmungen von Unordnung in Geschlechterverhältnissen, aber auch Strategien der (Selbst-)Ermächtigung und Gender-Parodien, die Ordnungsvorstellungen in Frage stellen. Die Beiträge gehen von der Annahme aus, dass Staatsdenken immer auch Ordnungsdenken ist. Deshalb kann die Darstellung von gesellschaftlicher Ordnung bzw. Unordnung als ein Schlüssel zum Verständnis von Geschlechterherrschaft fungieren, die im Staat eine Stütze findet. Die neuen, nunmehr als Demokratien einzurichtenden Republiken waren für die einen das Versprechen, hierarchische Geschlechterverhältnisse aufzubrechen, zumal nun auch Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhielten und zu vollwertigen Staatsbürgerinnen werden konnten. Für die anderen hingegen wurde dies als eine Bedrohung wahrgenommen, die den Staat in seiner Rolle als Garant für soziale Stabilität fragwürdig erscheinen ließ: Die parlamentarische Demokratie wurde als System der westlichen Siegermächte abgelehnt, Frauenemanzipation zum Symbol für den kulturellen Niedergang der deutschen Nation. Die Wechselwirkungen zwischen Staat, Demokratie und Geschlecht waren im zeitgenössischen Diskurs omnipräsent. Emanzipation und Demokratie wurden ebenso miteinander verknüpft wie autoritäre Staatsmodelle mit hierarchischer Geschlechterordnung.

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In der Forschungsliteratur zur Weimarer Republik und zur Ersten Republik in Österreich herrscht ein „Krisendiskurs“ vor (vgl. Hardtwig 2005, 7). Ihr spektakuläres Scheitern in Nationalsozialismus und Austrofaschismus lenkt die Aufmerksamkeit auf die vermeintliche Schwäche beider Staaten. In klassischen Darstellungen scheint ihnen der schicksalhafte Untergang von Anfang an eingeschrieben. Inwiefern dieser Diagnose ein zeitgenössischer Krisendiskurs entspricht, ist Gegenstand dieses Bandes. Wahrnehmungen von Unordnung und Veränderung bahnten sich bereits seit der Jahrhundertwende mit dem Entstehen einer ästhetische und auch moralische Tabus brechenden Moderne an. In den 1920er Jahren wurden Deutschland und Österreich zu Schauplätzen von Entwicklungen, die in ih-

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rem Tempo und ihrer Radikalität einer Vielzahl von Menschen durchaus als Bedrohung traditioneller Ordnungsvorstellungen erscheinen mussten. Peter Gay (2004/1970, 130) spricht von einer „Furcht vor Modernität“. Hinter einem „Hunger nach Ganzheit“ – und Ganzheit impliziert Ordnung – verbarg sich Hass auf eine Welt, die vermeintlich voll von Feinden war: „die entmenschlichende Maschine, der kapitalistische Materialismus, der gottlose Rationalismus, die wurzellose Gesellschaft, die weltbürgerlichen Juden und jenes alles verschlingende Ungeheuer – die Großstadt“ (ebd.). Solche antimodernistischen Phobien waren im politischen Diskurs eng mit der Etablierung der Republik verknüpft (s. Löffler i.d. Bd.). Die Revolutionen in Deutschland und Österreich von 1918 können als Symbol für das Vordringen der Moderne in die politische Organisation gesehen werden. Diese Entwicklungen bahnten sich schon vor dem Krieg an, wurden aber teilweise verzögert, als seitens der Staaten die Konzentration der Energien und Emotionen aller seiner Bürgerinnen und Bürger auf den patriotischen Kampf gefordert wurde und die Kriegspropagandamaschine auf Hochtouren lief (s. Wischermann i.d. Bd.). Umso dramatischer wurden auch die Konsequenzen der Friedensverträge wahrgenommen. Österreich wurde zum Kleinstaat, der nicht als (über-)lebensfähig galt. Deutschland war mit Putschversuchen und einer Serie blutiger, politisch motivierter Attentate konfrontiert, die nach Hans Mommsen (vgl. 2004, 119ff.) als Konsequenz der „inneren Verweigerung des Friedens“ gesehen werden können. Millionen Männer waren in militärisches Ordnungsdenken sozialisiert und nun mit der „verweiblichten“ Demokratie konfrontiert (s. Innerhofer i.d. Bd.). Nunmehr hatten auch die Frauen das Wahlrecht erhalten und engagierten sich im politischen Kampf. Mit Festigung der parlamentarischen Demokratien konnte in Österreich ab 1920, in Deutschland ab 1923 zumindest vorübergehend politische Ordnung einkehren. Dennoch prägten die destabilisierende wirtschaftliche Situation und ein „latenter Bürgerkrieg“ (Mommsen 2004, 139) sowohl die zeitgenössischen als auch die heute vorherrschenden Einschätzungen der Weimarer sowie der Ersten Republik. Zur Wahrnehmung von Unordnung trug neben wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten aber auch ein gesellschaftspolitischer und kultureller Um- und Aufbruch bei. Mit Wegfall der Zensur (Moritz/Moser/Leidinger 2008, 308ff.; Weitz 2007, 106ff.) tat sich ein produktives Zeitfenster auf. Nunmehr konnten bis dahin tabuisierte Themen bearbeitet werden. Demokratie und Emanzipation stimulierten gleichermaßen einen Bedarf an politischer und sexueller Aufklärung. Diesem wurde in Form von Aufklärungsfilmen nachgekommen sowie mittels filmischer und literarischer Experimente, in denen sexuelle Emanzipation und Geschlechterkampf in vielfältiger Weise inszeniert wurden (s. Stern i.d. Bd.). Das Verhältnis zwischen Sexualität und Staat prägte den zeitgenössischen Diskurs: In der Zeitschrift Das Tage-Buch wurde 1920/21 eine Debatte geführt, die die Folgen des Krieges für das Verhältnis der Geschlechter diskutiert. „Der Krieg hatte den Körper des Mannes […] auch in der Liebe

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auf seine biologische Materialität, auf Drill und Gewalt reduziert.“ (Kreimer 2008, 138) In der „Sklavenmoral des deutschen Subalternen“ vermutet H. von Kahlenberg (i.e. Helene Keßler) in einem Beitrag zur genannten Zeitschrift den Kern der „nationalen Katastrophe im Verhältnis der Geschlechter“ (ebd.). Martin Beradt vermutet in seinem Aufsatz Scheidungswahn ein militärisches Verhältnis in der Ehe, die dem Disziplinarrecht des Beamtentums unterworfen werde (vgl. ebd., 139). In dieser Debatte wurde der Staat zusehends zum Hindernis für egalitäre Beziehungen zwischen den Geschlechtern. In Österreich war es z.B. Hugo Bettauer, der in seiner Wochenschrift „die Sittenpolizei“ anklagte und damit auf die Diskrepanz zwischen politischer und sexueller Emanzipation hinwies (vgl. Hall 1978). „Ehebruch ist ein Verbrechen, das uneheliche Kind ein verdammtes, das Mädchen, das sich ohne Ehe einem Mann hingibt, eine Verworfene, wenn es aus bitterer Not sich verkauft, eine Dirne, die außerhalb des Gesetzes steht, rechtlos ist. Ungeheuerlichkeit, die einen Schandfleck unseres jungen Staates bedeutet.“ (Er und Sie, 14.02.1924, 1) Die enge diskursive Verknüpfung von sexueller Befreiung und Demokratie brachte auch bald den Staat als Ordnungshüter ins Spiel.1 Staatliche Kompetenz in Sachen Geschlecht und Sexualität wurde u.a. in männerbündischen Theoretisierungen von politischer Gemeinschaft vorgetragen. Homoerotische Staatsbegründungen begeisterten Kulturschaffende ebenso wie Politiktheoretiker oder Jugendbewegungen (s. Kreisky i.d. Bd.). Klaus Theweleit (2009/1977, 32) stellt einen direkten Zusammenhang her zwischen der Deutschen Revolution (1918–1923) und Publikationen, die den soldatisch-heroischen Mann propagieren. Während der Stabilisierungsphase der Republik schwand „die Attraktivität der schützenden aggressiven Männerbünde“, um ab 1928 und mehr noch ab 1933 in geballter Form wiederzukehren: „[D]as Interesse am Gewehr als dem entscheidenden Instrument der Innenpolitik beginnt wieder zu steigen.“ (Ebd.) Nunmehr wird der ursprünglich antidemokratisch motivierte „Parteienhass“ ersetzt durch nicht weniger antidemokratische Parteinahme für die NSDAP. Die NS-Propaganda kann somit an diese Vorarbeiten anschließen und tut dies auch nicht zuletzt, um die Jugend anzusprechen (s. Rohrwasser i.d. Bd.).

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So sah das österreichische Pressegesetz von 1922 vor, „Druckwerke bestimmter Art, die durch Ausnützung der jugendlichen Triebe das sittliche Wohl der Jugend gefährden, von jeder Verbreitung von Personen unter 18 Jahren aus[zu]schließen und ihren Vertrieb durch Straßenverkauf oder Zeitungsverschleißer überhaupt [zu] untersagen“ (§8 Pressegesetz), was einer partiellen Wiedereinführung der Zensur gleichkam.

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Die revolutionären Phasen in Deutschland und Österreich nach dem Ersten Weltkrieg machten beide zweifelsohne zu Staaten in Unordnung, die in einen Zustand politischer und sozialer Stabilität gebracht werden sollten. Die Weimarer Republik gilt als „Kompromisslösung“, die keiner politischen Richtung wirklich entsprach (vgl. Schürgers 1989, 14). Die Ausrufung der Republik in Österreich konnte sich auf eine breite Koalition stützen. Die Verfassungsverhandlungen gestalteten sich zwar langwierig (vgl. Goldinger/Binder 1992, 94ff.), mündeten aber dennoch in einen breiten Konsens. Die Weimarer und die österreichische Verfassung bilden somit die erste gelungene Übung in praktizierter Demokratie. Obwohl das Parlament von den meisten als „institutionelle Notlösung“ betrachtet wurde (Llanque 2009, 156), genoss es ein recht hohes Maß an politischem Vertrauen (s. Riescher i.d. Bd.), was in den staatstheoretischen Debatten jedoch kaum zum Ausdruck kam. Die Beiträge dieses Staatsdiskurses waren kontrovers und ambivalent. Wohl aufgrund dieser Vielfalt fungieren sie noch in aktuellen Theoretisierungen von Politik und Demokratie als Fundus, aus dem gerne und häufig geschöpft wird (vgl. Holzleithner 2011, 103). Die Etablierung parlamentarischer Demokratien wurde im zeitgenössischen staats- und rechtstheoretischen Diskurs als Überführung des monarchisch-bürokratischen „Obrigkeitsstaates“ in einen „Volksstaat“ verhandelt, der nunmehr vom Volk selbst regiert werden sollte (vgl. Llanque 2009, 149). Der Begriff des „Obrigkeitsstaates“ entspricht weitgehend der hierarchischen Verwaltungsstaatlichkeit, die Michel Foucault (2006, 21) „Polizeistaat“ nennt, wobei er mit „Polizei“ nicht allein die Exekutivgewalt bezeichnet, sondern ein Prinzip von Herrschaft. Dementsprechend erweitert Jacques Rancière (2002) das Konzept und fasst unter dem Begriff „Polizei“ eine Dimension von Politik, die ordnungsstiftend wirkt und keinen Konflikt zulässt. Die „Ordnung der Verteilung der Körper in der Gemeinschaft“ (ebd., 108) wird polizeilich gestiftet und verwaltet. Mit „Polizei“ als Herrschaftsstruktur erscheint der Staat als Ordnungsstifter.2 Demokratie hingegen ist eine andere, auf Konflikt basierende Dimension von Politik. Sie ist die „Unterbrechung“ dieser Ordnung, in gewisser Weise eine Unordnungsstifterin: Sie ist jene Tätigkeit, „die einen Körper von dem Ort entfernt, der ihm zugeordnet war […]; sie lässt sehen, was keinen Ort hatte gesehen zu werden, lässt eine Rede hören, die nur als Lärm gehört wurde“ (ebd., 41). So verstanden ist der Übergang vom Obrigkeits- zum Volksstaat die demokratische Unterbrechung der polizeilichen Ordnung. In den neuen Republiken sollten nun auch die Reden der Frauen gehört (s. Helling i.d. Bd.), sollten

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Zwar lehnt Rancière (2002, 40) den Staatsbegriff und insbesondere den Begriff der Staatsapparate ab, weil deren Gebrauch eine Trennung von Staat und Gesellschaft voraussetzt. Dennoch entspricht Rancières Verwendung des Begriffs der „Polizei“ gängigen Staatskonzepten.

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„outsiders“ zu „insiders“ (Gay 2004/1970, 9) und neue politische Kräfte sichtbar werden. Der Staatsdiskurs der Zwischenkriegszeit steckte in dem Dilemma, auf der einen Seite die Herrschaft des Volkes argumentieren zu wollen, auf der anderen Seite eine neuartige Hierarchie zu suchen, der allein ordnungsstiftende Kraft zugetraut wurde. So wurde das Problem der „Führerauslese“ zu einem breit diskutierten Schwachpunkt der parlamentarischen Demokratie stilisiert. In der Weimarer Verfassung wurde dem Reichspräsidenten eine sehr starke Position zugewiesen, womit der führende Verfassungskommentator Gerhard Anschütz (1923, 33) die „Führerauslese“ zu einem Problem des „Materials“ erklären konnte. In Österreich wurde der Präsident hingegen erst nachträglich aufgewertet. Hans Kelsen hatte in seinem ursprünglichen Verfassungsentwurf noch gar keine Präsidentschaft vorgesehen, weil er jegliche Ähnlichkeit mit einer Monarchie vermeiden wollte. Für ihn bildet eine an Gesetze gebundene Regierung die einzige „staatlich-rechtliche Form der Führerschaft“ (Kelsen 1929/1920, 80). Max Weber hingegen war davon überzeugt, dass die Legitimität von Herrschaft auch emotionaler Hingabe bedarf und beschwor das „Charisma“ als wertvolle Ressource politischer Führerschaft. Selbstverständlich meinten alle diese Überlegungen Männer, die politische Führer sein konnten, daran änderte das passive Wahlrecht für Frauen nichts. Es blieb somit dem fiktionalen Film- und Literaturschaffen vorbehalten, weibliche Führerschaft zu inszenieren und politisches Handeln von Frauen zu erkunden (s. Horn i.d. Bd.). Freilich blieben auch diese Inspektionen in weibliche Politik dem männlichen Blick unterworfen, womit die politisch aktive Frau mitunter selbst zur „Männerfantasie“ geriet (s. Straub i.d. Bd.). Nicht nur das Problem der Führerschaft, sondern auch die Grundüberzeugung, wonach die Wurzel staatlicher Legitimität im Volk zu suchen sei, teilten überzeugte Demokraten mit unterschiedlichen Gegnern der demokratischen Verfassung. Doch dass Konflikt der typische Modus Operandi einer stabilen Demokratie sein könne, wie das in Rancières Konzeption der Fall ist, war angesichts der mitunter blutigen Kämpfe zwischen den politischen Lagern wenig glaubwürdig. Plausibler erschienen Einheit und Homogenität des Volkes bzw. der Nation, die die Basis des neuen „Volksstaates“ bilden sollten. In Diskussionen sozialer und politischer Stabilität und Ordnung dominierte somit der polizeiliche Obrigkeitsstaat die staatstheoretische Vorstellungswelt. Nach außen, gegenüber anderen Staaten fungieren Staatsgrenzen als Demarkationslinien zwischen Freund und Feind, nach innen verlaufen zahlreiche Trennlinien, die in der feministischen Forschung auch als Geschlechtergrenzen entschlüsselt wurden: die Trennung zwischen öffentlich und privat oder zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit. Birgit Sauer (2009, 109) fasst diese zu einem Trennungsdispositiv zusammen, das den zentralen Herrschaftsmechanismus moderner Staaten bildet. Auch Pierre Bourdieu (1998, 130) weist darauf hin, dass es staatliche Kategorien sind, die vorgeblich ihre Verwaltungsobjekte beschreiben, faktisch aber eine

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Existenzweise vorschreiben. Haushaltserhebungen z.B. verändern die Anordnung von Männern und Frauen, weil jeder Mensch einer solchen Einheit zugerechnet werden muss, und sich selbst zurechnen muss. Orte, die vom „Staatsgeist“ nicht gedacht werden, bleiben unsichtbar, die Menschen an diesen Orten werden nicht gehört (s. Zelger i.d. Bd.).

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Wie ordentlich bzw. unordentlich sich der Staat offenbart, lässt sich insbesondere über die Kategorie Geschlecht als eine Dimension sozialer Ordnung beschreiben. Mit Bourdieu (1998, 93ff.) kann gezeigt werden, inwiefern sich gerade der Staat an der Herstellung von Geschlecht beteiligt. Der Staat denkt Geschlecht als ein wesentliches Klassifizierungsprinzip und ist beständig um die Durchsetzung und Verinnerlichung geschlechtspezifischer Denkkategorien bemüht. Im Namen der „Natürlichkeit“ schreibt er in einer Reihe von Setzungsakten eine Geschlechterordnung vor, die sich durch Zweigeschlechtlichkeit von „Mann“ und „Frau“ auszeichnet, durch „Heteronormativität“ bestimmt ist und asymmetrische Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern hervorbringt (vgl. Butler 1991). Als sexuell kodierter, gesellschaftlich wirksamer Herrschaftsdiskurs manifestiert sich die Ordnung der Geschlechter über eine Hierarchie, die – um Differenzen bemüht – die Dominanz des „Mannes“ und die Unterwerfung der „Frau“ gewährleisten soll.3 Diese polare Geschlechterordnung wurde maßgeblich im bürgerlichpatriarchalen Geschlechterdiskurs entworfen, in welchem (spätestens seit der Aufklärung) die Vorstellung von einer fundamentalen biologischen Differenz der Geschlechter vorherrscht. Durch Klassifizierung entlang körperlicher Differenzen werden die Geschlechter in die „natürliche Ordnung der Dinge“ (Honegger 1991, IX) eingereiht und zum „Mythos von der Natürlichkeit“ (Klinger 2000, 2) verklärt. Wird die Art und Weise, wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern organisiert ist, als in der Natur begründet angesehen, dann erscheint dieses „als vorgegeben und unveränderlich, als a-politisch und a-historisch zugleich“ (ebd.). Die essenzialistische Starrheit dieser Vorstellung entspringt einem patriarchalen Ordnungsbewusstsein, das die Ungleichheit zwischen Mann und Frau als unhintergehbare Prämisse festschreibt, um sich dadurch der männlichen Vorherrschaft für alle „Ewigkeit“ sicher zu sein. Wird Geschlecht hingegen als soziales und kulturelles Konstrukt aufgefasst, dann kann die Geschlechterordnung als ein offenes und dynamisches System begriffen werden, das in verschiedenen Zeiten, Kulturen und Gesell-

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Das Konzept „hegemonialer Männlichkeit“ diskutiert, wie Geschlechterhierarchie nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen Männern hergestellt wird (vgl. Connell 2006).

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schaftsformen ganz unterschiedliche Gestalt annehmen kann. Ein derartiges Verständnis von Geschlecht eröffnet einen Gestaltungsspielraum, dem immer auch schon eine gewisse Unordnung eingeschrieben ist. Denn durch die mögliche Veränderbarkeit der Geschlechterordnung kommen verstärkt auch destabilisierende Faktoren und Potenziale in den Blick, die vorherrschende Erwartungshaltungen und Handlungsweisen in Frage stellen. Die Auseinandersetzung mit der Ordnung bzw. Unordnung der Geschlechter wird dabei zu einer Frage nach der Kontinuität bzw. Diskontinuität von Herrschaftsverhältnissen zwischen den Geschlechtern. Die gesellschaftspolitischen Veränderungen der Zwischenkriegszeit zeigen einige Diskontinuitäten und Brüche der althergebrachten Ordnung an, rufen aber zugleich restaurative Kräfte auf den Plan. Der Zusammenhang von Staat und Geschlecht wird insbesondere dort evident, wo es um die Organisation der Geschlechter im sozialen Raum geht. Durch Gesetze und Verordnungen wird explizit bestimmt, wer Zugang zu bestimmten gesellschaftlichen Räumen, politischen Aufgaben und Rechten bekommt, und wem dieser verwehrt wird. Aber auch implizit werden die soziale Partizipation und das Verhältnis der Geschlechter zueinander geregelt: über einen inkorporierten Habitus, über geschlechtsbezogene Praktiken der (Re-)Produktion wie auch über emotionale Bindungsstrukturen. Zentral ist dabei die Frage, ob dem Geschlecht überhaupt eine Ordnungsfunktion zukommt oder ob es vielmehr ein „Unordnungsprinzip“ (Heintz 2001, 9) darstellt. Wenn heute weder im Erscheinungsbild der Geschlechter noch in deren Verhalten und sozialen Positionierungen eine trennscharfe Grenze auszumachen ist, welche eine Ordnung in den vielfältigen Geschlechterarrangements schafft, lässt sich zu Recht behaupten, dass „das Geschlechterverhältnis ordentlich in Unordnung“ (ebd.) geraten ist. Ein Blick auf die Literatur der Zwischenkriegszeit zeigt, dass Irritationen der Geschlechterordnung keiner umfassenden Nivellierung der Geschlechter bedürfen. Schon eine Perspektivenverschiebung kann ungewöhnliche Geschlechterverhältnisse an den Tag bringen (s. Polt-Heinzl i.d. Bd.). Dabei lassen sich aber auch Muster der Persistenz finden, welche die Unordnung wieder in eine Art Ordnungsstruktur überführen (s. Weidinger i.d. Bd.). Die (Un-)Ordnung der Geschlechter lässt sich nicht allein über deren Anordnung im sozialen Raum bestimmen, sondern ebenso in der Konstruktion der terminologischen Festlegung von Geschlecht selbst. Der Geschlechterordnung ist diesbezüglich immer dann schon eine gewisse Unordnung eingeschrieben, wenn Geschlecht nicht als feststehender Begriff verstanden wird, sondern stets von Neuem danach gefragt wird, wie sich ein solcher Begriff in den verschiedenen Kontexten, in denen er „gelesen“ wird, herstellt bzw. wie dieser hergestellt wird. Es geht dabei um ein „Wi(e)derlesen“ des Geschlechts im doppelten Sinne des „Erneut- und des Gegenlesens“ (Menke 1995, 38). Von Interesse ist dann, welche kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung dem Geschlecht beigemessen wird und welche Kon-

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sequenzen sich daraus für soziale Strukturen und politische Machtverteilungen ergeben. Diese begriffliche Unordnung ist es schließlich auch, die zum Unbehagen der Geschlechter (Butler 1991) führt. Denn mit der Infragestellung des Systems binär hierarchischer Oppositionen kann auch die Geschlechterdifferenz unterlaufen und entkräftet, die Geschlechterordnung in ihrer Gültigkeit fundamental in Zweifel gezogen werden. Solche Verschiebung und Umwertungen führen zu einer Destabilisierung der Zwei-Geschlechter-Ordnung, zu einer Uneindeutigkeit von Geschlecht und Sexualität und letztlich zu einer Vervielfältigung der Geschlechter. Offenheit, Hybridität und Polyvalenz sollen Räume eröffnen, in denen vielfältige, prozesshafte Identitätskonzepte denkbar und lebbar werden (vgl. Babka 2007, 20). Während historische Befunde und staatstheoretische Auseinandersetzungen die Ausdrucksformen von Geschlecht oftmals eng an den sozialen Standort binden und dabei der „sozio-logischen Notwendigkeit des Prinzips der Differenz des Männlichen und Weiblichen“ (Bourdieu 2005, 8f.) folgen, können Literatur, Theater und Film ein Spiel mit unterschiedlichsten Geschlechtsrollen und -perspektiven eröffnen und dabei die vermeintliche Ordnung der Geschlechter ganz schön in Unordnung bringen (s. Krammer i.d. Bd.): sei es durch ein Spiel mit fiktiven Identitäten, bei dem Geschlechtsrollen parodistisch verfremdet oder in Form von Maskeraden in Szene gesetzt werden; sei es durch das Überwinden von Gattungsgrenzen, das Ordnungskriterien in ihrer Gemachtheit entlarvt und sie dadurch per se in Frage stellt; sei es durch ästhetische Möglichkeiten wie etwa dramatische Zuspitzung, epische Verdichtung oder filmische Montage. Das Spiel mit geschlechtlichen Ambivalenzen kann politisch ebenso vieldeutig inszeniert sein, entspricht aber keineswegs notwendig politisch-emanzipatorischen Projekten (s. Annuß i.d. Bd.).

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Die Beiträge des ersten Teils gehen von Ordnungsprinzipien aus, die institutionell verankert sind oder durch hegemoniale Diskurse festgeschrieben werden. Sie fragen danach, inwiefern staatliche Institutionen vergeschlechtlicht sind und vergeschlechtlichend wirken. Sie untersuchen Begründungsmuster staatlicher Legitimation. Dabei stellt sich heraus, dass in staatliche Ordnung immer schon ein Unordnungsprinzip eingeschrieben ist. Die Ordnungsdiskurse der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kreisten um die potenzielle Gefahr der Unordnung, die es abzuwenden galt. Die Beiträge des zweiten Teils gehen von einer Diagnose der Unordnung aus. In den Fokus kommen potenzielle Unordnungsprinzipien, wie sie sich etwa in Modellen nichtstaatlicher Vergemeinschaftung oder in Formen des Widerstands gegen die Staatsgewalt manifestieren. Die Beiträge dieses Teils fragen danach, welche Alternativen zum Staat entwickelt werden kön-

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nen und inwieweit dabei mit traditionellen und auch modernen Geschlechterrollen bzw. Geschlechterverhältnissen umgegangen wird. Die Beschäftigung mit Unordnung mündet nicht selten in neue Ordnungsdiskurse. I. Staat in Ordnung? Als wohl bekanntester Film aus der Periode des Weimarer Kinos kann Fritz Langs Metropolis von 1927 gelten. Eva Horn eröffnet den Band mit ihrer Analyse der „doppelten Maria“ als weibliche Führerfigur im Kontext der markant in zwei Sphären getrennten und von einem patriarchalen männlichen Führer dominierten Welt von Metropolis. Das Soziale formatiert sich zwischen dampfenden Massenornamenten der Arbeitersklaven einerseits und elektrischer Entladung der Masse andererseits. Marias Führerschaft elektrisiert die Masse im Film wie der Film sein Massenpublikum. Die Gesellschaft ist nicht mehr in eine geordnete Form zu bringen. Patriarchale Führung, die sozialen Druck via Druckausgleich zu regulieren versucht, ist trotz Happy End zum Scheitern verurteilt. Die doppelte Maria bildet einen verstörenden Gegenentwurf zum autoritären Führer, nach dem in der Weimarer Republik gerufen wurde. Nicht autoritäre Führerschaft, sondern Vertrauen in politische Institutionen gilt in der politikwissenschaftlichen Forschung als Voraussetzung für die Stabilität eines politischen Systems. Gisela Riescher operationalisiert den „weichen“ Begriff des politischen Vertrauens als politikwissenschaftliche Analysekategorie. Sie zeigt auf, dass es in der Weimarer Republik sehr wohl Vertrauen in die Institution des Parlaments gegeben hat. Insbesondere die ersten weiblichen Abgeordneten konnten sich in Arbeitsgruppen z.B. zu Sozialpolitik in die politische Arbeit einbringen. Frauen haben auch fraktionsübergreifend zusammengearbeitet. Ein Vertrauensverlust trat erst mit dem großen Erfolg der Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl im September 1930 ein, als diese die parlamentarische Arbeit gezielt boykottierten. Eine der ersten Frauen, die sich auch parteipolitisch betätigten, war Else Frobenius (1875–1952), die im Mittelpunkt des Beitrags von Silke Helling steht. Frobenius erweist sich in ihrer umfassenden publizistischen Tätigkeit als widersprüchliche Figur, die sich bereits 1933 in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt hat und deshalb später, trotz ihres Einsatzes für politische Rechte der Frau, als „peinliche Verwandte“ der Frauenforschung galt. Helling wirft zunächst einen biografischen Blick auf Frobenius, bevor sie deren publizistische Äußerungen und tagesaktuelle Stellungnahmen zur Rolle der Staatsbürgerin analysiert. Frobenius’ umfangreiches Werk ist bislang wenig erschlossen, sodass die hier analysierten Dramen, Reden, Zeitungsartikel und Pamphlete über die Stellung der Frau als Staatsbürgerin eine ungewohnte weibliche Perspektive auf die Frau in der Politik der Weimarer Republik eröffnen. Während in den beiden letztgenannten Beiträgen Frauen als politische Akteurinnen im engeren Sinn in der politischen Frauengeschichtsschreibung

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untersucht werden, wirft Evelyne Polt-Heinzl einen frauenforscherischen Blick auf die Literaturgeschichtsschreibung und kritisiert deren bevorzugten Topos des „Vatermordes“. Im Fokus stehen dort Söhne, die sich von ihren Vätern emanzipieren. Polt-Heinzl rückt hingegen die Töchter in den Mittelpunkt, die in einer „Aktion Vaterversorgung“ jene Väter ernährten und betreuten, die die Stützen der alten Ordnung bildeten. In Form einer Sammlung soziologischer Miniaturen spürt sie weiblichen Lebensentwürfen nach, wie sie in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit verhandelt wurden. In ihren Überlebenskämpfen sind diese Frauen zwar an die Ordnung der Väter gebunden, bringen aber dennoch Unordnung in die hegemoniale Geschlechterordnung. Marion Löffler führt am Beispiel staatstheoretischer Texte von Othmar Spann und Erich Voegelin aus, wie die Institution der Familie im konservativen Staatsdenken zur Legitimation staatlicher Herrschaft als geschlechterhierarchische Ordnung herangezogen wird. Die traditionelle Indienstnahme als legitimatorische Stütze staatlicher Ordnung erlaubt es den Theoretikern der Ersten Republik, ihr staatsbegründendes Narrativ Familie stillschweigend vorauszusetzen. Familie gerinnt zur Black Box. Wird Familie aber erzählt, so beginnt das Fundament zu bröckeln. Anhand literarischer Familiendarstellungen in Texten von Robert Musil, Joseph Roth und Veza Canetti zeigt Löffler, dass das Familiennarrativ die staatliche Ordnung nicht notwendig stabilisiert, sondern sie grundlegend erschüttern kann, sofern die Familie anders erzählt wird, als dies die konservative Sicht nahelegt. Im Zentrum des Beitrags von Stefan Krammer steht eine weitere staatliche Institution: die Schule. Das Mädcheninternat im Film Mädchen in Uniform (1931) und das Knabengymnasium in Robert Hohlbaums Roman Zukunft (1922) werden im Hinblick auf das dort erlernte „Doing Gender“ analysiert. Krammer geht der Frage nach, ob und welche Möglichkeiten die Protagonistinnen und Protagonisten innerhalb dieser Institution haben, ihre Geschlechtlichkeit zu entwickeln, auszuleben oder gar in Frage zu stellen. „Undoing Gender“ wird dort möglich, wo homosexuelles Begehren in Szene gesetzt wird bzw. demokratische Modelle in die Schule Eingang finden. Krammer kommt zu dem Ergebnis, dass durchgängig männliche Herrschaft etabliert und reproduziert wird. Selbst Geschlechterparodien vermögen diese Ordnungsmacht nicht zu durchbrechen. Männlichkeit als Ordnungskategorie wurde bereits seit der Jahrhundertwende im Konzept des Männerbundes verherrlicht. Eva Kreisky geht in ihrem Beitrag der Genese und Verbreitung männerbündischer Fantasien in Wissenschaft und Literatur nach, die das Staatsdenken der frühen Weimarer Republik nachhaltig prägten. Dies zeigt Kreisky anhand der personellen und inhaltlichen Verbindungen zwischen Stefan George, Thomas Mann und Max Weber auf, die sich alle durch ihre Bewunderung der Männerbundideen von Heinrich Schurtz und Hans Blüher auszeichnen. Kreisky diskutiert den hegemonial gewordenen maskulinistischen Zeitgeist, der durch an-

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tidemokratische, antifeministische und antisemitische Männerfantasien gekennzeichnet ist. Der Männerbund als Staatsidee bildet eine Alternative zur Familie als zentrale Ordnungskategorie. Im Beitrag von Michael Rohrwasser wird dieser Prozess der Ablösung am Beispiel des NS-Propagandafilms Hitlerjunge Quex (1933) analysiert. Dabei geht es um den Kampf der Jungen gegen die Alten. Die vaterlosen Söhne lösen sich vom überkommenen Familienmodell und bilden eine Brüderhorde. Die Hitlerjugend wird diesem Ideal folgend dargestellt, während die sozialistische „Kommune“ patriarchale Strukturen verkörpert. Rohrwasser ergründet Faszinationsspuren, die den „jungen“ Nationalsozialisten im Wettbewerb um die männliche Deutsche Jugend den entscheidenden Vorteil gegenüber den „alten“ Kommunisten verschafft. II. Staat in Unordnung? Neben der Männerbundkonzeption weist die politische Bedeutung von Männlichkeit weitere Dimensionen auf, die im Beitrag von Roland Innerhofer diskutiert werden. Er analysiert das Werk von Ernst Jünger, der „den Gefahrensinn und den apokalyptischen Schauer“ des Ersten Weltkrieges in die Zwischenkriegszeit transportiert. Der kampfgestählte männliche Körper des Kriegszeitalters transformiert sich zum Arbeiter, der mitunter als drittes Geschlecht interpretiert wird. Innerhofer weist darauf hin, dass nicht erst ein imaginiertes drittes Geschlecht, sondern die Alleinherrschaft des männlichen Blicks die Geschlechterdifferenz zugunsten eines männlichen Allmachtswahns zum Verschwinden bringt. Diese Vorstellungen gipfeln in einer Ordnungsfantasie: einem in allen Einzelteilen organisierten Staat, der von einem technisch perfektionierten Menschentypus getragen und von einer männlichen Führerfigur geleitet wird. Evelyn Annuß beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der weitgehend vergessenen Erbschaft des deutschen Chortheaters: mit den umstrittenen Thingspielsexperimenten von 1933 bis 1936. Am Beispiel der Deutschen Passion 1933 und des Frankenburger Würfelspiels (1936) zeigt Annuß, inwiefern sich an dieser Sonderform des NS-Theaters das Zusammenspiel von Geschlecht, symbolischer Politik und nationalsozialistischem Staatsapparat vor dessen Konsolidierung ablesen lässt. Die Aktualität und Brisanz dieser Verbindungen analysiert Annuß vor dem Hintergrund, dass der Chor als nichtprotagonistische Kollektivfigur eine zentrale und dekonstruktive Rolle im postdramatischen Gegenwartstheater spielt und oftmals eingesetzt wird, um die repräsentationspolitischen Voraussetzungen vergeschlechtlichender Bühnendarstellungen auszuloten. Ulla Wischermann analysiert die Störungen politischer Organisationsmuster durch die Frauenbewegung und deren Vordringen in inter- und transnationale Räume. Sie betont die Versuche der Frauen, weibliche Formen von Politik und politischem Handeln zu etablieren. Inter- und Transnationalität fungierte dabei zunächst als Kontrapunkt zum männlich konnotier-

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ten Nationalismus. Mit dem Ersten Weltkrieg gerieten jedoch auch die Frauen in den Sog nationaler Euphorie. Wischermann zeigt, inwiefern die politische Emanzipation nach dem Ersten Weltkrieg zunächst eine Fortführung der weiblichen Aktivitäten auf internationaler Ebene verhinderte. Die deutschen Frauenorganisationen fanden erst nach einer Phase politischer Ernüchterung wieder in diese Netzwerke zurück. Wolfgang Straub geht in seinem Beitrag von der Annahme aus, dass Revolutionen nicht nur staatliche Ordnungen ins Schwanken bringen, sondern ebenso zu einer Unordnung der Geschlechter führen. Anhand des Romans Die Amazone (1930) von Hans Flesch, der mit Anne-Josèphe Théroigne die Lebensgeschichte der bekanntesten Frauenfigur der Französischen Revolution erzählt, wird die Rolle von Frauen im revolutionären Kampf beleuchtet. In der Analyse der Figurenzeichnung und -konstellation legt Straub dar, welch begrenzten Handlungsspielraum den weiblichen Figuren im Text zugestanden wird. Revolution wird bei Flesch als libertinäres Interregnum dargestellt, in dem die Protagonistin als Männerfantasie in Szene gesetzt wird. Die Unordnung der Revolution, die durchwegs lustvoll zelebriert wird, nutzt Flesch vor allem dazu, eine polare Geschlechterordnung herzustellen. Martin Weidinger zeigt anhand der Figur des „Wiener Mädels“ Brüche und Widersprüche zwischen Tradition und Moderne sowie die darin unterlegte Geschlechterherrschaft. Im Genre des Wiener Films wird Unordnung vielfach zum Ausgangspunkt einer wechselvollen, romantischen Erzählung, die für gewöhnlich in die Ordnung stabiler Geschlechterverhältnisse mündet. Dabei ist dem Typus des Wiener Mädels jedoch immer auch ein subversives Potenzial inhärent, das traditionelle Geschlechterverhältnisse ins Wanken bringt. Anhand der Analyse von Maskerade (1934) und Vorstadtvarieté (1935) zeigt Weidinger, wie die Protagonistinnen zu Stützen des Staates werden, indem sie sich selbst und ihre große Liebe in die staatlich konstituierte Institution von Ehe und Familie überführen. Dass staatliche Ordnungsimperative nicht mit staatlicher Omnipotenz gleichzusetzen sind, zeigt Sabine Zelger in ihrem Beitrag. Sie analysiert literarische Vergemeinschaftungsexperimente in nichtkanonisierten Texten von Mechtilde Lichnowsky, Andreas Thom und Robert Neumann. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie der staatlichen Ordnung widerstehen, indem sie staatsfreie Räume schaffen: so z.B. das Stiegenhaus, das weder für die Institution der Familie reserviert ist noch als öffentlicher Raum fungiert. Die Texte stellen aber kein Ordnungsprinzip zur Verfügung, das verstaatlicht werden könnte. Schon bei der Lektüre der Texte tut sich für die Leserinnen und Leser ein staatsfreier Raum auf, den es jenseits des Staatsgeistes auszugestalten gilt. Die Widerständigkeit wird als Potenzialität auf Dauer gestellt und mündet nicht notwendig in die Etablierung einer neuen Ordnung. Dem widerständigen und subversiven Potenzial des Films wendet sich Frank Stern in seinem Beitrag zu. Als Periode gesellschaftlichen und politischen Umbruchs ist die Zwischenkriegszeit auch geprägt durch eine Krise der Geschlechterbeziehungen. Film erklärt und verklärt, erhellt und verdun-

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kelt auch; Filmbilder sind immer in Filmverhältnisse im Hintergrund eingebettet. Sexualität war gemäß Stern in der untersuchten Periode nicht so sehr Privatangelegenheit als durch Moralvorstellungen von Staat, Kirche oder einer rechtslastigen Presse gestützt. Sterns Interpretation fokussiert weniger die Spuren des Widerstands als vielmehr die Delegitimierung durch visuelle Subversion. Sieben „Bilder“ aus sieben Filmen der Zwischenkriegsjahre stellen das Anschauungsmaterial, dessen er sich bedient, um zentralen Motiven wie etwa der Krise der Bürgerlichkeit, sexueller Öffentlichkeit, ästhetisch-erotischen Ambivalenzen, Emanzipation oder sinnlich-sozialen Utopien nachzuspüren. Die vorliegende Publikation eröffnet vielfältige Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Staat und Geschlecht in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Die unterschiedlichen Zugänge zur Thematik, ausgehend von verschiedenen disziplinären und interdisziplinären Blickwinkeln, verdeutlichen, dass auch dieser Band eine Ordnung herstellt, der ein Unordnungsprinzip inhärent ist. Denn die Lektüren werden ganz anderen Mustern folgen (müssen), als sie hier vorgegeben sind. Und das ist auch gut so.

L ITERATUR Anschütz, Gerhard 1923: Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung. Rede, gehalten bei der Jahresfeier der Universität Heidelberg am 22. November 1922. Tübingen. Babka, Anna 2007: „Rundum Gender“ – Literatur, Literaturwissenschaft, Literaturtheorie. In: ide, H. 3, 8–21. Bourdieu, Pierre 1998: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main. Bourdieu, Pierre 2005: Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main. Butler, Judith 1991: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main. Connell, Robert 2006: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden. Foucault, Michel 1991 (1966): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main. Foucault, Michel 2006: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt am Main. Gay, Peter 2004 (1970): Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933. New York/London. Goldinger, Walter/Binder, Dieter A. 1992: Geschichte der Republik Österreich 1918–1938. Wien/München. Hall, Murray G. 1978: Der Fall Bettauer. Wien. Hardtwig, Wolfgang 2005: Einleitung: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit. In: ders. (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939. Göttingen, 7–22. Heintz, Bettina 2001: Geschlecht als (Un-)Ordnungsprinzip. In: dies. (Hg.): Geschlechtersoziologie. Opladen, 9–29.

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Holzleithner, Elisabeth 2011: „Führung muss sein.“ Carl Schmitts Fiktion eines totalen Staates. In: Eva Kreisky/Marion Löffler/Sabine Zelger (Hg.): Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit. Wien, 103– 121. Honegger, Claudia 1991: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib. Frankfurt am Main/New York. Kelsen, Hans 1929 (1920): Vom Wesen und Wert der Demokratie. Tübingen. Klinger, Cornelia 2000: Die Ordnung der Geschlechter und die Ambivalenz der Moderne. Verfügbar unter: http://www.uni-tuebingen.de/fileadmin/ Uni_Tuebingen/Fakultaten/PhiloGeschichte/Dokumente/Downloads/ ver%C3%B6ffentlichungen/klinger-modpol.pdf, aufgerufen am 22.05. 2011. Kreimer, Klaus 2008: Prekäre Moderne. Essays zur Kino- und Filmgeschichte. Marburg. Kreisky, Eva/Löffler, Marion/Zelger, Sabine (Hg.) 2011: Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit. Wien. Llanque, Marcus 2009: Mehr Demokratie wagen: Weimar und die direkte Demokratie. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen (Hg.): Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie. Erfurt, 145–159. Menke, Bettine 1995: Dekonstruktion der Geschlechteropposition. In: Erika Haas (Hg.): Verwirrung der Geschlechter. Dekonstruktion in der Wissenschaft. München, 35–68. Mommsen, Hans 2004: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar. 1918–1933. Berlin. Moritz, Verena/Moser, Karin/Leidinger, Hannes 2008: Kampfzone Kino. Film in Österreich 1918–1938. Wien. Rancière, Jacques 2002: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main. Theweleit, Klaus 2009 (1977): Männerphantasien. 2 Bde. München/Zürich. Sauer, Birgit 2009: Transformationen von Staatlichkeit: Chancen für Geschlechterdemokratie? In: Gundula Ludwig/Birgit Sauer/Stefanie Wöhl (Hg.): Staat und Geschlecht. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen feministischer Staatstheorie. Baden-Baden, 105–118. Schürgers, Norbert J. 1989: Politische Philosophie in der Weimarer Republik. Staatsverständnis zwischen Führerdemokratie und bürokratischem Sozialismus. Stuttgart. Weitz, Eric D. 2007: Weimar Germany. Promise and Tragedy. Princeton/Oxford.

I. Staat in Ordnung?

Die doppelte Maria Weibliche Führerschaft in Fritz Langs Metropolis E VA H ORN

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ALS

M ASCHINE

Dass der Staat eine „Maschine“ sei, ist ein altes Bild, das historisch den jeweiligen Stand politischer Organisation mit dem der wichtigsten Leittechnologie in Analogie gebracht hat. Sei es als wohleingerichtetes Uhrwerk, als selbstregulierendes Drucksystem (i.e. Dampfmaschine) oder als Netzwerk von Energie- und Informationsübertragung (Telegrafie und Elektrizität), eine sich wandelnde technische Bildlichkeit hat das Ideal einer gesellschaftlichen und politischen Organisation und Regulation informiert und geformt. Dieses Bild erfährt in der Weimarer Republik neue, widersprüchliche und teilweise auch schrille Variationen. Denn verhandelt werden in ihm nicht nur das funktionale Zusammenspiel der vielfältigen gesellschaftlichen Kräfte und die Einbindung oder Unterwerfung des Einzelnen in diese Gesamtheit, sondern auch die Frage danach, wie Arbeit und Technik selbst zum essenziellen Element dieser Maschinenhaftigkeit des Gemeinwesens werden. Und verhandelt wird schließlich auch, wie eine „Gesellschaftsmaschine“ (Deleuze/Guattari 1974, 43), die nicht mehr als symbolische und organische Einheit gedacht werden kann, zu integrieren, zu regulieren und zu steuern ist, welche – um mit dem Thema dieses Bandes zu sprechen – Formen von Ordnung welchen Formen von Unordnung entgegengesetzt werden müssen. Die imaginären Modellierungen dieser „Gesellschaftsmaschine“, die die Zwischenkriegszeit entwirft, kreisen obsessiv um die Frage nach einer möglichen und neuen sozialen Ordnung – am deutlichsten wohl in Ernst Jüngers Der Arbeiter (Jünger 1981/1932). Vor allem aber entwerfen sie vielfältige Bilder und Visionen sozialer Unordnung: Nachbilder der Revolution von 1918, Massenaufruhr, Klassenkampf, Streik und einen latenten, immer wieder aufflammenden Bürgerkrieg zwischen rechts und links. Kaum ein Werk der Zeit hat diese Spannung von sozialer Ordnung und Unordnung, von gelingender Steuerung, aber ebenso gelingender Entfesse-

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lung in so imposante wie beklemmende Bilder gesetzt wie Fritz Langs umstrittener Film Metropolis aus dem Jahre 1927. Die Stadt Metropolis ist das moderne Bild vom Staat als Maschine, allerdings eines, das direkt von Karl Marx entworfen scheint: Der Film inszeniert eine allzu geordnete, vertikale Welt, streng unterteilt in ein Oben der Herrschaftsklasse und ein Unten der Arbeitssklaven, eine Welt, die gerade in ihrem hypertrophen Funktionalismus die eigene Zerstörung gebiert, die am Ende nur mit einem enttäuschenden Schluss stillzustellen ist. So gibt Metropolis der Frage nach dem „Staat in Unordnung“ die suggestivsten Bilder, zuletzt aber keine Antwort. Kein Wunder, dass der Film die Zeitgenossen einigermaßen ratlos hinterließ. Bis heute der teuerste deutsche Film ist Metropolis oft auch als das größte filmische Desaster der UFA bezeichnet worden, nicht nur finanziell, sondern vor allem ästhetisch und ideologisch (zur zeitgenössischen Rezeption vgl. Elsaesser 2001; Minden/Bachmann 2000). Nach der Premiere gab es jede Menge Spott über die seltsame Mischung aus überdeutlicher Symbolik, spätexpressionistischem Over-Acting der relativ unerfahrenen Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller und neusachlicher Technikästhetisierung. Eine Kritik aus dem Simplicissimus traf diese hybride und allein auf den visuellen Effekt zielende Ästhetik von Metropolis mit einiger Schärfe, indem sie den Film in nichts als seine monumentalen Bilder auflöste und diese mit einem hämischen „Kochrezept“ unterlegte: „Nimm zehn Tonnen Grausen, giesse ein Zehntel Sentimentalität darüber, koche es mit sozialem Empfinden auf und würze es mit Mystik nach Bedarf; verrühre das ganze mit Mark (sieben Millionen) und du erhältst einen prima Kollossalfilm.“ Der „prima Kollossalfilm“, so insinuiert die Karikatur, hat nicht so sehr eine Handlung wie eine Mischung von Bildern und Symbolen. Garniert wurde diese von einer windelweichen politischen Botschaft, die in einem leitmotivartigen Sinnspruch besteht, der trivialer nicht sein könnte: „Mittler zwischen Hirn und Händen muß das Herz sein.“ Im Film wird dieser Sinnspruch zunächst als Motto vorangestellt, dann von einer prophetenhaften Jungfrau namens Maria in einer Art Messe vorgetragen und am Schluss noch einmal in einem Handschlag zwischen Arbeitern und Industrieboss besiegelt. Aber er könnte, wie Siegfried Kracauer giftig anmerkte, auch „ohne weiteres von Goebbels stammen. Auch Goebbels appellierte im Namen totalitärer Propaganda – an das Herz.“ (Kracauer 1984/1947, 172) Was die tatsächliche Aufgabe des „Mittlers“ sein könnte und was sein Ziel – all das bleibt offen.

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Abbildung 1: Karikatur zu „Metropolis“

Quelle: Simplicissimus 1927, Jg. 31, H. 44, 587

Die Geschichte, die der Film erzählt, geht glücklicherweise in dieser vagen Botschaft nicht auf. Denn es ist nicht der Plot, sondern die Visualität des Films, die die eigentliche Story erzählt. „Die Narration wird bei Lang weniger durch die Logik der Handlung als durch die Mise en scène (Anordnung und filmische Darstellung) von Teilobjekten erzeugt.“ (Elsaesser 2001, 55) In der im Jahr 2010 rekonstruierten Fassung ist die Handlung zwar durch einige Sub-Plots, die zuvor herausgeschnitten worden waren, noch etwas komplizierter, aber nicht plausibler geworden. Der Plot von Metropolis ist eine wüste Mischung aus Märchen, Liebesgeschichte, allegorischer Parabel, einem oft kommentierten Vater-Sohn-Konflikt und schließlich einem politischen Drama, in dem sich jede beteiligte Seite wenig sinnvoll benimmt: Die Stadt Metropolis ist aufgeteilt in zwei unvereinbare Welten, in die Oberstadt, eine Welt des Luxus, in der eine reiche und müßige Führungsschicht ihren Vergnügungen nachgeht, und eine Unterstadt, in der eine Masse von Arbeitern in Armut und schwerster körperlicher Arbeit lebt. Herrscher über Metropolis ist der Industrielle Joh Fredersen. Sein Sohn Freder Fredersen ist fasziniert von einer Frau aus der Arbeiterschicht, die mit einer Gruppe kleiner Kinder plötzlich in den Vergnügungsgärten der feinen Leute auftaucht.

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Diese Frau, Maria, zeigt den Kindern der Arbeiter die müßigen Reichen und sagt: „Seht! Das sind eure Brüder.“ Freder geht daraufhin in die Unterstadt, wo die Arbeiter an riesigen Maschinen schuften. In geometrische Blöcke gepresst, schreiten sie im Gleichschritt und mit gesenkten Köpfen zur Arbeit; zu Tode erschöpft, aber in der gleichen formierten Masse verlassen sie die Maschinenhallen am Ende ihrer Schicht. Nach einer Explosion in den Maschinenräumen sieht Freder in einer allegorischen Vision, wie die Arbeiter von der Technik, die sie unter unmenschlichen Anstrengungen bedienen, wie von einem Moloch verschlungen werden. Er findet heraus, dass Maria in den Katakomben der Stadt Messen abhält, in denen sie den Arbeitern die Ankunft eines „Mittlers“ ankündigt, der ihr Schicksal verbessern soll. Kern ihrer Botschaft ist der Sinnspruch vom „Herz[en] als Mittler zwischen Hirn und Händen“. Freders Vater beobachtet diese Messe ebenfalls heimlich. Bedroht von der Botschaft der Maria lässt er von dem Wissenschaftler Rotwang einen weiblichen Roboter bauen, der exakt Marias Züge trägt und der ihre Wirkung auf die Arbeiter unterminieren soll. Diese von Rotwang gebaute künstliche Maria sät nun Unfrieden in beiden Gesellschaftsschichten: Die bourgeoise Luxusgesellschaft stachelt sie durch wollüstige Tänze zu sexueller Raserei, Schlägereien und Duellen an; die Arbeiter hetzt sie zur Revolte gegen die Maschinen auf. Als die aufgewiegelten Arbeiter daraufhin die „Herz-Maschine“ zerstören, ertrinkt die Unterstadt in Wasserfluten. Die echte Maria, die von Rotwang gefangen gehalten war, befreit sich und rettet die Kinder der Arbeiter, die in der Flut zu ertrinken drohen. Am Ende verbrennt das Volk die falsche Maria auf einem Scheiterhaufen. Freder tötet den rasenden Mad Scientist Rotwang, und die echte Maria bringt den Fürsprecher der Arbeiter und den Oberkapitalisten Joh Fredersen dazu, sich die Hand zu reichen. Noch einmal wird der Sinnspruch vom Herzen als Mittler zwischen Hirn und Hand angebracht, nun lesbar als die Aufforderung zur Versöhnung der Sozialpartner. Natürlich konnte das niemanden überzeugen. Dennoch zeigt die Verve, mit dem sich die Kritiker jeder politischen Couleur auf den Film stürzten, dass der Film einen Nerv der Weimarer Republik traf. Er traf diesen Nerv aber gerade nicht durch einen klaren Plot, scharf gezeichnete Charakter oder eine verständliche Botschaft, sondern eher durch die Art und Weise, wie er gewisse Schlagworte und Grundkonstellationen der Weimarer Republik in eindringliche Bilder übersetzte. Langs Film ist ein Bilder-Film, sehr viel mehr eine Vision als eine Geschichte, eine Allegorie, in der tiefsinnige und mythenschwere Bilder die eigentliche Bedeutungsebene bilden (vgl. Gunning 2000, 52ff.). Und genau entlang dieser Konstellationen und ihrer hochsymbolischen Visualisierung, so meine ich, muss man den Film lesen. Eine dieser Konstellationen ist die Frage nach dem Verhältnis von Arbeitern und Kapital, von herrschender und beherrschter Klasse; eine andere die von Arbeitskräften und Technik, von Menschen also und Maschinen. Langs Bilder riesiger Maschinenhallen, anstrengender und gefährlicher Arbeit, von in enge Formation gepressten, unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiterheeren

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und schließlich vom Maschinenmoloch, der die Werksklaven in Massen verschlingt, erscheinen eher als prägnante politische Aussage als die Reden und Handlungen der Protagonisten des Films. In diesen mythologisch aufgeladenen, der Ästhetik des Expressionismus nahen Bildern erscheint Metropolis wie eine grauenhafte Dystopie des technifizierten Kapitalismus, wie eine Welt der Ausbeutung und Vernichtung von Menschen durch Arbeit, eine Vision, die den Film der Technikfeindschaft des Expressionismus nähert. Aber in den gigantischen Aufnahmen der Stadtarchitektur, der Hochhäuser, Lufttaxis, fließenden Verkehrsströme und luxuriösen Sportanlagen präsentiert Lang hingegen auch den Glamour des hochtechnisierten Kapitalismus. Nicht zuletzt in der von Strahlen und Blitzen umflorten Szene von der Erzeugung der künstlichen Frau trägt der Film auch die Signatur einer neusachlichen Ästhetisierung von Technik, die die Kehrseite ihrer Dämonisierung zu sein scheint (Huyssen 1981, 223). Lang exaltiert den Widerspruch zwischen Ober- und Unterwelt, zwischen Luxus und Ausbeutung, zwischen technischer Dystopie und Utopie gerade visuell, um in ihm die Notwendigkeit einer „Vermittlung“ als Aufgabe umso deutlicher vor Augen zu führen. Eine dritte zentrale Konstellation der Weimarer Republik – die vielleicht wichtigste – ist diejenige der Form – oder Formlosigkeit – des Sozialen. Denn trotz der Spannung zwischen Dämonisierung und Ästhetisierung der Technik, die den Film für das zeitgenössische Publikum schwer lesbar machte, ist beiden Visionen eines gemeinsam: In ihnen werden soziale Gegebenheiten ästhetisch formatiert, und zwar durchaus nicht als Repräsentation sozialer Wirklichkeit, sondern als allegorisches Bild, als „Ornament“ des Sozialen (Kracauer 1984/1947, 159). Das Soziale wird visuell „in Form gebracht“, eine Form, die für Kracauer angesichts der Überschwemmungsszene „menschlich ein schockierendes Versagen“, aber auch „einen unbedingten Willen zur Ornamentalisierung“ verrät. Theatralisch stampfen die unterdrückten Arbeiter im Gleichschritt und in Blöcke gepresst zur Arbeit; nicht minder theatralisch umringen die ertrinkenden Kinder mit schutzflehend ausgestreckten Armen Maria und heben dabei optisch Marias zentrale und zentrierende Rolle hervor. So unnatürlich diese Formationen sein mögen, so symbolisch und vor allem affektiv einleuchtend sind sie. Langs „Ornament der Masse“ (vgl. Kracauer 1990/1927) verrät vor allem einen Willen, soziale Verhältnisse durch Gesten, Bewegungen, aber auch durch metaphorische Analogien und mythische Bildzitate in eine bedeutungsschwere Visualität zu überführen. Die mythischen Zitate – vom Moloch über den Turmbau zu Babel bis zu den apokalyptischen Motiven im letzten Teil – unterlegen der Sozialparabel eine geradezu sakrale Bedeutung. Und die technischen und physikalischen Analogien – vom Dampf über elektrische Blitze bis zu den steigenden Wasserfluten – bebildern das Soziale als Feld von Druckverhältnissen und Energieflüssen. Worauf Lang zielt, ist eine Persuasion des Visuellen, eine symbolische und affektive Lesbarkeit des Sozialen. Metropolis ist darum nicht auf einen „Diskurs“ zu bringen (sei es einen faschistischen, sei es einen neusachlichen). Vielmehr erscheint der Film als

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eine Art Wachtraum, in dem zentrale Motive der Weimarer Republik in prägnante Bilder gebracht werden – aber eben ohne dass eine klare Geschichte entsteht. „In Metropolis“, so Kracauer in Von Caligari zu Hitler, „schien das gelähmte Kollektivbewusstsein mit ungewöhnlicher Klarheit im Schlaf zu reden“ (Kracauer 1984/1947, 171). Metropolis ist eine „Verdichtung“ und „Verschiebung“ (Freud 1982/1900, 280–345) von Motiven des Sozialen, die die Weimarer Republik umtreiben.1 Einigen dieser Traummotive, oder besser: dem traumartigen Auftauchen dieser sehr realen, sehr dringlichen Motive der Zwischenkriegszeit möchte ich hier nachgehen. Es sind vor allem Visionen einer „sozialen Fassungslosigkeit“ (Vogl 2006) und der damit aufgeworfenen Frage nach der Steuerung und Führung dieser Masse. Mit seinen zahllosen Massenszenen und zwei konkurrierenden Figuren sozialer Steuerung, aber auch Entfesselung – nämlich Joh Fredersen auf der einen und Maria auf der anderen Seite – ist Metropolis essenziell ein Film über Masse und Massenführung, ein Film allerdings, der, so mein Vorschlag, zur Abwechslung einmal nicht mit Freud, sondern mit Tarde, Le Bon und Weber gelesen werden soll.

2. F ÜHRERERWARTUNG Das späte 19. Jahrhundert entdeckt die „Masse“ als Gegenstand sowohl einer Angst als auch eines neuen Wissens: Mit der „Masse“ oder „Menge“ lenkt sich der Blick auf eine soziale Formation, die zugleich dispers und kompakt ist, eine ephemere Zusammenrottung der Vielen, die nicht zu einer Einheit wird und deren Dynamik doch eine unwiderstehliche Wucht und Gewalt entfalten kann. Die Massenpsychologie von Scipio Sighele, Gabriel Tarde, Gustave Le Bon bis hin zu Sigmund Freud, Theodor Geiger und Elias Canetti entdeckt die Masse als soziale Dynamik des Irrationalen, Gewalttätigen, Impulsiven und Triebhaften (vgl. Gamper 2007, 407ff.). Im Kern dieses breiten Diskurses steht die Frage nach dem, was die unkontrollierbare Bewegung dieses Kollektivphänomens antreibt – die Rede ist von Hypnose, Affekt, Ansteckung und anderen Formen unwillkürlicher Übertragung. Vor allem aber stellt sich die Frage, was und wer sie steuert. Sind es einzelne Individuen, die die Masse verführen und in eine bestimmte Richtung leiten? Wie binden sie die affektive Energie der Menge an ihre Person? Kristallisiert sich die Masse um eine Führerpersönlichkeit oder gehen die Führer vielmehr als ein momentanes Phänomen aus der Masse hervor und in ihr auch wieder unter? So unterschiedlich die Antworten etwa Tardes, Le Bons, Canettis oder Freuds ausfallen mögen (vgl. Stäheli 2011), so klar ist doch, dass die Frage nach der „Führung“ jener rätselhaften Bewegung der Masse

1

Gemeint sind hier nicht die psychoanalytischen Figuren, die die Forschung immer wieder in Metropolis gesehen hat, wie z.B. Freders Kastrationskomplex, die Unheimlichkeit des Weiblichen etc. Vgl. exemplarisch dafür R.L. Rutsky 1993.

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nicht nur für die theoretische, sondern auch für die praktisch-politische Bewältigung sozialer Dynamik fundamental war. Eine der folgenreichsten Antworten auf diese Frage hat Max Weber mit seiner Theorie des Charismas gegeben, einer Theorie, die die massenpsychologischen Antworten aufgriff und neu wendete. Weber entwirft mit der „charismatischen Herrschaft“ eine Form der sozialen Bindung, die sich ad hoc und spontan um einen selbsternannten Führer kristallisiert. Weber grenzt charismatische Herrschaft von den stabileren Herrschaftsformen (von traditionaler oder bürokratischer Herrschaft) ab und sieht in ihr die „spezifisch schöpferische revolutionäre Macht der Geschichte“ (Weber 1980/1921, 658). Der Charismatiker kommt aus dem Nichts, hat keine Abstammung oder fachliche Qualifikation, sondern wird einzig emporgetragen von einer sozialen Krise, in der er Lösung und Besserung in Aussicht stellt. Webers Theorie des Charismas, die in den Jahren 1913 bis 1920 ausgearbeitet wurde, betont besonders zwei Aspekte der Führerschaft, die für unseren Zusammenhang wichtig sind. Einerseits ist der charismatische Führer nicht so sehr eine mit besonderen Gaben ausgestattete Person, sondern er hängt gänzlich von der „Akklamation“ seiner Gefolgschaft ab: „Der Träger des Charisma ergreift die ihm angemessene Aufgabe und verlangt Gehorsam und Gefolgschaft kraft seiner Sendung. Ob er sie findet, entscheidet der Erfolg. Erkennen diejenigen, an die er sich gesandt fühlt, seine Sendung nicht an, so bricht sein Anspruch zusammen.“ (Weber 1980/1921, 655) Zum anderen macht Weber deutlich, dass diese Art der Führung, so „archaisch“ und autoritär sie sein mag, das Produkt eines demokratischen Zeitalters ist: „Die plebiszitäre Demokratie [...] ist ihrem genuinen Sinn nach eine Art der charismatischen Herrschaft, die sich unter der Form einer vom Willen der Beherrschten abgeleiteten [...] Legitimität verbirgt. Der Führer (Demagoge) herrscht tatsächlich kraft der Anhänglichkeit und des Vertrauens seiner politischen Gefolgschaft zu seiner Person als solcher.“ (Weber 1980/1921, 156, Herv. i.O.)

Gerade die Demokratie, so scheint es, macht die Frage nach dem Führer als Instanz der Entscheidung, der Steuerung und Bündelung des Gemeinwillens besonders dringlich. Demokratie ist damit der eigentliche Ort charismatischer Führung. Angesichts der unmittelbaren Erfahrung von sozialer Anomie am Ende des Krieges, von mit Gewalt niedergeschlagenen Massendemonstrationen, Streiks und öffentlichen Schlägereien, aber auch angesichts des Schocks, den die ersten Demokratien auf deutschem und österreichischem Boden den autoritätsgewohnten Zeitgenossen beschert haben müssen, ist es nicht verwunderlich, dass der politische Diskurs der Zwischenkriegszeit obsessiv um die Figur des Führers kreist. „Führererwartung“ ist dabei durchaus kein exklusives Thema der Faschisten (vgl. Koenen 1991; Kraiker 1998; Fröschle 2010). Links wie rechts, von Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Stefan

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Großmann auf der linken und sozialdemokratischen Seite, bis hin zu Rudolf Borchardt, Ernst Jünger oder Erwin Guido Kolbenheyer auf der nationalkonservativen bis präfaschistischen Seite, spricht man von der Notwendigkeit und Möglichkeit eines Führers als Figur der sozialen Integration (vgl. Fröschle 2010). Die Entwürfe für diese Führergestalt sind allerdings vielfältig: Sie rangieren von einer „selbstgewählten Autorität“ und intellektuellen Elite bei den Sozialdemokraten (Heuss 1965/1919, 29) bis hin zu einem „harten Menschenbildner“, der die Deutschen „unterjochen“ müsse, bei der Rechten (Borchardt 1955/1931, 424). Gerade im demokratischen Ideal wird die Frage nach der Instanz der Entscheidung und der Repräsentation sozialer und nationaler Einheit ebenso prekär wie dringlich. Die Zeitgenossen der Weimarer Republik empfinden die Leere an politischen Autoritäten als höchst unerträglich. Die Linke wie die Rechte diskutieren eifrig über die Rolle von Intellektuellen und Dichtern als Vordenker und Leitfiguren in einer künftigen Revolution. In der Figur des Führers kristallisiert sich das Bedürfnis nach einer sozialen und politischen Integrationsfigur, die nicht nur Befehle erteilen und Entscheidungen treffen könnte, sondern die vor allem eine Form der unmittelbaren Einbindung des Einzelnen in das Ganze des Staates und der Gesellschaft leisten könnte. Diese Integration aber kann keine rein rationale Form der Steuerung sein. Ernst Jünger etwa fragt, „ob Führertum noch möglich ist, das heißt, ob ein Mensch noch möglich ist, der über den magischen Schlüssel zur innersten Herzkammer aller anderen verfügt und unter den hunderttausend Haltungen, Überzeugungen, Richtungen, Gesinnungen, Bekenntnissen die geheimste Strömung, den letzten Willen erfasst, der sie trägt“ (Jünger 1987/1928, 5, Herv. i.O.).

Führung muss auf das „Herz“ zielen, es geht nicht um Unterwerfung oder Disziplinierung und auch nicht um rationale Lenkung. In einer Diktion, die dem Stil Thea von Harbous ziemlich nahekommt, betont Jünger gerade die affektive Natur der Bindung an den Führer. Unterhalb der rational formulierbaren politischen Differenzen soll der Führer einen einzigen, gemeinsamen Strom freilegen, einen Strom der Gefühle, nicht der Einsicht oder Haltung. Gegenstand der Führung ist damit nicht eine bereits gegebene politische Form, also ein Volk, eine Gesellschaft, eine Klasse – sondern vielmehr eine Ungeformtheit des Sozialen, die gerade in der ungezügelten Energie der Gefühle, in Wut, Hoffnung, Angst und Begierde ihren Ort hat. In der Ausrichtung und Steuerung dieser Gefühle liegt die eigentliche Aufgabe des Führens. In diesem Denk- und Diskursraum einer allgemeinen „Führererwartung“, der die Zwischenkriegszeit in Deutschland kennzeichnet, entwirft Langs Film Metropolis eine Theorie und Figurenlehre der Führung. Dabei geht er von einer scharfen Kontrastierung zweier Typen von Führerfiguren aus. Lang präsentiert nämlich seine Führer ausdrücklich als geschlechtlich

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markiert: Einer männlich-rationalen Form der Kontrolle, die die Vaterfigur Joh Fredersen verkörpert, setzt er mit der Figur der Maria eine weibliche Form der Führung entgegen. Während der Führerdiskurs der Weimarer Republik den Führer kaum je anders als männlich denken kann, setzt Lang diesem eine alternative, weiblich markierte Form der Führung entgegen, eine Führung, die sich explizit an die Affekte wendet. Kompliziert wird dieser Sachverhalt durch die Tatsache, dass es Maria zweimal gibt: als echte Maria, die keusch und prophetenhaft den Arbeitern Trost zuspricht; aber auch als „Automaten-Maria“, die statt Trost und Einigung sexuelle Leidenschaft und wütenden Hass sät. Die Frage stellt sich, was dieses im literarischen und politischen Diskurs außergewöhnliche Gendering des Führertums bedeutet und warum dieses Gendering auch noch in zwei komplementäre Versionen zerfällt. Eines jedoch ist klar: Mit dem weiblichen Führer, der Führerin erscheint eine andere Form der Führung, eine andere Form der Kommunikation, eine andere Art der sozialen Dynamik. Es fragt sich, welcherart ihre Folgen und Effekte sind.

3. F ÜHRUNG MÄNNLICH / WEIBLICH Betrachten wir zunächst das männliche Modell, Joh Fredersen, den „Herrn über Metropolis“. Er ist eine geradezu klassisch-ödipale Lenker- und Vaterfigur, der Vater des männlichen Helden Freder Fredersen, der Erbauer und Herrscher der Stadt. In Gravity’s Rainbow hat Thomas Pynchon das von Fredersen verkörperte Führungsideal als den Traum einer technokratischen NS-Elite auf den Punkt gebracht: „Metropolis. Ein toller Film. Genau die Welt, von der [einige] träumten, ein korporativer Stadtstaat, in dem die Technik eine Quelle der Macht war, in dem Ingenieur und Verwalter eng zusammenarbeiteten, die Massen unsichtbar tief im Untergrund schufteten und die letzte Befehlsgewalt bei einem einzelnen Führer an der Spitze lag, der väterlich und wohlwollend und gerecht war, der wundervoll aussehende Gewänder trug ...“ (Pynchon 1994/1974, 902)

Vom Fenster seines Büros aus überschaut Fredersen die Stadt, in einer Position „von oben“, die zugleich kontrolliert und eingreift. Fredersen ist Entscheider, Befehlsgeber und allwissender Wächter über die Arbeitsvorgänge, die die Stadt am Leben erhalten; Zentrum seiner Macht ist eine mit modernster Medientechnologie ausgestattete Kommandound Kontrollzentrale, die Fredersen mit etlichen anderen Lang’schen Filmschurken verbindet wie etwa dem Banker Haghi (Spione, 1928) und Dr. Mabuse (Dr. Mabuse, der Spieler, 1922, Das Testament des Dr. Mabuse, 1932) (vgl. dazu Keilholz 2009). In diese Zentrale fluten Zahlen, die von Angestellten beflissen notiert werden, Spione und Spitzel erstatten Bericht, ein Bildtelefon überträgt unmittelbar den Stand der Dinge aus den Maschi-

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nenräumen. Im Gegenzug erteilt Fredersen Befehle, diktiert neue Zahlen, und weist seine Angestellten an. In seiner Zentrale sind Steuerung und Kontrolle eines, der Input an Information wird sofort in neue Eingriffe und Regulierungen umgesetzt. Abbildung 2: Fredersen in seinem Büro, mit Blick auf Metropolis

Szene aus Metropolis

Dabei ist bemerkenswert, wie die Arbeitsvorgänge, die Fredersen kontrolliert und steuert, im Film dargestellt werden: Es sind Vorgänge der energetischen Regulierung. Die Befehle aus der Zentrale korrespondieren mit permanenten Regulierungsanstrengungen in der Unterwelt der Maschinen. Die im Film mit großem Pathos dargestellte, körperlich erschöpfende Arbeit in der Unterstadt besteht – technisch, wie schon H.G. Wells (1927) anmerkte, gänzlich sinnlos – darin, Druckverhältnisse auszusteuern, Überdruck zu vermeiden oder abzulassen. In Metropolis ist Arbeit weder Produktion noch Verarbeitung, sondern ständige Regulierung. Diese Regulierung ist aber ein Akt unglaublicher Kraftanstrengung. Hinter dem sich verzweifelt von einem Ventilrad zum anderen werfenden Arbeiter steigt bedrohlich die Säule eines Druckanzeigers. Die Instabilität der Druckverhältnisse wird gleich zu Anfang des Films vorgeführt, als eine Maschine explodiert, weil der Arbeiter den Anstrengungen des Nachregulierens nicht mehr gewachsen ist und zusammenbricht. Fredersen überblickt diese Regulierungsvorgänge und ist zugleich deren oberste Instanz. Als Führerund Herrscherfigur ist Fredersen damit eine hochrationale, technik- und mediengestützte Institution, die nur auf Funktionalität bedacht ist. Er ist ein „Ingenieur und Verwalter“ (Pynchon), der schon deshalb nicht anders als männlich sein kann, weil er stereotype Qualitäten der Männlichkeit – Rationalität, Macht, Kontrolle – in Vollendung verkörpert.

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Abbildung 3: Regulierung im Maschinenraum

Szene aus Metropolis

Nicht weniger intensiv geschlechtlich markiert ist seine Gegenspielerin Maria. In ihrer Verdoppelung bedient sie gleich zwei klassische weibliche Stereotypen: die Heilige und die Hure, Führerin und Verführerin, die Mutter und die Geliebte (vgl. Huyssen 1981, 229). Von Anfang an wird Maria eingeführt als ein anderes Modell von Führerschaft, eine Alternative zu Fredersens eiserner Kontrolle. Schon der erste Auftritt der echten Maria präsentiert sie als mütterliches Zentrum und Leitfigur einer Kinderschar, über die sie schützend ihre Arme breitet. Später wird sie in einer Art Messe gezeigt, in der sie vor kerzenbeschienenen Kreuzen den knienden Arbeitern erbauliche Parabeln predigt und ihnen Trost und Verbesserung durch einen künftigen „Mittler“ in Aussicht stellt. (Dass Freder dann als dieser „Mittler“ von ihr erkannt wird, spielt seltsamerweise für die Führerfunktion Marias keine Rolle; Maria bleibt die führende Gestalt im Film.) Die echte Maria ist mütterlich und keusch zugleich, Heilige und Prophetin, insofern sie die Aussicht auf eine zukünftige Lösung und Erlösergestalt eröffnet. Ihre Führerfunktion liegt im Verweis auf etwas, das sie nicht selbst ist, sondern dessen Weg sie bereitet. In dieser Hinsicht aber ist es vor allem Maria, nicht Freder, die die Funktion einer Mittlerin und Vermittlerin erfüllt, indem sie die unterdrückten und verzweifelten Arbeiter zu einer Gemeinschaft der Leidenden und Hoffenden vereinigt. Sie tut dies mit Hilfe zweier Attribute: einerseits ihrer Rede, andererseits mit dem Bildzitat der christlichen Messe. Diese Vorstellung vom Führer als „Mittler“ hat Paul Zech in seinem expressionistischen Gedicht „Anrufung“ (1919) auf genau diese doppelte Formel – Redekunst und Heiligkeit – gebracht: „Und wenn des Volkes Willen dich zum Mittler wählt − : / Laß deine Zunge aus dem

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Munde flattern, / Daß sie mit Gottes Nähe dich vermählt.“ (Zech 1919, 109) Maria ist eine Mittlerin – und d.h.: Sie ist Medium sowohl einer Botschaft als auch eines Gefühls, das die Anwesenden zu einer Gemeinschaft zusammenschweißt. Der Film macht das deutlich, indem er in der Messesequenz immer wieder die gerührten Blicke der Zuhörer, ihre Bewegtheit durch Marias Worte und Erscheinung in Szene setzt. Damit wird Maria zu einem klassischen Fall dessen, was Weber mit seinem Begriff des „Charismas“ umreißt: eine quasisakrale „Gnadengabe“, die sich aber eigentlich erst in der affektiven Hingabe der Gefolgschaft konstituiert – und die mit ihr steht und fällt.2 Auch Maria entsteht als Führerin ganz im Blick und in der Gefühlsbewegung ihres Publikums, als eine, die nicht nur von der Kamera, sondern auch von den Personen im Film selbst permanent angeschaut wird. Abbildung 4: Marias Messe

Szene aus Metropolis

Gleichwohl ist sie „Charismatikerin“ mit einer entscheidenden Verschiebung. Denn kulturhistorisch ist es höchst bemerkenswert, dass hier Charisma von einer Frau vorgeführt wird. Schillers Johanna von Orleans (Schiller 2005/1801), Sacher-Masochs eher unheimliche Sektenführerin Mardona (Sacher-Masoch 1990/1883) und Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe (Brecht 2003/1930) sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen, derzufolge Führer Männer sind. Während nun die männlichen Charismatiker, so Weber, die Einigung der Gemeinschaft durch eine Bindung der Einzelnen an ihre Person herstellen (als Bewunderung, persönliche Treue etc.), so spielen die Führerinnen diese Rolle gerade durch eine Auslöschung ihrer Person. Das Stichwort ist hier die Jungfräulichkeit, die in der Figur der 2

Den Begriff des χάρισµα entlehnt Weber der politischen Theologie des Paulus, 1 Korinther 1. Zu den theologischen Resten in Webers Charisma-Begriff vgl. Horn 2011.

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Jeanne d’Arc unabdingbar und ausführlich behandelt wird, bei Lang und von Harbou wird sie immerhin noch mehr als deutlich mit dem Namen der Gottesmutter und der keuschen, mütterlichen Gestik der echten Maria zitiert. Maria führt, indem sie eine Gemeinschaft herstellt, indem sie sich zum Verbindungsmedium dieser Gemeinschaft macht. Die Frau als Führerin ist Vermittlung, sie generiert eine Affektivität, deren Ausrichtung sie nicht so sehr auf ihre Person fokussiert, sondern die sie gleichsam zwischen den Einzelnen zum Fließen bringt und wie ein Medium von einem zum anderen überspringen lässt. Die Frau ist Kanal, Bindung zwischen den Einzelnen, Medium der sozialen Vereinigung. Indem sie nicht viel mehr tut, als zwischen den Individuen eine Verbindung zu stiften, ist ihre Führerschaft nicht hierarchisch und vertikal wie die Joh Fredersens, sondern affektiv und horizontal. Gerade aber das macht sie so überzeugend gegenüber der rationalen, technifizierten Top-down-Steuerungslogik eines Joh Fredersen; gerade das macht sie – trotz der gänzlichen Harmlosigkeit ihrer Botschaft – zu Fredersens erklärter Feindin. Nun hat diese Maria aber bekanntlich zwei Seiten oder zwei Erscheinungsformen. Im Filmplot wird vom wahnsinnigen Wissenschaftler Rotwang eine „Automaten-Maria“ geschaffen. Dies geschieht auf Fredersens Befehl hin, der damit das Werk der echten Maria, den Glauben der Arbeiter an ihre Prophetin, zerstören will. Dabei haben Rotwang und Fredersen eine gemeinsame Geschichte, die bezeichnenderweise ihrerseits durch die Figur einer Frau vermittelt ist: Rotwang war einst der Gatte der schönen Hel, die ihn für seinen besten Freund Fredersen verlassen hat und dann bei der Geburt Freders starb. Noch immer trauert Rotwang Hel nach und versucht mit seiner Arbeit am Automaten eigentlich nicht Maria, sondern Hel nachzuschaffen. Fredersen aber überredet ihn, dem Automaten die Züge Marias zu geben – um die Führungsrolle, die diese für die Arbeiter übernommen hat, zu sabotieren. Sinnvoll ist das nicht, denn die Automaten-Maria wird sehr viel mehr Schaden – auch für Fredersen – anrichten als die politisch harmlose Gefühlserregung in Marias Messe. Aber Marias affektive Form der Führung scheint dem rationalen Regulationsprinzip, das Fredersen vertritt, so gefährlich, dass es durch Übersteigerung und politisch hochexplosive Überbietung zunichtegemacht werden muss. So ist die Automaten-Maria im Film als Gegnerin und Gegenprinzip gegen das Versöhnungsprogramm der echten Maria gedacht. Nach ihrer Erschaffung in einem Gewitter von Strahlen und Blitzen wird sie gerade nicht als Versöhnerin auftreten, sondern Zwietracht und Revolution säen – und zwar in beiden Gesellschaftsklassen. Die Mitglieder der herrschenden Gesellschaft stürzt sie durch ihre frenetischen und übererotischen Tänze in Schlägereien und Eifersuchtsdramen. Im Club Yoshiwara stachelt sie die Männer zu rasender Begierde auf, Duelle und Selbstmorde folgen. Als Verkörperung einer durch und durch sexuellen Leidenschaft wird sie zum Spaltpilz einer Gesellschaft, die sich zunächst friedlich und frivol, aber gänzlich leidenschaftslos amüsiert hatte. Aber die Automaten-Maria verfehlt ihre Wirkung auch nicht auf die Menschen in der

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Unterstadt: Im Kostüm der echten Maria und dieser zum Verwechseln ähnlich, hetzt sie die Arbeiter zu einer Revolte gegen die Maschinen auf, bei der der rasende Mob schließlich die Herzmaschine zertrümmert und damit die Arbeiterstadt unter Wasser setzt. Die Bilder der rasenden Ober- und Unterschicht werden im Film dicht aneinander montiert und zeigen – in wechselnden Kostümierungen – die immer gleiche soziale Dynamik: Eine aufgepeitschte, rasende Menge folgt der sich ekstatisch windenden, wild gestikulierenden Automaten-Maria. Die Masse trägt die falsche Maria mit sich und rast planlos von Zerstörung zu Zerstörung. Lange schon ist der Forschung die große Ähnlichkeit der Marias aufgefallen, die beide von Brigitte Helm gespielt werden, und zu Recht wurde auf die Dialektik zwischen ihnen hingewiesen (Huyssen 1981, 235). Nicht nur die körperliche Identität der beiden Figuren, sondern vor allem die strukturelle Ähnlichkeit ihres Operierens zeigt, dass die beiden einander entgegengesetzten Marias im Grunde nichts sind als die zwei Spielarten eines einzigen Modells, nämlich einer Führerschaft, die nicht im Befehlen und Regulieren, sondern in reiner Affektdynamik besteht. Erzeugt die echte Maria Rührung, Hoffnung und das Gefühl von Einigkeit, gespiegelt in den Gesichtern ihres Publikums, so erzeugt die Automaten-Maria Begierde, sexuelle Erregung, Eifersucht, Wut und Zerstörungslust – wiederum gezeigt im Blick der lechzenden Zuschauer. Beide Marias wollen weniger eine Regulierung und Mäßigung von Gefühlen als deren Steigerung, wenngleich mit unterschiedlichen Zielen. Zielt die eine auf soziale Einigkeit, Hoffnung und Glauben, so will die andere Dissens und Streit. Sie erreichen ihre unterschiedlichen Ziele aber mit exakt denselben Mitteln: Affekt. Denn beide sind, das wird in den Massenszenen besonders deutlich, vor allem Resonanzkörper eines Massenwillens, Instanzen der Erregung und Aufladung und nicht, wie Fredersen, der Regulierung oder der Ausrichtung. „Der typische Führer“, so schreibt Theodor Geiger 1926, „beeinflußt die Massen gar nicht in einer Richtung, sondern er findet die Grundrichtung vor und ist selbst ein Besessener unter Besessenen“ (Geiger 1926, 149). Erregung, Gefühl – sei es die Trostbedürftigkeit und Hoffnung der echten Maria, sei es die ekstatisch-sexuelle Vibration der Automaten-Maria in ihrem Tanz – springt zwischen Führerin und Menge über wie ein Funke.

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Abbildung 5: Die künstliche Maria und die Gesichter ihres Gefolges

Szene aus Metropolis

Damit ist die „doppelte Maria“ die exakte Verkörperung dessen, was die Massenpsychologie als Dynamik der Masse beschrieben hat: Massen sind gefühlsgesteuert, sie folgen Suggestionen, einfachen Ideen und starken Gefühlen. Gustave Le Bon beschreibt die modernen Massen als flatterhaft und beeinflussbar, irrational und in dieser Hinsicht durch und durch weiblich (Le Bon 1982/1895, 21). Die Frau als Führerin der an sich schon weiblichen Masse ist damit selbst Teil der Masse, nicht ihr steuerndes Gegenüber, nicht ihr väterlich-ödipaler Beherrscher, sondern ihr mütterlich-gefühlserregender Dynamo. Sie ist die Verkörperung genau jener Affektivität, Volatilität und Steuerungslosigkeit, die die klassische Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts den großstädtischen Massen bescheinigt hat. So ist Maria die Personifikation der Masse, ihr Gesicht, ihr Mund und ihre Augen. Fritz Lang macht das in einer eindrucksvollen Collage deutlich, wenn er das Gesicht der falschen Maria in einer wabernden Wolke von begehrlichen Mündern und Augen erscheinen lässt. Was sie ist, ist Maria (und sind beide Marias) immer nur im und durch den Blick der Zuschauer (vgl. Huyssen 1981, 230). Sie ist Teil der Masse, die sich in ihrem Gesicht selbst betrachtet und sich an der eigenen Erregung erregt. In ihrem Gesicht spiegeln sich die anderen Gesichter, in ihren weit aufgerissenen Augen verdichtet und verkörpert sich ein Blick, der die Basis ihrer Macht und ihrer Führerschaft ist: der Blick ihres Gefolges.

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4. B ILDER SOZIALER E NERGIE : D AMPF

UND

B LITZ

Mit Maria wird aber auch ein anderes energetisches Modell solcher sozialer Dynamik eingeführt. Man erinnere sich: Die Maschinenwelt von Metropolis ist eine Welt hydraulischer Druckverhältnisse. Überall steigen die Pegel der Druckanzeiger, und Druck muss ständig neu ausgesteuert werden. Ein emblematisches Leitmotiv, das sich durch den ganzen Film zieht, ist ein riesiges Druckventil, groß wie ein Gebäude, das regelmäßig Dampf ablässt und mit diesem Druckausgleich den Film gleichsam skandiert. Abbildung 6: Ventil

Szene aus Metropolis

Das alte Bild vom Staat als selbstregulierende Maschine, dessen technisches Analogon der Fliehkraftregler der Dampfmaschine war, ist in Metropolis dem Bild vom Staat als Drucksystem am Rande der Explosion gewichen. Nicht zufällig verdanken sich die zwei Katastrophen, die sich im Verlauf des Films ereignen, – die Explosion in den Maschinenräumen und die von den Arbeitern ausgelöste Überschwemmung der Unterstadt – den aus der Kontrolle geratenen Druckverhältnissen. Ihr Element ist das Wasser – in Form von Dampf, Fontänen oder flutendem Wassereinbruch. Die Kontrollarbeit Fredersens, die permanente Nachregelung in den Maschinenräumen und die Pumparbeit der Herzmaschine dienen alle dem gleichen Ziel: Druckverhältnisse stabil zu halten. Was sich in Metropolis in der hydraulischen Bildmetaphorik niederschlägt, ist eine Vorstellung von sozialen Verhältnissen als Druckverhältnissen. Die Ausbeutung der Arbeiter erzeugt einen sozialen Überdruck, der schließlich in der Revolte und Maschinenstür-

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merei zum Ausbruch kommt. Explosion, Überdruck und Flut sind so die physikalischen Bilder für eine revolutionäre Massendynamik, die sich gerade dem Drucksystem verdankt, das der oberste Regulator Fredersen entworfen hat. Mit Maria – und insbesondere der künstlichen, revolutionären Maria – kommt aber eine vollkommen unterschiedliche Bildlichkeit des Sozialen ins Spiel, gebunden an eine ganz andersartige physikalische Metapher und eine andere Technologie: Das Element Marias ist Feuer, Licht, Blitze – kurzum Elektrizität. Schon die echte Maria tritt vor einem Meer von Kerzen auf. Und spätestens in den wohl berühmtesten Szenen des Films, der Erschaffung der Automaten-Maria, wird klar, dass man mit Licht und Elektrizität noch sehr viel mehr machen kann. Von ihrer Entstehung an ist die künstliche Maria ein Kind der elektrischen Ströme und Funken. Bekanntlich ist die Elektrizität das klassische Ingrediens des künstlichen Lebens seit Dr. Frankensteins Monster und Villiers de l’Isle-Adams weiblichem Androiden Hadaly (Shelley 1996/1818; Villiers de l’Isle-Adam 1993/1886), die die Vorlagen zur Erschaffung der künstlichen Maria waren. Abbildung 7: Die Erschaffung Marias

Szene aus Metropolis

In den Szenen von der Erschaffung der künstlichen Maria lässt Fritz Lang Elektrizität zum visuellen Spektakel werden. Die elektrischen Ströme übertragen das Aussehen und die Energie der echten Maria auf den Automaten; die wandernden Lichtringe hauchen der geschaffenen Kreatur Leben ein. Schließlich werden es raffinierte Gegenlichteffekte sein, die die Tänze der künstlichen Maria im Nachtclub Yoshiwara einleiten und erotisch aufheizen. Bei ihrer Herstellung werden Licht und Strom als ein Medium präsentiert, das Energie überträgt – und in der allegorischen Manier Langs heißt

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das: soziale Energie. Durch die Energieübertragung von der echten zur falschen Maria wird in der „Automatin“ ein Herz zum Schlagen gebracht – und ihr damit eine Quelle von Affektivität gegeben. Genau diese unsichtbar überspringende Energie, die Elektrisierung durch den Affekt, wird die Automaten-Maria dann an die von ihr angeführten und verführten Massen weitergeben. Die künstliche Maria als ein Produkt elektrischer Aufladung zu schildern, ist nicht bloß ein Einfall Langs. Elektrizität ist vielmehr eine leitende Metapher der Massenpsychologie, die die affektive Aufladung der Menge als „Elektrisierung“ beschreibt. So etwa Gabriel Tarde: „Eine Masse ist ein seltsames Phänomen. Zunächst ist sie lediglich eine Ansammlung heterogener, einander unbekannter Elemente; doch sobald ein Funke der Leidenschaft entstanden ist, der von einem dieser Elemente ausgeht, wird dieses Durcheinander elektrisiert, auf diese Weise findet ein spontaner Organisationsprozess statt [...]. Aus der anfänglich zusammenhanglosen Masse entsteht ein Zusammenhalt [...], eine namenlose Bestie, die mit einer geradezu unbarmherzigen Entschiedenheit auf ihr Ziel zumarschiert.“ (Tarde 1890, 320, Übersetzung und Hervorhebung E.H.)

Der Funke kommt nicht – wie der Befehl – „von oben“, sondern er setzt sich horizontal von einem Körper zum anderen fort, als Affizierung oder – wie Le Bon schreibt – „geistige Ansteckung“, „contagion mentale“ (Le Bon 1982/1895, 15, Übersetzung verändert). Damit ist das Elektrizitätsmodell der sozialen Energie eine klare Alternative zum hydraulischen Modell der regulierbaren Druckverhältnisse. Die Elektrizität ist eine Energie, die, einmal freigesetzt, in ihren kreativen wie zerstörerischen Effekten nicht mehr stillgelegt werden kann. Im Modell der Elektrizität und der affektiven Aufladung oder Ansteckung wird noch einmal deutlich, was das weibliche Modell von Führerschaft ist: Die Führerin ist Medium einer Zündung, einer plötzlichen Entladung von Energie, die zunächst unsichtbar und latent in der Menge schlummert, dann von der Führerin aktiviert und zur Entladung gebracht wird. Erst durch die „Ansteckung“ einer Idee oder eines Affekts, erst durch den überspringenden Funken der sozialen Energie wird die Menge aus Individuen zu einer Masse zusammengeschlossen. Es ist kein Wunder, dass ein hydraulischer Regulator wie Fredersen die Dynamik dieser elektrischen Auf- und Entladung weder verstehen noch aussteuern kann. Fritz Langs hochsymbolische Visualität aber, so scheint es, hat sein Vergnügen an beidem, an den Dampferuptionen der Hydraulik und an den funkensprühenden Rasereien der elektrisierten Masse. Beides hat seinen unmittelbaren Zeitbezug. Das Druckmodell der vertikalen sozialen Organisation erscheint als glänzende Metapher für eine soziale Unruhe kurz vor dem Ausbruch, eine Erwartung des „großen Knalls“, die das Lebensgefühl der Zwischenkriegszeit prägte. Die Figur des allwissenden, gerechten, (zumeist) gütigen und in „wunderbar aussehende Gewänder“ gehüllten Steuermanns erscheint als die konventionelle Lösung, eine Lösung, die die „Füh-

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rererwartung“ der Politiker, Intellektuellen und Schriftsteller jedweder Couleur immer wieder einfordert. Die doppelte Maria und das Modell des Sozialen als eine Gemeinschaft der Elektrisierten, der gefühlsmäßig Aufgewühlten ist demgegenüber nicht nur ein Hinweis darauf, dass es Kräfte gibt, die die väterliche Regulation nicht einfach wird aussteuern oder unterdrücken können: Gefühle, Träume, Hoffnungen, Begehren. Die doppelte Maria ist vielleicht noch mehr: ein unbescheidener Hinweis auf das eigene Medium, den Film. Denn nicht Dampf, sondern Licht und Blitze bringen die Bilder zum Laufen. Die Entstehung der Automaten-Maria aus Licht und Energie, das künstliche Leben, das erst starr wie eine Skulptur dasitzt, dem ein Gesicht durch die Überblendung von Bildern gegeben wird und dessen fleischliche Erscheinung durch bewegliche Ringe aus Licht gewoben wird – diese Automaten-Szene ist auch eine Allegorie auf das Medium Kino, ein Medium, das künstliches Leben herstellt, indem es starre Bilder in Bewegung bringt. Und diese Bilder bewegen, elektrisieren, erschüttern – wie Maria – das Publikum, das auf sie schaut. Wo die echte Maria in ihrer Rede noch Film zeigt – in der Parabel vom Turmbau zu Babel – wird die AutomatenMaria zur Allegorie des Films selbst: Das betrachtete, mit den Augen verschlungene Gesicht, der angesehene, begehrte künstliche Körper, die Illusion. Historisch gesehen ist es kein Zufall, dass das Kino gerade in der Zwischenkriegszeit zum Massenmedium wird (vgl. Kaes 2002). Metropolis – das wäre meine These – reflektiert nicht nur die sozialen Dynamiken der Masse und die Möglichkeiten ihrer Führung, sondern ganz spezifisch auch die mediale Erreg- und Erschütterbarkeit der Masse im Kino. D.h. vielleicht aber nicht nur, dass sich, wie Anton Kaes bemerkt hat, „erst im Massenmedium Film […] die Massen ihrer selbst bewußt werden – als Zuschauer“ (ebd., 180). Die allegorische Ästhetik des Films und die visuellen Erregungs- und Überwältigungseffekte, die gerade das Lang’sche „Ornament der Masse“ erzeugen wollen, sind auch ein (vielleicht etwas selbstverliebter) Schwur auf die Kraft des Kinos, die Affekte eines Massenpublikums zu erregen und damit in einer anderen Weise zu führen (und zu verführen), als es das Modell des autoritären Regulators nahelegt. Die doppelte Maria – als Gesicht, aber auch als Medium der Masse – ist damit ein ebenso brillanter wie verstörender Gegenentwurf zum Ruf nach Führern, der die Weimarer Republik durchschallt – ein Ruf, der bekanntlich sehr bald erhört werden sollte. Dieser Gegenentwurf verweist auf Kräfte des Sozialen, die nicht mehr ausgesteuert, nicht mehr gezähmt und wohl auch nicht in einem „vermittelnden“ Kompromiss beigelegt werden können, den das Ende des Films nahelegt. Langs Pointe ist darum ganz gewiss nicht jener kompromisslerische Schluss, der im Handschlag zwischen einem der Arbeiter und Joh Fredersen einen ultimativen sozialen Druckausgleich in Aussicht stellt und die Verlockungen weiblicher Führung ein für alle Mal zum Schweigen bringt. Was von Metropolis bleibt, sind genau jene gegenläufigen Formatierungen des Sozialen, die zwischen extrem repressiver Verfasstheit – in den Massenornamenten der Arbeitssklaven – und hochgradig affektgeladener Ent-

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fesselung – in den Szenen der Massenraserei – hin- und herschwanken. Die Gesellschaft, so Fritz Langs Befund, ist nicht mehr in Form zu bringen, sondern nur noch entweder als düsterer Block im Gleichschritt, als kindisches Herumalbern in kitschigen Gärten oder aber als wütende Meute ins Bild zu bringen. Und so sind weder die Vaterfigur Joh Fredersen noch die aufrührerische „Automatin“ noch die gütige echte Maria eine Lösung des Problems. Vielmehr sind sie allesamt Schreckbilder dessen, was als Diagnose der sozialen Fassungslosigkeit zwar gestellt, aber nicht behoben werden kann. Die Frage, die sich ein Zuschauer und eine Zuschauerin im Jahr 1927 stellen konnte, war: Zu welcher Art der Fassungslosigkeit gehöre ich? Bin ich Arbeiter im Gleichschritt? Bin ich privilegierter Sohn im Garten frivoler Vergnügungen? Oder Teil der rasenden Meute?

F ILM Metropolis, Fritz Lang, D 1927 (in der Fassung von 2010).

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Politisches Vertrauen Weibliche Abgeordnete in der Weimarer Republik G ISELA R IESCHER

Fragt man nach den Ursachen der Krisen und des Scheiterns der Weimarer Republik, so sprechen vor allem politisch-kulturelle Zugänge von tiefgreifenden Vertrauenskrisen in die Verfassung, die Institutionen und die verantwortlichen Akteurinnen und Akteure (vgl. Waschkuhn/Thumfart 2002). Die Forschungsliteratur diagnostiziert einen „Vertrauensverlust der Bürger in die Demokratie“ und berichtet vom „verschwundenen Vertrauen“ in einzelne Politikbereiche; sie spricht von „sinkendem Vertrauen in den Weimarer Staat“ und davon, dass nicht zuletzt deshalb der Aufstieg der NSDAP gelang, weil das „Vertrauen in die Weimarer Republik“ verloren war (vgl. u.a. Föllmer/Graf/Leo 2005, 33f.; Schulze 1982, 321ff.; Kolb 2009, 126). Der Begriff des Vertrauens wird dabei nicht selten alltagsprachlich und politisch, nicht aber als politikwissenschaftliche Analysekategorie verwendet. Die politikwissenschaftliche Vertrauensforschung ermöglicht es heute, systemtheoretische Zugänge zu nutzen, die Rational-Choice-Perspektive anzulegen oder die Ergebnisse der politischen Kulturforschung und den Sozialkapitalansatz für eine Untersuchung der Vertrauenskrisen der deutschen Zwischenkriegszeit heranzuziehen. Am Ende der Abhandlung Vertrauen von Niklas Luhmann ist die Bedeutung von Vertrauen für Politik und Gesellschaft aus systemtheoretischer Perspektive eindrücklich dargestellt: „Vertrauen ist nicht das einzige Fundament der Welt; aber eine sehr komplexe und doch strukturierte Weltvorstellung ist ohne eine ziemlich komplexe Gesellschaft und diese ohne Vertrauen nicht zu konstituieren.“ (Luhmann 2000, 126) Denn, so Luhmann, Vertrauen ist ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (vgl. ebd., 27ff.). Nicht Situationen der Gewissheit fordern Vertrauen, sondern die der Unsicherheit und der Ungewissheit. „Vertrauen bezieht sich also stets auf eine kritische Alternative, in der der Schaden beim Vertrauensbruch größer sein kann als der Vorteil, der aus dem Vertrauenserweis gezogen wird. […] Vertrauen reflektiert Kontingenz, Hoffnung eliminiert Kontingenz.“ (Ebd., 28f.)

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Um Politisches Vertrauen und hier speziell Vertrauen in der Weimarer Republik herauszuarbeiten, erscheint es sinnvoll, zunächst Vertrauensbeziehungen auf der Ebene politischer Akteurinnen und Akteure in den Mittelpunkt zu stellen, um dann von dyadischen Vertrauensbeziehungen über Gruppenvertrauen hin zu Institutionenvertrauen zu gelangen. Gerhard Göhler spricht in diesem Zusammenhang von „Stufen des politischen Vertrauens“, die Akzeptanz und Vertrauen in politische Entscheidungen über Akteurinnen und Akteure, Institutionen und Ordnungsprozesse möglich machen (vgl. Göhler 2002, 234ff.). Mit Stufen des politischen Vertrauens bezeichnet Göhler persönliches Vertrauen, Institutionenvertrauen und schließlich Vertrauen in die politische Ordnung. Mit einem solchen Verständnis von Vertrauen lässt sich differenzierter auf Fragen eingehen wie z.B.: Gab es Kontinuitäten des Vertrauens und des Misstrauens zwischen 1918 und 1933? Kann man differenzieren zwischen Vertrauen in Akteurinnen und Akteure, in Institutionen, in Verfahren und Prozesse oder in Policies? Und schließlich: Welche Rolle spielt diese „weiche Variable“ für das Scheitern der Weimarer Republik? Die parlamentarische Ebene als institutionell relativ geschlossener Raum, in den aber immer wieder neue Akteurinnen und Akteure eintreten, erweist sich für die Anwendung unterschiedlicher Ansätze aus der Vertrauensforschung als geeignetes Terrain. Fragt man nach den Verhaltensweisen der Abgeordneten im Weimarer Reichstag, analysiert man ausgewählte Verfahren, Reden, Geschäftsordnungsdebatten oder Gesetzgebungsprozesse im Plenum, in den Fraktionen und den Ausschüssen, so lässt sich Vertrauen als politische Kategorie in der Weimarer Republik eindeutiger bestimmen. In der hier im Folgenden vorgenommenen Konzentration auf die neue Gruppe der weiblichen Abgeordneten wird sich zeigen lassen, wie die Gruppe mit dieser kontingenten und zudem riskanten Ressource umgeht, ob sie andere institutionelle Formen des politischen Vertrauens formuliert als ihre männlichen Kollegen und wie Vertrauen im politischen Entscheidungsprozess wirkt. Diese zuletzt genannten Überlegungen sollen hier weiterverfolgt werden, um die Frage zu klären: Woraufhin vertrauen die weiblichen Abgeordneten der Weimarer Republik und auf welche Indikatoren stützt sich ihr Vertrauen? Um mich der Problematik differenziert anzunähern, werde ich meine Argumentation in fünf Einzelthemen entfalten, die verschiedene Aspekte der Problematik aufnehmen, theoretische Zugänge bieten, aber auch Bezug auf die politisch-historische Praxis nehmen, um sie dann zusammenzufügen – gleichsam als „Bausteine“ für eine Konzeption, die Vertrauen und Weimarer Republik zusammen denken kann. In einem ersten Kapitel werde ich den Blick auf die Institutionalisierung von Vertrauen in Politik und Verfassung zu Beginn der Weimarer Republik lenken (1.). In einem zweiten Schritt werden Ansätze aus der politischen Vertrauensforschung vorgestellt. Insbesondere der sogenannte Sozialkapitalansatz und Stufentheorien des Vertrauens werden sich für die nachfol-

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genden Überlegungen als fruchtbar erweisen (2.). Im dritten Kapitel richtet sich die Frage des Vertrauens konkret an die ersten weiblichen Abgeordneten in der Weimarer Republik (3.) bevor von ihren Vertrauensbeziehungen her nach Formen des Institutionenvertrauens gefragt wird (4.). Im letzten Kapitel (5.) wird gezeigt werden können, dass der Vertrauensverlust in Personen, politische Gruppen und Institutionen schnell zu einem „Staat in Unordnung“ führen kann.

1. I NSTITUTIONALISIERUNG VON V ERTRAUEN B EGINN DER W EIMARER R EPUBLIK

ZU

Die „improvisierte Demokratie“, wie Eberhard Kolb (2009, 1) sie nennt, wurde weder revolutionär erkämpft noch planvoll gestaltet, sie begann nach dem Ende der Monarchie und sie begann als Staat in Unordnung, dem man allerdings schnell, eine Ordnung zu geben versuchte: Am 28. September 1918 verlangte der interfraktionelle Ausschuss, ein Zusammenschluss der Mehrheitsparteien, die Änderung der Reichsverfassung als „Voraussetzung für die Schaffung einer starken, vom Vertrauen der Mehrheit des Reichstages getragenen Regierung“ (zit. n. ebd., 3). Hier wird ein konstitutioneller Vertrauensbegriff genannt, der die parlamentarische Arbeit seit den Tagen der Hannoveraner Könige in Großbritannien prägt und der synonym für parlamentarische Unterstützung der Regierung durch die Mehrheitsfraktion (-en) steht. Vertrauensfrage und Misstrauensvotum sind heute im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Verfassungsbegriffe, die diese Form des institutionalisierten Vertrauens der Parlamentsmehrheit in die von ihr abhängige Regierung ausdrücken (Art. 67 u. 68 GG). Wenn man auf dieser Ebene des institutionalisierten Vertrauens von einem Vertrauensverlust in die Weimarer Republik spricht, so sind als ihr deutlichster Ausdruck fragile, nichtandauernde, die Regierung nicht mehr unterstützende Fraktionen gemeint. Nach Paragraph 54 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) benötigen der Reichskanzler und die Reichsminister „zu ihrer Amtsführung das Vertrauen des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht“.1 Als am 9. November 1918 die Republik ausgerufen wurde, betonte der Führer der Mehrheitssozialdemokratie und spätere Reichskanzler Friedrich Ebert, die Regierungsgewalt müsse nun an Männer übergehen, „die das volle Vertrauen des Volkes“ besäßen (zit. n. Kolb 2009, 7). Hier scheint auf den ersten Blick ein personalisiertes Vertrauensverhältnis angesprochen zu sein. Doch wessen Vertrauen besaßen die Männer der provisorischen Reichsregierung – Ebert, Scheidemann, Landsberg (SPD) und Haase, Ditt-

1

Überblicke zur politischen Geschichte der Weimarer Republik bieten u.a. Gotthard Jasper (1986) und Eberhard Kolb (2009).

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mann, Barth (USPD)2 – und wer hatte es ihnen in der Zeit des Umsturzes bzw. der politischen Transition gegeben? Dies verweist noch einmal darauf, dass der Begriff des Vertrauens parlamentarisch im Sinne von Unterstützung verwendet wird. Doch ist politische Unterstützung schon allein gleichbedeutend mit Vertrauen in die Politik? Mit der Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechtes am 19. Januar 1919 ziehen in Deutschland zum ersten Mal 37 weibliche Abgeordnete in das Parlament ein. Mit „Parlament“ ist zunächst die Nationalversammlung gemeint, der die Aufgabe zukam, staatliche Strukturen zu schaffen, die Verfassungsorgane aufzubauen, den Reichspräsidenten zu wählen und mit der Ausarbeitung der Weimarer Reichsverfassung zu beginnen. Bereits nach kurzer Zeit – am 31. Juli 1919 – wurde nach dem Verfassungsentwurf von Hugo Preuß die Weimarer Verfassung von der Nationalversammlung verabschiedet. Am 6. Juni 1920 fanden die ersten Reichstagswahlen mit einer Wahlbeteiligung von fast 80 Prozent statt. Nähme man – wie es im politischen Diskurs nicht selten geschieht – die hohe Wahlbeteiligung und das Wahlergebnis als Indikatoren für Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in die Politik, müsste man nun diesbezüglich ein hohes Vertrauen in die junge Weimarer Republik diagnostizieren können. Gleichwohl können wir mit hoher, an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass – lägen uns empirische Umfragen vor, die den Grad des Vertrauens der Deutschen in die Weimarer Republik in der oben in wenigen Skizzen beschriebenen institutionellen Anfangsphase abfragten – der Vertrauensgrad sehr niedrig, vielleicht wenige Prozent, war. Wem, welchen Personen, Institutionen, Strukturen, Prozessen sollte in der revolutionären Anfangsphase Vertrauen geschenkt werden? Woraufhin sollte angesichts der massiven innen- und außenpolitischen, der ökonomischen und sozialen Probleme vertraut werden?

2. V ERTRAUEN

ALS SOZIALES

K APITAL

Eine Grundfrage der Vertrauensforschung lautet: Wer vertraut wem – woraufhin? Für den Bereich des Politischen kann eine erste Antwort lauten: Bürgerinnen und Bürger vertrauen Politikerinnen und Politikern und ihr Vertrauen richtet sich auf die Glaubwürdigkeit, die Reputation und die Kompetenz der Repräsentantinnen und Repräsentanten und schließlich auf

2

Die hier und im Folgenden genannten Parteien der Weimarer Republik sind: Zentrum (Z), Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), Deutsche Volkspartei (DVP), Deutschnationale Volkspartei (DNVP), Deutsche Demokratische Partei (DDP), Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP).

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die Funktionsfähigkeit von Politik.3 Wenn eine erste Antwort war, dass sich Vertrauen auf Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit von Politik richtet, so beantwortet dies noch nicht die Frage nach Vertrauen in demokratische Politik. Denn demokratische Politik benötigt neben der Output-Legitimation eine hohe Input-Legitimation. Nach allem, was wir aus empirischen Umfragen wissen, erhöhen Transparenz, Kommunikation, Beteiligung und Kontrollmöglichkeiten das Vertrauen in die Politik. Nicht blindes Vertrauen also, sondern rational begründetes Vertrauen. Vertrauen ist zudem auf künftige Handlungen ausgerichtet und immer verbunden mit Ungewissheit. Denn sicheres Wissen ist nicht auf Vertrauen angewiesen. Doch nicht nur responsiv-asymmetrisches Vertrauen von Wählerinnen und Wählern, Bürgerinnen und Bürgern über die politischen Akteurinnen und Akteure in die Politik leistet funktional das, was Niklas Luhmann „Reduktion von Komplexität“ nennt. Das repräsentative politische System benötigt genauso ein Vertrauen der politischen Akteure zueinander: „Je mehr moderne politische Systeme darauf angewiesen sind, Politik in der arbeitsteiligen Organisation und über die Grenzen des eigenen Zuständigkeitsbereichs hinaus zu koordinieren, desto mehr bedürfen sie des Aufbaus von Vertrauenskapital zwischen den verantwortlichen Amtsträgern.“ (Benz 2002, 275, Herv. G.R.) Arthur Benz argumentiert hier auf der Basis des Sozialkapitalansatzes, der besonders interessant für die politikwissenschaftliche Vertrauensforschung ist. Nach Coleman (1990) und Putnam (1994; 2001) ist politisches Handeln dann erfolgreich, wenn es sich auf Sozialbeziehungen bzw. soziale Gemeinschaften verlassen kann, die auf stabilen Vertrauensgrundlagen aufbauen. Das meint: Fairness im Umgang miteinander, Anerkennung gemeinsamer Normen, verpflichtende Verlässlichkeit, die Einhaltung gemeinsamer Regeln und das Wissen um gemeinsam erreichte Ziele und Erfolge. Dem Sozialkapitalansatz folgend, erweist sich Vertrauen als politische Ressource dahin gehend, dass eine Gruppe, die sich gegenseitig mit hohem Vertrauensvorschuss auszeichnet, politisch mehr erreichen kann als eine Gruppe ohne gegenseitiges Vertrauen (vgl. Putnam 1994, 172ff.). Als Sozialkapital bezeichnen Gabriel und Kunz (2002, 257) „die Menge zusammengehöriger Organisationsprinzipien, Verhaltensweisen und Einstellungen, wobei sich die Situation der Gesellschaften hinsichtlich ihrer politischen und auch ökonomischen Verfügbarkeit unter anderem aus der Verfügbarkeit sozialen Kapitals ergibt“. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit stellen damit, so die Autoren, die wesentlichen Aspekte des sozialen Kapitals dar (vgl. ebd.).

3

Grundlegend zu Vertrauen in der Politik vgl. Schaal 2004. Zum Thema Vertrauen als Basis für politische Freundschaft vgl. Gurr i.E.

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3. V ERTRAUEN IN SICH SELBST . D IE ERSTEN WEIBLICHEN ABGEORDNETEN W EIMARER R EPUBLIK

DER

37 Frauen gewannen 1919 ihre ersten Mandate auf deutscher Reichsebene: Das waren 8,7 Prozent der Abgeordneten der Nationalversammlung. Bis zum Ende der Legislaturperiode rückten noch vier Frauen nach, sodass sich 1920 die Zahl der Frauen im Parlament auf 41 erhöht hat. Dieser Frauenanteil wurde in späteren Wahlen nicht mehr erreicht, im Gegenteil: Der prozentuale Anteil sank von acht Prozent im ersten Reichstag auf 3,9 Prozent im letzten, und mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verloren Frauen das passive Wahlrecht wieder. Woraufhin – so nun unsere aus dem Sozialkapitalansatz genommene Fragestellung – konnten die ersten Parlamentarierinnen vertrauen? Sie konnten auf keine eigene parlamentarische Erfahrung zurückgreifen. Sie hatten keine Erfahrungen mit einem demokratischen Regierungssystem. Ihre politische Sozialisation erfolgte im Kaiserreich. Sie hatten die Jahre des Ersten Weltkrieges und die Niederlage erlebt, wurden mit den Folgen der Kriegsschuld konfrontiert und sahen sich 1918/19 einem neuen politischen System gegenüber. Sie waren politisch sozialisiert in einer Zeit des Niedergangs und konnten zunächst nur sich selber vertrauen. Selbstvertrauen wird in psychologischen und pädagogischen Vertrauensanalysen als eine der wichtigen Voraussetzungen genannt, um überhaupt die Fähigkeit des Vertrauens entwickeln zu können. Die Untersuchung der Biografien der ersten Parlamentarierinnen von Heide-Marie Lauterer zeigt, dass es sich unabhängig von ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit um eine relativ homogene Gruppe handelte (vgl. Lauterer 2002). Sie kamen aus Großstädten und Industriegebieten und hatten ihre ersten politischen Erfahrungen in der Frauenbewegung gemacht. Sie beschäftigten sich mit der politischen und gesellschaftlichen Stellung der Frau und mit sozialpolitischen Fragen. Die bürgerlichen Parlamentarierinnen waren Lehrerinnen oder in sozialen Berufen tätig (vgl. ebd., 49). In einer Umwelt, die nicht allein aus politischer Konkurrenz bestand, sondern zudem nicht selten feindlich und diffamierend agierte, setzten sie sich als Bürgerliche und Arbeiterinnen einem Wahlkampf aus und warben für sich und ihr politisches Programm. Selbstvertrauen scheint angesichts dieser biografisch-politischen Daten eine der unverzichtbaren Eigenschaften der ersten weiblichen Abgeordneten der Weimarer Republik gewesen zu sein. Hinzu kommt das Vertrauen in die Gruppe der weiblichen Abgeordneten der Nationalversammlung: Benz (2002, 276) argumentiert, dass „Vertrauen in symmetrischen Beziehungen […] stabiler [ist] als solches in asymmetrischen. Nicht jede Enttäuschung von Erwartung muss hier zum Verlust des Vertrauens führen. Zum einen hat es den Charakter eines sozialen ‚Kapitals‘, das in längeren Prozessen aufgebaut und nicht ohne weiteres aufgegeben wird. […] Zum anderen

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können in symmetrischen Beziehungen Vertrauensverletzungen leicht repariert werden, sofern die Struktur der Kommunikation unversehrt bleibt.“

Dieses Vertrauen baut sich nicht zuletzt durch gemeinsame Erfahrungen, generell auch durch gemeinsame Geschichte auf. Die gemeinsamen Erfahrungen der Parlamentarierinnen resultieren aus oben genannten Frauenbewegungserfahrungen, der ersten Wahl, der Zugehörigkeit zur Gruppe der weiblichen Abgeordneten und der gemeinsamen parlamentarischen Arbeit. Diese ist geprägt von einem gemeinsamen Politikinteresse, gemeinsamen Werten, einem erwachenden Wir-Bewusstsein, aber auch von der Exklusion aus der Gruppe der männlichen Abgeordneten. Die Parlamentarierinnen wie z.B. Gertrud Bäumer (DDP) und Marie Juchacz (SPD) sprachen sich selbst einen der parlamentarischen Situation angemesseneren Redestil zu. Sie praktizierten „eine wesentlich andere Art zu sprechen als ihre männlichen Kollegen“, nicht durch „Donnern und Schreien“, sondern durch die Einfachheit, mit der sie Ernstes und Wichtiges zu sagen wussten (zit. n. Lauterer 2002, 81). Elisabeth Röhl (SPD) formulierte für die weiblichen Abgeordneten den Topos der Wilden: „Wir ‚Wilde‘ sind doch bessere Menschen. Hoffentlich bleiben wir es auch bei so viel (sic!) bösen Beispielen.“ (Zit. n. ebd., 80) „Wilde“ oder auch „neue Geister“ (G. Bäumer), diese Begriffe drücken ein Identifikationsmuster der Frauen aus, das über das Geschlecht hinaus in die Profession und die gemeinsamen Politikbereiche reicht: „Das kann der Mann nicht“, formulierten sie z.B. für Bereiche der von ihnen eingebrachten Sozial- und Familienpolitik bzw. für ihr Engagement zum Mutterschutz (zit. n. ebd.). Bei allen vorhandenen gesellschaftlichen Unterschieden, den parteipolitischen Zugehörigkeiten und dem fraktionellen Pflichtabstimmungsverhalten war es den weiblichen Abgeordneten in der Anfangsphase der Weimarer Republik möglich, über Parteigrenzen hinweg großes Verständnis füreinander aufzubringen. So schreibt die DVP-Abgeordnete Clara Mende nach einem gemeinsamen Café-Besuch über Luise Zietz (USPD): „In jener Stunde tat ich einen Einblick in ihre Lebensgeschichte und habe seitdem manches verstanden und nicht mehr verurteilen können, was andere ihr vorzuwerfen hatten.“ (Zit. n. ebd., 75) Nimmt man Selbstvertrauen und Vertrauen in symmetrische Beziehungen als Grundstufen des politischen Vertrauens, so ist nun zu klären, wie sich darauf aufbauend Vertrauen in politische Institutionen und Prozesse begreifen lässt.

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4. V ERTRAUEN IN DAS P ARLAMENT . I NSTITUTIONEN - UND P ROZESSVERTRAUEN Eine der großen Herausforderungen der Vertrauensforschung besteht in der Übertragung von dyadischen Vertrauensstrukturen auf Vertrauensobjekte, die, wie z.B. das Parlament, einen kollektiven Akteurstatus besitzen. Unser erstes Argument war, dass politisches Vertrauen (wer vertraut wem woraufhin?) die Funktionsfähigkeit politischer Institutionen in den Mittelpunkt stellt. Reinhard Zintl (2002, 180f.) argumentiert aus dem Vertrauensansatz der Rational-Choice-Theorie heraus, dass Institutionenvertrauen darauf beruht, dass eine Institution in der Lage ist, die Einhaltung und Durchsetzung gegebener Spielregeln zu garantieren: „Vertrauen in die Politik ist das Vertrauen in das Gegenüber und überhaupt die anderen Teilnehmer am Spiel, das Subjekte in der Arena der Politik gegebenenfalls entgegenbringen. […] Es handelt sich hier um das Vertrauen der Akteure darauf, daß das Verhalten anderer Akteure sich im Rahmen der Regeln einerseits des allgemeinen und überdies des speziell politischen Anstandes hält. […] Die erwähnenswerte Besonderheit der Regeln der politischen Arena […] folgt aus dem Charakter der politischen Entscheidungen: […] Das Maß, in dem man hier einander vertrauen kann, hängt vom Inhalt und der Geltung der je einschlägigen Regeln ab.“

Betrachtet man das Parlament als jene Institution, die in dem dafür vorgesehenen legislativen Prozess die eingebrachten Gesetze berät, in Teilen verändert, ablehnt oder beschließt, so ist unschwer zu erkennen, welch fundamentale Bedeutung die Prozess- und Verfahrensregeln und das Verhalten der Abgeordneten für die gesamte Politik haben. Wenn die Mitglieder des Parlaments die sich selbst gegebenen – geschriebenen oder ungeschriebenen – Verfahrensregeln nicht mehr einzuhalten bereit sind, sind parlamentarische Systeme nicht mehr funktionsfähig. Dies zeigt sich deutlich am Ende der Weimarer Republik. Viele Mandatsträger im Reichstag wichen immer mehr von den Parlamentsregeln ab. Eine auf der Geschäftsordnung basierende Arbeit im Parlament konnte nicht mehr stattfinden. Der Aushöhlung der Demokratie und dem Verfall der Verfassung ging das Ende der Parlamentsordnung voraus (vgl. Riescher 2002). Die von Thomas Mergel ausgewerteten Reichstagsprotokolle stützen diesen Befund. Mergel spricht von einer „schwindenden Bindekraft des Ordnungsdiskurses“ (2005, 428), vom „Verfall des parlamentarischen Stils“ (ebd., 431) und dem „Wandel der parlamentarischen Sprache“ (ebd., 450) seit 1930. Die Reichstagswahlen vom 14. September 1930 hatten der NSDAP starke Stimmengewinne gebracht. Sie war nun mit 107 Mandaten

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nach der SPD die zweitstärkste Fraktion und zog bewusst mit Obstruktionsund Destruktionsplänen in den Reichstag ein.4 In der Anfangsphase der Weimarer Republik und vor allem für die Phase von 1924 bis 1928 gilt jedoch, dass die Funktionsfähigkeit des Reichstages nur von den Gegnern der parlamentarischen Repräsentation in Zweifel gezogen wurde. Die meisten Abgeordneten akzeptierten die geschriebenen und ungeschriebenen parlamentarischen Verfahrensregeln, bescheinigten dem langjährigen Reichstagspräsidenten Löbe eine hohe Reputation, vertrauten in die Gesetzgebungsverfahren, das Mehrheitsprinzip sowie das Ausschusswesen und hätten wohl auf entsprechende Vertrauensumfragen positiv reagiert. Als Beispiel für die Funktionsfähigkeit und als Nachweis dafür, dass eine Institution in der Lage ist, die Einhaltung und Durchsetzung gegebener Spielregeln zu garantieren, bietet sich der Ausschuss für Soziale Angelegenheiten an. Dieser Ausschuss hatte im Reichstag eine hohe Reputation, arbeitete von 1919 bis 1930 und war von Anfang an der Ausschuss, in dem die Arbeit der Parlamentarierinnen besonders gut zu verfolgen ist. Aus allen Fraktionen waren hier Frauen vertreten: Louise Schroeder (SPD) und Christine Teusch (Z) waren fünf Legislaturperioden im Sozialausschuss tätig. Diese Kontinuität und das gemeinsame Interesse am Thema sorgten für eine offene Kommunikation, für vertraute Diskurse und Transparenz, die die weiblichen Abgeordneten in den sozialpolitischen Fragen interfraktionell zusammenarbeiten ließ. „Die Zusammenarbeit unter den Frauen war von einer hohen Kontinuität geprägt. Im Gegensatz zum Reichstag arbeitete dieses Gremium auch in den Parlaments-Ferien und vermied damit längere Perioden der Inaktivität.“ (Lauterer 2002, 121) Ein herausragendes Beispiel für konkurrenzlose Unterstützung in der Gruppe der Parlamentarierinnen ist der Gesetzentwurf über die Reichswochenhilfe. Die DDP-Abgeordnete Marie Baum reichte ihn am 26. März 1919 ein. Aus ungeklärten Gründen wurde der Antrag dann allerdings im Plenum des Reichstages nicht beraten. Die weiblichen SPD- und ZentrumMitglieder des Sozialausschusses griffen die Initiative auf und brachten wenig später den Antrag über „Wochenhilfe und Wochenfürsorge“ im Plenum ein. Louise Schroeder begründete als Berichterstatterin den Antrag. „In der

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Die vorzeitigen Neuwahlen waren notwendig geworden, weil Reichskanzler Brüning, der seit März 1930 mit dem ersten Präsidialkabinett (HindenburgKabinett) regierte, die Deckungsvorlagen zur Sanierung der Staatsfinanzen, die eine rigorose Deflationspolitik bedeuteten, im Reichstag nicht durchsetzen konnte. Der Antrag des Parlaments, die im zweiten Versuch von der Regierung als Notverordnung eingebrachte Vorlage sofort aufzuheben, fand eine breite Mehrheit aus SPD, KPD, NSDAP und DNVP, also jener Parteien, die sich im alltäglichen parlamentarischen Prozess als politische Gegner sahen. Beides, der Erdrutschsieg der Nationalsozialisten und das Ende parlamentarischer Regierungen, musste sich auf die Plenumsarbeit auswirken (vgl. Riescher 2002, 27).

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folgenden Beratung“, so Lauterer, „ergriffen ‚nur‘ Frauen, und zwar Vertreterinnen aller sechs Fraktionen das Wort, um den Antrag zu unterstützen“5 (ebd.). Die USPD-Abgeordnete Luise Zietz kritisierte als Einzige den Gesetzentwurf, aber nur, um ihn als nicht weitreichend genug zu bezeichnen. Die Erfahrung der Anfangsjahre der Weimarer Republik erwies sich insbesondere in diesem Ausschuss als prägend. Die Parlamentarierinnen, so hieß es später, wachten über die Einhaltung der mutterschaftsbezogenen Gesetze, bis 1927 mit dem Mutterschutzgesetz eines der weitreichendsten Sozialgesetze der Weimarer Republik verabschiedet wurde. Die DVPAbgeordnete Regine Deutsch schrieb 1928: „Mutterschutz, Wöchnerinnenschutz! Mancher Leser mag vielleicht finden, daß dieses Kapitel zu ausführlich geraten ist. Ich kann jedoch versichern, daß ich das Doppelte des hier Gegebenen hätte erbringen können, ohne das voll zu erschöpfen, was die Parlamentarierinnen tatsächlich auf diesem Gebiet geleistet haben. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, welche Geduld, welches unermüdliche Erfassen jeder Gelegenheit dazugehört, um zu den gewünschten Zielen zu gelangen.“ (Zit. n. ebd., 125)

Staat in Ordnung – könnte man hier sagen –, auch wenn nur ein kleiner Ausschnitt der Politik der Weimarer Republik im Mittelpunkt steht (zeitlich, personell und politische Programme betreffend). Dies gilt nicht notwendigerweise für die großen Konfliktfelder der Zwischenkriegszeit: die Reparationen, die außenpolitischen Kontroversen, die Zunahme der extremen linken und rechten Parteien und schließlich die Ausschaltung des Parlaments durch die dominante Notverordnungspraxis der Präsidialkabinette und den Aufstieg der Nationalsozialisten. Doch es gab auch über viele Legislaturperioden hinweg trotz komplexer innen- und außenpolitischer Problemdimensionen die parlamentarische Normalität des Reichstages, seiner Fraktionen, Gruppen und Ausschüsse und der Plenumsberatungen. So zeigt Mergel (2005, 157ff.) auf der Basis der stenografischen Berichte des Reichstages und der erhalten gebliebenen Quellen aus Fraktionen und Ausschüssen, wie in der politisch gespaltenen Gesellschaft der Weimarer Republik die Mitglieder des Reichstages trotz erheblicher Kontroversen dennoch zusammenarbeiten und mehrheitsfähige Entscheidungen herbeiführen konnten. Ein verlässliches System von Regeln und Verfahrensvorschriften, Traditionslinien aus dem Kaiserreich, die Dauer der Reichstagszugehörigkeit, persönliche Kontakte und gemeinsame Interessen unterstützten ein arbeitsfreundliches Verhalten während der Legislaturperioden. Dies galt insbesondere für die neue Gruppe der weiblichen Abgeordneten in der Weimarer Republik. Deren Zusammenarbeit war zudem

5

Dies waren: Helene Weber (Z), Katharina Kloss (DDP), Anna von Gierke (DNVP), Clara Mende (DVP), Louise Schroeder (SPD) (vgl. Lauterer 2002, 393).

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getragen vom Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, in die Gruppe der Parlamentarierinnen und schließlich in die Funktionsfähigkeit des Reichstages. Somit kann Vertrauen, dem Sozialkapitalansatz folgend, hier als soziales Kapital, als „weiche“ Variable der Politik und als wertvolle Ressource politischen Handelns gesehen werden.

5. D AS E NDE DES V ERTRAUENS . S TAAT IN U NORDNUNG Erst nach den Septemberwahlen 1930 spricht Mergel von einer „schwindenden Bindekraft des Ordnungsdiskurses“ (ebd., 428), vom „Verfall des parlamentarischen Stils“ (ebd., 431) und dem „Wandel der parlamentarischen Sprache“ (ebd., 450). Die Reichstagswahlen vom 14. September 1930 hatten der NSDAP so starke Stimmengewinne gebracht, dass sie mit 107 Mandaten als die zweitstärkste Fraktion in den Reichstag einziehen konnte. Bereits 1928 hatte Goebbels in der Zeitschrift Der Angriff die Taktik und die Zielsetzung der NSDAP als Reichstagspartei beschrieben: „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahm zu legen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. [...] Uns ist jedes Mittel recht den Zustand von heute zu revolutionieren. [...] Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir. Jetzt seid ihr nicht mehr unter euch.“ (Zit. n. Wasser 1974, 98f.)

Spätestens mit dem Wahlerfolg der NSDAP waren das Parlament und die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik in Unordnung. Carl Schmitts Freund-Feind-Differenz zieht in die politische Praxis des Parlamentarismus ein. Seine postulierte These „von der historischen Überholtheit entscheidender institutioneller Ordnungen der parlamentarischen Demokratie“ wird quasi zum Programm der nationalsozialistischen Reichstagsfraktion (vgl. Hofmann/Riescher 1999, 158ff.). Betrachtet man die Geschichte der Weimarer Republik ausschließlich von ihrem Ende her, dann hat die These, dass Weimarer Republik an Vertrauensverlust gescheitert sei, hohe Relevanz. Für die Anfangsjahre jedoch, die zwar politisch schwierig, parlamentarisch gesehen jedoch auch Jahre des Aufbruchs waren, erweist sich Vertrauen als wichtige politische Ressource. Insbesondere die ersten weiblichen Abgeordneten der Weimarer Republik entwickelten sehr schnell Formen des Umgangs miteinander, die von Vertrauen getragen waren. Das Vertrauen in sich selbst als neue politische Gruppe stabilisierte ihre parlamentarische Arbeit und gab manchen ihrer Initiativen überparteilichen Erfolg. Vertrauen als weiche Variable der Politik

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war für sie soziales Kapital, das sich für ihre Arbeit als fruchtbar erwies. Ihr Selbst- und Gruppenvertrauen bildete die Basis für die Herausbildung des Vertrauens in die Institution Parlament. Für die historische Vertrauensforschung weist Ute Frevert (2002, 54) nach, dass im Nationalsozialismus politisches Vertrauen als Paradigma ausgedient hatte. Der Begriff wurde zwar vielfach ausgesprochen, aber an die Stelle von freiwillig gegebenem, rationalem und reversiblem Vertrauen trat die Einforderung von Treue – verpflichtend, irrational und unauflösbar. Da aber waren weibliche Abgeordnete im Reichstag nicht mehr vertreten.

L ITERATUR Benz, Arthur 2002: Vertrauensbildung in Mehrebenensystemen. In: Rainer Schmalz-Bruns/Reinhard Zintl (Hg.): Politisches Vertrauen. Soziale Grundlagen reflexiver Kooperation. Baden-Baden, 275–292. Coleman, James S. 1990: Foundations of Social Theory. Cambridge, Mass./London. Föllmer, Moritz/Graf, Rüdiger/Leo, Per 2005: Einleitung. Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik. In: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt am Main, 9–41. Frevert, Ute 2002: Vertrauen in historischer Perspektive. In: Rainer Schmalz-Bruns/Reinhard Zintl (Hg.): Politisches Vertrauen. Soziale Grundlagen reflexiver Kooperation. Baden-Baden, 39–59. Gabriel, Oskar W./Kunz, Volker 2002: Die Bedeutung des SozialkapitalAnsatzes für die Erklärung politischen Vertrauens. In: Rainer SchmalzBruns/Reinhard Zintl (Hg.): Politisches Vertrauen. Soziale Grundlagen reflexiver Kooperation. Baden-Baden, 255–291. Göhler, Gerhard 2002: Stufen des politischen Vertrauens. In: Rainer Schmalz-Bruns/Reinhard Zintl (Hg.): Politisches Vertrauen. Soziale Grundlagen reflexiver Kooperation. Baden-Baden, 221–238. Gurr, Judith i.E.: Freundschaft und politische Macht. Freunde, Gönner, Getreue Margaret Thatchers und Tony Blairs. Göttingen. Hofmann, Wilhelm/Riescher, Gisela 1999: Einführung in die Parlamentarismustheorie. Darmstadt. Jasper, Gotthard 1986: Die gescheiterte Zähmung. Frankfurt am Main. Kolb, Eberhard 2009: Die Weimarer Republik. München. Lauterer, Heide-Marie 2002: Parlamentarierinnen in Deutschland. 1918− 1949. Königstein/Taunus. Luhmann, Niklas 2000: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart. Mergel, Thomas 2005: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag. Düsseldorf.

P OLITISCHES V ERTRAUEN

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Frauen als Staatsbürgerinnen Perspektiven der Berliner Publizistin Else Frobenius (1875–1952) S ILKE H ELLING

1. E INLEITUNG Wer war Else Frobenius? Die Berlinerin, zweifach geschiedene, kinderlose Mittvierzigerin füllte in der Frühphase der Weimarer Republik ein komplexes Tätigkeitsprofil aus, das sie später autobiografisch folgendermaßen umriss: „Von Ende 1920 bis zum Herbst 1922 hatte ich folgende Ämter inne […]: Hauptamtlich: Generalsekretärin des Kolonialen Frauenbundes, Schriftleiterin der Frauenbeilage der Deutschen Allgemeinen Zeitung, Beirat der Filmzensur, Mitarbeiterin zahlreicher Zeitschriften. Ehrenamtlich: Vorsitzende des Frauenausschusses im Deutschen Schutzbunde für das Grenz- und Auslandsdeutschtum, Vorsitzende im Frauenausschuß des Wahlkreises Berlin der Deutschen Volkspartei, Vorsitzende der Vereinigung Baltischer Frauen (später Baltischer Frauenbund), Beirat im Reichswanderungsamt, Mitglied des Ausschusses für Wanderungs- und Flüchtlingswesen, des Frauenausschusses zur Bekämpfung der Schuldlüge, des Auslandsbundes Deutscher Frauen, der Pressekommission des Deutschen Lyzeumklubs, Vorstand des Hilfsvereins für die Südmark und des Bundes Deutscher Frauenvereine.“ (Frobenius 2005/1944, 176)

Noch 1906 hatte dieselbe Frau als verheiratete Else von Boetticher und als Angehörige der städtischen Oberschicht in Riga ein radikal anderes Leben geführt. Um 1920 musste sie sich die wirtschaftliche Basis selbst erarbeiten und entsprach in mehrfacher Hinsicht nicht mehr den weiblichen Musterbiografien ihrer Zeit. Die Quellensituation zur Person ist schwierig − ein Nachlass existiert nicht, weil die Publizistin ihren gesamten Besitz im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff auf Berlin verlor, darunter das private Archiv aus 30 Berufsjahren. Bisher konnte ich anderweitig knapp 50 Autografen ausfindig

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machen. 1943/44 schrieb Else Frobenius, auch zwecks Kompensation des Archivverlustes, ihre Erinnerungen auf. Diesen Text gab die Historikerin Lora Wildenthal im Jahr 2005 heraus. Ich habe entdeckt, dass darüber hinaus ein weiteres unveröffentlichtes Manuskript aus dem Jahr 1951 – also aus der Zeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges – existiert.1 Es ist eine auf die Hälfte reduzierte und überarbeitete Version ihrer autobiografischen Reflexionen, in welche die Verfasserin „kleine, zeitbedingte Änderungen“ (Frobenius 1951, Vorwort o.S.) eingefügt hat. Das Werk der Journalistin und Schriftstellerin ist bislang nicht systematisch erschlossen worden. Allein Lora Wildenthal (2005) listete im Anhang ihrer Selbstzeugnisedition insgesamt 33 Schriften auf. Nach intensiven Forschungen habe ich für den Zeitraum 1902 bis 1944 mehr als 300 Titel bibliografiert, was überwiegend durch die Auswertung von 30 Periodika geschah. Warum ist Else Frobenius für die Wissenschaft von Interesse? Erstens ist ihr Name in einem breiten geschlechterspezifischen Spektrum an Quellenbelegen zu finden, von Frauenstimmrecht, Kolonial- und Jugendbewegung über deutschbaltische und bulgarische Themen bis hin zur Frauenemanzipation im national orientierten Umfeld (Wildenthal 2005, 7). Zweitens war sie trotz persönlicher Schicksalsschläge und trotz des Scheiterns ihrer politischen Ideale (Frobenius 1951, 95) als Pionierin der journalistischen Profession sehr erfolgreich, was Fragen nach den Ursachen aufwirft. Drittens bildet ihr Leben einen Spannungsbogen zwischen weiblicher beruflicher Selbstverwirklichung und politischer Lobbyarbeit im rechten, teilweise rassistischen Milieu ab. Viertens existieren bislang nicht genügend biografische Studien femininer Lebens- und Berufsverläufe während der Weimarer Republik, die vergleichende abschließende Bilanzen ermöglichen würden. Entsprechendes spiegelt der detaillierte Forschungsbericht von Björn Hofmeister (2010, 474ff.) und untermauern Befunde von Angelika Schaser (2010, 140). Mein Dissertationsvorhaben behandelt erstmals grundlegend die frühe Journalistin und politische Lobbyistin Else Frobenius, welche in der akademischen Literatur teilweise familiär falsch verortet wird.2 So war sie nicht die Ehefrau des prominenten Ethnologen Leo Frobenius (Schilling 2009, 74) und auch nicht mit dessen Sohn verheiratet (Daniel 2005, 253). Neue Er-

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Den Hinweis auf die Existenz der Schrift entnahm ich der Studie von Anja Wilhelmi (2008) zu Autobiografien deutschbaltischer Frauen. Mein Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel Publizistik zwischen kleiner Plauderei und großer Propaganda. Selbstzeugnisse, Biografie und Werk der Else Frobenius (1875–1952) ist Teil des − der Universität Hamburg angegliederten − Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Nation und Europa schreiben. Else Frobenius und Anna Siemsen als politische Publizistinnen von 1914 bis 1950, welches unter Leitung von Prof. Dr. Angelika Schaser und in Kooperation mit M.A. Marleen von Bargen umgesetzt wird.

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kenntnisse zur Akteurin mit Fokussierung auf ihre Studienjahre an der Berliner Universität 1908 bis 1911 wurden unlängst veröffentlicht (Helling 2010), ebenso eine biografische Arbeit mit geschlechtergeschichtlicher Ausrichtung (Helling 2011a). Zudem wurde die individuelle politische Teilhabe von Frobenius herausgearbeitet, die hier nur erwähnt werden kann (Baddack/Helling 2011). Im vorliegenden Beitrag soll zunächst Else Frobenius’ Lebenslauf skizziert werden, dann gehe ich am Beispiel dieser deutschen Journalistin folgenden Fragen nach: Welche publizistischen Äußerungen und tagesaktuellen Stellungnahmen von Else Frobenius lassen sich zu Geschlecht und politischer Partizipation innerhalb des Zeitfensters 1918 bis 1933 dokumentieren? Wie charakterisierte sie im autobiografischen Rückblick die historische Phase der Weimarer Republik sowie die Rolle ihrer Staatsbürgerinnen? Im Sinne des Erkenntnisinteresses werde ich dabei das Zeitfenster an einigen Stellen erweitern.

2. B IOGRAFISCHE S KIZZE : E LSE F ROBENIUS , GEBORENE G AEHTGENS , GESCHIEDENE VON B OETTICHER (1875–1952) Else Frobenius wurde am 14. Mai 1875 in der livländischen Kleinstadt Lasdohn geboren, die heute zur Republik Lettland gehört (BAB 1933ff. Else Frobenius; Laur 1952, 9; Boetticher 1995, 90; Frobenius 2005/1944). Sie entstammte einer prominenten deutschbaltischen Pastorenfamilie und war das älteste von acht Kindern, darunter drei Schwestern. In der Stadt Riga erfuhr sie eine evangelische und bildungsbürgerliche Sozialisation. Ihre geschlechtsspezifische Ausbildung bestand in einer Kombination aus Höherer Töchterschule und häuslichem Privatunterricht. Im Jahr 1892 legte sie das russischsprachige Gouvernantenexamen ab, übte den Beruf aber niemals praktisch aus. Else Frobenius war zweimal verheiratet. Im Alter von 23 Jahren ging sie in Riga die Ehe mit dem Juristen Carl von Boetticher (1865–1919) ein. Im Jahr 1915 heiratete sie in Berlin den Kunstmaler Hermann Frobenius (1871– 1954), einen Bruder des Ethnologen Leo. Beide Ehen blieben – soweit nachweisbar – kinderlos und endeten durch Scheidung (1910 bzw. 1921). In den Jahren in Riga führte Else Frobenius das Dasein einer bürgerlichen Gattin der städtischen Oberschicht. Diese Existenz brach abrupt ab, als der Ehemann, für seine Frau völlig überraschend, Ende 1907 Bankrott ging. Else Frobenius übersiedelte daraufhin nach Berlin, in die Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches, die sich gerade „zum Experimentierfeld und zum Schrittmacher der Frauenemanzipation“ (Schaser 2010, 139) entwickelte. Hier studierte sie im Status einer Gasthörerin bis 1911 sechs Semester lang Germanistik. Parallel dazu gelang ihr der Einstieg in die journalistische Ar-

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beit und sie mühte sich in den folgenden Jahrzehnten, mittels rastloser Publizistik ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Besondere Aktivitäten entwickelte sie vor 1918 in Riga bei der Beteiligung an prorussischer Frauenkriegsarbeit im Zuge des zaristischen Krieges gegen Japan sowie ab 1906 bei der Übernahme diverser Ämter im volksgemeinschaftlichen Deutschen Frauenbund. In Berlin übte Else Frobenius von 1914 bis 1921 die vergütete Position der Generalsekretärin des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft aus. Zusätzlich wirkte sie 1916 als Mitbegründerin des Baltischen Frauenbundes, dessen Vorsitz sie 30 Jahre bis zur Selbstauflösung der Vereinigung innehatte. Frobenius trat 1919 in die Deutsche Volkspartei ein und blieb bis 1930 Parteimitglied. Grundsätzliche Charakteristika ihrer Person sind die einer frühen Journalistin und Schriftstellerin. Dabei gehörte sie zu den stets fleißigen sogenannten „Kärrnerinnen“ dieser Profession, der jedoch ein Sprung in die erste Liga der prominenten „Königinnen“ (Hömberg 1987, 619ff.) nicht gelang. Sie war darüber hinaus als angestellte Funktionärin und als ehrenamtliche Lobbyistin tätig. Am 1. Mai 1933 trat Else Frobenius in die NSDAP ein und legte im Sommer das Propagandabuch Die Frau im Dritten Reich vor. Außerdem wurde sie Kulturwartin der lokalen NS-Frauenschaft. Nicht zuletzt wegen dieser Aktivitäten wird sie zu jenen Akteurinnen gerechnet, welche die Frauenforschung seit Dorothea Schmidt als ihre „peinlichen Verwandtschaften“ (Schmidt 1987, 50−65) bezeichnet. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges zog die Berlinerin 1945 in die norddeutsche Stadt Schleswig und übernahm dort wiederum eine Funktion für ihre vertriebenen Landsleute – als Vorsitzende des Baltischen Hilfskomitees der Region. Im Alter von 77 Jahren verstarb Else Frobenius am 3. August 1952 in Schleswig.

3. P UBLIZISTIK POLITISCHER

ZU G ESCHLECHT UND P ARTIZIPATION 1918 BIS

1933

Welche publizistischen Äußerungen und tagesaktuellen Stellungnahmen der Protagonistin zu Geschlecht und politischer Partizipation liegen innerhalb des Zeitfensters 1918 bis 1933 vor? In der nachrevolutionären Debatte nahm das Thema Frauenstimmrecht eine Schlüsselposition ein und Else Frobenius beteiligte sich am Diskurs. Zwischen dem Jahresende von 1918 und dem Frühjahr 1928 sind zehn Texte nachweisbar, in denen sich Frobenius speziell mit dem Themenkomplex Frauenstimmrecht und weibliche Wahlbeteiligung befasst hat. Doch beginnen möchte ich mit einer fruchtbringenden Quelle aus dem vorpolitischen Raum, die auf der Kommunikationsebene der „einfachen und mittleren Öffentlichkeit“ (Wischermann 2003, 268f.) anzusiedeln ist. Das Rigaer Festspiel Das Damenparlament von 1906 schrieb die damalige Else

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von Boetticher aus Anlass des ersten Familientages des Geschlechtsverbandes, in den sie eingeheiratet hatte. Die Verfasserin spielte in der Aufführung die „Emanzipierte“ und äußerte „recht ketzerische Ansichten über die Männer“ (Frobenius 2005/1944, 89f.). Sie besetzte die Rolle des Enfant terrible, der 22-jährigen Käte, die ausgestattet mit Jackett, Herrenhut, Stöckchen und Zigarette auch optisch einen Kontrapunkt bilden sollte. Die Kernfrage des Festspiels kreiste um fünf weibliche Charaktere und deren Visionen: „was an Frauenrechten / Sich eine jede von uns wünschen mag“ (Boetticher 1906, 24). Aus der Narration der vier traditionell angelegten Geschlechterrollen stach die Figur der Käte signifikant mit emanzipatorischen Ansprüchen hervor. Die ihrerseits eingeforderten Freiheiten sollten denen der Männer entsprechen und, um dieses zu erreichen, drohte Käte potenziellen Gegnern beiderlei Geschlechts: „Und was sie an Rechten / Nicht geben uns her, / Das wollen wir uns nehmen! / Und fordern immer mehr!“ (Ebd., 27) Verlangt wurden u.a. das weibliche Stimmrecht sowie Rechenschaftslegung der Arbeit gewählter Verantwortlicher (ebd., 30). Die Figur Käte charakterisierte den Erfolgsfall femininer Teilhabe als „wohl verdientes Los“, das „sich in der Zeiten Schoß schon lange“ mühsam vorbereitet habe (ebd., 31). Selbst für den revolutionären Wandel des zaristischen Staates in eine Republik kreierte Else von Boetticher eine Bühnenvision: „Ich wette, alle werden es bald einsehen: / Zur nächsten Duma [russisches Parlament, S.H.] zieht man uns heran.“ (Ebd., 33) Die Handlung des Festspiels endete versöhnlich und mit Appellen an familiäre Harmonie und Toleranz gegenüber dem anderen Geschlecht. Auch unter Berücksichtigung des geschützten Kommunikationsrahmens spiegeln sowohl der Text als auch die von der Autorin übernommene Rolle libertäre Ansprüche weiblicher Teilhabe – ganz individuell, aber auch gesamtgesellschaftlich – und geben Zeugnis von Else von Boettichers damaliger mentaler und politischer Positionierung. Die mit Carl von Boetticher seit 1898 bestehende Ehe dürfte zu diesem Zeitpunkt mit Konfliktpotenzial angereichert gewesen sein, unabhängig vom dann, im Jahre 1907 erfolgenden finanziellen Niedergang.3 Zwölf Jahre nach dem Rigaer Festspiel, in der Hauptstadt des Deutschen Reiches und nach dem Sturz der Hohenzollern-Monarchie, beteiligte sich Else Frobenius am Stimmrechtsdiskurs mit einem allegorischen, mehrfach nachgedruckten Gedicht. Darin appellierte sie Ende November 1918 an ihre Geschlechtsgenossinnen: „Wahlrecht ist Wahlpflicht! Verschmäht nicht Fortunas Gabe!“ (Frobenius 2005/1944, 169) Die Verfasserin reflektierte die Situation mit der Allegorie eines Geschenkes, das den Frauen in einer „Sturmnacht“ in den Schoß gefallen und zum Trost gespendet worden sei. Sie verwies eindringlich auf die neuen staatsbürgerlichen Optionen, blende-

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Im Selbstzeugnis stellte Else Frobenius später die traditionelle Rollenverteilung sowie ihre damalige Lebenssituation in Anlehnung an Ibsen unter das Motto „Nora im Puppenheim“ (Frobenius 2005/1944, 86).

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te mit ihrer Metapher „Fortunas Gabe“ allerdings die vorangegangenen emanzipatorischen Kämpfe aus. Sie gliedert sich damit ein in den großen Kreis der Überraschten, Befürworterinnen und Befürworter wie Gegnerinnen und Gegner des Frauenwahlrechtes, die etwa wie Marie Stritt von einem „Wunder“ sprachen (Schaser 2009, 97). Auch die Adelige und spätere Linksliberale Marie von Bunsen (Helling 2011b) erinnerte sich, „den Wert des unerbetenen Geschenkes“ erst nach Erhalt erkannt zu haben (Bunsen 1932, 168). An anderer Stelle formulierte Else Frobenius jedoch auch ihre Wertschätzung für Frauen, die Vorkämpferinnen des neuen Privilegs gewesen waren. Explizit lobte sie den lediglich 10.000 Mitglieder zählenden Reichsverband für Frauenstimmrecht sowie die sozialdemokratischen Gewerkschaften (Frobenius 1918, 6). Sie bilanzierte: „Der Sozialdemokratie verdanken wir die Einführung des Stimmrechts.“ (Ebd.) In der Mitte der 1920er Jahre schätzte die Berliner Journalistin dann ein: „Zwar ist einem großen Teil der deutschen Frauen das Wahlrecht ungerufen in den Schoß gefallen. Sie haben sich aber im Laufe von sechs Jahren mit Ernst und Eifer in ihre neuen Pflichten hineingearbeitet und denken gar nicht daran, sie aufzugeben.“ (Frobenius 1925, 218) Und rückblickend auf den Weg der Staatsbürgerin äußerte sie bezüglich des Stimmrechtes 1926 nochmals: „Von einem kleinen Kreise ersehnt und erkämpft – den meisten unerwartet – fiel vor mehr als sieben Jahren das Wahlrecht den deutschen Frauen in den Schoß.“ (Frobenius 1926, 6) In der ersten Jahreshälfte 1919 hatte die Publizistin für Die Welt der Frau, Beilage der Zeitschrift Die Gartenlaube, vier längere Artikel verfasst, in denen sie Politikerinnen aus unterschiedlichen parlamentarischen Einrichtungen und Fraktionen wertschätzend porträtierte. Der erste Text galt Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung, deren individuelle Vorkenntnisse und Fähigkeiten für das Mandat sie thematisierte und dabei bewertete: „Keine Partei hat ihre Frauen so gut in die politische Arbeit eingeführt wie die Mehrheitssozialisten; jetzt stellen sie die erhebliche Majorität unter den weiblichen Abgeordneten.“ (Frobenius 1919a, 109) In der übernächsten Ausgabe der Zeitschrift machte sie die Leserinnen und Leser wiederum mit Frauen aus dem Parteienspektrum der Nationalversammlung bekannt. Dabei würdigte sie besonders Marie Juchacz, eine aus einfachen Verhältnissen stammende Redakteurin und Sozialdemokratin. „Als erste weibliche Abgeordnete, die in der Nationalversammlung zu Worte kam, hat sie eine geschichtliche Mission erfüllt.“ (Frobenius 1919b, 125) Der dritte und letzte Teil der Serie widmete sich ausführlich den Promovierten Käthe Schirmacher, deutschnationale Abgeordnete, und Gertrud Bäumer, langjährige Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine und Mandatsträgerin der Demokratischen Partei (Frobenius 1919c, 155). Frauen in der badischen Nationalversammlung porträtierte Else Frobenius dann speziell unter dem Blickwinkel der Vaterlandsliebe und behauptete hinsichtlich der in Baden agierenden Parteien abschließend: „In dem kleinen Lande ist ihr Verhältnis

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zur Heimat wärmer und inniger, es besitzt mehr überbrückende Kraft als in den durch Klassengegensätze verhetzten Bewohnern des Nordens.“ (Frobenius 1919d, 211) In allen vier Beiträgen spielten die Kompetenzen der weiblichen Politiker und ihre gegebenenfalls notwendige „Schulung“ eine Rolle. Unter dieser Prämisse werde ihnen „das Werk gelingen zum Segen der Menschheit“ (ebd.). Mit politischer Partizipation im engeren Sinne befasste sich Else Frobenius beispielsweise Anfang 1920. Innerhalb einer Zeitschrift mit nationaler Ausrichtung schrieb sie grundsätzlich über Parlamentarische Frauenberufe und gab dabei ein flammendes Plädoyer für die Mitgestaltung der Frauen innerhalb aller parlamentarischen Einrichtungen und Hierarchien ab (Frobenius 1920, 11ff.). Frobenius’ Ziele gingen zu diesem Zeitpunkt hoch hinaus: „Zu einer weiblichen Ministerin haben wir es noch nicht gebracht, wohl aber haben wir mehrere weibliche Regierungsräte, die vielleicht auf diesen Posten zusteuern.“ (Ebd., 12) Im Text beschwor sie die Frauen, als Staatsbürgerinnen aktiv zu werden, sich der Verantwortung für „das Volksganze“ zu stellen und deshalb beispielsweise Ämterangebote „nicht aus Bequemlichkeit oder Ängstlichkeit“ abzulehnen (ebd.). Als im Jahr 1923 die seit 1919 für die DVP im preußischen Landtag tätige Abgeordnete Margarete Poehlmann verstarb, widmete Else Frobenius der Politikerin, mit welcher sie eng zusammengearbeitet hatte, einen Nachruf im meinungsprägenden Periodikum Die Frau (Frobenius 1923/24, 146f.). Sie pries darin in Poehlmann eine Leitfigur, die „der modernen Parlamentarierin Achtung und Ansehen“ (ebd., 147) verschafft habe. An gleicher Stelle thematisierte sie als negative Begleiterscheinung der politischen Landtagsarbeit, den „parlamentarischen Lärm“ (ebd.). Vier Jahre später formulierte sie innerhalb eines Grundsatzartikels zur Staatsbürgerinnenrolle ähnlich und kritisierte „das Getöse, das in unseren Parlamenten zu herrschen pflegt“ (Frobenius 1927, 211). In beiden genannten Quellen bewertete sie es als Schwierigkeit, sich als Frau und mit weiblicher Stimme überhaupt Gehör zu verschaffen (ebd., 147 u. 211). Grundsätzlich bilanzierte Else Frobenius im Jahr 1926: „Die große Welle der Revolution, die die Frau auf den Weg der Staatsbürgerin führte, ist heute im Verebben. Ein gewisser Rückschlag ist eingetreten. In den politischen Parteien klagt man oft über die Gleichgültigkeit der Frauen und die Männer räumen ihnen nicht mehr so bereitwillig den Platz neben sich ein, wie vor sieben Jahren.“ (Frobenius 1926, 6)

Als Ursachen des bemängelten weiblichen Interessenschwundes benannte Else Frobenius die Empfindungen etlicher Frauen, in „endlosen Sitzungen“ ihre Zeit „als eine Art geschäftigen Müßiggangs“ und bar „der praktischen

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Produktivität eigenen Schaffens“ verbringen zu müssen (ebd.).4 Sie verwies bezüglich der entstandenen Personallücken jedoch auf Ersatz „durch den Nachwuchs“ und bescheinigte jenen Geschlechtsgenossinnen: „Unter den logisch denkenden und verstandesmäßig veranlagten Frauen haben viele eine überraschend schnelle Entwicklung zu führenden Stellungen genommen.“ (Ebd.) Im Zuge der Hindenburg-Wahl 1928 drang Else Frobenius innerhalb eines auf der Titelseite platzierten Appells mit der Überschrift An die Frauen erneut auf rege weibliche Mitbestimmung. Sie rief zur Wahlpflicht auf mit dem Argument, dass nur wenige Kandidatinnen an Spitzenplätzen der Listen aufgestellt worden seien, viele dagegen an dritter oder vierter Stelle, und mahnte: „Nur wenn die Frauen in geschlossener Phalanx an die Wahlurne treten, ist […] eine Zunahme der Frauenvertretung in den Parlamenten möglich.“ (Deutsche Allgemeine Zeitung, 16.05.1928, Abendausgabe)5 Obwohl Else Frobenius zwei Jahre später in einem viertelstündigen Radiobeitrag vom 22. September 1930 unter dem Titel Die Frau im Staat wiederum die weibliche politische Teilhabe (Vossische Zeitung, 20.09.1930) thematisierte, zog sie für sich in jenem Jahr die Konsequenz, ihre DVP-Mitgliedschaft zu beenden. Für die Phase bis zum Frühjahr 1933, als Frobenius der NSDAP beitrat, liegen bislang neben den später zitierten autobiografischen Reflexionen nur ungenügende biografische Erkenntnisse vor. Nachweislich stellte Else Frobenius konkrete Überlegungen zur Rolle der Frau in der neuen Ära an und beteiligte sich im Sommer 1933 mit einem Propagandabuch am Diskurs.6 Letzteres hatte sie basierend auf dem Studium von Hitlers Werk Mein Kampf verfasst. Zweck ihrer Schrift war die Aufklärung über die „Aufgaben der Frau im Dritten Reich, soweit es heute schon möglich ist“ (Frobenius 1933, 6). Die Weimarer Epoche und die demokratischen Prinzipien negativ bilanzierend, argumentierte sie nunmehr auf weibliche Partizipation bezogen: „Wenn wir, wie in den letzten 14 Jahren, immer nur redeten und redeten, wären wir rettungslos verloren. […] Wir sollten schweigen lernen. […] Man soll […] nur reden, wenn es sich um Wesentliches handelt. […] Die

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In Analogie zu diesem tagesaktuellen Text äußerte Frobenius sich 1944 autobiografisch und charakterisierte die eigene national-liberale Arbeit als Parteitätigkeit, die ihr bis Mitte der 1920er Jahre immer mehr zu einer „Art Leerlauf“ (Frobenius 2005/1944, 171) verkommend erschien. Bereits 1925 hatte Frobenius im gleichen Periodikum die Parteinahme für Hindenburg eingefordert und dabei unter der Überschrift Frauenstimmen im Wahlkampf die Frage gestellt, ob denn ihre Geschlechtsgenossinnen wüssten, „daß am Wahltage die Frauenstimmen den Ausschlag geben werden?“ (Deutsche Allgemeine Zeitung, 25.04.1925, Morgenausgabe). Die Erforschung der Hintergründe und Ursachen für die nationalistische und nationalsozialistische Positionierung der Akteurin ist ein zentrales Anliegen des eingangs genannten DFG-Projektes.

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hochwertige und begabte Frau muß zum Führertum im Rahmen der Volksgemeinschaft streben.“ (Ebd., 105ff.) Frobenius appellierte an ihre Geschlechtsgenossinnen, die Rolle der NSFrau mitzugestalten. Dabei hielt sie den Kampf um Parlamentssitze inzwischen für abwegig, den um Plätze innerhalb der Volkswohlarbeit jedoch für sinnvoll (ebd., 107). Ausdrücklich bekannte sie sich jetzt zum diktatorischen „Führerprinzip“, selbst wenn dieses mit der Diskriminierung von Meinungen und Menschen verbunden war (ebd., 44f.). Hinsichtlich ihrer Positionierung zur Rolle der Staatsbürgerin liegt damit eine Zäsur vor. Kontinuität innerhalb Frobenius’ Schrifttum ist dagegen bei der Problematisierung des Topos „Frau und Staat“ auszumachen. Insofern spannt sich ein Bogen von Riga 1906 über Weimar 1918 bis zum Sommer 1933.

4. AUTOBIOGRAFISCHE R EFLEXIONEN Wie charakterisierte Else Frobenius im autobiografischen Rückblick die historische Etappe von Weimar sowie die Rolle seiner Staatsbürgerinnen? Grundsätzlich lautete ihre Einschätzung: „Es war eine Zeit des Suchens und der Unruhe […] [und] der neue Volksstaat [ruhte] weder nach außen, noch im Inneren auf sicheren Grundlagen.“ (Frobenius 2005/1944, 176) Danach folgte das differenzierte Lob: „Trotz ihrer inneren Zerrissenheit, trotz der über 50 Parteien, die sich damals bildeten, war die Nachkriegszeit doch schon ein Erzieher zum politischen Denken …“ (Ebd., 177) Der Wertschätzung schob sie die von Verständnis durchzogene Kritik nach: „Häufig überhitzten die Leute sich dabei. Alle waren in Spannung und Aufregung, weil jeder den Druck der Verhältnisse durch gesteigerten Einsatz zu überwinden suchte. […] Hinter all diesen Bemühungen aber lauerte die große wirtschaftliche Unsicherheit, die zunehmende Entwertung des Geldes.“ (Ebd.) Geschlechterspezifisch umriss Else Frobenius die Weimarer Epoche als jene „Zeit, wo die Frauen als Staatsbürgerinnen in so viele neue Gebiete einrückten“ (ebd., 172). Im journalistischen Schrifttum hatte sie bereits während des Ersten Weltkrieges eindringlich dazu aufgerufen, die individuelle Lebensleistung von Frauen wertzuschätzen (Boetticher 1915, 702). In ihrem Selbstzeugnis bilanzierte sie dann 1944 die erweiterten weiblichen Aktionsräume gesamtgesellschaftlich positiv. Zu diesem Zweck transferierte sie ihren journalistischen Appell von einst mit nahezu identischen Worten und urteilte frauenbezogen: „Nicht nur der Rang ihres Mannes oder Schönheit und Reichtum waren […] maßgebend wie in der Vorkriegszeit, sondern ihre persönliche Leistung.“ (Frobenius 2005/1944, 171) Auch für die individuelle Lebenssituation der Protagonistin waren damit vielfältige Optionen eröffnet worden, die sie kreativ genutzt hatte. 1951 ergänzte die greise Autorin im gleichen chronologischen Kontext zur Rolle der Staatsbürgerin: „Als Kameradin des Mannes wirkte sie als

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verbindende Kraft im Gemeinschaftsleben mit.“ (Frobenius 1951, 91) Noch deutlicher als 1944 lobte Else Frobenius die Weimarer Phase prinzipiell und kam Kritik zuvor: „Man denke nicht, dass die später so verschriene ‚Systemzeit‘ eine Zeit geistiger Trägheit gewesen wäre.“ (Ebd., 89) Ihre eigenen propagandistischen Angriffe von 1933 auf eben jene Zeit blendete sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus.

5. S CHLUSSBEMERKUNGEN Festzuhalten bleibt, dass sich die gebürtige Deutschbaltin und spätere langjährig in Berlin ansässige Publizistin nachweislich seit dem Jahr 1906 mit dem Thema Geschlecht und Staat befasst hat. Aus einer Position des halböffentlichen Aufbegehrens in Riga heraus und nach persönlichen Entwicklungsetappen profitierte sie von den erweiterten weiblichen Aktionsfeldern der Weimarer Republik. Sie gestaltete diese mit, beteiligte sich mit ihren Texten an der öffentlichen Meinungsbildung und dehnte die Handlungsräume aus. Nach ambivalenten und enttäuschenden Erfahrungen mit politischer Partizipation plädierte sie am Beginn des Dritten Reiches für einen teilweisen Rückzug aus der parlamentarischen Arbeit sowie aus gesellschaftlichen Diskursen. Somit sind sowohl innerhalb ihres Schrifttums als auch im Kontext ihrer Lobbyarbeit Umbrüche zu konstatieren. Ergänzend variieren die beiden, in unterschiedlichen historischen Abschnitten gefertigten Selbstzeugnisse der Else Frobenius hinsichtlich Perspektiven und Konstruktionen. Am Ende der Weimarer Republik sah sich die Protagonistin „von glänzenden Hoffnungen“ (Frobenius 2005/1944, 204) in die neue Ära erfüllt, die sie aktiv unterstützte. Im Kontext ihres autobiografischen Resümees vom Herbst 1944 kam sie im Textkorpus an jener Stelle auch auf Österreich zu sprechen, das sie sehr liebte. Zwischen 1902 und 1939 hatte sie mindestens sechsmal in Wien geweilt und zur Region Kärnten hatte sie eine tiefe Beziehung entwickelt, was sich in ihrem Schrifttum sowie ab 1920 in fast jährlichen Besuchen bei Deutschnationalisten manifestierte. Diesbezüglich sah sich die Berliner Publizistin durch den nationalsozialistischen „Anschluss“ am Ziel ihrer Wünsche: „War nicht das Dritte Reich ein Wunschziel, dem die Deutschen ein Jahrtausend lang zugestrebt hatten? Und Österreich mit seiner wunderbaren Landschaft und alten Kultur eine große Symphonie, die vom Adagio und Allegretto bis zum Appassionato alle Ausstrahlungen gottgegebenen Musizierens verwirklichte? Welchen Reichtum erhielten wir neu geschenkt!“ (Ebd.)

Kurz vor Niederschrift dieser Worte hatte die Verfasserin Kärnten aufgesucht. Nach ihrer zweiten Berliner Ausbombung vom Frühjahr 1944 erlebte sie in dieser Region dankbar und gerührt „sonnige Sommertage“, Gastlichkeit und „die Treue der Kärntner Freunde“ (ebd., 245).

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Q UELLEN Boetticher, Else von 1906: Ein Damenparlament. In: Erinnerungsblatt an den ersten ordentlichen Familientag des von Boetticher’schen Geschlechtsverbandes am 16./29. December 1906 in Riga. Riga, 23–35. Boetticher, Else von 1915: Frauenberuf und soziale Stellung. In: Die Woche Nr. 20, 701–702. Bundesarchiv Berlin (BAB) 1933ff.: Reichskulturkammer 2101, Else Frobenius, Box 0337, File 03. Bunsen, Marie von 1932: Zeitgenossen die ich erlebte. 1900–1930. Leipzig. Frobenius, Else 1918: Staatsbürgerinnen. In: Kolonie und Heimat Nr. 12, 6– 7. Frobenius, Else 1919a: Politisch tätige Frauen. In: Die Welt der Frau, Beilage der Zeitschrift Die Gartenlaube Nr. 14, 109. Frobenius, Else 1919b: Politisch tätige Frauen. In: Die Welt der Frau, Beilage der Zeitschrift Die Gartenlaube Nr. 16, 125–126. Frobenius, Else 1919c: Politisch tätige Frauen. In: Die Welt der Frau, Beilage der Zeitschrift Die Gartenlaube Nr. 20, 155. Frobenius, Else 1919d: Frauen in der badischen Nationalversammlung. Mit 8 photographischen Aufnahmen von Gebr. Hirsch. In: Die Welt der Frau, Beilage der Zeitschrift Die Gartenlaube Nr. 27, 211. Frobenius, Else 1920: Parlamentarische Frauenberufe. In: Neu-Deutschlands Frauen. Eine Zeitschrift für die Gebildeten aller Stände Nr. 2, 11–13. Frobenius, Else 1923/24: Margarete Poehlmann. In: Die Frau, o. Nr., 146– 147. Frobenius, Else 1925: Parteipolitischer Terrorismus. In: Die deutsche Frau Nr. 11, 218. Frobenius, Else 1926: Der Weg der Staatsbürgerin. In: Auslandswarte. Zeitschrift des Bundes der Auslandsdeutschen Nr. 1, 6–7. Frobenius, Else 1927: Die Staatsbürgerin im neuen Deutschland. In: Westermanns Monatshefte Nr. 142, 211–216. Frobenius, Else 1933: Die Frau im Dritten Reich. Eine Schrift für das deutsche Volk. Berlin. Frobenius, Else 1951: Der goldene Schlüssel! Erinnerungen einer alten Frau. Unveröffentlichtes Manuskript. Bestand des Archivs der CarlSchirren-Gesellschaft e.V., Lüneburg, Ordner „Manuskripte F“. Frobenius, Else 2005 (1944): Der goldene Schlüssel. Erinnerungen aus meinem Leben. In: Lora Wildenthal (Hg.): Else Frobenius. Erinnerungen einer Journalistin. Zwischen Kaiserreich und Zweitem Weltkrieg. Köln (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 16), 17–247. Laur, Wolfgang 1952: Nekrolog Else Frobenius. In: Baltische Briefe Nr. 11, 9.

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L ITERATUR Baddack, Cornelia/Helling, Silke 2011: Geschlecht, Staat, Partizipation – die Weimarer Republik in der Sicht der national-liberalen Politikerinnen Else Frobenius (1875–1952) und Katharina von Kardorff-Oheimb (1879–1962). In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung Nr. 23. BadenBaden, 189–213. Boetticher, Hellmut von (Hg.) 1995: Nachrichten über die Familie von Boetticher. Kurländische Linie, 11. Folge. Langenhagen. Daniel, Ute 2005: Autobiografisches von der ersten Geschichtsschreiberin der Jugendbewegung. [Else Frobenius] Rezension. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung Neue Folge Nr. 2, 251–253. Helling, Silke 2010: Schlaglichter auf eine frühe Journalistin und politische Lobbyistin. Else Frobenius (1875–1952). In: Ulrike Auga/Claudia Bruns/Levke Harders/Gabriele Jähnert (Hg.): Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main, 141–156. Helling, Silke 2011a: Geschlechterbiografie Else Frobenius (1875–1952). Verfügbar unter: http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/ else-frobenius/, aufgerufen am 14.04.2011. Helling, Silke 2011b: Geschlechterbiografie Marie von Bunsen (1860– 1941). Verfügbar unter: http://www.fembio.org/biographie.php/frau/ biographie/marie-von-bunsen/, aufgerufen am 14.04.2011. Hofmeister, Björn 2010: Kultur- und Sozialgeschichte der Weimarer Republik 1916 bis 1933, In: Archiv für Sozialgeschichte Nr. 50, 445–501. Hömberg, Walter 1987: Von Kärrnern und Königen. Zur Geschichte journalistischer Berufe. In: Manfred Bobrowsky/Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): Wege zur Kommunikationsgeschichte. München, 619–629. Schaser, Angelika 2009: Zur Einführung des Frauenwahlrechts vor 90 Jahren am 12. November 1918. In: Feministische Studien Nr. 1, 97–110. Schaser, Angelika 2010: Die Hauptstadt Berlin als Experimentierfeld für die Emanzipation von Frauen. In: Angelika Schaser/Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): Liberalismus und Emanzipation. In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Stuttgart (= Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Wissenschaftliche Reihe 10), 123–140. Schilling, Britta 2009: „Deutsche Frauen! Euch und Eure Kinder geht es an!“ Deutsche Frauen als Aktivistinnen für die koloniale Idee. In: Marianne Bechhaus-Gerst/Mechthild Leutner (Hg.): Frauen in den deutschen Kolonien. Berlin, 70–78. Schmidt, Dorothea 1987: Die peinlichen Verwandtschaften. Frauenforschung zum Nationalsozialismus. In: Heide Gerstenberger/Dorothea Schmidt (Hg.): Normalität oder Normalisierung? Geschichtswerkstätten und Faschismusanalyse. Münster, 50–65.

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Wildenthal, Lora 2005: Nation und Karriere in einem Frauenleben. Eine Einleitung. In: dies. (Hg.): Else Frobenius. Erinnerungen einer Journalistin. Zwischen Kaiserreich und Zweitem Weltkrieg. Köln (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 16), 7–16. Wilhelmi, Anja 2008: Lebenswelten von Frauen der deutschen Oberschicht im Baltikum (1800–1939). Eine Untersuchung anhand von Autobiografien. Wiesbaden. Wischermann, Ulla 2003: Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900. Netzwerke – Gegenöffentlichkeiten – Protestinszenierungen. Königstein/Taunus.

Aktion Vaterversorgung Überlebenskampf, private Nischen, öffentliche Aufgaben E VELYNE P OLT -H EINZL

„Aktion Vatermord“ lautet ein gängiger Terminus der Literaturgeschichte, zeitlich etwas unscharf dem Expressionismus zugeordnet, der sich auf die These vom Vatermord als Ursprung kulturellen Handelns beruft, wie sie Sigmund Freud am Vorabend des Ersten Weltkrieges in Totem und Tabu entwickelte (vgl. Stockreiter 2000). „Aktion Vatermord“ ist einer der vielen literarhistorischen Ordnungsbegriffe, die sich einem durchgängigen Ausschluss verdanken: Nicht nur die Literatur von Frauen wurde nicht einbezogen, auch Frauenfiguren in den Werken von Autoren erfuhren meist eine geringere Aufmerksamkeit. Deshalb weiß die Literaturgeschichte von den rebellierenden Söhnen, kaum aber um die vielen Töchter, die jene Väter ernährten und betreuten, die als militärische und bürokratische Stützen der alten Gesellschaft das politische System trugen und mit patriotischem Stolz in den Untergang führten. 1918 verloren die alten Herren zwar meist nicht ihr autoritäres Gebaren, aber doch den Boden unter den Füßen und mit den gezeichneten Kriegsanleihen auch das Familienvermögen. Während die Söhne auf den Schlachtfeldern zugrunde gegangen sind oder aus dem Krieg der Väter psychisch zerstört zurückkehrten, waren es die Töchter, die den Unterhalt für die Väter – oft auch für die Brüder – in den Wirren der Kriegsschieber- und Inflationsjahre zu organisieren hatten, ohne dass die Gesellschaft dafür die nötigen Räume und Optionen bereitgestellt hätte. So waren es oft dubiose bis offen prekäre Nischen, auf die die Töchter im Kampf um den Erhalt der Familie zurückgreifen mussten. Es geht im Folgenden um eine erste Sammlung von soziologischen Miniaturen zu weiblichen Lebensentwürfen, die in den Zeitromanen der Ersten Republik zu finden sind, und die meist unsichtbar bleiben, wo harte historische Fakten verhandelt werden, da sie sich überwiegend jenseits von aktenkundigen juridischen, politischen oder institutionellen Kontexten vollzogen. Staatliche Zuständigkeit tritt nur im Falle des Scheiterns der jungen Frauen ein, wenn Die kleinen Paragraphen − so der ursprüngliche Titel für Ödön von Horváths Glaube Liebe Hoffnung − zuschlagen, häufig am schmalen

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Grad zur Gelegenheitsprostitution. Vor dem Hintergrund derartiger Materialsammlungen, so wäre zu hoffen, lassen sich auch Werke kanonisierter Autoren oft neu und anders lesen. Einer ersten derartigen Spurensuche steht es dabei gut an, auf finale Schlüsse bewusst zu verzichten.

1. D IE S CHULD DER V ÄTER D ER G ENERATIONSBRUCH 1918 Die Implosion des alten Systems im Jahre 1918 implizierte eine Neudefinition aller (Wert-)Haltungen, auch der zum Verhältnis der Generationen – beiderlei Geschlechts. Vor 1918 wurde die Schuld der Väter und ihr Scheitern an den Kindern, deren Start ins Leben sie schuldhaft verpatzten, oft nur angedeutet oder stark ins Individuelle verlegt. Dass Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl so wurde, wie er ist, hat auch mit dem Versagen des Vaters zu tun, was allerdings nur in einem Nebensatz angedeutet wird und deshalb leicht zu überlesen ist: Es gab eine unehrenhafte Affäre, die des Vaters Karriere abrupt beendete und die Familie von Wien nach Graz übersiedeln ließ, wo die Mutter in Depressionen verfiel, der Bräutigam der Schwester sein Verlöbnis löste und der Vater Gustl nicht einmal mit einem Pferd für die Kavallerie ausstatten konnte. In Fräulein Else wiederum ist es die Spielsucht des Vaters, der die einst gutbürgerliche Familie verarmen lässt und Else zu einer Geldheirat mit dem alten Wilomitzer oder zum Verkauf ihres Körpers an den Kunsthändler Dorsday nötigt. Nach 1918 ist die Rolle des Familienpatriarchen zumindest problematisch geworden. In Franz Werfels Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (1920) stößt Vater Duschek den Zigarettenrauch durch die Nüstern aus − „das taten doch nur die Drachen, die es jetzt nicht mehr gab“ (Werfel 1920, 7). So denkt der Sohn und trifft damit den Kern der Sache: Diese Väter sind patriarchale Ungeheuer aus einer Vorzeit, die erst mit dem Zusammenbruch von 1918 als solche kenntlich werden. Ihr Bankrott ist zugleich der Bankrott eines Systems: Die Vätergeneration hat den Krieg verschuldet und verloren, dabei die Heiratskandidaten der Töchter massenweise getötet oder psychisch zerstört. Und der Krieg veränderte auch die Bedingungen für die Heranwachsenden radikal. In Max Brods Roman Die Frau die nicht enttäuscht (1933) lernt der alternde Schriftsteller Justus die junge Carola kennen, für ihn ein Mensch „eines andern Planeten“, denn: „Es verbindet, es trennt, ob einen der Weltkrieg schon als fertiges vernünftiges Wesen angetroffen und umgerannt hat, […] oder ob man als bewußtes Wesen sozusagen noch gar nicht vorhanden war, als die Schweinerei losbrach. Da war nichts umzurennen, kein Gebäude, kein System; aber in den Dreck geraten ist man nachher doch. […] Deshalb sind diese jungen Leute […] so hart, unsentimental kantig […].“ (Brod 1933, 95)

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Die Inszenierung des Jugendlichen nach 1918 implizierte auch die Abkehr vom alten System, dessen Vertreter ihre Positionen durchaus zu verteidigen und das Thema Jugend zu besetzen trachteten. „Greise stellen die Konflikte Zwanzigjähriger dar, Konjunkturhascher nehmen eilfertig den jungen Leuten das Wort aus dem Mund [...] Jugend, Jugend, Jugend […] aber nie wahre, nie authentische Aussagen, immer zurechtgefeilt, immer kommentiert und verzerrt“ (Spiel 1933, 202), klagt der junge Autor Gaspari in Hilde Spiels erstem Roman Kati auf der Brücke. Das ist ein gesellschaftspolitischer Reflex, der sich nach 1945 ganz ähnlich wiederholen wird.

2. V ATERSUCHE Die Patriarchenväter waren für ihre Kinder prinzipiell unerreichbar, ganz besonders aber für die Töchter, und das gilt auch für ihre joviale Variante. Psychische oder reale Absenzen der Väter verführen die jungen Frauen späterhin zu eigenwilligen Lebensentscheidungen. In Joe Lederers Bring mich heim (1932) leidet Jeannine am frühen Verlust ihres Vaters Kari – ein bindungsunfähiger Lebemann wie sein Namensvetter in Hugo von Hofmannsthals Der Schwierige (1921) – und an den Folgen eines ins Unscharfe abgetäuschten Kindesmissbrauchs, verschoben auf die Figur des Onkels und abgeschwächt als Verführung einer Minderjährigen. Daraus erwächst die Unstetheit der erwachsenen Jeannine, die sich in der Atemlosigkeit der Satzgefüge niederschlägt. Wenn Marianne in Felix Dörmanns Roman Jazz in den Armen ihres Liebhabers liegt, hat „sie dasselbe warme Gefühl wie beim Papa im letzten Jahre, wo sie ihn erst so eigentlich kennen gelernt hatte, wo die bange Kinderscheu endlich einem vertraulichen Ton gewichen war“ (Dörmann 1925, 89f.). Diese Formulierung zeigt das Verlogene im gesellschaftlichen Blick auf die Töchter: „Bange Kinderscheu“ ist die verharmlosende Umschreibung dafür, dass der tyrannische Patriarchenvater ein emotionales Verhältnis zur Tochter verweigerte, bis er auf ihre Pflege angewiesen war; „als er nach Hause kam, war er verbittert, gebrochen, krank […]. Was wird mit dir geschehen, wenn ich einmal nicht mehr bin, war alle Augenblicke seine bange Frage.“ (Ebd., 163) Diese Attitüde lieben die gescheiterten Väter: verbal so tun, als ob sie noch etwas für die Töchter tun würden oder auch nur tun könnten. Realiter hat der Vater längst alles versetzt, was Mariannes Erbe ausgemacht hätte; am Tag seines Todes geht er noch einmal ins Auktionshaus: „[um sich] ein letztes Mal die Miniaturen seiner Eltern, gemalt von Daffinger, anzusehen, ehe sie am nächsten Tag zur Versteigerung gelangten. So schwer hatte sich der Vater von diesen beiden Bildern getrennt. Viel schwerer als vom Familiensilber und den Perserteppichen.“ (Ebd., 12) Diese sentimentale Schilderung ist voll des Mitleids und enthält kein Moment des Vorwurfs, und das ist auch Mariannes Sicht der Dinge.

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3. W EIBLICHE (Ü BER -)L EBENSVERSUCHE DEN K RIEGEN ?

ZWISCHEN

Jeder Krieg martialisiert die Gesellschaft weit über seine Dauer hinaus: Wenn sich die Jahrgänge nach dem Rekrutierungstermin scheiden, werden die Generationen ausschließlich männlich gedacht. Die Historiografie verlängert diesen Blick oft bis in die Gegenwart: „[D]as Bilderreservoir für das ‚Subjekt im Panzer‘ lag vor der Tür [...]: das Militär. Die Ikone des soldatischen Profils mit Stahlhelm [...] prägt die Bilder des mobilen Typus, der nicht unterliegen will – vom neusachlichen Dandy bis zum bolschewistischen Funktionär, vom Ingenieur bis zum veristischen Maler. Die Armee war für Millionen Menschen eine einheitliche Prägestätte [...] gewesen.“ (Lethen 1994, 169)

Das ist die Ausgangsthese von Helmut Lethens Blick auf die Literatur der Neuen Sachlichkeit, und das erklärt, dass er in seinem Sample literarischer Sozialtypen fast ausschließlich männliche Entwürfe einbezieht. „Eine Photographie der Kruppwerke oder der A. E. G. ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“ (Ebd., 189) Dieses Zitat aus Brechts Dreigroschenoper-Prozess bringt Lethen als Beleg dafür, dass sich „die ‚romantische‘ Attitüde der ‚reinen‘ Wahrnehmung“ mittels der Apparate (Kamera) überholt habe. Und dieses Zitat enthält einen entscheidenden Hinweis auf die Problematik in der Darstellung des Geschlechterverhältnisses, das gerne unkommentiert im Ästhetischen belassen wird, wie in der Geschichte des Modellhauses „Bloemenwerf“ in Belgien. „Im Haus van de Veldes war [...] die Harmonie so weit getrieben, daß die Kleiderfarben der Hausfrau Maria Sèthe delikat ins Dekorationsschema des Hauses integriert waren.“ (Ebd., 169) Das ist sozusagen das Bild, das Lethen wiedergibt, die eigentliche Realität des Geschlechterverhältnisses aber wäre in der „Funktionale“ dieser Szenerie zu finden. Die zu inflationären Bildklischees eingefrorenen weiblichen Rollenzuschreibungen der Jahrhundertwende wurden durch die Mobilisierung der Frauen im Weltkrieg – für den Pflegedienst wie die Übernahme männlicher Berufsarbeit – unfreiwillig von der alten Gesellschaftsordnung aufgebrochen und nun von den Frauen mit neuen Inhalten gefüllt. Auch ästhetizistische Konzepte waren eine Möglichkeit, das rasant in Bewegung geratene Frauenbild wieder auf Erstarrung zu fixieren. Schon die Zeitgenossen versuchten, die Evidenz der neuen Frau mit dem Beharren auf dem männlichen Aktivitätspotenzial zu korrelieren. „Ist [...] der Mann kein wirklicher Mann, ist er vielmehr durch Zivilisation reduziert und verändert, so ist es begreiflich, daß auch die Frau als das von ihm abhängige Element, keine wirkliche und unbefangene Frau sein kann“, so Alexander Lernet-Holenia im 1929 erschienenen Band Die Frau von Morgen wie wir sie wünschen (104), in dem sich die Männer von gestern mit den veränderten Geschlechterbildern auseinandersetzen. Ganz ähnlich argumen-

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tiert Robert Musil: „Die Frau ist es müde geworden, das Ideal des Mannes zu sein, der zur Idealisierung nicht mehr die rechte Kraft hat, und hat es übernommen, sich als ihr eigenes Wunschbild auszudenken.“ (Ebd., 100) Der Krieg hat nicht nur die „Mannesideale“ (ebd., 100) suspekt gemacht, sondern auch viele Väter und Söhne zu Resozialisierungsfällen. In der Erzählung Das Sanatorium in Rudolf Jeremias Kreutz’ Satiresammlung Der vereitelte Weltuntergang (1919) transponiert der Kriegsheimkehrer Hans, einst feinsinniger Goethe-Liebhaber und Lehrer, Kasernenton und Soldateska-Manier in das familiäre Ambiente. Als er immer aggressiver agiert, flieht seine Frau zu einer Freundin, die ihren Mann schon lange „übergeben“ hat. Militärgattinnen bekamen automatisch die nötigen Prospekte zugeschickt, vielleicht, so vermutet die Freundin, dachte man, dass es bei Pädagogen nicht nötig wäre. Das war ein Irrtum. Der Prospekt beschreibt die Serviceangebote eines „Vermenschlichungssanatoriums“ (Kreutz 1919, 214) mit Sektionen für „Entschmutzung, Entrohung, Entdummung“ (ebd., 216); gearbeitet wird mit unorthodoxen Mitteln: In der „geistigen Abschreckungsdiät“ müssen die Patienten Ganghofers Schlachtenbeschreibungen lesen, „nach dem homöopathischen Grundsatze: Ähnliches mit Ähnlichem“ (ebd., 221).

4. D ER F AMILIENPATRIARCH G ESTÜRZT UND AUFRECHT Verfehlen die bürgerlichen Väter ihre Funktion als Familienerhalter, bläht sich ihre Autorität zur grotesken Hülle auf. Während sich der patriarchale Überbau im Biotop Kleinfamilie unverändert behauptet, hat sich ihre ökonomische Basis radikal verkehrt, ohne dass sich im Familienrecht oder in den Persönlichkeitsrechten der Frau etwas verändert hätte. Kaum einer analysiert die soziologischen und juristischen Folgen der Abhängigkeit der Töchter vom Scheitern der Väter und in der Folge der Väter bzw. Familien von den Einkünften der Töchter so obsessiv wie Hugo Bettauer. „Es ist seine Tochter, die mit ihren Schreibarbeiten die Familie ernährt, doch der Vater verbietet ihr die Heirat […]. Ihre aus einer anderen Epoche stammenden Eltern [...] strichen das Geld ein, das die Tochter am Monatsersten auf den Tisch legte und waren empört, wenn sie abends allein ausging“ (Bettauer 1980, 63), heißt es in seinem 1924 erschienenen Inflationsroman Das entfesselte Wien. Zum Überleben in schwieriger Zeit sind fantasievolle Geschäftsideen notwendig und die jungen Frauen entwickeln hier oft eine erstaunliche Kreativität wie beispielsweise Mira, Tochter des Feldmarschallleutnants in Raoul Auernheimers Roman Die linke und die rechte Hand (1926): Sie fertigt Strassdiademe, in der schrillen Glitzerwelt der 1920er Jahre mit den vielen raschen Aufstiegen und Abstürzen ein vielversprechendes Konzept. Viele dieser politisch, sozial oder auch „nur“ ökonomisch gescheiterten Vaterfiguren entziehen sich der weiteren Verantwortung für ihre Familien

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durch Selbstmord – womit sie zumindest verhindern, als Pflegefälle das Leben der Töchter zusätzlich zu erschweren. In Bettauers Das entfesselte Wien hat Elses Vater „vor einem Jahr Bankerott [sic!] gemacht und sich erschossen. Vor wenigen Tagen war ihre Mutter […] einem Herzleiden erlegen, und nun stand sie mit ihren siebzehneinhalb Jahren mittellos, für keinen Beruf ausgerüstet, allein da.“ (Bettauer 1980, 52) Genauso geht es Grete Rumfort in Bettauers Die freudlose Gasse (1924), deren Vater das Familienvermögen in der Zockerstimmung der Inflationsjahre verspielt und sich dann erschießt. Grete, die älteste Tochter, soll nun den gesamten Familienunterhalt mit ihrem Bürojob bestreiten. Als letzter Ausweg bleibt die Option eines reichen Liebhabers, den ihr Frau Greitler, Betreiberin eines als Modesalon getarnten Bordells, vermitteln will. Wenn die Väter nicht sterben oder Selbstmord begehen, werden sie für die Familie vom Erhalter zum Problemfall. Sie sind oft dickköpfig, eigensinnig, manchmal auch gutmütig, in jedem Fall aber unfähig, die neue Zeit zu akzeptieren, geschweige denn auf sie zu reagieren. Sie halten moralische Werte und Werturteile aufrecht, die nicht mehr zählen und ihnen auch nicht mehr zustehen. Und selbst wenn diese heruntergekommenen Väter nicht schikanös sind, leiden die Töchter unter ihnen wie Lydia Nordis in Maria Peteanis Frauen im Sturm (1929): Sie schirmt ihren Vater liebevoll von der Nachkriegsrealität ab, trägt die ganze Verantwortung allein und hält ihn finanziell aus, was sich zunehmend schwierig gestaltet. In Peteanis Werk ist dieses invertierte Eltern-Kind-Verhältnis eine Art Lebensthema, und keine ihrer Tochterfiguren kommt auf die Idee, ihre „Pflicht“ gegenüber den Vätern zu verweigern.

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Nach dem Tod des Vaters versuchen sich die Töchter neu zu orientieren. Indirekt freilich bleibt der unnahbare Vater oft bestimmend für ihre weiteren Lebenskatastrophen. Marianne in Felix Dörmanns Roman Jazz sucht zunächst den Ersatzvater im Nachkriegsschieber Kalmar, dann nähert sie sich Leo von Wartenstein nur deshalb an, weil der ihren Vater gekannt hat – und läuft in das Liebesunglück mit ihm. Auch bei den Wartensteins sind die Familienstrukturen auf den Kopf gestellt, seit ihnen nichts geblieben ist „als wertlose Kriegsanleihen und das kleine Wiener Barock-Palais“ (Dörmann 1925, 147); hier haust die Gräfin mit Tochter Gretl und Sohn Leo in den drei beheizbaren Räumen. Gretl hat die Kunstgewerbeschule absolviert und arbeitet bei einem Kleiderfabrikanten. „Ihr Verdienst erhielt eigentlich das Haus. [...] Der einzige Mann in der Familie war eigentlich – die Tochter. Sie sah dem Leben ins Auge, trat ihm entgegen, paßte sich den Verhältnissen an und ließ sich nicht unterkriegen.“ (Ebd., 148 u. 150) Ihr Bruder Leo hingegen hat als abgebauter Offizier den Boden unter den Füßen verloren, „ein armer Narr“, sagt die Mutter, „den der Krieg am Gewissen hat“ (ebd., 149).

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Damit hat sie recht, ist selbst aber nicht weniger lebensuntüchtig und lässt sich wenig später das Palais um einen lächerlichen Kronenbetrag abschwatzen. Dass die Mütter in diesen Szenarien oft kränkeln und der Realität noch hilfloser gegenüberstehen als die Töchter, ist systemisch begründet: Vom bürgerlichen Geschäftsgebaren waren diese Frauen zeitlebens ausgeschlossen, selbst was die Verwaltung ihrer Mitgift betraf, standen verheiratete Frauen juridisch unter Kuratel ihrer Gatten. Eine ähnliche Situation beschreibt Felix Salten in seinem Roman Martin Overbeck. Der Roman eines reichen jungen Mannes (1927): Tine Schaffner ist 19, als der Umsturz ihren „Vater-General ins Zivil und in die Verbitterung“ (Salten 1927, 13) schleudert. Tine bleibt bei der Krankenpflege, die sie in den Lazaretten gelernt hat. Das ist eine häufige Schiene, über die bürgerliche junge Frauen das Selbstverständnis eigener Berufstätigkeit kennenlernen. Tine wird als Lichtgestalt aufgebaut, die Martin als reichen Erben verachtet, weil er nicht arbeitet; das spart aus, dass sie mit ihrer Arbeit wohl die Familie erhält, zumindest aber sich selbst. Salten stellt Tines Berufstätigkeit als rein ethische Entscheidung dar, nicht als eine ökonomisch notwendige, was aus einem zeitrelevanten Thema tendenziell einen Kitschroman macht. Geht man von den realen Lebensbedingungen aus und nicht vom medial vermittelten Frauenbild in den Magazinen und Feuilletons der Zeit, scheint es tatsächlich wahrscheinlich, dass die erwerbstätigen Frauen der Zwischenkriegszeit „wesentlich mehr durch den Generationskonflikt als durch die Einteilung in Arbeiterinnen und Angestellte getrennt“ waren, „ein Umstand, der allzu häufig durch das Bild der ‚neuen Frau‘ als Angestellte und Konsumentin übersehen wird“ (Grossmann 1993, 138). Im Arbeitermilieu haben Frauen freilich immer schon arbeiten müssen, um das Überleben der Familien zu sichern. Der Anstieg der weiblichen Erwerbstätigkeit betraf den Mittelstand, branchenmäßig kamen vor allem Handel, Verkehr und der Dienstleistungssektor in Frage, also Bereiche, die im Alltag relativ gut sichtbar sind. Das stellt Anforderungen an die Selbstpräsentation der Frauen – die Konkurrenz am Arbeitsmarkt ist groß, ein moderat modernes Styling unerlässlich – und es verankert den neuen Typus Frau gut sichtbar in der öffentlichen Wahrnehmung. Tatsächlich war die Debatte um die neue Frau über weite Strecken eine über ihr äußeres Erscheinungsbild, also über Modefragen; „die entscheidende Schlacht“, so Musil (1929, 100), sei „nicht von den Vorkämpferinnen der Emanzipation, sondern am Ende von den Schneidern geschlagen worden“. In Maria Peteanis Frauen im Sturm lobt der Dienstgeber und spätere Liebhaber Baron Laun Lydias langes Haar. Sie habe „wirklich andere Sorgen, als sich comme Garconne herrichten zu lassen“ (Peteani 1929, 130), verteidigt sich Lydia. „Das lange Haar der Frau, beim Raub oder bei der Liebkosung um die Faust des Mannes geschlungen, war zweitausend Jahre hindurch nicht nur das Sinnbild der Sklaverei, sondern sogar ein Wesensbestandteil. Es fiel; und es fiel nicht nur ein Bestandteil, sondern das Sinnbild

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der Fesselung“, so Heinrich Eduard Jacob (1929, 128). Das ist eine Erklärung für die Verstörung der Männer über die weibliche Bubikopfgeneration, die nun plötzlich am Arbeitsmarkt auftaucht und mit diminuierenden Termini wie Bubikopf und Garconne zumindest sprachlich ins Kindliche abgewehrt wird. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch kanonisierte Werke neu lesen; Arthur Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt (1918) etwa als Auseinandersetzung mit dem Selbstbewusstsein der neuen Frauengeneration im historischen Gewand. Dass bei Marcolina, der Tochter von Casanovas einstiger Geliebten, keine seiner bewährten Charmeoffensiven anschlägt, ja dass sie diese gar nicht bemerkt, hat nicht nur mit Casanovas Alter zu tun. Marcolina organisiert ihr Leben nach völlig neuen Regeln, sie studiert, lebt erotisch selbstbestimmt und ökonomisch – hier noch dank einer Erbschaft – unabhängig, und sie stellt andere Anforderungen an die Männer, was Casanova einfach nicht verstehen will. Ihr völlig unkokettes Verhalten irritiert ihn zutiefst, er schreibt es ausschließlich seiner nachlassenden Ausstrahlung zu – was so gar nicht stimmt – und greift als letztes Mittel der Eroberung zur plumpen Maskerade.

6. O PTION T ÖCHTERSCHACHER In Hugo Bettauers Roman Die drei Ehestunden der Elizabeth Lehndorff (1921) verkehrt Elizabeths jüngere Schwester Erna im Haus eines dubiosen Kriegsgewinnlers, was der ehrbare Vater gerne zulässt, weil sie „immer die schönen Börsentips“ mitbringt (Bettauer 1926a, 4). Erna repräsentiert die illusionslose Nachkriegsgeneration. „Wahrscheinlich sind alle jungen Mädchen, die nach 1918 ins Leben getreten sind, so klug wie du und alle, die vorher erzogen wurden, so dumm wie ich“ (ebd., 38), meint ihre ältere Schwester Elizabeth, die der Vater unumwunden auffordert, doch zwecks Versorgungsehe im Familieninteresse „netter“ zum Schieber Ernö Szalay zu sein. Schießlich stimmt Elizabeth dem Handel zu, doch just am Hochzeitstag wird Szalay ausgeraubt und dabei getötet. Beim Prozess scheint der Vater zerknirscht. „Tief innerlich mußte er sich viel Schuld an dieser Tragödie beimessen und der alte Herr grollte mit sich selbst, weil er dereinst sein Kind dem Mammon geopfert und nichts getan hatte, um sie vor dieser entsetzlichen Heirat zurückzuhalten.“ (Ebd., 186) Die Wahrheit liegt wiederum in der „Funktionale“: Er hat nicht versäumt, Elizabeth von der Geldheirat abzuhalten, er hat sie massiv dazu gedrängt. In Ödön von Horváths Der ewige Spießer (1930) fährt der Autoverkäufer Kobler zur Weltausstellung nach Barcelona, um dort eine „reiche Ägypterin“ oder Vergleichbares zu ergattern. Schon im Zug scheint sich eine „Ägypten“-Option zu eröffnen in Gestalt der Duisburger Industriellentochter Rigmor Erichsen, doch die ist mit einem reichem Amerikaner verlobt, weil der väterliche Betrieb „dringend amerikanisches Kapital benötige, trotz

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der Größe seiner Firma, aber Deutschland sei eben ein armes Land, und besonders unter der Sozialversicherung litte ihr Papa unsagbar“ (Horváth 1987a, 226). Mirjam Feuerbach in Robert Neumanns Roman Sintflut erhält die Familie mit verdeckter Prostitution. Ihr einst kriegsbegeisterter Vater bekommt eine Anstellung in der Redaktion der „Wahrheit“, weil Mirjam mit dem Herausgeber Farkas schläft. Als der Vater Mirjam eines Tages in Farkas’ Büro in eindeutig verfänglicher Situation antrifft, meint er, darin das „Zartgefühl“ seiner Tochter zu sehen, die ihm verheimlichte, mit seinem Brotgeber bekannt zu sein, „weil sie denkt, das sei für mich eine Demütigung“ (Neumann 1929, 190). Diese Väter sind tatsächlich oft mit der „Gnade“ der „törichten Blindheit“ (ebd., 191) gesegnet. In Franz Karl Ginzkeys Der Gott und die Schauspielerin (1928) hält Yvette als Mätresse des reichen Makarius ihren kranken Vater aus. Wie bei Lydia Nordis in Peteanis Frauen im Sturm kommt für Yvette erschwerend ihr heruntergekommener Bruder dazu, der seine Schwester immer wieder anbettelt, bestiehlt und schließlich aus Versehen umbringt. Anders als bei allen anderen erwähnten Beispielen bleibt bei Ginzkey allerdings die konkrete Historie ausgeklammert. Diese vier Romane von Bettauer, Horváth, Neumann und Ginzkey sind willkürlich ausgewählt, sie zeigen aber, dass das Phänomen des Töchterschachers von links bis rechts außen bearbeitet wurde. Es ist ein den Zeitgenossen sichtbares gesellschaftliches Phänomen, das – selbst wenn sich ein Mordgeschehen anschließt – als Tatbestand keinerlei Spuren in den Akten und Agenden der staatlichen Institutionen hinterlässt. Eine aus diesem omnipräsenten Geist des Töchterschachers entwickelte originelle Idee ist die selbstverwaltete Prostituierten-Wohngemeinschaft, die Nelly in Maria Peteanis Roman Frauen im Sturm organisiert. Diese jungen Frauen lassen sich gewissermaßen nicht mehr von den Vätern verschachern, sondern organisieren die Bedingungen selbst. „Wir jedoch sind Frauen des Übergangs – wir gerieten unvorbereitet in den Sturm! Wir wurden nicht zur Lebensunterhalt erwerbenden Arbeit erzogen, und selbst wenn wir es wären – es ist im sozialen Gefüge noch kein Platz für uns geschaffen. Ist es da ein Wunder, wenn wir uns auf ‚die grüne Insel‘ retten, welche die Freigebigkeit unserer Freunde bereitet hat?“ (Peteani 1929, 68)

Tatsächlich ist das Problem dieser jungen „Frauen im Sturm“ nicht nur die Weltwirtschaftskrise, sondern auch ihre Position des Inbetween: Sie sind Teil der ersten bürgerlichen Frauengeneration, die sich am Arbeitsmarkt bewähren muss, ohne darauf vorbereitet zu sein und ohne adäquate Möglichkeiten vorzufinden.

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7. AUSBILDUNGSFRAGEN Ein Studium ist aus der Perspektive der bürgerlichen Väter lange keine Option für ihre Töchter. In Gina Kaus’ Roman Die Schwestern Kleh (1934) scheint es dem durchaus aufgeschlossenen Vater doch eine Unmöglichkeit, „daß seine Tochter etwas so Extravagantes würde, wie es damals, 1915, eine Studentin immerhin noch war“ (Kaus 1989, 46). In diesem Punkt hat mitunter der Zusammenbruch des Systems einiges bewegt. In Alma Johanna Koenigs Roman Leidenschaft in Algier (1932) gestattet der autoritäre MajorVater, nachdem er 1918 Titel, Beruf sowie Vermögen verloren hat, seiner Tochter schließlich doch, die Maturaschule zu besuchen. „Sie war vierzehn Jahre alt und längst mutterlos, als der Krieg ausbrach. Als er endete, war sie noch nicht achtzehn. Eine aus der Millionenzahl jener Kriegsbeschädigten, die keine Staatsrente beziehen und ihre Wunden nicht offen zur Schau tragen.“ (Koenig 1932, 46)

Das ist eines der seltenen Resümees über die Situation junger weiblicher Kriegsopfer, die in der Regel unter der Wahrnehmungsschwelle staatlicher Kriegsopferfürsorge bleiben. Den Zusammenhang von väterlichen Verboten und eigenem Absturz durchschaut am Ende auch Marianne in Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald (1931). Dass er sie nichts hat lernen lassen, wirft Marianne ihrem Vater bei der Wiederbegegnung als Nackttänzerin im Varieté direkt vor, seine Position war in dieser Frage immer eindeutig: „Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus.“ (Horváth 1986, 123) Außerdem war ihm Marianne nützlich im Haushalt wie in der Puppenklinik, die sie mit viel Geschick und nach den Erfordernissen der neuen Zeit betrieb. Es ist kein Zufall, dass Alfred sie zum ersten Mal in der Auslage beim Arrangieren des Warenangebots sieht. Dass auch Mariannes geplante Heirat mit dem Metzgermeister Oscar eine Variante des Töchterschachers ist, wird nur angetippt. „Nein, ich heirat dich nicht […]. Meinetwegen soll unsere Puppenklinik verrecken, eher heut als morgen!“ (ebd., 138), schreit sie während ihrer Verlobungsfeier mit Oscar, enthusiasmiert von der Begegnung mit Alfred, der ihr einen Ausweg zu bieten scheint.

8. P ROBLEMFALL S TUDENTIN Kaum haben die ersten Frauen Universitätsboden betreten, katapultiert sie Ferdinand Bruckners Stück Krankheit der Jugend zurück auf ihre angestammten Betätigungsfelder: „Marie (scheuert bereits den Fußboden, lacht): Freitag ist Polterabend“, denn eine „Promotion ist auch eine Hochzeit“ (Bruckner 1928, 11). Nebenbei hört sie Desiree für deren Prüfung ab, die

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rattert alles teilnahmslos, aber richtig herunter, doch was sie eigentlich beschäftigt sind amouröse Verwicklungen. Im ganzen Stück ist kein einziges Mal die Rede davon, was Marie beruflich nun vorhat, es geht ausschließlich um Beziehungsprobleme. Nur Irene scheint im Affärenreigen zunächst nicht mitzuspielen. „Eine Frau, die studiert, kann nicht gleichzeitig huren. [...] Die Wissenschaft verlangt den ganzen Einsatz“ (ebd., 27f.), sagt sie; da erkennt Petrell sofort die frustrierte Jungfrau und die beiden werden ein Paar. „Wissenschaft heißt nicht, Kompendien mit nassen Fingern blättern“ (ebd., 36), sagt ausgerechnet der Studienabbrecher Freder zur erfolgreichen Irene. Der Schlussdialog Marie/Freder mündet in Maries Schrei „Ermorde mich“ (ebd., 102); das klingt hysterisch, doch die Regie hat Marie übernommen: Sie reizt, als sorgfältig erwogene Option eines Suizids, Freder so lange, bis er es vielleicht tut. Krankheit der Jugend handelt eigentlich von der „Krankheit“ des männlichen Blicks auf die ersten Medizinerinnen.1 Auch Robert Musil verzichtet nicht auf die Karikatur der dummen, hier altjüngferlichen Studentin. Im Stück Die Schwärmer (1921) tritt „Frl. Mertens, cand. phil.“ auf; sie ist die Vertraute von Regine, die sie für eine „Heilige“ hält, die ewig um ihren Geliebten trauert. Lebensblind wie sie ist, merkt sie über Jahre nichts von Regines zahlreichen Affären. „Frl. Mertens, cand. phil.“ ist eine lächerliche Figur, sie „hat ein gutmütiges Gesicht, das an einen Schulranzen erinnert und ein vom Horchen in den Sälen der Weisheit breit gewordenes Gesäß“ (Musil 2002a, 5). Als sie schließlich die Wahrheit erfährt, muss sie pathetisch in die Zuschauerreihen rufen: „Ich bin einer Illusion unterlegen. Denn auch ich habe einst den Geliebten verloren; aber ich habe ihm durch einundzwanzig Jahre reine Treue gewahrt bis heute.“ (Ebd., 101) Ein intellektuelles Leben, so der Subtext, kann bei Frauen nur Kompensation der unerfüllten eigentlichen Bestimmung als Frau und Mutter sein. Diese Position ordnet Gina Kaus in ihrem Roman Die Schwestern Kleh nur der alten Kinderfrau Eula zu: Die „kleine Frau Doktor Bloem“ hat ein zweifaches Doktorat, ist klug und beständig in mehrere Affären verstrickt und nach einem vom Ehemann erzwungenen Eingriff unfruchtbar. „Ich verstehe nichts von Psychologie“, so Eula, „aber für mich steht es fest, daß [...] ihre Unersättlichkeit an Wissen und ihre Unersättlichkeit an Abenteuern mit jenem körperlichen Gebrechen zusammenhing.“ (Kaus 1989, 197) Auch in Grete von Urbanitzkys Eine Frau erlebt die Welt (1932) muss die Studentin Mara Unglaubliches leisten, damit sie anerkannt wird. Es ist schier unvorstellbar, wie sie in allen Dingen Meisterschaft erreicht. Urbanitzky mag Maras Genialität und Fleiß etwas überzeichnet haben, aber die Tendenz stimmt,

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Trotz dieser frauenfeindlichen Implikationen ist Krankheit der Jugend nach wie vor ein beliebtes Stück für Schauspielschulen, schließlich ist es ein Kammerspiel mit jungen, gebildeten Figuren wie den Schauspielstudentinnen und -studenten selbst; Michael Haneke inszenierte es 2008 am Schülertheater und unter seiner Projektleitung entstand daraus ein Film.

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was Männer wie Georg von der Vring nicht ohne Unbehagen registrierten: „Die Frau tritt auf der ganzen Linie in die Offensive. Sie wird Lehrerin, Sekretärin, Rekordmännin, Künstlerin und Hochstaplerin. Und es geht wirklich. Sie bringt Beweise.“ (Huebner 1929, 42)

9. D UBIOSE N ISCHEN

UND SCHLECHTES I MAGE

„Der Film beginnt einen beispiellosen Siegeszug und du könntest doch Filmstar werden – – mußt nichts reden, nur aussehen.“ (Horváth 1987b, 125) Dieser Vorschlag steht unter der Szenenüberschrift Im Taumel der Inflation in den Vorarbeiten zu Don Juan kommt aus dem Krieg, als sich die Filmindustrie zur Zukunftsbranche entwickelte, auch im rein wirtschaftlichen Sinn. Großfilmproduktionen wie Fritz Langs Metropolis (1927) mit mehr als 36.000 Komparsen weckten die Hoffnung auf Arbeit beim Film, die zum Standardrepertoire der Arbeitslosenromane der Zeit gehört, ebenso wie die Tristesse in den unzähligen Casting-Büros, wo sich Hunderte drängen, um als Statistinnen und Statisten engagiert oder gar als Star entdeckt zu werden. Aber: „Auch die Maria Muttergottes hätte eben Protektion gehabt genau wie die Henny Porten, Lya de Putti, Dolores del Rio und Carmen Cartellieri. ‚Wenn man keine Protektion nicht hat, indem, daß man keinen Regisseur nicht kennt, da wirst halt nicht auserwählt‘“, so Agnes in Horváths Romanfragment Sechsunddreißig Stunden (Horváth 1987a, 37). Protektion aber war für Arbeit suchende junge Frauen oft erotisch vermittelt. Eine Sozialrolle, bei der die Grenze zwischen Berufstätigkeit und Privatsphäre verwischt, ist die Zimmerwirtin. Die Romanwelten der 1920er Jahre sind voll von Fallbeispielen, die zeigen, wie dabei die Intimsphären durchlässig werden. Eine besonders prekäre Sozialrolle ist die junge Untermieterin, über der immer der Verdacht eines liederlichen Lebens schwebt. Zimmerwirtinnen wiederum sind oft Kriegswitwen und werden nicht nur als geldgierig dargestellt, sondern auch als erotisch aktiv. Wenn in Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald Valerie zu Erich sagt: „Ich hätt ein möbliertes Zimmer“ (Horváth 1986, 134), dann ist das eine eindeutige Ansage, die eine Affäre eröffnet und erotische Intentionen sexuell unterforderter Zimmervermieterinnen als gegeben nimmt. Auch sozialkritische Literatur gälte es einmal einer gendergemäßen Relektüre zu unterziehen. In Hermann Brochs Erzählung Verlorener Sohn (1933) mietet sich der adrette junge A. bei einer verwitweten Baronin ein. Alles gefällt ihm hier, nur die nicht mehr ganz junge Haustochter Hildegard signalisiert heftige Ablehnung, was A. als Unwillen gegen sein Eindringen in die Intimität der Familie interpretiert. Später erklärt ihm Hildegard, die Baronin suche einen Mann für sie und würde nur deshalb untervermieten. Dass sie auf diesem Weg noch unter die Haube gebracht werden soll, scheint Hildegard weniger ehrenrührig als die ökonomische Notlage. Den realen Hintergrund bilden die demografischen Folgen des Weltkrieges ebenso wie die „Versachlichung“

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der Geschlechterbeziehung, die es weniger peinlich macht, darüber zu sprechen als über den sozialen Abstieg der Familie. Berufsoptionen für Frauen waren in den krisengeschüttelten 1920er Jahren rar. In Felix Dörmanns Roman Jazz macht Marianne nach dem Tod des Vaters Inventur ihrer beruflichen Möglichkeiten. „Der Gedanke, von früh bis abends über eine Schreibmaschine gebeugt zu sitzen, war ihr grauenhaft. Dazu fühlte sie sich nicht geeignet. Also zu Kindern! […] Zu irgend einem Schieber oder Kriegsgewinner. Denn wer sonst könnte sich ein Kinderfräulein leisten! […] Zeugnisse hatte sie auch keine! Also zur Konfektion? Verkäuferin oder Probierfräulein!“ (Dörmann 1925, 13)

Während Marianne dann eine Versorgungsehe mit einem Kriegsschieber eingeht, bewirbt sich Irene in Georg Fröschels Roman Weib in Flammen (1925) tatsächlich als Probierfräulein in einem Modehaus, was ihr Freund zu verhindern sucht, denn bei ökonomisch unabhängigen Frauen ist mit gestiegenem Selbstvertrauen zu rechnen. „Eine Geliebte mit Beruf unterhöhlt auf die Dauer bekanntlich jede Liebesverbindung, sogar die Ehe!“, sagt der Hierlinger Ferdinand in Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald (Horváth 1986, 151). In Georg Fröschels Roman Der Schlüssel zur Macht (1919) gibt Edgar seiner Geliebten, der Telefonistin Olga, den Laufpass und schlägt ein letztes Treffen vor, was Olga, mit Verweis auf Schnitzlers Anatol, entschieden ablehnt: „Nein, mein Lieber […]. Ich kenne diese gemütlichen Abschiedssoupers. […] Es tut mir leid, ich muß dich um deine gemütliche Rührung bringen, ich brauche keine Gefühlskomödie, darüber bin ich hinaus. Leb’ wohl, ich muß um drei Uhr in meinem Amt sein.“ (Fröschel 1919, 31f.) Es sind ihre Unabhängigkeit und das „Amt“, aus denen Olga ihre Autorität bezieht. Für junge Frauen aus bürgerlichen Familien war primär kaufmännische Tätigkeit eine „sozial noch tolerierbare Erwerbsarbeit“ (Koch 1993, 164f.), was sofort biologistisch erklärt wurde. „Daß den [Büro-]Maschinen so gern Mädchen vorgesetzt werden, rührt unter anderem von der angeborenen Fingergeschicklichkeit der jungen Dinger her [...]. Als es dem Mittelstand noch besser ging, fingerten manche Mädchen, die jetzt lochen, auf häuslichen Pianos Etüden“, schrieb Siegfried Kracauer (1971, 29) im Jahr 1930 in seiner Artikelserie Die Angestellten. Der Beginn weiblicher Berufstätigkeit im bürgerlichen Milieu aber findet im Lazarett statt, auch wenn sich mit Kriegsende der Bedarf in diesem Sektor abrupt reduzierte. „Aber was hat man gelernt? Nichts. Kranke pflegen – nun ja. Es gibt zweihunderttausend Krankenpflegerinnen nach dem Krieg“, resümiert Mirjam in Robert Neumanns Roman Sintflut (1929, 167) nach ihrer langen vergeblichen Arbeitssuche. Trotzdem blieb das Bild des beruflichen Einstiegs der bürgerlichen Frau über den Pflegedienst in den Lazaretten den konservativen Kritikern ein – von ihnen mit dem Krieg selbst ins Leben gerufener – Dorn im Auge. Karl

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Paumgartten unterscheidet in seinem Roman Repablick (1924), einem Pamphlet über den Sittenverfall nach 1918, zwischen den wenigen „anständigen“ jungen Frauen, „mit dem Willen zur ernsten Arbeit“ und heruntergekommenem Outfit, und dem Gros der „unaufhörlich reizenden“ Mädchentype, die einen reichen Freund sucht und von einem zum anderen weitergereicht wird, wie Pipsi. Sie kann weder Stenografie noch Maschinenschreiben, aber sie war Schwester beim Roten Kreuz, und sie ist eben „aufreizend“: „Irgendwas wird sie schon können. Stellen Sie die hübsche Kleine nur erst an“ (Paumgartten 1924, 132), wird dem Unternehmer geraten. Der schlechte Ruf der berufstätigen jungen Frau ist nicht auf den Männerblick von rechts außen beschränkt, Musil handelt ihn in seiner Novelle Tonka (1924) ab. Die schweigsame, dem Erzähler aus gutem Haus ergebene junge Frau namens Tonka arbeitet in einem Tuchgeschäft, und zwar von sieben Uhr morgens bis halb zehn abends; „[E]s war ein großes Geschäft, das viele Mädchen für seine Lager angestellt hatte. [...] Aber dann waren da die Söhne des Tuchherrn, und der eine trug einen Schnurrbart wie ein Eichhörnchen, der an den Enden aufgekräuselt war, und stets Lackschuhe“ (Musil 2002b, 49), also der klassische Verführer. „Gott, jeder Mensch weiß, dieses Geschäft“, denkt seine Mutter, die Berufstätigkeit junger Frauen prinzipiell für anrüchig hält; noch Ende des 19. Jahrhunderts galt, dass „eine Dame, die ins Geschäft geht, [...] keine Dame mehr ist“ (Gold 1993, 28). Tonka, so der Erzähler, ist ihm treu ergeben; als er sie kennenlernte, war sie noch unberührt, auch wenn es da „physiologische Zweideutigkeiten“ (Musil 2002b, 50) geben mag, doch Musil ordnet ihr prompt eine Geschlechtskrankheit zu, die, so behauptet der Erzähler, nicht von ihm komme. Da Musil Tonkas Schweigen nicht bricht, bleibt der Fall ungeklärt. Was Arbeitssituationen betrifft, fallen in der Literatur der Zeit die vielen Hotelromane auf – sie spiegeln die Wohnsituation der vom Zusammenbruch der Monarchie dislozierten (Klein-)Adeligen und Großgrundbesitzer der Kronländer wider, und sie ermöglichen ein Gesellschaftspanorama im Zusammenspiel von Hotelgästen und Personal. Am berühmtesten ist Vicki Baums Menschen im Hotel. Ein Kolportageroman mit Hintergründen (1929), so der Untertitel der Erstausgabe, der aus Vermarktungsgründen dann weggelassen wurde. Der Roman fächert die Probleme und Befindlichkeiten aller am Hotelgeschehen Beteiligten auf, vom Barmusiker bis zum Hochstapler und Perlendieb, samt Portier, Pagen, Stubenmädchen und der Stundensekretärin mit fließender Grenze zur Kurzzeitgeliebten reicher Herren. Das ist ein Reflex auf die prekäre Situation junger Frauen am Arbeitsmarkt, wo schon für den Job eines Liftboys ein Geschlechtswechsel samt Gesetzesbruch (Diebstahl der Papiere eines verunglückten jungen Mannes) notwendig ist, wie das die junge Friedel in Maria Peteanis Roman Der Page vom Dalmasse-Hotel (1933) inszeniert. Auch dieser Roman beschreibt sehr konkret die Arbeitsbedingungen im Hotel, Friedel aber wird dann von einem älteren Gutsbesitzer geheiratet. Das ist einer der vielen trivialen Schlüsse, in denen die Zeitromane der 1920er Jahre münden. Versorgungsheirat war kaum eine

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realistische Option, häufiger wurde die Grenze zur Prostitution durchlässig. Wo die Akteurinnen dieser Versuchung widerstehen, so Bettauer in seinem Erzählband Der Tod einer Grete (1926), ergibt das meist nur: „Die Alltagsgeschichte des anständigen Mädchens, das arm ist, für andere sorgen muß, treppauf und treppab rennt, um Geld zu verdienen, und abends, wenn es halbtot vor Müdigkeit ins Bett sinkt, nichts, aber auch gar nichts hat als das Bewußtsein der Tugend und die Erinnerung an schöne Tage, da diese Tugend bestürmt und siegreich verteidigt wurde.“ (Bettauer 1926b, 43)

L ITERATUR Bettauer, Hugo 1926a: Die drei Ehestunden der Elizabeth Lehndorff. Roman. Wien/Leipzig. Bettauer, Hugo 1926b: Der Tod einer Grete und andere Novellen. Wien. Bettauer, Hugo 1980: Das entfesselte Wien. Ein Roman von heute. Salzburg. Broch, Hermann 1981: Verlorener Sohn. In: ders.: Die Schuldlosen. Roman in elf Erzählungen. Frankfurt am Main, 50–83. Brod, Max 1933: Die Frau die nicht enttäuscht. Roman. Amsterdam. Bruckner, Ferdinand 1928: Krankheit der Jugend. Schauspiel in drei Akten. Berlin. Dörmann, Felix 1925: Jazz. Wiener Roman. Wien/Prag/Leipzig. Fröschel, Georg 1919: Der Schlüssel zur Macht. Roman. Berlin (= Die gelben Ullstein-Bücher). Fröschel, Georg 1925: Weib in Flammen. Der Roman eines Tages. Berlin. Gold, Helmut 1993: „Fräulein vom Amt“ – Eine Einführung zum Thema. In: Helmut Gold/Annette Koch (Hg.): Das Fräulein vom Amt. München, 10–36. Grossmann, Atina 1993: Eine „neue Frau“ im Deutschland der Weimarer Republik? In: Helmut Gold/Annette Koch (Hg.): Das Fräulein vom Amt. München, 136–162. Horváth, Ödön von 1986: Geschichten aus dem Wiener Wald. Frankfurt am Main (= Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden, Bd. 4). Horváth, Ödön von 1987a: Der ewige Spießer. Frankfurt am Main (= Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden, Bd. 12). Horváth, Ödön von 1987b: Don Juan kommt aus dem Krieg. Frankfurt am Main (= Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden, Bd. 9). Huebner, Friedrich M. (Hg.) 1929: Die Frau von Morgen wie wir sie wünschen. Leipzig. Jacob, Heinrich Eduard 1929: Haarschnitt ist noch nicht Freiheit. In: Friedrich M. Huebner (Hg.): Die Frau von Morgen wie wir sie wünschen. Leipzig, 127–134.

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Kaus, Gina 1989: Die Schwestern Kleh. Roman. Nachwort: Sibylle MulotDéri. Frankfurt am Main/Berlin. Koch, Annette 1993: Die weiblichen Angestellten in der Weimarer Republik. In: Helmut Gold/Annette Koch (Hg.): Das Fräulein vom Amt. München, 163–175. Koenig, Alma Johanna 1932: Leidenschaft in Algier. Roman. Wien. Kracauer, Siegfried 1971: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt am Main. Kreutz, Rudolf Jeremias 1919: Der vereitelte Weltuntergang. Satiren und Skizzen. Wien/Warnsdorf/Leipzig. Lernet-Holenia, Alexander 1929: Die Frau aller Zeiten. In: Friedrich M. Huebner (Hg.): Die Frau von Morgen wie wir sie wünschen. Leipzig, 103–108. Lethen, Helmut 1994: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main. Musil, Robert 1929: Die Frau gestern und morgen. In: Friedrich M. Huebner (Hg.): Die Frau von Morgen wie wir sie wünschen. Leipzig, 91–102. Musil, Robert 2002a: Die Schwärmer. Schauspiel. Reinbek bei Hamburg. Musil, Robert 2002b: Tonka. In: ders.: Drei Frauen. Novellen. Berlin, 46– 86. Neumann, Robert 1929: Sintflut. Roman. Stuttgart. Paumgartten, Karl 1924: Repablick. Eine galgenfröhliche Wiener Legende aus der Zeit der gelben Pest und des roten Todes. Graz/Leipzig. Peteani, Maria 1929: Frauen im Sturm. Roman. Leipzig. Salten, Felix 1927: Martin Overbeck. Der Roman eines reichen jungen Mannes. Berlin/Wien/Leipzig. Spiel, Hilde 1933: Kati auf der Brücke. Roman. Berlin/Wien/Leipzig. Stockreiter, Karl 2000: Der Vatermord und seine Folgen. Die Konstruktion des traumatischen Kulturursprungs in Freuds „Totem und Tabu“. In: Inka Mülder-Bach (Hg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges. Wien, 19–36. Werfel, Franz 1920: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Novelle. München.

Staat und Familie − ein zerrüttetes Verhältnis? Familiennarrative als Erschütterungen konservativer Staatskonzeption M ARION L ÖFFLER

1. E INLEITUNG : Z UM V ERHÄLTNIS

VON

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Familie wird typischerweise in konservativen, manchmal auch in liberalen Staatsentwürfen als Legitimationsfigur – meist für monarchische Herrschaft – herangezogen. Sie wird in Staatstheorien aber auch als Gegenbild zu staatlicher Herrschaft entworfen, als Inbegriff des Privaten und Intimen, als staatsfreier Raum. Im Bereich der Herrschaftslegitimation hat sich das Verhältnis von Staat und Familie in der Geschichte politischer Ideen schon öfter verändert – dem Wandel der staatlichen Gebilde und den entsprechenden Legitimationsbedürfnissen folgend: Analogisierung, Entgegensetzung und Hierarchisierung wechseln einander ab. Doch nicht nur die politischen Gebilde, die mit Bezugnahme auf Familie legitimiert werden sollen, verändern sich historisch, sondern auch das, was je als Familie gelten soll. In den meisten modernen Gesellschaften hat sich ein Verständnis von Kernfamilie bestehend aus einem heterosexuellen Elternpaar mit EigenFleisch-und-Blut-Kindern, die in einem gemeinsamen Haushalt leben, als Norm durchgesetzt. Doch diese „Normalfamilie“ ist alles andere als eine natürliche Einheit. Sie verdankt ihre Realität individueller, kollektiver und nicht zuletzt staatlicher „Setzungsarbeit“ – sie ist das „Produkt einer langen rechtlich-politischen Konstruktionsarbeit“ (Bourdieu 1998/1985, 136). So gesehen ist die Familie eine „private Realität öffentlicher Herkunft“ (ebd.), die deshalb als natürlich erscheint, weil sie als mentale Struktur in die Körper und Köpfe, in den Habitus eingeschrieben ist. Die „Normfamilie“ ist die staatliche Setzung des Privaten.

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Neben dieser Normfamilie gibt es aber eine Vielzahl alternativer familialer Lebensformen, die in politischen Theorien keine Berücksichtigung finden. Familie fungiert in staatstheoretischen Entwürfen als „natürliche“ soziale Ordnungskategorie. Sie bildet eine gesellschaftliche Grundlage, die als solche nicht Gegenstand, sondern Voraussetzung einer sozialwissenschaftlich fundierten Staatstheorie ist. Bezugnahmen auf Familie setzen ein Familienverständnis voraus, das als Common Sense vermittelt wird, was bei näherer Betrachtung meist ein patriarchales Familienmodell meint (vgl. Kreisky/Löffler 2003, 376). D.h. Familie definiert sich nicht nur als heterosexuelles Paar mit eigenen Kindern, sondern darüber hinaus als ein hierarchischer Mikrokosmos, in dem der Mann über der Frau und die Eltern über den Kindern stehen. Erst diese Innenstrukturierung der Familie macht sie als soziale Ordnungskategorie und als „Maß für die Stabilität der politischen Ordnung“ (ebd.) tauglich. Politische Ordnung und die Ordnung der Familie hängen in konservativem Denken eng zusammen, weshalb in politischen Krisenzeiten meist auch Familienideologien auf den Plan treten. Die Erste Republik in Österreich wird vielfach als eine solche Krisenzeit beschrieben. Dieser Beitrag widmet sich einigen staatstheoretischen Bearbeitungen der Bedrohungen durch Modernisierung, in denen Familie zur Krisenbewältigung in Dienst genommen wurde. Zunächst wird das Bedrohungspotenzial umrissen, das Modernisierung als eine Kraft ausweist, die Carl Schorske (1982, XI) „Zersplitterung“ nennt. Diese hinterließ bei vielen ein Gefühl der Zerrissenheit und eine Sehnsucht nach „Ganzheit“. Othmar Spann entwickelte eine Ganzheitslehre, die ich im dritten Abschnitt vorrangig als Modernisierungskritik interpretiere. Die Analyse seines Wahren Staates ist an der Frage nach der Stellung der Familie in seinem Staats- und Gesellschaftsentwurf orientiert. Dabei wird deutlich, dass er ein patriarchales Familienmodell als Common Sense voraussetzt, eine genauere Erörterung familialer Verhältnisse aber unterlässt. Familie erscheint als Narrativ, das im konservativen Staatsdenken nicht mehr erzählt zu werden braucht. Dennoch soll sie die Probleme der Modernisierung lösen. In Erich Voegelins Konzeption der Ganzheitslehre können die spezifischen Leistungen, die Voegelin von Familie erwartet, deutlicher benannt werden. Doch auch er erzählt Familie nicht, und lässt daher seine Leserinnen und Leser im Unklaren darüber, welches Familienmodell ihm vorschwebt. Diese Lücke zu füllen, bleibt dem Publikum überlassen, das dem unterlegten Common Sense folgend wohl ein traditionelles Modell imaginieren soll. Doch wie verändert sich die staatstragende Rolle der Familie, wenn andere Erzählungen von Familie an dessen Stelle gesetzt werden? Anhand einiger literarischer Beiträge von Robert Musil, Joseph Roth und Veza Canetti kann aufgezeigt werden, dass zur Zeit der Ersten Republik sehr unterschiedliche Narrative von Familien denkbar waren und auch erzählt wurden. Diese Variationen von Familie, die sich den theoretischen Annahmen widersetzen, erschüttern die staatstheoretischen Konstruktionen von Spann und Voegelin. Sie ermög-

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lichen es, die konservative Familienillusion als Ideologie zu dechiffrieren und die Einlösung des Ganzheitsversprechens in Zweifel zu ziehen.

2. Z ERSPLITTERTE M ODERNE

IN

Ö STERREICH

Die Moderne ist in Österreich schon um 1900 – dem Fin de Siècle – angekommen (vgl. Schorske 1982). Dennoch bedeutet die Gründung der Republik 1918 einen gewaltigen Modernisierungsschub – vor allem in politischer Hinsicht: Demokratie und Frauenwahlrecht waren begleitet von gesellschaftlichen Modernisierungen, die das Verhältnis der Geschlechter nicht unberührt ließen. Insbesondere die steigende Zahl berufstätiger Frauen war für konservativ eingestellte Zeitgenossen (auch -genossinnen) ein Alarmsignal. Die Familie sei in Gefahr, von bolschewikischen Familienfeinden aufgelöst zu werden, womit die Grundfeste der gesellschaftlichen Ordnung und damit der Staat bedroht seien (vgl. Orel 1921, 24). Eine Grunderfahrung der Moderne beschreibt Schorske folgendermaßen. „Was wie eine allgemeine Zersplitterung aussah [...], drängte die Kultur in Europa in einen Strudel unablässiger Erneuerung, wobei jedes Feld Unabhängigkeit vom Ganzen verkündete und selbst noch in Teile zerfiel.“ (Schorske 1982, XI) Wissenschaften werden in Einzeldisziplinen, Richtungen und Schulen zerlegt, das Kunstschaffen zerfällt ebenfalls in Schulen, Strömungen und Richtungen, Politik in widerstreitende Parteien, die ohne Rücksicht auf das Allgemeine, auf das „Gemeinwohl“, ihre besonderen Interessen durchsetzen wollen. Übersetzt in eine systemtheoretische Sprache findet ein Prozess der funktionalen Differenzierung statt (Luhmann 1999). Das Gesamtsystem Gesellschaft wird in Subsysteme zergliedert, die sich immer stärker voneinander abschließen. Klaus von Beyme (2000) weist darauf hin, dass dieser Prozess vor der Familie Halt macht. Selbst Niklas Luhmann konzipiert Familie nicht als gesellschaftliches Subsystem. Sie erscheint vielmehr als Restgröße, die übrig bleibt, wenn alle funktionalen Bestimmungen abgezogen werden. So wird die Familie zu einer Projektionsfolie für alle erdenklichen Wünsche und Sehnsüchte, die die auf ihre spezifische Funktionalität ausgerichteten gesellschaftlichen Subsysteme nicht erfüllen. Spätestens mit der Gründung der Republik ist nun auch der Staat von funktionaler Differenzierung und Zersplitterung erfasst. Die Habsburgermonarchie ist in Einzelteile „zerfallen“. Vor allem konservative Denker und Politiker empfanden die politische Zersplitterung als Bedrohung: Die Gesellschaft sei in Klassen geteilt, die vom demokratischen Staat nicht in eine Einheit gezwungen wurden, und daher drohten, die Gesellschaft aufzulösen. Demokratie, Frauenemanzipation, Kommunismus und im Zweifelsfall die Juden wurden als die Kräfte identifiziert, die dieses Werk der Zerstörung vorantreiben. Doch – anders etwa als in Sonntagsreden christlich-sozialer Politiker – hat die Familie ihren fixen Platz im konservativen Staatsdenken

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eingebüßt. Die Familie gilt analog zu liberalen Vorstellungen als Schutzraum der Intimität und Privatheit, in den die Staatsgewalt nicht substanziell intervenieren darf.1 Sie ist ein vorpolitischer und daher nichtstaatlicher Raum. Die Familie muss aber vor einer drohenden sozialistischen bzw. bolschewistischen Auflösung bewahrt werden. Sie bildet das imaginierte Gegengewicht zur emotionalen Kälte, die die Systemwelt geschaffen hat. Ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz erlangt sie als primäre Sozialisationsinstanz. Für Othmar Spann (1972/1922, 343) ist die Familie daher notwendig, denn selbst „der beste Lehrer“ könne „jene einzige, einmalige, unersetzliche und unauslöschliche Liebe und zarte Gesinnung […], welche die Mutter ihren Kindern entgegenbringt“ nicht ersetzen. Spanns ideologisiertes Familienbild wird deutlich, wenn er schreibt: „Staatliche Anstaltserziehung bedeutet notwendig das Losreißen des Kindes aus dem persönlichen Verbande der Eltern, Geschwister, Verwandten und Freunde, aus dem Verbande der Innigkeit, der bewußten und unbewußten, organisch gewachsenen Zugehörigkeit, die das Urbild aller späteren inneren Zugehörigkeit und seelischen Verbindung zu sein bestimmt ist.“ (Ebd.)

3. G ANZHEITSLEHRE ALS K RITIK AN DER M ODERNISIERUNG In der staatstheoretischen Diskussion wurden von konservativer Seite die Schule des Rechtspositivismus, ihr prominentester Vertreter, Hans Kelsen, und die von ihm maßgeblich geprägte Verfassung von 1920 für die Zerrissenheit der Gesellschaft verantwortlich gemacht. Othmar Spanns Wahrer Staat aus dem Jahr 1922 war ein Versuch, Einheit und Ganzheit wiederherzustellen. In seinem Entwurf einer berufsständischen Ordnung ist die Gesellschaft ein Organismus, dessen Teile hierarchisch geordnet sind. Sie stehen in funktionaler Abhängigkeit zueinander, sind aber geistig miteinander verbunden, und dienen in letzter Konsequenz dem Erhalt des Ganzen, dem sie ihr Sein verdanken. Demokratie birgt die Gefahr des Individualismus, der das Ganze auseinanderreißt. Ein Führer hingegen hat „nicht mehr den ‚Willen der Wähler‘, den ‚Willen der Einzelnen‘ zu vollstrecken; sondern er hat zu erforschen, was die Lebenserfordernisse der Ganzheit verlangen. Er hat das Überindividuelle zu erforschen und zu vollstrecken!“ (Spann 1933, 357) Ordnung ist für Spann ein System essenzieller Ungleichheit. Obwohl er das nicht direkt anspricht, ist im Denken essenzieller Ungleichheiten zugleich immer eine Geschlechterordnung mitgedacht. Die Familie stellt das Urbild aller sozialen Verhältnisse dar, sie ist ein Geflecht aus ungleichen 1

Sozialpolitische Zuwendungen, die der Absicherung der Familie dienen, sind im konservativen Denken erwünscht.

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Beziehungen zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen älteren und jüngeren Geschwistern. Geschlecht, Generation und Altersabstufungen sind Strukturprinzipien der Familie, die soziale Ungleichheit erzeugen und voraussetzen. Familie nimmt somit eine wichtige Ordnungsfunktion in Spanns Konzeption ein, dennoch befasst er sich kaum mit ihr. Sie erscheint vielmehr als eine Black Box, deren ordnungsstiftende Wirkungen unergründbar bleiben. In Spanns Ausführungen sind Frauen zur Mutterschaft bestimmt. Erst mit Kind wird die Frau von „Mütterlichkeit“ beseelt und transformiert: „Diese Umbildung von der Frau zur Mutter erschafft der Strahl, der von dem Gemüt des Kindes ausgeht und das Gemüt der Mutter zu jener Rührung, zu jener neuen Empfindung bringt, aus der die Seele geändert hervorgeht.“ (Spann 1972/1922, 43) Die Mutter verschwindet in der Black Box Familie, in der sie für das emotionale und seelische Wohlergehen ihrer Kinder sorgt. Sie arbeitet aber zugleich am Erhalt der Kultur mit. Die emotionale Wärme der „Mütterlichkeit“ bereitet sogar die Grundlage der Gesellschaft, weshalb Spann (ebd., 344) „allgemeine Staatserziehung […] als seelen- und kulturmordend und als Zerstörung der Familie“ ablehnt. „In diesem Frost würde jede zarte Blüte sterben.“ (Ebd.) Folgerichtig muss die Familie und mit ihr die Frau und Mutter in Spanns hierarchischer Gesellschaftsordnung an der Basis bleiben. Während Spann vom Ganzen ausgehend die einzelnen Berufsstände konzipiert, und im Führer ein Äquivalent für den platonischen Philosophenkönig sucht, entwirft sein Schüler, Erich Voegelin,2 eine Konzeption des Menschen, der, indem er zum ganzheitlichen Menschsein strebt, eine politische Seinsordnung (Voegelin 1997/1936, 125), d.h. Gesellschaft und Staat, hervorbringt. In seiner philosophischen Anthropologie oder „Realontologie des Menschen“ (Voegelin 1933, 69) wendet er sich gegen jeglichen Versuch, den Menschen oder das Menschsein von einem Teil oder einer Eigenschaft her zu bestimmen. Es gehe nicht an, eine spezifische Differenz zum Tier, zum einzigen Wesensmerkmal des Menschen zu stilisieren. Vielmehr sei der Mensch immer ein Ganzes, gleichermaßen aus Leib, Seele und Geist bestehend. Keiner der Teile für sich definiere das Menschsein. Der Mensch sei aber kein isoliertes Individuum, sondern er sei „weltoffen“. „Er ist unmittelbar verbunden mit dem Weltgrund, und er ist eingebettet in die geistigen Gemeinschaften aller Stufen: der Menschheit, der Nation bis zum Familienkreis

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Voegelin war nicht nur Schüler von Othmar Spann, sondern auch Schüler und wissenschaftlicher Mitarbeiter von Hans Kelsen. Deshalb ist seine Kritik an der rechtspositivistischen Schule, die er 1924 publiziert hat (vgl. Herz 2002), um einiges informierter und sachlicher als die häufig antisemitisch motivierten Attacken gegen Hans Kelsen. In den 1930er Jahren, als sich Voegelin dem Austrofaschismus andiente, kam es zum endgültigen Bruch zwischen beiden. Voegelins Kritik an Kelsens Rechtslehre nähert sich der von Carl Schmitt an.

96 | M ARION LÖFFLER und engen Freundschaftsbünden. Wie die Grunderfahrungen leiblicher Gebundenheit sich historisch entfalten in den Ideen der Familie als Blutsgemeinschaft, der Geschlechterverbände, der Rassen, so entfalten sich die Erfahrungen von der Bestimmtheit des Geistes in den Ideen des persönlichen Dämons, der engeren Gemeinschaften und des Volksgeistes.“ (Ebd., 68)

In den unterschiedlichen Formen der Kritik an der österreichischen Verfassung und am Rechtspositivismus wird regelmäßig ein diffuses Gefühl der Leere zum Ausdruck gebracht. Voegelin vermisst die Substanz im Staatsrecht, Spann spricht von „Entseelung“ (Spann 1972/1922, 343). Die Mängeldiagnose reicht von der Zerstückelung des Ganzen über die fehlende Gemeinschaftsidee bis zur Unmöglichkeit, in diesem Staat die menschliche Einheit von Leib, Seele und Geist zu erreichen. Positivismuskritik ist auch stellvertretend zu lesen als Kritik an Modernisierung. Rationalisierung und arbeitsteilige Massenproduktion zerstückeln die Einheit der Arbeit. Demokratie und Parteien zerreißen die politische Einheit, und nicht zuletzt werden die ersten Erfolge der Emanzipation sichtbar: Frauenerwerbsarbeit, Frauenwahlrecht und die – auch populärkulturell miterzeugte – Figur der „neuen Frau“ (vgl. Flemming 2008) drohen die Familie, die scheinbar letzte Bastion einer heilen Welt, zu zerstören. Spanns Plädoyer, die Zerstörung der Familie unbedingt zu verhindern, obwohl ihr in seinem Staatsentwurf gar kein Platz zukommt, kann nur so gedeutet werden, dass sie im Zweifelsfall die gefühlten Mängel, die die moderne Gesellschaft erzeugt, beheben muss. Familie ist somit nicht nur eine Black Box, sondern auch eine „Wundertüte“, aus der runderneuerte Menschen und gesellschaftliche Problemlösungen gezogen werden.

4. E RZÄHLUNGEN VON F AMILIE In der staatstheoretischen Literatur wird nicht auf die historische Realität von Familien oder auf unterschiedliche soziale Milieus mit ihren familialen Lebensentwürfen Bezug genommen. Stattdessen wird ein Common Sense vorausgesetzt, sodass jeder Leser und jede Leserin die Black Box füllen und emotional ausgestalten kann, je nach Bedarf mit eigenen Familienerfahrungen oder Wunschbildern einer perfekten Familie. Familie ist ein Narrativ, das in staatstheoretischer Literatur scheinbar nicht mehr erzählt zu werden braucht. Fiktionale Literatur hingegen erzählt Familie in endlosen Variationen und füllt die Black Box in vielfältiger Weise, womit sie die vermeintliche Klarheit des Common Sense grundlegend in Frage stellt. Ausgehend von Voegelins Familienidee werde ich im Folgenden einige Erzählungen von Familie aus fiktionaler Literatur heranziehen und der Frage nachgehen, ob das Familiennarrativ für eine Staatskonzeption auch dann noch funktional ist, wenn es anders erzählt wird, als eine konservative Deutung nahelegen würde.

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Eine „Idee“ ist für Voegelin reale Substanz. Sie bildet die Einheit in der räumlichen und zeitlichen Mannigfaltigkeit. Sie ist nicht einfach ein Produkt des Geistes oder ein Hirngespinst, sondern eine leiblich-seelisch-geistige Realität. Für ihn ist die Familie eine Gemeinschaftsidee: „Die Idee einer Gemeinschaft kann sich erfüllen mit Sachgehalten geistiger, seelischer, technisch-praktischer, leiblicher Art oder mit irgendwelchen Kombinationen dieser Teilgehalte, oder mit allen zugleich, oder mit einigen vorwiegend vor anderen. In der Idee einer Familie durchdringen sich leibliche, seelische und wirtschaftspraktische Sachgehalte;“ (Voegelin 1933, 121)

Die Familienidee ist also eine komplexe Idee, die leibliche, seelische und ökonomisch- praktische Elemente aufweist. In Voegelins Logik müsste in der Familie also ein ganzes Menschsein möglich sein. Sie müsste in der leiblichen Dimension Beziehungen körperlicher und sexueller Gegenseitigkeit ermöglichen, in der seelischen emotionale, intime Bindungen zwischen ihren Mitgliedern herstellen und, nicht zu vergessen, in der ökonomischpraktischen einen bestimmten Lebensstandard für alle Familienmitglieder sicherstellen. Als Gemeinschaftsidee ist sie aber nur eine unter anderen. Die Familienidee ist daher in eine „Ideenhierarchie“ (ebd.) einzuordnen. Als primäre und erste Bindung ist sie weit unten angesiedelt und insofern immer nur eine partikulare Idee, die sich in die höheren Ideen – wie Nation und Staat – eingliedern müsste. Insofern ist die Familienidee auch in den höheren Ideen wie dem Staat enthalten und, sollen diese höheren Ideen Substanz haben, so muss das Leben in und als Familie Norm sein. In fiktionaler Literatur wird aber nicht immer die Normalfamilie vorgestellt. Tonkas Familie in Robert Musils gleichnamiger Erzählung aus Drei Frauen lässt alle Kriterien für Normalität missen: „Auch das Haus darf man nicht vergessen. Fünf Fenster hatte es auf die Straße hin […] und ein Hintergebäude, darin Tonka mit ihrer Tante wohnte, die eigentlich ihre viel ältere Base war, und deren kleinen Sohn, der eigentlich ein unehelicher Sohn war, wenn auch aus einem Verhältnis, das sie so ernst genommen hatte wie eine Ehe, und einer Großmutter, die nicht wirklich die Großmutter, sondern deren Schwester war, und früher wohnte noch ein wirklicher Bruder ihrer toten Mutter dort, der aber auch jung starb, das alles in einem Zimmer mit Küche, während vorn die fünf Fenster, vornehm verhängt, nicht weniger verbargen als ein anrüchiges Quartier, wo leichtsinnige Kleinbürgerfrauen, aber auch Gewerbsmäßige mit Männern zusammengebracht wurden.“ (Musil 2008/1924, 47)

Schon räumlich ist diese Familie an einem unfamiliären Ort platziert: in einem Zimmer hinter einem Stundenhotel, das auch noch zum Ehebruch genutzt wird. Käufliche Liebe ist der absolute Gegensatz zur „natürlichen“ Liebe und Emotionalität, wie sie im konservativen Familiendenken angelegt ist. Die hier erzählte Familie macht eher den Eindruck einer ökonomischen

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Notgemeinschaft denn eines Ortes emotionaler Geborgenheit. Zwar ist Verwandtschaft im weitesten Sinn die Grundlage der hier geschilderten Wohngemeinschaft, weshalb sie überhaupt als Familie erkennbar bleibt, doch in dieser „Patchwork-Familie“ gibt es keine liebenden Eltern mit ihren Kindern. Die Mutter ist tot, aber problemlos ersetzbar, so wie jedes Verwandtschaftsverhältnis nicht von Natur aus gegeben erscheint, sondern als beliebig veränderbares Konstrukt: Die Base wird zur Tante und die Großtante zur Großmutter umdefiniert. Auch staatliche Setzungen greifen nicht: Der Trauschein ist irrelevant, der uneheliche Status des Sohnes daher zu vernachlässigen. Als Basis für Gesellschaft und Staat müsste dieses Familienmodell im konservativen Denken scheitern. Ihr fehlt eine klare Binnenhierarchie, die sie in die gesellschaftliche Ordnung eingliedern könnte. Es gibt in Musils Erzählung auch keine Anzeichen dafür, dass Tonka oder ein anderes Mitglied dieser Familie ein ganzes Menschsein lebt. Im Gegenteil: Tonka erscheint in ihrer emotionalen und sprachlichen Ausdrucksfähigkeit extrem reduziert, was auf Mängel dieser Familie als primäre Sozialisationsinstanz hinweisen könnte. Die Frage, wie es mit der Familie als emotionalem Rückzugsort bestellt ist, in dem seelische, aber auch leibliche Bindungen der Gegenseitigkeit bestehen und zum Wohlgefühl ihrer Mitglieder beitragen, ist differenziert zu beantworten. Othmar Spann sorgt sich ausschließlich um die Kinder. In Voegelins Fassung müsste es aber auch der Ehefrau und Mutter gut gehen. Eine scheinbar normale Familie in derselben Erzählung von Musil entspricht diesem Punkt nicht ganz. Denn die Mutter bleibt Zeit ihres Lebens unglücklich, „sie wollte in dem Sohn ihr eigenes Leben verbessern“ (ebd., 59), flüchtet in die Pflege des kranken Ehemannes und steht das doch nur durch, weil sie eine heimliche Affäre hat. Für sie ist die Familie kein Ort emotionaler und sexueller Erfüllung. In Veza Canettis Erzählung Der Oger aus Die gelbe Straße3 ist die Familie nicht einmal ein Ort körperlicher Unversehrtheit. Vom Ehemann ausgehungert, verprügelt und vergewaltigt, hilft letztlich nur die Flucht in den Wahnsinn. Als Herr Iger seine Frau Maja verprügelt, wird das als Scheidungsgrund anerkannt, doch eine Vergewaltigung in der Ehe genügt dem Staat als Beweis für ein intaktes Eheleben vollauf. „Ist es nach dem Streit zu Intimitäten gekommen?“, wird Maja von ihrem Anwalt gefragt. Nachdem sie errötet, folgert er: „Bedaure sehr, gnädige Frau, dann kann ich die Scheidung nicht durchführen.“ (Canetti 2009, 64) Gewalt gegen die Kinder hingegen ist „kein hinreichender Scheidungsgrund. Ein Vater hat Züchtigungsrechte.“ (Ebd., 75) Dabei sollte doch die Familie nicht nur rudimentäre leibliche, seelische und ökonomische Bedürfnisse befriedigen, sondern zudem

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Die gelbe Straße ist der einzige (erhaltene) Roman von Veza Canetti. Er wurde zuerst 1990 publiziert, setzt sich aber aus Erzählungen zusammen, die Canetti 1932 und 1933 in der Wiener Arbeiter-Zeitung veröffentlicht hat (vgl. Göbel 2002).

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die Lücken füllen, die die moderne Gesellschaft aufreißt, indem sie ein ganzes Menschsein ermöglicht. In Grigia – einer weiteren Erzählung aus Drei Frauen von Musil – scheint die Familie die bereits erlangte Ganzheit wieder zu vernichten. Homo, dessen kranker Sohn einen langen Kuraufenthalt bräuchte, kann sich nicht überwinden, den Sohn zu begleiten. Statt mit ihm die Kur anzutreten, nimmt er eine Stelle in Oberitalien an: „Es kam ihm vor, als würde er dadurch zu lange von sich getrennt, von seinen Büchern, Plänen und seinem Leben. Er empfand seinen Widerstand als eine große Selbstsucht, es war aber vielleicht eher eine Selbstauflösung, denn er war zuvor nie auch nur einen Tag lang von seiner Frau geschieden gewesen; er hatte sie sehr geliebt und liebte sie noch sehr, aber diese Liebe war durch das Kind trennbar geworden, wie ein Stein, in den Wasser gesickert ist, das ihn immer weiter auseinander treibt.“ (Musil 2008/1924, 5)

Homos Leben – sein Menschsein im Sinne von Ganzsein – ist hier definiert durch seine Arbeit (seine Bücher und Pläne) und die Beziehung zu seiner Frau. Das Hinzukommen des Kindes, womit aus der Paarbeziehung eine Familie wird, treibt einen Keil in diese Ganzheit. Es macht die Beziehung zwischen Mann und Frau trennbar. Für Homo ist es das geringere Übel, beruflich ins Ausland zu gehen und sich von seiner Frau zu trennen, als den Sohn zu begleiten und damit auch noch von seiner Arbeit getrennt zu werden. Beide zu verlieren (Frau und Arbeit) wäre einer Selbstauflösung gleichgekommen. Die Stellung, die die Arbeit hier einnimmt, kann als die Lücke interpretiert werden, die Voegelins Familienidee immer schon lässt, weil die Familie keine geistigen Elemente aufweist. Die intellektuelle Verarmung, die Familie dann auch bedeutet, ist für Frauen aber schwerer abzuwenden als für Männer. Die sogenannte „neue Frau“ der 1920er Jahre ist vor allem die berufstätige mittelständische Frau. Mit der Heirat ist es damit aber für die meisten Frauen vorbei. Ein Beispiel einer „neuen Frau“ ist Erna aus Joseph Roths Zipper und sein Vater (1928). Sie ist eine karrierebewusste Schauspielerin, die noch vor ihrem ersten Engagement Arnold Zipper heiratet. Als Arnold seinem Vater von seiner Liebe erzählt, die zur Schauspielschule geht, unterstellt der Vater selbstverständlich: „Da könnt ihr aber doch gar nicht heiraten?“ (Roth 2003/1928, 69) Arnold kontert lediglich, dass das ja nicht sein müsse. Als sie aber dennoch heiraten und Erna trotzdem ihre Karriere startet, setzt sie die Selbstverständlichkeit einer unverheirateten Schauspielerin außer Kraft. Erna kann also durchaus vergleichbar mit Homo ein ganzes Menschsein leben – Familie und Beruf. Sie bleibt aber eine negativ gezeichnete Figur, was zunächst durch die Erzählperspektive bestimmt ist. Denn diese entspricht der Sicht von Arnolds Freund, der Erna von Anfang an verdächtigt, Arnold nur auszunutzen. Tatsächlich entpuppt sich die Beziehung als Zweckehe, als Ernas Strategie, ihre lesbischen Neigungen leben

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zu können. Arnold akzeptiert das. Seine Krise setzt erst ein, als Erna sich in der Öffentlichkeit mit einem männlichen Schauspielerkollegen zeigt: „Wenn sie ihre Launen mit den Mädchen hat, das ist selbstverständlich. Aber wo soll das hinführen, wenn sie sich einmal mit einem Mann eingelassen hat? In aller Augen ist sie jetzt eine leichte Beute.“ (Ebd., 88f.) Ernas Ganzsein umfasst also auch eine sexuelle Dimension, die sie gerade nicht in Ehe und Familie verwirklichen kann. Doch nur diese verschafft ihr den nötigen Schutz ihrer Privatheit, Schutz vor sexuellen Übergriffen und letztlich wohl auch vor der „Sittenpolizei“. Voegelins Familienidee inkludiert die Möglichkeit, dass jede Familie eine eigene gemeinschaftsstiftende Familienidee haben kann. Abgesehen von seinem Substanzbegriff, kommt diese Vorstellung Bourdieus (1998/1985) Familiensinn recht nahe. Demnach wird in der Familie auch symbolisches Kapital wie beispielsweise der Familienname akkumuliert, verwaltet und vererbt. In der Familie formiert sich aber auch ein schicht- und geschlechtsspezifischer Habitus. Die beiden Familien in Musils Erzählung Tonka sind sozial verschieden – dies nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch was ihr symbolisches Kapital betrifft. In diesem Fall besteht das symbolische Kapital in der Fähigkeit, mit Sprache umgehen zu können. „Seine Verwandten sprachen lebhaft durcheinander und er bemerkte, wie gut sie damit ihren Nutzen wahrten. Sie sprachen nicht schön, aber flink, hatten Mut zu ihrem Schwall, und es bekam schließlich jeder, was er wollte. Redenkönnen war nicht ein Mittel der Gedanken, sondern ein Kapital, ein imponierender Schmuck; [...] Wie stumm war Tonka! Sie konnte weder sprechen noch weinen.“ (Musil 2008/1924, 57)

Tonka, die über kein derartiges symbolisches Kapital verfügt, stirbt am Ende der Erzählung, obwohl sie abgöttisch geliebt wird. Es lässt sich vermuten, dass es gerade ihre Sprachlosigkeit ist, die zu ihrem Tod führt. In Geduld bringt Rosen, einer weiteren Erzählung von Veza Canetti, treffen zwei sozial konträre Familien aufeinander. Familie Prokop ist eine ehemalige Fabrikantenfamilie aus Russland, die in Wien versucht, ihren Lebensstandard zu wahren. Familienziel ist es, in Wien wieder in die gesellschaftlichen Kreise zu kommen, die man in Russland hatte verlassen müssen. Im gleichen Haus – d.h. in Zimmer, Küche und Kabinett des Hinterhauses – wohnt Familie Mäusle, eine echte Normalfamilie: Vater, Mutter und zwei Kinder. Herr Mäusle ist Kassenbote, seine Frau versorgt Haushalt und Kinder – eine Tochter und einen behinderten Sohn. Die Tochter wird als hässlich beschrieben: „Es schien, dass sich alle Häßlichkeit auf Steffi kapriziert hatte.“ (Canetti 2010, 15) Sie genießt dennoch die Bewunderung ihrer Eltern, weil sie ihnen im Vergleich zum behinderten Sohn als Wunder erscheinen musste. Die Mäusles sind bescheiden und finden mit den 30 Schilling Lohn des Kassenboten ihr Auskommen, weil sie das Kabinett vermietet haben.

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„[D]as Ehepaar begnügte sich. Es begnügte sich, weil niemand sich fand, um sie aufzuklären: dass das Schicksal es nicht leiden kann, wenn man sich begnügt. Es nimmt und nimmt bis zum letzten Faden des Begnügsamen, bis nichts mehr zu nehmen ist. Dann gibt es Ruh. Die Anspruchsvollen aber beginnen den Kampf, und je skrupelloser ihre Mittel, umso stärker sind sie.“ (Ebd., 16)

Dies ist nicht einfach die Vorwegnahme der Ereignisse, die letztlich zur Auslöschung der Familie Mäusle führen. Denn Sichbegnügen ist nicht der Grund für den Untergang der Mäusles, sondern naive Aufrichtigkeit. Diese wird von der nüchternen Erzählinstanz als „Dummheit“ (ebd., 17) betitelt. In der Logik der Erzählung ist es diese offensichtliche Dummheit, die alle dazu verleitet, ihre eigenen Vorteile zu lukrieren, indem sie den Mäusles das vorenthalten, was ihnen zustehen würde. Bobby Prokop, der Sohn der Familie Prokop, will selbst keine Botengänge durchführen, weil er das als nicht standesgemäß empfindet, und gibt Mäusle ein Trinkgeld dafür. Als er Spielschulden hat, zwingt er Mäusle, ihm Geld zu leihen – nämlich das Botengeld, das dieser als Kassenbote verwahrt. Nachdem Bobby das Geld nicht rechtzeitig zurückgibt, wird Mäusle des Diebstahls bezichtigt und verliert seine Stellung. Bobby ermutigt ihn, sich eine andere, besser bezahlte Arbeit zu suchen, unterstützt ihn aber nicht dabei. Frau Mäusle versucht durch Heimarbeit den ausgefallenen Lohn zu kompensieren, woraufhin die Familie die Arbeitslosenunterstützung verliert. Herr Mäusle wird krank und stirbt; schlussendlich stirbt auch noch die geliebte Tochter. Die Prokops hingegen, die eigentlich das Unglück der Familie Mäusle verursachen, schaffen es, daraus auch noch symbolisches Kapital zu gewinnen: Indem sie großzügig und gönnerhaft auftreten, ernten sie Bewunderung. Am Ende der Erzählung treffen Tamara Prokops Hochzeitszug und der Trauerzug für die kleine Mäusle zusammen. Tamara rettet die Situation, indem sie ihre Brautrosen auf den Sarg des Mädchens legen lässt: „Sie hatten erst gehässige Blicke auf die Hochzeitsgäste geworfen, doch als diese höflich zur Seite traten und die feinen Herren ihre Glatzen lüfteten, waren auch sie versöhnt und ordneten an, dass die Bahre nicht zu viel Platz einnahm. / Tamaras Gatte aber blickte bewundernd auf sein schönes junges Weib.“ (Ebd., 41)

Ihr großbürgerlicher Habitus, der schon längst keine ökonomische Basis mehr hat, verhilft den Prokops dazu, ihren verlorenen sozialen Status wiederzuerlangen. Für die Mäusles hingegen – in ihrer „Dummheit“ – mit einem Habitus, der danach schreit, ausgenutzt zu werden, ist jeder soziale Aufstieg unmöglich, und der Versuch führt schnurgerade in den Tod. Die Über- und Unterlegenheit, die hier problematisiert wird, ist in Canettis Erzählung eine Mischung aus Vererbung und Milieu. In jedem Fall kann der oder die Einzelne sich nicht frei entscheiden, ob er oder sie besser dumm oder gewieft ist. Obwohl hier etwas Schicksalhaftes mitschwingt, so ist es doch als soziale Ungerechtigkeit kenntlich gemacht. In diesem Sinne

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wäre die Fehlentwicklung zu beheben, die die Einen begünstigt, die Anderen benachteiligt. Die Familie kann in diesem Entwurf keine Lösung bereitstellen, weil sie selbst an der Wurzel des Problems liegt. Als primäre Sozialisationsinstanz kann Familie Mäusle aus ihrer Tochter keine gesellschaftlich anerkannte Schönheit machen. Aber eine gerechte Familien-, Sozialund Erziehungspolitik hätte ihr nicht nur ein Überleben, sondern auch ein besseres Leben ermöglichen können.

5. L ITERARISCHE E RSCHÜTTERUNGEN DES S TAATSGEFÜGES Die konservative, staatstheoretische Literatur verherrlicht hochemotionalisierte Familienideale. Dies gelingt gerade deshalb, weil Familie faktisch als Black Box behandelt wird und so zur Projektionsfolie für Traumbilder von der perfekten Familie werden kann. Wie die Familie konkret aussehen soll, die diesen Staatsentwürfen zugrunde liegt, bleibt ausgespart. Lediglich Andeutungen finden sich in den Schriften von Spann und Voegelin, die erkennen lassen, dass hier ein privater Rückzugsort aus dem rauen öffentlichen Leben gemeint ist, der emotional, körperlich und auch ökonomisch keine Wünsche offenlässt. Als natürliche Einheit imaginiert bildet die Familie die Basis für Gesellschaft und Staat. Für das Individuum ist sie das soziale Umfeld, das ein ganzes Menschsein ermöglicht und damit einen Ausgleich zum Zerrissensein in der modernen Welt bietet. Denn sie hat die Lücken zu füllen, die in einer differenzierten Gesellschaft notwendig aufgerissen werden. Zudem fungiert sie als „Wundertüte“, aus der Problemlösungen gezaubert werden können, und die Staat und Gesellschaft zu stabilisieren vermag. Wie Familie das bewerkstelligen soll, bleibt zwar unklar, aber dass sie es schaffen muss, ist essenziell, damit Gesellschaft und Staat zu einem unversehrten Ganzen zusammengefügt werden können. Bezüge auf Familie im staatstheoretischen Denken bei Spann und Voegelin verweisen aufgrund der Auslassung konkreter Familienvorstellungen auf eine Lücke, an deren Stelle ein Narrativ zu vermuten ist, das nicht erzählt wird, sondern dessen Kenntnis schlicht vorausgesetzt wird. Die Andeutungen sind ausreichend, um ein traditionelles Familienbild erkennen zu können, das selbst jeder Realität entbehrt. Es ist nicht die Durchschnittsfamilie der 1920er und 1930er Jahre, es ist noch nicht einmal eine historisch vormoderne Familienkonzeption, sondern eine Familienillusion, der selbst fiktive Erzählungen von Familie kaum entsprechen können. Damit stehen die staatstheoretischen Konzeptionen, die auf dieser Illusion beruhen, auf wackeligem Grund. Noch instabiler wird die Konstruktion, wenn nichtidealisierte Familienerzählungen an die Stelle des fehlenden Narrativs gesetzt werden. In den hier diskutierten Texten von Musil, Canetti und Roth ist selten eine Normalfamilie anzutreffen. Meist sind es Konstellationen unterschied-

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licher Verwandter, die in einem gemeinsamen Haushalt leben. Doch selbst wenn der Normalfall eintritt, sich Vater, Mutter und Kinder ausmachen lassen, ist dies keine Grundlage für individuelle Ganzheit: Musils Homo empfindet das Kind als Zerstörer der Paarbeziehung, Canettis Familie Iger wird vom Ehemann und Vater tyrannisiert und Familie Mäusle ist äußerst verwundbar und wird vollkommen zerstört. Kaum eine Frau findet in diesen Erzählungen emotionale und leibliche Ganzheit: Das gilt für die Mutter bei Musil, die Zeit ihres Lebens unglücklich war, ebenso wie für die vergewaltigte Frau Iger oder für Zippers Ehefrau aus Roths Erzählung, die ihre Sexualität nicht leben darf. Die berufstätige „neue Frau“ muss sich entscheiden zwischen Familie und Beruf; weibliche Berufstätigkeit gilt für Zippers Vater als Ehehindernis. Frau Mäusles Heimarbeit entsteht aus ökonomischer Not und wird vom System prompt bestraft. Nachdem aber Familie in Voegelins Konzeption die grundlegende Gemeinschaftsidee ist, die in allen höheren enthalten ist, dürfte auch berufstätigen Frauen ein familienloses Dasein nicht zugemutet werden. Zudem lässt das Ganzsein des Individuums, das die Familie verspricht, bei Voegelin eine Lücke, die nur durch Berufstätigkeit gefüllt werden könnte, zumal die Familie bei ihm eine partikulare Idee ist, die keine geistigen Sachgehalte aufweist. Um also wirklich ganz Mensch sein zu können, müssten Frauen auch außerhalb der Familie in Gemeinschaften eingebunden sein. Spann löst das Problem, indem er die Mutter zu einem eigenen Wesen stilisiert, das wohl für sich schon ganz genug ist, womit er die Zersplitterung der modernen Welt zu einem rein männlichen Problem macht. Eine unglückliche Mutter, wie sie in Musils Erzählung Tonka vorkommt, wäre ein gewaltiger Störfaktor in Spanns Entwurf des Wahren Staates. Auch eine berufstätige Frau wäre ein solcher Störfaktor, gilt es doch, die Perfektion der Mutter vor den Zerstückelungstendenzen des modernen Arbeitslebens zu schützen. Familie ist aber nicht nur für das Individuum die existenzielle soziale Basis. Sie bildet auch die Grundlage für Spanns ständischen Staat und ist integraler Bestandteil aller höheren Ideen in Voegelins Version der Ganzheitslehre. Wird Familie als Narrativ verstanden, das erzählt werden muss, damit der Entwurf eines „wahren“ oder ganzheitlichen Staatsgefüges Plausibilität erfährt, dann hängt die Stabilität dieses Staatsentwurfs einzig an der Art und Weise, wie Familie erzählt wird. Wird Familie in einer nichtidealisierenden Weise erzählt, wie dies in den diskutierten Texten der Fall ist, erscheint das Verhältnis von Familie und Staat zerrüttet, und der Traum von der Ganzheit ist ausgeträumt.

L ITERATUR Beyme, Klaus von 2000: Politik und Familie – Konvergenzen und Divergenzen zweier funktionaler Teilbereiche der Gesellschaft. In: Wolfgang Leidhold (Hg.): Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer

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Ordnung. Festgabe für Jürgen Gebhardt zum 65. Geburtstag. Würzburg, 257–268. Bourdieu, Pierre 1998 (1985): Familiensinn. In: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main, 126–136. Canetti, Veza 2009: Die gelbe Straße. Mit einem Vorwort von Elias Canetti und einem Nachwort von Helmut Göbel. Frankfurt am Main. Canetti, Veza 2010: Geduld bringt Rosen. In: dies.: Geduld bringt Rosen. Der Fund. Erzählungen und Stücke. Frankfurt am Main, 9–41. Flemming, Jens 2008: „Neue Frau“? Bilder, Projektionen, Realitäten. In: Werner Faustich (Hg.): Die Kultur der 20er Jahre. Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. München, 55–70. Göbel, Helmut 2002: Zur Wiederentdeckung Veza Canettis als Schriftstellerin. Einige persönliche Anmerkungen. In: Text+Kritik, H. 156, 3–10. Herz, Dietmar 2002: Eric Voegelin als Kritiker von Hans Kelsens „Reiner Rechtslehre“. In: Arno Waschkuhn/Alexander Thumfart (Hg.): Politisch-kulturelle Zugänge zur Weimarer Staatsdiskussion. Baden-Baden, 163–193. Kreisky, Eva/Löffler, Marion 2003: Staat und Familie: Ideologie und Realität eines Verhältnisses. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft Nr. 4, 375–388. Luhmann, Niklas 1999: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4. Frankfurt am Main. Musil, Robert 2008 (1924): Drei Frauen. Im Anhang: Autobiographisches aus dem Nachlass sowie ein Nachwort von Adolf Frisé. Hamburg. Orel, Anton 1921: Das Verfassungsmachwerk der „Republik Österreich“ von der Warte der immerwährenden Philosophie aus und im Licht von Idee, Natur und Geschichte Österreichs geprüft und verworfen. Wien. Roth, Joseph 2003 (1928): Zipper und sein Vater. Köln. Schorske, Carl 1982: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Frankfurt am Main. Spann, Othmar 1933: Die Bedeutung des ständischen Gedankens für die Gegenwart. In: Ständisches Leben. Blätter für organische Gesellschaftsund Wirtschaftslehre, 3. Jg., H. 7, 353–361. Spann, Othmar 1972 (1922): Der wahre Staat. Graz (Othmar Spann Gesamtausgabe, Bd. 5). Voegelin, Erich 1933: Rasse und Staat. Tübingen. Voegelin, Erich 1997 (1936): Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das österreichische Staatsproblem. Wien/New York.

Zöglinge in Uniform Zur schulischen Disziplinierung der Geschlechter S TEFAN K RAMMER

Folgt man der Kritik des Berliner Privatgelehrten und Individualanarchisten Walther Borgius, wie er sie 1930 in seinem Buch Die Schule – ein Frevel an der Jugend formuliert, dann ist die Schule „ein raffiniertes Herrschaftsmittel des Staates“, das dazu dient, alle Staatsangehörigen von klein auf an Gehorsam zu gewöhnen, ihnen „die Suggestion von der Notwendigkeit des Staates in Fleisch und Blut übergehen zu lassen“ und „sie zu bequem regierbaren, demütigen Untertanen zu drillen“ (Borgius 1981/1930, 7). Schule wird hier als eine autoritäre Institution beschrieben, die „gelehrige Körper“ (Foucault 1977, 173) hervorbringt und mit gewaltigen Disziplinierungen zur Ordnung anhält. Die Drastik der Darstellung macht deutlich, wie bedingungslos Schule mit Staat und Gesellschaft verwoben ist. Als wichtige Schnittstelle der beiden kann die Schule daher auch Einsichten darüber liefern, auf welche Art und Weise der Staat funktioniert und durch welche Faktoren das gesellschaftliche Zusammenleben zu bestimmten Zeiten geprägt ist. Die Schule ist somit ein Ort, an dem sich Prozesse der politischen „Enkulturation“ beurteilen lassen, an dem aber auch Brüche in der politischen Kultur sichtbar werden. Jede tiefgreifende Veränderung in Staat und Gesellschaft kann auch am Bildungssystem nicht spurlos vorübergehen. Für die Zeit nach 1918 trifft dies für die sich neu konstituierenden Republiken (Deutsch-)Österreich und Deutschland besonders zu: Wie sehr die beiden Staaten auf politischer Ebene durch ständige Veränderungen und radikale Brüche geprägt waren, so sehr war auch der Bereich der Schulbildung zahlreichen Konflikten zwischen reaktionären, sozialen und liberalen Bewegungen ausgesetzt. Die Unordnung im Staat machte sich auch in der Schule breit. Die entsprechenden Reformen sollten für die nötige Ordnung sorgen, um so den wie auch immer gearteten Staat im Wettstreit mit Kirche und Familie als einen unumstrittenen Garanten für Bildung und Erziehung zu etablieren. Die unterschiedlichen politischen Lager waren dabei allesamt bestrebt, ihre Vorstellungen von Staat und Gesellschaft auch im Bereich des Schulwesens zu implemen-

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tieren. So wurde unter dem Motto „Wer die Schule hat, der hat die Zukunft“ (Rissmann 1913, 170) das Parteirennen um das Bildungswesen und damit auch der Kampf um die Jugend aufgenommen. Die Divergenz der bildungspolitischen Ansichten spiegelt sich in den unterschiedlichen Schulrealitäten wider, wie sie in Österreich und Deutschland nach 1918 vorzufinden sind. Trotz zentralistischer Vorgaben konnte keineswegs eine staatliche Gleichschaltung des Schulsystems durchgesetzt werden. Denn das Vorgehen der politischen Akteurinnen und Akteure erwies sich in den verschiedenen Ländern, die wesentliche Zuständigkeiten für das Bildungswesen wahrten, als recht heterogen. Bildungspolitik wurde zu einer Auseinandersetzung zwischen zentralistischen und föderalistischen Kräften, die sich in einer Vielfalt an Schultypen mit unterschiedlichen politischen Kulturen abbildete. Das „Rote Wien“ der 1920er Jahre kann hier als Beispiel herangezogen werden, wenn etwa der geschäftsführende Präsident des Wiener Stadtschulrates Otto Glöckel – vormals Unterstaatssekretär für Unterricht – sein sozialdemokratisches Schulreformprogramm mit einheitlichen Mittelschulen und Schulgemeinden umzusetzen versuchte, obwohl er behördlich dem politisch konservativ ausgerichteten Unterrichtsministerium untergeordnet war. Laut Engelbrecht (1976, 214f.) ist es Glöckels strategischem Vorgehen zu verdanken, dass er mit der Forderung nach Verfachlichung und Demokratisierung eine integre, aber durchwegs monarchisch gesinnte Beamtenschaft ihres Einflusses beraubte, ohne allzu großen Widerstand herauszufordern. Allein sein Versuch, die Macht der katholischen Kirche im österreichischen Schulwesen zu beschneiden, mobilisierte und vereinigte seine Gegner und brachte letzten Endes die geplante Schulreform zum Scheitern. In Deutschland wurde den bildungspolitischen Spannungen zwischen Reich und Ländern mit einer Reichsschulkonferenz begegnet, die für Juni 1920 einberufen wurde. In parlamentarisch anmutender Weise wurden in verschiedenen Plenarsitzungen und Ausschüssen virulente Bildungsfragen diskutiert, mit dem Ziel, das deutsche Schulsystem der Weimarer Republik systematisch neu zu ordnen. Die Debatten waren bestimmt von Themen wie dem Verhältnis zwischen Staat, Schule und Kirche, von Beiträgen zur Bildung einer staatsbürgerlichen Gesinnung „im Geiste des deutschen Volkstums“ (Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.08.1919, Art. 148 Abs.1) sowie von Fragen zur Demokratisierung der Schulverwaltung wie auch einer gerechteren Verteilung der Bildungschancen, wie es durch ein organisch gegliedertes Schulsystem und insbesondere durch die Einrichtung sozialer Einheitsschulen gewährleistet werden sollte. In Zusammenhang damit wurde auch über Koedukation diskutiert und der Frage nachgegangen, inwiefern Mädchen- und Knabenschulwesen weiterhin aufrechterhalten werden sollte (vgl. Becker/Kluchert 1993, 263ff.). Der Vielfalt an Bildungskonzeptionen, die in dieser Zeit diskutiert und zum Teil auch umgesetzt wurden, soll in diesem Beitrag dadurch begegnet werden, indem ausgewählte Diskurslinien nachgezogen werden, welche die

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Debatte zu Bildung und Schule im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Österreich und Deutschland wesentlich bestimmt haben. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Frage nach der Verfasstheit von Schule im Verhältnis von Staat und Gesellschaft gelenkt. Dabei soll untersucht werden, welchen staatlichen Disziplinierungen die Schule ausgesetzt ist und welche Möglichkeiten die einzelnen Akteurinnen und Akteure ergreifen, um sich diesen zu entziehen. Welche Rolle dabei Demokratisierungsprozesse im Schulwesen einnehmen, soll in Zusammenhang mit unterschiedlichen Formen der Vergemeinschaftung diskutiert werden. Mit Fokus auf genderrelevante Aspekte wird ebenso der Frage nachgegangen, inwiefern Schule vergeschlechtlicht ist und sich dabei in regulierender Weise an der „Herstellung“ von spezifischen Geschlechterrollen und -verhältnissen beteiligt bzw. auch alternative Vorstellungen hierzu bereitstellt. Die Auseinandersetzung damit wird vom Konzept des „Doing Gender“ geleitet, wonach Geschlechterrollen und -identitäten im täglichen Agieren und Reagieren innerhalb eines sozialen Raumes geformt werden, der sich über performative und symbolische Interaktion definiert, die im Rahmen jeweils spezifischer normativer und institutioneller Zusammenhänge Geschlechtercodes hervorbringt (vgl. West/Zimmermann 1989). Die Schule stellt solch einen sozialen Raum dar und nimmt als staatliche Institution – folgt man einer These Bourdieus (1998, 117) – wesentlich an der Durchsetzung und Verinnerlichung von Klassifizierungsprinzipien, wie sie durch das Geschlecht bestimmt werden, Anteil. Für Bourdieu ist die Schule (neben Familie und Kirche) eine der Hauptinstanzen, die sich unablässig an der Reproduktionsarbeit männlicher Herrschaftsstrukturen beteiligt, denn sie vermittelt „die Unterschiede, die die Grundvoraussetzungen der (auf der Homologie zwischen der Beziehung Mann/ Frau und der Beziehung Erwachsener/Kind basierenden) patriarchalischen Vorstellung bildet“ (Bourdieu 2005, 149f.). Neben dieser vermeintlich unhintergehbaren Determinierung attestiert Bourdieu der Schule aufgrund ihrer Widersprüche, die sie prägen und die sie induziert, gleichzeitig auch ein großes Veränderungspotenzial in Bezug auf zwischengeschlechtliche Beziehungen (ebd., 151). Diese Wirkungsfähigkeit, die Schule in sich birgt, soll in meinem Beitrag aufgegriffen werden. Dem Konzept des „Undoing Gender“ (vgl. Butler 2009) folgend, soll Schule in Hinblick auf ihre transformatorischen Gestaltungsmöglichkeiten untersucht werden, bei denen etwa „Geschlecht als (Un-)Ordnungsprinzip“ (Heintz 2001) wirksam wird. Ein derartiger dekonstruktiver Zugang erscheint umso dringlicher, als im vorliegenden Beitrag ein literarischer Text und ein Spielfilm zur Analyse von Staat und Geschlecht in der Zwischenkriegszeit herangezogen werden. Auch wenn die Inszenierungen der Geschlechter in Literatur und Film nicht beliebig sind, sondern innerhalb eines historischen und soziokulturellen Kontextes zu sehen sind, bieten gerade diese Medien die Möglichkeit, vorherrschende Geschlechterbilder zu unterlaufen und im Spiel mit fiktiven Identitäten vorgefertigte Rollenmuster aufzulösen. Die Beispiele, die hier diskutiert werden, nutzen dieses subversive Potenzial auf unterschiedliche Weise

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und verdeutlichen dadurch allemal, wie instabil sich Geschlechteridentitäten erweisen, selbst wenn sie in einer vermeintlich klaren Ordnung wie der Schule mitentwickelt werden. Bei meiner Analyse beziehe ich mich zum einen auf den deutschen Spielfilm Mädchen in Uniform von 1931, bei dem Leontine Sagan Regie geführt hat, zum anderen auf Robert Hohlbaums Zeitroman Zukunft aus dem Jahr 1922. Die Auswahl ist kontrastiv angelegt. Sie wird erstens der geografischen Differenz zwischen Deutschland und Österreich gerecht: Der Film spielt in Potsdam, der Roman in Wien. Zweitens wird die geschlechtliche Segregation berücksichtigt, wie sie im Schulwesen der Zwischenkriegszeit vorherrschend war: Der Film liefert ein Beispiel für ein Mädcheninternat, der Roman eines für ein Knabengymnasium. Drittens werden divergierende Staatsvorstellungen ins Visier genommen, die in der unterschiedlichen Darstellung von Schule zum Ausdruck kommen: Der Film übt Kritik an autoritären Herrschaftsformen, der Roman hält an rechten Ideologien fest und diffamiert die demokratische Verfasstheit der österreichischen Republik.

1. M ASKERADEN

DES

M ÄNNLICHEN

Im deutschen Spielfilm Mädchen in Uniform werden Einblicke in den Alltag einer Erziehungsanstalt im Potsdam der 1920er Jahre geliefert. Schule wird dort als eine − im Sinne von Foucaults Disziplinartechniken (Foucault 1977) − totale Institution in Szene gesetzt, in der strikte Regeln gelten und strenge Kontrollen durchgeführt werden. Der Erziehungsstil im Stift für verarmte höhere Töchter, zumeist Offizierstöchter, ist von militärischer Strenge und preußischem Drill geprägt, wie er noch in der Kaiserzeit vorherrschte. Die Mädchen der Anstalt werden, wie bereits der Titel verrät, in Uniformen gesteckt, marschieren im Gleichschritt durch die klösterlichen Gänge und müssen sich in Stirnreihen aufstellen, um von der Oberin auf ritualisierte Weise gemustert zu werden. Die Formen der Disziplinierung folgen einem militärischen Modell, in dem Tableaus konstruiert, Manöver vorgeschrieben, Übungen angesetzt und Taktiken angeordnet werden (ebd., 216). In Mädchen in Uniform werden all diese Techniken zur Bewahrung von Disziplin und Ordnung eingesetzt. Bereits die Aufnahme, d.h. Einordnung in die Erziehungsanstalt, folgt einem strengen Ritual, wie am Beispiel Manuela von Meinhardis gezeigt wird: Das Mädchen wird zur Nummer gemacht und muss ihre privaten Kleider durch eine Uniform tauschen. Als Zeichen der Bändigung wird ihr offenes Haar zu einem Zopf gebunden. Privates wie etwa Bücher oder Schokolade müssen abgegeben werden, damit jegliche Form von Individualität gleich von Anfang an beschnitten wird. Das Internat erweist sich durch seine räumliche Absonderung als „Klausur“ (ebd., 181). Was in die Institution hineingetragen wird und was aus ihr hinausgeht, unterliegt einer strengen Kontrolle. Die Verteilung der Mädchen im Stift selbst ist klar reglemen-

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tiert, entsprechend der „Zuweisung von Funktionsstellen“ (ebd., 184) hat jede ihren Sitz-, Schlaf- und Waschplatz. Die räumlichen Vorgaben zeugen durch ihre architektonische Geradlinigkeit für Ordnung. Im Klassenzimmer beispielweise sitzen die Mädchen entsprechend der Bänke in Reih und Glied, ritualisierte Abläufe wie Aufstehen und Niedersetzen werden automatisch ausgeführt. Abbildung 1: Disziplin

Szene aus Mädchen in Uniform

Abbildung 2: Klassenzimmer

Szene aus Mädchen in Uniform

Auch der Schlafsaal weist „nach dem Prinzip der elementaren Lokalisierung“ (ebd., 183) jedem Mädchen seine Parzelle zu, die mit dem Wissen um

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den Kontrollgang und den (im gewissen Sinne subversiven) Gute-NachtKuss der Erzieherin auch pflichtgemäß belegt wird. Dass der Disziplinarapparat des Internats weder durchgängig noch hinreichend ist, d.h. die Ordnung nicht immer eingehalten wird, zeigt eine Szene im Waschraum, bei der die Mädchen unbeaufsichtigt ihren Spaß haben: Mit dem Abstreifen der Uniform setzen sie ihre weiblichen Körper in Szene und kokettieren in freizügiger Weise mit ihren Reizen. Lust an Sexualität wird symbolisch ins Bild gerückt, wenn etwa in der Detailansicht die große Zehe eines Mädchens, einem Phallus gleich, durch das Loch eines kaputten Strumpfes geschoben wird. Begleitet durch eine Musik, die den Marsch der Infanterie mit jazzigen Elementen des Swings verfremdet, wird hier eine Szene geschaffen, in der in unkontrollierter Weise Unordnung zelebriert wird. Mit dem Eintritt der Anstaltsprotektorin wird die nötige Ordnung wiederhergestellt: Die Mädchen werden in ihre geradlinig ausgerichteten Waschzellen verwiesen, die Vorhänge zur Wahrung der Intimität zugezogen. Abbildung 3: Waschraum

Szene aus Mädchen in Uniform

Durch die Uniform wird das Geschlecht der Mädchen verstellt. Darin liegt auch der subversive Charakter des Films, der in hyperbolischer Weise demonstriert, dass Erziehung, selbst wenn sie in der Segregation nur Mädchen betrifft, nach männlichen Herrschaftsstrukturen erfolgt. Die Uniform wird zum Symbol für ein männliches Ordnungsprinzip, das die Mädchen nicht nur bekleidet, sondern in der Entwicklung ihrer individuellen Geschlechtlichkeit beschränkt. Gegen eine Verweichlichung der Mädchen wird eine militante Grundhaltung erzeugt. In der genealogischen Verkettung wird zum einen das Bild des soldatischen Vaters aufgerufen, zum anderen an die zu-

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künftige Rolle als Soldatenmutter erinnert. Unter dem Motto „das Vaterland braucht eiserne Menschen“, wie das die Oberin im Film proklamiert, wird den Mädchen ihre Verantwortung, ja Pflicht gegenüber dem Staat bewusst gemacht. Die Uniformität wird dabei zur Norm erklärt, die letztlich auch so etwas wie Gemeinschaftsgefühl generiert. Wenn die Mädchen wie Soldaten aufwachsen, dann sind es Gesten der Unterordnung, die ihnen inkorporiert werden. Diese sind insofern geschlechtsspezifisch markiert, als sich die Mädchen in ihre Rolle als Frauen einüben sollen. Innerhalb des männlichen Herrschaftssystems werden ihnen scheinbar typisch weibliche Verhaltenscodes antrainiert, die sie zu „richtigen“ Frauen machen. Nicht der burschikose Handschlag, sondern der demütige Knicks gehört zum Benimmkodex der höheren Töchter. Die Unterwürfigkeit der Frau soll schon durch das Begrüßungsritual bestätigt werden. Und am Wochenende werden die Mädchen dazu abgerichtet, die Löcher in ihren Strümpfen zu stopfen. Hausarbeit gehört zum festen Bestandteil der Mädchenbildung. „Doing Gender“ wird so zum Erziehungsprinzip, das klare Rollenvorstellungen vor- und festschreibt. Der ganze Film kommt ohne männliche Besetzung aus, und doch sind es die Männer, die das Geschehen bestimmen. Repräsentiert werden sie nicht nur durch Statuen männlicher Herrscher und Soldaten, sondern auch durch Potsdamer Herrenhäuser und Glockentürme, die phallisch in den Himmel ragen. Sie zeigen zu Beginn des Films in einer montageartig geschnittenen Bilderfolge zunächst die Außenwelt der Erziehungsanstalt. Doch dass auch die Innenwelt von der Wirkungsmacht dieser Bilder bestimmt ist, wird alsbald deutlich, wenn sich die Mädchenschule in der perfekten Maskerade männlicher Herrschaft gebärdet. Die Schule, wie sie in Mädchen in Uniform dargestellt wird, erweist sich als Soziogramm eines Obrigkeitsstaates, der autoritär gelenkt durch klare hierarchische Strukturen gekennzeichnet ist. Die Oberin des Stiftes, von Siegfried Kracauer (1947, 226) mit Friedrich dem Großen verglichen, steht an der Spitze dieses Gemeinwesens. Der Film inszeniert geschickt ihre machtvolle Aura, indem sie zunächst nicht ins Bild gerückt wird, sondern nur von ihr die Rede ist. Die ersten Einstellungen zeigen sie dann hinter einem gewaltigen Schreibtisch sitzend als mächtige Verwalterin, die Bewilligungen stempelt sowie Zucht und Ordnung predigt. Ihr wird auch die Deutungsmacht zugeschrieben. Die Hungersnot etwa, die sich durch die Finanzkrise auch im Stift breitmacht, wird als Herrschaftsinstrument benutzt, indem Wohlstand als Untugend bewertet wird. Ungleichheiten zwischen den Mädchen will die Oberin dadurch ausgleichen, indem sie alle gleichermaßen hungern lässt. Diesbezüglich soll es zwischen den Schülerinnen keine Unterschiede geben. Differenzen werden hingegen dort geschaffen, wo ausgewählte Mädchen als Ordnungshüterinnen eingesetzt werden. Als sogenannte „Pflegemütter“ nehmen sie ihre Macht in Anspruch, indem sie ihren Schützlingen Dienste auferlegen. In der Hierarchie zwischen Oberin und Zöglingen spielen die Erzieherinnen eine vermittelnde Rolle. Als Teil des Systems unterliegen sie zum einen den strengen Ordnungsprinzipien der Oberin, müs-

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sen etwa bei deren Visiten wie die Schülerinnen Aufstellung nehmen. Zum anderen haben sie exekutive Funktionen und sind für die Disziplinierung der Mädchen verantwortlich. Die Anstaltsprotektorin nimmt im Kreise der Erzieherinnen eine Sonderstellung ein. Als enge Vertraute und rechte Hand der Oberin führt sie die Geschäfte im Stift und wird so zum Sprachrohr der Oberin. Berüchtigt ist sie für ihre Lob- und Tadelstriche, mit denen sie über jede einzelne Schülerin Buch führt. Als deren Gegenfigur wird Fräulein von Bernburg gesetzt, die innerhalb der autoritären Strukturen der Anstalt einen liberalen Erziehungsstil vertritt. Sie will den Mädchen „Freund und Kamerad“ sein und setzt anstelle von Disziplin auf Liebe. Bei den Mädchen hat sie auch Erfolg damit. Alle schwärmen von ihr, markieren ihre Liebesbekundungen heimlich in Kleidungsstücken, ritzen sich diese in die Haut oder schreien sie, wie im Fall von Manuela, laut hinaus, was ihr letztlich zum Verhängnis wird. In der militanten Welt des Internats wird die Liebe zur Ausnahme vom Gesetz der männlichen Herrschaft. Verboten ist sie deswegen, weil sie Unordnung schafft. „Du darfst mich nicht so lieben“, wird Fräulein von Bernburg dann auch zu Manuela sagen müssen. Dieses „so“ schafft einen Bedeutungsrahmen, der unausgesprochen das benennt, was nicht sein darf: ein Begehren zwischen einer Jugendlichen und einer Erwachsenen, ein Begehren zwischen zwei Frauen. Die verbotene Liebe bringt aber letztlich das gesamte Herrschaftsgefüge ins Wanken, selbst wenn oder gerade weil die Oberin Gnade vor Recht walten lässt. Die normierenden Sanktionen der Separierung und des Schweigegebots verfehlen ihre Wirkung. Die Leidenschaft regiert ab nun das Internat, sie zieht nicht nur Manuela, die sich das Leben nehmen möchte, sondern auch die restlichen Mädchen in ihren Bann. Der rebellische Aufruhr der Mädchen rettet schließlich Manuela das Leben und zwingt die Oberin zum Abgang, der auch filmisch in Szene gesetzt wird: Sie schreitet langsam von oben nach unten die Treppe hinunter und verschwindet im Dunkel des Korridors. Das autoritäre Prinzip, das bisher die Schule bestimmt hat, wird so durch ein demokratisches Ideal, wie es von den Mädchen verkörpert wird, abgelöst. Die Bilder des Films legen das nahe, doch die Militärmusik, die am Ende erklingt, lässt diese Hoffnung auf Veränderung letzten Endes doch sterben. Die männliche Ordnung wird zumindest musikalisch wiederhergestellt.

2. H OMOSOZIALE H ERRLICHKEIT Robert Hohlbaums Zeitroman Zukunft spielt in Wien zu Beginn der Ersten Republik, also zu einer Zeit des bildungspolitischen Aufbruchs, in der unter der Federführung von Otto Glöckel zahlreiche Schulreformen angeregt und auch durchgeführt wurden. In kritischer Distanzierung zu derartigen Entwicklungen zeichnet Hohlbaum nun das Bild einer Schule, die weder Disziplin noch Ordnung kennt, sondern – vom republikanischen Geist durch-

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drungen – aus den Fugen zu geraten scheint. Im Wiener Knabengymnasium, das im Roman beschrieben wird, haben nicht mehr die Lehrer das Sagen, es sind die Schüler, die im Wissen um demokratische Prinzipien das Unterrichts- und Schulgeschehen bestimmen. Sie äußern etwa freimütig Einwände gegen zumal auch ideologisch gefärbte Lehrinhalte, sie berufen sich auf Unterrichtserlässe, wenn Prüfungsbestimmungen missachtet werden, und melden etwaiges Fehlverhalten eines Lehrers sofort beim Direktor der Schule, um so zu ihrem Recht zu kommen. Der „Schülerrat“ mit gewählten Vertretern liefert dabei ein institutionalisiertes Instrument zur organisatorischen und inhaltlichen Mitbestimmung der Schüler. In entsprechenden Abstimmungen werden Entscheidungen über die Klassen- bzw. Schulgemeinschaft getroffen. Dass die Meinung der Schüler auch von Gewicht ist, zeigt etwa die Episode mit dem alten Geschichtsprofessor Gottfried Pfeiffer, der nach einem einjährigen Krankenstand eine veränderte Schule vorfindet. „Es scheinen während meiner Abwesenheit Zucht und Sitte der Klasse etwas gelitten zu haben.“ (Hohlbaum 1922, 23) So kommentiert der Lehrer das Verhalten der Schüler, die sich bei seinem Eintritt in das Klassenzimmer weder auf ihren Plätzen befinden noch Anstalten zur Ruhe machen. Die wortlosen Signale, die nach Foucault das „Verhältnis des Zuchtmeisters zum Zögling“ (Foucault 1977, 214) bestimmen, mögen früher noch funktioniert haben, nun verfehlen sie ihre Wirkung. Der Kathederstuhl symbolisiert nicht mehr „erhöhte Würde“ (Hohlbaum 1922, 23) und auch das Notizbuch des Lehrers ist nicht mehr Zeichen seiner Macht, gleich einem „Zepter, aus dem Königskraft in seine Adern und Muskeln überglitt“ (ebd.). Dem monarchischen Habitus des Lehrers begegnet die Schülerschaft mit einer „wellige[n] Bewegung“ (ebd., 24) des Aufruhrs. Gemeinsam sind die Schüler stark. Mit dem Rückhalt seiner Kollegen kann es der Vorsitzende des Schülerrats Alfred Berliner auch wagen, aus der Gruppe hervorzutreten, um „mit Advokatengeste“ (ebd.) den Lehrer auf dessen Pflichten hinzuweisen und ihn auf ein „gedeihliches Zusammenarbeiten“ (ebd., 25) einzuschwören. Der Schüler nimmt stellvertretend für die anderen als deren Anführer den Machtkampf mit dem Lehrer auf und hält dabei sowohl der symbolischen als auch der physischen Gewalt des Lehrers stand. Siegreich ist der Schüler vor allem deshalb, weil er nicht die Fassung verliert. Er weiß um sein Recht und treibt damit den Lehrer immer stärker ins Unrecht. Wenn die Lage schließlich eskaliert, ist es auch nicht mehr der Lehrer, der das aufgebrachte „Knäuel“ (ebd., 26) der Schüler zu entwirren vermag, sondern es ist der Anführer der Schüler, der wieder die nötige Ordnung herstellt. Die Revolution ist geglückt und der Lehrer muss abdanken. Noch am selben Tag reicht er seine Pensionierung ein. Bei seinem Abgang umschreibt er den Zustand der Schule metaphorisch mit dem eines Irrenhauses: „Die Jungen sind verrückt, der Direktor ist verrückt. Und […] auch der Staatssekretär für Kultur und Unterricht scheint verrückt geworden zu sein. Denn diese Erlässe, diese Erlässe!“ (Ebd., 29) Die Kritik, die hier an der

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staatlichen Institution Schule geäußert wird, lässt sich im Roman auf die gesamte Republik übertragen. Denn so wie der Lehrer die Schüler „als pflichtvergessene Lausbuben“ (ebd., 26) diffamiert, beschimpft er auch den Staat als „verfluchte Schweinerepublik“ (ebd.). Die Invektive erweist sich als Fluch, der sich im Laufe des Romans noch bewahrheiten soll. Denn dass sich gerade die Gymnasiasten an einer groß angelegten Schmuggelaffäre beteiligen, wird in Hohlbaums Zukunft auf perfide Weise mit der sozialistischen Politik der Republik und vor allem mit der fortschrittlichen Schulgesetzgebung im „Roten Wien“ in Zusammenhang gebracht. Die gelockerte Autorität scheint der Kriminalität Tür und Tor zu öffnen (vgl. Sonnleitner 1989, 57). Als Staatsbeamter, wie es der alte Geschichtsprofessor nun einmal ist, hat er mit dem neu geschaffenen Staat nichts mehr zu schaffen. Er hat gleichsam ausgedient und muss resigniert das Feld einer neuen Lehrergeneration überlassen. Mit Heinz Günther ist diese auch sofort zur Stelle. Für den jungen Lehrer wird die erste Konfrontation mit den Schülern zum Albtraum, in dem Erinnerungen an Begebenheiten wachgerufen werden, die er als Reserveoffizier im Ersten Weltkrieg erleben musste. Es sind vor allem die Blicke der Schüler, die ihn irritieren, allen voran jener „kalte, stete Blick“ (Hohlbaum 1922, 124) von Alfred Berliner, der den Herrschaftsanspruch des Lehrers nicht zu akzeptieren scheint. Im Verfolgungswahn des Lehrers verselbstständigt sich schließlich dieser Blick, die Augen des Schülers lösen sich von dessen Körper und wachsen in bedrohlicher Weise ins Unermessliche: „Diese Augen, diese Augen, ihm war’s, als hätte er sie schon gesehen, oft, oft. Während er mühsam sprach, jagte sein Erinnern. Eine Nacht im Felde, eine klare, sternenklare, harte Nacht. Ein feindlicher Angriff wurde erwartet, Stille überall, kein Wort wurde laut in dem armen einsamen Graben. […] Und dann später. Deutschland am Boden, Feinde über ihm, in ihm; wieder eine schwere einsame Nacht, ein wirrer Traum. Und aus diesem Wirrsal hatte sich gespenstig ein Augenpaar gelöst, das näher und näher herangeglitten war, näher, näher, eine furchtbare Kälte ausströmend, die den letzten Glauben vernichtete.“ (Ebd.)

Der schulische Unterricht wird in Hohlbaums Roman zum Schlachtfeld, auf dem der ehemalige Offizier scheinbar nichts mehr zu gewinnen hat. Der Krieg ist verloren, und damit auch Deutschland. Die traumatische Szene wird aber umgedeutet und so zur Schlüsselstelle, die dem Lehrer das Potenzial der Schule als politisches Machtinstrument vor Augen führt. Die Schule erweist sich für ihn letztlich als jener Ort, an dem Deutschland doch noch zurückerobert werden kann. In der Schule wird er dann auch für einen Anschluss an das Deutsche Reich agitieren und in der Schülerschaft gelehrige Anhänger seiner völkischen Ideen rekrutieren. Das Ende des Romans setzt seine Vision zukunftsweisend ins Bild. Bei einer Klassenfahrt werden die Schüler in die „alte deutsche Zeit“ (ebd., 305) geführt: Die Nibelungen werden heraufbeschworen und auch der alte Hans Sachs wird zum Leben er-

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weckt. Mythisch verklärt fühlen die Schüler „zum ersten Mal mannesklar Bestimmung und Ziel“ (ebd., 306) und stimmen letztlich ein Gebet an, in dem eines verherrlicht wird: „Deutsche Ewigkeit“ (ebd.). Wenn in Hohlbaums Roman Schule in einen Zusammenhang mit Militär und Krieg gebracht wird, dann wird hier insbesondere eine ideologische Überhöhung von Männlichkeit zelebriert, die ihr Ideal in einer soldatischen bzw. heroischen Männlichkeit sieht. Der Roman zeigt, dass die männerbündische Fundierung von Staat und Politik dieses Bild selbst nach dem verlorenen Krieg aufrechterhalten kann. Ihre Wirkungskraft dringt bis in die Klassenzimmer, in denen die Gymnasiasten in einer homosozialen Gemeinschaft männliche Herrschaftsstrukturen einüben können. In diesem geschützten Rahmen werden jene Verunsicherungen aufgefangen, welche durch den Wandel der Geschlechterverhältnisse induziert werden. Instruiert in männlicher Solidarität, werden Brüderlichkeit und Kameradschaft für die Schüler zu besonders wichtigen Tugenden. „Ihr Korpsgeist war geweckt“ (ebd., 22), heißt es etwa im Text, wenn sich eine Entscheidung trotz demokratischer Basis als unkollegial erweist. „Unkollegial wollten sie nicht sein, nein, das nicht.“ (Ebd.) Der Klassenverband soll als ein Körper erscheinen, der militärische Einheit repräsentiert. Der dunkle Anzug als Zeichen ihrer bürgerlichen Herkunft dient den Schülern dabei als Uniform. Die Unterschiede werden erst bei genauerer Betrachtung sichtbar: Die einen tragen gebügelte Hosen und feine Manschettenhemden, die anderen zu kurze Sakkos und abgeschlis sene Krawatten. Die ökonomischen Distinktionsmerkmale, die insbesondere durch vestimentäre Codes sichtbar werden, können letztlich durch die Identifikation mit einem zumal völkisch zurechtgestutzten kulturellen Erbe kompensiert werden. Die deutschen Klassiker etwa unterstützen die Gymnasiasten in ihrem Ringen um Einigkeit. „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern!“ (Ebd., 149) Der Vers aus Schillers Wilhelm Tell wird in performativer Weise als Zitat aufgerufen, als sich die Schüler gemeinsam an einem Coup beteiligen, der ihnen ungeachtet der ökonomischen Differenzen allesamt zu einer Menge Geld verhelfen soll. Die jungen Männer wollen sich an den „ernsten Spielen“ (Bourdieu 1997, 203) des Lebens beteiligen, die Finanzwelt dient ihnen dabei als Domäne männlichen Gestaltungswillens. Und „in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen“ (ebd.), eignen sich die Schüler einen männlichen Habitus an, lernen diesen zu vervollkommnen und beteiligen sich dadurch an der Reproduktion männlicher Herrschaft. In ihrer Vorgehensweise greifen sie auf ritualisierte Verkehrsformen zurück, spinnen informelle Netzwerke und bedienen sich nepotistischer Seilschaften. Dass die Schmuggelaffäre, in welche die Gymnasiasten verwickelt sind, dann nur durch ministerielle Verbindungen vertuscht werden kann, zeigt die Reichweite männerbündischer Systeme, die Staat und Gesellschaft gleichermaßen durchdringen (vgl. Kreisky 1994).

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Hohlbaums Roman macht deutlich, inwiefern das Knabengymnasium als homosoziale Männergemeinschaft trotz demokratischer Verfasstheit der Republik staatlich institutionalisiert ist. Die Kritik richtet sich aber nicht prinzipiell gegen eine derart inkorporierte männliche Herrschaft, sondern vielmehr gegen eine emanzipatorische Politik, die den Individuen einen Grad an Selbstbestimmtheit einräumt, gerade auch was die Ausgestaltung von Geschlechterrollen betrifft. Besonders in einer Zeit, in der die Männer um ihren Herrschaftsanspruch über die Frauen fürchten müssen, scheint es umso dringlicher, so legt es der Roman nahe, eine klare Geschlechterordnung festzulegen. Nicht die Frauen sollen für den Unterhalt der Familie aufkommen oder ihren Männern zu Reichtum und sozialem Aufstieg verhelfen. Um das gewährleisten zu können, muss etwas gegen die von der Republik verschuldete Entmachtung der Männer unternommen werden. Bei der Jugend scheint hier die Zukunft zu liegen. Ist diese erst einmal auf eine faschistische Ideologie eingeschworen, scheint auch der männliche Herrschaftsanspruch nicht weiter bedroht zu sein.

3. F AZIT So unterschiedlich die Staatsvorstellungen sind, die im Roman und im Film durch ihre spezifischen Darstellungen von Schule aufgezeigt werden, es wird dennoch deutlich, wie sehr Schule hier nach männlichen Herrschaftsstrukturen organisiert ist. Sie beteiligt sich unablässig an der Reproduktionsarbeit männlicher Herrschaft und sichert dadurch die Dominanz der Männer wie auch die Unterordnung der Frauen. Die schulische Segregation der Geschlechter trägt wesentlich dazu bei. Denn den Mädchen soll zwar „gleichwertig“ der Zugang zur Bildung gewährt werden, doch sie sollen nicht „gleichartig“ unterrichtet werden (vgl. Becker/Kluchert 1993, 351). Im pädagogischen Diskurs der Zwischenkriegszeit ist von „spezifisch männlichen und weiblichen Eigenschaften“ (Karsen 1921, 54) und von der „besonderen Natur“ (Siemsen 1920, 200) der Geschlechter die Rede. In der Idealvorstellung entwickeln dann „Knaben Selbstbeherrschung und Ritterlichkeit, die Mädchen Selbstbewahrung, Zurückhaltung und weibliche Würde“ (Geheeb 1931, 489). Die Debatte um die Trennung von Mädchen- und Knabenschulwesen macht dabei eines sehr deutlich: Geschlecht wird vor allem als anthropologische Größe verhandelt (vgl. Hansen-Schaberg 1999, 64) und Geschlechterpolarität als naturgegeben betrachtet. Dass gerade die spezifische Art der Geschlechter ein Produkt der Erziehung selbst ist, das führt Sagans Film Mädchen in Uniform vor Augen. Die Mädchen erscheinen wie Fremdkörper in einer Schule, in der „Männlichkeit als System“ (Kreisky 1994, 192) wirksam wird. Das „Undoing Gender“ setzt an der Stelle ein, wo der Film die Mädchen in Uniformen steckt. Die Maskerade gleicht einer Geschlechterparodie, die das Original selbst parodiert, denn es wird offenbar, dass „die ursprüngliche Identität, der die Ge-

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schlechtsidentität nachgebildet ist, selbst nur eine Imitation ohne Original ist“ (Butler 1991, 203). Vor dieser Folie wird jegliches Geschlechterstereotyp, das im Film in überzeichneter Weise aufgerufen wird, als Produkt männlicher Herrschaft entlarvt. Hohlbaums Knabenschule hingegen perpetuiert hegemoniale Männlichkeit. Die Schüler wehren sich zwar gegen autoritäre, ja patriarchale Strukturen, allerdings nur im Rahmen eines Generationenkonflikts. Die Geschlechterordnung selbst stellen sie nicht in Frage. Im Roman müssen sie das auch nicht, denn die schulische Segregation bewahrt die Schüler vor jeglicher Konfrontation mit dem anderen Geschlecht. In der homosozialen Männergemeinschaft, wie es das Knabengymnasium darstellt, finden die Schüler einen geschützten Raum, in dem sie sich − ganz unter sich − ihrer Männlichkeit vergewissern können. Die Schule selbst liefert die Vorbilder, die ganz im Sinne des „Doing Gender“ zur Nachahmung männlicher Herrschaft einladen. Dass diese Vorbilder aber nur mehr bedingt eine Konstante darstellen, weil die unterschiedlichen politischen Ideologien auch entsprechend andere Männlichkeitsbilder generieren, macht der Roman zum Problem. Dabei wäre genau dort mit einem „Undoing Gender“ anzusetzen, weil durch die divergierenden ideologischen Ausrichtungen auch von einem Plural von Männlichkeitsentwürfen ausgegangen werden kann. Der Roman nützt dieses Potenzial nicht und hält lieber an einer „mannsklaren“ Männlichkeit fest, der ihre Herrschaft immer schon gewiss ist. Sowohl der Film als auch der Roman veranschaulichen recht deutlich, wie sehr Staat und Geschlecht miteinander verschränkt sind. Der Staat scheint dort in Ordnung zu sein, wo auch die Geschlechterhierarchien klar festgelegt sind. Wenn der Film diese in Frage stellt, dann übt er zugleich auch Kritik an einem Staat, der allzu starren Ordnungsprinzipien folgt. Unordnung wird dabei positiv konnotiert, weil sich in ihr Möglichkeiten für Veränderung bergen. Im Roman hingegen wird Unordnung als destabilisierendes Moment des Staates kritisiert. Selbst die Schule scheint als Ordnungshüterin zu versagen. An ihre Stelle treten Führerpersönlichkeiten, die den Jugendlichen wieder konkrete Ziele vermitteln und ihnen dadurch den nötigen Halt geben. Durch das Einstimmen auf eine nationale Gesinnung, die auch eine gewisse Klarheit in Geschlechterfragen nicht entbehrt, soll die Zukunft wieder in Ordnung gebracht werden.

F ILM Mädchen in Uniform, Leontine Sagan, D 1931.

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Antifeministische und antidemokratische Tendenzen im Staatsdenken der Zwischenkriegszeit Männerbundfantasien bei Stefan George, Thomas Mann und Max Weber E VA K REISKY

Der Fokus dieses Beitrags liegt auf Genese und Verbreitung männerbündischer Staatsfantasien und -praktiken in Wissenschaft und Literatur. In den regressiven Ansichten des Antimodernismus im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sowie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verschmolzen antiliberale, antidemokratische, antisozialistische, antifeministische und antisemitische Einstellungen und Standpunkte. Autoritäre Staatskonzepte, charismatische Führersehnsüchte und ständisch, männerbündisch oder nationalistisch fantasierte Auffassungen von Vergemeinschaftung beeinflussten und begrenzten zugleich das politische Denken dieser Zeit. Zudem bewirkte der Erste Weltkrieg samt seiner Folgen ab den 1920er Jahren eine weitere Eskalation solcher Denkweisen, die auf faschistische Staatssichten hinführten. Mit dem von Thomas Mann kreierten und von Hugo von Hofmannsthal (1927, 31) aufgegriffenen Begriff der „Konservativen Revolution“ wurde keine kohärente Ideologie angesprochen.1 Vielmehr wurde ein Sammelbeg-

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Thomas Mann (2002/1921, 341) hatte den Zusammenhang von Konservativismus und Revolution vor allem auf Friedrich Nietzsches Denken gemünzt: „Seine Synthese ist die von Aufklärung und Glauben, von Freiheit und Gebundenheit, von Geist und Fleisch, ‚Gott‘ und ‚Welt‘. Es ist, künstlerisch ausgedrückt, die von Sinnlichkeit und Kritizismus, politisch ausgedrückt, die von Konservatismus und Revolution. Denn Konservatismus braucht nur Geist zu haben, um revolutionärer zu sein als irgendwelche positivistisch liberalistische Aufklärung, und Nietzsche selbst war von Anbeginn [...] nichts anderes als konservative Revolution.“

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riff für die in der Weimarer Republik stark gewordene geistig-politische Bewegung kreiert, die sich von liberaldemokratischen Entwicklungen abgrenzte, ja sich überhaupt als antidemokratische Bewegung der Rechten zu formieren begann. Völkische, jungkonservative, nationalrevolutionäre sowie bündische Gruppen und Zirkel agierten als Träger politisch-programmatischer Vorstellungen der „Konservativen Revolution“. Eine Trennschärfe zwischen konservativen und faschistischen Gedankengängen war daher oftmals nicht ausmachbar. Nicht nur politisch-ideologische, auch wissenschaftliche und literarische Diskurse sollten diese antidemokratische Entwicklung vorantreiben. Was für diese Periode ebenfalls hervorsticht, ist die männerbündische Unterfütterung zahlreicher Staatsdiskurse, sowohl in literarischen wie auch in staatsrechtlichen und staatswissenschaftlichen Milieus. Viele der Staatsdebatten hatten die Ausgestaltung als exklusiv-männliche Räume im Sinn. Frauen sollten auf Abstand gehalten werden, damit man „Mann“ sein konnte. Konzepte wie das des männerbündischen Staates oder jenes vom charismatischen Männerhelden, des „männlichen Mannes“, werden im ersten Teil dieses Beitrags diskutiert, im zweiten erfolgt eine Fokussierung auf die antifeministischen und antisemitischen Einschreibungen dieses Konzepts. Männerbundkonzepte bilden die geheimen Grundlagen der Staatsdiskussion der frühen Weimarer Republik, die über die politisch-ideologischen Unterschiede hinweg, Gemeinsamkeiten im Staatsdenken unterschiedlicher Autoren markieren. Im dritten und vierten Teil wird dementsprechenden Beispielen ästhetisierender Staatssichten nachgegangen: dem überspannt misogynen Staatsverständnis des Stefan-George-Kreises und Thomas Manns Träumereien von männlich-erotischer Staatsbegründung. In beiden Fällen wurden Staat und Politik als genuin männliche Sphären „vergeistigt“. Die weitgehend aus männerbündischem Lebensgefühl entwickelten Staatsentwürfe erfuhren durch Max Webers Charisma-Begriff, der im fünften Teil besprochen wird, gesellschaftstheoretische Untermauerung: Mit dieser Denkfigur begründete Weber seine Herrschaftssoziologie, die für Staatsdenken und Staatspraktiken im 20. Jahrhundert von weitreichender Bedeutung werden sollte. Die angeführten Autoren, Schriftsteller sowie Wissenschaftler publizierten im selben Zeitkontext. Sie dachten – allen vermeintlichen Differenzen zum Trotz – nicht nur ähnlich, sie griffen wechselseitig ihre maskulinistischen Staatsvisionen auf und verstärkten sie. Gelegentlich standen sie auch als „Freunde“ in Verbindung und heroisierten einander. In dieser Gemengelage entwickelte sich der Staatsdiskurs der Weimarer Republik über die klassischen Vertreter der „Konservativen Revolution“ hinaus als einer, in den maskulinistische Abwehrhaltungen gegen Demokratie und Modernisierung fundamental eingelassen sind.

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1. S TAAT ALS P HANTASMA UND P RAXIS VON M ÄNNLICHKEIT Klassische Männerbundkonzepte, wie sie nach der Jahrhundertwende als Abwehrprogramm zu den politischen Ideen der bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegung entwickelt wurden (Kreisky 1992), imaginierten „den Mann“ als maskulin, soldatisch und heroisch.2 Nichtwaffenfähige oder Nichtwaffentragende hingegen wurden als „Weiber“ minder bewertet und hatten unter Weibern und Kindern zu verbleiben (Weber 1972/1922, 616). In der Logik neuzeitlicher europäischer Staatsentwicklung vermochte ausschließlich Waffenfähigkeit politische Subjektfähigkeit zu begründen. Nur wer Dienst an der Waffe verrichtete, durfte im Rahmen der politischen Gemeinschaft mit Anerkennung rechnen und sollte auch als „Staatsbürger“ gelten. Mit militärisch-politischer Inklusion der Männer wurde zugleich politische Exklusion von Frauen praktiziert und weiterhin befestigt. Moderne Nationalstaatsbildung und Wehrpflichtarmeen bildeten markante politische Innovationen des 19. Jahrhunderts. Preußen nahm dabei eine besondere Vorreiterrolle ein. Militärische Disziplinierung leitete fortan männliche Normvorstellungen und Verhaltensweisen (Bröckling 1997, 113f.). Männliche Waffenfähigkeit wurde als beeindruckender Habitus in das Bewusstsein der Bevölkerung eingeschrieben. Also wurden Dienst im Militär sozial sowie politisch geadelt und „unkriegerischer Habitus der Zivilisten“ abgewertet (Frevert 1996, 81). Das Militär dieser Periode transformierte den Rekruten zum Mann sowie zum Staatsbürger (ebd., 83). Der „patriotisch-wehrhafte“ Männlichkeitsentwurf wurde hegemonial. Dazu konstruierte sich die „Nation in Waffen“ als männlicher Politikraum (Hagemann 1999, 18). Die Wehrpflicht für Männer hatte eine neue Etappe „männlicher Vergemeinschaftung“ eingeleitet. Das Militär inszenierte sich als Institution, der Männer angehörten, weil sie „Männer“ waren bzw. zu solchen „gemacht“ werden sollten. Die einzelnen Männer wurden zum einheitlichen Körper Militär geformt. Alle sozialen, 2

Der Ethnologe Heinrich Schurtz (1902) eröffnete mit seiner Dokumentation zum kulturellen Universalismus des Männerhauses, die rasche und breite Rezeption in Politik, Wissenschaft und Kunst erfuhr, die Männerbunddebatte im deutschen Sprachraum. Zusätzliche Relevanz erfuhr dieser Diskurs aufgrund der Ereignisse des Ersten Weltkrieges sowie der die wachsende Demokratie abwehrenden Praktiken. Der Historiograf der Wandervogelbewegung, Hans Blüher (1917/19), hatte Schurtz’ Beobachtungen „auf die bürgerliche Gesellschaft des 20. Jahrhunderts [übertragen] und [...] sie in seinem Sinn [radikalisiert]“. Sein Buch wurde zu einem „Kultbuch der deutschen Männerbundideologie“ (Karlauf 2007, 399). In die Sozialwissenschaften wurde der Begriff des „Bundes“ 1922 durch Herman Schmalenbach (einem Schüler Georg Simmels) eingeführt. Dabei hatte er eine soziologische Kategorie zur Analyse der bündischen Jugend sowie des GeorgeKreises im Sinn (Lepenies 1985, 338).

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ethnischen und regional-kulturellen Unterschiede zwischen Männern schienen im militärischen Corps überwunden. Nicht so aber Differenzen zu Frauen, diese sollten nun im engeren Sinne „politikentscheidend“ werden. Das Militär erfand sich sozusagen als „frauenfreier“ Raum. Im „Männerhaus“ Militär fand – öffentlich wahrnehmbar – die Initiation zum Mann statt. Das Militär löste Männer aus ihren privaten Milieus und integrierte sie in ein „neues vollkommen abstraktes Referenzsystem“ (Frevert 1996, 82): Vaterland, Nation und Staat bildeten nun die Bezugspunkte für junge Männer. Staatsidentität und männliche Identität sollten sich möglichst decken. Der Erste Weltkrieg bedingte nicht nur eine Krise europäischer Staaten und Regierungssysteme, er löste auch eine Krise männlicher Identitäten aus und erschütterte zudem die labile soziale Gesamtkonstruktion von Männlichkeit. Der schlesische Schriftsteller Arnold Ulitz hatte sich in Reaktion auf seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg gegen den Krieg positioniert.3 In seiner Kriegssatire Worbs (1930) polemisierte er gegen die Zerrissenheit der Männer zwischen Kriegs- und Staatsdienstloyalitäten und ihren Phobien vor den im zivilen Leben nun aufrückenden Frauen: „Jetzt ist alles aus, jetzt bricht die Herrschaft der Weiber an! […] [W]issen Sie auch, wer auf Ihrem Stuhle sitzen wird? Eine Dame! Und auf den Stühlen der anderen Herren Kollegen, denn sie sind alle jung und werden hinaus müssen? Damen! Der ganze Dienstraum voll Damen! Meinen Sie, dass da viel gearbeitet werden wird? Wissen sie noch nichts von der Unzuverlässigkeit der Frauen im Denken? Wissen sie, dass das ganze Beamtentum einem sicheren Untergang entgegen geht, weil es durch unzureichende weibliche Kräfte verseucht werden muss? Und wissen Sie nicht, dass das Beamtentum die Grundlage eines gesunden Staatswesens ist? Wollen Sie das? Sagen Sie es ruhig! Dann würde ich Ihnen ein Disziplinarverfahren bis aufs Schlachtfeld nachschicken, das lassen Sie sich gesagt sein! Der deutsche Beamte ist der deutsche Mann!“ (Ulitz 1930, 31)

Sobald Kriege als „nationale“ Kriege geführt wurden und breitere Mobilisierung von Männern erforderten, verschärften sich auch „diskursiv konstruierte“ Geschlechterdifferenzen und Geschlechterhierarchien. Paradoxerweise erweiterten sich mit Mobilisierung und Militarisierung der Männer für Frauen „öffentliche Handlungsspielräume“ (Hagemann 1999, 18). Darin lag freilich auch ein beträchtliches Gefahrenmoment für die patriarchal-hierarchische Geschlechterordnung. Wenn Frauen in größerer Zahl sich ihnen

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Bis 1925 wurden Ulitz’ Utopien der expressionistischen Dichtung zugeschlagen, 1925 bis 1932 wandte er sich dem Genre der Neuen Sachlichkeit zu. Worbs wurde 1933 vom NS-Regime in die Liste der zu verbrennenden Bücher aufgenommen. Nach 1938 arrangierte sich Ulitz mit dem Nationalsozialismus und mutierte zum Heimatdichter (Rduch 2009, 25f.). Seine nationalistischen Blut-und-BodenErzählungen wurden den Soldaten von der NS-Militärverwaltung zwecks weiterer Motivierung für den Krieg ins Feld geschickt.

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auftuende Handlungschancen nutzten, mussten sie nach Ende dieser Kriege zumeist einen gewaltigen Rückschlag durch „Remaskulinisierung“ gesellschaftlicher Verhältnisse hinnehmen (Jeffords 1989). Dem Anschein nach zunächst „erhabene“ idealistische Ziele (wie Kaiser oder Vaterland) wurden mit der Zeit von trivialer Männlichkeit als eigentlicher und vordringlicher Kampfmotivation überlagert. Zum Überleben der Männer wurde „Kameradschaft“ wesentlich, mit anderen Worten: Solidarität unter Männern wurde ikonisiert. Sie verselbstständigte sich gegenüber allen anderen politischen Zielwerten. Krieg und Militär wurden zu neuen sozialen Orten, an denen besondere Formen männlicher Vergemeinschaftung eingeübt und erprobt werden konnten, die Männer vom banalen familiären und beruflichen Alltag in eine ausschließliche Männerwelt vermeintlichen Abenteuers abheben ließen. Die zuvor erlebte männliche Schützengräbengemeinschaft wurde in der Postkriegsgesellschaft zum Leitbild männlich gestalteter Politik- und Staatsformen. Krieg galt als wertvolles Archiv idealer, weil männlich-erotisch verstandener und ebenso praktizierter Staatlichkeit: „Wenn man verstehen will, warum kämpfende Truppen sich begeistert opfern, so darf man jenen erotischen Zug nicht vergessen, der vom Bilde des Helden ausgeht.“ (Blüher 1917/19, I/246) Es war nicht bloß „äußerer Zwang“, auch „libidinöse Strukturen“ vermochten die Armeen dieser Zeit zusammenzuhalten (Freud 1974/1921, 88). Jeder Einzelne war an den Vorgesetzten sowie an die anderen Soldaten gebunden. Identifizierung mit dem führenden Vorgesetzten ließ die Einzelpersönlichkeit zurücktreten, richtete Gedanken und Gefühle aus, ließ eine Automatik von Affektivität und Unbewusstem vorherrschen. Der Männerbund Militär reproduzierte sich über Initiationsriten, die die äußerst ungleiche soziale Ordnung ertragen ließen. Neue Rekruten wurden in die Welt der älteren Männer eingeführt, in der oben und unten längst ausverhandelt und festgelegt war. Es galt, selbstlose Unterordnung und Unterwerfung unter die Herrschaft der alten Männer zu üben. Dieses bewährte, nach „Altersklassen“ hierarchisierte Männlichkeitsmodell schien aber an der Wende zum 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen eines neuen Jugendkults plötzlich gefährdet. Eine „neue Semantik des Begriffs ‚Jugend‘“ (Dahlke 2008, 120) entstand parallel zu den einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen, zu Industrialisierung und Verstädterung. In dieser Periode waren nämlich als Folge überaus ambivalenter Modernisierungserfahrungen neue Versionen von Jugendprotest und vor allem eine Neubewertung, ja Idealisierung des „jugendlichen“ Moments zu verzeichnen. Jugend als neues Kulturmuster gewann an programmatischer Bedeutung. Proletarische und bürgerliche Jugendbewegungen wurden gegründet. Die Wandervogelbewegung entwickelte sich zur Massenbewegung. Hier wurden nachfolgende (speziell männliche) Generationen sozialisiert und politisiert. „[D]ivergente Deutungsmuster“ folgten: Dem „idealisierten ‚Jüngling‘“ stand der „kriminalisierte ‚Jugendliche‘“ gegenüber (ebd.). Wachsendes Misstrauen gegenüber den Befreiungsbedürfnissen der (männlichen) Ju-

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gend und ihren Protestformen erforderte wirksamere Kontrolle und initiierte neue Formen staatlicher Aufsicht (ebd., 119f.). Die damals boomende Jugendpädagogik richtete all ihre Aufmerksamkeit auf die „männliche bildungsbürgerliche Jugend“. Vor allem von den männlichen Jugendlichen gingen, so wurde vermutet, Gefahren für die Gesellschaft aus: „Die größte Gefahr für junge Männer, aber zugleich auch für die Nation“ wurde in der „Verweichlichung/Verweiblichung der Großstadtjugend“ erblickt (ebd., 121).

2. ANTIFEMINISMUS

UND

ANTISEMITISMUS

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B UNDE

Mit dem Ersten Weltkrieg hatte in Folge fortschreitender Waffen- und Rüstungsentwicklung eine Transformation des Krieges stattgefunden. Er wurde zur Auseinandersetzung zwischen Geräten und Anlagen. Der Kampf Mann gegen Mann in traditionellen Formen existierte in der Realität des Krieges kaum noch. Damit wurde Soldaten die Aura des Heroischen genommen. Zugleich nahmen Kriegsneurosen unter Soldaten zu. „Kriegsneurotiker“ wurden als Feiglinge und Simulanten verachtet, sie sollten nicht als Männer gelten. Die Kriegsniederlage hatte man den „Mächten der Zersetzung“ zugeschrieben: Marxisten, Juden, Deserteuren und „Kriegsneurotikern“ (Messerschmidt 1995, 35). Aus dieser Perspektive war der mythische „Frontkämpfer“ von „Etappenschweinen“, „Drückebergern“, „Minderwertigen“ und „Versagern“ verraten worden (ebd., 34f.). Deserteure, „Zersetzer“ und Verweigerer wurden entindividualisiert und zu einem „politisch negativ besetzten Typus“ herabgestuft (ebd., 35), weil sie Verrat an der männlichen Werte- und Notgemeinschaft des Krieges geübt hatten. Der soziale und emotionale Strukturtyp des Militärs fungierte als Prototyp der männerbündischen Standardform moderner Staatlichkeit. Es waren aber keinesfalls nur Frauen, mit denen kein Staat zu machen war, auch jüdischen Männern wurden, weil das (männliche) Judentum „durchtränkt von Weiblichkeit“ schien (Weininger 1916/1903, 416), keine staatsbildenden Kompetenzen zugetraut. Antifeminismus und Antisemitismus traten in zahlreichen Staatsdiskursen der Zwischenkriegszeit (und nicht nur in diesen) als verbündete Ideologien auf. Otto Weininger hatte dafür mit Geschlecht und Charakter die ideologischen Weichen gestellt. Trotz seiner jüdischen Herkunft äußerte er sich judenfeindlich und verfocht zudem misogyne und körperfeindliche Einstellungen. Weiningers misanthropische Sichtweisen erfuhren – ebenso wie Heinrich Schurtz’ Männerhausstudie im Jahr zuvor – beachtliche Aufmerksamkeit. 1925 erschien der Text bereits in der 26. Auflage. „Männlicher Eros“ galt als die staatsbildende Urkraft und wurde auch zum Gründungsmythos moderner Staatlichkeit erhoben. Diese männlicherotische Dimension von Staatsbildung wurde jedoch für jüdische Männer außer Kraft gesetzt. Auch der für Popularisierung und Verbreitung der Männerbundidee verantwortliche Wandervogelhistoriker Hans Blüher ver-

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meinte in Juden eine „naturhafte“ Staatsschwäche zu erkennen. Jüdische Männer wurden effeminiert, als familienorientiert, unmännlich und staatenlos abgewertet: „Mit den Juden steht es so: sie leiden an einer Männerbundschwäche und zugleich an einer Familienhypertrophie. Sie sind überwuchert vom Familientum und von der Verwandtschaft, aber was die Männer untereinander anbetrifft, so gilt der Satz: Judaeus Judaeo lupus. Gefolgschaft, Bünde und Banden sind keine jüdische Angelegenheit. Wo also bei andern Völkern ein gesegnetes Ineinandergefügtsein der beiden Gesellungskräfte stattfindet, da klafft bei den Juden ein unfruchtbarer Riss. Die Natur hat sie mit diesem Schicksal geschlagen, und so durchziehen sie die Weltgeschichte mit dem Fluch: immer nur Rasse zu sein und niemals Volk. Sie haben ihren Staat verloren.“ (Blüher 1953/1920, 170f., Herv. i.O.)

Blüher polemisierte aber nicht nur gegen „staat- und volkloses Dasein“ von Juden, sondern auch gegen ihr reges wissenschaftliches und literarisches Engagement in zeitgenössischen Staatsdiskursen: „Es ist natürlich kein Zufall, dass die Rasse, die keinen Staat hat, die meisten Staatstheorien aufstellt.“ (Blüher 1920/1919, 22) Selbst Sigmund Freud hatte sich zunächst noch anerkennend zu Blühers Veröffentlichungen geäußert, um sich einige Zeit später von dessen Ideen wieder loszusagen. In der Zwischenzeit hatte sich nämlich Blüher gegen Freud in antisemitischer Weise positioniert: „Die Juden erzeugen oft große Gelehrte, die wichtige Entdeckungen machen [...]. Beispiel einer solchen Entdeckung: die des Juden Sigmund Freud. Sie ist richtig und hat großes Format sowie man sie aber am Phänomen der Liebe misst, tritt ihr korruptiver Grundcharakter (sie ist reiner Materialismus) unabweisbar zutage. Diese Gedanken werden erst fruchtbar, wenn sie durch ein deutsches Gehirn gehen, das imstande ist, ihrem tückischen Urgrunde Widerstand zu leisten.“ (Blüher 1922, 23f., zit. n. Nitzschke 1996, 10)

Die feste Allianz von Antifeminismus und Antisemitismus schien für die 1920er Jahre besonders kennzeichnend. Die männliche Weltkriegsgeneration fühlte sich geschwächt und kam mit den neuen Republiken schlecht zu Rande. Enttäuscht durch die Verhältnisse empfand sie sich durch sozialistische, weibliche oder auch Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner jüdischer Herkunft hintergangen. Sie erwies sich darum als anfällig für nationalistische und militaristische Parolen, für Männlichkeitskulte verschiedenster Art und für politisch-ideologischen Antifeminismus. Zugleich nahm alltäglicher Antisemitismus fühlbar zu. All das traf sich mit ansteigender Demokratie und nun auch verstärkt vorangetriebener politisch-rechtlicher Gleichbehandlung religiöser Konfessionen, sozialer Klassen sowie der Geschlechter. Vermeintlich fortschreitende „Verweiblichung“ von Politik und Staat irritierte zunehmend bürgerlich-männliche Eliten. „Massendemokratie“ wurde als „weiblich“ abgewertet. Die zaghaften demokratisch-republikanischen

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Gehversuche eines knappen Jahrzehnts wurden alsbald durch wiedereinsetzende politisch-autoritäre Entwicklungen unterbunden. Die ideologische Gemengelage verdichtete sich allmählich zu antidemokratischem Staatsdenken und -handeln.

3. D ER S TEFAN -G EORGE -K REIS : E IN „S TAAT “ IM S TAATE Zum einen nährte Stefan Georges Lyrik bündische Lebensgefühle der männlichen Jugend seiner Zeit. Zum anderen aber „misstraute [George] allen Formen der Vergemeinschaftung, als deren oberstes Ziel das Gruppenerlebnis galt“ (Karlauf 2007, 398). Hans Blüher war hingegen davon überzeugt, dass „überall, wo Männer eine Gemeinschaft bilden, die Liebe des Mannes zum eigenen Geschlecht die eigentliche Ursache des Zusammenschlusses sei“ (ebd.). Um die homoerotische Attraktivität eines „Männerhelden“ schare sich eine Gefolgschaft junger Männer. Blüher erkannte im George-Kreis „geradezu ein Musterbeispiel“ seiner „männlichen Gesellschaft ersten Grades“, an deren Spitze stets ein „inverser“ Typ stehe, der aktive „Männerheld“, den mehrere, immer lockerer werdende Kreise mit passiver werdenden „Lieblingen“ umgeben. Nach außen verschwimmen die Kreise immer mehr, bis sie schließlich in der Gesamtgesellschaft aufgehen (Blüher 1917/ 19, I/102). Diese Schematisierung männlicher Gesellschaft wandte Blüher auch auf den George-Kreis an: „Der von mir geprägte Eros-Begriff passt genau. Kein Mensch kann wissen, und es ist zudem völlig gleichgültig, ob George mit seinen Lieblingen ‚sexuelle‘ Handlungen begangen hat oder nicht; aber dass sein Eros allein dem Jünglinge galt, daran kann es keinen Zweifel geben.“ (Blüher 1953/1920, 353 u. 355) Seit den 1890er Jahren hatte Stefan George, als Mentor und „Meister“, rund um die Zeitschrift Blätter für die Kunst (1892 bis 1919) eine lockere Gruppe junger anregender Gefolgsmänner versammelt, die sich aber erst nach 1907 zu einem festen Kreis zusammenfügte. Dieser Kreis setzte sich vor allem aus Künstlern, teilweise aber auch aus Wissenschaftlern zusammen. Aus Bewunderung für Georges Lyrik erwuchs allmählich auch die Anerkennung seiner charismatischen Führungsrolle. Selbst Max Weber hatte in Praktiken und Ritualen des George-Kreises Bestätigung gefunden, nämlich für seine Ansicht vom charismatischen Herrschaftsverband (Karlauf 2007, 410). Georges „Staat“ war „diktatorisch“, er alleine war es, der neue Mitglieder aufzunehmen, sie zu sanktionieren und sie auch wieder zu verstoßen vermochte. Austreten aus dem Kreis konnte man nicht. Hier herrschte ein „Geist der Orthodoxie“ im Sinne der Realisierung von Georges persönlichen Ansprüchen und politischen Zielen (Lepenies 1985, 322f.). Richtiger schien es, den elitär Denkenden, den „Irrtümern der Heroen“ zu folgen, als eventuell „Wahrheiten der Mittelmäßigen“ zu vertreten (ebd., 326). Künstlerische Intuitionen schienen zumeist imposanter und zutreffen-

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der als wissenschaftliche Erkenntnisse. So stemmten sich wichtige Mitglieder des George-Kreises tatkräftig auch gegen die damals aufkommenden Sozialwissenschaften. Stefan George verachtete geradezu die neue Soziologie. Zunehmende wissenschaftlich-akademische Anerkennung für Georg Simmel, Max Weber u.a.m. entfremdete sie daher von George (ebd., 339). Als Zenit der Aktivitäten des Kreises sind die 1910er und 1920er Jahre anzusetzen. Es war dies jene Periode, in der auch zahlreiche staatstheoretische (Neu- und Re-)Konzeptualisierungen vorgenommen wurden. Zum einen waren neue Staaten oder neue Republiken zu begründen und arbeitsfähig zu gestalten; zum anderen aber sollte vor „dem Schlimmsten“ der neuen verweiblichten Demokratien behütet werden, was nichts anderes bedeutete, als ungehemmte Demokratieentwicklung abzufedern und männerbündische Ordnungsvorstellungen aufzunötigen. Die Spannweite dieser Staatsentwürfe reichte darum von offensiven Demokratisierungsintentionen bis hin zu politisch-autoritären Restaurationsabsichten. In jedem Falle aber war es die neu in Gang gesetzte „Feminisierung“ von Staat und Politik, der Einhalt zu gebieten war. Ein purer Männerstaat galt als relevanter Richtungspunkt ästhetischer Politisierung. Inwiefern aber war der George-Kreis überhaupt mit Idee und Praxis eines „Staates“ verbunden? Stefan George distanzierte sich vom „realen Staat“, um einem „idealen Staat“, einem Dichterstaat höherer Ordnung, dem „Geistigen Reich“, zum Durchbruch zu verhelfen. Gesellschaftliche Veränderungen folgten keinem durchdachten Plan, sondern entsprangen einem männlichen „Lebensgefühl“ (ebd., 319). Der George-Jünger Friedrich Gundolf stellte alsbald klar, dass der „Kreis“ weder Geheimbund (wie ihm unterstellt wurde) noch Sekte (als welche ihn Max Weber „wertneutral“ bezeichnet hatte) oder Literatenklüngel wäre. Vielmehr sei es „eine kleine Anzahl Einzelner mit bestimmter Haltung und Gesinnung, vereinigt durch die unwillkürliche Verehrung eines großen Menschen, und bestrebt der Idee die er ihnen verkörpert (nicht diktiert) schlicht, sachlich und ernsthaft durch ihr Alltagsleben oder durch ihre öffentliche Leistung zu dienen“ (Gundolf 1920, zit. n. Karlauf 2007, 410). Stefan George verband seinen vorerst losen Bewunderer- und Freundeskreis sukzessive zum fest strukturierten Kreis, den er tatsächlich als „Staat“ bezeichnete. Manchmal sprach er auch von seinem „Hofstaat“, der ihm persönlich zu Diensten sein sollte (Breuer 1995, 56). George fixierte die Substanz seines Staates folgendermaßen: „Der Sinn aber unseres Staates ist dieser: dass für eine vielleicht nur kurze Zeit ein Gebilde da sei, das, aus einer bestimmten Gesinnung hervorgegangen, eine gewisse Höhe des Menschtums gewährleistet. Auch dies ist dann ein ewiger Augenblick.“ (George, zit. n. Landmann 1963, 40) Der Freundeskreis verstand sich, in der männlich gedachten Tradition Platons, als „geistiger Staat“, zugleich aber auch als „wahrer Kern“ der Gesamtgesellschaft (Schneider 2009, 103), die es aus der akuten gesellschaftlichen Krise herauszuführen galt. Ästhetische Ideale wie Gerechtigkeit und

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„schönes Leben“ sollten in der und für die Männergemeinschaft umgesetzt werden. Georges „Staat“ war als „staatenähnliche Ordnung“ angedacht (ebd., 107) und wirkte als „Staat im Staate“ (Lepenies 1985, 321). Er wurde auf „Autorität von oben“ und auf „Vertrauen von unten“ gegründet (Breuer 1995, 57). Zudem wurde er als „reiner Männerbund“ erträumt, was nichts anderes hieß als: „rein von Frauen“ zu bleiben (Oelmann/Raulff 2010, 7). Als solcher wurde er über die Maßen idealisiert. Im George-Kreis trafen anfangs noch Juden und Antisemiten aufeinander. „Mitglied des ‚Staates‘ war man entweder ganz oder gar nicht.“ (Breuer 1995: 59) „Ganz“ konnte man es freilich nur sein, wenn „Mann“ sich Stefan Georges Wertvorstellungen und Urteilen „vollständig“ unterwarf. Aus diesem „geistigen Staat“ sollte sich schließlich das „Geheime Deutschland“, das „Geistige Reich“ männlichen Deutschtums entwickeln (ebd., 75 u. 80). „Stefan Georges Neues Reich ist der poetische Entwurf einer Welt, in der es keine Frauen gibt.“ (Osterkamp 2010, 13) Frauen hatten in Stefan Georges Leben zwar durchaus praktische Bedeutung, in seinem Frauenbild fanden sie jedoch nicht angemessen Beachtung. Sie sollten lediglich dem einträchtigen Fortbestand der Gruppe der Männer dienen. Frauen blieben vom „Kreis“ ausgeschlossen, bestenfalls an seiner Peripherie wurden sie geduldet und selbst begabte Dichterinnen blieben missachtet.4 So wurden die Mitglieder des George-Kreises als „misogyne Männerfreunde“ wahrgenommen. Ihre Frauenfeindlichkeit war „kalkuliert“, ein „programmatischer“ Eckpunkt des antimodernistischen Freundeskreises (Andres 2010, 41): „Wir befeinden nicht die frau, sondern die moderne frau, die stückhafte, die fortschrittliche, die gottlos gewordene frau.“ (Gundolf/Wolters5, zit. n. Oelmann 2010, 143)

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Gertrud Kantorowicz war unter den über 50 Mitwirkenden von Georges Zeitschrift Blätter für die Kunst die einzige Frau, die 1899 einen Gedichtzyklus unter männlichem Pseudonym („Gert.Pauly“) veröffentlichen durfte (Philipp 2010, 121f.). Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters gaben von 1910 bis 1912 das Jahrbuch für die geistige Bewegung heraus, um eine gemeinsame Weltanschauung zu begründen und dem George-Kreis auch politisch Geltung zu verschaffen. Der George-Kreis propagierte zu seiner Hochzeit eine „Erneuerung“ der Gesellschaft. Diese neue Gesellschaft sollte liberale Gleichheitsideen abwehren und die Rückwendung zu hierarchischen Gesellschaftsmodellen erreichen: „Nicht die allgemeine gleichheit sondern der natürliche unterschied soll wieder zum menschenrechte werden, damit endlich dieser wahn von den augen fällt, der unsre kräfte lähmt und unser volk zu einem ängstlichen krämer, zu einem feigen knechte der humanität macht.“ (Wolters 1912, 148) Das Motto dieses Abschnittes war vermutlich als Abgrenzung zu Gertrud Simmel (aber auch Marianne Weber) intendiert. Gertrud Simmel hatte damals gerade ihr Buch Realität und Gesetzlichkeit im Geschlechtsleben veröffentlicht, das im George-Kreis verpönt war.

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George ließ sich von Frauen gern „bewirten“ und „schätzte“ auch ihre Unterhaltung. Aber für ihn stand dennoch fest, die Frauen „aus dem Staat herauszuhalten“, für ein „reines Haus“ zu sorgen. Für sie war der „innere Kreis“ tabu. Nur ausnahmsweise konnten sich Frauen – vornehmlich als Ehefrauen – am Rande des „Staates“ aufhalten. Festgelegt auf Familie und Privates würden Frauen „bündezerstörerisch“ wirken (George 1919 in einem Gespräch mit Edith Landmann, zit. n. Breuer 1995, 46). Frauen verkörperten für George die Verführung schlechthin und störten darum die über die Familie, über das Private hinausreichenden Formen der Vergemeinschaftung (Breuer 1995, 46f.). Sie waren, wie es bereits Otto Weininger konstatiert hatte, „bedrohlich“ für alle männlichen Ordnungen.

4. T HOMAS M ANN : „L AS ABENDS B LÜHER . E INSEITIG , ABER WAHR .“ (T AGEBUCHEINTRAG VOM 17. N OVEMBER 1919) Während des Ersten Weltkrieges, als in der Lesart Thomas Manns gegen das deutsche Kaiserreich Krieg geführt wurde, schrieb er in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (Mann 2001/1918) gegen die politischen Urteile seines Bruders Heinrich an, gegen Aufklärung und Liberalisierung sowie „gegen die westlichen Demokratien mit ihren Citoyen- und BourgeoisIdealen“ (Lepenies 1985, 358). Die „individualistische Masse“ sei vielleicht demokratisch, die Deutschen als „Volk“ jedoch seien „aristokratisch“. Der westeuropäischen Demokratie stellte Thomas Mann darum den deutschen „Volksstaat“ entgegen: „Es wäre ein Greuel um Politisierung und Organisation, wenn man darunter die Verstaatlichung der Nation und das Aufgehen des Individuums in der Gesamtheit zu verstehen hätte. Der Mensch ist nicht nur ein soziales, sondern auch ein metaphysisches Wesen; der Deutsche zuerst.“ (Mann 2001/1918, 295) Demnach schien Thomas Mann als „konservative“ Alternative zur „verhassten Demokratie“ einzig der Obrigkeitsstaat deutscher Prägung angemessen, zumal ja gerade Deutschland „Kultur gegen Zivilisation, Seele gegen Gesellschaft, Kunst gegen Literatur und die Musik gegen die Politik“ stelle (Lepenies 1985, 359f.). Demokratisierung bedeutete Thomas Mann „Politisierung“ und dies wiederum hieß „Entdeutschung“ (Mann 2001/1918, 87). Die „deutsche Kultur“ sollte darum keinesfalls an die „westliche Zivilisation“ verraten werden. Hierin findet sich auch fundamentale Kritik am frankophonen „Zivilisationsliteraten“ Heinrich Mann verborgen (Helbling 2001, 12). Ab den 1920er Jahren revidierte Thomas Mann seine politischen Positionen (Lepenies 1985, 368). Sein staatspolitisches Denken der frühen 1920er Jahre wurde durch Hans Blühers Visionen von der Bedeutung des männlichen Eros erfasst. Thomas Mann hat Hans Blühers Schaffen verfolgt, seine

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Vorträge gehört und ihm Beifall gezollt.6 Oftmals nahm er in seinen Tagebüchern direkten Bezug auf Blüher: „Vortrag von Blüher. Ich freue mich der Ehren, mit denen ich aufgenommen wurde. [...] Ein ausgezeichneter Vortrag, mir fast Wort für Wort aus der Seele geredet.“ (Mann 1919, zit. n. Widdig 1992, 33) In seiner 1922 vor verunsicherten konservativ-bürgerlichen Studenten gehaltenen Rede Von deutscher Republik entwirft Thomas Mann, inspiriert durch Hans Blüher, eine „homoerotisch gefärbte Staatsund Republikkonzeption“ (Widdig 1992, 34). Er versuchte nun allerdings, der antidemokratischen Männerbundkonzeption Blühers eine „republikanische“ Wendung zu geben, eine „Republik der Männer“ anzudenken, um dadurch die Republik gehörig konservativ zu fundieren (ebd., 34, 55 u. 59). Selbst republikanische Ordnungen benötigten aus Sicht Manns „homoerotischen“ Bürgersinn. Nur Männerliebe und Männerfreundschaft schafften Pfeiler „humaner Demokratie“ (Mann 1993/1922, 155). Hans Blüher (1917/19) war in seinem Buch Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft von der Annahme erfüllt, dass die „Kraft des invertierten Eros“, der „mannmännliche Eros“ für Staats- und Gemeinschaftsbildung essenziell sei. Der westliche Staatstypus beruhe auf einem maskulinistischen Gründungsprinzip: Er werde ausschließlich aus männlichem Eros geboren. Diese Idee faszinierte die künstlerische und intellektuelle Männerwelt. Sie erschien ihr als geeignetes „männliches“ Gegen- und Abwehrprogramm zur verhassten „verweiblichten“ Weimarer Republik. Thomas Mann reihte sich also in die historische Ikonenreihe männerbündischer Staatsapologeten ein: „Eros als Staatsmann, als Staatsschöpfer sogar ist eine seit alters vertraute Vorstellung, die noch in unseren Tagen aufs neue geistreich propagiert worden [ist].“ (Mann 1993/1922, 155) Thomas Mann (zit. n. Helbling 2001, 10) hob immer wieder hervor, dass „das direkte Reden eigentlich nicht“ seine „Sache“ sei. Er „lasse reden, nämlich seine Romanfiguren“. So war er auch einigermaßen stolz, zumal er sich mit der Figur des Thomas Buddenbrook als Erfinder des „Leistungsethikers“ als Berufsmenschen und Held der Moderne empfand. Demnach bestand er in einem Brief an seinen Bruder auf seinem Primat vor Max Weber, Ernst Troeltsch und Werner Sombart: „Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich den Gedanken, der modern-kapitalistische Erwerbsmensch, der Bourgeois mit seiner asketischen Idee der Berufspflicht sei ein Geschöpf protestantischer Ethik, des Puritanismus und Kalvinismus, völlig auf eigene Hand, ohne Lektüre, durch unmittelbare Einsicht erfühlte und erfand und erst nachträglich [...] bemerkt habe, dass er gleichzeitig von gelehrten Denkern gedacht und ausgesprochen worden.“ (Mann 1913, zit. n. Lepenies 1985, 358; Herv. i.O.)

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Auch Franz Werfel und Rainer Maria Rilke reagierten zustimmend auf Hans Blühers männlich-erotische Staatsbildungsthesen.

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Wie verbreitet in dieser Epoche die ideologische Verknüpfung ikonisierter Männlichkeit mit Juden- und Frauenfeindlichkeit war, lässt sich am Beispiel von Thomas Mann ebenfalls demonstrieren. Auch er, der sich zwar öffentlich als „überzeugter und zweifelloser Philosemit“ bekundet hatte (1993/ 1907, 94), nahm eine ambivalente Haltung zum Judentum ein (vgl. Mann 1993/1921). Trotz seiner philosemitischen Außendarstellung finden sich in seinen Texten immer wieder „unterschwellig diffuse antisemitische Akzente“ (Kurzke 1993, 340). So schrieb er Juden „eingeborene Liebe zum Geist“7 (Mann 1993/1907, 94) zu und warnte gleichzeitig vor den „scharfen Judenjungen“ (Mann 1993/1922, 153), denen man die deutsche Republik keinesfalls überlassen dürfe.8 Thomas Mann ist politisch schwer zu verorten, weil er sich von anfangs nationalkonservativer Polemik gegen die Weimarer Republik hin zu ihrer Verteidigung liberalisiert hat. Und ab 1933 opponierte er überhaupt gegen die antijüdische Politik des NS-Regimes.

5. M AX W EBER : M ÄNNERBÜNDISCHER U NTERBAU CHARISMATISCHER H ERRSCHAFT Ein abschließendes Schlaglicht soll nun auf Max Weber gerichtet werden, denn er setzte gewissermaßen den wissenschaftlichen Schlusspunkt unter die in dieser Zeit verbreiteten (staats-)politischen Männerfantasien. Er rundete theoretisch und konzeptuell ab, was die Männerwelt damals (gegen)bewegte. Es waren allemal extrem männlich konnotierte Denk- und Realfiguren, die das Feld des Politischen absteckten: eine Vielzahl von manifesten und latenten Männerbünden, die Max Weber höchst vertraut waren, die Legitimität charismatischer Herrschaft, von der auch er sich angezogen fühlte, und schlussendlich eine plebiszitäre Führerdemokratie („Cäsarismus“), die den „starken Mann“ (einen „neuen Cäsar“) für die Spitze des demokrati7

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Das vollständige Zitat lautet: „Die Juden aber zeichnet eines aus, was sie, man muss es sagen, unter Deutschen ‚artfremder‘ erscheinen lässt, als ihre Nase: Es ist ihre eingeborene Liebe zum Geist, – diese Liebe, die sie gewiss nicht selten zu Führern auf dem Sündenwege der Menschheit gemacht hat [...].“ (Mann 1993/ 1907, 94) Antisemitismus wurde in dieser Periode häufig einfach als „judenkritische“ Haltung geäußert: So hielt sich Carl Schmitt keinesfalls für einen Antisemiten (Gross 2005, 9). Er pflegte persönliche Freundschaften mit Juden. Antisemitische Neigungen benannte er als „judenkritisch“. Die Schmittianer haben dieses Thema, Affinität Schmitts zum Antisemitismus zwischen 1933 und 1945 oder gar antisemitisches Potenzial in seinem Denken vor 1933, stets peinlichst vermieden. „Für mich ist der katholische Glaube die Religion meiner Väter. Ich bin Katholik nicht nur dem Bekenntnis, sondern auch der geschichtlichen Herkunft, wenn ich so sagen darf, der Rasse nach.“ (Schmitt, Tagebuch 1947 bis 1951, zit. n. Gross 2005, 21)

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schen Staates rekrutieren und absegnen sollte (Schürgers 1989, 189ff.). Max Weber war nicht nur ein leidenschaftlicher Denker des Politischen, er intervenierte auch in die Praxis von Politik, indem er im Sinne politischer Erneuerung auf die Weimarer Verfassung Einfluss nahm. Die starke Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik geht auf ihn zurück. Selbst exaltierten „Monarchismus“ zog er „pazifistischem Utopismus“ allemal vor (Weiller 1994, 168). Er bahnte also durchaus autoritäre Politikentwicklungen an, selbst wenn er nur die Anfänge der Weimarer Republik erleben konnte. Die Wurzeln seines politisch-maskulinistischen Denkens reichten jedenfalls in die Ära des Wilhelminismus zurück, von dem er trotz aller Kritik wesentliche Momente in die neue, nun meist negativ-weiblich konnotierte Republik herüberretten wollte. Max Weber zeigte durchaus Gefallen und Lust an männerbündischer Geselligkeit (Radkau 2005, 75). Bereits sein Biograf Eduard Baumgarten (1964, 618) verwies darauf, dass in Weber „eine ganz elementare Art von Geselligkeit steckte: er war von ganzer Seele Kumpan, Kumpan des zutrauenden fröhlichen Moments: Zechkumpan, Kumpan im Gesang, Kumpan in wildem Erzählen und Aufschneiden.“ Brüderschaftsverhältnisse und Männergeselligkeit erschienen Weber als „soziale Urerfahrungen“ und daher als „Schlüssel zu urtümlichen Vergesellschaftungsprozessen“ (Radkau 2005, 75). Verbrüderung wurde für ihn zum Modell von Vergesellschaftung überhaupt. Er stöberte darum auf der Suche nach Bruderschaften bis weit in die Antike zurück und fand auch zahlreiche Anhaltspunkte für ihre Bedeutung in außereuropäischen Kulturen (ebd., 67f.). Webers Theorie der Vergesellschaftung schöpfte aber auch wesentlich aus eigenen brüderlichen und männerbündischen Erfahrungen. Vorbehalte gegen bier- und weinselige Männergeselligkeit kamen freilich auf, nachdem Weber einen gesundheitlichen Zusammenbruch erfuhr. Danach zeigte er sich verschiedenen Männlichkeitsritualen gegenüber ambivalent und verachtete manche sogar. Mensur und Duell verteidigte er jedoch weiterhin. Für ihn zählte Kampfbereitschaft zum Kern jedes Männerbundes (ebd., 73). 1902 hatte Max Weber Heinrich Schurtz’ Studie über die Männerhäuser als frühe Vergesellschaftungsform gelesen: „Das von Schurtz so liebevoll studierte, in den verschiedensten Formen über die ganze Welt verbreitete Männerhaus ist eins derjenigen Gebilde, zu denen solche Vergesellschaftung der Krieger, in der Schurtzschen Terminologie: ein Männerbund, führen konnte.“ (Weber 1972/1922, 616) Die Männerwelt war damals zutiefst beeindruckt von Schurtz’ weltweiter Bilanz von Männerhäusern als Kulturträger und Staatsbildner. Vielen galt die ethnografische Studie als Gegenentwurf zur „Theorie vom urtümlichen Matriarchat“, die damals ebenfalls en vogue war. Schurtz hatte zwischen einem „Familientrieb“ und einem „reinen Geselligkeitstrieb“ unterschieden. Letzterer würde jedoch nur Männern zuteil. Diese Lektüre war „geeignet, Weber in der gesellschaftsgeschichtlichen Tragweite seiner eigenen Männerbund-Erfahrungen zu bestär-

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ken“ (Radkau 2005, 76). Max Weber pflegte auch Kontakte zu anderen, von männerbündischem Esprit Beseelten: zu Stefan George und Thomas Mann. 1910 wurde Stefan George bei Max und Marianne Weber in Heidelberg eingeführt. Der Kontakt zwischen ihnen sollte jedoch nur bis 1912 andauern. Webers Persönlichkeit, seine „wissenschaftliche Nüchternheit“ war es, die einige der Georgianer ganz besonders anzog (Lepenies 1985, 344). George verstand sich als ein Schulengründer, der eine Gemeinde junger Männer um sich scharte. Weber hingegen galt als Außenseiter und Einzelgänger. Nach seiner studentischen Verbindungszeit huldigte er mehr dem Individuum und lehnte „Gemeinschaftsschwärmerei“ ab (Weiller 1994, 173). Vor allem Persönlichkeitskulte störten ihn. Aber auch Max Weber hatte, wie Ernst Toller sich erinnerte, beträchtliche Resonanz bei der männlichen Jugend gefunden: „Die Jugend klammert sich an Max Weber, seine Persönlichkeit, seine intellektuelle Rechtschaffenheit zieht sie an. Er hasst alle Staatsromantik, er attackiert Maurenbrecher9 und mit ihm die deutschen Professoren, die vor lauter Gespinsten die Wirklichkeit nicht sehen.“ (Toller 1933, zit. n. Weiller 1994, 173) Sowohl George wie auch Weber waren also in gewissem Sinne „Führerfiguren“ (Lepenies 1985, 345), jeder auf seine Art. Zugleich aber waren sie höchst gegensätzliche Charaktere. Dennoch betrachteten einzelne Mitglieder des George-Kreises Webers und Georges politische Positionen „als fast deckungsgleich“. Beide hätten, wie manche meinten, einander optimal ergänzen können, der eine „realitätsnah“ denkend, der andere „romantisch“, von „poetisch-politischen Utopien“ durchdrungen. Grund für Differenzen vermuteten die Georgianer in „Webers Charisma-Neid“ (ebd., 342f.). Weber wiederum stieß Georges „Verachtung demokratischer Bestrebungen“ ab (Weiller 1994, 69). Schon 1897 war Max Weber auf Stefan Georges Gedichte aufmerksam gemacht worden. Weber erblickte darin zunächst freilich nur Belege „eines ihm fremden Artisten- und Ästhetentums“ (Lepenies 1985, 340f.). Erst seine Erkrankung eröffnete ihm Zugang zu Georges Lyrik und Gefühlswelt. Weber sah darin ein Mittel, Stimmungslagen auszudrücken, wie sie der „wissenschaftliche Mensch“ nicht zu artikulieren vermag (ebd., 341f.). Diese Bedeutung versöhnte ihn sogar mit Georges dichterisch-prophetischem Pathos. Weber störte aber, dass George sich nicht auf die Rolle des Ästheten beschränkte, sondern mit seiner Dichtung „etwas bewirken“ wollte (ebd.). Für Weber war der Dichter Künstler und nicht mehr, schon gar nicht politischer „Führer“. Gewiss lehnte er politisches Engagement von Dichtern keineswegs ab, aber der „Geltungsanspruch der Kunst“ sollte niemals überdehnt werden (ebd., 345). Die Veränderungsmacht poetischer Vernunft schien ihm beschränkt (Weiller 1994, 255). Georgianer und Weberianer schieden sich vor allem an ihrem Wissenschaftsverständnis: oftmals emotional vorgetragene Wissenschaftsskepsis stand gegen nüchterne Ansprüche

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Wilhelm Maurenbrecher (1838–1892), deutscher Historiker.

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von Objektivität, Beweisbarkeit sowie Wert- und Werturteilsfreiheit von Wissenschaft. Nicht zuletzt der George-Kreis hatte Weber zu soziologischen Untersuchungen des deutschen Vereinswesens inspiriert. Weber zitierte anlässlich des ersten Soziologentages 1910 die „von künstlerischen Weltgefühlen getragenen Sekten“ als interessante Studienobjekte und erwähnte hier im Speziellen den George-Kreis (Lepenies 1985, 345f.). Auch im Zuge seiner Ausführungen zur charismatischen Herrschaft beschrieb er Georges „Staat“ als „emotionale Vergemeinschaftung“. „Reines Charisma“ erschien ihm wirtschafts- und realitätsfremd: „[B]ei einer primär künstlerischen charismatischen Jüngerschaft [ist] denkbar, dass die Enthebung aus den Wirtschaftskämpfen durch Begrenzung der im eigentlichen Sinn Berufenen auf ‚wirtschaftlich Unabhängige‘ (also: Rentner) als das Normale gilt (so im Kreise Stefan Georges, wenigstens der primären Absicht nach).“ (Weber 1972/ 1922, 142) Diese Beschreibung der Georgianer als „Rentner“, „kleinbürgerliche Rentiers“ wirkte auf sie „verletzend“. Webers Ton galt ihnen als „unangemessen und gehässig“. So trachteten sie danach, dieser „ökonomischen Analyse der Klassenlage der Kreis-Mitglieder zu widersprechen und sie zu korrigieren“ (Lepenies 1985, 346f.). Die Auseinandersetzung mit Weber hatte freilich auch einen weiteren Grund: Marianne und Max Weber vermuteten nämlich, dass die programmatischen frauenfeindlichen Ausführungen in der Einleitung des Jahrbuchs für die geistige Bewegung sich auch auf den „Weber’schen Haushalt“ bezogen (ebd., 349). 1919 traf Max Weber erstmals auf Thomas Mann. In ihren jeweiligen Tagebuchnotizen bzw. Briefen berichten beide über dieses Zusammentreffen, das offenbar beeindruckt hatte, und Weber äußerte die Absicht, in Zukunft in Kontakt bleiben zu wollen (Lepenies 1985, 368). Zunächst erschien Weber Mann nicht konservativ genug (Weiller 1994, 258). Es ist dies aber gerade jene Zeit, in der Mann allmählich von einigen seiner problematischen politischen und sozialen Sichtweisen abzurücken beginnt und sich zum „Liberalen“ wendet. Mann nahm in seiner literarischen Arbeit, im Grunde praktiziert als „angewandte“ Soziologie, vielfach Themen und Fragestellungen auf, die auch für Max Weber Leitmotive seiner Untersuchungen abgaben. Der Zusammenhang von asketischem Protestantismus und kapitalistischem „Geist“ des Bürgertums interessierte beide. Sie sahen sich aber als Analytiker des Verfalls der bürgerlichen Gesellschaft. Der eine legte seine Gesellschaftsanalysen in Romanform vor, der andere tat dies im Rahmen sozialwissenschaftlicher Texte. In späteren Jahren sollte Mann sogar Webers Begrifflichkeit aufnehmen, um seine „eigene Innerweltlichkeit“ von Heinrich Manns „Gesellschaftszugewandtheit“ abzugrenzen (Lepenies 1985, 370). „Thomas Manns Neigung zum Gesellschaftlichen, zum Soziologischen, zu Motiven Max Webers [war] nicht unterdrückbar.“ (Ebd., 366) Dies obwohl Manns Betrachtungen eines Unpolitischen ursprünglich noch als „antisoziales Pamphlet“ und „antisoziologisches Traktat“ galten (ebd., 360). Langsam aber bekannte auch Mann sich zum „politisch-sozialen Men-

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schen“ (ebd., 373), blieb jedoch zeitlebens den Sozialwissenschaften gegenüber distanziert. Thomas Mann betonte später stolz die große Nähe seiner Sichtweisen zu Max Webers Denken. „Was im polemischen Klima der Betrachtungen als Prioritätsstreit erschien, wandelte sich in der Zeit der Weimarer Republik und unter dem Solidaritätsdruck des Exils zur Erkenntnis einer bedeutenden Wahlverwandtschaft.“ (Ebd., 374)

6. F AZIT Anhand der Genese und Verbreitung männerbündischer Staatsfantasien und -praktiken in Wissenschaft und Literatur konnte aufgezeigt werden, dass die Gleichzeitigkeit vieler männlicher Kopfgeburten dieser Zeit kein bloßer Zufall war. Sie sind auch in ihrer Bedeutung für die Staatsentwicklung der Zwischenkriegszeit kaum zu verkennen: Um die Jahrhundertwende, in den Wirren des Ersten Weltkrieges sowie in den krisenhaften Anfängen der Weimarer Republik dachten und fühlten Heinrich Schurtz, Hans Blüher, Stefan George, Thomas Mann und Max Weber in großer Übereinstimmung, auch wenn die Benennungen ihrer männlichen Denk- und Realfiguren voneinander abwichen. An ihrem Beispiel lässt sich der hegemonial gewordene maskulinistische und antifeministische „Zeitgeist“ erkennen. Zudem wird nachvollziehbar, warum die damalige Kritik am Staatlichen maskulinistischen Fiktionen folgte. Auch der praktische Nutzen männlich-erotischen Staatsdenkens für konservativ-nationalistische, deutsch-völkische und antisemitische Ideologien trat bereits zutage. Auch wenn somit die Zwischenkriegszeit mit ihren Übergangsturbulenzen zu Recht als eine Blütezeit antidemokratischen Denkens markiert werden muss, heißt dies mitnichten, dass sich nicht auch einige wenige demokratische Denker an den Staatsdebatten beteiligt hätten. Im Großen und Ganzen aber wurde das staatswissenschaftliche Diskursfeld antidemokratischem Denken überlassen. Nur wenige Staatsrechtler versuchten, die Republik von links zu verteidigen (Schürgers 1989, 13). Noch weniger aber kritisierten die maskulinistische Ausrichtung, wie sie in zeitgenössischen Staatsdiskursen zutage trat. Der Staat sollte als männliche Ordnung wiedererstehen, um der verweiblichten Weimarer Republik zu widerstehen.

L ITERATUR Andres, Jan 2010: „frauen fremder ordnung.“ Thesen zur strukturellen Misogynie des George-Kreises. In: Ute Oelmann/Ulrich Raulff (Hg.): Frauen um Stefan George. Göttingen, 37–57. Baumgarten, Eduard 1964: Max Weber. Werk und Person. Tübingen. Blüher, Hans 1917/19: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. 2 Bde. Jena.

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Hitlerjunge Quex Brüderhorden am Ende der Zwischenkriegszeit M ICHAEL R OHRWASSER

Kein anderer Film als Hitlerjunge Quex aus dem Jahre 1933 spiegelt so anschaulich und detailreich die Faszinationskraft der Nazi-Brüderhorde, und kaum ein anderer Film der NS-Zeit kann vermutlich mehr Irritation beim heutigen Zuschauer auslösen. Verblüffend ist vor allem, wie sehr sich Hitlerjunge Quex auf sein Publikum verlassen konnte, denn die Nationalsozialisten und deren Gegner erscheinen darin nicht dämonisiert, sondern eher als Konkurrenten im Kampf um die Jugend. Man fragt sich als heutiger Beobachter, was Quex ins nationalsozialistische Lager zieht, warum er sich nicht der „Kommune“ anschließt, bei der Mädchen sind und getanzt, gelacht und getrunken wird. Dabei scheint es auf den ersten Blick nicht um Homosexualität zu gehen, denn Quex darf sich in ein BDM-Mädchen verlieben. Offenbar konnte der Film mit einer Rezeptionshaltung rechnen, die das „bessere Lager“ vom „schlechteren“ zu unterscheiden weiß. Es geht im Folgenden darum, die Faszinationsspuren dieses Films zu verstehen, und, damit verbunden, nach der Zuordnung von Brüderhorde und Nazis zu fragen. Das UFA-Filmplakat gibt von der Faszinationsgeschichte des Films nur einen ungenauen Eindruck, denn es zeigt uns eine Idealgestalt, die siegessicher in die Zukunft schaut, einen Moses, der das rote „Moabit-Meer“ trockenen Fußes durchschritten hat. Im Film wird eine andere Geschichte erzählt, die von Todessehnsucht und Märtyrertum handelt, und die auch eine Botschaft an das gegnerische Lager sendet.

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Abbildung 1: Hitlerjunge Quex

Filmplakat

Man kann ohne Provokationslust von einem „gutgemachten“ Film sprechen, der nicht nur in der Anfangssequenz (die vom Diebstahl eines Apfels erzählt) eine deutliche Nähe zum kommunistischen Agitationsfilm aufweist, sondern auch in der Zeichnung des Opfers und in der Schlussapotheose. Wenn Billy Wilder den Regisseur, Hans Steinhoff, als „talentlos“ charakterisiert (Sinyard/Turner 1980, 123),1 so trifft das nicht auf Hitlerjunge Quex 1

Billy Wilder, der vor 1933 für Steinhoff Drehbücher geschrieben hatte, betont: „Ein Mann ohne jedes Talent. Er war ein Nazi, ein hundertprozentiger sogar. Aber es gab auch viele Nazis, die Talent hatten. Ich würde nie sagen, daß die Leni Riefenstahl kein Talent hatte... Aber ich sage über Steinhoff, daß er ein Idiot war, aber nicht weil er Nazi war, er war auch ein sehr schlechter Regisseur.“ (Sinyard/Turner 1980, 123) Geza von Cziffra zitiert in seinen Erinnerungen Stim-

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zu, der in der Tradition des „proletarischen Films“ der Weimarer Jahre steht; er erinnert an Slátan Dudows Kuhle Wampe (1932) und besonders an Phil Jutzis Mutter Krausens Fahrt ins Glück von 1929 (vgl. Zygouris 2002, 250ff. und Jacobsen/Kaes/Prinzler 1993, 123f.). Aber der „proletarische Film“ erfährt auch eine Korrektur: Der Junge, der in der ersten Szene beim Lebensmittelhändler einen Apfel stiehlt und dabei von den Kommunisten Unterstützung erfährt, taucht später wieder auf dem Bahnhof auf, wo sich Hitlerjugend und „Kommune“ gegenüberstehen, und wirft einem Jungnazi den Apfelkern ins Gesicht – dieser Anwurf gilt gewissermaßen auch dem linken Film. Dennoch ist das soziale Milieu treffsicher geschildert, der Film entwickelt atmosphärische Kraft und arbeitet mit eindringlichen Bildern. Die Schauspieler Heinrich George und dessen Ehefrau, Berta Drews, verkörpern die an der Schwelle zum Elend stehende Proletarierfamilie Völker in Berlin-Moabit, in der ihr Sohn Heini, der spätere Quex, heranwächst. Zur Genauigkeit und Dichte der Milieuzeichung trägt bei, dass der Regisseur damit zwei Schauspieler eingebunden hat, die Milieu und kommunistisches Lager gut kannten, Heinrich George als Vater Völker und Hermann Speelmans, der den Stoppel, einen mafiösen Kommunisten spielt.2

1. D IE B RÜDERHORDE Die Zuordnung von Nazis und Brüderhorde ist von heute aus gesehen naheliegend und scheinbar selbstverständlich, zumal „Männerbund“ auch in den Schriften von Hans Blüher mit völkischem und rassistischem Diskurs konnotiert war (vgl. Bruns 2008, 276ff.). Man mag sich aber an sozialistische und rätekommunistische politische Debatten nach dem Niedergang der Königs-, Kaiser- und Zarenreiche 1919 erinnern. Damals glaubte man sich auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft und entdeckte in der Brüdergesellschaft ein neues Modell neben dem der Familie, die unter dem Ansturm der

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men zu Steinhoff von O.W. Fischer, „Er ist brauner als Goebbels und schwärzer als Heinrich Himmler“, und Hans Albers, „Er ist das größte Arschloch des Jahrhunderts. Und ein Schwein dazu. Eines schönen Tages werde ich ihn erschlagen – so wahr ich der liebe Gott bin!“ (Cziffra 1988, 259) Carl Zuckmayer schreibt über Heinrich Georges Wandlung: „Jählings von einem Tag auf den anderen wandelte er seine wildkommunistische revolutionäre Gesinnung in ebenso raserischen Nationalsozialismus – wobei er in lichten Momenten oder nüchternen – oder vielleicht auch ganz betrunkenen – Augenblicken sich über seine Verräterei und deren Folgen klar wird und sein eigenes Todesurteil spricht. Er wagt es, als Götz von Berlichingen mit dem Hitlergruß aufzutreten und wurde ein Führer des nazistischen Theaters.“ (Zuckmayer 2002, 95f.) Speelmans, der über den europäischen Nihilismus promoviert hat und erst danach zum Film kam, stand anfangs der KPD nahe (Mitteilung von Rudi Schönwald, Wien).

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Moderne zerbrochen schien. Blühers Geschlechtertrennung (der Staat als männliches, die Familie als weibliches Terrain) wird dabei tradiert (vgl. Thomä 2010). Paul Federn, Wiener Psychoanalytiker und seit 1919 Sozialist, späterer Lehranalytiker von Wilhelm Reich und Mitglied in Freuds Psychologischer Mittwoch-Gesellschaft, hat 1919 in seiner Broschüre Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft einer Hoffnung Ausdruck gegeben, die die Zustimmung vieler Linker fand, wenn auch nicht diejenige Freuds, dessen Massenbilder immer noch um Väter herumgruppiert waren (vgl. Rohrwasser 2005, 299ff.). Der Zusammenbruch der alten Reiche, die Ausrufung der bayerischen und der ungarischen Räterepublik wird für Federn ein positives historisches Szenario. Im Gegensatz zum Psychoanalytiker Emil Lorenz, der 1919 Sozialismus und Bolschewismus verteufelt und die Revolution für „ein regressives, neurotisches oder psychotisches Phänomen“ hält, weil der Revolutionär an „nicht überwundener väterlicher Autorität“ leide (Lorenz 1919, 18), sieht Paul Federn ein zweites soziales Prinzip, die Brudergesellschaft, erwachen, „dessen seelisches Motiv nicht mit innerer Schuld und innerem Zwang erblich belastet ist“ (Federn 1919, 13f.). Wer dafür zu schwach sei, organisiere sich bei den neuen sozialdemokratischen Vätern wie Victor Adler oder Friedrich Ebert. Federn steht bei seiner Ausklammerung der Schwestern und mit der Betonung der homoerotischen Bindung der Brüder in der Tradition von Hans Blüher, Max Weber und Thomas Mann (vgl. Widdig 1992; Blüher 1920; Baeumler 1989). Der Traum von der Brudergesellschaft ist also keineswegs ein Derivat der Rechten.

2. D ER F ILM Hitlerjunge Quex. Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend ist einer der ersten NS-Propagandafilme; von der damaligen Filmprüfstelle erhielt er das Prädikat „Künstlerisch besonders wertvoll“.3 Uraufgeführt wurde er am 11. September 1933 in München unter Anwesenheit von Adolf Hitler, der am Ende dem Hauptdarsteller Jürgen Ohlsen auf der Bühne dankte. Auch Goebbels drückte dem Regisseur und den Darstellern seinen Dank aus, weil sie sich „um die künstlerische Gestaltung nationalsozialistischen Ideenguts ein großes Verdienst erworben“ hätten (zit. n. Giesen/Hobsch 2005, 7). Das Drehbuch des Films stammte von Bobby E. Lüthge und Karl Aloys Schenzinger, dessen Roman Der Hitlerjunge Quex schon im Dezember 1932 er-

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Steinhoff erhielt für den Film das goldene Ehrenabzeichen der Hitlerjugend. In der Literatur über den NS-Film wird Hitlerjunge Quex einer „Nazi-Märtyrertrilogie“ zugerechnet, zu der die Filme SA-Mann Brand (uraufgeführt am 14.06.1933) und Hans Westmar. Einer von vielen (uraufgeführt am 13.12.1933) gehören (vgl. Loiperdinger/Arnold 1991; Prümm 2000).

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schienen war, also noch vor der Hitler-Diktatur.4 Schenzingers Roman, von Baldur von Schirach in Auftrag gegeben, wurde zum bekanntesten und auflagenstärksten Jugendbuch der NS-Zeit. Der Film hält sich ziemlich eng an die Romanvorlage, liefert aber ein paar entscheidende Erweiterungen. Den Anstoß für Buch und Film gab die Ermordung des 15-jährigen Herbert Norkus, einem Mitglied der Hitlerjugend, der an einem Januarmorgen im Jahre 1932 in Berlin-Moabit Flugblätter verteilt hatte und von einer Gruppe von Kommunisten niedergeschlagen wurde. Norkus starb durch mehrere Messerstiche.5 In den letzten Monaten der Weimarer Republik herrschten in Berlin bürgerkriegsähnliche Zustände; Saalschlachten, Überfälle auf Vereinslokale und blutige Zusammenstöße auf der Straße gehörten zum politischen Alltag. Im ersten Halbjahr 1932 wurden bei solchen Zusammenstößen mehr als 100 Menschen getötet und über 4500 verletzt (vgl. Friedmann 2008). Der Film spiegelt auch die Abwesenheit des Staates – am Ende, als das Rollkommando der „Kommune“ unterwegs ist, bleibt die Berliner Schutzpolizei unsichtbar, auch davor kann oder will sie die Überfälle und Übergriffe nicht verhindern. Der Film erzählt eine Märtyrerlegende, er handelt von einer Konversion, die mit dem Tod bezahlt wird und damit eine existenzielle Sinnstiftung erfährt – „er starb für uns, wir leben für ihn“, heißt es in Schenzingers Roman (1932, 51). Zwar kann auch in der proletarisch-revolutionären Literatur der

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Karl Aloys Schenzingers Roman Der Hitlerjunge Quex (Berlin: ZeitgeschichteVerlag Wilhelm Andermann 1932) erschien zuerst als Fortsetzungsroman im Völkischen Beobachter; er erreichte bis 1945 eine Auflage von 500.000 Exemplaren und war damit das erfolgreichste Nazi-Jugendbuch. (Die mir vorliegende Ausgabe, 211.−224. Tausend, aus der Wiener Universitätsbibliothek, noch mit dem Hakenkreuzstempel versehen, trägt den Vermerk: „Dieses Buch wurde geschrieben von Mai bis September 1932. Die erste Auflage erschien im Dezember 1932. Sämtliche Auflagen sind unveränderte Nachdrucke der ersten Fassung.“ Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert; Seitenangaben im laufenden Text.) Der Autor hat den Roman nach eigenen Angaben in 14 Tagen geschrieben. Baldur von Schirach ordnete infolgedessen für Berlin eine Woche „Parteitrauer“ an und erklärte bei der Premiere des Films: „Ich kann nur einen Augenblick lang Ihre Gedanken hinlenken auf den jungen Kameraden, dessen Schicksal in diesem Film dargestellt wird. Auf diesen kleinen Kameraden, der nicht mehr unter uns sein kann, weil er schon einundeinhalb Jahre unter der Erde liegt.“ (Zit. n. Giesen/Hobsch 2005, 33) Auf dem Parteitag der NSDAP im Juli 1926 wurde die Großdeutsche Jugendbewegung in Hitlerjugend, Bund deutscher Arbeiterjugend (kurz: HJ) umbenannt. Mit 14 Jahren konnte man Mitglied werden, die Jüngeren („Pimpfe“) konnten sich im Deutschen Jungvolk organisieren. 1930 wurde der Bund Deutscher Mädel (BDM) gegründet. 1933 hatte die HJ über 100.000 Mitglieder, 1935 waren es vier Millionen (vgl. Kater 2005).

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Weg zur kommunistischen Partei mit dem Opfertod konnotiert sein6, doch die Verfilmung von Hitlerjunge Quex strahlt eine regelrechte Todesverliebtheit aus. Dass die Fahne „mehr als der Tod“ sei, verkündet nicht nur die letzte Liedzeile, es ist auch der Refrain jenes Liedes, das im Film vielfach intoniert wird: „Unsre Fahne flattert uns voran, / Unsre Fahne ist die neue Zeit. / Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit! / Ja die Fahne ist mehr als der Tod!“ Erzählt wird die Geschichte einer Wandlung: Der 16-jährige Heini Völker wohnt bei seinen Eltern in einer düsteren Wohnung im proletarischen Berlin-Moabit, seine Mutter ist verhärmt und hat alle Hoffnung verloren, der Vater ist arbeitslos, versoffen und schlagwütig, zudem ein Linker, der zwischen SPD und KPD schwankt. Er und sein Freund Stoppel wollen Heini in den kommunistischen Jugendverband ziehen. Heini freut sich, als er zu einem Wochenende eingeladen wird, zu einem Ausflug mit der „Kommune“. Aber auf dem Anhalterbahnhof sieht er die anderen, die Hitlerjugend, die sich in schmucken Uniformen diszipliniert am Bahnsteig formiert hat und sich von der wilden Horde von Jungkommunisten nicht provozieren lässt. Auf dem Weg zum Ausflugsziel wird Heini von der wilden „Kommune“ immer mehr abgestoßen, und es zieht ihn gewissermaßen mit Naturgewalt hin zu den Nazis. Er bricht aus dem Wald, in dem der kommunistische Jugendverband sein Lager aufgeschlagen hat, hinaus ins Freie, wo die NaziJugend am Ufer des Sees ihr Lagerfeuer entfacht hat. Nun beginnt für Heini der Kampf gegen die Eltern, Stoppel und dessen Gesellen. Er schließt sich seinen neuen Freunden, den Nazis, an und verrät diesen, dass die „Kommune“ einen Überfall auf deren neues Vereinslokal plant. Als Verräter schwebt er nun in Lebensgefahr, die Mutter dreht in ihrer Verzweiflung nachts den Gashahn auf, um sich und ihren Sohn zu töten. Vorbild ist hier vermutlich Phil Jutzis Film Mutter Krausens Fahrt ins Glück, in dem Mutter Krause den Gashahn aufdreht, um sich und ihr Kind zu töten: „Was hast du armet Wesen auf dieser Welt zu verlieren. Komm, du fährst mit Mutter Krause ins Jlück.“ Heini Völkers Mutter stirbt, aber ihr Sohn überlebt und wird in die Hitlerjugend aufgenommen. Er setzt bei seinem Scharführer durch, dass er in den tobenden Wahlkampf eingespannt wird, hilft, in Moabit Flugblätter zu verteilen und wird dort auf dem Rummel von dem Rollkommando der „Kommune“ niedergestochen. Der Illustrierte Filmkurier fasst die Sache kürzer: „Der kleine tapfere Soldat ist den Heldentod gestorben, für seine Sache, für die Kameraden, für die heißgeliebte Fahne und den Führer. Aber andere deutsche Jungens reißen die Fahne wieder hoch, die mit dem Blut eines der besten geweiht ist.“ (Zit. n. Giesen/Hobsch 2005, 32) Und am kürzesten fasst es Ludwig Harig (1990, 76), der sich in seinem autobiografischen Roman Weh dem, der aus

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Beispielsweise in Karl Grünbergs Roman Brennende Ruhr (1928), vgl. dazu Rohrwasser 1975, 84ff.

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der Reihe tanzt an die Wucht erinnert, mit der ihn dieser Film als Jugendlicher getroffen hat. Er schreibt: „ein Kinofilm über eine Fahne […]“. Das Kapitel, in dem Harig von der heftigen Wirkung des Films und des Romans erzählt, heißt Unsre Fahne flattert uns voran!: „Die Bilder durchwirbelten mein Hirn, saugten mich an, sogen mich auf. … war ich schon verloren an diese Engelschöre, diese Lichtgestalt des Hitlerjungen, diese betörende Heiligengeschichte, verraten und verkauft? Schuldlosigkeit war Unschuld, Reinlichkeit war Reinheit, ich badete, ich wusch mich rein in diesem Bildermeer.“ (Ebd., 78)

Auch Hartmut von Hentig (1983, 22) erinnert sich an den Film: „Im selben Jahr sah ich den Film Hitlerjunge Quex. Wie andere Jungen habe ich Quex zugleich geliebt und beneidet. Auch ich wäre gerne für eine große Sache in den Kampf gegangen und gestorben; auch ich wollte mich bewähren; auch ich sehnte mich nach den Starken und der Gemeinschaft, die sie zu bilden schienen.“

3. D AS F AHNENLIED DER HJ ODER D ER K AMPF ZWEIER M ELODIEN Man könnte Harigs Formel variieren und sagen: Hitlerjunge Quex ist ein Film über den Kampf zweier Melodien. Eine der eindringlichsten Szenen des Films fehlt im Roman, und das hängt mit der Stärke des Films zusammen, die in seiner Musik liegt. Im Roman wird das sogenannte HorstWessel-Lied angestimmt („Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“), im Film ertönt dagegen erstmals das Kampflied von Baldur von Schirach, „Vorwärts! Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren“, das mit der Filmpremiere der Öffentlichkeit präsentiert wird.7 Im Film singt es Heini Völker begeistert seiner Mutter vor, als er vom Ausflug, der ihn der HJ-Gruppe nähergebracht hat, nach Hause kommt. Der Vater wacht durch den Gesang 7

Nach der Machtübernahme erhielt Baldur von Schirach den Titel eines „Jugendführers des Deutschen Reiches“. Das Lied Unsere Fahne flattert uns voran, auch als Fahnenlied der HJ bezeichnet, wurde überaus populär, sein Autor galt als „Sänger der Bewegung“, der auch von unerwarteter Seite Lob erntete. 1940 wurde Schirach zum Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien ernannt. Die 20 Jahre Haft, zu denen er im Nürnberger Prozess verurteilt wurde, saß er in BerlinSpandau ab. Bald darauf veröffentlichte er seine Memoiren: Ich glaubte an Hitler (Hamburg 1967). Die letzte Strophe seines HJ-Liedes lautet: „Jugend! Jugend! / Wir sind der Zukunft Soldaten. / Jugend! Jugend! / Träger der kommenden Taten. / Ja, durch unsre Fäuste fällt, / Wer sich uns entgegenstellt. / Jugend! Jugend! / Wir sind der Zukunft Soldaten. / Jugend! Jugend! / Träger der kommenden Taten. / Führer, wir gehören dir, / Wir Kameraden, dir!“

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seines Sohnes auf, kommt in die Küche und gibt seinem Heini eine Ohrfeige, weil er ein Nazi-Lied singt, und zwingt ihn dann unter Schlägen, die Internationale anzustimmen. Er singt ihm das Lied der „Kommune“ vor, indem er die Töne und Wörter aus seinem Körper ringt – es klingt schauderlich. Der helle Knabengesang wird mit dem Krächzen des Vaters kontrastiert. Abbildung 2:Vater Völker gibt Heini eine Ohrfeige

Szene aus Hitlerjunge Quex

In dieser Szene verbirgt sich ein Sprachspiel, das sich Schenzinger als Romanautor hat entgehen lassen, denn Heinrich George als Vater Völker (er hat bezeichnenderweise keinen Vornamen) singt: „Völker hört die Signale.“ Das ist mehr als eine Pointe, vielleicht der Nabel des Films – ich komme darauf zurück. Neben der Internationale und dem Fahnenlied gibt es im Film nur wenig andere musikalische Motive, die im Hintergrund bleiben; einmal summt ein „Hitlerjunge“ die Liedzeile „Auf die Dauer lieber Schatz“, die zu dem Schlager Das ist die Liebe der Matrosen gehört, einem Lied der von den Nazis mit Auftrittsverbot belegten Comedian Harmonists, womit sich der Junge als Verräter zu erkennen gibt.8 Das Fahnenlied der HJ ertönt gleich zu Beginn des Films, wird dann vielfach variiert und am Ende, als Heini Völker sterbend am Boden liegt, rezitiert dieser noch einmal die Refrainzeile: „Unsre Fahne flattert uns voran.“ Dann blendet der Film über in ein Massenbild, das Lied erklingt weiter, die HJ marschiert auf und man hört die Liedzeile heraus: „Ja die Fahne ist mehr als der Tod.“ Eine ritualisierte Bekundung der Opferbereitschaft, die den 8

Uwe Johnson lässt dieses Lied in seinem Roman Jahrestage von der Nazi-Wehrmacht singen. Hannah Arendt weist den Autor darauf hin, dass dem nicht sein kann, „alldieweil dies von dem Juden Robert Gilbert, dem bekannten Schlagerdichter stammt“. Gilbert war ein enger Freund von Hannah Arendt und Heinrich Blücher (Brief vom August 1974, in Arendt/Johnson 2004, 132).

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Tod des Einzelnen als Opfer für das Kollektiv adelt. Die Hakenkreuzfahne flattert, und das Schwarz des Hakenkreuzes ist aus Menschenköpfen zusammengesetzt. Wenn das letzte Bild erloschen ist, tönt das Lied noch ein paar Sekunden fort.

4. H EINI

UND DIE

H ITLERJUGEND

Beim ersten Zusammentreffen Heini Völkers und der Hitlerjugend ist von Märtyrertum und Opferbereitschaft noch nicht die Rede. Woher rührt die quasi naturwüchsige Anziehungskraft der HJ, warum wird Heini von der „Kommune“ abgestoßen? Politische Ideen und Parolen spielen dabei weder im Film noch im Roman eine besondere Rolle, es gibt keine Schlacht der Wörter, keine offene Auseinandersetzung über politische und ideologische Positionen. Schenzinger lässt im Roman einen HJ-Führer erklären: „Ich will nicht, daß ihr viel in Politik macht. Das kapiert ihr doch nicht. Auch diese bündischen Schmarren kann ich nicht leiden. Ihr sollt erst mal aufhören können mit Heulen, wenn man es sagt.“9 (Schenzinger 1932, 149) Auch in der Filmszene des ersten Zusammentreffens werden keine NS-Standpunkte entwickelt und keine „Kommune“-Parolen widerlegt, und das gilt für weite Teile des Films. Stattdessen geht es in beiden Lagern um einen Kampf der „Jungen“ gegen die „Alten“. Im Hinblick auf diesen Kampf wird sogar eine Verwandtschaft betont, die im Roman so weit geht, dass es zu gemeinsamen Aktionen von Nazis und Kommunisten gegen das „Kapital“ kommt (ebd., 240). Die Fahnen hängen dann nebeneinander, auch wenn sie „von Blut verschieden“ (ebd., 241) sind. Tatsächlich kam es in den letzten Monaten der Weimarer Republik zu punktuellen Bündnissen zwischen NSDAP und KPD. Gemeinsam war beiden Lagern, dass sie mit dem Versprechen der Disziplinierung jugendlicher Massen auftraten – auch bei der KPD wurde der geordnete Aufmarsch beschworen. Der Film verkündet, dass die HJ mit dieser Disziplinierung der Jugend größeren Erfolg hat, und er untermalt das, indem er suggeriert, dass sich das Lumpenproletariat und die Arbeitslosen bei der „Kommune“ sammeln, während die Mitglieder der HJ Arbeit haben oder, wie der Bannführer, kleinbürgerlicher Herkunft sind. Buch und Film machen jedoch deutlich, dass hier, im Kampf um die Jugend, auch der Unterschied beider Lager zu suchen ist, denn die „Alten“ sind bei der „Kommune“ zu Hause, die „Jungen“ bei den Nationalsozialisten. Bei den Nazis wird nicht geraucht und getrunken, wie die Väter das tun (der einzige Nazi, der raucht, entpuppt sich bald als Verräter). Eine neue Zeit ist angebrochen, die Reihen sind geschlossen. Während man sich im

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Neuere Studien über Männerbünde im NS-System (z.B. Schüler-Springorum 2010) unterstreichen, dass die Identifizierung weniger mit ideologischer Aufladung zu tun hatte als mit dem Selbstgefühl einer jugendlich-männlichen Kriegerelite und mit hochstilisierter Männlichkeit.

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Kreis der „Kommune“ ums Essen schlägt und die Kameraden bestiehlt, herrscht bei den Nazis militärische Zucht und Ordnung, frühmorgens wird geschwommen, Mädchen und Jungen sind getrennt; vor allem aber mit ihren Uniformen, Abzeichen und mit ihrer Fahne übertreffen die Nazis die „Kommune“, die im Film nur über marginale Vereinsinsignien verfügt, nicht einmal über einen Namen. „Wir kämpfen um dasselbe, und um mehr: um eine Fahne“, sagt im Roman Heini Völker zu Stoppel, dem Freund des Vaters (ebd., 199). Aber als Heini eine „Kommune“-Fahne geraubt hat, wirft er sie nicht in den Straßendreck, denn „es ist immerhin eine Fahne“ (ebd., 228). Während „die Kommune“ sich auf dem Rummel trifft und ihr Hauptquartier in einer Bierkneipe aufgeschlagen hat, in dem Ölschinken von Lenin und Stalin hängen, treffen sich die Nazis in einem sauberen Vereinslokal, in dem nur ein Bild des „Märtyrers“ Norkus hängt. Dass nirgendwo im Film ein Bild des Vater-„Führers“ zu sehen ist, hat System. Die Nationalsozialisten, so belehrt der Film, haben die bessere Fahne, die besseren Führer (keine Väter, sondern ältere Brüder, die den jüngeren die Kriegserfahrung voraushaben), die besseren Lieder, sie halten militärische Ordnung und Disziplin, und sie wissen, was Hingabe und Opfermut heißt. Es wird deutlich, dass der Film auch um die jungen Kommunisten wirbt. Diese erscheinen als die Fehlgeleiteten, während die eigentlichen Schurken die „alten“ Kommunisten sind, die die Jungen verführt haben. Auch das „Kommune“-Mädchen Gerda, in ihrem Kreis die „CliquenKuh“ genannt, wird in den Augen des heutigen Beobachters nicht dämonisiert, aber für die damaligen Zuschauer reichte Heinis Satz über Gerda, „da kann ja jeder kommen“, aus, um sie als sexuelle Aggressorin negativ zu konnotieren. Gleichwohl stößt Gerda den Nazi-Verräter zurück und sagt, Heini sei „ein wirklicher Kerl“, vor dem sie Respekt habe (in Franz Seitz’ ungleich schwächerem Film SA-Mann Brand darf sich eine junge Kommunistin sogar in einen SA-Mann verlieben und die Front wechseln). Heini hält Distanz zu Gerda, die keinem und allen zu gehören scheint, und fühlt sich stattdessen zu Ulla hingezogen, dem BDM-Mädchen, das als Schwester des Bannführers über eine klare Zuordnung verfügt. Ödön von Horváth hat diesem Typus in seinem Roman Jugend ohne Gott den Namen „rucksacktragende Venus“ gegeben.10 In Klaus Theweleits Männerphantasien heißen die polaren Frauengestalten Gerda und Ulla „rote Hure“ und „Kameradenschwester“ (Theweleit 1977, 129ff.).

10 Ödön von Horváth beschreibt in Jugend ohne Gott (1938) eine nazistisch-paramilitärische Jugendgruppe, die sich um die Fahne schart; auch Horváth polarisiert zwischen der unerotischen „rucksacktragenden Venus“ und der Hure. Bei ihm hat die Familie abgewirtschaftet; die Familien der Schüler sind aus den Fugen, es gibt nur kalte Mütter und betriebsame Väter. Lehrer, Feldwebel, Pfarrer und Direktoren sind aus ihren Familien herausgefallen oder haben nie eine aufgebaut (Horváth 1983/1938, 29 u. 112f.).

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Film und Roman bemühen sich, deutlich zu machen, dass die Brüderhorde nichts mit Homosexualität zu tun hat. Der Roman verteilt dezente, aber deutliche Hinweise, dass die Hitlerjungs von den „sauberen“ Mädchen schwärmen. Heinis Liebe gilt der Kameradenschwester. Darin spiegelt sich die offizielle Korrektur, die Alfred Baeumler an Hans Blühers homoerotischer Utopie einer bündischen Jugend vorgenommen hat. Baeumler distanziert sich von der erotischen Begründung „mannmännlicher“ Bindung: „[D]as Freundschaftsverhältnis hat eine Beziehung zum Staate, das erotische Verhältnis nicht.“11 (Zit. n. Bruns 2010, 113)

5. W EG VON

DER

F AMILIE

Die Familie wird im Roman als marode geschildert, sie ist ein Hemmschuh bei der Organisierung im Brüderbund. Um dorthin zu gelangen, muss die Loslösung von der Mutter und dem Vater stattfinden (Schenzinger 1932, 66f.). Als Heini nach der Gasvergiftung aufwacht, denkt er als Erstes an seine Kameraden und dann erst an die Mutter (ebd., 130). Erst mit dem Tod der Mutter ist für ihn der Weg frei zur Hitlerjugend. Dass der Film diesen Schritt einfordert, ahnt auch der junge Ludwig Harig (1990, 77), der im Kino grübelt: „Was dachten sich Vater und Mutter, die jetzt zu Hause in der Küche beschäftigt waren…. Wußten sie, daß ich einem verführerischen Zauber ausgeliefert, einem trügerischen Wahnbild ausgesetzt war?“ Der Junge wechselt mit dem Übertritt in die Brüderhorde seinen Namen, aus Heini Völker wird Quex. Es ist die Brüderhorde, die ihn von seinem Familiennamen erlöst und ihm einen neuen Namen verleiht, er wird zum Quicksilver-Boy, schnell und quicklebendig wie Quecksilber, er ist immer in Bewegung: Er verkörpert die Bewegung.12 Diese Brüderhorde setzt sich zusammen aus zwei Generationen von Brüdern: den älteren Brüdern (dem Scharführer Kass), die im Krieg waren und dort das Männerkollektiv als ein rettendes erfahren haben, und den jüngeren wie Quex, die die älteren deshalb beneiden. So wie sich die Frontsoldaten bei Kriegsbeginn von ihren Familien getrennt haben, so soll sich auch der Hitlerjunge von seiner Familie lösen. Quex überredet den Scharführer, ihn nach Moabit mitzunehmen, indem er sagt, Kass sei gewiss nicht zurückgewiesen worden, wenn er sich an die Front gemeldet habe. Da bekommt Kass leuchtende Augen. Vaterfiguren, wie sie die „Kommune“ zu bieten hat, blei-

11 Baldur von Schirach wurden homosexuelle Beziehungen zu Hitlerjungen nachgesagt, sodass in der HJ 1933/34 das Wort „quexen“ für homosexuellen Verkehr stand (vgl. Reulecke 2001, 124). 12 „Das reinste Quecksilber“, sagt der Bannführer (Schenzinger 1932, 176), und der Erzähler präzisiert: „Seine Tätigkeit war Bewegung, Bewegung war ihm Bedürfnis.“ (Ebd.) Im Film heißt es: „Ein Quex bist du, ein richtiges Quecksilber.“

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ben hier programmatisch ausgeklammert. Heini trifft bei seinem ersten Besuch beim Bannführer auf keine Eltern mehr. Als Heini nach der Gasvergiftung im Krankenhaus aufwacht, beginnt der Kampf zwischen dem Scharführer als dem älteren Bruder und dem Vater. Beide besuchen Heini, der sich nur langsam von seiner Vergiftung erholt, d.h. noch der Mutter nachtrauert. Nun geht es endlich zur Sache, ein „politisches Streitgespräch“ zwischen Kass und Vater Völker entbrennt, bei dem Kass die Sache der Jungen vertritt. „Wo soll ich denn hin?“, fragt Heini, der zwischen den beiden sitzt. „Was für ’ne Frage. Zu deinem Vater natürlich“, sagt Vater Völker. „Das ist die Frage“, sagt der Bannführer, „als ich fünfzehn war, bin ich von zuhause ausgerückt, Schiffsjunge geworden, mit fünfzehn rücken Tausende aus, gehen auf Abenteuer. Sie, Jungens, das ist was Wunderbares, sie sind ein großes Geheimnis, schon immer.“ Dann spricht er von Deutschland, und die nationale Rhetorik des Bannführers zeitigt bald Früchte: Als Vater Völker das nächste Mal seinen Freund Stoppel trifft, erklärt er diesem, dass man deutsches Bier trinke. Abbildung 3: Heini zwischen „Bruder“ und Vater

Szene aus Hitlerjunge Quex

Das will sagen, dass nicht nur die Jugend, sondern auch ein alter Kommunist noch belehrbar ist. Stoppel hingegen verweigert sich diesem Appell, er bleibt Teil einer mafiösen Familie, die sich vampiristisch von der Jugend nährt. Selbst der Titel „Kommunist“ wird Stoppel nicht zuerkannt, er ist nur ein Lumpenproletarier, der seine Clique auf Raubzüge losschickt (sie müssen auf dem Rummel Schinken klauen). Die Brüderhorde steht gegen eine verkommene Familie, die sich ihre letzte Kraft von den Jungen holt.

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6. F AZIT Film und Roman erzählen von einem Wettkampf der Nationalsozialisten und der Kommunisten um die (männliche) Jugend – „Jede Partei warb um die Jugend, und die Jungen kämpften in der vordersten Reihe für ihre Partei, die ihnen die Zukunft versprach.“ (Schenzinger 1932, 216) Der Unterschied zwischen den beiden konkurrierenden Lagern, so erzählt der Film, liegt darin, dass die „Kommune“ unheilbar mit dem überlebten Familiemodell verbunden ist. Der Scharführer der Hitlerjugend erklärt, dass die Jugend sich fortreißen muss aus den Familienbanden, wenn sie sich befreien will. Darin ist der Kern aller HJ-Legenden verborgen und die Quintessenz dessen, was der NS-Ideologe Alfred Baeumler (1934) predigte. Wenn Heini Völker Unsre Fahne flattert uns voran singt, aber vom Vater zurück zur Internationale geprügelt wird, dann heißt das, dass sein Familienname zum trügerischen Signifikanten wird. Die Kommunisten glauben, dass sie im Namen der Werktätigen sprechen, aber darin täuschen sie sich, denn es ist nur ihr alter Familienname. Es geht auch nicht um die Familie Völker und „die Völker“, sondern um „das Volk“. Film und Roman verraten dem Zuschauer und Leser, dass „Kommune“ und patriarchale Familie unlösbar zusammengehören. Vater Völker sagt Heini, dass es jetzt Aufgabe der Jugend sei, ihnen, den Alten zu helfen, wo diese abgewirtschaftet haben. Die Väter versuchen mit Gewalt die Jungen in ihre Bewegung zu holen, sie pochen dabei auf Vaterrecht und Vatergesetz. Als Heini einwilligt, zu den Kommunisten zu gehen, bekommt er von seinem Vater den Hausschlüssel ausgehändigt, er wird aufgenommen in den patriarchalen Verband, die politische Familie. Vater Völker sagt seinem Sohn: „Wir Proleten müssen uns unserer Haut wehren, keene Arbeit, keen Verdienst, und nun müsst ihr Jungs uns eben helfen, müsst ihr eben zu uns stehen, zu uns Alten, sonst müssen wir ewig stempeln gehen.“ Die „Kommune“ erscheint im Film als ein Altersvorsorgeverein, in dem, auch wenn die Jungen sich organisieren, immer noch die Väter das Sagen haben. Am Ende hat Heinis Mutter mit ihrem Opfertod ihren Sohn freigegeben (weshalb sie vom Scharführer gelobt wird), sein Vater verschwindet – nun ist Heini frei für seine Brüderhorde, er streift seinen Familiennamen ab und bekommt den Namen der Bewegung. Nur hat er übersehen, dass diese Brüderhorde Märtyrer braucht, deren Blut „die Fahne“ tränken muss.

F ILM Hitlerjunge Quex. Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend, Hans Steinhoff, D 1933.

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H ITLERJUNGE Q UEX

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II. Staat in Unordnung?

Imaginierte Männlichkeit Ernst Jünger oder Die totale Mobilmachung der organischen Konstruktion R OLAND I NNERHOFER

1. K RIEGSMOBILISIERUNG Lothar Müller (2010) hat in einer Rezension der jüngst erschienenen Tagebuchaufzeichnungen Ernst Jüngers aus dem Ersten Weltkrieg (Jünger 2010) die „monströse“ Ungerührtheit ihres Autors hervorgehoben. Dieser Habitus einer dandyhaften Indifferenz gegenüber den Gräueln des Krieges, der schon die Leser des aus der Bearbeitung der Tagebuchaufzeichnungen hervorgegangenen, 1920 erstmals erschienenen Buches In Stahlgewittern (Jünger 1961/1920) faszinierte und abstieß, bildet die Grundlage von Jüngers Nachkriegspublizistik. Die „Flucht aus dem Frieden“ (Musil 1987/1933), die Müller mit einer Formulierung aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften als Motiv für Jüngers Kriegsbegeisterung erkennt, setzt sich in Jüngers Publikationen der Zwischenkriegszeit fort. Es ging ihm offensichtlich darum, den Gefahrensinn und den apokalyptischen Schauer, die er im Krieg erfahren zu haben glaubte, in das zivile Leben der Zwischenkriegszeit hinüberzuretten (Kaes 1993, 107). Das bedeutet, dass die „Ideen von 1914“ über das Ende des Krieges hinaus in die Zwischenkriegszeit transponiert werden und virulent bleiben. Wenn aber zu Beginn der 1930er Jahre das Kriegszeitalter in ein Arbeitszeitalter verwandelt wird, so machen die rauschhaften Komponenten der Kriegserfahrung einer Konstruktion Platz, die sich betont nüchtern, logisch und technisch gibt. Jünger ist ein Musterfall dafür, wie die Erfahrungen des Krieges die Wahrnehmung, das Leben und das Verhalten in der Zwischenkriegszeit in ihren Grundstrukturen prägen. Die organische Konstruktion, wie sie Jüngers 1932 publiziertes Buch Der Arbeiter vorstellt, erscheint vor dieser Folie als ein Heilungsversuch mit technischen Mitteln. Die Wunden des Krieges sollen nicht durch Wiederherstellung der früheren Unversehrtheit, sondern durch die perfektionierte Neukonstruktion beseitigt werden.

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Da solche Konstruktion nicht nach der Natur erfolgt, sondern wider die Natur aktivistisch durchgesetzt werden muss, ist eine Mobilisierung nötig. Die zentrale Bedeutung der Mobilmachung in Jüngers Texten der 1920er und frühen 1930er Jahre erklärt sich nicht zuletzt aus der monotonen Bewegungslosigkeit im Stellungskrieg an der Westfront des Ersten Weltkrieges. Die äußerst verlustreichen Versuche, das Feststecken im Grabenkrieg aufzubrechen und den feindlichen Festungsgürtel zu durchbrechen, blieben erfolglos. In diesem Sinn ist „Mobilisierung“, wie sie der programmatische Essay Die totale Mobilmachung (Jünger 1980b/1930) fordert, bei Jünger in erster Linie als militärische Bewegung zu verstehen. Sie meint nicht etwa, dass die Menschen als Individuen beweglich werden, indem sie sich aus eigener Kraft bewegen und ihren Bewegungsspielraum erweitern. Die Mobilität militärischer Formationen bedeutet vielmehr, dass diese als Menschenmaterial analog zum Kriegsgerät beliebig und schnell transferiert werden können, nach einem Plan, der nicht einem individuellen Willen, sondern der Logik des Bewegungskrieges folgt. Die Mobilisierung der Soldaten und Kriegsgeräte verfolgt dabei das Ziel einer restlosen Unterwerfung und Vernichtung des Feindes. Militärhistorisch führte das Konzept der Mobilisierung zur Strategie des Blitzkrieges, mit dem die statische Verteidigung umgangen wurde und dem das nationalsozialistische Deutschland seine anfänglichen militärischen Erfolge verdankte. Um eine derartige Verfügbarkeit und Steuerbarkeit der Menschen zu garantieren, ist eine Disziplin nötig, deren Ausbildung Punkt für Punkt dem Modell des Militärs folgt. Die organische Konstruktion ist ein Ziel, das zugleich ein Werkzeug und eine Waffe ist. Wer ist aber der Feind, den diese Mobilität und Kriegsdisziplin zu vernichten verspricht? Zu bekämpfen und auszumerzen sind zunächst die Eigenschaften der Zerstreutheit und Trägheit, die der Masse in zeitgenössischen Diskursen zugeschrieben wurden (Gamper 2007, 511f.). Das Zerstreute ist durch Konzentration zu bekämpfen. Diese setzt ein Zentrum voraus, von dem aus und zu dem hin das Zerstreute geordnet, auf Linie gebracht wird. Zentralisierung und Disziplinierung sind Konzepte, die als antimoderne Reaktion auf die Modernisierungsschübe des 19. und 20. Jahrhunderts zu verstehen sind. Weitaus moderner als Jüngers Essays der Zwischenkriegszeit ist in diesem Zusammenhang etwa Robert Musils zur gleichen Zeit entstandener Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In ihm verläuft sich das Ordnungsbegehren in ein undurchschaubares und undurchdringliches Gefilz von Kräften, die sich jeder Kalkulation und Planung entziehen. Ernst Jünger sieht das Ordnungsbegehren, das den Kräften der Zerstreuung entgegenwirkt, als hervorragendes Merkmal des deutschen Nationalcharakters, in dem das „Maß an Freiheit“ in einem positiven Korrelationsverhältnis zum „Maße an Bindung“ steht (Jünger 1982/1932, 15). „Kennzeichen des Deutschen“ ist es, dass die „Ordnung“ das „stählerne Spiegelbild der Freiheit“ ist (ebd.). Freiheit beruht also für den Deutschen auf „Gehorsam“ als „Bereitschaft für den Befehl, der wie ein Blitzstrahl vom Gipfel bis

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in die Wurzeln fährt“ (ebd.). Ordnung und Gehorsam bedürfen eines Führers, sie beziehen sich daher nicht „auf die Gesellschaft, sondern auf den Staat, und das Muster jeder Gliederung ist die Heeresgliederung, nicht aber der Gesellschaftsvertrag“ (ebd.).

2. I M T EMPEL DES P HALLUS Der Staat, nicht die Gesellschaft: Das grammatische Geschlecht ist in der hier darzustellenden Diskursformation signifikant. Die Ermächtigung des Staates erfolgt auf der Grundlage einer Entmächtigung der Individuen, die sich im Gesellschaftsvertrag zusammenschließen. Von der Figur des Führers aus wird auch die Masse neu konfiguriert: Damit „ist der Zustand unserer äußersten Stärke erreicht, wenn über Führung und Gefolgschaft kein Zweifel besteht“ (ebd., 15f.). Organische Konstruktion ist also eine Verschmelzung von Masse und Führung, die Identität von „Herrschaft und Dienst“ (ebd., 16). Das äußere Zeichen der „wunderbare[n] Macht dieser Einheit“ (ebd.) des Kriegerarbeiters und Arbeiterkriegers ist die Uniform. An sie knüpft Jünger im 1934 erschienenen Essay Über den Schmerz den „merkwürdige[n] Gedanke[n] […], daß die Entdeckung des Arbeiters von der Entdeckung eines dritten Geschlechts begleitet wird“ (Jünger 1980c/1934, 165). Doch kann die Verschmelzungsfigur des Arbeiters nur insofern als eine Überwindung des Geschlechterdualismus verstanden werden, als diese Einheitsfantasie und Identitätspolitik ganz im Zeichen einer übergeordneten, hegemonialen Männlichkeit erfolgt. Daher steht die Vorstellung einer Neutralisierung der Geschlechterdifferenz in einem dritten Geschlecht nur scheinbar im Kontrast zu den Männlichkeitsfantasien, wie sie in den Kriegsbüchern ausgestellt werden. Wie Heiner Müller so prononciert wie treffend bemerkt, erscheint bei männlichen Autoren der Generation Jüngers das Geschlechterverhältnis von vorneherein im Zeichen des Krieges: „Jüngers Problem ist ein Jahrhundertproblem: Bevor Frauen für ihn eine Erfahrung sein konnten, war es der Krieg.“ (Zit. n. Lethen 1994, 198) Die Priorität des Krieges äußert sich dabei weniger in einem zeitlichen Nacheinander als darin, dass die erotische Erfahrung durch die kriegerische vorgeprägt ist. In Jüngers Kriegsbericht In Stahlgewittern manifestiert sich die Nachrangigkeit des Erotischen konsequent darin, dass im Vergleich zu seinen Tagebuchaufzeichnungen (Jünger 2010) die Stellen, die von erotischen Abenteuern handeln, weitgehend getilgt sind. In dem Kriegsessay Der Kampf als inneres Erlebnis von 1922 dagegen ist dem Eros ein eigenes Kapitel gewidmet (Jünger 1980a/1922, 35ff.). Hier erscheint das Geschlechterverhältnis eingebunden in einen ebenso vitalistischen wie kriegerischen Diskurs. Mit expressionistischem Pathos wird aus männlicher Perspektive der Sexualakt als Lebenssteigerung gepriesen: „Hinein in die Brandung des Fleisches, tausend Gurgeln haben, dem Phallus schimmernde Tempel errich-

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ten.“ (Ebd., 36) In der Rhetorik des Rausches und der Entfesselung bleiben die Rollen klar festgelegt. Der kampfgestählte männliche Körper ist es, der in den Fokus gestellt wird: „Es war eine ganz neue Rasse, verkörperte Energie und mit höchster Wucht geladen. Geschmeidige, hagere, sehnige Körper, markante Gesichter, Augen, in tausend Schrecken unterm Helm versteinert.“ (Ebd., 37) Der weibliche Körper kommt dagegen, wenn überhaupt, nur als weiches weißes Fleisch in den Blick: „Das war ein trunkenes Gelächter, wenn der metallische Griff in weißem Fleisch versank.“ (Ebd., 38f.) Das bevorzugte Objekt solchen schnellen Zugriffs ist die Prostituierte: „Da paradierte in langen Reihen bereite Weiblichkeit. […] Reine Funktion waren diese liebesgewandten Körper, die rauschend sich in Aufforderung wiegten, mit Kleidern wie mit leuchtenden Plakaten behängt.“ (Ebd., 38) Was hier trotz allem Schwulst unverhüllt zutage tritt, ist die Alleinherrschaft des männlichen Blicks, dem das Weibliche zur reinen Funktion wird. Nicht erst ein imaginiertes drittes Geschlecht, sondern bereits dieser männ liche Blick bringt die Geschlechterdifferenz zugunsten männlicher Allmachtsfantasien zum Verschwinden. Dabei sind die Züge, die die Figur des Kriegers kennzeichnen, genau dieselben, die später die Figur des Arbeiters profilieren. Wenn also der Arbeiter als Verkörperung eines neuen dritten Geschlechts ins Spiel gebracht wird, so ist dieses nichts anderes als eine Männlichkeit, die keinen Raum für ein wie auch immer geartetes Anderes oder ein ebenbürtiges Gegenüber lässt.

3. I M F ELD

DER

K RÄFTE

Eine solche Männlichkeit ist aber keineswegs an die Souveränität und Verfügungsgewalt eines Individuums geknüpft. Wie sich der soldatische Mann verhält, ist nicht Ergebnis einer individuellen Entscheidung, sondern Resultat eines massenhaft ausgeprägten Typus. Dieser bewegt sich in einem Raum, der analog zum elektromagnetischen Feld konstruiert wird. Deutlich ist in Jüngers Texten aus den 1920er und frühen 1930er Jahren der Widerhall von Kurt Lewins psychologischer Feldtheorie. Die Grundlagen dafür liegen bei Lewin wie bei Jünger in den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. In seinem Aufsatz Kriegslandschaft aus dem Jahr 1917, der sich mit dem unterschiedlichen Erleben des Raumes unter Kriegs- und Friedensbedingungen beschäftigt, erklärt Lewin das Verhalten als eine Funktion von konkreter Person und Umwelt. Die psychologische Person – selbst ein gegliedertes psychologisches Feld – bewegt sich entlang der durch die räumliche Struktur vorgegebenen „Wege“ als Vektor in die Umwelt hinein und verhält sich je nach den Relationen des Angrenzens, des Entferntseins, des Einschließens und Ausschließens zu den – anziehenden oder abstoßenden – Valenzen der Kraftfelder (Lewin 1917). Ist für Lewin aber das elektromagnetische Kraftfeld bloß eine Metapher für die Relationen und Wechselwirkungen zwischen psychologischen Kräften, so werden bei Jünger im Zuge einer ra-

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dikalen Entpsychologisierung die Personen zu Objekten, „die sich wie physikalische Körper verhalten“ (Lethen 1994, 198). Wenn Jünger, wie Helmut Lethen bemerkt, der Gesellschaftsanalyse das Modell des elektromagnetischen Feldes, des elektrischen Schaltkreises und Netzes (ebd., 209) zugrunde legt, so orientiert er sich an der modernen Energieversorgung wie an den technischen Medien und dem zeitgenössischen Nachrichtensystem: „Der Kraft-, Verkehrs- und Nachrichtendienst erscheint als ein Feld, in dessen Koordinatensystem der Einzelne als bestimmter Punkt zu ermitteln ist – man ‚schneidet ihn an‘, etwa indem man die Ziffernscheibe eines automatischen Fernsprechers stellt. Der funktionale Wert solcher Mittel wächst mit der Zahl der Teilnehmer – niemals erscheint diese Zahl als Masse im alten Sinn, sondern stets als eine Größe, die in jedem Augenblick ziffernmäßig zu präzisieren ist.“ (Jünger 1982/1932, 145f.)

Das Netzwerk wird bei Jünger auch in der militärischen Befehlsstruktur zur zentralen Metapher, wenn er etwa den Stoßtruppenführer als Relais von Informationsströmen begreift: „Begleitartillerie-, Minenwerfer-, Maschinengewehr-, Nachrichten-, Verbindungsoffiziere, Bataillonsordonnanzen und Meldeläufer sind bei ihm [dem Stoßtruppenführer], um ihre verschiedenen Fäden zum Netz des kombinierten Gefechts zu spinnen.“ (Jünger 1920, 434) Ob in der modernen Gefechtsführung oder im zivilen Nachrichtendienst: Die Netzwerkmetapher modelliert in keinem Fall dezentrale Strukturen. Wie der technisierte Krieg auf zentralisierte Informationsverarbeitung und Befehlsstrukturen angewiesen ist, wird für die Zivilgesellschaft das Elektrizitätsnetz zum Beleg dafür, wie sehr der Einzelne auf den Staat angewiesen ist, der über dieses Netz verfügt und es kontrolliert. Jünger lässt keinen Zweifel daran, dass diese staatliche Verfügungsgewalt auf zentralistische Herrschaft gerichtet ist und Rüstungscharakter besitzt (Jünger 1982/1932, 226). Indem der Einzelne die neuen Verkehrs- und Nachrichtennetze nutzt, verknüpft er sich mit dem kollektiven, totalen „Arbeitsnetz“ einer neuen „Staatswirtschaft“ (ebd., 288). Der neue Staat, der diese organisatorische Aufgabe zentraler Kontrolle der Anschlüsse übernimmt, ist der Arbeitsstaat.

4. R ÜSTUNG UND D ISZIPLINIERUNG Wenn der alte durch einen entgegengesetzten neuen Typus Mensch abgelöst wird, so koinzidiert diese Gegenüberstellung nicht zufällig wiederum mit dem grammatischen Genus: Der Arbeiter versus die bürgerliche Gesellschaft – das ist der fundamentale Antagonismus, der den Jünger’schen Staatsdiskurs formiert und strukturiert. Der Gesellschaft als Produkt des bürgerlichen Individualismus bescheinigt Jünger eine „weibliche Gesinnung“ (ebd., 24). Diese offensichtlich minderwertige und darum dem Untergang geweihte Gesinnung verrät sich nach Jünger darin, „daß sie jeden Gegensatz nicht von sich abzusetzen, sondern in sich aufzunehmen versucht“

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(ebd.). Dagegen äußert sich die „Schule“, die „durch die Väter bestimmt“ (ebd., 17) wird, im Kampf, in der Frontstellung. Während die „alte Masse“ ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, das sich „in politischen Versammlungen als abstimmender oder zustimmender Faktor oder im Aufruhr der Straßen verkörperte“ (ebd., 115), ist das Fundament des neuen Staates die Einheit von „totalem Arbeitscharakter“ und „totalem Kampfcharakter“ (ebd., 111). In diesem Staat ist, nach einer vielzitierten Stelle, die „Kampfkraft“ des Einzelnen „kein individueller, sondern ein funktionaler Wert; man fällt nicht mehr, sondern man fällt aus.“ (Ebd.) Wenn also die „Kampfsittlichkeit“ des Arbeiters wie des Kriegers Teil einer staatlichen Totalität ist, so besteht die Funktion dieses Staates in der Fähigkeit, „den Feind zu töten“ (ebd.). Und dieser Feind ist für den neuen Nationalstaat die Gesamtheit der anderen Staaten. Wie sehr Mobilmachung im strikt militärischen Sinn bedeutet, die Einzelnen einem Zwangssystem einzugliedern, als Funktionsträger einer alles umfassenden Organisation zu begreifen, wird in Jüngers Essay Die totale Mobilmachung deutlich. Staat und Krieg stehen hier in einem funktionalen Wechselverhältnis, das kein Außerhalb kennt: Es macht „eine Rüstung bis ins innerste Mark, bis in den feinsten Lebensnerv erforderlich“ (Jünger 1980b/1930, 126). Das moderne Leben, das in solcher kriegerischer Indienstnahme erst zu sich kommt, wird als „weit verzweigtes und vielfach geädertes Stromnetz“ verstanden, das „durch einen einzigen Griff am Schaltbrett dem großen Strom der kriegerischen Energie zugeleitet wird“ (ebd.). Jünger zieht sich in diesem Essay keineswegs auf die Pose des unbeteiligten Diagnostikers zurück: „Es ist ein großartiges und furchtbares Schauspiel, die Bewegungen der immer gleichförmiger gebildeten Massen zu sehen, denen der Weltgeist seine Fangnetze stellt.“ (Ebd., 141) Der Autor versichert einem deutlich männliche Züge tragenden Leser, ihm nicht nur ein faszinierendes Schauspiel, sondern auch das Walten des Weltgeistes vor Augen zu führen. Dass der Beobachter zugleich Beteiligter ist, resultiert aus der behaupteten Totalität der Vorgänge. Die Lektüre verspricht, das Unvermeidliche einzuüben, um ihm gewappnet begegnen zu können: Sie dient der geistigen Aufrüstung. Grundlage des totalitären Staates, von dem Der Arbeiter wie Die totale Mobilmachung handeln, ist die Disziplin. Sie funktioniert nicht allein durch äußere Zwänge und Machteffekte, sondern durchaus im Foucault’schen Sinn erst durch die Verinnerlichung dieser Zwänge und Machtstrukturen (Foucault 1977, 260). Jünger betont ein Disziplinierungsbegehren, das Disziplinierende und Disziplinierte teilen und das die Täter- und Opferrollen austauschbar macht (Koschorke 2000, 225f.). Dies zeigt besonders deutlich Jüngers Essay Über den Schmerz. Schmerz auszuhalten, ist nach Ansicht Jüngers der Test für die Disziplin. Das Telos der Disziplin ist somit die Unempfindlichkeit gegenüber dem Schmerz (ebd., 218). Das setzt voraus, dass der Körper zu einem Objekt wird, das mit kaltem Blick betrachtet wird und über das beliebig verfügt werden kann. Sich selbst zu vergegenständlichen

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bedeutet aber auch, die anderen zu vergegenständlichen. Die Unempfindlichkeit gegenüber dem eigenen Schmerz fällt mit der Unempfindlichkeit gegenüber dem Schmerz der anderen zusammen. Medien wie Film, Fotografie und Radio dienen dem Training solcher Unempfindlichkeit. Wird, wie es im Essay heißt, dem „lebendigen Vorgang“ der „Charakter des Präparats“ verliehen (Jünger 1980c/1934, 183), so werden auch die Hemmungen beseitigt, anderen Schmerz zuzufügen. Sport und Medizin bilden Paradigmen für eine solche Mortifikation des Körpers zu Lebzeiten.

5. K ONZENTRATION

DER

E NERGIEN

Zu diesem Schmerzunempfindlichkeitstraining passt Jüngers Programm vom Arbeiter als technisch-biologische Konstruktion. Jünger prognostiziert und begrüßt eine Konzentration von Energien. Das Leben menschlicher Kollektive sieht er in einem Kräftefeld eingespannt, das er analog zum elektromagnetischen Feld denkt. In einem solchen Feld ist kein Platz für die Konzeption des bürgerlichen Individuums, das sich als Auslaufmodell erweist und unaufhaltsam zerfällt. An seine Stelle tritt die Organisation der Gesamtbevölkerung zum Arbeitsstaat. Dieser ist in allen Punkten nach den Prinzipien des Militärs modelliert. Sein Ziel ist die maximale Machtentfaltung. Voraussetzung für den „Eintritt in den imperialen Raum“ ist, so Jünger, eine „Erprobung und Härtung der Planlandschaften“ (Jünger 1982/ 1932, 306). Ein alles umfassender Arbeitsplan soll die gesamte Bevölkerung einer Arbeitsdienstpflicht unterwerfen. Der Arbeitsplan ist nach Jünger durch Abgeschlossenheit, Geschmeidigkeit und Rüstung gekennzeichnet. Menschen und Mittel sollen möglichst effizient eingesetzt werden, wofür der Krieg das Exerzierfeld und die Expertise bereitstellt: „[D]as Kriegsheer und das Kriegsarsenal [treten] als die speziellen Ausprägungen eines übergeordneten Machtcharakters auf.“ (Ebd., 302) Die totale Mobilmachung, ihr „Konzentrations- und Aufmarschcharakter“ (ebd., 305), zielt auf die „planetarische Herrschaft“ (ebd., 306). In solcher Weltherrschaft, in der die Totalität der Macht zu ihrem Ziel gelangt, gibt es kein Außerhalb mehr – und damit auch keinen Feind, der zu bekämpfen wäre.

6. E INZELKÄMPFER Der Staat, der diesen Anforderungen genügt, ist der totale Arbeitsstaat: In ihm sollen Nationalismus und Sozialismus nicht nur vereinigt, sondern überboten werden. Stefan Breuer (2002, 54) betont in seiner mit Ultraradikalismus betitelten Kritik der politischen Publizistik Jüngers, dass dessen Sympathien in den 1920er und frühen 1930er Jahren dem Nationalsozial ismus wie dem Kommunismus galten, sofern sie als antidemokratische Kampfbewegungen auftraten. Dagegen lehnte Jünger, wie Breuer zeigt, den

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biologischen Rassismus der Nationalsozialisten aus nationalistischen Gründen ab, da dieser eine Einheit der arischen Rasse über die nationalen Grenzen hinaus postulierte und zugleich die Einheit der Deutschen in Frage stellte. Eine weitere Differenz zum Nationalsozialismus, resultierte daraus, dass sich dieser als Partei organisierte (ebd.). Der Legalitätstaktik der Nationalsozialisten stellte Jünger den Radikalismus der Destruktion gegenüber. Nur von einem kompromisslosen Bruch mit der bürgerlichen Ordnung – in Form von Umstürzen oder Putschen – versprach sich Jünger die Verwirklichung des Nationalismus in einem autoritären, totalitären Arbeits- und Militärstaat. Die Kommunisten wie die Nationalsozialisten waren in dieser Sicht dadurch, dass sie sich – wenn auch nur taktisch – auf die bürgerliche Ordnung einließen, von dieser „kontaminiert“. Wie sehr sich Jünger schon 1929 notgedrungen als Einzelkämpfer für das Wohl Deutschlands sah, zeigt folgender Satz aus der Erstfassung des Abenteuerlichen Herzen: „Man muss es einsam tun wie ein Mensch, der mit seinem Buschmesser im Urwald Bresche schlägt und den nur die Hoffnung erhält, dass irgendwo im Dickicht andere an der gleichen Arbeit sind.“ (Jünger 1979/1929, 114) So ist das Wir, dem am Ende des Arbeiter-Buches die „Stählung der Waffen und Herzen“ unter Verzicht auf den „Ausweg des Glückes“ aufgetragen wird (Jünger 1982/1932, 307), weder mit einer Partei noch mit einer zeitgenössischen politischen Bewegung gleichzusetzen. Es sind vielmehr einzelne Auserwählte, zuvorderst der Autor selbst. Jüngers Zwischenkriegspublizistik vollzieht eine doppelte Bewegung. Den Potenzialen und Wirkungen der Zerstreuung, der Kontingenz und Undurchdringlichkeit der Phänomene setzt er ein kompaktes Konstrukt gegenüber: einen bis in alle Einzelheiten durchorganisierten Staat, getragen von einem einheitlichen, technisch perfektionierten Menschentypus, ausgerichtet auf maximale Konzentration und optimalen Einsatz aller Kräfte. Dass dieser Menschentypus nur männlichen Geschlechts sein kann, ist offensichtlich. Das Weibliche ist buchstäblich nicht der Rede wert – nur en passant erscheint es zum einen als Material, als zu eroberndes oder käufliches Fleisch, zum anderen als veraltete Gesinnung, die es im Zuge organisatorischer Effizienz und gesteigerter Kräfteballung zu überwinden gilt. Wenn auch mit Rückfällen zu rechnen ist – das Telos der Jünger’schen Texte aus dieser Zeit ist gleichwohl klar: nicht ein drittes Geschlecht, sondern die vervollkommnete Männlichkeit, die mit dem Menschen der Zukunft zusammenfällt. Die Hegemonie des Männlichen ist bei Jünger dermaßen unangefochten, dass sie jede Geschlechterdifferenz auslöscht. Jüngers Texte oszillieren dabei zwischen analytischer Diagnose und suggestiver Prognose. In der Gestalt des Diagnostikers und Prognostikers tritt dem anonymen Typus des männlichen Arbeiters die Figur des männlichen Führers entgegen: Der unerschrockene und unerschütterliche Kombattant verlegt sein Aktionsfeld von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges an die Fronten des literarischen Kampfes. In ein und derselben paradoxen Bewegung werden der Untergang und die Wiederauferstehung des he-

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roischen Einzelnen zelebriert. Indem sie das Phantasma des Mannes als Einzelkämpfers zugleich verschwinden und wiederaufleben lassen, belegen Jüngers Texte den ironischen Doppelsinn, den Robert Musil folgendem Schiller-Zitat unterlegte: „Der Starke ist am mächtigsten allein.“ (Musil 1978/1936, 533)

L ITERATUR Breuer, Stefan 2002: Ultraradikalismus. In: Neue Zürcher Zeitung, 23./24.02.2002, 54. Foucault, Michel 1977: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt am Main. Gamper, Michael 2007: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930. München. Jünger, Ernst 1920: Skizze moderner Gefechtsführung. In: Militärwochenblatt 105, Nr. 20, 433–435. Jünger, Ernst 1961 (1920): In Stahlgewittern. 26., vom Autor erneut durchgesehene Auflage. Stuttgart. Jünger, Ernst 1979 (1929): Das Abenteuerliche Herz. Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 9: Essays III. Stuttgart. Jünger, Ernst 1980a (1922): Der Kampf als inneres Erlebnis. In: ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 7: Essays I: Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart, 9–104. Jünger, Ernst 1980b (1930): Die totale Mobilmachung. In: ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 7: Essays I: Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart, 119–141. Jünger, Ernst 1980c (1934): Über den Schmerz. In: ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 7: Essays I: Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart, 143– 236. Jünger, Ernst 1982 (1932): Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart. Jünger, Ernst 2010: Kriegstagebuch 1914–1918. Hg. von Helmuth Kiesel. Stuttgart. Kaes, Anton 1993: The Cold Gaze: Notes on Mobilization and Modernity. In: New German Critique Nr. 59, 105–117. Koschorke, Albrecht 2000: Der Traumatiker als Faschist. Ernst Jüngers Essay „Über den Schmerz“. In: Inka Mülder-Bach (Hg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges. Wien, 211– 227. Lethen, Helmut 1994: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main. Lewin, Kurt 1917: Kriegslandschaft. In: Zeitschrift für angewandte Psychologie Nr. 12, 440–447. Müller, Lothar 2010: Im Meer der Bewegungslosigkeit. In: Süddeutsche Zeitung, 22.09.2010.

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Chor und Geschlecht im nationalsozialistischen Theater E VELYN A NNUSS

René Pollesch erinnert 2010 am Hamburger Schauspielhaus daran, wie Theater und Kino die heterosexuelle Matrix unserer Geschlechterordnung Anfang der 1930er Jahre in Frage stellen. Zu einer Zeit, in der der Staat in Unordnung geraten ist, wird die herkömmliche Rollenverteilung im romantischen Liebesdiskurs ins Wanken gebracht. Mit seiner Inszenierung Mädchen in Uniform übernimmt Pollesch darauf verweisend den Filmtitel von Christa Winsloes Internatsstück über die Liebe Manuelas zu ihrer, von allen Mitschülerinnen umschwärmten Lehrerin.1 Und auch die Kostüme von Polleschs Inszenierung deuten auf die skandalumwitterte Erstverfilmung des Stücks durch Leontine Sagan von 1931 hin. Zugleich aber wird von Pollesch ein jüngerer Theaterskandal ins Gedächtnis gerufen, mit dem er die Frage nach den performativen Voraussetzungen vergeschlechtlichender Darstellung im Rekurs auf die Chor- als Kollektivfigur herbeizitiert. Seine Inszenierung erinnert nämlich daran, wie man den Chor in der deutschen Theaterdebatte Mitte der 1990er Jahre zum Gespenst des Faschismus stilisiert hat und dass eben dieser Stein des Anstoßes, die Kollektivfigur, im gleichen Zug das Gendering szenischer Figuren zu denken gibt. Intonation, Rhythmus und militärische Formierung von Polleschs zehnköpfigem weiblichem Chor sind Reminiszenzen an Einar Schleefs Theaterarbeit. Bert Neumanns Holzverkleidung der Bühne zitiert entsprechend Schleefs Brecht-Inszenierung Herr Puntila und sein Knecht Matti am Berliner Ensemble 1996.2 Darin übersetzt Schleef die Brecht’sche

1 2

René Pollesch: Mädchen in Uniform. Premiere am 25. Februar 2010, Schauspielhaus Hamburg. Zum Film Mädchen in Uniform vgl. Krammer i.d. Bd. Einar Schleef: Herr Puntila und sein Knecht Matti. Premiere am 17. Februar 1996, Berliner Ensemble. Zur Bestimmung der Schleef’schen Chorarbeit anhand der späteren Inszenierungen vgl. Schmidt 2010; zur Puntila-Inszenierung vgl.

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Knechtsfigur ins brüllende Kollektiv, stattet die Matti-Choreuten mit Soldatenmänteln aus und stellt der so militarisierten Kollektivfigur einen Frauenchor in Tutus als kreischendes Komplement gegenüber. Die beiden klischierten Gegenchöre sind in ihrer Künstlichkeit reflexiv eingesetzt. Sie unterlaufen nicht nur die illusionäre Verknüpfung von sprechender Figur und Schauspielerkörper, die der szenischen Repräsentation von Personen im Theater dramatischer Narration ebenso wie im Filmdrama zugrunde liegt. Durch ihr klischiertes Auftreten wird darüber hinaus die szenische Herstellung der sprechenden Figur auf der Bühne als kollektives „Doing Gender“ (West/Zimmerman 1987) vorgeführt. Während in der Geschlechterforschung an Judith Butler (1990) anknüpfend über „Gender and Performativity“ diskutiert wird, trägt Schleef mit kollektiven Auftrittsformen experimentierend zur praktischen Erforschung vergeschlechtlichender Figuration bei. Von weiten Teilen der Kritik allerdings – auch daran erinnert Polleschs Zitat – wird Schleefs Inszenierung gänzlich anders gelesen. Es verbünden sich sozusagen alle Mächte des alten Feuilletons, um jenes Gespenst auszutreiben, das Schleef mit seinem brüllenden Männerchor in Soldatenmänteln angeblich auf der Bühne wiederkehren lässt. Roland H. Wiegenstein bringt den verbreiteten Vorwurf faschistischer Ästhetik auf den Punkt; unter gänzlicher Ausblendung des weiblichen Chors wettert er gegen die soldatische Auftrittsform der Mattis und Schleefs „choreografiertes Thingtheater“ (Wiegenstein 1996, 11; zur Schleef’schen Chorfigur vgl. Haß 1999; Haß 2000; Dreysse 1999; Schmidt 2000). Genau diese historische Referenzbildung, die erst über die Ausblendung des weiblichen Chors funktioniert, wird von Mädchen in Uniform mittels verschränktem Schleef- und Winsloe-Zitat untergründig mitaufgerufen und zur retrospektiven Untersuchung freigegeben. Polleschs mit Spielzeuggewehren bewaffnete Girl-Group lässt den Faschismusvorwurf gegenüber chorisch formierten Darstellungen als Farce erscheinen. Durch die Wiederkehr des in den 1990er Jahren von der Kritik verdrängten Frauenchors im Zitat von Winsloe- und Schleef-Skandal aber wird zugleich die Frage nach Form, Funktion und Gendering der Darstellung von Kollektiva in der Zwischenkriegszeit gestellt. An diese Frage anknüpfend möchte ich aus gegenwärtiger Perspektive den Ball von Roland H. Wiegensteins Schleef-Kritik aufnehmen und die Geschichte des Thingspiels in der Frühphase des Nationalsozialismus beleuchten.

Annuß 2008; bezüglich des Chortheaters der 1990er Jahre vgl. Kurzenberger 1999.

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SOLDATISCHE K OSTÜM V OLKSGEMEINSCHAFT

In den ersten Jahren nach der Machtergreifung werden Massenchöre in einer Art kultischem Freilichttheater von den Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten als Figur völkischer Einheit eingesetzt. An eigens dafür einzurichtenden Thingstätten soll die Volksgemeinschaft nicht nur inszeniert, sondern über den kollektiven Auftritt im theatralen Rahmen erlebbar gemacht werden (vgl. Stommer 1985; Ketelsen 2004; Fischer-Lichte 2005; Fischer-Lichte 2006; Strobl 2007). Die nationalsozialistische Kulturpolitik zielt zumindest bis 1936 – so lange währt die offizielle Unterstützung der im Reichsbund der deutschen Freilicht- und Volksschauspiele e.V. organisierten Thingbewegung – auf ein „Theater der Hunderttausend“, wie es Propagandaminister Joseph Goebbels (1934) in impliziter Überbietung der Rede Max Reinhardts vom „Theater der Fünftausend“ (Reinhardt 1989, 446ff.) proklamiert. Das Thingspiel wird als genuin nationalsozialistische Erfindung mit germanischen Wurzeln verkauft. Wolf Braumüller, Leiter der Abteilung „Freilicht- und Thingspiele“ in Rosenbergs 1934 aus dem Kampfbund hervorgegangener NS-„Kulturgemeinde“ und Mitarbeiter von deren Zeitschrift Bausteine zum deutschen Nationaltheater, behauptet, das Thing sei „in der ältesten Zeit deutscher Geschichte die Wehr-, Volks- und Gerichtsversammlung“ (Braumüller 1934, 210) gewesen. Realiter dient das mit der flächendeckenden Verbreitung von amphitheaterartigen Thingstätten verknüpfte Bau- und anvisierte Spielprogramm als ungeheure Beschäftigungsmaßnahme nicht nur für arbeitslose Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern vor allem für den Freiwilligen-, ab 1935 sogenannten Reichsarbeitsdienst (vgl. Alkemeyer 1996, 279). Dabei treten die „Soldaten der Arbeit“ oftmals als Thingchöre in den von ihnen gebauten Kultstätten auf: Theater vom Volk und für das Volk, lautet das vermeintlich originär nationalsozialistische Programm. Beim Thingspiel handelt es sich um eine szenisch gerahmte, in den soldatischen Aufmarsch übersetzte heterogene Mischung unterschiedlicher Theaterpraxen (Menz 1976). Seine Form zeugt trotz aller Blut-und-BodenMythologie auch von einer der Entwicklung der Großstädte und den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges geschuldeten neuen Aufmerksamkeit für die Darstellung der Masse, die bereits die Weimarer Zeit kennzeichnet.3 Was als genuin nationalsozialistisch gilt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Melange vor 1933 bereits vorhandener Stilformen; zitiert wird die kommunistische Sprechchorbewegung ebenso wie das Reinhardt’sche

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David Pan begreift das Thingspiel als „Weimar period genre“ (The Thingspiel and the Cultural Political Divisions of the Nazi Period, Vortrag vom 09.10.2009 im Rahmen der Jahreskonferenz der German Studies Association in Washington, D.C.).

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Massentheater oder auch der von Rudolf von Laban geprägte Ausdruckstanz (vgl. Eichberg et al. 1977; Wolff 1985; Müller/Stöckemann 1993). Nun allerdings werden diese Formen maßgeblich dazu verwendet, „den Soldaten des Ersten Weltkrieges“ vor dem Hintergrund einer chorisch inszenierten Volksgemeinde zur stellvertretenden Passionsfigur zu stilisieren. Es mag also kaum erstaunen, dass sich Verbindungen zwischen organisierter Thingbewegung und katholischem Laientheater nachzeichnen lassen. Gerade die frühen Thingspiele wie Richard Euringers Deutsche Passion 1933 oder Kurt Eggers’ Spiel von Job dem Deutschen nehmen deutlich Anleihen beim Passionsspiel. Die Übersetzung einer religiösen, aus der Liturgie kommenden Theatertradition in die militaristisch ausstaffierte politische Religion des Nationalsozialismus macht schon das erstgenannte und möglicherweise erfolgreichste Thingspiel deutlich. „Entworfen Weihnacht 1932 / Vollendet Frühmärz 1933 / Urgesendet in der ‚Stunde der Nation‘, / Gründonnerstag, 13. April 1933, / über alle deutschen Sender“ (Euringer 1933, 4): Euringers Deutsche Passion 1933 wird nach seiner Radiokarriere als Hörstück 1934 im Rahmen der Heidelberger Reichsfestspiele von Hanns Niedecken-Gebhard inszeniert, unter freiem Himmel uraufgeführt und als Modell für die weitere Thingentwicklung angesehen (vgl. Sauer/Werth 1971, 185f.; Döhl 1992, 51ff.; Ketelsen 2007).4 Dem Auftritt eines toten, mit Stacheldraht gekrönten namenlosen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg werden in Euringers Stück die durcheinanderstöhnenden Massen gegenübergestellt. Sie sind es, die der auferstandene Soldat schließlich gegen die Figur des Bösen Geistes und zum Aufbau des Dritten Reiches als Volksgemeinschaft vereint. Niedecken-Gebhards, von Laban beeinflusste Choreografie der zu Beginn noch ungeordneten Massen verdeutlicht ebenso wie Euringers Text, wie sehr die chorischen Einsätze des Thingspiels auch in der expressionistischen Ästhetik der Zwischenkriegszeit verankert sind: In Euringers Anweisungen ist mit Blick auf die Chöre der Mütter, Kinder, Bauern, Arbeiter, Bürger und so weiter noch emphatisch von einem „Irrgarten der Stimmen“ (Euringer 1933, 7) und schließlich dem vereinten „Ahhhhh-Schrei der Massen“ (ebd.) die Rede, aus dem dann die Volksgemeinschaft „hervorgehen soll. Zum Schlussmarsch heißt es programmatisch: ‚Das hörende Volk muß mitsingen können.‘“ (Ebd., 8) Unschwer ist hier die wilde Mischung aus Liturgie und Stilelementen der Weimarer Zeit erkennbar. Allerdings wird die chorische Figur nun als volksgemeinschaftliche ständeübergreifend gedacht und rassistisch begründet. Was sich darüber hinaus gewandelt hat, ist deren Gewand. „Der Gefallene, Erstandene, Der namenlose Soldat“ sowie die Chöre der Jungdeutschlandregimenter und der seligen Krieger sorgen in Euringers Thingspiel für

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Die Uraufführung findet am 28. Juli 1934 auf dem Heidelberger Schlosshof statt, da die Thingstätte auf dem Heiligenberg zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggestellt ist (vgl. Helmich 1989, 178ff.; Fischer-Lichte 2006, 19ff.; Stommer 1985, 77ff.).

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den militaristischen Anstrich der am Schluss geeinten Figur. Und in der Tat entsprechen diese geschlossenen Formationen in Reih und Glied Braumüllers bereits zitiertem Verweis auf die Wehrversammlung als Vorläufer des Thingspiels. Aus vergleichbarer Perspektive fordert Wilhelm von Schramm 1934 in seinem von Braumüller ansonsten heftig kritisierten Buch Neubau des deutschen Theaters, dass die Thingchöre wie geschlossene Körper im männlichen Spiel agieren sollen (Schramm 1934, 39). Der spätere Reichsdramaturg Rainer Schlösser wiederum träumt schon zu Beginn des vorhergehenden Jahres als Chefredakteur des Völkischen Beobachters öffentlich von der Verwirklichung eines im Krieg vom „feldgrauen Menschen erschauten“ Nationaltheaters (Schlösser 1933, 123). Den Chören kommt aus dieser Sicht die Funktion zu, Masse männerbündisch in Szene zu setzen. Das Phantasma der Volksgemeinschaft soll im Thingspiel also gewissermaßen das Kostüm der Reichswehr tragen. Dabei wird das chorische Sprechen als Medium einer gemeinsamen kultischen Erfahrung begriffen. Doch genau dieser chorischen Auftrittsform ist der Niedergang der organisierten Thingbewegung mitgeschuldet. Bereits im Mai 1936, also im Vorfeld der Olympiade, erlässt Goebbels ein heute kaum mehr bekanntes Sprechchorverbot „für alle Veranstaltungen der Partei und ihrer Gliederungen“ (vgl. Stommer 1985, 130ff.), das auch und gerade die Modellfunktion der bisherigen Thingspiele für die nationalsozialistische Massenkultur grundlegend erschüttert. Daran zeigt sich, wie wenig nachhaltig die nationalsozialistische Darstellungskunst von der Verwendung soldatischer Chorformationen und damit von unserem Bild eines „choreografierten Thingtheaters“ bestimmt ist. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nämlich zeichnet sich mit der Konsolidierung des Staatsapparates und der faktischen Aufrüstung der NS-Gesellschaft ein verändertes Verhältnis zur szenischen Darstellung der Volksgemeinschaft ab. Diesen Umschlag in der Entwicklung nationalsozialistischer Massenkultur möchte ich ausgehend von einem Stück zeigen, das paradigmatisch für den Niedergang des Thingspiels und seiner chorischen Form ist: Als Referent der Reichstheaterkammer und Zögling des Reichsdramaturgen Rainer Schlösser entwirft der Autor Eberhard Wolfgang Möller das Frankenburger Würfelspiel (1936) wie am Reißbrett. Goebbels selbst beteiligt sich an der Gegenstandswahl. Das Stück nimmt sich eines Ereignisses aus der Zeit der Gegenreformation an: Im 17. Jahrhundert werden in Oberösterreich protestantische Bauern, die sich weigern zu konvertieren, von katholischen Feudalherren dazu gezwungen, gegeneinander um ihr Leben zu würfeln.5 Möller überführt den Stoff in eine Art retrospektives Tribunal. An die Stelle von Euringers Allegorie des namenlosen, leidenden Soldaten aus Deutsche Passion 1933 tritt nun die Figur des Souveräns, die im Namen der Toten Herr-

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Noch heute findet alle zwei Jahre ein Reenactment dieses Ereignisses mit um die 400 Laienschauspielerinnen und Laienschauspielern im Frankenburger Freilichttheater statt.

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schaftsgeschichte revidiert. Eine Gestalt in schwarzer Rüstung, die offenkundig auf „den Führer“ als selbstproklamierten obersten Gerichtsherren verweist, stellt sich in der letzten Szene den ehemals Herrschenden entgegen und wirft ihre Spielregeln über den Haufen. Er lässt sie um ihr Nachleben spielen und gewinnt schließlich gegen sie, indem er selbst Unendlichkeit würfelt. Das Frankenburger Würfelspiel fungiert als Gegenentwurf zum vielkritisierten Zitat von Passionsspielen und deren sprechchorischer Umdichtung in die Leidensgeschichte der Reichswehr, für die Richard Euringers Deutsche Passion 1933 exemplarisch steht. Möllers Stück und seine Inszenierung durch Mathias Wieman und Werner Pleister ist also deutlich als Antwort auf die längst tobenden Thingquerelen konzipiert, durch die hindurch sich die unterschiedlichen Fraktionen nationalsozialistischer Kulturpolitik bis dato zu profilieren versuchen. Mit ihm wird am 2. August 1936 – zu diesem Zeitpunkt ist der Thingbegriff bereits offiziell passé (vgl. Kloss 1981, 75) – das Kulturprogramm der Berliner Olympiade auf der Dietrich-EckartFreilichtbühne, der heutigen Waldbühne, vor über 20.000 Zuschauerinnen und Zuschauern eröffnet.6 Ihm kommt mithin eine tragende Rolle in der weiteren Entwicklung des nazistischen Massentheaters zu. Von der gängigen Thingkonzeption lässt sich Möllers Entwurf dabei mindestens in dreierlei Hinsicht unterscheiden: mit Blick auf die Figur des Souveräns, die als Repräsentantin des Volkes das protagonistische, an Christus erinnernde Opfer ersetzt, durch die veränderte Rolle des Chors und durch die Abkehr vom Bezug auf die jüngere Geschichte bzw. die damit verbundene Kampfzeitästhetik. Damit aber wandelt sich auch die geschlechterspezifische Darstellungsform. Auf den ersten Blick scheint sich das herkömmliche Gendering der früheren Thingspiele fortzusetzen. Abgesehen von einer Frauenstimme treten im Frankenburger Würfelspiel nur männliche Figuren in Sprecherrollen auf. Dabei sind mehr als 1200 Laiendarsteller an der Berliner Uraufführung beteiligt. Der Chor als Figur aber bekommt eine neue Funktion und ist von der Massenchoreografie abgekoppelt. Er soll, wie Möller zu Beginn seines Stücks betont, die „Spielpausen mit lyrischen Betrachtungen über den tieferen Sinn des Ganzen“ überbrücken und „sich als Vertreter einer außenstehenden und zuschauenden höheren Instanz gänzlich von den übrigen Faktoren des Spiels unterscheiden“ (Möller 1936, 6). Seine lyrisch-musikalische Rolle nimmt er nun wahr, indem er seinen Part wie im Oratorium singt. Dem Chor, seines soldatischen Kostüms entkleidet und klassizistisch mit wallenden weißen Gewändern ausstaffiert, wird also anders etwa als bei Euringer kein Part innerhalb des szenischen Geschehens zugeschrieben. Und während der Chor sich immerhin noch singend vom Rund der Orchestra aus

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Hinsichtlich der Aufführungsgeschichte des Frankenburger Würfelspiels sei erinnert an Alfred Jungraithmayrs Dokumentarfilm von 1987; vgl. auch Gadberry 1977; Sulzenbacher 1997.

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einzuschalten hat, taugt der Kamerad Publikum auf den Zuschauerrängen nur mehr zur passiven Hinnahme des szenischen Geschehens.

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DIE NICHT EINS IST

Die vielbeschworene männlich-soldatische Form volksgemeinschaftlicher Darstellung erweist sich nicht erst mit Blick auf das Frankenburger Würfelspiel als arbiträr. So sehr die Uniformen, die das Bild der Thingchöre prägen, an den militärischen Aufmarsch in Reih und Glied erinnern mögen, wird im Thingdiskurs mit Blick auf die räumliche Anordnung ein gänzlich anders konnotiertes Modell favorisiert. Man träumt von nichts weniger als einer dem deutschen Volk vermeintlich „artgemäßen“ Befreiung vom Guckkasten und seiner eckigen Form – vom Widerstand gegen die szenische Orientierung an der zentralperspektivischen Malerei und von einer entsprechenden Bühnenform mit amphitheaterartigem Grundriss. Der Deutsche sehe, so der Marburger Regisseur Fritz Budde in Bausteine zum deutschen Nationaltheater, „die Welt nicht als Milieu, nicht als einen von vier Wänden begrenzten Raum, sondern als runden Kosmos, der in sich selbst ruht und durch sich selbst im Gleichgewicht gehalten wird. Darum kann der Kasten der französischen Bühne dem Deutschen die Welt nicht bedeuten, darum braucht er eine runde und plastische und sphärisch umgrenzte Bühne.“ (Budde 1934, 50) Nun ist die Rundform, in der die soldatischen Chöre platziert werden sollen, gemeinhin weiblich konnotiert. Es ist, als ob gerade dort, wo der geschlossene Rahmen des Guckkastens durch das Amphitheater ersetzt werden soll, zunächst ein „männliches Spiel“ beschworen werden muss. Zugleich aber korrespondiert die Verortung der Thingchöre mit der von Adolf Hitler selbst Mitte der 1920er Jahre vorgenommenen Feminisierung der Masse, mit der er vermutlich unfreiwillig an Denkfiguren des Fin de Siècle und die in diesem Kontext formulierten Entwürfe zur Massenpsychologie (vgl. Le Bons 1982/1895) anknüpft: „Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird, als durch solche einer undefinierbaren Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt, als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden, und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit.“ (Hitler 1934, 44)

Soldatische Darstellung der und geschlechterspezifische Zuschreibung an die Masse sind im Nationalsozialismus also keineswegs kongruent. Auch das Strukturprinzip des Chors widersetzt sich der geschlossenen, männlich konnotierten Form. Bis 1936 wird immer wieder kritisiert, dass die chorischen Inszenierungen an der vollständigen Synchronisation der

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Stimmen scheitern. Die Chorakustik untergräbt die Vorstellung von der völkischen Einstimmigkeit (vgl. Ketelsen 2007). Und auch visuell reflektiert der Sprechchor im Akt des Wortergreifens die Instabilität des volksgemeinschaftlichen Phantasmas. Im Gegensatz zur dramatischen Repräsentation einer protagonistischen Figur, die innerhalb des Guckkastens erscheinen kann, als sei sie aus Fleisch und Blut und spreche aus einem Mund, exponiert der Chor das allegorische Moment theatraler Darstellung. Die vermeintlich geschlossene Gestalt der Volksgemeinschaft wird als Effekt der gemeinsamen Rede, des gemeinsamen Auftritts im theatralen Rahmen lesbar. Insofern zeugen Goebbels’ Sprechchorverbot und das Frankenburger Würfelspiel letztlich von der Formproblematik des Thingspiels, die es eben gerade nicht zum Paradigma nationalsozialistischer Massenkultur werden lassen. Diese Formproblematik, das dem Theaterchor inhärente reflexive Moment, legt Einar Schleefs Arbeit frei. Dabei korrespondiert sein Einsatz, wie gesagt, auch mit den performativitätstheoretischen Überlegungen Butler’scher Prägung und der Dekonstruktion der gegenderten Figur. Während aber Butler und die an ihre Texte anknüpfenden Diskussionen im Kontext der Gender-Debatte am Auftritt des einzelnen Körpers orientiert sind, liefert Schleefs Sprechchor den Ausblick auf den kollektiven Akt der Figuration. Dabei führt Schleef in Herr Puntila und sein Knecht Matti die von Brecht als Stellvertreterin konzipierte Knechtsfigur durch Übersetzung ins Kollektiv als eine vor, die „nicht eins ist“ (Irigaray 1979) – weder ein singulärer noch mehrere für sich stehende Körper; denn als Chor kann Matti eben nicht wie der Protagonist des Dramas aus einem Mund und von einem Ort aus sprechen. Man muss Irigarays Substanzialisierung des Weiblichen als Geschlecht, das nicht eins ist, keineswegs folgen, um an ihre Begriffsprägung anknüpfend die Chorfigur mit Schleef zu bestimmen: Der Chor ist potenziell jene Figur des Uneinen, des „Zwischen“, die sich der phantasmatischen Schließung zur Gestalt auf der Bühne entzieht. Inwieweit ist also dem Chor als „postdramatischer“ Figur die Subversion volksgemeinschaftlichen Repräsentierens bereits eingeschrieben? Vielleicht wäre von Schleef aus zu fragen, ob sich das frühe Scheitern der Thingbewegung auch mit der zunehmenden Einsicht der Nazis in diese Reflexivität der Chorfigur und das weit größere, kontrollierbarere Propagandapotenzial protagonistischer Darstellung erklären ließe. Welche Rolle aber spielt in dieser Entwicklung das Gendering der inszenierten Volksgemeinschaft? Auf die Distanznahme von der weiblich konnotierten Figur im männlichen Kostüm folgt im Nationalsozialismus das Regendering der KollektivIkonografie. Im Krieg verleiht man der massenkulturell produzierten Figur der Volksgemeinschaft ein weibliches Gesicht. Und dieses Gesicht wiederum wird in einem eckigen Kasten präsentiert, der „dem Deutschen“, glaubt man Fritz Budde, so wesensfremd ist. Elfriede Jelinek weist verschiedentlich auf eine Schlüsselszene des propagandistischen Unterhaltungsfilms hin: In Gustav Ucickys Heimkehr von 1941 apostrophiert die frühere Reinhardt-Schauspielerin Paula Wessely –

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übrigens in der Rolle einer Lehrerin – den deutschen Menschen und verleiht ihm mit Hilfe von Kameraführung und Ton schließlich ihr Gesicht (vgl. Jelinek 2000; Jelinek 1992, 129−189; Jelinek 1999; zu Jelineks WesselyZitation vgl. Annuß 2007a; Annuß 2007b). Angerufene und sprechende „persona“ fallen in dieser von Jelinek ins Netz gestellten Szene zusammen, wenn sich die Kamera langsam Wesselys Gesicht nähert. Wenn aber der volksgemeinschaftliche Chor schließlich ein Heimatlied anstimmt, bleibt die Einstellung bei der Nahaufnahme Wesselys stehen. Der Spielfilm, der nicht nur die von Goebbels für das nazistische Massentheater anvisierten 100.000 Zuschauerinnen und Zuschauer, sondern ein Millionenpublikum erreicht, vollbringt mit Hilfe der Kamera, was dem Thingspiel mit Blick auf die Inszenierung der Volksgemeinschaft nie wirklich gelingt: die Überwindung der vierten Wand. So wird der Film zur neuen Volksbühne. An die Stelle des am Aufmarsch orientierten Chortheaters rückt in der Massenkultur das sprechende Gesicht einer Identifikationsfigur, die für alle steht. So dient im Zweiten Weltkrieg schließlich das weibliche Zelluloidgespenst anstelle der gespenstischen Stimme soldatischer Chöre dazu, die „Theatralik des Faschismus“ massenkulturell zu verbreiten (vgl. Kittler 1993, 97; Lehmann 1999, 235). Als Theatralik des Faschismus bezeichnet Bert Brecht jene nationalsozialistische Propaganda, die die Führerfigur als souveräne Repräsentantin des Volkes dramatisiert (Brecht GBA 1993, 561ff.). Die alte Theaterpraxis, Empathie zu erzeugen, würde von Hitler, der ja auch Schauspielstunden genommen habe, eingesetzt, um sein Publikum in eine einheitlich fühlende Masse zu verwandeln und das Volk zu betrügen. Im Verweis auf das personalisierte Einfühlungstheater Hitlers stellt Brecht eine Verbindung zwischen der Fiktion des sprechenden Gesichts in Drama und Politik her. Diese Fiktion wird in der angesprochenen Wessely-Szene in einer Weise ins Filmdrama der nationalsozialistischen Massenkultur übertragen, die nicht nur die partizipatorischen Versuche der Thingbewegung letztlich obsolet macht, sondern auch ihre Auftrittsform. Der Geschlechtergeschichte der inszenierten Volksgemeinschaft gibt Heimkehr eine neue Wendung und zeigt: In der NS-Kunst ist die propagandistische Darstellung der Volksgemeinschaft keineswegs auf den Auftritt männlich-soldatischer Massenchöre beschränkt. Vielmehr verändert sich die geschlechterspezifische Erscheinungsform dieses Phantasmas im Lauf der Zeit je nach Bedarf. An der Wessely-Szene wird zudem deutlich, dass weder der weibliche Auftritt noch der Einsatz dramatischer Figuren politisch so unschuldig ist, wie es etwa die eingangs zitierte Kritik an Einar Schleef nahelegt. Gegen den Strich gelesen zeugt der Sprechchor im Unterschied zur protagonistisch inszenierten volksgemeinschaftlichen Figur vielmehr noch im soldatischen Kostüm von der performativen Herstellung des Figurierten. Als sprechender Figur, die nicht eins ist, kommt ihm selbst im „choreografierten Thingtheater“ möglicherweise eine untergründige Reflexivität zu.

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3. M ÄDCHENKOMPLEX Polleschs „Mädchencombo“ mit Gewehr eröffnet im Verweis auf die Weimarer Zeit einen historischen Bezugsrahmen, der die Verbindung des Thingmit dem chorischen Gegenwartstheater in der eingangs genannten SchleefKritik sprengt und das darin Verdrängte wiederkehren lässt. Die bewaffnete Auftrittsform des weiblichen Chors nämlich wird auch mit der Allusion auf ein den Mädchen in Uniform zeitgenössisches Phänomen verwoben, das die Rezeption des soldatischen Auftritts in „Gender Trouble“ bringt: „Often copied – never equalled“ (Müller 1999, 61), lautet der Slogan der Tiller Girls. Der Gleichschritt von Polleschs Mädchenregiment zitiert zugleich jene von Kracauer (1977) sogenannten „unauflöslichen Mädchenkomplexe“, deren Aufmarsch die Ausstattungsrevuen der 1920er Jahre in Europa und den USA bestimmt. Fühlt sich Roland H. Wiegenstein von Schleefs soldatischer Chorformation 1996 ans Thingspiel erinnert, deutet Pollesch 2010 auf die ihm vorausgehenden ornamentalen Bewegungschöre aus in Serie gegangenen Frauenkörpern hin. Auch dieser Einsatz, der die Zwischenkriegszeit als heterogenes Experimentierfeld mit chorischen Auftrittsformen ins Gedächtnis ruft, zeugt davon, dass der szenische Auftritt in Reih und Glied keine Erfindung der Nazis ist. So verweist die Erinnerung an die Girl-Groups bei Pollesch auch auf die Arbitrarität geschlechterspezifischer Zuschreibungen an die Chorformation, wie sie noch den Thingdiskurs im Changieren zwischen imaginierter Männlichkeit und Weiblichkeit kennzeichnet. Szenische Vorlage für die Hamburger Ausstattung von Polleschs Chorfigur allerdings sind – nebenbei bemerkt – nicht die Tiller Girls, also sozusagen nicht das englische Original. Pollesch bezieht sich in seiner Inszenierung fürs Schauspielhaus treffsicher auf jene hausbackene Hamburger Variante mit breiteren Hüften, die 1937 als Hiller Girls mit ihrem Gardeballett Aufsehen erregt. Thingtheater und Sprechchor sind für die Nazis schon Schnee von gestern und Wesselys Gesicht ist noch nicht mit dem der Volksgemeinschaft verbacken, als dem Gleichschritt der Girls unter dem Motto „Ein Körper – ein Rhythmus – ein Schlag“ ein militärischer Anstrich verliehen wird. Die Girls in Reih und Glied aber künden bereits, so ließe sich behaupten, von der szenischen Feminisierung der Volksgemeinschaft. So betrachtet wird auch Wesselys Heimkehr-Gesicht als austauschbares Serienphänomen lesbar (vgl. McLuhan 1996, 126ff.).7 Nur suggeriert es im Unterschied etwa zu den Hamburger Girls die Adressierbarkeit der Kollektivfigur. Genau an dieser Fiktion wiederum arbeitet Mädchen in Uniform. Polleschs Theater operiert immer schon mit seriellen Figuren und der Entkopplung der rhetorisch fingierten „persona“ vom einzelnen Darstellerkörper, indem die personale Rede von einem Schauspieler zur anderen Schauspielerin überspringt. Mädchen in Uniform aber unterminiert in der Fortschrift der

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McLuhan bestimmt die Girls als Serienphänomen in Fließband der Liebes-Göttinnen.

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Schleef’schen Chorarbeit nicht nur die Verknüpfung von Körper und sprechender Figur. Vielmehr adressiert Sophie Rois den Chor, gewissermaßen die Inversion der von allen angebeteten Lehrerin, als Geliebte. Im Rekurs auf jenen romantischen Liebesdiskurs, dessen Heteronormierung bei Winsloe schon einmal ins Wanken gerät, wird das Problem, mit der Kollektivfigur einen Dialog führen zu wollen und sie als dramatische Figur anzusprechen, szenisch präsentiert.

F ILME Das Frankenburger Würfelspiel. Die Geschichte einer Aneignung, Alfred Jungraithmayr, D 1987. Heimkehr, Gustav Ucicky, A 1941. Mädchen in Uniform, Carl Froelich/Leontine Sagan, D 1931. Mädchen in Uniform, Géza von Radvány, D 1958.

I NSZENIERUNGEN Deutsche Passion 1933, Hanns Niedecken-Gebhard, Reichsfestspiele Heidelberg, Schlosshof, Uraufführung am 28. Juli 1934. Das Frankenburger Würfelspiel, Werner Pleister/Mathias Wieman, DietrichEckart-Freilichtbühne, Uraufführung am 2. August 1936. Herr Puntila und sein Knecht Matti, Einar Schleef, Berliner Ensemble, Premiere am 17. Februar 1996. Mädchen in Uniform. Wege aus der Selbstverwirklichung, frei nach Christa Winsloe, René Pollesch, Schauspielhaus Hamburg, Uraufführung am 25. Februar 2010.

L ITERATUR Alkemeyer, Thomas 1996: Körper, Kult und Politik. Von der „Muskelreligion“ Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936. Frankfurt am Main. Annuß, Evelyn 2007a: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens. München. Annuß, Evelyn 2007b: Spektren. Allegorie und Bildzitat in Elfriede Jelineks „Die Wand“. In: Pia Janke (Hg.): „Ich will kein Theater.“ Mediale Überschreitungen. Wien, 34–60. Annuß, Evelyn 2008: Zur Historizität postdramatischer Chorfiguren. Einar Schleef und das Thingspiel. In: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Bielefeld, 361–374.

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Braumüller, Wolf 1934: Die Landschaftsbühne. Wesen und Wege einer neuen Theaterform. In: Bausteine zum deutschen Nationaltheater 7, 205– 213. Brecht, Bertolt 1993: Werke, Bd. 22. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (GBA). Hg. von Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus Detlef Müller. Berlin/Weimar/Frankfurt am Main. Budde, Fritz 1934: Guckkastenbühne, Freilichtbühne, Deutsche Bühne (Grundsätzliche Gedanken zu einem Neubau des deutschen Theaters). In: Bausteine zum deutschen Nationaltheater 2, 47–54. Butler, Judith 1990: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York. Döhl, Reinhard 1992: Das Hörspiel zur NS-Zeit. Darmstadt. Dreysse Passos de Carvalho, Miriam 1999: Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs. Frankfurt am Main. Eggers, Kurt 1933: Das Spiel von Job dem Deutschen. Berlin. Eichberg, Henning/Dultz, Michael/Gadberry, Glen/Rühle, Günther 1977: Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell. Stuttgart. Euringer, Richard 1933: Deutsche Passion 1933. Hörwerk in sechs Sätzen. Oldenburg/Berlin. Fischer-Lichte, Erika 2005: Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre. London. Fischer-Lichte, Erika 2006: Tod und Wiedergeburt – Zur Verklärung der Volksgemeinschaft in Thingspielen und nationalsozialistischen Feiern. In: Paula Diehl (Hg.): Körper im Nationalsozialismus. München, 191– 210. Gadberry, Glen W. 1977: Eberhard Wolfgang Möller’s Thingspiel „Das Frankenburger Würfelspiel“. In: Henning Eichberg/Michael Dultz/Glen Gadberry/Günther Rühle: Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell. Stuttgart, 235–251. Goebbels, Josef 1934: Aus der Rede an die deutschen Theaterleiter. In: Das moderne völkische Drama. Grundsätzliches und Proben. Bearbeitet von Konrad Lindemann. Paderborn/Würzburg, 34–51. Haß, Ulrike 1999: Im Körper des Chores. Zur Uraufführung von Elfriede Jelineks „Ein Sportstück“ am Burgtheater durch Einar Schleef. In: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Theater der Zeit. Recherchen 2. Berlin, 71– 81. Haß, Ulrike 2000: Chorkörper, Dingkörper: Vom Geist der Droge. „Ein Sportstück“ von Elfriede Jelinek und Einar Schleefs Theater des Chores. In: Kaleidoskopien 3, 151–161. Helmich, Bernhard 1989: Händel-Fest und „Spiel der 10.000“. Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard. Frankfurt am Main. Hitler, Adolf 1934: Mein Kampf. 112.–113. Auflage. München. Irigaray, Luce 1979: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin.

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Transnationale Räume und internationale Organisierung der deutschen Frauenbewegung in der Zwischenkriegszeit U LLA W ISCHERMANN

1. E INLEITUNG Frauenbewegungen waren schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in einem überraschend großen Ausmaß über Ländergrenzen hinweg untereinander vernetzt. Bedeutende internationale Zusammenschlüsse, wie der International Council of Women (Internationaler Frauenrat, ICW) oder die International Suffrage Alliance (Weltbund für Frauenstimmrecht, IAW) und die Women’s International League for Peace and Freedom (Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, WILPF/IFFF), auch die Sozialistische Fraueninternationale traten für Frauenrechte ein und entwickelten eine große Mobilisierungskraft, die von Staat, Gesellschaft und Politik nicht unbeachtet bleiben konnte. Dieser Beitrag untersucht die transnationale Dimension der historischen Frauenbewegungen. Gefragt wird – am Beispiel Deutschlands – nach Transfer- und Verflechtungsprozessen zwischen transnationalen und nationalen Ebenen und deren Bedeutung für Entwicklungen, Mobilisierungen und politische Einflussnahmen, aber auch nach der Binnenstruktur der Frauenbewegungen und der „privaten“ Seite ihrer Politik. Im Folgenden werden mehrfach internationale Kongresse fokussiert: Sie sind bedeutsam für die Inter- und Transnationalität der Frauenbewegungen, denn sie zeigen sowohl die Selbstverständlichkeit internationaler Organisierung und die Entstehung transnationaler Räume als auch ihre Fragilität und Brüchigkeit in historischen Umbruchsphasen. Kongresse waren wichtige Knotenpunkte im vielfältigen Netz der Frauenbewegungsbeziehungen, sie stellten Höhepunkte der organisatorischen Arbeit dar (Velsen 1956, 123) und boten zugleich die Möglichkeit, neue Kontakte, Beziehungen, auch Freundschaften zu knüpfen und bestehende zu verfestigen. Dass die internationale Kooperation auch ihre Schattenseiten hatte, liegt auf der Hand: Ausund Abgrenzungen auf der Basis von Nation, Klasse, Alter, Religion und

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ethnischer Zugehörigkeit sowie zeithistorische Ereignisse, wie beispielsweise der Erste Weltkrieg, stellten die Möglichkeit und den Willen zur internationalen „Schwesternschaft“ immer wieder in Frage. Die Zeit um 1900 war mit einer starken Mobilisierung der historischen Frauenbewegungen in vielen europäischen Ländern und den USA verbunden, einer Mobilisierung, die aber durch den Ersten Weltkrieg eine gravierende Zäsur erfuhr. Diese 20 Jahre vor der Zwischenkriegszeit sind grundlegend und relevant für eine historische Rekonstruktion der 1920er Jahre, sowohl für die Frage nach der Bedeutung inter- und transnationaler Organisierung als auch nach den Interventions- und Handlungsmöglichkeiten von Frauenbewegungen. Mit Susan Zimmermann (2008) gehe ich davon aus, dass für die historische Forschung keine starre Trennung zwischen inter- und transnational gemacht, sondern eine integrative Herangehensweise bevorzugt werden sollte. D.h. auch, Unschärfen des Begriffs bewusst in Kauf zu nehmen. Im Folgenden wird zudem die Unterscheidung von Susanne Kinnebrock zugrunde gelegt, für „den globalen kommunikativen Austausch zwischen Personen und Gruppen“ den Begriff „transnational“ zu verwenden, „während global agierende Organisationen und ihre stärker institutionalisierten Beziehungen als ‚international‘ bezeichnet werden“ (Kinnebrock 2007, 30). Transnationalisierung heißt dann vor allem, dass sich „Zugehörigkeitsgefühle, kulturelle Gemeinsamkeiten, kollektive Arbeitszusammenhänge herausbilden, die sich in relativ dauerhaften und pluri-lokalen, die Grenzen der Nationalstaaten überschreitenden, sozialen Gebilden und Sozialräumen niederschlagen“ (Pries 2008, 44). Meine These ist, dass transnationale Netzwerke und Räume sowie die internationalen Organisationen Identitätsprozesse in den historischen Frauenbewegungen beeinflusst und wichtige Ideentransfers angestoßen haben, durch die das gemeinsame politische Handeln mitgelenkt wurde. Soziale Bewegungen, auch Frauenbewegungen, beginnen häufig in gesellschaftlichen Umbruchzeiten, die von den Betroffenen je nachdem als Chance zum Aufbruch, oder aber als eine Infragestellung ihrer sozialen Identität wahrgenommen werden. Sie sind auf sozialen Wandel, auf Erneuerung der Gesellschaft gerichtet und fordern z.B. Freiheitsrechte, soziale Gerechtigkeit, politische Partizipation, aber auch Lebensqualität und Selbstverwirklichung. Ausgehend von Unrechtserfahrungen und Gesellschaftskritik entwickeln soziale Bewegungen ihre jeweiligen Ziele und Forderungen und vermitteln diese nach innen, also in die Bewegung hinein, sowie nach außen, in die Medienöffentlichkeit und die politische Öffentlichkeit. Denn gerade weil soziale Bewegungen an den institutionalisierten Formen der Macht, der etablierten Politik, nicht direkt teilhaben, müssen sie versuchen, über Personen, Institutionen und über Medien politischen Einfluss zu gewinnen (Wischermann 2003, 12f.). Meine These ist, dass Frauen und Frauenbewegungen in politischen Umbruchzeiten zwar oft aktiv am gesellschaftlichen Wandel und Protest sowie

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an Demokratisierung beteiligt waren, dann aber häufig von der politischen Macht ausgeschlossen blieben und an Einfluss verloren (vgl. Gerhard 2001, 7).

2. H ÖHEPUNKTE

UND F LAUTEN INTER - UND TRANSNATIONALER F RAUENBEWEGUNGEN BIS ZUM E NDE DES E RSTEN W ELTKRIEGES

Die Organisationsgeschichte der bürgerlichen internationalen Frauenbewegung beginnt 1888. In diesem Jahr wurde die Idee, einzelne nationale Frauenbewegungen in einem internationalen Frauenbund zusammenzufassen, mit der Gründung des International Council of Women (ICW) während eines Frauenkongresses in Washington in die Tat umgesetzt. 53 nationale Frauenorganisationen mit 49 Delegierten aus acht Ländern (England, Frankreich, Dänemark, Norwegen, Finnland, Indien, Kanada und den USA) waren dort vertreten mit dem Ziel, Frauen „aller Nationen“ zu einem politisch und konfessionell neutralen Dachverband zusammenzuschließen, der ihnen die Möglichkeit bieten sollte „aus allen Teilen der Welt zusammenzukommen, um über Fragen, die das Wohl der Allgemeinheit, der Familie und des einzelnen betreffen, gemeinschaftlich zu beraten“ (ICW 1966, 14ff. u. 329f.). Die Diskussionen der Gründungsveranstaltung drehten sich um folgende Themen und Forderungen: Frauenbildung, Wohlfahrtspflege, Temperenz, Sittlichkeitsfrage, Frauenarbeit sowie die Verbesserung der rechtlichen und politischen Bedingungen zur Gleichstellung der Geschlechter (ebd., 14). Mit übernationalen Zusammenschlüssen wie dem ICW, also einer „Weltbewegung von Frauen“, sollte der Kampf gegen die politische Unmündigkeit von Frauen grenzüberschreitend aufgenommen und den gemeinsamen Zielen frauenbewegter Frauen mehr Mobilisierungskraft verliehen werden (Gerhard 1994, 35). Deutsche Frauen übersendeten zwar dem Kongress in Washington eine Sympathieerklärung, verhielten sich aber noch längere Zeit zurückhaltend. Erst drei Jahre nachdem sich die deutsche bürgerliche Frauenbewegung mit der Gründung eines nationalen Dachverbandes im Jahr 1894 – dem Bund deutscher Frauenvereine (BDF) – einen inneren Zusammenhalt verschafft hatte, wurde der Beitritt zum ICW vollzogen (Remme 1955, 17f.; vgl. Rupp 1994). Hinzuweisen ist in diesem Kontext auf die spezifischen Rahmenbedingungen, die es der deutschen Frauenbewegung erschwerten, sich international zu organisieren. Nicht nur, dass ihnen qua Vereinsrecht jede politische Tätigkeit untersagt war, hinzukam, dass im deutschen Kaiserreich „international“ mit „antinational“ oder „vaterlandslos“ gleichgesetzt wurde – eine Gleichsetzung, die nicht nur durch erstarkenden Imperialismus und Kolonialismus beeinflusst war, sondern vor allem auch durch den programmatischen Internationalismus der Arbeiterbewegung und die Sozialistische Internationale (Gerhard 1994, 39).

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Circa alle fünf Jahre fanden in unterschiedlichen Ländern ICW-Kongresse statt, die nach und nach als glanzvolle und öffentlichkeitswirksame Ereignisse inszeniert wurden. Nach den Kongressen in Chicago im Jahr 1893 und London 1899 war es im Juni 1904 Berlin, wo auf Einladung des BDF, ein großes internationales Treffen ausgerichtet wurde. Die deutsche Zeitungs-, Zeitschriften- und Illustriertenpresse widmete dem Internationalen Frauenkongress in Berlin viel Aufmerksamkeit, wobei eine seriöse und informierende Berichterstattung überwog und Polemiken die Ausnahme blieben. Die Konsensbildung der internationalen Frauenbewegung − das zeigte die inhaltliche Arbeit des Berliner Kongresses – erstreckte sich vor allem auf soziale Probleme und hierbei besonders auf Arbeits- und Berufsfragen. Hinsichtlich der politischen Gleichberechtigung von Frauen blieb es bei der erstmaligen und vorsichtigen Aufforderung an alle Nationalverbände, sich für das Frauenwahlrecht einzusetzen (Remme 1955, 30). Dass es inzwischen aber viele Frauen gab, die in der Stimmrechtsfrage den Dreh- und Angelpunkt für die Gleichberechtigung von Frauen sahen, zeigt die im Vorfeld des ICW-Kongresses stattfindende Frauenstimmrechtskonferenz, die mit der Gründung der zweiten wichtigen internationalen Frauenorganisation, der International Alliance of Women (IAW), beendet wurde. Sieben nationale Stimmrechtsverbände waren offiziell vertreten: Dänemark, Deutschland, Großbritannien, die Niederlande, Norwegen, Schweden und die Vereinigten Staaten. Besucherinnen aus der Schweiz, aus Neuseeland, Österreich und Ungarn waren ebenfalls nach Berlin gereist und nahmen aktiv an den Diskussionen teil (Schreiber/Mathieson 1955, 4). Ziel der internationalen Stimmrechtsorganisation war es, „die Verbundenheit von Frauen aller Nationen zu sichern und alle Freunde des Stimmrechts zu vereinen“ (ebd., 5). Die internationale Organisierung sozialistischer Frauen fällt in das Jahr 1907. Auf Wunsch ausländischer Sozialistinnen hatten die deutschen Genossinnen die Initiative ergriffen und zur Ersten Internationalen Konferenz sozialistischer Frauen nach Stuttgart eingeladen, die am Tag vor dem Internationalen Sozialistenkongress stattfand (Dornemann 1973, 209f.; Badia 1994, 93ff.). Wie die nationalen sozialistischen Frauenbewegungen war auch die internationale sowohl Teil der allgemeinen Arbeiterbewegung und der SPD als auch eine eigenständige Gruppierung darin und nahm damit eine manchmal schwierige Stellung zwischen Partei- und Frauenpolitik ein, die immer wieder neu auszutarieren war. Die Sozialistische Internationale der Frauen setzte sich besonders für das Frauenstimmrecht ein und entwickelte Protestformen wie den Internationalen Frauentag, der ab 1911 ausgerichtet wurde und länderübergreifend die Stimmrechtsforderung auf Demonstrationen und Kundgebungen propagierte (vgl. Klausmann et al. 1994). Generell kann gesagt werden: Die Frauenbewegungen um 1900 bestanden aus einem vielfältigen Netzwerk lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Kontakte, Organisationen, Verbände und Vereine. Prozesse des transnationalen Austauschs und Ideentransfers zwischen den Frauen, Gruppen und Organisationen, die dieses Netzwerk bildeten und stützten, waren

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für die Entwicklung der Frauenbewegungen von großer Bedeutung und stellten eine wichtige Bewegungsressource dar, in der persönliche Beziehungen und Freundschaften als Basis von Politik eine wichtige Rolle spielten (Zimmermann 2002, 263; Wischermann 2003). Die verschiedenen nationalen Frauenbewegungen bekamen viele Impulse aus der internationalen Frauenbewegung. Besonders wenn bekannte und populäre Rednerinnen und Akteurinnen zu den großen internationalen Kongressen anreisten, steigerte das nicht nur die Publizität der internationalen, sondern auch der nationalen Bewegungen. Symbole und Aktionen wurden von den internationalen Organisationen übernommen, etwa wenn die deutsche Stimmrechtsbewegung Fahnen und Farben, Lieder und Symbole als öffentlichkeitswirksame Strategien im Kampf für das Frauenstimmrecht einsetzte. Welche Bedeutung die internationalen Kongresse und die durch sie ermöglichten Begegnungen und Freundschaften hatten, ist bisher nur ansatzweise rekonstruiert, aber es spricht vieles dafür, dass sich ein Netz freundschaftlicher Frauenbeziehungen durch die internationale Organisierung zog (vgl. Rupp 1997). Spuren solcher Bewegungsidentität bildenden Prozesse finden sich am ehesten in Briefen, Tagebüchern und Lebenserinnerungen von Akteurinnen, in denen das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Solidarität zum Ausdruck kommt und von großer gegenseitiger Sympathie und Freundschaft gesprochen wird: „Although nearly strangers, we are friends“, schrieb Mary W. Sewall, die Vorsitzende des ICW vor dem BerlinKongress an die Vorsitzende des BDF Marie Stritt. Auch in der Presseberichterstattung über die Kongresse schwang diese Sympathie und Emphase oft mit, etwa wenn eine Journalistin 1904 von der „weltumwindenden Kraft einer großen gemeinsamen Idee“ sprach, die überall zu spüren war (zit. n. Kinnebrock 2007, 49). Der Erste Weltkrieg kann als Prüfstein der bis hierher skizzierten internationalen „Schwesternschaft“ gelten. Lily Braun, eine deutsche Sozialdemokratin adeliger Herkunft, hat im Jahr 1915, also unter dem Eindruck des ersten Kriegsjahres, die Idee einer „Schwesternschaft aller Menschen weiblichen Geschlechts“ als „törichten Traum“ verworfen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten deutschen Frauenvereine ihre Arbeit an der „Heimatfront“ längst aufgenommen und sich – übrigens über Klassengrenzen hinweg – dem „Nationalen Frauendienst“ angeschlossen. Nationale Gemeinschaft und Zugehörigkeit standen an erster Stelle, und eine internationale Verbundenheit von Frauen war für viele nach Kriegsbeginn undenkbar geworden. Selbst die international gesonnene sozialistische deutsche Arbeiterpartei, die SPD, hatte ihren „Burgfrieden“ mit dem Kaiser geschlossen, schwamm mit auf der Welle vaterländischer Gesinnung und stellte ihre sonst geübte Kritik am Militarismus des Kaiserreiches hintenan. Auch die internationalen Frauenorganisationen reagierten auf das Kriegsgeschehen. Der ICW kappte nach Kriegsbeginn die Beziehungen zu den deutschen Mitgliedern. Die Vorsitzende Lady Aberdeen schrieb 1915 an die BDF-Vorsitzende Gertrud Bäumer, dass die gemeinsame Arbeit nun un-

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terbrochen werde, aber dass alle froh seien, „daß die Frauen überall in der Welt dem Ruf der Pflicht und der Opferbereitschaft in wunderbarer Weise gefolgt sind, und daß sie bewiesen haben, wie sehr sie für jede Art von Hilfs- und Notstandsarbeit fähig und bereit waren“ (zit. n. Gerhard 1994, 43). Mit diesem Rekurs auf die weibliche Opferbereitschaft hatte Aberdeen auf jeden Fall die Meinung einer Majorität der Frauen zum Krieg ausgesprochen und die wenigen Pazifistinnen, die es gab, gleichzeitig ausgeschlossen. Es kann zwar keineswegs pauschal behauptet werden, dass im Ersten Weltkrieg feministische Internationalistinnen Pazifistinnen waren (vgl. Klaus/Wischermann 2010), aber trotzdem gibt es hier einige interessante Überschneidungen. So organisierte Clara Zetkin, die Führerin der deutschen proletarischen Frauenbewegung und seit Jahren entschiedene Internationalistin und Pazifistin, gegen den Willen der Parteileitung im März 1915 in Bern eine Internationale Sozialistische Frauenkonferenz als Protestveranstaltung gegen den Krieg (Evans 1979, 270ff.). Nach ihrer Rückkehr sorgten die deutschen Delegierten, die von Parteiseite her nicht als offizielle deutsche Vertretung galten, in geschlossenen Frauenversammlungen für die Verbreitung des während der Berner Frauenkonferenz verabschiedeten Friedensmanifests und propagierten die sofortige Beendigung des Krieges. Die internationalen bürgerlichen Frauenorganisationen erwiesen sich als gespalten. Während der ICW versuchte, sich aus dem Kriegsgeschehen herauszuhalten und seine politische Neutralität zu wahren, ergriff der Weltbund für Frauenstimmrecht (IAW) pazifistische Initiativen. Der Beginn des Krieges hatte den Beschluss der IAW durchkreuzt, die nächste reguläre internationale Tagung im Juni 1915 in Berlin abzuhalten. Doch hielten es die international organisierten Stimmrechtlerinnen gerade in dieser Zeit für dringend notwendig, die Verbindungen untereinander aufrechtzuerhalten. Unter der Leitung der Holländerin Aletta Jacobs bereiteten sie für Ende April 1915 eine internationale Frauenkonferenz in Den Haag vor, um gemeinsam gegen den Weltkrieg zu protestieren und Grundsätze einer neuen Friedensordnung zu diskutieren (Internationales Frauenkomitee 1915). Der deutsche BDF lehnte die Teilnahme am Haager Frauenfriedenskongress für seine Mitglieder strikt ab, weil für ihn die nationalen Verpflichtungen derart Vorrang hatten, „daß uns internationale Verhandlungen über die für den Kongreß vorgesehenen Fragen ebenso überflüssig wie undurchführbar erscheinen“, wie es in der offiziellen, über die Presse lancierten Erklärung hieß. Verbandsintern wurde die Teilnahme an der Haager Frauenfriedenskonferenz sogar als unvereinbar mit der Mitgliedschaft im BDF gebrandmarkt (vgl. Klausmann et al. 1994). Dennoch meldeten sich 43 Deutsche für die Konferenz an und 28 gelang es, in das neutrale Holland einzureisen und teilzunehmen. 1000 Frauen aus zwölf – sowohl kriegführenden als auch neutralen – Ländern Europas und Nordamerikas kamen 1915 in Den Haag zusammen, um gegen den Krieg zu protestieren. Sie hatten dafür zum Großteil mühsame Reisen auf sich ge-

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nommen und behördliche Auflagen umgehen müssen. Viele Pazifistinnen rückten mit ihrer Teilnahme in die Observanz staatlicher Behörden, wurden überwacht, ihre Briefe zensiert, und sie kamen häufig in Konflikt mit ihren jeweiligen nationalen Frauenorganisationen. Außer für die Forderung nach Frieden setzten sich die in Den Haag versammelten Pazifistinnen auch für die Gleichberechtigung von Frauen ein, die sie als wichtige Voraussetzung für eine friedliche Weltordnung ansahen. Auf diesem Kongress wurde ein Internationales Frauenkomitee für dauernden Frieden gegründet, das seinen Sitz zunächst in Amsterdam hatte; Vorsitzende war die Amerikanerin Jane Addams. Staat und Obrigkeit der kriegführenden Länder reagierten vehement auf die Pazifistinnen, die, durch Verbote, Zensur, auch Gefängnisstrafen verfolgt, die Treffen ihrer Friedenskomitees oft im Geheimen abhielten. Gleichwohl propagierten sie ihre auf der Haager Konferenz entwickelten Forderungen zur Beendigung des Krieges und übergaben sie an europäische Regierungen sowie persönlich an den US-Präsidenten Woodrow Wilson. Indem die 1915 in Holland zusammengekommenen Pazifistinnen sehr um versöhnende Gesten, Rituale und Symbole bemüht waren, sie auch inszenierten, um der neuen internationalen Frauenfriedensbewegung ein „Gesicht“ zu geben (vgl. Wilmers 2007, 151ff.), versuchten sie, das durch den Krieg brüchig gewordene Band internationaler Sympathie wieder zu festigen und eine neuerliche, wenn auch fragile und in der Öffentlichkeit diskreditierte Gemeinschaft zu bilden. Deutsche Teilnehmerinnen wie Anna Edinger, Lida Gustava Heymann, Anita Augspurg und Helene Stöcker blieben auch in den Folgejahren entschiedene Internationalistinnen und Pazifistinnen, obwohl sie dadurch an Bedeutung und Anerkennung in der nationalen Frauenbewegung verloren. Die Entwicklung der Frauenbewegungen im Ersten Weltkrieg zeigt, dass Positionierungen zum Kriegsgeschehen für die jeweiligen Vereins- und Personennetze sowie für die formellen und informellen Beziehungen unter den Akteurinnen gravierende Folgen hatten. Grenzziehungen wie proletarisch, bürgerlich oder radikal waren nicht mehr die Messlatte, die an die einzelnen Teilbewegungen angelegt werden konnte, sondern Nationalismus, Internationalismus und Pazifismus wurden die neuen Rahmungen, in denen frauenbewegte Akteurinnen zu verorten waren. Durch den Krieg wurden neue Formationen wirksam, änderten sich Zugehörigkeiten und Gemeinschaftsgefühle; es wurden neue Grenzen gezogen, die die internationalen Kooperationen grundlegend veränderten und auch die transnationalen Kommunikations- und Interaktionsräume tangierten. Mit dem Zusammentreffen und dem Zusammenschluss pazifistischer Frauen im Ersten Weltkrieg veränderten sich lange bestehende Freundschaftsnetze, neue Gegnerinnenschaften und Feindschaften entstanden, aber auch neue grenzüberschreitende Beziehungen, die sich rasch zu gut funktionierenden Netzwerken verdichteten. Annika Wilmers hat in ihren Untersuchungen die Arbeit und Kooperation der internationalen Frauenfriedensbewegung im Ersten Weltkrieg nachgezeichnet und gezeigt, dass und wie kulturelle und

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politische Zusammengehörigkeiten im internationalen Frauenbewegungskontext neu konstruiert wurden und welches Zusammenspiel von nationaler Exklusion und internationaler, von Gemeinschaftsgefühlen getragener Inklusion dabei wirksam war (Wilmers 2005; Wilmers 2007).

3. D IE

POLITISCHE H ANDLUNGSFÄHIGKEIT NATIONALER UND INTERNATIONALER F RAUENBEWEGUNGSORGANISATIONEN IN DER Z WISCHENKRIEGSZEIT

Die Neuordnung Europas und die damit angestoßenen Modernisierungsprozesse entstanden inmitten von Krieg, Revolution, wirtschaftlichem Umbruch, von Wissensstreit und dem Aufkommen politischer Parteien und Gruppierungen, die oft alles andere als frauenfreundlich gesonnen waren (Offen 2001, 210). Auch die russische Revolution und das „bolschewistische Frauenexperiment“ (ebd., 226) schürten bei den neuen Regimen die Angst vor der Frauenemanzipation und forcierten antifeministische Kampagnen. Trotzdem wuchs die internationale Frauenbewegung in den Jahren nach dem Krieg zu einer breiten, Millionen Frauen umfassenden Strömung heran. Neben den internationalen Zusammenschluss der Sozialistinnen trat die Kooperation kommunistischer Frauen, die sich ab 1920 zu internationalen Frauenkongressen trafen, in der Regel im Anschluss an die Weltkongresse der Kommunistischen Internationale in Moskau. Auch die internationalen bürgerlichen Vorkriegsfrauenorganisationen ICW und IAW blieben bestehen und expandierten stark. Neu und wichtig wurde die pazifistische Frauenorganisation Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF), die aus dem Haager Kongress von 1915 hervorgegangen war und sich ab 1919 offiziell (und bis heute) mit Sitz in Genf organisierte. Viele neue Länder wurden Mitglied in den drei großen internationalen Frauenorganisationen: Island, Estland, Rumänien, Chile, die Tschechoslowakische Republik, Irland, Polen, Indien, Peru und Brasilien traten in den 1920er Jahren dem ICW bei (ICW 1966, 272ff.); auch die IAW hatte Zuwächse zu verzeichnen und unterhielt Kontakte in viele Teile der Welt. Die Forderung nach aktivem und passivem Stimmrecht, soziale Fragen, aber auch wirtschaftliche und politische Fragen, wie die der Mitarbeit im Völkerbund, machten die Hauptarbeitsgebiete dieser internationalen Frauenorganisationen der Nachkriegszeit aus (Remme 1955, 99ff.). Zudem setzten sich diese Organisationen stark für die staatsbürgerliche Bildung von Frauen ein, die – ganz gleich, ob mit oder ohne Stimmrecht – als ein wichtiges Fundament für die politische Mündigkeit und Kompetenz von Frauen zur Einmischung in Politik gesehen wurde. Leila J. Rupp (1994) hat darauf hingewiesen, dass den großen internationalen Organisationen im Wesentlichen Frauen angehörten, die gebildet, protestantisch und meist europäischen Ursprungs waren. Sie mussten sich

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kostspielige Kongressreisen leisten können oder bereits bekannt genug sein, um mit Sponsorengeldern rechnen zu können. Hinzu kam, dass die drei offiziellen Sprachen – Englisch, Französisch und Deutsch – den jeweiligen Muttersprachlerinnen Vorteile verschafften. Und schließlich waren die protestantischen Frauen tonangebend, trotz der aktiven Mitarbeit einer ganzen Reihe jüdischer Frauen (wie der Deutschen Alice Salomon oder der Ungarin Rosika Schwimmer) und trotz der Teilnahme von katholischen sowie einigen muslimischen Frauen, unter ihnen die ägyptische Frauenrechtlerin Huda Shaarawi (ebd., 55). Auch wenn sich der ICW nach eigenen Worten 1920 als eine „unbroken family“ wiedertraf, stellte der Erste Weltkrieg eine gravierende Zäsur dar, die in der 1920er Jahren deutlich spürbar blieb. In den meisten in den Krieg verwickelten Ländern hatte sich die Stellung von Frauen seit 1914 grundlegend verändert. Viele ökonomische, rechtliche und soziale Barrieren für Frauen waren im Krieg beseitigt worden, die allerdings in der restaurativen Nachkriegszeit nach und nach wieder aufgerichtet wurden. Der Krieg hatte sich keinesfalls nur als „Schrittmacher der Frauenemanzipation“ erwiesen, trotzdem gab es in etlichen Ländern einen wichtigen Erfolg: Viele Frauen hatten im Kontext politischer Neuformierungen das Stimmrecht bekommen. Sie waren dadurch zu anerkannten Staatsbürgerinnen geworden, die die „Geschicke“ ihres Landes mitbestimmen durften. Dies kann zweifelsfrei als ein Meilenstein in der Geschichte der Frauenbewegungen gelten. In Deutschland mobilisierten die Frauenbewegungsorganisationen umgehend für die ersten Wahlen, an denen Frauen partizipieren durften: die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung. Sie veröffentlichten (parteineutrale) Wahlaufrufe, einzelne Akteurinnen stellten sich den verschiedenen Parteien als Kandidatinnen zur Verfügung. Die Wahlbeteiligung von Frauen war mit knapp 90 Prozent außerordentlich hoch und es wurden viele Frauen gewählt: 41 Frauen, das waren 9,6 Prozent aller Abgeordneten, zogen in die Nationalversammlung ein. Dieser Frauenanteil wurde während der Weimarer Republik nicht wieder erreicht, sondern erst in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik (vgl. Gerhard/Klausmann/Wischermann 2001, 180). Dass politische Partizipation nicht gleichbedeutend mit politischem Machtzuwachs war, mussten die ersten Parlamentarierinnen allerdings schnell erkennen. Am ehesten hatten sie Erfolge in der Sozialpolitik, einem Gebiet, auf dem sie sich schon seit Jahren bewährt hatten und das als typisch „weiblich“ akzeptiert war. Mit zunehmendem Engagement von Frauen in Politik und Parteien ging aber letztlich die Bedeutung der Frauenbewegung in Deutschland zurück. Zwar nahmen die Mitgliedsorganisationen im BDF weiterhin zu und hatten Ende der 1920er Jahre mit einer Million Mitglieder zahlenmäßig einen weiteren Aufschwung genommen, aber die politische Relevanz und öffentliche Sichtbarkeit der Frauenbewegung ging auf jeden Fall zurück (vgl. ebd.). Die Kluft, die der Erste Weltkrieg in den Beziehungen der deutschen Frauen zu ihren ausländischen „Schwestern“ hinterlassen hatte, war tief.

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Zwar hatten einzelne Frauen ihre internationalen Kontakte aufrechterhalten, aber nur zögerlich − und erst ab Mitte der 1920er Jahre regelmäßig − nahmen offizielle deutsche Delegationen wieder an den internationalen Kongressen teil. Viele deutsche Frauen, auch Gertrud Bäumer − eine der wichtigsten Vertreterinnen der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung und inzwischen Parlamentsabgeordnete −, hielten sich zunächst von den internationalen Organisationen fern. Solange der „Schandfrieden von Versailles“ gültig sei, der in Deutschland Arbeitslosigkeit, hohe Reparationen und Hungersnöte zur Folge habe, sei eine Zusammenarbeit mit Frauen aus den Siegermächten außerordentlich schwierig. Erst 1926 trat Gertrud Bäumer auf dem IAW-Kongress in Paris wieder in Erscheinung und fügte ihrem Vortrag über die Arbeit der Frauen im deutschen Reichstag eine Schlussbemerkung hinzu. Sie sprach insbesondere die französischen Frauen an und drückte – wenn auch umständlich und indirekt – ihren gemeinsamen Friedenswillen aus. Eine Augenzeugin berichtete: „Solange sie sprach, herrschte atemlose Stille. Bei diesen Schlußworten aber brach nach jedem Satz zustimmender Beifall aus, der sich am Ende kaum beruhigen wollte.“ Die französische Vorsitzende der IAW erhob sich und sagte: „Sagen Sie den deutschen Frauen“ und nach einem Augenblick des Zögerns: „Sagen Sie unseren deutschen Schwestern, daß dies das Antlitz des wahren Frankreich ist. Das Nationalgefühl des Einzelnen muß so stark und heilig sein, daß ihm das Nationalgefühl der anderen unantastbar erscheint. Sagen Sie den deutschen Frauen, daß wir verstanden haben, was Sie uns haben sagen wollen, und daß die deutschen Frauen auf uns zählen können.“

Danach umarmten sich die beiden Frauen unter großem Beifall des Publikums (Ulich-Beil 1961, 107f.). Die Gruppe der Pazifistinnen hingegen, die 1915 den Haager Kongress initiiert und durchgeführt hatte, hatte auch während des Krieges versucht, ihre internationalen Beziehungen aufrechtzuerhalten und hatte „Frauenausschüsse für dauernden Frieden“ gegründet, aus denen dann, wie bereits erwähnt, 1919 eine weitere große, und damit die dritte bürgerliche internationale Frauenorganisation entstand, die Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF). Im Mai 1919 fand in Zürich der Gründungskongress statt. Er wollte bewusst Repräsentantinnen sowohl aus neutralen als auch aus den am Krieg beteiligten Ländern zusammenbringen – ein schwieriges Unterfangen, das aber mit großem Taktgefühl umgesetzt wurde. Als „feine innere Werte“ bezeichnete die Bremerin Auguste Kirchhoff das Gemeinschaftsgefühl, das sie in Zürich erlebte. Andere Teilnehmerinnen äußerten sich ähnlich und beschrieben das Zusammengehörigkeitsgefühl während des Kongresses als einen speziellen „Geist“ oder „Zauber“, der zwischen ihnen geherrscht habe (Wilmers 2007, 249f.). Am Ende des Kongresses wurden Forderungen für die Friedensverträge formuliert und zur Gründung des geplanten Völkerbundes Stellung genommen. Der Versailler

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Vertrag und die Hungerblockade wurden scharf verurteilt. Das grundsätzliche Ziel der Liga war die Bekämpfung von Aufrüstung und Krieg. Gleichzeitig setzte sie sich für die „soziale, politische und wirtschaftliche Gleichberechtigung aller, ohne Unterschied von Geschlecht, Rasse, Stand und Glaubensbekenntnis“ ein (Internationale Frauenliga 1919). Die deutschen Pazifistinnen und Internationalistinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann spielten eine wichtige Rolle in der WILPF. Sie organisierten deren deutschen Zweig und gaben von 1919 bis 1933 die pazifistische Zeitschrift Die Frau im Staat heraus. In der Rückschau fällt auf, dass je stärker sich die beiden bekannten Stimmrechtlerinnen dem internationalen pazifistischen Kampf widmeten, ihre Rolle und Bedeutung innerhalb der nationalen Frauenbewegung zurückging. Diese Erfahrung machten übrigens auch andere international engagierte deutsche Feministinnen, etwa Alice Salomon und Helene Stöcker. Wie verhasst den Nationalsozialisten die internationale Arbeit von Feministinnen war, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass alle drei Frauen Deutschland nach der Machtübergabe an die NSDAP verlassen und emigrieren mussten (vgl. Wischermann 1984). Die internationalen Kongresse der Friedensliga im Verlauf der 1920er Jahre zeigen, dass immer auf konkrete politische Entwicklungen und Auseinandersetzungen reagiert wurde, etwa auf die Kolonialfrage, auf die Methoden „wissenschaftlicher Kriegsführung“ und im Jahr 1932 auf die bevorstehende Genfer Abrüstungskonferenz. Sie zeigen auch die Zweifel an der Wirksamkeit von Kongressen und Verhandlungspolitiken. Nicht zuletzt auf die Aktivitäten der Liga war es wahrscheinlich zurückzuführen, dass die Bemühungen international organisierter Frauen, auf den Völkerbund Einfluss zu nehmen, einen – wenn auch eher bescheidenen – Erfolg hatten: 1931 kam es zur Entscheidung des Völkerbundes, verschiedene internationale Frauenorganisationen zur Bildung des Women’s Consultative Committee of Nationality einzuladen, das in der schwierigen Frage der Staatsangehörigkeit von mit Ausländern verheirateten Frauen beratend einbezogen werden sollte (Rupp 1994, 59). Wie erwähnt, differenzierte sich die internationale Frauenbewegung in der Zwischenkriegszeit immer weiter aus, sodass neue, jetzt supranationale, Dachverbände gegründet wurden, etwa das Joint Standing Committee of the Women’s International Organizations (Ständiger Ausschuss zur Zusammenarbeit der Internationalen Frauenorganisationen). Für die deutsche Frauenbewegung endete diese erste Phase der internationalen Organisierung mit der Umwälzung der politischen Verhältnisse im Jahr 1933. Der BDF löste sich angesichts nationalsozialistischer Gleichschaltung auf und vollzog seinen Austritt aus dem ICW. Auch nach diesem Bruch in den internationalen Beziehungen blieben einzelne, persönliche Kontakte bestehen. So reiste beispielsweise die Aktivistin Dorothee von Velsen noch 1934 in die Türkei, um am Kongress der IAW in Istanbul teilzunehmen, und realisierte dort mit Bedauern den „Gegensatz zwischen den

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neuen Rechten der türkischen Frauen und der Lage, in der wir deutschen Staatsbürgerinnen uns jetzt befanden“ (Velsen 1956, 311). Die Zwischenkriegszeit hat Frauen in vielen europäischen Ländern mehr Rechte gebracht. Die neuen politischen Verhältnisse führten aber keinesfalls linear zu einer stärkeren Einflussnahme auf Politik. Auch wenn Frauen in den Parlamenten saßen, hieß das nicht, dass sie einer traditionell männlich geprägten Politik ihren „Stempel“ aufdrücken konnten. Oft, ja meist ging die Parteiräson vor. Die in Deutschland erzielten Erfolge in der Sozialpolitik waren nicht zuletzt auf Geschlechterkonzepte zurückzuführen, die auf Differenz statt auf Gleichheit setzten und die staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte aus einer von allen Frauen geteilten „geistigen Mütterlichkeit“ ableiteten. Dies führte dazu, dass Frauen auf vorgeblich „weibliche“ Felder der Politik verwiesen wurden und sie diese übrigens auch selbst vorrangig beanspruchten. Johanna Gehmacher (2001, 159ff.) hat darauf hingewiesen, wie folgenreich dieser Differenzfeminismus sich später in das Konzept der „Volksgemeinschaft“ nationalsozialistischer Politik einpassen ließ. Für die 1920er Jahre kann zwar von einer „Hochzeit“ des frauenbewegten Internationalismus gesprochen werden. Organisationen differenzierten sich aus, neue wurden gegründet, Dachverbände entstanden, viele neue Länder wurden weltweit eingebunden. Gleichwohl war die zahlenmäßige Mobilisierung nicht mit einem Zugewinn an politischer Macht und Einflussnahme verbunden. Im Gegenteil, ich folge der Einschätzung Leila J. Rupps (1994), dass die starke internationale Organisierung in den 1920er Jahren eigentlich mit dem Beginn einer „Flaute“ und Erstarrung der Frauenbewegungen einherging, ein Befund, der übrigens auch für die nationale Geschichte der deutschen Frauenbewegung gilt. Erweiterungen und Verschiebungen in Bewegungsnetzwerken fördern Überschneidungen der Aufgabenbereiche und das Konkurrieren der Gruppen miteinander (ebd., 62), und es kann sein, dass es nicht mehr gelingt, über die internatonalen Beziehungen eine einigende oder gemeinsame Plattform zu finden (Gerhard 1994, 46). Wenn wir auf die Herausbildung transnationaler Räume, Verbindungen und Gemeinschaften in der Nachkriegszeit blicken, erzählen uns die 1920er Jahre ebenfalls keine lineare Erfolgsgeschichte. Der Krieg hatte tiefe Spuren und Gräben hinterlassen, die nur mühsam und langsam beseitigt werden konnten, wie der Auftritt Gertrud Bäumers 1926 gezeigt hat. Am ehesten fanden die Pazifistinnen in die transnationale Gemeinschaft zurück: Schon 1919 trafen sie sich in Zürich und gaben dem Thema Freundschaft und Versöhnung in ausdrücklichen Symbolen und Gesten Ausdruck. Frauenbewegte internationale Organisationen haben sich am Beginn der 1920er Jahre aktiv an den anstehenden Demokratisierungsprozessen beteiligt. Es gelang ihnen aber nicht, diese gesellschaftlichen und politischen Umbruchzeiten, die viele Staaten grundsätzlich in „Unordnung“ gebracht haben, längerfristig für ihre Ziele und Forderungen zu nutzen. Weder hatten sie in der gleichen Weise wie die Männer an der politischen Macht teil noch waren sie angemessen repräsentiert (etwa im Völkerbund). Es bleibt weiterhin

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zu untersuchen, welche Binnen- und Außenstrukturen zu diesem (sich schon mehrfach wiederholenden) Ablaufmuster beitragen. Festzuhalten bleibt schon jetzt, dass – gemäß einem Slogan aus der neuen Frauenbewegung – „ohne Frauen kein Staat zu machen ist“, dass die Geschlechtergerechtigkeit auf jeden Fall ein Prüfstein für das Gelingen von Demokratisierungsprozessen in historischen Umbruchsphasen ist.

4. F AZIT

UND

AUSBLICK

Zentral für die Erforschung internationaler Frauenbewegungsnetzwerke bleibt die Frage nach deren Beitrag zum sozialen und politischen Wandel, nach ihrem Potenzial, „Staaten in Unordnung“ zu bringen. Dieser Beitrag sollte zeigen, dass es für die Erforschung der Frauenbewegungen und ihrer Politiken lohnend ist, den Blick auf internationale Netzwerk- und Institutionenbildung zu richten und dabei gleichzeitig den transnationalen Austausch und Ideentransfer von Frauenbewegungen nachzuvollziehen. Mit dieser transnationalen Perspektive wird der Blick der Bewegungsforschung auf neue Räume gelenkt. Internationale Netzwerke von Frauen, die durch sie geschaffenen Kommunikations- und Interaktionsräume stellten für die internationale Organisierung eine wichtige und unverzichtbare Bewegungsressource da. Die Akteurinnen waren durch „Gefühlskulturen“ miteinander verbunden, durch die eine kollektive Identitätsbildung innerhalb der Bewegungen erleichtert wurde und die eine bedeutsame Bewegungsressource darstellten. Wenn die Erforschung internationaler Frauennetzwerke sich nicht nur auf die politische Analyse beschränkt, sondern auch diese Ebene des Bewegungshandelns und -fühlens als „private“ Seite von Politik einbezogen wird, lassen sich neue und interessante Erkenntnisse zur Geschichte der inter- und transnationalen Frauenbewegung gewinnen. Wenn jenseits dieser transnationalen Räume die konkreten Handlungspotenziale nationaler und internationaler Frauenbewegungen in der Zwischenkriegszeit in den Blick genommen werden, sieht sich die Forschung einem facettenreichen und komplizierten Spannungsfeld gegenüber, das von vielen Faktoren beeinflusst wurde. Wie schwierig es war, nationale Belange und internationale Ziele und Forderungen, etwa zu Völkerverständigung und Frieden, in eine Balance zu bringen, zeigt die Geschichte der deutschen Frauenbewegung im Kontext ihrer internationalen Organisierung. Konstatiert werden kann zudem, dass nationale und internationale Frauenbewegungsorganisationen zwar nach dem Ersten Weltkrieg politischen Wandel mitangestoßen und beeinflusst haben, aber dass nach den ersten gesellschaftlichen Umbruchsprozessen ihre Einflussmöglichkeiten − trotz rechtlicher Gleichstellung der Frauen − kontinuierlich zurückgegangen sind. Ihre zahlenmäßige Etablierung und Ausbreitung ging nicht Hand in Hand mit ihrer politischen Partizipation, eher im Gegenteil. Frauen und Frauenorganisationen standen zwar an der „Wiege“ der in vielen Ländern angestoßenen

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Demokratisierung, aber in der Folgezeit − wie die Pazifistinnen es einmal ausgedrückt haben – „riefen die Frauen“ zwar, „aber man hörte sie nicht“.

L ITERATUR Badia, Gilbert 1994: Clara Zetkin. Eine neue Biographie. Berlin. Dornemann, Luise 1973: Clara Zetkin. Leben und Wirken. Berlin. Evans, Richard J. 1979: Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im Kaiserreich. Berlin/Bonn. Gehmacher, Johanna 2001: Nachfolgeansprüche. Deutschnationale und nationalsozialistische Politik und die bürgerliche Frauenbewegung. Österreich 1918–1939. In: Ute Gerhard (Hg.): Feminismus und Demokratie. Europäische Frauenbewegungen der 1920er Jahre. Königstein, 159–175. Gerhard, Ute 1994: National oder international. Die internationalen Beziehungen der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung. In: Feministische Studien Nr. 2, 34–52. Gerhard, Ute (Hg.) 2001: Feminismus und Demokratie. Europäische Frauenbewegungen der 1920er Jahre. Königstein. Gerhard, Ute/Klausmann, Christina/Wischermann, Ulla 2001: Neue Staatsbürgerinnen − die deutsche Frauenbewegung in der Weimarer Republik. In: Ute Gerhard (Hg.): Feminismus und Demokratie. Europäische Frauenbewegungen der 1920er Jahre. Königstein, 176–209. ICW (Hg.) 1966: Women in a changing world. The dynamic story of the International Council of Women since 1888. London. Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (Hg.) 1919: Bericht des Internationalen Frauenkongresses, Zürich 1919. Genf. Internationales Frauenkomitee für dauernden Frieden (Hg.) 1915: Internationaler Frauenkongreß Haag vom 26. April – 1. Mai 1915. Bericht. o.O. Kinnebrock, Susanne 2007: „Wahrhaft international?“ Soziale Bewegungen zwischen nationalen Öffentlichkeiten und internationalem Bewegungsverbund. In: Eva Schöck-Quinteros/Anja Schüler/Annika Wilmers/Kerstin Wolff (Hg.): Politische Netzwerkerinnen. Internationale Zusammenarbeit von Frauen 1830–1960. Berlin, 27–55. Klaus, Elisabeth/Wischermann, Ulla 2010: Kriegsdiskurs und Geschlechterdiskurs. Journalistinnen zum ersten Weltkrieg. In: Martina Thiele/Tanja Thomas/Fabian Virchow (Hg.): Medien − Krieg − Geschlecht. Affirmationen und Irritationen sozialer Ordnungen. Wiesbaden, 295–313. Klausmann, Christina/Schäfer, Reinhild/Schüller, Elke/Wischermann, Ulla 1994: Internationale Kongresse der alten und neuen Frauenbewegung. In: Feministische Studien Nr. 2, 100–136. Offen, Karen 2001: Umstände, Unwägbarkeiten − Feministinnen der zwanziger Jahre zwischen Krieg, Revolution und neuem Wissensstreit. In: Ute Gerhard (Hg.): Feminismus und Demokratie. Europäische Frauenbewegungen der 1920er Jahre. Königstein, 210–235.

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Geschlechterordnung in Zeiten revolutionärer Unordnung Hans Fleschs Revolutionsroman Die Amazone W OLFGANG S TRAUB

1. F RAUEN UND R EVOLUTION IN DER ÖSTERREICHISCHEN L ITERATUR Frauen und Revolution: Das ist seit jeher eine prekäre Verknüpfung. Traditionell war den Frauen die Rolle der Unterstützerin oder Pflegerin im revolutionären Kampf zugeschrieben. „Frauen waren willkommen, den Kampf der Männer zu unterstützen; an den politischen Veränderungen und den politischen Rechten sollten sie jedoch nicht teilhaben.“ (Müller 1998, 231) In der Bildpolitik der Revolution hatte die Frau ihren zugeschriebenen Platz: Sie war die Allegorie der Freiheit. Betraten Frauen politischen, öffentlichen Raum, hatten sie mit vehementer Gegenwehr dieser männlichen Bildpolitik – etwa im Rahmen der Karikatur – zu rechnen. Beteiligten sich Frauen an kämpferischen Auseinandersetzungen, was spätestens seit der Französischen Revolution der Fall war, erhöhte sich der männliche Widerstand und die Kämpferinnen wurden als „Amazonen“ oder „Flintenweiber“ bezeichnet bzw. verspottet. Jede Revolution und ihre Medialisierung hatte solche Frauenfiguren: In der Französischen Revolution war es Anne-Josèphe Théroigne, in der deutschen Revolution 1848 Emma Herwegh, Gattin des „Freiheitsdichters“ Georg Herwegh. Beide, Théroigne und Herwegh, wurden jeweils als „Amazone der Freiheit“ bezeichnet (vgl. u.a. Krausnick 2004; Grubitzsch/Bockholt 1991). Frauen und Revolution: In der österreichischen Literatur sind Revolutionärinnen selten Protagonistinnen. Sie haben zwar mitunter durchaus Handlungsspielräume, es sind aber die Männer, die die Revolution anführen und vorantreiben: von den beiden bekanntesten Werken der „Revolutionsliteratur“, Johann Nestroys Freiheit in Krähwinkel und Franz Werfels Barbara oder Die Frömmigkeit, bis zu den grosso modo antirevolutionär eingestellten Romanen der Zwischenkriegszeit wie Raoul Auernheimers Die linke

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und die rechte Hand oder Thaddäus Rittners Die andere Welt.1 In den Romanen Joseph Roths, etwa der Flucht ohne Ende, tauchen starke, nicht pejorativ gezeichnete Revolutionärinnen auf. Aber das sind Kämpferinnen der Roten Armee in Russland, im Herkunftsland der Roth’schen Figuren hingegen gibt es solche Frauen nicht. Hier, in Wien, hängen an Delacroixs Freiheit angelehnte, verblassende Reproduktionen von Revolutionsallegorien an den Wänden: Jura Soyfer schildert in seinem nach der Niederlage der Sozialdemokratie in den Februarkämpfen 1934 begonnenen Romanfragment So starb eine Partei ein bezeichnendes Detail des von Sozialdemokraten frequentierten Gasthauses „Zur Republik“ und zeigt mit seiner „Krankengeschichte der Republik von 1919 bis 1932“ (Jarka 1992, 349) die Entfernung der Partei von ihren revolutionären Errungenschaften und ihr Verharren in verstaubten Ritualen: „[Der Obmann der lokalen Parteisektion prostet] wie jedes Jahr [am Silvesterabend, W.S.] der leichtbekleideten Dame zu, die im geschnörkelten Goldrahmen an der Wand hing [...]. Im wallenden Griechengewand, auf dem Kopf eine Jakobinermütze, schritt sie kräftigen, nackten Fußes, unbewehrt und siegreich über einen Haufen gestürzter Throne, Kronen, Szepter, zerbrochener Schwerter, ohnmächtiger Kanonenrohre hinweg. Hinter ihr ging die Sonne auf. Sie war die Freiheit. Jüngere Genossen machten sich über den Öldruck lustig, aber man ließ ihn hängen.“ (Soyfer 1992, 140)

Beteiligen sich die Frauen in der Literatur (von Männern) an revolutionären Ereignissen, dann als politisch unbedarfte Wesen: Die „Frauen beredeten Kindersorgen und Hauswirtschaft“ (ebd., 162), heißt es bei Soyfer im Laufe der Schilderung eines Demonstrationszugs. Soyfer bindet solche Details in die Frage nach dem Niedergang der Sozialdemokratie ein. Hier agiert er ganz ähnlich wie seine schreibenden Kollegen: Den an der Revolution beteiligten Frauen widmen die Autoren selten mehr als Details. Dabei ironisieren oder parodieren sie die weibliche Beteiligung an der Revolution, oder verspotten diese Frauen als Tratschweiber und Intrigantinnen. Dahinter steht klar die Intention eines „ideengeschichtlichen Ausschlu[sses] aus der Definition des Menschen als zoon politikon“, wie das Silvia Bovenschen (1979, 11) auf den Punkt brachte. Dieser Ausschluss folgt aus der Bedrohung bzw. Herausforderung, die Revolutionärinnen für die männliche Institution des Staats darstellen. Vor diesem Hintergrund der österreichischen Zwischenkriegsliteratur zur Revolution ist der Roman Die Amazone von Hans Flesch, 1930 im renommierten Berliner Propyläen Verlag erschienen, die große Ausnahme. Er stellt eine Revolutionärin – die bekannteste Frauenfigur der Französischen Revolution – in den Mittelpunkt. Das macht das Alleinstellungsmerkmal des Romans aus, schließlich kritisiert die feministische Forschung den Aus-

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Friedrich Achberger (1994, 101ff.) spricht hier von „Literatur gegen die Revolution“.

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schluss von Frauen aus den Erzählungen von der Revolution (vgl. Müller 1998). Bedenkt man, dass Fleschs Protagonistin nicht nur eine Revolutionärin, sondern eine Waffen tragende und benützende Kämpferin war, könnte das die Ausnahmestellung des Romans unterstreichen, stellt doch Carola Lipp mit Blick auf Karikaturen zur Revolution fest: „Auch wenn die Frauenforschung inzwischen die wichtige Rolle der Frauen in der revolutionären Bewegung herausgearbeitet hat, so bleibt die Revolution im Selbstverständnis ihrer bildlichen Präsentation eine Männerveranstaltung, in jedem Fall dort, wo sie mit Gewalt einhergeht.“ (Lipp 1991, 134) Für meinen Beitrag ist es nicht weiter von Interesse, dass Flesch eine Revolutionärin zu seiner Protagonistin macht, sondern wie er „Frau und Revolution“ zusammendenkt. Schließlich lässt sich präsumtiv mutmaßen, dass Flesch dies nicht im Sinne einer feministisch orientierten Position unternimmt. Es stellt sich also die Frage, ob der Roman dem (männlichen) antirevolutionären Mainstream der österreichischen Literatur zwischen 1920 und 1930 folgt und ob er das Weibliche als Gegen- oder Zerrbild aufbaut, um so die Devianz in einem männlichen System festzuschreiben. Revolutionen bringen die staatliche Ordnung ins Schwanken oder zum Einstürzen, und sie führen zu einer Unordnung der Geschlechter. Die feministische Geschichtsforschung hat in diesem Zusammenhang auf die männliche Angst vor Entdifferenzierung hingewiesen (vgl. Hunt 1992, 115): „Revolutionen sind Ereignisse, in denen gesellschaftliche Machtstrukturen und Moralkodices brüchig werden. Beides provoziert Angst. Um mit dieser Angst umgehen zu können, mußten identifizierbare Verursacher und Verursacherinnen gefunden werden – in diesem Fall Frauen.“ (Hauch 1998, 886) Mein Beitrag wird in einem ersten Schritt den „Revolutionsroman“ Fleschs und seinen historischen Stoff vorstellen und sich dann der Art und Weise der Darstellung seiner Protagonistin widmen. Dabei interessiert, welche revolutionären Handlungen Fleschs „Amazone“ setzen kann, welche Handlungsspielräume sie hat, ob sie sich an männliches Handeln und Kämpfen angleichen muss und welche Zuschreibungen mit ihrem Agieren verknüpft sind. Daran anschließend wird der Frage nachgegangen, ob Flesch vor dem Hintergrund der Schilderung einer Zeit der Unordnung anhand seiner zentralen Figur Ordnung herzustellen versucht oder ob er Widersprüchen Raum gewährt. Am Ende der Analyse soll diskutiert werden, wie Fleschs Perspektive von 1930 die Bearbeitung des Stoffs formt.

2. D ER

VERGESSENE

AUTOR

UND SEIN

S UJET

Hans Flesch, wie sich Hans von Flesch-Brunningen ab 1918 politisch korrekt nannte, ist heute höchstens noch als zweiter Ehemann der österreichischen Schriftstellerin und Journalistin Hilde Spiel bekannt. Flesch fand allerdings – so die einzige monografische Arbeit zum Autor (eine Wiener Diplomarbeit) – mit seinen ersten Publikationen zum Teil „euphorische

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Aufnahme“ (Garger 1995, 51) bei Kritik und Kollegenschaft. Dem 19-jährigen „Erz-Expressionist[en]“ (Schäfer 2003, 21) war 1914 ein Sonderheft der Aktion, dem führenden Organ des Expressionismus, gewidmet, das Titelblatt zierte eine Porträtskizze Fleschs von Egon Schiele. Bei seinen frühen, der expressionistischen sowie der fantastischen Literatur verpflichteten Texten fällt auf, dass Flesch offensichtlich Vergnügen am Entwurf dystopischer Staatsmodelle fand. In der 1917 veröffentlichten Novelle Der Satan erwirbt ein sagenhaft reicher Amerikaner die Stadt Köln und ihre Umgebung und errichtet Libertia, einen streng abgeriegelten Staat, in dem der Trieb Gesetz ist, das „Banner der Zügellosigkeit [...] über die Dächer“ (Flesch-Brunningen 1970/1917, 1725) flattert, die Arbeit von maschinenähnlichen Arbeitssklaven verrichtet wird und ein charismatischer, messianischer Führer in gänzlicher Willkür regiert. Auch in dem zwei Jahre später erschienenen Sience-Fiction-Roman Baltasar Tipho entwirft Flesch auf einem Stern namens Karina eine libertinäre Antiutopie. In einer hochentwickelten Gesellschaft, die in Ober- und Unterschicht geteilt ist – „ähnlich wie in Fritz Langs späterem Film Metropolis“ (Schäfer 2003, 21, Herv. i.O.) –, ergehen sich die „Oberen“ in Orgien, während die Unterschicht alle Arbeit erledigen muss und sich in ergebnislosen Revolutionen aufreibt. Der Roman ist mit seinen nietzscheanischen Züchtungsfantasien und Bioengineering-Elementen durchaus als Warnung vor einem totalitären Maschinenstaat oder als Vorwegnahme virtueller Realitäten lesbar. In Die Amazone hat sich Flesch weit von den gegen den bürgerlichen Staat mit seiner Domestizierung der Gefühle gerichteten Dystopien entfernt. Er wendet sich einem historischen Stoff zu und schreibt seinen „Revolutionsroman“ entlang der Biografie von Anne-Josèphe Théroigne. Théroigne war quasi Österreicherin, denn sie entstammte einer luxemburgischen Bauern- und Müllerfamilie, die in den damaligen habsburgischen Niederlanden lebte. Über mehrere Stationen kam sie zur Revolutionszeit nach Paris und engagierte sich dafür, dass Frauen am öffentlichen Leben partizipieren konnten. Sie gründete zwei Clubs, zu denen Frauen gleichberechtigt Zugang hatten, berühmt wurde sie für den Vorschlag, auf den Ruinen der Bastille einen Palast für die Nationalversammlung zu errichten. 1790 verließ sie Paris, enttäuscht über die mangelnde „Unterstützung ihrer patriotischen Kampfgenossen“ und „erschöpft von der Flut an Diffamierungen“ (Grubitzsch 1992, 99). Sie wurde im Anschluss aus Luxemburg entführt – wer genau hinter diesem Gewaltakt stand, ist nicht mehr eruierbar – und mehrere Monate in Kufstein in Tirol gefangen gehalten. Ihre Inhaftierung führte bis zu ihrer Freilassung im Jahr 1791 zu diplomatischen Verwicklungen zwischen Österreich und Frankreich. Zurück in Paris setzte Théroigne ihr politisches Engagement fort. Sie forderte die Bewaffnung von Frauen, beteiligte sich an der Erstürmung der Tuilerien im August 1792 und wurde für diesen Einsatz mit einer „Bürgerkrone“ ausgezeichnet. Doch bald wurde Théroigne ihr selbstbewusstes Agieren im öffentlichen Raum zum Verhängnis. Sie wurde schwer misshandelt (die Täter wurden nicht ausgeforscht), was ihrer

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durch die Festungshaft angeschlagenen Gesundheit weiter zusetzte. 1794 sperrte man sie schließlich in eine psychiatrische Anstalt, in der sie ohne klare Diagnose die Jahre bis zu ihrem Tod 1817 verbrachte. Hans Flesch hält sich im Roman an diese Eckpunkte der Biografie. Aber obwohl dem Autor daran gelegen ist, die ökonomischen Schwierigkeiten des (Über-)Lebens seiner Protagonistin detailreich, ja naturalistisch zu schildern, will er keineswegs eine „realistische“ Erzählung schreiben und etwa eine „Korrektur“ der vielfachen Verunglimpfungen, die Théroigne als Menschen- und Frauenrechte Fordernde erfahren musste, vornehmen. Woher er seine biografischen Informationen bezog, ist nicht mehr zu eruieren. Die Gefängnisaufzeichnungen Théroignes wurden erst 1989 ins Deutsche übersetzt (vgl. Théroigne 1989), aber Théroigne − „schon zu Lebzeiten eine legendäre Figur“ (Bockholt/Grubitzsch 1989, 33) − hat als Gegenstand von Karikaturen und literarischen Werken sowie als eine „der bekanntesten Spottfiguren“ ihrer Zeit (Grubitzsch/Bockholt 1991, 165) ihren festen Platz in den Geschichten über die Französische Revolution. Auch in der Literatur waren die Legenden um ihre Person bald eine feste Größe: Sie tauchen in den Werken Alexandre Dumas d. J. oder bei Baudelaire auf (vgl. Fetscher 2002, 41); drei Theaterstücke beschäftigten sich postum mit Théroignes Lebensgeschichte, Rudolf Gottschalls Lambertine von Méricourt (1850), Ferdinand Dugués Théroigne (1887) und Paul Hervieus Théroigne de Méricourt (1902). In Frankreich wird ihre Geschichte bis in die Gegenwart bearbeitet, 1987 war ihr eine Folge der französischen TVSpielfilmserie Les Jupons de la Révolution („Unterröcke der Revolution“) gewidmet, jüngst veröffentlichte die Psychoanalytikerin Élisabeth Roudinesco (2010) das Buch Théroigne de Méricourt: Une femme mélancolique sous la Révolution.2

3. D ER M ANN

ALS WEIBLICHER

R EVOLUTIONSANTRIEB

Von einer Analyse, wonach die Französische Revolution der historische Vorläufer patriarchal geführter Revolutionen war und einen „extremely conservative outcome for women“ (Moghadam 2007, 98) hatte, ist Flesch weit entfernt. Ihn interessiert nicht Geschlecht, sondern Geschlechtlichkeit. Für Flesch ist die Revolution ein libertinäres Interregnum, eine durch Körperlichkeit verbundene Gemeinschaft. Das Gemeinwesen ist nicht durch staat-

2

Grubitzsch und Bockholt weisen nach, dass Théroignes Beiname „de Méricourt“ (wahrscheinlich nach ihrem Heimatort Marcourt, heute Belgien) der royalistischen Presse entstammt, also in diffamierender Intention eingesetzt wurde, und Théroigne selbst den Beinamen nicht verwendete: „Offensichtlich lag ihr nichts daran, durch einen solchen Zusatz eine adlige Herkunft vorzuspiegeln.“ (Grubitzsch/Bockholt 1991, 23) Vor diesem Hintergrund ist es interessant, wie hartnäckig der Beiname, auch von Grubitzsch und Bockholt, verwendet wird.

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liche Strukturen bestimmt, sondern durch die Beziehung der Leiber zueinander. Politik und Revolution sind Geschlechtsakt: „Sie feiern Vereinigung [...].“ (Flesch 1930, 194) In einem „Wir“ verbunden blicken Leserin bzw. Leser und Erzähler auf „unsere Heldin“ (ebd., 67), auf Théroignes Liebesakte mit dem Volk. Der Blick des Erzählers ist ein explizit männlicher und nähert sich an manchen Stellen einer voyeuristischen Perspektive – etwa in jener Szene, in der sich Anne-Josèphe während einer ihrer vielen Lebensstationen in England als zukünftige Schwiegertochter eines Herzogs vor diesem ausziehen muss, um ihre physischen Qualitäten zum Gebären von Nachkommen zu beweisen (ebd., 63ff.). Von Anfang an konzentriert sich Flesch bei seiner Protagonistin auf das Körperliche. Er führt Anne-Josèphe als 13-jähriges Mädchen ein. Sie arbeitet in der väterlichen Mühle mit ihren beiden jüngeren Brüdern. Sie muss harte körperliche Arbeit verrichten, ist dabei aber stets darauf bedacht, gute Figur zu machen. Dafür nimmt sie es etwa auf sich, Mehlsäcke nicht auf die ergonomisch beste Art zu tragen wie die anderen, sondern so, dass sie sich nicht „den kleinen Nacken mit Mehl“ weißt, schließlich sei sie „eitel wie ein Kätzchen“ (ebd., 13). Ihre Haare sind „wie die schöne Wildnis einer Löwenmähne“ (ebd.). Die Tiervergleiche unterstreichen die Naturhaftigkeit dieses Wesens, das mit kräftigen Beinen im Leben steht. Dabei lässt Flesch die Leserinnen und Leser in ausführlicher Detailbeschreibung wissen, dass Théroigne eigentlich nicht als schön gelten kann: faltiges Gesicht, schlechte Zähne (ebd.). Théroignes bäuerliche Herkunft, ihre Naturhaftigkeit werden den Deutungen ihrer Handlungen in der Revolution zugrunde gelegt. Der Weg nach Paris ist eine Geschichte des sozialen Aufstiegs, der Domestizierung und Zivilisierung. Anne-Josèphe lernt lesen und schreiben, aber ihren bürgerlichen Mäzenen gelingt es nur bedingt, ihr wildes Wesen zu bändigen. Dazwischen bricht sie immer wieder aus: „Anne-Josèphe ist in den Garten durchgebrochen. Sie ist kriegerisch, als hätte sie noch ‚Europa‘ [ein Pferd, W.S.] zwischen den Schenkeln und tobte mit ihr über die schwarze Erde. Sie springt durch den Park, schlägt sich mit der Luft, dem Wind und den Regenschauern, die aus einer raschen Wolke niederprasseln.“ (Ebd., 38) Sowohl das Kämpferische als auch die Erdverbundenheit Anne-Josèphes stellt Flesch als etwas Naturgegebenes dar, auch „ihre angeborene Koketterie“ (ebd., 63) und später im Romanfortgang das Mütterliche sind ihr nicht anerzogen, sondern vorgegeben.3 Das Politische hingegen ist nicht ihre Natur. Wenn Théroigne bei Flesch politisch aktiv wird, während der Revolution das Wort ergreift, dann, um einem Mann zu gefallen: „Geliebte Männer – geliebter Mann, für dich will ich mich opfern.“ (Ebd., 189) Es sind vor allem zwei Männer, deren erstrebte

3

In diesem kreatürlichen Menschenbild eines wilden, kräftigen, „natürlichen“, erdverbundenen Mädchens lassen sich Anklänge zur Eugenik sehen, wobei Flesch keineswegs in Richtung „arisch“ zeichnet, dazu ist Anne-Josèphe zu wenig „sauber“, zu sehr sexualisiert, zu verlottert (vgl. Schmidtke 2007, 200ff.).

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Anerkennung ihr revolutionäres Handeln antreiben: Zum einen der tugendhafte Camille Desmoulins, in der Revolution ein Mitstreiter Dantons und wie dieser 1794 hingerichtet, zum anderen der Herzog von Orléans, Gegenspieler der Bourbonen und potenzieller Gegenkönig. Den Lebemann Louis-Philippe d’Orléans baut Flesch als positive Figur auf, und auch bei ihm drückt er Charakter durch Physiognomie aus: „Freiwallende Locken bis auf die Schultern. Eine Kraft rinnt von den Nüstern über den wollüstigen Mund in das machtvolle Kinn, strotzt aus Brust und Leib, spannt die Schenkel, führt ihm die Hände.“ (Ebd., 77) Diesen Frauenschwarm macht Flesch zum Protegé Théroignes, „über sein Geheiß“ (ebd., 88) erhält sie den Beinamen de Méricourt, sie ist bereit, ihm alles zu opfern. Der Autor macht hier klar, dass der revolutionäre Antrieb nicht aus Théroignes politischer Überzeugung kommt. Sie will zwar, wie viele, Orléans am Ende einer Revolution als neuen „aufgeklärten, milden, konstitutionellen Bürgerkönig“ (ebd., 78) sehen, aber Théroigne ist vorrangig am Mann interessiert. Sein politisches Amt und der damit verbundene Einfluss gehören zwar zur Ausstrahlung, aber an seinen politischen Idealen nimmt sie keinen Anteil. Ihre Schwärmereien für erotische Männlichkeit sind aber nicht an einen bestimmten Mann geknüpft. Als sie am Tag der Erstürmung der Bastille Camille Desmoulins, einen der Anführer zu Beginn der Revolution, reden hört, tritt dieser schöne junge Mann (ebd. 146) an Orléans’ Stelle: „AnneJosèphe versteht nicht jedes Wort, aber sie liebt ihn.“ (Ebd., 147) Beide Männer bleiben für sie unerreichbar. Hierin zeigt sich Flesch als Fürsprecher einer undurchlässigen gesellschaftlichen Hierarchie: Zwischen dem Thronprätendenten und Anne-Josèphe stehen mehrere Gesellschaftsklassen, vom Bürger Desmoulins, der als Idealbild moralischer Integrität dargestellt wird, trennen die promiskuitive Revolutionärin mehrere moralische Klassen. Flesch deutet aber an, dass es allein ihr Körper ist, der sich in die Niederungen der Pariser Straßen begibt, ihr Herz bleibt durch diese Liebe(-n) während der Geschehnisse rein. Flesch geht nicht so weit, Camille und Lucile Desmoulins als Idealbild ehelicher Liebe zu präsentieren (wie dies etwa Georg Büchner tat; vgl. Elstner 2005, 19ff.). Monogamie wird zwar im Roman nicht als erstrebenswertes Ziel formuliert, dennoch geht es Flesch darum, eine polarisierte Zweigeschlechtlichkeit zu installieren. Théroignes Herz kann daher nur an richtigen Männern hängen. Das zeigt u.a. die Episode einer Reise mit einem Kastratensänger nach Genua. Théroigne bewundert seine Stimme, sein Körper ist jedoch schwammig, abstoßend: „Der fade Geschmack der geschlechtslosen Form reizt sie zu einer Übelkeit, die zugleich Schwindel mit sich bringt und Süßigkeit aufregt. [...] Anne-Josèphe ist entflammt von der Schönheit dieser Häßlichkeit.“ (Flesch 1930, 103) Der Kastrat personifiziert eine geschlechtliche Uneindeutigkeit, die auf Théroigne vorerst durchaus ihren Reiz ausübt. Als der „Verschnittene“ (ebd., 117) sich als korrupt herausstellt und sie ökonomisch rücksichtslos ausnützt, legt sich die Anziehung schnell, der

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Ekel bleibt übrig. Es braucht also richtige Männer, die polare Geschlechterordnung darf nicht aufgelöst werden. Die Ordnung ist wiederhergestellt, als Théroigne von einem Herzog aus den Fängen des Kastraten befreit wird.

4. R EVOLUTIONÄRER H ANDLUNGSSPIELRAUM FÜR F RAUEN Nach der Italien-Episode kehrt Théroigne mitten in das kochende, revolutionäre Paris zurück. Sie ist in erster Linie damit beschäftigt, zu etwas Geld zu kommen. Ein zentraler Ort des Romans ist das Palais Royal, ein dem Herzog von Orleáns gehörender Vergnügungskomplex mit vielen Spielhallen. Hier versucht Théroigne ihr Glück, während sich „alles draußen bei der Politik herumtreibt“ (ebd., 144). Fleschs Théroigne will stets nur ihre ökonomische Lage verbessern, dafür nimmt sie auch die Prostitution in Kauf. Sie ist nicht an politischen Themen wie Frauenrechten interessiert. Als Desmoulins redet, himmelt ihn Théroigne sogleich an. Politik wird von bewunderungswürdigen Männern gemacht, die Frauen sind die bewundernde Staffage. Im Sog, den die Brandrede Desmoulins’ entfacht, rufen nun auch Frauen nach Bewaffnung, aber es sind die „Huren vom Palais Royal“. Hier karikiert Flesch, denn aus dem Romanfortgang wird klar, dass die Prostituierten für ihn zwar selbstbewusste Frauen sind, die sich kein Blatt vor den Mund nehmen, aber er sieht in ihnen keine politischen Akteurinnen. Sie haben an einer Änderung der Verhältnisse oder Hierarchien kein Interesse. Ein zweiter zentraler Ort des Romans ist die Nationalversammlung in Versailles. Unter den Abgeordneten gibt es zwar keine Frauen, dafür sind die Zuschauergalerien gut von Frauen besucht, die sich auch lautstark zu Wort melden und mit ihren Zwischenrufen die Sitzungen beeinflussen. Auch Anne-Josèphe wird zu einer solchen Ruferin, sie hat „sehr rasch einen ganzen Staat von Anhängerinnen um sich“ (ebd., 161). Dieser weibliche Staat ist exterritorial, was die politische Macht betrifft. Flesch ist daran gelegen, das Agieren der Frauen auf der Galerie als Tratscherei und Keiferei darzustellen und die weibliche Beteiligung an der Revolution als Frage der Garderobe zu diffamieren. Die Amazone ist im Roman ein Kleidungsstück „in Himmelblau zu fünfzig Livres“, das sich Anne-Josèphe „kühn über die Schulter“ wirft (ebd., 162). Die Historikerinnen Helga Grubitzsch und Roswitha Bockholt (1991, 274) führen aus, dass der Mythos der männlichen, kämpferischen Amazone eine Erfindung des 19. und 20. Jahrhunderts sei, im 18. Jahrhundert sei das „Amazonenkostüm“ einfach ein Kleid der Reiterinnen gewesen, erst durch das Agieren im männlichen Raum der Politik habe man diese Kleidung der „Amazone“ zugeordnet. Fleschs Stoßrichtung ist klar: Er will geschlechtliche Ordnung in einem „ungeordneten“ Umfeld herstellen. Und dazu gehört es in seinem Sinne auch, gegen jenen Teil der Revolutionsgeschichtsschreibung zu agitieren, der Théroigne affirmativ als „Amazone“, als Revolutionsheldin, als „Eben-

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bild der Freiheit“ (Michelet 1984/1854, 96) sah.4 Diesem Bild setzt Flesch sein physisch determiniertes, gefallsüchtiges, antiintellektuelles, „natürliches“ Wesen, eine „Bauernmätresse“ gegenüber. Flesch arbeitet sich an der Überlieferung von Théroignes revolutionärem Engagement ab. Er verschweigt ihre Taten nicht – wenn er auch bei weitem nicht alle behandelt –, aber er inszeniert diese als Folgen ihrer Koketterie und Gefallsucht. Teil dieser Darstellung ist es, dass Théroigne am männlich determinierten Politikfeld keine Männer direkt entgegentreten. Als einzige Ausnahme werden die Denunziationen der Jakobiner um Robespierre gegen Théroigne erwähnt, wobei die Schreckensherrschaft des „Wohlfahrtsausschusses“ eindeutig negativ punziert ist. Konkurrenz wird sonst im Roman nur unter Frauen ausgetragen: Auf der Tribüne des Nationalkonvents geht es um die Vorreiterrinnenrolle bei den Zwischenrufen, bei den „Frauen der Straße“, den Prostituierten, geht es um Revierverteidigung, denn Théroigne ist ein Eindringling im Palais Royal. Reaktionen auf ihren Aufruf zur Bewaffnung der Frauen oder auf ihre Friedensplakate werden im Roman nur von weiblicher Seite – und nur als Hohn und Spott – gezeigt. Mag Flesch noch so viel erzählerische Energie in die Herabsetzung des weiblichen revolutionären Engagements setzen, er kommt nicht umhin, dem Anteil der Frauen an der Revolution viel Platz einzuräumen. Als er Théroigne, gegen Ende des Romans, die Liste ihrer Taten aufzählen lässt, kann er dieser Heldinnengeschichte nur den Vorwurf des Hochmuts bzw. der übertreibenden Prahlerei voransetzen, die revolutionären Taten muss er seiner Protagonistin jedoch zugestehen: „Anne-Josèphe, hochmütig: ,[...] Ich habe euch nach Versailles geführt, ich habe euch gegen die Tuilerien geführt, ich habe Suleau, den Volksfeind, mit meinen eigenen Händen erwürgt.‘“5 (Flesch 1930, 276) Das weitgehende Aussparen männlicher Repressionen in Folge des revolutionären Agierens von Frauen bedarf einigen argumentativen Aufwands. Das wird besonders am Ende des Romans augenfällig, als Théroigne ihre letzten Lebensjahre vorwiegend in der Salpêtrière, dem Pariser psychiatrischen Krankenhaus, verbringt. Flesch zeigt Théroigne nicht als Opfer ihrer politischen Grenzüberschreitungen oder eines rigorosen, repressiven Systems des Wegsperrens von psychisch Labilen. Flesch stellt sie als niedere, dahinvegitierende Kreatur – wieder ein „natürliches“ Bild – dar, mit deren

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Der antiklerikal und demokratisch gesinnte Pariser Historiker Jules Michelet veröffentlichte 1854 eine pathetisch gestimmte Aufzählung der weiblichen Beteiligung an der Französischen Revolution (Les femmes de la révolution), in der er zwar den Mut Théroignes hervorhebt, an erster Stelle aber stets ihre körperlichen Vorzüge, wie sie ihm durch Bilder überliefert scheinen, nennt: eine „heroische Schönheit, die das Herz unserer Väter entzückte“, eine „schöne, tapfere, unglückliche Frau aus Lüttich“ (Michelet 1984/1854, 96). Die eigenhändige Tötung des Publizisten François-Louis Suleau, der Théroigne in seinen Blättern mehrfach scharf angegriffen hatte, ist Teil der Legende um ihre Person (vgl. Grubitzsch/Bockholt 1991, 75).

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Niederungen und Schwächen man höchstens Mitleid haben kann, die aber nicht ernst zu nehmen ist. Théroignes Schicksal geht in einen natürlichen Kreislauf ein, vom naturverbundenen Landkind, das von der Hand in den Mund lebt, zur tierähnlichen Kreatur. Flesch will ihre „Laufbahn“ in einen höheren, apolitischen, metaphysischen Zusammenhang, in einen unabänderlichen Weltenlauf stellen und damit – vom Ende her – ihre politischen Taten als widernatürlich präsentieren.

5. D IE AMAZONE

ALS

M UTTER ?

Die historische Anne-Josèphe Théroigne war eine hybride Figur: Die Legende ihrer revolutionären Aktionen konnte entweder in das Bild einer asexuellen Mutterfigur, dem Konzept der Unbeflecktheit folgend, eingepasst werden, wie es dann unter der Jakobinerherrschaft zur spartanischen „Mutter der Nation“ verstärkt (vgl. Graczyk 1992, 99) und zur Revolutionsheldin ausgebaut wurde. Oder Théroigne wurde als Verkörperung des in der Revolution aufbrausenden „Despotismus“ der weiblichen Natur/Sexualität inszeniert – einer Kraft, der die (männliche) politische Macht nicht gewachsen war (vgl. Cameron 1991). Die österreichische Literatur kennt mit Ferdinand von Saars Revolutionärin aus der Erzählung Ninon eine solche, sich berauschende, gefährliche und zugleich anziehende Frau.6 Beide Bilder waren sexuelle Denunziationen und als solche „Mittel des politischen Kampfes“ (Grubitzsch/Bockholt 1991, 164). Hans Flesch macht Théroigne zur Prostituierten und folgt damit erst einmal dem Stereotyp der Gleichsetzung von „Freiheit“ mit „Freimädchen“ (vgl. Hauch 1990, 198). Hier zeigt sich Fleschs Interesse an der Libertinage, wie wir es von seinen expressionistischen Texten her kennen, er versteht diese „Freiheit“ seiner „Bauernmätresse“ wohl als antibourgeoisen Gestus, Théroigne kommt „von unten“, sie ist eine Frau des Volkes. Flesch gibt seiner Protagonistin revolutionären Handlungsraum, nur erkennt er ihr politische Handlungsfähigkeit ab. Ihr revolutionäres Agieren erwächst aus ihrer Notlage – und bezüglich der materiellen Not des Volkes zeigt der Autor Empathie. Der Staat ist stets ein Blutsauger, das ändert sich auch in der und durch die Revolution nicht, der Hunger bleibt bestehen: Das ist Fleschs impliziter Vorwurf an die Revolution.

6

Bei Saar gibt sich, wie der Autor umschreibt, eine Bekannte des Ich-Erzählers 1848 „zum ersten Male auf der Höhe einer Barrikade“ preis. Die Frau ist in dieser Hingabe „despotisch“, hat Macht über den Mann. Dieser muss sich von solchen Versuchungen reinigen – der Ich-Erzähler tritt denn auch den Heimweg nach der Wiederbegegnung mit diesem „Weib“ in der sauberen Luft, nicht mit der Kutsche an: „Die reine Luft tat mir wohl, wie ich so durch die stillen dunklen Gassen schritt.“ (Saar 1908, 74)

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Fleschs Anne-Josèphe ist in erster Linie Hure, sie versucht sich aber auch als Mutter. Als Mädchen wird sie nach England als potenzielle Mutter von Erben eines Lords engagiert – das Fortpflanzungsexperiment geht nicht auf. In der Revolution wird sie zur Pflegemutter eines verlotterten, taubstummen „Monstrums“, für das sie in ihrer Not nicht ausreichend sorgen kann. Flesch will hier ihr Scheitern zeigen, Théroigne ist keine richtige, vollständige Frau, zu der das Muttersein gehörte. Sie ist eine „deformierte“ Kreatur, keine Frau und Mutter, sondern „Menschin“ (Flesch 1930, 77). Es ist die Revolution, die letzten Endes Anne-Josèphes Mutterschaft verhindert. Diese Leerstelle der Mutterschaft füllt Flesch mit der Vorstellung einer mütterlichen Erde. Théroignes Ende im Wahnsinn inszeniert er als einen Abgesang, als eine geschichtliche Parabel auf die Nichtigkeit der menschlichen Existenz, über der eine Mütterlichkeit der Erde herrscht: Über den Roman verteilt tauchen immer wieder expressionistische Maternitätsbilder auf, die sich auf die ganze Welt beziehen. Solche Totalitätsvorstellungen sind Männerfantasien im Theweleit’schen Sinne: Flesch stellt sich einen „vermenschlichte[n] Leib der Mutter Erde“ (Theweleit 2000, 245) vor: „[d]er Leib der Erde glüht in allen Gliedern“ (Flesch 1930, 241), „[d]ie Erde kreißt“ (ebd., 243) und „es kreist die Welt“ (ebd., 200). Flesch legt es darauf an, aus der Amazone, aus der Virago – beides Bilder, die „mit einer beunruhigenden Kastrationssymbolik aufgeladen“ (Graczyk 1992, 104) sind – eine feminine, sinnliche Frau zu machen und so die Geschlechterpolarität, die für ihn Ordnung darstellt, herzustellen und die „Ermannung“ der Frauen (ebd., 100) zu widerrufen. Es geht Flesch um Ausdifferenzierung, die Frau wird klar in die Grenzen ihrer Geschlechtlichkeit hinein- bzw. zurückgeschrieben. Da Théroigne ihren „natürlichen“ Weg verlässt und den Irrweg einer Revolutionärin geht, kann sie keine Mutter sein, das grausame Ende ist so gesehen das naturgemäße.

6. D IE P ERSPEKTIVE

DES

J AHRES 1930

Dass Hans Fleschs Buch zu Zeiten einer Weltwirtschaftskrise erschien, ist dem Roman eingeschrieben. Das Ökonomische ist das primäre Agens der Figuren. Der erste Satz des Romans lautet: „Der Marquis de Sélys braucht Geld.“ (Flesch 1930, 7) Dieser Landadelige versucht, seine Untertanen über einen Emissär auszupressen. In der Stadt gibt es scheinbar auch niemanden, der über genügend finanzielle Ressourcen verfügt: „Der Herzog von Orléans hat immer Geld und braucht immer Geld, denn um Geld – so denkt er – hat man alles.“ (Ebd., 78) Die Conclusio: „Frankreich braucht Geld.“ (Ebd., 83) Der Mangel bestimmt das Leben aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, das Geld verliert durch starke Inflation rasch an Wert. Flesch betont bei der Ausbeutung der Bevölkerung das Überzeitliche, das Elend bleibt über die Zeiten und politischen Systeme hinweg gleich: „[U]nd die ihr Recht suchen

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vor den Parlamenten, ziehen im Staub dahin, und die Prälaten der Parlamente fahren in Kutschen.“ (Ebd., 83) Ende der 1920er Jahre war die Krise der Weimarer Republik manifest, Österreich war nach dem Justizpalastbrand 1927 am Rande eines Bürgerkriegs. Flesch baut vor dem Hintergrund einer Zeit allgemeiner Zerrüttung und Unordnung im Text keine ordnende Staatsmacht auf, der Aristokrat Flesch-Brunningen setzt keine Signale für eine monarchistische oder legitimistische Haltung. Im Gegenteil. Die Vertreter des österreichischen Staates zur Zeit der französischen Revolution sind karikaturenhaft gezeichnet, der Untersuchungsrichter etwa wird als „Maulwurfsgesicht“ (ebd., 218) oder der Festungskommandant in Kufstein als „ein gutmütiger Dummkopf“ (ebd.) bezeichnet. Auch die Zentralmacht in Wien besteht aus schwachen Figuren, die gefangene Théroigne sieht sich in der Hofburg einem geriatrischen Duo gegenüber: Minister Kaunitz wird als einsamer Greis hinter Aktenbergen, Kaiser Leopold II. mit „gebrochenen Schultern“ und „müden grauen Hände[n]“ dargestellt – lebende Tote in „toten Palästen“ (ebd., 229), die Théroigne die Freiheit aus ihrer Schläfrigkeit heraus wiedergeben (ebd., 230). Flesch deklariert sich in seinen Bildern der Revolution ideologisch nicht eindeutig, er schreibt nicht, wie viele seiner Zeitgenossen, im Mantel des historischen Romans gegen eine revolutionäre „rote Flut“ an, er hat nicht wie die bei den von Klaus Theweleit untersuchten Autoren den rassistischen Faschismus als Fluchtpunkt. Dennoch ist Die Amazone ein antirevolutionärer Roman. Die Revolution, so Fleschs Botschaft, ist nicht imstande, das Schicksal der Menschen zu bessern, sie verroht vielmehr den Menschen. Das Bauernmädchen Théroigne kehrt, von der Revolution zerstört, zur Erde zurück, sie wird im Wahnsinn zur vegetierenden Kreatur, isst Brosamen vom Boden, trinkt erdiges Wasser, kriecht auf allen vieren. Der Autor kreiert keine idyllischen vorrevolutionären Gegenbilder einer intakten, naturnahen Welt, aber mit den kruden Bildern der „Menschin“ Théroigne inszeniert er das Naturhafte der Frau. Die weibliche „Natur“ wird so auch bei Flesch „zur Trägerin der ideellen männlichen Harmonie- und Einheitssehnsüchte stilisiert“ (Bovenschen 1979, 32). Frau und Revolution schließen sich aus. Die Frau als Nährerin mag gegen Hunger, gegen Unterversorgung protestieren – und in der Schilderung des Elends gewinnt der Roman mitunter empathische Züge –, aber Kampf und Politik sind Sache sittlicher und integrer Männer wie Desmoulins oder Théroignes Bruder, die dafür wenig sinnlich und ein wenig langweilig sind.

7. C ONCLUSIO : D IE L UST

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Z EITEN

DER

U NORDNUNG

Mann und Frau haben klare Rollen. Die Politik ist Sache der Männer. D.h. nicht, dass sie die Sache gutmachen, aber nur der Mann kann sich abstrakten Dingen zuwenden, ohne von Tratsch, Mode oder Sex abgelenkt zu werden.

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Z EITEN REVOLUTIONÄRER U NORDNUNG

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Dem Titel entgegengesetzt vermeidet Flesch konsequent explizite Bezüge zum Amazonen-Mythos. Das Amazonenhafte der Überlieferung wird Théroigne völlig abgesprochen. Nur einmal verwendet er explizit den Begriff „Amazone“, als er das gleichnamige Kleidungsstück erwähnt. Flesch zeigt seine Protagonistin nie als Kämpfende, den Aufruf zur Bewaffnung stellt er als ihr untergeschoben dar. Auf die geschlechtliche Ambivalenz der Amazonen geht der Autor ebenso wenig ein. Er zeigt sich konsequent in der Zementierung der Geschlechterpolarität. Flesch legt viel erzählerischen Effort in die (Re-)Konstruktion einer polaren Geschlechterordnung. Das schließt nicht aus, dass der Unordnung lustvolle, voyeuristische Seiten abgewonnen werden können. Flesch imaginiert Libertinage im Umfeld der Revolution, da tun sich Parallelen zu den pornografisierenden Karikaturen in Revolutionszeiten auf. Eine Revolutionärin kann keine richtige Frau sein, vor allem, weil sie nicht als „mater familias“ denkbar ist. Die Frauen sind im Roman den Männern zu Diensten – die zahlenmäßig im Roman dominierende weibliche Gruppe setzt sich aus Prostituierten zusammen. Revolutionen können nicht in den Weltenlauf eingreifen, so ließe sich Fleschs Haltung aus dem Roman destillieren. Sehr vage deutet Flesch an einer Stelle an, was in seinem Sinne zu revolutionieren wäre. Während eines Aufenthalts im heimatlichen Luxemburg meint eine Nachbarin zu Théroigne, sie, die Revolutionärin, solle doch „alles das“ revolutionieren: Die Konflikte „Weiber gegen die Männer“ sowie „das Elend, das jeden Tag da ist“ (Flesch 1930, 211). Wie der Geschlechterkonflikt zu befrieden wäre, versucht Flesch im Roman zugunsten der Männer darzulegen, einen Vorschlag, wie das Elend aus der Welt verschwinden könnte, macht er nicht.

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Staat außer Haus Literarische Gemeinschaften jenseits des Staatsgeistes S ABINE Z ELGER

Dieser Beitrag widmet sich dem Zusammenhang von Staat und Haus und fragt nach Gemeinschaftsexperimenten in staatsfreien Räumen. Doch sind staatsfreie Räume überhaupt möglich? Denkmöglich? Wie können Ordnungen in Frage gestellt werden, die durch gesetzliche Verankerung und formale Setzungen längst verinnerlicht wurden? Als selbstverständlich gelten Strukturen, die Männer von Frauen, Erwerbstätige von Erwerbslosen, Verwandte von Nichtverwandten oder Unternehmer von Kundschaft unterscheiden. Als selbstverständlich gelten die damit korrespondierenden Topografien, in denen Offenheit und Geschlossenheit der Räume geregelt sind. Je nach Gruppenzugehörigkeit verändert sich die Zugänglichkeit der Privathäuser, Wohnungen, Institutionen oder Geschäfte. Je nach Funktion der Räume sind auch die Gemeinschaftsformen definiert und die darin eingelassenen Hierarchien sowie Ausschlüsse fixiert. Sie scheinen unumstößlich. Allerdings erweisen sich gerade die herrschaftskonstituierenden Machtgefälle und Ungleichheiten als destabilisierend, weil Widerstände erzeugt werden. „Insofern sind Disparitäten dysfunktional.“ (Becker-Schmid 2007, 71) Möglich, ja notwendig wird es, Gemeinschaften auch jenseits institutioneller Rahmungen und Wert- bzw. Ordnungskategorien des Staates zu denken und Räume anders zu besetzen. Für derartige Experimente müsste die Gesellschaft in den 1920er Jahren besonders offen gewesen sein. Nach dem massiven Staatsausbau und der Blütezeit omnipotenter Staatsgewalt während des Weltkrieges waren nun demokratische Handlungsweisen gefragt. Das allgemeine Wahlrecht gab dazu prinzipiell Anstoß, auch Frauen durften nun wählen. Andererseits blieben sie in vormodernen patriarchalen Verhältnissen gefangen, „konnten über Eigentum, den Einsatz ihrer Arbeitskraft und über die Entscheidung, Kinder auszutragen oder nicht, nicht selbst bestimmen“ (ebd., 74). Die Zwischenkriegszeit war außerdem durch große ökonomische Spannungen und Probleme geprägt, die die Politik überforderten, ganze Bevölkerungsschichten deklassierten und ins Elend stießen, während manche von den Krisen profi-

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tierten und unglaublich reich wurden. Lag es da nicht nahe, eingespielte Ordnungen, wie sie sich in den Geschlechter- und Klassenverhältnissen manifestieren, herauszufordern? In der Literatur der Zwischenkriegszeit finden sich genügend Belege für solche Herausforderungen. Wie sie Brüche mit tradierten Separierungen nach männlich/weiblich, öffentlich/privat, wertvoll/nutzlos in Szene setzt, ist Thema dieses Beitrags. Gefragt wird nach der Ausgestaltung literarischer Fiktionen, die die staatlich abgesicherte Ordnung unterwandern: Wie wird die Institution der Familie in ihrer räumlichen, genetischen und ökonomischen Einheit subvertiert? Werden vergeschlechtlichte Rollenaufteilung, Geschlechterbinarität und Heteronormativität in Frage gestellt? Inwiefern wird die Maxime kapitalistischer Gewinnorientierung umgestoßen, die Klassendistinktion aufgeweicht? Und in welchen Häusern und Räumen wird die Unordnung realisiert? Aktuelle staatskritische Ansätze konzipieren den Staat nicht als Pendant oder Gegenüber der Gesellschaft, sondern weisen seine Kräfte auf zahlreichen Ebenen nach, sodass ein „staatsfreier“ Raum schwer vorstellbar ist. Aber auch bei früheren Denkern, die davon überzeugt waren, den Staat über Revolution loswerden zu können, zeigt sich eine große Skepsis. Auch wenn die Argumentation hinsichtlich der kämpferischen Ziele optimistisch sein kann, werden über die Tropen massive Zweifel ausgedrückt. Rund um die republikanischen Einheitsbestrebungen in Italien formulierte ein prominenter Staatskritiker, Michael Bakunin (1814−1876), mit welch alten Problemen auch die jungen demokratischen Staaten zu kämpfen hätten: „Der Staat wird nicht mehr Monarchie heißen, sondern Republik, wird aber nichtsdestoweniger der Staat sein, das heißt eine offiziell und regelrecht von einer Minderheit zuständiger Männer, von ,tugendhaften Männern von Genie oder Talent‘, errichtete Vormundschaft zur Überwachung und Leitung des Betragens dieses großen, unverbesserlichen Schreckenskindes, des Volkes. Die Schullehrer und Staatsbeamten werden sich Republikaner nennen, aber nichtsdestoweniger Vormünder, Hirten sein, und das Volk wird das bleiben, was es bis jetzt gewesen ist, eine Herde. [...] In diesem System wird das Volk ewig Schüler und Mündel sein. Trotz seiner Herrschaftsgewalt, die ganz fiktiv ist, wird es das Werkzeug von Gedanken, Willen und folglich auch von Interessen sein, die nicht seine eigenen sein werden.“ (Bakunin 1995, 65ff.)

Bakunins Blick in eine republikanische Zukunft fasst zwei Konstruktionsprinzipien, die den Staat als Herrschaft ausmachen. Erstens fußen Leitung und Kontrolle auf Hierarchien, und zwar zwischen Herrschenden und Beherrschten, Verwaltern und Verwalteten, Lehrern und Schülern. Zweitens folgt diese Hierarchisierung, in der „Herren schaffen“, einer Klassen- und Geschlechtsspezifik. D.h. der Staat übt seine Gewalt aufgrund einer Ordnung aus, die wesentlich auf den hierarchisierten Kategorien des Geschlechts und der Klasse beruht. Entgegen Bakunins politischer Zuversicht in puncto Revolution ist seine Metaphorik fatalistisch. In der Antiklimax – Kinder, Vieh und Werkzeug – evoziert er, dass für die Beherrschten keine

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Emanzipation möglich ist. Indem der Staat Gedanken und Willen durchdringt, sind Positionen jenseits des Staates nur schwerlich auszumachen. Damit nimmt Bakunin Denkweisen vorweg, wie sie 100 Jahre später theoretisiert und ausgebaut wurden.1 Pierre Bourdieu (1998) etwa sieht die staatliche Durchsetzungskraft nicht auf physische Gewalt beschränkt, sondern denkt das staatliche Monopol um die symbolische Gewalt erweitert: Mit der Vereinheitlichung von Denk- und Bewertungskategorien durchdringt der Staat Köpfe und Körper. Das gilt – so Bourdieu (1991) – auch für den physischen Raum, der immer schon sozial konstruiert und mithin von symbolischer Gewalt erfasst sei. Veränderungen sind kaum realisierbar, da der Habitus das Habitat schaffe.2 Die Position der Protagonistinnen und Protagonisten in den jeweiligen Machtverhältnissen schlage sich im physischen Raum nieder. Es gebe keine neutralen unbesetzten Orte, die alternativ besetzt werden könnten. Auch durch räumliche Nachbarschaft könne sich keine soziale Nähe ergeben. Wie kann es bei derartigen Konzeptionen staatsfreie Räume geben? Wie ist es möglich Beziehungsverhältnisse „anders“ als in monopolisierten Hierarchiestrukturen zu organisieren? Und in welchen Räumen werden sie realisiert? Um diesen Fragen nachgehen zu können, müssen Hauskonzepte differenziert werden. Das Familien- und Mehrgenerationenhaus als vom Staat geschützte Sphäre eignet sich wohl kaum für staatsfreie Experimente: Es beruht auf den Prinzipien Abstammung und Allianz (vgl. Ghanbari 2007, 21), die beide vom Staat gesichert werden. Patriarchale, genetische und ökonomische Strukturen sind über Ehe- und Erbgesetze eingelassen. Als „moralische Person“ (im Sinne einer Rechtsperson) und „Inhaber einer Domäne, die sich aus materiellen und immateriellen Gütern zusammensetzt“ (LéviStrauss 1986, 78), erweist es sich als konservierend. Darüber hinaus wird dem Familienhaus eine stabilisierende Funktion zugeschrieben: In herkömmlichen Konzepten wird die Ehe als festigender Faktor für das Haus angesehen, bei Lévi-Strauss sorgt umgekehrt das Haus für Beständigkeit der Ehe oder anderer labiler Verbindungen (vgl. Lévi-Strauss 1987, 155). Demgegenüber basiert das Haus als Wohngemeinschaft nicht auf verwandtschaftlichen und ökonomischen Bindungen, es ist nicht auf Kontinuität ausgerichtet; ebenso wenig sind geschlechtliche Normen fixiert. Hier sind staatsfreie Räume schon eher denkmöglich. Noch offener erscheint das Mehrparteienhaus in seinen halböffentlichen Räumlichkeiten wie Stiegenhäusern und Haushöfen: Es sind Orte für Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und verschiedener Klassen, Berufe und Besitzverhältnisse.

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Die Schrift Gott und der Staat ist in bearbeiteter Form erstmals 1884 in den USA auf Deutsch erschienen, auf deutschsprachigem Gebiet erst 1921 (vgl. Eckhardt 1995, 12). Folgt man Bourdieus Schriften, gilt dieser Satz auch umgekehrt, jedoch bleibt sein Ausgangspunkt, „dass sich soziale Verhältnisse in den physischen Raum einschreiben“ (Schroer 2006, 89).

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Während der Zusammenhalt im Familienhaus festgelegt ist, gibt es in Wohngemeinschaft und Mehrparteienhaus unterschiedliche Formen von Gemeinschaften und Motive für Gruppenbildungen. Gruppen können einerseits in Formen der Vergemeinschaftung realisiert werden, die „auf subjektiv ‚gefühlter [...] Zusammengehörigkeit‘ der Beteiligten beruh[en]“ (Max Weber 1980, 21). Als solche sind sie weder wert- noch zweckrational. Im Unterschied zu institutionellen Einheiten wie der Familie können diese Gemeinschaften offen sein, da die Teilnahme nicht an traditionelle oder affektuelle Bedingungen geknüpft sein muss (vgl. ebd., 23). Andererseits sind auch Formen von Vergesellschaftung möglich. Diese „Interessenverbindungen“ beruhen meist „auf rationaler Vereinbarung“ (vgl. ebd., 21) und können sich staatlicher Ordnung widersetzen. Damit scheinen Wohngemeinschaften und Mehrparteienhäuser Beziehungen zu ermöglichen, die die staatlich stabilisierten Verhältnisse demontieren könnten: Hierarchie, Trennung sowie Rollenfixierung nach Klasse und Geschlecht. Bei der Erforschung staatsfreier Räume erscheint es vielversprechend – oder vielleicht sogar notwendig – nicht nur theoretische Texte heranzuziehen. So sieht es jedenfalls Bourdieu (2008, 105), wenn er die Dichtung in ihrer Kunst der Verschleierung als einzigartiges Medium betrachtet, in dem auch das sozial Unerhörte zum Ausdruck gebracht werden könne: „[E]s ist die der genuin literarischen Ausdrucksweise inhärente, weil dem Faktum der Formung und der Formulierung zugrunde liegende Verleugnung, die die Äußerung einer Wahrheit erlaubt, die anders gesagt untragbar wäre.“ Mit anderen Argumenten verteidigt Bakunin (1995, 89) Poesie und Kunst, und zwar als Mittel gegen die Abstraktion. Er fordert, dass die Kunst als Empörung des Lebens der Wissenschaft entgegengesetzt werden müsse. Dass Literatur tatsächlich Räume freidenkt und Unerhörtes durch ihre besondere Form auch ausdrücken kann, soll anhand dreier Romane gezeigt werden: Mechtilde Lichnowskys Buch Geburt. Liebe, Wahnsinn, Einzelhaft von 1921, Robert Neumanns Text Sintflut von 1929 sowie Andreas Thoms Werk Vorlenz der Urlauber auf Lebenszeit und Brigitte mit dem schweren Herzen, das 1930 erschienen ist. In überraschenden literarischen Arrangements werden Staat und Haus destabilisiert und ungehörige Lebens- und Ordnungsvorstellungen ausgestaltet: über parallelisierte Haus- und Staatskonzepte, wechselnde Perspektiven, paradoxe Metaphorik, offene Erzählungen. Die Verbindung zwischen Identitätskategorien und Staatlichkeit, die „tagtäglich reproduziert“ wird (Habermann 2009, 199), ist gekappt. Stattdessen werden in den Texten Varianten realisiert (vgl. Bourdieu 1998), die von der monopolisierenden Ordnung des Staates abweichen. In diesem Sinn handelt es sich um Experimente, die – im Verständnis von Michel Foucault (2000, 69) – nicht zu „Tat-sachen“ geworden, nicht „verstaatlicht“ worden sind. Die Auswahl der Texte lässt sich jedoch nicht nur durch Thematik und Poetik begründen, sondern auch durch deren Stellung im Literaturkanon. Die staatlichen Institutionen haben die drei Romane nicht in die Schulbücher aufgenommen, die staatlich finanzierte Literaturwissenschaft setzt sich

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wenig mit ihnen auseinander. Wie die fiktionalen Experimente sind also auch sie nicht verstaatlicht worden.

1. D AS F AMILIENHAUS UND DAS L ANDHAUS . G EBURT VON M ECHTILDE L ICHNOWSKY Im Roman Geburt bewohnt die Mehrzahl der Hauptfiguren das geräumige Haus einer Adelsfamilie. In verschiedener Hinsicht zeigt es sich als Verkörperung des konservierenden und stabilisierenden Prinzips. Dass es kaum für staatliche Unordnung stehen kann, wird schon an der traditionellen Rollenverteilung des Ehepaars ersichtlich: Der Mann Johnny ist anerkannter Nervenarzt, die Frau Isabel für mehrere Kinder zuständig und nur gegen den Willen ihres Gatten und inkognito als Pflegerin auf der Psychiatrie tätig. Auch Familienstand und Verwandtschaftsverhältnis der weiteren Bewohnerinnen und Bewohner verweisen auf die herrschende Ordnung: Im Haus sind nämlich drei alleinstehende Verwandte untergebracht, der verwaiste Neffe Albrecht, der ledige Bruder Isabels sowie eine verwitwete Cousine. Detailreich führt die Autorin aus, wie diese Hauskonstruktion auf den Einschluss der Frauen wirkt sowie auf deren Ausschluss vom öffentlichen Raum und Erwerbsleben. Als besonders aufschlussreich erweist sich jene Stelle, an der das staatlich institutionalisierte Mutterkonzept als wichtiger Grund der weiblichen Inhaftierung ausgewiesen wird: „[D]ie wahre Mutter – die nur Gebärerin und nicht Familienmutter im bürgerlichen Sinn ist, [...] will reiche Kinder im Sinn von mannigfaltig begabt. Sie lehne also die fernere Mitwirkung ungeeigneter Väter ab, oder solcher, die weniger günstige Produkte zeugten. [...] Aber: wenn sie, weil ja das Leben und manchmal auch das Individuum kompliziert sind, ,einen‘ für die Zucht solcher Nachkommen ungeeigneten Mann ,liebt‘, gibt sie vieles von ihrem Mutter-an-sich auf und wird Mutter-auf-alle Fälle. Außerdem hat ja der Staat die Mutter-an-sich getötet, so gut er konnte. Er schuf die Häuslerin.“ (Lichnowsky 2008, 80f.)

Die Ausgrenzung und Einschließung der Ehefrau und Mutter, die im Begriff „Häuslerin“ auf den Punkt gebracht werden, beziehen sich auf das traditionelle Haus- und Familienkonzept, in das eingelassen sind: ökonomische Regulierung bezüglich Vermögensfragen und Erbrecht, soziale Regulierung nach Klasse, Alter, Familienstand sowie physische Separierung nach öffentlicher und privater Sphäre bzw. Bewegungsfreiheit und Fixierung. Die scheinbar natürliche Ordnung im Familienhaus gründet auf Zusammenhalt, der nach staatlichen Kategorien organisiert ist. Dagegen opponiert Isabel: „Ich bin Gattin, Mutter, Pflegerin, Dame, Bürgerin, Deutsche, achtunddreißig – und das ist alles nicht wahr. Das ist Lüge. Etwas Wahres ist – tief im Grunde meiner Seele, tief im Grunde meines Körpers. Und dafür hätten sie

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keinen Namen? Ist es Weib? Ist es Mensch? Ich glaube, ich bin Mensch geworden, ehe ich Weib war. Ist das in Ordnung?“3 (Ebd., 254) Frei von derartiger Festlegung und Zurichtung über Kategorisierung ist eine andere wichtige Figur des Romans, Matthias Lanner, der im Unterschied zu Isabel ein Leben in Spaltungen realisieren kann: „Bald war er Antiquar, bald Hausherr auf dem Lande, bald Dichter, Pädagoge, Menschenhasser, Tierfreund.“ (Ebd., 181) Ein solches Leben lässt sich nur in einem anderen Haus realisieren, in einer Art Wohngemeinschaft: Im Landhaus eines befreundeten Arztes treffen einander ausgewählte Personen. Als der Neffe Isabels dorthin eingeladen wird, stellt er sich diese Gemeinschaft wie folgt vor: „Gespannt, was es mit dieser Tafelrunde für Bewandtnis hatte, näherte sich seine Vorstellungskraft dem Begriff der Orgie, und das freute ihn erst recht in seinem Durst nach Wissen über das Leben in seiner Gesamtheit wie in dem geringsten Funken, der, aus dem großen Herd vor seinen Augen schießend, niederging.“ (Ebd., 64) An diesem Ort, der Männern vorbehalten scheint, werden Konventionen der Kommunikation, des Zusammenlebens, der Weltorientiertheit verlassen. Allerdings nimmt die Ausgestaltung dieser Gemeinschaft auf dem Lande keinen wichtigen Platz im Roman ein. Die Topografie und Struktur des Textes werden stattdessen von der ideellen Verbundenheit der drei Figuren Isabel, Lanner und Albrecht geprägt. Sie kommen über Erzählungen, Tagebuch und Briefe fast ständig zu Wort. Mit dieser Erzähltechnik gerät auch Isabels grundlegende Kritik an der Zweigeteiltheit der Geschlechter ins Landhaus. Über ihre anonymen Briefe an den geliebten Lanner wird sie mit ihrer geschlechtlichen Uneindeutigkeit und Widersetzlichkeit zum Zentrum der Tafelrunde. So vielschichtig Geschlechterfragen thematisiert werden, so wenig scheint sich der Roman für Klassenverhältnisse zu interessieren. Indirekt kommen ökonomische Ordnungsparameter jedoch als Privileg und Voraussetzung für eine andere Gesellschaft zur Sprache. Das gilt insbesondere für das Antiquariat des Schriftstellers. Dass Lanner seinen Laden nur zur Freude betreibt und seine Waren gar nicht verkauft, macht ihn verdächtig. So kommt es eines Tages zum Eklat mit einem Wachtmeister, der droht: „,Wenn Sie Ihren Laden jetzt nicht sofort schließen, muß ich einschreiten.‘ / ,Sie werden es bereuen‘. / ,Wollen Sie jetzt zumachen? ‘ / ,Gut‘, sagte Lanner, drückte auf einen Knopf, der Eiserne sauste über Türe und Fenster herab, – der Wachtmeister saß darin. Wütend brüllte er: / ,Lassen Sie mich heraus. Sie werden die Obrigkeit beleidigen? Das sage ich Ihnen!‘“ (Ebd., 139)

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In Bezug auf ihre persönlichen Erfahrungen mit Zuschreibungen meinte die adelige Autorin: „Frau – Dame – Fürstin – möchte ich gern an einem kleinen Spieß übers Feuer halten.“ (Lichnowsky 1914, zit. n. Wilhelmy 1989)

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Ironischerweise hat dieser Konflikt mit der Staatsgewalt keine strafrechtlichen Auswirkungen, sondern initiiert eine Beziehung zwischen Ordnungshüter und Geschäftsinhaber: Immer wieder schaut der Polizist bei Lanner vorbei „und genießt, was er ehedem nicht kannte, eine Tasse türkischen Kaffee und raucht blonden türkischen Tabak“ (ebd., 140). Vielleicht kann man dieses Paar als spektakulären Beginn einer ganz neuen Gemeinschaft sehen: der Anarchist und der Schutzmann in einem Geschäftshaus, wo es nicht um Gewinn geht. Derartige anarchistische Experimente und Destabilisierungsprojekte, die von der Autorin in der monarchistischen Vorkriegsära angesiedelt werden, sind in den zwei anderen hier analysierten Romanen nicht mehr denkbar: Sie wurden am Ende der 1920er Jahre geschrieben und thematisieren die zeitgenössische großstädtische Bevölkerung jenseits von Adel und Wohlstand. Mit der Veränderung der Bewohnerschaft und der sozialen Verhältnisse rücken auch andere Hauskonzepte ins Zentrum der literarischen Auseinandersetzung.

2. D AS W OHNHAUS UND DAS K ARTENHAUS . S INTFLUT VON R OBERT N EUMANN Wenn das Haus auf Familie basiert, ist es – wie wir bei Lichnowsky gesehen haben – als Produzent und Stabilisator zentraler staatlicher Kategorien äußerst wirksam: Es wird Ordnung realisiert nach amtlich verbuchten Verwandtschaftsbeziehungen, nach Kriterien von Klasse und Besitz. Anders verhält es sich nicht nur mit dem Landhaus, wo Männergesellschaften Gesetze ignorieren, sondern auch mit dem Mehrparteienhaus, das mit seiner Bewohnerschaft das Zentrum des Romans Sintflut bildet. Die Einheit, die durch das Gebäude hergestellt wird, ist auf die gemeinsame Adresse beschränkt. Umso mehr sticht die Heterogenität der Bewohnerschaft mit ihrer unterschiedlichen sozialen und ethnischen Herkunft ins Auge. Dementsprechend groß sind auch die Qualitätsunterschiede zwischen den Wohneinheiten. Die kategoriale Prägung mit allen hierarchischen Abstufungen – nach Geschlecht, Besitz und Stand – bleibt erhalten. Allerdings scheint sich über die halböffentlichen Räume des Treppenhauses sowie des Hofes ein nicht gängig durchkodierter Ort zu ergeben. Neumann inszeniert ihn als Zwischenraum, in dem der Habitus (der verschiedenen Bewohnerinnen und Bewohner) das Habitat nicht zur Gänze bestimmen kann und physische Nähe auch Auswirkungen auf den sozialen Raum hat. Es gibt Tendenzen zur Nivellierung der Unterschiede und zur Enthierarchisierung. Durch den Status der Halböffentlichkeit und die Zugänglichkeit für Personen unterschiedlicher Klassen wird es möglich, ja vielleicht unumgänglich, offene Formen der Vergemeinschaftung und Interessenverbindungen zu realisieren. Mit dem Perspektivenwechsel des heranwachsenden Ich-Erzählers treten sie als wechselhafte Vernetzungen der bunten Bewohnerschaft zutage. Die Be-

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sitzenden und Elenden, Kinder und Eltern, Männer und Frauen arrangieren sich in immer anderen Gruppen. Neben den Veränderungen durch das Erwachsenwerden beeinflussen Kriegserfahrungen und ökonomische Krisen das Zusammenleben maßgeblich. Die tradierten Rollenteilungen in weibliche Haushalts- sowie Pflegekräfte und in erwerbstätige Männer gehen verlustig, ebenso die gewohnte Heteronormativität und Religionsorientierung. Der Aufbruch wird quer zu sozialer und religiöser Herkunft über die Hofgemeinschaft organisiert. Bezeichnenderweise ist er fast ausschließlich auf sexuelle Begierden und deren Befriedigung zurückzuführen, auf hetero- und homosexuelle Verliebtheit, Liebschaften, Vergewaltigung, Prostitution sowie gemeinschaftliche „Folgehandlungen“: Versorgung der Kinder, Abtransport der Leichen, Trostsuche. Im Lauf der Geschichte etablieren sich dadurch neben verschiedenen nachbarschaftlichen Gruppierungen ein Obdachlosenasyl inklusive Männerprostitution, ein Freudenhaus mit Frauenprostitution, eine Kinderbetreuungsstätte sowie ein esoterischer Zirkel. Die Motive für die Teilnahme an den entsprechenden Gemeinschaften und Geschäften sind geschlechtsspezifisch: Während die Männer insbesondere an Bedürfnisbefriedigung oder Unterstützung der eigenen Person interessiert sind, geht es den Frauen vor allem um die Existenz ihrer Familie oder benachteiligter Gruppen. Das Wohnhaus bietet hinsichtlich dieser unterschiedlichen Beziehungen und Gemeinschaften, wie in der Konzeption von Lévi-Strauss, Schutz und teilweise auch Beständigkeit. Dass die Bindungen immer wieder destabilisiert und reorganisiert werden, liegt am Krieg, dessen Gewalttätigkeit sich über die zurückgekehrten Soldaten in den verschiedenen Beziehungen und Gemeinschaften fortsetzt. Vor allem aber liegt diese Labilität an einem anderen Haus, dem sogenannten Kartenhaus, wie eine Zwischenüberschrift in der Mitte des Romans lautet. Es steht als Metapher für die Börsenspekulationen und fungiert als Pendant zum Wohnhaus: Während am Finanzmarkt auf ungesicherter Basis Ungleichheiten massiv ausgebaut werden, sorgen die diversen Gemeinschaften im Mehrparteienhaus für Existenzsicherheit und ebnen soziale und ökonomische Unterschiede tendenziell ein. Dennoch hat das Kartenhaus mehr Macht und wirkt sich dramatisch auf den Bestand des Mietshauses aus. Anschaulich zeigt der Autor, wie die Finanzgeschäfte der 1920er Jahre – den aktuellen nicht unähnlich – notwendig in den Ruin führen müssen. Als das Kartenhaus zusammenfällt, geht das Mietshaus in Flammen auf: Elend und Ungleichverhältnisse sind untragbar. Ein letztes Mal zeigt sich der Hof in seiner gemeinschaftsbildenden Funktion: „Das Haus brennt – so schrei! Das Haus brennt – so findest du doch endlich die vordere Treppe und über die Treppe nieder und zurück in den Hof. / Ja, da waren wieder Menschen. Da war man wieder nüchtern und nicht allein.“ (Neumann 1929, 456) Über diese zufällige Ansammlung hinaus haben die durch das Mehrparteienhaus inspirierten Gemeinschaftskräfte Bestand und Wirkung über die Gebäudegrenzen hinweg. Darin gleicht dieses Haus vielen anderen in der

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Großstadt, wie am Schluss und zweiten Höhepunkt des Romans veranschaulicht wird. Zahlreiche Menschen treten aus ihren Häusern, formieren sich in Gruppen, setzen sich in Zügen zusammen und demonstrieren gemeinsam gegen die Schattendorfer Urteile.4 Die Masse, in der Gemeinschaften aus dem niedergebrannten Haus auftauchen und wieder verschwinden, protestiert gegen den Staat und seine Justiz. Während sich einige der männlichen Protagonisten gar nicht der Auseinandersetzung stellen oder schon bald in Sicherheit bringen, nehmen zwei der weiblichen Hauptfiguren prominente Positionen in den Demonstrationszügen ein. Mitten in der Bewegung stoppt der Roman und lässt das Kampfbild stehen: „Du Mensch kriech in den Schiffsbauch. Der geht schwanger mit deiner Zukunft. In deine Koje kriech. Drück dich tiefer ins stinkende Stroh. Drüben, draußen sonnengrelle Straße hinauf die Hunderttausend marschieren. [...] Noch kannst du nicht verstehen, was sie singen. Aber der Takt, schon der Takt schwellt das Herz. Schon die mißtönig wilde, die kreischende Melodie sprengt dir das Herz, daß du schreist, schreist und trappst, schreist und flattern läßt deine Fahnen im Wind, im Wind.“ (Ebd., 473)

Mit diesen Sätzen endet das Buch und spart die Toten gleichermaßen aus wie den Brand des dritten Hauses, des Justizpalasts, der – wie in der zeitgenössischen Realität – den Höhepunkt des Protests bilden wird.

3. D AS S TADTHAUS UND DAS G ESCHÄFTSHAUS . V ORLENZ UND B RIGITTE VON ANDREAS T HOM Auch Andreas Thom hat in seinem Roman Vorlenz der Urlauber auf Lebenszeit und Brigitte mit dem schweren Herzen ein Stadthaus mit seinen Bewohnerinnen und Bewohnern ins Zentrum der Geschichte gestellt, nur ist es viel kleiner. Obwohl sich der Text auf das im Titel genannte Ehepaar und dessen Kinder konzentriert, spielt das Gebäude mit seinen unterschiedlichen Bewohnerinnen und Bewohnern eine große Rolle. Während zwischen den Wohnungen markante Unterschiede bestehen, die als machtvolle Hierarchien präsent sind, gehen diese im Stiegenhaus verloren. Mit der Etablierung nachbarschaftlicher Gemeinschaften zwischen den Frauen, aber auch zwischen den verarmten und reichen Familien, werden die patriarchalen Verhältnisse, die innerhalb der Wohnungen aufrechterhalten werden, ausgehebelt. Beispielhaft ist jene Szene, als Vorlenz, ein Korporal, wegen „unehrenhafter Schulden“ bei einem gemeinen Soldaten die Pendeluhr aus dem eige4

Der Freispruch angeklagter Frontkämpfer, die bei einer Versammlung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs zwei Personen getötet hatten, führte zu den Wiener Aufständen im Juli 1927.

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nen Haushalt entwenden und zu Geld machen will. Da es sich dabei um den letzten veräußerbaren Besitz der völlig verarmten Familie handelt, ist selbst dem egoistischen Protagonisten bewusst, dass diese „Requirierung“ als gemeiner Diebstahl angesehen würde und deshalb geheim gehalten werden muss. Während er seine Kinder noch erfolgreich belügen kann, scheitert sein Plan im Stiegenhaus. Auf mehrfache Weise büßt er dort seine machtvolle Position ein. Zuerst muss er sich mit dem unhandlichen Diebesgut lange Zeit verstecken, da sich Nachbarinnen wie gewohnt ausführlich miteinander unterhalten. Die beschämende Situation wird gesteigert, als seine Frau von der Arbeit nach Hause kommt, Vorlenz mit der Uhr im Stiegenhaus antrifft und sein Vorhaben sofort durchschaut. Mit ungewohnter Vehemenz widersetzt sie sich ihrem Mann. „[Dieser] sagte mit einer Stimme, die weder Flügel noch Füße hatte, sondern auf dem Bauch zu kriechen schien: ,Muß zum Uhrmacher.‘ Sein Gesicht zerrann in ein garstiges Grinsen. ,Aber nicht heute‘, faßte sich Brigitte schnell und vertrat ihm den Weg. Das war Kampf und forderte heraus. Vorlenz stellte sich. Er durfte nicht zurück, wenn er ein Mann sein und siegen wollte.“ (Thom 1930, 133)

Brigitte – in diesem halböffentlichen Raum offenbar dazu fähig – hält dem gewalttätigen Gatten und ehemaligen Korporal Stand. Zuletzt kommt ein Nachbar vorbei, der als verquere Retterinstanz wahrgenommen wird: „ein leibhaftiger Engel, auch wenn er ein Jude war und Salomon Stein hieß“ (ebd., 135). Eine Referenz zu dieser Szene gestaltet der Autor gegen Ende des Romans, als Vorlenz – an derselben Stelle im Haus – Salomon Stein zusammenschlägt und sich in die verlorene Machtposition zurückzukämpfen versucht. Wie der Diebstahl missglückt auch der Mord am Sündenbock. In der Alternativordnung, die im und über das Stiegenhaus etabliert wird und die die Bewohnerinnen und Bewohner auch jenseits ihrer Zuschreibungen agieren lässt, findet sich Vorlenz nicht zurecht. Als traumatisierter Weltkriegssoldat bleibt er Urlauber auf Lebenszeit und damit der alten Kriegsordnung verhaftet: eine Hierarchie, die das Vaterländische über das Fremdländische, die Körperkraft über geistige Kräfte und nicht zuletzt das Männliche über das Weibliche setzt. Der Staat ist Vorlenz durch die Kriegserfahrung derart eingeschrieben, dass er im staatsfreien Raum Stiegenhaus, wo gewohnte Ordnungen fragwürdig werden, ein Fremder bleibt. Dass der Protagonist keine Chance hat, aus diesem Urlaub zurückzukehren und seine Traumata loszuwerden, liegt auch am Staat, der die Elenden zu wenig unterstützt und als Kleinkriminelle und Bettler verfolgt. Weil Vorlenz ständig Schwierigkeiten hat, Arbeit zu finden, gerät er nicht selten in Konflikt mit dem „Hausmeister des Staates“ (ebd., 271), der Polizei, und sei es nur, weil sie das Bettelverbot exekutiert. „Man hatte zwar keine Arbeit, verbot aber das Betteln. Eine Weisheit, an der Salomo verzweifelt wäre.“ In dieser Lage, als Beherrschter und Subalterner, kann sich auch Vorlenz das

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Stiegenhaus als halböffentlichen Raum zunutze machen und „fand einen friedlichen Ausweg. Er besuchte seine Kunden in den Häusern und klopfte sich von Tür zu Tür.“ (Ebd.) Dass ein radikaler Abbau des Elends weder Besitz- noch Geschlechterverhältnisse bestehen lassen kann, führt Andreas Thom auf den letzten Seiten seines Textes vor, wo er die Vision einer alternativen Gesellschaftsordnung andeutet. Sie wird realisiert und ermöglicht in einem Geschäftshaus, einem Antiquariat, das für Thomas, den Sohn des Protagonistenpärchens Vorlenz und Brigitte, zum Fluchtpunkt wird. Zentral für die Gestaltung der alternativen Gemeinschaft ist die Unterminierung der tradierten Hausordnung auf mehreren Ebenen: Mit der familiären Raumeinheit wird gebrochen, Thomas verlässt die Wohnung, übersiedelt in das Geschäft. In der alten Wohnung, aus der mittlerweile die ganze Familie weggezogen ist, lässt er Agnes wohnen, ein Mädchen aus seinem Haus. Er schenkt ihr alles, wobei er „hie und da nachschauen kam, was der Kasten machte, ob der Tisch noch stand und wie man auf dem Sessel saß, wenn Agnes daneben sitzt“ (ebd., 486). So die Schlussworte des Romans. Mit der Aufhebung der an Familie orientierten Besitzordnung und Wohneinheit entstehen „unordentliche“ Beziehungsverhältnisse: Die zärtlichen erotisierten Verbindungen zwischen Thomas und Agnes sowie zwischen Thomas und Herrn Berg, dem Buchhändler, werden nicht amtlich, bleiben in ihrem Status offen. Neben der geschlechtlichen Binarität und den familiären Subjektpositionen wird selbst die Heteronormativität in Frage gestellt: Herr Berg mit der Frauenstimme ist Vater, Mutter, Freund und potenzieller Liebhaber seines Angestellten. Die stete vergebliche Suche nach dem Mannsein im Elternhaus von Thomas wird mit der Aufhebung der Hausordnung suspendiert.

4. G EMEINSCHAFTSEXPERIMENTE DES S TAATSGEISTES ?

JENSEITS

Wie lassen sich nun die verschiedenen Ausgestaltungen staatsfreier Räume zusammendenken? Zeigen sich verschiedene Anliegen? Ergeben sie eine gemeinsame Fiktion, vielleicht sogar eine Staatsfiktion? Der Roman Geburt ist schon durch die zahlreichen Bezüge zu verschiedenen Kulturen als ganz grundlegende Auseinandersetzung mit staatlichen und männlichen Autoritäten gestaltet. Die Demontage der Ordnung kann nicht auf eine Kritik der Monarchie und Vorkriegszeit reduziert werden, in der die Handlung angesiedelt ist. Mit seinen zahlreichen essayistischen Passagen und seiner faszinierenden Arbeit an der Sprache zielt der Text weniger auf die Destruktion konkreter Institutionen und Gesetze ab, als auf die philosophische Widerlegung und Kritik institutionalisierter Macht- und Geschlechterverhältnisse. Herkömmliche Kategorisierungen, wie sie in traditionelle Haus- und Gemeinschaftskonzepte eingeschrieben sind, werden samt ihren Wirkungen von verschiedenen Seiten beleuchtet. Facettenreich führt

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die Autorin vor, wie dadurch die Ausbildung personaler Identitäten eingeschränkt wird und dass die Beschränkung auch lebensbedrohend sein kann. Gegen diese Gefahr liefert sie Denk- und Handlungsräume, in denen es möglich ist, sich gegenüber dem Staatsgeist mit seinen vereinheitlichenden und dichotomisierenden Rasterungen zur Wehr zu setzen. Im Gegensatz dazu sind die Auseinandersetzungen mit der Ersten Republik in Sintflut sowie Vorlenz und Brigitte als Wege aus dem zeitgenössischen Elend zu verstehen. Beide Romane kritisieren den zeitgenössischen Staat, der durch Krieg und Wirtschaftskrise, durch militärische Aktivitäten und Rückzug in ökonomischen und sozialen Belangen immer wieder vergegenwärtigt wird. Da wie dort zerstört er die jungen Gemeinschaften, die männliche Herrschaft triumphiert in Gestalt von Gewaltakteuren und Spekulanten. Aber wird der Staat hier nur destruktiv gedacht? Kommt mit der Republik, wie von Bakunin prophezeit, nur weitere Unterdrückung, weil der Staat bleibt? Gegen eine anarchistische Positionierung der beiden Romane spricht, dass die Strategien der Frauen als Verhandlungen um den Staat zu lesen sind. Zwar sind sie als Gattinnen, Töchter, Mütter auf den halböffentlichen Zwischenraum angewiesen, um der Gewalt, der Enge, der Einsamkeit und dem Elend innerhalb der Wohnungen zu entfliehen. Aber sie brauchen und nützen ihn nur, um aus den Familienwelten auszubrechen, als Ausstiegshilfe und Zwischenstation. Die gegenseitige Unterstützung, laienhafte oder professionalisierte Kinderbetreuung, ihr Kampf um Arbeit sind Teil von Emanzipationsbestrebungen, die nicht auf die Abschaffung, sondern auf Veränderung des Staates gerichtet sind. Die Frauen versuchen ihre neue Rolle als Staatsbürgerinnen zu leben: in politischen Parteien und als gleichwertige Arbeitskräfte. Dass diese Aufbrüche in beiden Romanen fast durchgehend scheitern, bedeutet nicht, dass eine Rückkehr angezeigt wäre. Andreas Thom entwirft auf den letzten Seiten eine unkonventionelle Reorganisation der Gesellschaft und Robert Neumann kündigt ein nächstes Buch an, das „von der neuen Besiedelung der Erde handeln soll“ (Neumann 1929, 4). Gerade durch das abrupte Ende bleibt offen, was jene Gedanken- und Gemeinschaftsexperimente längerfristig bringen, die sich staatlich kanonisierten Denkweisen widersetzen und außerhalb patriarchal familiärer und kapitalistischer Ordnungen konstituiert sind: Werden sie zu Staat? Sollen sie zu Staat werden? Im Text Lichnowskys gehören zu den Experimenten die Zusammenkünfte der Tafelrunde im Landhaus, in die sich eine Frau, eine Häuslerin, hineinschreibt, sowie das Geschäftshaus ohne Gewinnabsichten, wo sich Anarchist und „Hausmeister des Staates“ finden. In diesem Roman von 1921 geht es um radikale Destabilisierung, ein Bemühen, das sich schon vom Prinzip her jeder Verstaatlichung widersetzt: Hier soll nichts verstaatlicht werden, sondern im Gegenteil: Jede Fixierung, Verallgemeinerung und Kategorisierung wird als Gewaltakt abgelehnt. Das gilt ebenso für die ökonomische Vereinheitlichung, durch die Objekte und Güter reflexartig nach Aspekten der Verwertbarkeit und des Konsums vermessen werden. Indem

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jeder Ansatz von Monopolisierung und Staatlichkeit radikal demontiert wird, kann von einer anarchistischen Anlage des Romans gesprochen werden. Anders sind die Experimente in den Romanen von Neumann und Thom, weil es aus Klassengründen und wegen staatlichem Rückzug um Existenzfragen und insofern auch um Fragen des Wohlfahrtsstaates geht: Hier bieten Mehrparteienhäuser temporären Ausgleich, Hilfestellungen und den Frauen eine Möglichkeit aus den privaten Zwangsverhältnissen auszubrechen. Damit gelangen sie durch die Gemeinschaftsräume mit ihrer Beziehungs-, Vermittlungs- und Entlastungsfunktion in den öffentlichen Raum, wo sie stabilere und gerechtere Verhältnisse fordern können: Eine Veränderung der staatlich geregelten ökonomischen Ordnung ist notwendig, die über die Polarisierung von Hungersnot und Millionengewinnen ausgestellt wird. Die Hausgemeinschaften halten diesem Spagat nicht stand – und die Republik hielt auch nicht stand. So lesen sich die beiden Romane nicht als Absage an den Staat, sondern als Forderung nach Veränderung. Wie der Staat verändert werden soll oder die staatsfreie Welt auszusehen hat, wird in den drei Texten nicht eindeutig ausgewiesen. Ihr kritisches Potenzial realisieren die Romane nämlich nicht, indem sie Lösungen liefern: Der Blick auf die Häuser und aus den Häusern hinaus ist immer ein anderer – vermittelt durch unterschiedliche Erzählfiguren, direkt gestaltet in Rede und Inneren Monologen. Die Sprache deckt auf und stellt Fragen, statt Antworten zu liefern: „der Hausmeister des Staates“, die Weisheit, an der Salomo verzweifelt, „der leibhaftige Engel“, die Stimme, die auf dem Bauch zu kriechen schien, die misstönig wilde kreischende Melodie bei der Demonstration, die Häuslerin. Keine ökonomische oder wissenschaftliche Deutungshoheit vermittelt das, was man mit Lichnowsky (2008, 36) die „königliche [...] Autorität in den Augen Tausender“ nennen könnte. Bakunins zuständige Männer, Schullehrer, Staatsbeamte, Vormünder und Hirten kommen nicht zu Wort. So sind die Ziele nicht ausgewiesen, kein Raster steht zur Verfügung, keine Ordnung, die zu Staat werden soll. Im Moment des Zusammen- und Aufbruchs enden die vielen Lebensläufe, enden die Romane: mit den Fahnen im Wind, mit dem Arrangement der beiden Sessel in der alten Wohnung. Staatsfreier Raum wurde aufgetan. Die Leserinnen und Leser sind zur Gestaltung eingeladen.

L ITERATUR Bakunin, Michael 1995: Gott und der Staat. Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Hg. von Wolfram Eckhardt, Einleitung von Paul Avrich. Berlin. Becker-Schmidt, Regina 2007: „Class“, „gender“, „ethnicity“, „race“: Logiken der Differenzsetzung, Verschränkungen von Ungleichheitslagen und gesellschaftliche Strukturierung. In: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp/Birgit Sauer (Hg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von

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Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt am Main/New York, 56– 83. Bourdieu, Pierre 1991: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume. Frankfurt am Main/New York (= Die Zukunft des Städtischen. Frankfurter Beiträge, Bd. 2), 25– 34. Bourdieu, Pierre 1998: Staatsgeist. Genese und Struktur des bürokratischen Feldes. In: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main, 91–136. Bourdieu, Pierre 2008: Flaubert. Einführung in die Sozioanalyse. In: Dorothee Kimmich/Rolf G. Renner/Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart, 91–105. Eckhardt, Wolfgang 1995: Vorbemerkung. In: Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Hg. von Wolfram Eckhardt, Einleitung von Paul Avrich. Berlin, 9–17. Foucault, Michel 2000: Staatsphobie. In: Ulrich Bröckling (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main, 68–71. Ghanbari, Nacim 2007: Kafka. Die Hausordnung. In: Arne Höcker/Oliver Simons (Hg.): Kafkas Institutionen. Bielefeld, 17–31. Habermann, Friederike 2009: Freiheit, Gleichheit, Ausschluss. Staatlichkeit und Intersektionalität. In: Gundula Ludwig/Birgit Sauer/Stefanie Wöhl (Hg.): Staat und Geschlecht. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen feministischer Staatstheorie. Baden-Baden, 199–213. Lévi-Strauss, Claude 1986: Stillstand und Geschichte. Plädoyer für eine Ethnologie der Turbulenzen. In: Ulrich Raulff (Hg.): Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven. Berlin, 68–87. Lévi-Strauss, Claude 1987: Anthropology and Myth. Lectures 1951–1982. Oxford/New York. Lichnowsky, Mechtilde 2008: Geburt. Liebe, Wahnsinn, Einzelhaft. Hg. von Evelyne Polt-Heinzl. Wien. Neumann, Robert 1929: Sintflut. Stuttgart. Schroer, Markus 2006: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt am Main. Thom, Andreas 1930: Vorlenz der Urlauber auf Lebenszeit und Brigitte die Frau mit dem schweren Herzen. Zürich. Weber, Max 1980: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Hg. von Johannes Winckelmann. Tübingen. Wilhelmy, Petra 1989: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914). Berlin/New York (= Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin, Bd. 73).

Wiener Mädel als Stützen des Staates? Geschlechterordnung im Wiener Film der 1930er Jahre M ARTIN W EIDINGER

1. W IENER F ILM

UND

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Wann ist ein Film ein „Wiener Film“, was macht ihn dazu? Die eindeutige Begriffsklärung erscheint nicht ganz einfach, trotzdem ist der Wiener Film nichts Unbekanntes oder gar Mysteriöses. Die Vorstellungen davon, wie er aussieht, sind mithin doch sehr konkret. Walzer und Heurigen, Bälle und Operetten, der Prater, junge Leutnants und sogenannte „Wiener Mädel“ kommen in den Sinn, ebenso wie die Gesichter und Stimmen von Schauspielerinnen und Schauspielern, die integraler Teil dieses Universums sind – Willi Forst und Paula Wessely, Hans Moser, Paul Hörbiger, Oskar Sima und noch einige mehr. Treffend betitelt der Filmhistoriker Armin Loacker (2010) einen einführenden Text zum Wiener Film denn auch mit Der Wiener Film – bekannt, mit unbekannten Variablen. Die Grundidee erscheint vertraut, lediglich die inhaltlichen Versatzstücke variieren von Film zu Film geringfügig. Wesentlich ist zweifelsohne der Schauplatz Wien, auch wenn selbst hier Ausnahmen nicht gänzlich undenkbar sind (vgl. ebd., 76). Unverzichtbar sind aber vermeintlich typisch wienerische Atmosphäre und Milieu sowie charakteristische Figuren und Typen als zentrale Elemente des Genres. Dem Wiener Mädel kommt dabei eine prominente Rolle zu. Ein Wiener Film erzählt eine Geschichte, die nahe am Melodramatischen angesiedelt ist, immer wieder aufgelockert durch Elemente des Comic Relief, mit einer Liebesgeschichte in ihrem Zentrum. Die Rolle von Musik ist zentral. Die Filme sind zwar keine Musicals, es besteht aber zweifelsohne eine Nähe zur Operette. Beim Heurigen angesiedelte Szenen sind ebenso häufig Teil der Handlung wie Ball- bzw. Tanzszenen, die oft die Kulisse imperial-prunkvoller Festsäle ins Bild rücken. Militär, Soldaten und Offiziere sind wesentliche Charaktere im Kosmos des Wiener Films. Die Zeit der Handlung ist freilich weit offener, als es das Klischee vom „Wien um 1900“ vermuten lässt. Vom Biedermeier bis in die Jahre des austrofaschistischen

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Ständestaates, ja bis in die 1950er Jahre ist im Wiener Film alles möglich. Zuletzt bleibt noch ein Punkt hinzuzufügen: Die Wiener Filme der 1930er Jahre mussten nicht zwingend österreichische Produktionen sein. Sie konnten in Deutschland hergestellt werden, was aber nahezu immer bedeutete, dass österreichisches Personal tragend an der Produktion beteiligt, meist für sie verantwortlich war. Die Sprache, „[d]ie Karte, die beim Wiener Film alles sticht“ (ebd.), muss dafür als wesentlicher Grund genannt werden. „[D]er betont dialekthaft gefärbte, melodiöse Duktus des Wienerischen“ (ebd.) ist nur Schauspielerinnen und Schauspielern aus Wien zu eigen. Trotzdem funktionierte der Wiener Film einige Zeit lang auch abseits des deutschen Sprachraums hervorragend – bis 1930 selbstverständlich auch ganz ohne Sprache. So widmete sich Erich von Stroheim schon in den 1920er Jahren in Hollywood eingehend dem Wien um 1900, das er selbst vor dem Ersten Weltkrieg verlassen hatte. In der frühen Tonfilmzeit drehte Alfred Hitchcock 1934 in England mit Waltzes from Vienna einen Film über Johann Strauß Vater und Sohn, und der deutsche Emigrant Max Ophüls produzierte 1948 in den USA eine berühmte und vielgesehene Verfilmung der Novelle Brief einer Unbekannten von Stefan Zweig (Letter from an Unknown Woman).1 An den Ausgangspunkt meiner Reflexionen möchte ich jene Figur stellen, die so zentral für die Wiener Filme dieser Periode erscheint: das Wiener Mädel, oft auch nur als „süßes Mädel“ bezeichnet. Vor allem die Literaturwissenschaft hat sich eingehend mit der Figur auseinandergesetzt und sich dabei in erster Linie auf das Werk Arthur Schnitzlers bezogen (z.B. Janz 1977; Klüger 2001). Im Wiener Film ist es eine fixe Größe und vielfach Angelpunkt der Handlung. Elisabeth Büttner und Christian Dewald (1997, 290f.) betonen die Wichtigkeit der Atmosphäre des Ortes Wien – vor allem seiner Randzonen – für die Aura des süßen Mädels und heben die Patenschaft Schnitzlers hervor. Erst dieses ortstypische Milieu ist es, in dem die Figur entstehen und existieren kann, die alleine in den österreichischen Filmen der Untersuchungsperiode in vielen, unterschiedlich nuancierten Ausformungen auftritt. Alexandra Seibel (2010, 109f.) weist in einem Text zum Topos dieser Frauenfigur auf die widersprüchlichen Konzeptionen von Weiblichkeit hin, die ihr zu eigen sind. „[T]raditionelle Aspekte wie sexuelle Unerfahrenheit und Abhängigkeit von männlicher Autorität […], aber auch emanzipierte Merkmale wie berufliche Unabhängigkeit […] und selbstbestimmte sexuelle Freiheit“ finden sich in den verschiedenen „Mädeln“ des Kinos nebeneinander. Dementsprechend sieht Seibel die Figur vor allem als eine, an der Widersprüche aufbrechen, „die sich aus dem Konflikt

1

Ophüls’ Film beginnt mit der Einblendung „Vienna about 1900“, die 1948 in den USA als Signifier ganz offensichtlich stark genug war, um sofort die Idee der oben angesprochenen „typischen Atmosphäre“ in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer entstehen zu lassen. Die Liste der internationalen Beispiele für Wiener Filme ließe sich noch fortsetzen.

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zwischen traditionellen Vorstellungen von normierten Geschlechterrollen und den tatsächlichen Anforderungen einer modernen und modernisierten Welt ergeben“ (ebd., 110). In meinem Beitrag werde ich mich mit zwei österreichischen Produktionen der 1930er Jahre beschäftigen, jener Periode, die als „große und prägende Zeit des Wiener Films“ (Loacker 2010, 71) gelten kann. In der Untersuchung von Willi Forsts Maskerade (1934) und Werner Hochbaums Vorstadtvarieté (1935) möchte ich die Frage nach den Zusammenhängen von gesellschaftlicher Ordnung bzw. Unordnung und dem den Filmen unterlegten Verständnis von Geschlechterherrschaft stellen. Entlang dieses Motivs von Ordnung/Unordnung und anhand der Figur des Wiener Mädels lassen sich nun – so die Annahme – diese Brüche und Widersprüche zwischen Tradition und Moderne und die ihnen unterlegte Geschlechterherrschaft freilegen und diskutieren. Die Untersuchung der Filme bzw. zentraler Szenen ist von der Grundprämisse geleitet, dass die Legitimation hegemonialer Geschlechterverhältnisse eng mit jener der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung verbunden ist. Aufzeigen möchte ich nicht nur, inwieweit traditionelle Begründungsmuster zur Herrschaftslegitimation bemüht werden, sondern auch welche Rolle hier unter besonderer Beachtung der Figur des Wiener Mädels die Bezugnahmen auf das Motiv der Familie spielen.

2. D IE UNBEDINGT BEWAHRENSWERTE (S CHEIN -)O RDNUNG : W ILLI F ORSTS M ASKERADE (1934) Maskerade ist zumindest auf das österreichische Filmschaffen bezogen wohl das populärste und auch meistzitierte Beispiel eines Wiener Films (vgl. Loacker 2010, 71). Darüber hinaus handelt es sich dabei um das international erfolgreichste Exemplar eines Wiener Films aus Österreich, das dem Regisseur Willi Forst und seiner Hauptdarstellerin Paula Wessely weit über den deutschsprachigen Raum hinaus Anerkennung brachte (vgl. Dassanowsky 2005, 51). Die Handlung ist im mythischen und aus der Zeit gehobenen Wien um 1900 angesiedelt, das vor allem auch über Österreich hinaus ein so wirkungsstarker Code für jene bestimmte Wiener Atmosphäre ist. Als zentrale Frauenfigur steht Leopoldine („Poldi“) Dur im Mittelpunkt – eine junge Frau niederen Standes und nahezu ohne Mittel, die sich als Vorleserin und Gesellschafterin bei einer alten Fürstin über Wasser hält. Durch Leichtsinnigkeiten, Manipulationen, Zufälle und Verwechslungen in einer höheren gesellschaftlichen Schicht gerät die einfache und anständige Poldi an den Frauenhelden und sogenannten „Gesellschaftsmaler“ Heideneck. Die beiden verlieben sich – vor der Auflösung im Happy End wird Leopoldine allerdings noch mit den Intrigen einer eifersüchtigen Geliebten des Malers konfrontiert und Heideneck landet schließlich erst durch einen Pistolenschuss endgültig in Poldis Armen.

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Die Ausgangssituation in Maskerade erscheint als eine der gesellschaftlichen Ordnung. Nach kurzer Zeit stellt sich jedoch heraus, dass es sich dabei lediglich um eine an der Oberfläche bestehende Scheinordnung handelt, die nur wenige Minuten nach Beginn der Handlung bereits empfindlich gestört wird. Die Ehefrau eines angesehenen Arztes bringt Bewegung (lies: Unordnung) in das statische Bild. Sie verlässt einen Ball, um Heideneck, dem der Ruf des notorischen Frauenhelden anhaftet, in sein Atelier zu begleiten. Dort lässt sie sich von ihm nur mit einem Pelzmuff und einer Maske bekleidet malen. Das Bild erscheint am nächsten Tag auf der Titelseite einer Zeitschrift, Dr. Harrandt glaubt, die zukünftige Gattin seines Bruders – die eigentliche Besitzerin des Muffs – dort verewigt zu sehen. Der Skandal ist perfekt und muss schleunigst in den Griff bekommen werden – es gilt nichts weniger, als ein Duell abzuwenden. Die Ordnungsstörung durch den Bruch sozialer Konventionen führt zu genretypischen Missverständnissen und Verwechslungen. Heideneck erfindet einen Namen, um den Brüdern Harrandt zu versichern, dass es eine ihnen fremde Frau war, die sich nackt von ihm hat malen lassen. Der erfundene Name gehört jedoch einer realen Frau, Leopoldine Dur, die vom Bruder des Arztes aufgesucht und somit in den Mittelpunkt der Erzählungshandlung gerückt wird. Ihre Aufgabe ist es fortan nicht nur, die genretypische Liebesgeschichte zwischen dem süßen Mädel niederen Standes und dem Mann aus höheren sozialen Sphären möglich zu machen, sondern vor allem die Unordnung, die nun auch in ihr eigenes Leben eingedrungen ist, wieder einem unbedingt als erstrebenswert geltenden Gleichgewicht der Ordnung zuzuführen. Der Schuss von Heidenecks ehemaliger Geliebten auf den Maler ist jenes dramaturgisch notwendige Element der Zuspitzung, das letztendlich das Überwinden von Unsicherheiten und Hindernissen ermöglicht bzw. beschleunigt. Heideneck liegt verletzt und hilflos im Krankenbett, Leopoldine übernimmt die komplementäre Rolle der Krankenpflegerin. Die etwa 15 Minuten lange Schlusssequenz überführt die vorübergehende Unordnung schließlich wieder in einen, wie der Film glauben macht, dauerhaften Zustand der Ordnung. Sie gipfelt in der abschließenden Zusammenführung Leopoldines mit Heideneck an dessen Krankenlager. Wie in Maskerade das Wiener Mädel gezeichnet ist, möchte ich nun im Detail anhand dieser letzten Szene aufzeigen. Was zu diesem Abschluss und Höhepunkt des Films hinführt, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Heideneck, der Leopoldine ins Palais der Gräfin nachgekommen war, wird vor dem Haus von seiner ehemaligen Geliebten angeschossen. Leopoldine und der Hausbesorger und Gärtner bringen den Verletzten ins Gewächshaus, damit im Haus niemand etwas von der skandalösen Angelegenheit mitbekommt. Leopoldine holt schließlich einen Arzt – Professor Harrandt, den Mann der von Heideneck nur in Muff und Maske gemalten Frau. Heidenecks Verletzung ist nicht allzu schwer. Einem glücklichen Ende der Erzählung steht also nichts im Weg. Während Harrandt in Begleitung einer Krankenschwester nach Heideneck sieht und ihm die Kugel herausschneidet, wartet Leopoldine vor dem Haus im Schnee. Es

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ist bereits dunkel. Durch die Scheiben des Gewächshauses beobachtet sie angespannt, was im Inneren vor sich geht. Die Scheiben sind teilweise mit Schnee bedeckt, im Inneren brennt Licht, die Kamera zeigt nur Schatten und Umrisse. Arzt und Krankenschwester verlassen das Haus. Leopoldine darf nun zum Verletzten. Als sie sich diesem vorsichtig nähert, setzt langsame, süßliche Walzermusik ein. Leopoldines angespannte Haltung und Mimik lösen sich, als sie näher an das Krankenlager herantritt. Die Kamera fokussiert währenddessen ihren Oberkörper und begleitet ihre langsamen Schritte. Mit einer Hand hält sie am Hals ihren Umhang geschlossen. Sie bleibt, im Gegensatz zu anderen Mädeln aus Wiener Filmen auch am Ende des Films in ihrer hochmoralischen Rolle der (Jung-)Frau (ohne Unterleib) verhaftet. Bereits mit der Andeutung eines Lächelns setzt sie sich zu Heideneck an das improvisierte Bett. Leopoldine tritt – zuerst noch in einer Halbtotalen fotografiert – immer näher an die Kamera heran, bevor eine halbnahe Einstellung sie an Heidenecks Krankenlager sitzend zeigt. Die Musik verstummt und Leopoldine spricht zu Heideneck, der mit geschlossenen Augen vor ihr liegt: „Geschieht dir ganz recht, dass du jetzt so daliegst. Ganz anders hätt’s noch kommen sollen. S’wär alles noch zu wenig gewesen für dich. Liegen lassen hätt’ ich dich sollen draußen im Schnee. Weil ihr alle miteinander nicht wert seid, dass man sich um euch kümmert. Ihr Mannsbilder, ihr gemeinen, ihr schlechten.“ Die Einstellung bleibt währenddessen unverändert, Leopoldine hält ihren Kopf leicht zur Seite und nach unten geneigt. Heideneck liegt auf Brusthöhe Leopoldines, sodass das Bild wohl nicht zufällig an eine Pietà-Darstellung erinnert. Abbildung 1: Leopoldine am Krankenlager

Szene aus Maskerade

Beim letzten Wort Leopoldines erfolgen ein Schnitt und ein Perspektivenwechsel. Eine Halbtotale zeigt nun Heidenecks Gesicht, seine Augen sind vorerst noch geschlossen, aber ein Lächeln wird deutlich. Er spricht dann

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die letzten Worte des Films: „Schimpf weiter, Poldi, schimpf nur weiter.“ Er sieht sie an und berührt ihre Wange. Poldi nimmt seine Hand und hält sie fest. „Sie nimmt in dieser [...] ‚Wiedergeburtsszene‘ buchstäblich sein Leben in ihre Hände.“ (Seeßlen 2003, 49) Die Kamera erhebt sich, fährt zurück und zeigt die beiden in einer Totalen von oben. Sie verharren unbeweglich, ihre Augen sind geschlossen, als würden sie schlafen, Leopoldine hält Heidenecks Hand. „Das Schlussbild von Maskerade fixiert das süße Mädel in einer traditionellen Rolle als kleinbürgerliche Frau, Mutter und Krankenschwester.“ (Seibel 2010, 116) Sowohl in der Annäherung Leopoldines an das Krankenbett und insbesondere während des abschließenden Dialogs wird dies durch die Kameraarbeit unterstrichen. Die Mutterrolle der Protagonistin wird in diesen letzten Augenblicken des Films deutlich akzentuiert. Leopoldines Worte ebenso wie Heidenecks kurze Replik affirmieren auf programmatische Weise die hegemonialen Geschlechterverhältnisse, wie sie Forsts Film prägen und von diesem fortgeschrieben werden. Das Wiener Mädel ist traditionell jene Figur, die das Unordnungsverhältnis in ein geschlechternormiertes Ordnungsverhältnis überführt. Als Harrandt seinen Patienten verlässt, übergibt ihm Leopoldine die kleine Pistole seiner zukünftigen Schwägerin, die sie im Schnee vor dem Palais gefunden hat. Dem Arzt dämmern die möglichen dramatischen Konsequenzen. Leopoldine aber entgegnet nur: „Nicht, Herr Professor. Denken Sie nicht mehr an die ganze Geschichte. Und den da drinnen – den werd’ ich mir ganz allein vornehmen!“ Harrandt ist beruhigt: „So. Na, dafür dank’ ich Ihnen jedenfalls im Namen aller Ehemänner von Wien.“ Alles ist (wieder) in Ordnung, alles kann bleiben, wie es war. Dann, so meint er, schaffe er es ja, wenn er sich beeile, noch rechtzeitig zur großen Arie im dritten Akt zurück in die Oper. Harrandt gibt die kleine Pistole in der Dunkelheit der Loge ihrer ebenso schuldbewusst wie dankbar lächelnden Besitzerin zurück, während Caruso La donna è mobile singt. Damit wird die Störungsanfälligkeit der wiedergewonnenen Ordnung angedeutet und diese als vorübergehende Scheinordnung interpretierbar.

3. U NORDNUNG IM „ EWIGEN “ W ERTEGEFÜGE : W ERNER H OCHBAUMS V ORSTADTVARIETÉ (1935) Vorstadtvarieté, nur ein Jahr nach Maskerade entstanden, unterscheidet sich in mehrerlei Hinsicht markant von Forsts Erfolgsfilm. Der Regisseur, Werner Hochbaum, war Deutscher und zu diesem Zeitpunkt aus politischen Gründen im österreichischen Exil. Sein kommunistischer Hintergrund machte ihn bereits früh den Nationalsozialisten suspekt. Auch filmisch hatte er sich mit Brüder (1929), einem klassenkämpferischen Werk über einen Hafenarbeiterstreik in Hamburg 1896/97, bereits eindeutig links positioniert. Bevor er nach Österreich kam, war er bereits mehrfach verhaftet und verhört worden (vgl. Büttner/Dewald 2002, 44). Wie Maskerade spielt Vorstadtva-

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rieté noch zur Zeit der Habsburgermonarchie, wenn auch bereits sehr nahe an derem Ende – im Jahr 1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Der Film basiert auf einem 1899 verfassten Bühnenstück von Felix Salten mit dem Titel Der Gemeine, dessen Aufführung 1901 in den k.u.k. Ländern aufgrund von „Verächtlichmachung des Offiziersstandes“ verboten wurde (ebd.). Büttner und Dewald weisen darauf hin, dass seitens des Regisseurs eine bewusste Verschiebung der Erzählhandlung vom ausgehenden 19. Jahrhundert an diesen kriegsnahen Zeitpunkt stattgefunden hatte, und betonen, dass diese Entscheidung „mentale Muster von 1934/35 einbegreift“ (ebd.). Typisch, ja unverzichtbar für den Wiener Film steht auch hier eine Liebesgeschichte im Zentrum. Mizzi Ebeseder entstammt einer Familie von Varietékünstlerinnen und Varietékünstlern. Ihr Bruder Franz und ihre Mutter betreiben ein einschlägiges Lokal im Prater: „die Praterspatzen“. Josef Kernthalers Hintergrund ist ein gänzlich anderer. Seine Eltern sind Bauern in der Wachau, traditionsverhaftet, konservativ und katholisch. Mizzi und Josef lieben einander und möchten heiraten. Josef arbeitet als Bauzeichner in Wien, Mizzi lebt bei ihrer Familie. Vor allem ihr Bruder möchte Mizzi überreden, im Varieté als Sängerin aufzutreten. Josef ist entschieden dagegen, er hat eine geradezu pathologische Abneigung gegen das Milieu, aus dem Mizzi stammt und in dem sie sich bewegt. Die Vorstellung, dass sie als seine Verlobte weiterhin bei ihrer Familie leben soll, während er seinen Militärdienst ableistet, ist ihm unerträglich. Zwischen den Erwartungen verschiedener Männer an sie – zuvorderst sind da Josef und ihr Bruder, im Weiteren betritt auch noch ein junger Offizier die Szene – wird die junge Frau „aufgerieben“. Sie erträgt den Druck nicht mehr und beschließt, Selbstmord zu begehen. Die ständestaatliche Zensur zwang Hochbaum schließlich, dieses Ende durch ein Happy End zu ersetzen, in dem Josef Mizzi im letzten Augenblick am Sprung von der Brücke auf die Eisenbahngleise hindert und in die Arme nimmt. Die Figuren und Milieus von Vorstadtvarieté erscheinen vordergründig geradezu prototypisch für den Wiener Film. Das dürfte auch Grund genug dafür sein, dass der Film für gewöhnlich ohne Einschränkung als solcher klassifiziert wird. Bei genauerem Hinsehen unterscheidet er sich in der Zeichnung seiner Figuren ebenso wie in der jener vermeintlich typischen Milieus geradezu radikal von anderen Produktionen dieses Genres. Zu Beginn der Handlung scheint zumindest für die Protagonistinnen und Protagonisten alles in Ordnung zu sein. Josefs Vater, zu Besuch aus der Wachau, soll Mizzi kennenlernen und von der geplanten Hochzeit erfahren. Gleichzeitig schleichen sich jedoch in diese frühen Szenen bereits Irritationen ein, die bevorstehende Konflikte erahnen lassen. Mizzis Herkunft und Hintergrund im Volkssängerinnen- und Volkssängermilieu sind Josef ein Dorn im Auge. Mizzis Bruder Franz, Prinzipal der „Praterspatzen“, fungiert hier als Gegenspieler Josefs. „Ich bin ein echtes Wiener G’müt von sonnigem Hamour“, singt der Schauspieler Oskar Sima in dieser Rolle. Der Kontrast zu Josefs Selbstbild und Herkunft könnte nicht größer sein. Die karge und

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streng katholische Welt des elterlichen Bauernhofes rückt der Film in seinem einzigen Exkurs über Wien hinaus ins Bild. Josef hat jedoch einen Großteil seiner Kindheit und Jugend bei einer Tante in Berlin verbracht. Das erklärt seine nichtwienerische Sprache, die ihn unmittelbar als Außenseiter markiert.2 Zur ländlich-katholischen Prägung durch sein Elternhaus kommt ein preußisch-protestantisches Element hinzu und markiert ihn auch in dieser Hinsicht als „anders“ und als nicht typisch wienerisch. Josef erweist sich zunehmend als selbstgerecht, lustfeindlich und schließlich auch gefühlskalt. Von „sonnigem Hamour“ fehlt bei ihm jede Spur. Trotzdem liebt Mizzi ihn. Bereits in der Verlobungsszene stellt ihr Josef die Frage, ob sie nun zu ihm oder zu denen gehöre. Dies wird sich im Verlauf des Films noch einige Male wiederholen. Vor allem möchte Josef um jeden Preis verhindern, dass seine zukünftige Frau als Sängerin auf die Vorstadtbühne steigt. Genau das ist es aber, was nicht nur ihr Bruder Franz, sondern auch sie selbst möchte. Um Josef zu gefallen, gibt sie seinen Forderungen nach und zieht vorübergehend zu seinen Eltern aufs Land, als er seinen mehrjährigen Militärdienst antritt. All das erscheint als Selbstaufgabe der liebenden Frau. Sie kommt jedoch mit der strengen Ordnung und den ländlichen Hierarchien nicht zurecht. In der patriarchalen Welt des Kernthaler’schen Hofes ist es weniger Josefs Vater als seine strenge Mutter, die den Ton angibt. Ein weißes, spitzenbesetztes Kleid, das Mizzi aus Wien mitgebracht hat, vielleicht in dem Glauben, auch in der Wachau Gelegenheiten zu finden, es zu feierlichen Anlässen, zu Tanz und Gesang anzuziehen, wird zum Symbol für das liederliche Großstadtleben. Josefs Mutter tritt verächtlich mit den Schuhen darauf, als Mizzi es in ihrem Zimmer aus dem Koffer holt. Für die Mutter repräsentiert das Kleid nicht nur die städtische Unmoral schlechthin, sondern es steht für ein Unordnungsprinzip, das mit einer Frau wie Mizzi die „ewige“ (Geschlechter-)Ordnung zu stören droht. In Josefs Abwesenheit weiß dann aber auch Mizzis Bruder seinen Einfluss wieder auszuspielen. Er holt Mizzi zurück nach Wien, ein junger Leutnant umgarnt sie und sie entschließt sich, doch aufzutreten. Just in diesem Augenblick taucht Josef im Prater auf und fordert erneut die ultimative Entscheidung von Mizzi: „Zum letzten Mal: Bleibst bei mir oder bei denen da?“ In dieser Schlüsselszene gegen Ende des Films laufen die zentralen Konfliktlinien zusammen. Mizzi steht kurz vor ihrem ersten Auftritt als Sängerin. Vor dem Lokal kündigt ein Plakat das Ereignis an. Auch Josef sieht es. Mizzi wird inzwischen in ihrer Garderobe vom Leutnant umworben, der immer wieder Blumen schickt und hofft, die junge Frau für eine Liebesaffäre zu gewinnen. Schließlich betritt Josef per Hintereingang das Lokal. Mizzis Mutter, ihr Bruder und dessen Partnerin halten sich in dem Raum auf. „Wo ist die Mizzi … ich will wissen, wo die Mizzi ist.“ Josefs geradezu ob-

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Er wird von dem deutschen Schauspieler Mathias Wieman verkörpert, der diesen typischen Duktus des Wienerischen, auf den ich in der Einleitung verwiesen habe, nicht beherrscht.

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sessive Abneigung gegen das Volkssängerinnen- und Volkssängermilieu lässt ihn die Kontrolle verlieren. Seine Aussagen lassen darauf schließen, dass für ihn zwischen einer Volkssängerin und einer Prostituierten wenig Unterschied besteht. Er wolle „keine Volkssängerin, die von Hand zu Hand gegangen ist“, brüllt er. In diesem Moment der Auseinandersetzung betritt Mizzi den Raum. Sie trägt ihre Bühnenkleidung: Uniformjacke, Kappe, Stiefel und einen Säbel, dazu einen kurzen Rock. Josef ist fassungslos und traut seinen Augen nicht. Mizzi entgegnet nur, „No – jetzt schau’ ich grad’ so aus wie du“, und salutiert. Die Kamera fährt daraufhin langsam an Mizzi nach unten und nach einem Schnitt an Josef hoch. Seine Uniform ist im Gegensatz zu Mizzis schmucklos, seine Fäuste sind geballt, sein Blick drückt Verachtung, ja Hass aus. Mehr als „Adieu“ kommt ihm nicht mehr über die Lippen. Er ist kein überzeugter oder gar begeisterter Soldat, sondern leistet vielmehr pflichtgemäß den Militärdienst ab, dem er ohnehin nicht entgehen kann. Trotzdem ist ihm der Anblick Mizzis, die als sein parodistisches Spiegelbild erscheint, widerwärtig. Sie bringt die ordentliche Uniform und damit Josefs rigide Ordnungsvorstellungen insgesamt mit ihrer koketten Aneignung in Unordnung. Mizzi versucht, ihn noch davon zu überzeugen, dass ja nichts dabei sei, wenn sie ein paar Lieder singe. Sie liebe ihn ja. Aber Josef kann nicht über seinen Schatten springen. Eine im Kontext der Ideenwelt des Wiener Films schlüssige Erklärung für Josefs Verhalten liefern Mizzis Bruder und dessen Partnerin: „Er versteht’s halt net, weil er ka Wiener ist.“ Was soll von einem „Zug’reisten“ aus Krems schon zu erwarten sein? Die wienerische Mentalität, die Liebe zur Musik und zur volkstümlichen Unterhaltung sowie die traditionelle Zuneigung der Wienerinnen und Wiener zu ihren Sängern und Sängerinnen – all das liegt tatsächlich weit außerhalb der Vorstellungswelt Josefs. Zum letzten Mal fordert er Mizzi auf, sich zu ihm zu bekennen und sich von ihrer Familie und ihrem Milieu loszusagen. Großaufnahmen der beiden Gesichter unterstreichen die Intensität der Szene. Mizzi ist diesmal – umgeben von den Menschen, denen sie sich nahe und zugehörig fühlt und an jenem Ort, an dem sie emotional zu Hause ist – stark genug, um Josef entgegenzutreten: „Schimpfen und predigen, das ist deine Liebe, aber i lass’ mi nimmer von dir sekkieren! Und dass du’s nur weißt – da draußen stehen und singen ist schön, herrlich schön, und nichts Schlechtes und a ehrliche Arbeit. Genauso ehrlich, die Leut’ lustig zu machen, wie am Feld arbeiten und Korn dreschen. So, und jetzt geh’ ich, Josef. Adieu!“ Nach diesen Worten verlässt Josef das Lokal und Mizzi tritt auf die Bühne, singt dort ihr erstes Lied: „Solang’ die Burgmusik marschiert, kann die Welt nicht untergehen.“

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Abbildung 2: Mizzi in Uniform

Szene aus Vorstadtvarieté

Das professionelle Lächeln der Volkssängerin weicht am Ende der Szene, in einer weiteren Großaufnahme ihres Gesichts, einem Ausdruck der Unsicherheit, der bereits in der vorangegangenen Auseinandersetzung immer wieder die Unentschlossenheit Mizzis angedeutet hatte. Die Situation des Entscheidungsnotstandes ist ein wiederkehrendes Motiv im Kontext der Darstellung des Wiener Mädels in einschlägigen Filmen. Ihm wird nichts weniger als eine Lebensentscheidung abverlangt. Dass dabei in Vorstadtvarieté die Entscheidung für das „moralisch Richtige“ vergleichsweise unklar erscheint und nicht in jedem Aspekt deckungsgleich mit jener für den Mann ist, weist Hochbaums Film als untypischen Vertreter seines Genres aus. Während Leopoldine Dur aus Maskerade diesen „moralisch richtigen“ Weg nur durch die erwartbaren Verzögerungs- und Verwechslungsmomente vorübergehend aufgehalten entlanggeht, ist der Figur Mizzis eine Widerständigkeit zu eigen, die sie im Vergleich zu Leopoldine als subversiv kennzeichnet. In seiner Parteinahme für die Protagonistin und gegen männliches Herrschaftsdenken geht Vorstadtvarieté in dieser Szene sehr weit. Mizzi weist Josef und mit ihm seine fraglos mit den hegemonialen Vorstellungen von Geschlechterordnung in Einklang stehenden Ansichten schließlich trotz ihrer nachvollziehbaren Unsicherheit im Angesicht der dramatischen „Lebensentscheidung“ entschieden zurück. Die Szene bzw. ihr abschließender Höhepunkt stellt einen im Gesamtkontext nicht nur des Wiener Films, sondern des österreichischen Filmschaffens dieser Jahre schlechthin exzeptionellen und eindrucksvollen Moment weiblicher Selbstbehauptung dar. Josef findet dann im allerletzten Augenblick zu Mizzi zurück und erfasst ihr Handgelenk, als sie gerade im Begriff ist, das Brückengeländer loszulassen und sich auf die Bahngleise zu stürzen. Eine Umarmung folgt. Das Happy End

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kommt nun beinahe überraschend − selbst in einem Genre, in dem es nicht überraschen sollte − und wirkt unplausibel und aufgesetzt. In diesem letzten Moment ist es aber nicht Mizzi, sondern Josef, der eine Entscheidung entgegen seiner im Vorangegangenen so leidenschaftlich und rechthaberisch proklamierten moralischen Grundsätze trifft. Insofern ist die Zensur letztlich nicht als geglückt anzusehen, sondern das erzwungene Happy End erzeugt einen weiteren Moment der Subversion hegemonialer Moralvorstellungen. Nichts ist in Vorstadtvarieté mehr in Ordnung. Der Film ist von „Hochbaums kritische[r] Haltung gegenüber Militarismus und autoritären Strukturen […] durchwirkt“ (Büttner 1999, 10). Traditionalismus und Patriarchalismus sind hier nicht geeignet, eine funktionierende Ordnung (wieder-)herzustellen, vielmehr sind es genau sie, die der Regisseur nicht nur kritisiert, sondern als für die Protagonistin vollends vernichtend darstellt. Mizzi ist der Inbegriff des Wiener Mädels, ihre Leichtigkeit und Lebensfreude werden ihr aber genommen. Josef versucht, sie den gesamten Film hindurch unter Anwendung geradezu brutal erscheinender emotionaler Erpressung und psychischer Gewalt, seinen traditionell-konservativen Ordnungsvorstellungen zu unterwerfen. Die Herstellung einer überkommenen Geschlechterordnung geht – bis zur faktischen Auslöschung des Individuums – auf Kosten der menschlichen, in diesem Fall der weiblichen Individualität und Identität. Freilich gibt es auch seitens Mizzis Familie, vor allem ihres Bruders, Druck auf sie, im Vorstadtvarieté als Sängerin aufzutreten und sich damit aktiv am Familienunternehmen zu beteiligen. Obwohl dies auch ihren eigenen Wünschen entspricht, wirken hier Kräfte auf sie ein, die nicht primär Mizzis individuelles Glück, sondern den Erfolg des Familienbetriebes in den Vordergrund stellen. Zu keinem Zeitpunkt entsteht in diesem Kontext jedoch der Anschein der emotionalen Erpressung oder des In-die-Enge-Treibens der Frau, wie dies sehr wohl im Verhalten Josefs gegenüber seiner Verlobten den gesamten Film hindurch der vorherrschende Eindruck ist.

4. D AS W IENER M ÄDEL

UND DIE

F AMILIENORDNUNG

Welche Rückschlüsse auf die Zusammenhänge von gesellschaftlicher Ordnung/Unordnung bzw. auf die Vorstellungen von staatlicher Ordnung und Herrschaft lässt nun die Figur des Wiener Mädels, ihre Positionierung in den filmischen Narrativen und insbesondere in ihrem Verhältnis zu den männlichen Protagonisten zu? Ich möchte mich dieser Frage über einen Blick auf die filmische Behandlung von Familie nähern, zumal die traditionelle, heterosexuelle Familie eine wesentliche ordnungsstiftende Einheit im gesellschaftlichen und staatlichen Gefüge darstellt. Familie in ihrer Ausformung als heteronormatives Kernfamilienmodell ist ein ideologisch aufgeladener Ort der Identitätsstiftung (vgl. Knoll 2009, 47f.). „Dieses Familienkonzept ist inhärent verknüpft mit Formen weiblicher Unterordnung und Verantwortlichkeit. Über reproduktive Funktionen hinaus soll die Familie morali-

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sche Werte hochhalten und selbst ein Symbol der Stabilität des Staates […] darstellen.“ (Ebd., 47) Das Wiener Mädel hat meist schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Es ist eine Figur, die sich an einem durch Unsicherheit und Unordnung geprägten Übergangspunkt befindet und von diesem in die geordnete Welt der Familie zu finden hat. In keinem der beiden behandelten Filme kommt die Protagonistin aus einer im traditionellen Sinn vollkommenen, oder wenn man so möchte „normalen“ Familie. In Maskerade ist Leopoldine augenscheinlich gänzlich ohne nahe Verwandte. Mizzi Ebeseder hingegen hat eine Familie und lebt in deren Mitte. Sie hat eine Mutter und einen Bruder, der als Familienoberhaupt in gewisser Weise auch Vaterersatz ist, wobei die Lebenswelt des Vorstadtvarietés durchaus den Eindruck erweckt, dass hier ein erweiterter familienähnlicher Kontext dargestellt wird, der sich deutlich von traditionellen, katholisch geprägten Mustern abhebt. Josef kommt im Gegensatz zu Mizzi aus im traditionellen Sinn geordneten Familienverhältnissen. Sein Ziel ist es, die seiner Ansicht nach nicht nur in ungeordneten, sondern in unmoralischen Verhältnissen lebende Frau in seine absolut gesetzte Ordnung einzugliedern. In Maskerade wiederum geraten zwei familienlose Menschen aneinander. Der Gesellschaftsmaler verliebt sich in ein Mädel, das letztendlich die typische Rolle des Home-Makers übernimmt. Hier gilt es, die familiäre bzw. private Ordnung, die im Einklang mit den vorherrschenden staatlichen Ordnungsimperativen steht, erst zu schaffen. Heideneck bewegt sich mit seiner Lebensweise und, wenn man so will, Lebensstilentscheidung fernab dieser Welt der konventionellen und nach katholischen Maßstäben „anständigen“ Familienordnung. In seinem Fall ist dann auch nichts weniger als ein Pistolenschuss, also physische Gewalt erforderlich, um ihn auf den richtigen Weg zu bringen. Leopoldine „gleicht zwar vom sozialen Status, von Gestus und Habitus einem süßen Mädel, folgt dabei aber einem strengen moralischen Ehrenkodex“ (Loacker 2010, 116). Ihre strenge Moralität markiert die Frau als geeignet, den Mann (auch einen auf moralische Abwege geratenen Mann wie Heideneck) auf den Pfad familiärer Tugend und in die geordnete (klein)bürgerliche Welt zu führen. Die Figur des Wiener Mädels, jeglichen kritischen Potenzials verlustig gegangen (ebd.), erscheint in Gestalt Leopoldines durch den von ihr verkörperten Imperativ der Familienordnung näher am Staat als der männliche Protagonist. Die Frau ist im vorliegenden Beispiel somit nicht nur für die „Domestizierung“ des Mannes zuständig, sondern auch dafür, ihn an die staatliche Ordnung heran- und in diese hineinzuführen. Kann nun in Bezug auf die untersuchten Filme von der Repräsentation stabiler Geschlechterverhältnisse und insgesamt von einer Legitimation bestehender Herrschaftsverhältnisse gesprochen werden? Fest steht, dass (zumindest in Ansätzen) selbstständige, unabhängige Frauen, die darauf pochen, selbst zu entscheiden, wie sie ihr Leben gestalten wollen, am Filmende tendenziell in der traditionell patriarchalen Welt der innerhalb des kon-

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ventionellen Erzählrahmens bereitgestellten Partner anzukommen haben. Sie nehmen in diesem Prozess eine aktive Rolle ein und führen diese Bewegung auch selbst mit herbei. Vorstadtvarieté bietet in der Figur Mizzis ein paradigmatisches Beispiel dafür. Als Melodrama, dessen Sphäre vor allem jene der gehobenen Gesellschaft ist, erscheint Maskerade von sozialen und politischen Realitäten deutlich weiter entfernt bzw. werden diese schlicht nicht zum Fokus der Handlung gemacht. Sozialkritik ist nicht Teil der Agenda von Forsts Film. Dieser ist vor allem ein Gesellschaftsstück und spielt nicht ohne Grund in jenem aus der Zeit gehobenen Wien um 1900. Herrschafts- bzw. Geschlechterverhältnisse erscheinen dort quasi auf ewig gestellt, die gezeigte Welt scheint sich dem direkten menschlichen Einfluss zu entziehen – was ist und wie es ist, ist einfach die „Natur“ Wiens und seiner Menschen. Mit Blick auf den Weg, den die Wiener Mädel in den besprochenen Filmen durchlaufen, kann vom Weg von einer bestehenden bzw. sich deutlich abzeichnenden Unordnung hin zur Zementierung einer Ordnung patriarchal geprägter Geschlechterverhältnisse gesprochen werden. Diese Bewegung lässt sich vor ganz verschiedenen Hintergründen vollziehen, egal ob wir uns am Vorabend des Ersten Weltkrieges und kurz vor Zusammenbruch der Habsburgermonarchie befinden oder im ewigen „AltWien“. Die Bruchstellen zwischen Tradition und Moderne treten insbesondere in Vorstadtvarieté deutlich zu Tage und sind vor allem rund um die Figur des Wiener Mädels Mizzi Ebeseder zu finden. Während Maskerade, wie zuletzt nochmals in Leopoldines Aussagen an Heidenecks Krankenbett und gegenüber Professor Harrandt deutlich wird, eine ausgeprägte Tendenz zur Legitimation des Status quo aufweist, erscheint Hochbaums Film im direkten Vergleich als ungewöhnlich subversives Werk. Die Eindeutigkeit und Negativität, mit der die Figur Josef Kernthalers als Repräsentant der hegemonialen und männlich dominierten Ordnung, die in der Tradition, im Althergebrachten verhaftet und vorrangig mit dessen Verteidigung befasst ist, platziert wird, ist auch durch Josefs schlussendliche Entscheidung für Mizzi kaum zu konterkarieren. Freilich ist in Bezug auf Hochbaums Film nicht zu übersehen, dass auch die positiv gezeichnete Welt des Vorstadtvarietés mit Franz Ebeseder durch eine Figur repräsentiert wird, die als Prinzipal, als Vaterersatz und Familienoberhaupt klar für ein patriarchales Ordnungssystem steht. Mit Blick auf den historischen Kontext fällt auf, dass die zentralen österreichischen bzw. österreichisch-deutschen Beiträge zum Wiener Film nahezu allesamt im autoritären christlich-sozialen Ständestaat oder während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur entstanden sind3 und daher ein Infragestellen der herrschenden Verhältnisse freilich nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt denkbar war. Die Wiener Filme dieser Jahre sind als Teil

3

Die Dreharbeiten zu Maskerade begannen im Februar 1934, die Uraufführung fand am 21. August desselben Jahres statt (vgl. Bono 2003, 60).

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eines austrofaschistischen Diskurses der Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse, des Zurück hinter die Errungenschaften der Demokratie anzusehen. Maskerade fügt sich bruchlos in diesen Diskurs ein, während Vorstadtvarieté als untypischer und abweichlerischer Vertreter des Genres deutliche Tendenzen zu seiner Unterminierung aufweist. Hinlänglich dokumentiert ist der vor allem von Willi Forst nach 1945 immer wieder artikulierte Anspruch, in den Wiener Filmen während der Zeit des Nationalsozialismus, und damit in einer Periode, in der Österreich als eigenständiger Staat nicht existierte, eigentlich Filme geschaffen zu haben, die in ihrem zutiefst „österreichischen Wesen“ als Dokumente des Widerstandes zu lesen seien (vgl. Seeßlen 2003, 46; Bono 2003, 85). Dieser Anspruch erstreckt sich freilich nicht auf den austrofaschistischen Staat, der dem „Anschluss“ vorangegangen war und bis weit in die Zweite Republik nicht als problematisierungswürdig angesehen wurde. Dass es sich bei Forsts Aussagen zuallererst um eine Strategie der nachträglichen Rechtfertigung für die Arbeit innerhalb von Goebbels’ Filmindustrie handelt, liegt freilich auf der Hand. Jedoch ist es gerade jener, zweifelsohne ernstgemeinte Anspruch, in den Wiener Filmen etwas „Österreichisches“ geschaffen zu haben, der das Element der Tradition und folglich auch des Antimodernismus in dieser Deutlichkeit vielleicht ungewollt, aber nichtsdestoweniger klar in den Vordergrund rückt und von vorneherein auf eine scheinbar feste und unbewegliche Ordnung verweist, der Abweichung und Subversion, Gesellschafts- und Systemkritik fremd sind.

F ILME Maskerade, Willi Forst, A 1934. Vorstadtvarieté, Werner Hochbaum, A 1935.

L ITERATUR Bono, Francesco 2003: „Er wollte mehr sein als nur ein Operettenschreiber.“ Ein Porträt. In: Armin Loacker (Hg.): Willi Forst. Ein Filmstil aus Wien. Wien, 57–111. Büttner, Elisabeth 1999: Vorstadtvarieté. Werner Hochbaum (1935). In: Gottfried Schlemmer/Brigitte Mayr (Hg.): Der österreichische Film von seinen Anfängen bis heute, Bd. 1. Wien. Büttner, Elisabeth/Dewald, Christian 1997: Anschluss an Morgen. Eine Geschichte des österreichischen Films von 1945 bis zur Gegenwart. Salzburg/Wien. Büttner, Elisabeth/Dewald, Christian 2002: Das tägliche Brennen. Eine Geschichte des österreichischen Films von den Anfängen bis 1945. Salzburg/Wien.

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Dassanowsky, Robert von 2005: Austrian Cinema: A History. Jefferson, N.C./London. Janz, Rolf-Peter 1977: Zum Sozialcharakter des „süßen Mädels“. In: RolfPeter Janz/Klaus Laermann (Hg.): Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle. Stuttgart, 41–54. Klüger, Ruth 2001: Schnitzlers Damen, Weiber, Mädeln, Frauen. Wien. Knoll, Eva-Maria 2009: Familie. In: Matthias Falter/Marion Löffler/Thomas Schmidinger/Veronika Schwediauer/Saskia Stachowitsch (Hg.): Politik begreifen. 89 Begriffe um Eva Kreiskys Leben und Forschen. Wien, 46– 49. Loacker, Armin 2010: Der Wiener Film – bekannt, mit unbekannten Variablen. In: Christian Dewald/Michael Loebenstein/Werner Michael Schwarz (Hg.): Wien im Film. Stadtbilder aus 100 Jahren. Katalog zur 364. Sonderausstellung des Wien Museums. Wien, 70–85. Seeßlen, Georg 2003: Die Geschichte eines (erotischen) Traumreiches. In: Armin Loacker (Hg.): Willi Forst. Ein Filmstil aus Wien. Wien, 17–56. Seibel, Alexandra 2010: Süßes Mädel, bittere Erfahrung. Zum Topos einer Wiener Frauenfigur im internationalen Kino. In: Christian Dewald/ Michael Loebenstein/Werner Michael Schwarz (Hg.): Wien im Film. Stadtbilder aus 100 Jahren. Katalog zur 364. Sonderausstellung des Wien Museums. Wien, 108–117.

Sieben Filmbilder von Sex und Gender als demokratische Subversion Ein Essay F RANK S TERN

V OR

DEN

B ILDERN

DIE RUHENDE

L EINWAND

Jede gesellschaftliche und kulturelle Krise ist auch eine Krise der Geschlechterbeziehungen. Am sensibelsten reagieren hierauf die Künste: Poesie, Theater, Romane, Malerei, Skulptur, Operette und im 20. und 21. Jahrhundert die siebente Kunst – der Film. Soziales, Wirtschaftliches, Ethnisches, Religiöses, Generationelles sind von den Geschlechterbeziehungen durchdrungen. Sexualität ist Stimulanz, gleichermaßen Subjekt und Objekt der visuellen Deutungskraft, in deren sichtbaren und unsichtbaren Umsetzungen immer schon die Alternative als Rückkehr zum Überkommenen oder auch als körperlich-psychische Utopie aufscheinen kann. Odysseus kann bei Circe bleiben oder auch an den heimischen Herd und zu dessen Hüterin zurückkehren. Er kann aber auch zur Frau verwandelt wie der Seher Teiresias − virtueller Kinogänger der Antike − einen Erfahrungstausch vornehmen, eine Perspektivänderung, einen anderen Kamerablick, in dem sich die Eindeutigkeit von Weiblichkeit und Männlichkeit aufhebt und Ithaca als geografisch-materieller Ort zum beliebigen Short Cut wird. Es geht im Folgenden daher wohl weniger um Widerstand als um Delegitimation durch visuelle Subversion, nicht darum, wie Film erklärt wird, sondern was Film erklärt, erhellt, verklärt und auch verdunkelt. Jedes Filmbild ist im Hintergrund von Filmverhältnissen umgeben, die auf Produktion, Technologie, Gestaltung, Ästhetik, die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler, Erwartung, Rezeption und Kritik einwirken. In jedem Filmbild ist ein anderes oder sind viele andere Bilder verborgen. In der Schwärze der Überblendungen und visuellen Trennwände geht der Film weiter, bloß ist das nicht für jede und jeden zu sehen. Die Subjektivität eines visuellen Stils trifft durch die Augen, die Körper der Zuschauerinnen und Zuschauer auf die individuellen Bildarchive, deren Bilder mit dem Gesehenen oder

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Nichtwahrgenommenen einen visuellen Dialog eingehen, der eigensinnig Körperreaktionen verursachen kann und sich zwischen Emotionalem und Kognitivem tummelt, eine Art Zusammenprall doppelter Subjektivität. Im Film wird die sexuelle Transgression zur Norm, verbirgt die filmische Geste eine Aufforderung, wird ein Begehren abgebildet, das die Zuschauerinnen und Zuschauer von sich weisen, insgeheim goutieren oder auch identitätsstiftend als visuelle Norm adaptieren können.

E RSTE B ILDER : DER K RISE

B ÜRGERLICHE R ESPEKTABILITÄT

IN

Die Krise der Bürgerlichkeit 1918 bis 1919 wird in Dida Ibsens Geschichte (Ö/D 1918), Regie Richard Oswald, filmisch verhandelt. Wir erleben die wirtschaftliche Not und Verarmung der bürgerlichen Familie und bedauern die notwendige Geldheirat der von Anita Berber gespielten Tochter Dida Ibsen, die sich nach Liebe sehnt, doch wird deren ökonomische Zwangsheirat durch die Liebe zu einem älteren Gentleman, gespielt von Conrad Veidt, verhindert. Grau wird das uneheliche Zusammenleben, die Enterbung durch die gebrochenen Eltern folgt, woran auch das illegitime Enkelkind nichts ändert, und alles scheint in einer unendlich langweiligen ehegleichen, fastbürgerlichen Beziehung zu enden, wäre da bei Dida nicht jener Funke leidenschaftlichen Begehrens für einen männlichen Macho, der ihr unbefriedigtes Glühen mit sinnlich-gewalttätiger Gebärde − zufällig statt Rosenkranz stets eine Peitsche in der Hand − auf sich zu lenken weiß. Bei so viel Sadomaso bleibt nur das Kindermädchen bei klarem Verstand. Doch Begehren, erotisch-sadomasochistische Abhängigkeit ist unüberwindbar, weil es eigentlich gar keine Abhängigkeit ist. Warum auch nicht – zumindest zeitweise erscheint es als sexuelle Extravaganz, in der eine freundlich-lebendige Schlange sich um die Körper schlängelt und uns freundlich mit der Zunge lechzend auf Urmythen verweist. CUT! Zu viel wäre vielleicht doch zu viel gewesen. Anita Berber lebt die Rolle von Dida leinwandbeherrschend aus, war selbst in Wien ein Role-Model einer selbstbestimmten Sexualität und Weiblichkeit, u.a. auch als Nackttänzerin. Es sind die Geschlechterbeziehungen, eingebettet in die kammerfilmartige Gesellschaftsstudie, in denen sowohl die traditionellen Romantik-LiebeKitsch-Drama-Seufz-Filme aufgelöst werden als auch die parallel laufende Filmwelt expressionistischer Krisen- und Kulturverarbeitung in mythischfiktiven Welten wie in Das Cabinet des Dr. Caligari, Nosferatu oder Der Golem. Der Eros liegt im Sex, der Sex im visuellen Begehren, die Geschlechterbeziehungen in der filmischen Geste – ob in den Strategien der Blicke, der Kameraperspektive, Beleuchtung, schwarzweißen Fokussierung von Gesten und Gesichtern, in verhüllter Enthüllung, männlichem Größenwahn oder belanglos zärtlicher Zuwendung femininer Männer angesichts so vieler starker Frauen. 1918/19 war die rechtliche Gleichstellung der Frauen

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erfolgt, die Körper lösten sich aus dem schwülstigen Milieu des Halbseidigen, Verbotenen. Der Film der frühen 1920er tobt sich durch die Leidenschaften, trivialisiert die Psychoanalyse, befasst sich mit Sexualaufklärung, mit Geschlechtskrankheiten, mit dem Dirnenmilieu, den Straßen der Wollust und des Elends, den Krisen von Männlichkeit und Weiblichkeit und vor allem immer deutlicher mit dem Ringen um weibliche Selbstbestimmung, zeigt letztlich mehr als die züchtigen Pornos der Zeit, indem er durch Eros, Sexualität und Begehren sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste von Frau und Mann auf die Leinwand bringt, unendlich viele Identifikationen bei den Betrachterinnen und Betrachtern zulässt und stets an den autoritärtraditionellen Normen der Zensur vorbeischlittert. Nacktheit bleibt nur ein Angebot, eher im Augeneros der Betrachterinnen und Betrachter, bloße Performanzen im sich bereichernden Bildarchiv der Zuschauerinnen und Zuschauer. Der Film versucht geschlechterspezifisch einzulösen, anzuregen und aufzuregen, was die neue demokratische Verfassung verspricht, die Gesellschaft aber nicht hält und Gesetze sowie Gerichte ständig in überkommene Vorstellungen von Sexualität und damit in die traditionelle Rolle der Frau zurückkatapultieren.

Z WEITE B ILDER : Z WISCHEN F EMME MORALISCHEM R ACHEENGEL

FATALE UND

Der Reigen (D 1919/20), Regie Richard Oswald, Metapher für fluktuierende Liebes- und Begehrensbeziehungen, war der Titel eines Films, der sich textlich oder assoziativ nicht an Arthur Schnitzler anlehnte. Die naive und doch verführerische junge Unschuld hat sich in der Männerwelt zwischen bürgerlicher Existenz, verruchtem Varieté und sittsamer Bürgerlichkeit im wörtlichen Sinne zu positionieren. Die sittsame, aber erotisierende Heldin, gespielt von Asta Nielsen, wird vom Klavierlehrer verführt, hat eine leidenschaftliche Beziehung mit einem Pianisten und Zuhälter, „natürlich“ gespielt von Conrad Veidt, sackt ab ins Varietémilieu, wird von ehrbarem Mann geliebt, vom Ehemann verstoßen, vom Geliebten brutal miss- und als Ware für verklemmte männliche Sexualität gebraucht. Alles ist Melodram, und doch scheint plötzlich ein Akt weiblicher Selbstbestimmung auf. Wie in Trance erschießt die Heldin am Ende allen Dramas in aller verruchtverrauchten Öffentlichkeit ihren Zuhälter-Geliebten, befreit sich und die Varietéwelt von diesem Scheusal. Mit dem Schuss geht sie über die weibliche Martyriumserwartung, auf die das Publikum visuell hinhungert, hinaus, bestraft damit aber auch gleichzeitig den rat- und fraulos schwächlichen, zurückbleibenden Liebenden und richtet sich selbst, da Mord eben Mord bleibt. Sie stirbt so schön eigensinnig, dass die Sympathien der Zuschauerinnen und Zuschauer auf ihrer Seite bleiben. Den Bösen hat sie erschossen, den zu feminin Guten mit ihrem Freitod bestraft. Es ist das Jahr 1920, Ibsen und Wedekind bestimmen die

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Bühnen, Caligari und Nosferatu lauern im Hintergrund, Lustmörder haben Konjunktur, und die wachsende Zahl von Aufklärungs- und Sexualhygienefilmen bestimmt immer mehr öffentliche Debatten, Zeitschriften und Gerichtshöfe. Das einverständige Wahrnehmen von Sexualität und Geschlechterbeziehungen, monarchisch-patriarchalisch vorbestimmt, löst sich demokratisch auf. Frauen widersetzen sich der Außenseiterrolle in der Gesellschaft, wie es Hans Mayer (1975) in seinem Werk Außenseiter in Bezug auf Frauen, Juden, Homosexuelle ausführlich dargelegt hat. Es sind vor allem Regisseurinnen und Regisseure jüdischer Herkunft, die sich dem subversiven Potenzial in der Darstellung der Außenseiter, der Outsider, die nun in einer Demokratie Insider sind (vgl. Gay 1983), annehmen. Darauf lauert aber auch der antisemitische Dünkel, es scheint ihm, als ob die „Brunnenvergifter“ und „Ritualmörder“ der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judenhetze nun technologisch und dramaturgisch modernisiert von der Leinwand das Ende des bürgerlich-christlich-anständigen Eros verkündigen, jenes pausbäckigen Unschuldsengels, der die holden Jungfrauen vom Brunnengang in die richtigen Backstuben führte. Die Sexualität der Groschenromane und verklemmten Nacktbilder wird nun als ganz alltägliche sexuelle Geste sichtbar, nachvollziehbar, die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler sind im Kinosaal nur größer als die Körper der Zuschauerinnen und Zuschauer, entrückt ist ihr Begehren aber nicht mehr. Filme verändern beides, die Wahrnehmung der Sexualität und die Wahrnehmung von Frauen und Juden. Die antisemitisch stereotypisierte Charakterisierung von Juden als feminin und die langsam, aber dennoch sprunghafte Veränderung in der Rolle von Frauen auf der Bühne und in der Literatur führt zu Filmen, die sich eines großen Publikums sicher sein können, da die bewegte Visualisierung die oft komplizierten Theaterdialoge – abgesehen von den Eintrittspreisen – in eine verständliche visuelle Gestik und Narration überführt. Zusehen reicht, die Körper sind größer und wirklicher als die Körper auf den Bühnen, und den oft prüden komplizierten Theaterdialogen ist so erfolgreich ausgewichen. Und wo das nicht ausreicht, ist stets ein Kinoerzähler zugegen.

D RITTE B ILDER : DEN S TAAT

S EXUELLE Ö FFENTLICHKEIT

WIDER

Richard Oswald schuf 1919 den heiß umstrittenen, verbotenen, zensierten Film Anders als die Anderen. Berater war der Sexualforscher Magnus Hirschfeld. Es ging um Aufklärung über Homosexualität als eine natürliche Veranlagung, so die Formulierung im Film, um die Abschaffung des Paragraphen 175 des deutschen Strafgesetzbuches, darum, in der Öffentlichkeit ein tolerantes Verständnis, wenn nicht sogar Akzeptanz der Homosexualität zu bewirken. Das Verbot von 1920 reduzierte den Zuschauerkreis auf „Ärzte und Medizinalbeflissene“. 1927 verwendete Hirschfeld Material des

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Films für einen Dokumentarfilm Gesetze der Liebe. Am Ende des Films begeht der homosexuelle Künstler Körner, von einem Denunzianten geoutet, Selbstmord. Ähnlich wie im späteren Film Zyankali nach dem gleichnamigen Theaterstück von Friedrich Wolf, in dem es gegen die Gesetze ging, die eine Abtreibung unter Strafe stellten, hatten solche Filme das Ziel, antihumane staatliche Eingriffe, die auf Gesetzen basierten, zu entlarven, eine Öffentlichkeit auch emotional dagegen zu mobilisieren und ebenso faktische Kenntnisse über sexuelle Tabuzonen, über Homosexualität und die Lage unverheirateter schwangerer Frauen zu verbreiten. Film war hier im eigentlichen gesellschaftlichen und visuellen Sinne Aufklärung, sexuelle Aufklärung. Das Publikum glaubte seinen Augen nicht, als der Ball der maskierten Homosexuellen über die Leinwand tanzte, ein Portal in eine urbane sexuelle Nebenwelt tat sich auf, durch das die scheuen Blicke lüstern fallen konnten. Die Zensur tobte, die Gesten männlicher Verführung und Verführbarkeit wurden hier zum ersten Male so sichtbar wie nur auf antiken Fresken und Töpferwaren. Die sexuelle Heimlichkeit wurde zur sexuellen Öffentlichkeit, in die wie selbstverständlich der Staat als vordemokratischer Normenhüter massiv eingriff. Die Schnitte am Film, die verlorenen Sequenzen entsprechen physischen Kastrationen, der Film sollte sichtbar und damit normgestaltend nicht ausleben, was die Homosexuellen im Film ausleben. Film konnte unsichtbare, unbewusste und verdrängte Bedürfnisse sichtbar machen. Dass sich hierfür sowohl der expressionistische Aufschrei als auch der Realitätsbezug der Neuen Sachlichkeit eigneten, lag auf der Hand. Doch konnte das auch mit einem poetischen Realismus verbunden werden, dessen Meister der Regisseur Carl Theodor Dreyer war.

V IERTE B ILDER : ÄSTHETISCH - EROTISCHE AMBIVALENZEN In Dreyers Michael von 1923/24 malt und porträtiert ein älterer Künstler nur männliche Gestalten – sein Adlatus und Modell ist der junge Maler Michael, gespielt von Walter Slezak. Des älteren Mannes Zuneigung zu ihm wird gestisch sichtbar, doch nie szenisch intim ausgeführt. Michael ist sich dessen unbewusst bewusst, verliebt sich aber in eine junge Fürstin, gespielt von Nora Gregor, für die der Maler eine Ausnahme macht und sie malt. In einem Licht- und Schatten-Spiel von Kunst und Begehren löst sich ästhetisches, körperliches Liebesbegehren über das Medium Kunst auf; denn der erfahrene Künstler kann die Augen nicht malen. Dies vermag nur der liebend begehrende junge Mann. Eine Sequenz vor dem Gemälde, in der Adlatus und Meister vor der Leinwand stehen, zwischen ihnen die Fürstin, ist ein Triptychon des Begehrens. Die Verhaltenheit der Bildsprache lässt Interpretationen zu, Homo- und Heterosexualität können Spiel sein, ästhetisches Unterfangen, angedeutete Transgression der Gefühle und der Geschlechterordnungen. Dem Publikum wird keine Interpretation verordnet, bewusst spielt

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die Filmkunst hier mit dem Unbewussten, dem Wirbelwind von Maskulinität und Feminität in den Gefühlen, und führt die Zensur an der Nase herum. Der ältere Maler wird sterben, nachdem er staatliche Anerkennung erhalten hat und – so das Motto des Films – einmal im Leben wirkliche Liebe erlebt hat. Aber welche? Die amerikanische Fassung des Films hatte den Titel: The Third Sex.

F ÜNFTE B ILDER : N EUE

SEXUELLE

S ACHLICHKEIT

Neben Variationen von Lulu packte Frank Wedekinds Frühlings Erwachen die Filmwelt. 1923 entstand eine Fassung durch die Wiener Filmpioniere Luise und Jakob Fleck. Unter dem Titel Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie verfilmte Richard Oswald 1929 den Stoff, in dem es um die erwachende Sexualität von jugendlichen Schülerinnen und Schülern ging. Fast schon karikierend wird die schulische, kirchliche und väterliche Autorität mit ihren Keuschheitsgeboten, Gehorsams- und Strafritualen dargestellt, wobei fast 90 Jahre später das Sehgefühl entsteht, dass die Jugendlichen sich im Heute und die drei obrigkeitlichen Instanzen sich in der Vergangenheit befinden und etwas Falsches, Heuchlerisch-Unwahres repräsentieren. Nicht zufällig wird im Film eher von Kindern als von Jugendlichen gesprochen, wird der bürgerlichen Verdammung erwachender Sexualität die sinnliche Individualität der Heranwachsenden entgegengestellt. Die Wirklichkeit im Sinne unverfälschter Gefühle liegt bei der Jugend, die auch viel behutsamer und eben individualisierender dargestellt wird. Hier bestimmt unsere Wahrnehmung das, was aufgrund der visuellen Stimmung gar nicht mehr gezeigt werden muss. Motive dieses Films tauchen 1929 in der Koproduktion Menschen am Sonntag auf, an der auch die Wiener Billy Wilder und Fred Zinnemann mitgewirkt haben.

S ECHSTE B ILDER : E MANZIPATION UND S EXUALUNORDNUNG Wissenschaft, Mystik und die Suche nach weiblichen Kunstwesen, geschaffen durch künstliche Befruchtung und durch den Wunderzauber einer Alraunewurzel oder anderer natürlicher und technologischer Mittel, haben bis heute zahlreiche filmische Varianten hervorgebracht. Das Mädchen Alraune, im gleichnamigen Film Henrik Galeens 1927 von Brigitte Helm gespielt, ist natürlich böse, oversexed, echt gemein, intrigant und berechnend, letztlich ein gefühlskaltes Ergebnis der „Versuchung Gottes“, mithin eine echte Femme fatale, deren Körpersprache und sinnliche Gestik aus einem Film noir der 1940er Jahre stammen könnte. In einer Klosterschule erzogen, landet Alraune, die allerorten auf verführbare Männer trifft, recht schnell im Zirkusmilieu, stürzt Männer ins Unglück und raucht, was sie ja nun wieder-

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um sympathisch macht, was aber als verrucht galt. Symbole der neuen Frau waren damals Hosen und Zigaretten. Alraune liest die Aufzeichnungen ihres Schöpfers, der sich als ihr Vater ausgibt, und verflucht ihn. Sie will sich an ihm rächen, sich als Femme fatale voll ausspielen, ihren Vater-Schöpfer verführen, aber nur fast. Inzest und inhumane Wissenschaft in einem. Das Thema war beliebt. Doch Alraune entdeckt, wie Jahrzehnte später die Außerirdische in Luc Bessons Film Das fünfte Element: die Liebe. Durch Liebe will sie eine Seele für sich finden. Der Film Alraune war so erfolgreich, dass Richard Oswald den Stoff 1930 erneut auf die Leinwand brachte.

S IEBENTE B ILDER : S INNLICH - SOZIALE U TOPIEN Abzuschließen sind diese kurzen Bilder filmischer Gesten einer möglichen sexuellen Selbstbestimmung mit einem Film von G.W. Pabst, mit dem eine ganze Epoche sexueller Subversion zu Ende ging. Ein Film der Utopie, in dem der Staat nur durch eine selbstbestimmte Frau und ihre Definitions- und Hegemonialgewalt über Sexualität und Geschlechterbeziehungen existiert. Brigitte Helm als Die Herrin von Atlantis/L’Atlantide von 1932 verkörpert den Staat als utopischen Entwurf, und dies in einer Ära, in der das Gleichheitspostulat in einer zunehmenden Zahl europäischer Staaten zusammenbrach und sich das Emanzipationsgebot von 1918/19 als illusionäre Utopie erwies. Atlantis rettet die Utopie, aber eben nur auf Zelluloid. Von Zeit zu Zeit lässt sich die Herrscherin von Atlantis zu ihrer Auswahl Artefakte jener europäischen Spezies zuführen, die im vergangenen Jahrhundert in den Reihen der französischen Fremdenlegion vorhanden waren – sensible Machos. Die Kamera beobachtet jene Männer, gleitet hinter ihnen durch Sand und Gemäuer. Und wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, wissen nicht, ob wir die Atlantin sehen oder durch ihren Blick wie mit einer subjektiven Kamera jenen uneindeutigen Geschlechterbeziehungen folgen. Hier haben die Soldaten mit all ihrer uniformierten Männlichkeit jeglichen hegemonialen Anspruch verloren, während in Europa und im Mittelmeerraum normale Menschen zu militaristischen Bestien mutieren. Es ist ein letztes Aufbegehren der siebenten Kunst vor dem von Großdeutschland angezettelten Vernichtungskrieg. Die Atlantin setzt in einem gestisch-sinnlich aufgeladenen Schachspiel den Fremdenlegionär schachmatt, so wie der subversive Film der Zwischenkriegszeit die antidemokratischen Sexualitätsund Gender-Vorstellungen eben schachmatt setzte.

ABBLENDE … Andere Filme setzten sich mit dem Verhältnis von Staatsgewalt in Gefängnissen und Sexualität auseinander, zeigten zum einen die latente und manifeste Homosexualität aus Not und Neigung in Gefängnissen und zum ande-

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ren die sexuelle Not von Ehefrauen, deren Männer eine Haftstrafe absitzen. Geschlecht in Fesseln von Wilhelm Dieterle aus dem Jahr 1928 war einer dieser Filme, der ebenfalls radikal zensiert wurde, weil es nicht allein um sexuelle Beziehungen mit dem Ehepartner ging, sondern um gelebte Sexualität schlechthin. Vor dem Gefängnistor schreit die gequälte Ehefrau, sie wolle einen Mann, eben nicht spezifisch nur ihren. Filme hinterfragten nicht allein die überkommene Sexualmoral, sie fragten nach Sexualhygiene, weiblichen und männlichen Bedürfnissen, unterund überwanderten Tabus sowohl was Jugendliche anbelangte als auch Einzelstehende und eheliche Verhältnisse. Komödien, Hosenrollen für androgyn scheinende Schauspielerinnen und Schauspieler, Gender-Crossing und Trans-Gender finden sich meist in Andeutungen. Zu dem Bekenntnis, die Bedürfnisse der Andersliebenden anzuerkennen, konnten sich Teile von Kunst und Kultur durchringen, doch nicht die labilen, unfertigen, von überkommenen Herrschaftsvorstellungen über Sexualität bestimmten jungen Republiken. So wie die nach befreiter Sexualität Strebenden war der Film, der dies zum Ausdruck brachte, eine nur begrenzte subversive visuelle Macht. Leontine Sagans Mädchen in Uniform von 1931 gilt hier bis heute als einer der ersten Filme, in denen auf poetische Weise lesbische Gesten und Beziehungen visualisiert wurden. So wie viele der genannten, hatte auch Sagan 1933 das neue Reich der „arischen Sexualität“ zu verlassen. Auf Homosexuelle wartete das KZ. Doch das Exil der Filmschaffenden wie Oswald, Schünzel, Veidt, Sagan ist im Hinblick auf ihr Rollenprofil in der Zwischenkriegszeit ein eigenes Thema und wirft die Frage auf, wie die formale Emanzipation und Gleichstellung von Frauen und Juden in der siebenten Kunst reflektiert wurde, und warum sich gerade so viele Filmschaffende jüdischer Herkunft dieses Themas annahmen. Möglicherweise war für diese Künstlerinnen und Künstler die Emanzipation der Juden nach 1918 weder von der Emanzipation der Frauen zu trennen noch die Kritik der alten Ordnung ohne eine neue Sexualunordnung vorstellbar. In der Zwischenkriegszeit, vor allem in den Jahren von 1933 bis 1938, konnte Sexualität keine freie und humanistische auch öffentlich ausgelebte Privatangelegenheit sein. Sie war vom Staat, gestützt durch die Kirchen und eine rechtslastige Presse, stärker noch als von Moralvorstellungen durch vernichtende Repression bedroht. Doch der Film, die damaligen Filme bleiben widerständig, sind heute noch subversives visuelles Potenzial.

F ILME Alraune, Henrik Galeen, D 1927. Anders als die Anderen, Richard Oswald, Ö 1919. Dida Ibsens Geschichte, Richard Oswald, Ö/D 1918. Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie, Richard Oswald, D 1929. Die Herrin von Atlantis/L’Atlantide, G.W. Pabst, D 1932.

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Michael, Carl Theodor Dreyer, D 1923/24. Der Reigen, Richard Oswald, D 1919/20.

L ITERATUR Gay, Peter 1983: Weimar Culture. The Outsider as Insider. New York. Mayer, Hans 1975: Außenseiter. Frankfurt am Main.

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Autorinnen und Autoren

Evelyn Annuß, Dr. phil., ist Literatur- und Theaterwissenschaftlerin sowie Kuratorin. Sie arbeitet zurzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und forscht im Rahmen ihres Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu chorischen Inszenierungsformen im Nationalsozialismus. Seit mehreren Jahren beschäftigt sie sich mit der Kulturgeschichte nichtprotagonistischer Darstellungsweisen. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Rhetorik und visuelle Politiken. Veröffentlichungen u.a.: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens (2. Auflage 2007); Stagings Made in Namibia (Katalog zur Ausstellung in Berlin und Windhoek 2009). Silke Helling, M.A., Studium der Neueren Geschichte, Osteuropäischer Geschichte sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2010 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Hamburg, seit 2011 Redakteurin der Zeitschrift Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte. Forschungsschwerpunkte: biografische Forschung, Geschlechtergeschichte, Erforschung sozialer und berufsständischer Netzwerke. Jüngste Publikation (gemeinsam mit Cornelia Baddack): Geschlecht, Staat, Partizipation − die Weimarer Republik in der Sicht der national-liberalen Politikerinnen Else Frobenius (1875−1952) und Katharina von Kardorff-Oheimb (1879−1962). In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung Nr. 23. Baden-Baden 2011, 189– 213. Eva Horn, Univ.-Prof. Dr., Studium der Germanistik, Romanistik, Philosophie und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Bielefeld, Konstanz und Paris. Promotion 1996 in Konstanz, Habilitation 2004 an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder, von 2005 bis 2009 Professur in Basel. Seit 2009 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Literatur und politisches Geheimnis, Fiktion und Zukunftswissen, literarische Führerdiskurse. Buchpublikationen u.a.: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fik-

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tion. Frankfurt am Main 2007; Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Bielefeld 2009 (hg. mit Lucas Gisi). Roland Innerhofer, Univ.-Doz. Dr. phil. habil., lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Zahlreiche Arbeiten zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Fantastik, Theorie und Praxis der Avantgarden, Medienästhetik und Wissenspoetik sowie zum Wechselverhältnis von Literatur, Technik, Architektur, Film und neuen Medien. Letzte Buchpublikation: Das Mögliche regieren: Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse. Bielefeld 2011 (hg. mit Katja Rothe und Karin Harrasser). Stefan Krammer, Dr. phil., Studium der Deutschen Philologie, Theaterwissenschaft, Mathematik und Linguistik in Wien und Lancaster. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Wien, dort mit der Leitung des Fachdidaktischen Zentrums Deutsch betraut. Arbeitsschwerpunkte: Österreichische Literatur (insbesondere des 20. und 21. Jahrhunderts), Deutschdidaktik, Gender, Dramen- und Theatertheorie. Publikationen insbesondere zu Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und Wiener Aktionismus. Herausgeber der ide-Themenhefte zu Gender (2007) und Theater (2009). Letzte Buchpublikation: MannsBilder. Literarische Konstruktionen von Männlichkeiten. Wien 2007. Eva Kreisky, Univ. Prof. Dr. iur., Venia Legendi der Politikwissenschaft, ist Professorin für Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sie war von 1979 bis 1989 Leiterin der Abteilung Politikwissenschaft am Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung in Wien und von 1989 bis 1993 Professorin für Politikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Frauenforschung am Otto-SuhrInstitut der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Staats- und Institutionentheorien, Politik der Geschlechterverhältnisse. Letzte relevante Publikation: Staatenlenker und Staatsdiener. Männlichkeiten im Bild des Staates. In: Eva Kreisky/Marion Löffler/Sabine Zelger (Hg.): Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit. Wien 2011, 27−49. Marion Löffler, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Wien. Sie war Mitarbeiterin am Gender-Kolleg der Universität Wien und bis 2010 Assistentin am Institut für Politikwissenschaft. Derzeit ist sie Projektmitarbeiterin und Lehrbeauftragte im Bereich Politische Theorie und Ideengeschichte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Staats- und Demokratietheorien, feministische Staatstheorien, politikwissenschaftliche Geschlechterforschung, Umgang mit fiktionaler Literatur in der Politischen Ideengeschichte. Letzte Publikation: Utopische Potenziale im österreichischen Staatsdenken der Zwischenkriegszeit. In: Eva Kreisky/Marion Löff-

A UTORINNEN

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ler/Sabine Zelger (Hg.): Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit. Wien 2011, 181–199. Evelyne Polt-Heinzl, Dr. phil., Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie in Salzburg und Wien. Literaturwissenschaftlerin und Ausstellungskuratorin, arbeitet als Kritikerin und Essayistin u.a. für Die Presse, Wiener Zeitung und Neue Zürcher Zeitung. Publikationen vor allem zu österreichischer Literatur um 1900 und der Nachkriegszeit, zu Frauenliteratur, Lesekultur und Buchmarkt sowie zu kulturwissenschaftlichen Motivuntersuchungen. Zuletzt erschienen: Einstürzende Finanzwelten. Markt, Gesellschaft, Literatur. Wien 2009; Peter Handke – In Gegenwelten unterwegs. Wien 2011. Gisela Riescher, Prof. Dr., studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Seit 1999 ist sie Professorin für Wissenschaftliche Politik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der politischen Theorie und im Bereich vergleichender Analysen mit besonderem Fokus auf Forschungen über Zeit und Politik sowie auf Fragen des Parlamentarismus und der Demokratie. Ihre neuesten Publikationen thematisieren das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit in der politischen Theorie, zuletzt ist erschienen: Gisela Riescher (Hg.): Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst. Perspektiven einer demokratischen Sicherheit. BadenBaden 2010. Michael Rohrwasser, Univ. Prof. Dr. phil, Studium der Germanistik und der Politischen Wissenschaften in Freiburg im Breisgau, Dissertation in Neuerer deutscher Literatur 1979, Habilitation an der Freien Universität Berlin, Gastprofessuren in Hamburg, Freiburg, Germersheim, Wien, Warschau (Polen), Stanford (USA), Columbus (USA), Opole (Polen), Essen, seit 2005 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Publikationen zu Literatur und Totalitarismus, zu Psychoanalyse, Film und Literatur, zur Romantik sowie zur Literatur des Kalten Krieges, z.B.: Der Stalinismus und die Renegaten (1991); Freuds Lektüren (2005); Kalter Krieg in Österreich (2010, hg. mit Michael Hansel). Frank Stern, Univ. Prof. Dr., seit 2004 Leiter des Schwerpunkts Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Davor Leiter des Zentrums für deutsche und österreichische Studien an der Ben-Gurion-Universität des Negev in Israel. Arbeits- und Publikationsschwerpunkte: visuelle Kulturgeschichte, jüdische Kulturgeschichte, Filmgeschichte. Kurator von Filmretrospektiven zum deutschsprachigen und israelischen Film sowie zu Themen der jüdischen Lebenswelten, der NSHerrschaft und des Antisemitismus. Gemeinsam mit Barbara Eichinger Herausgeber von Wien und die Jüdische Erfahrung 1900 bis 1938. Wien 2009.

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Letzte Buchpublikation: Frank Stern (Hg.): Feuchtwanger und Exil: Glaube und Kultur 1933−1945. „Der Tag wird kommen“. Oxford/Bern/New York 2011. Wolfgang Straub, Dr. phil., Studium der Deutschen Philologie und Theaterwissenschaft in Salzburg und Wien. Lehrbeauftragter und Projektmitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Wien, arbeitet zudem als Literaturkritiker und Verlagslektor. Zahlreiche Buchpublikationen insbesondere zur Literatur Österreichs und zur Literaturtopografie. Letzte relevante Publikation: Anarchische Quartette. Arnolt Bronnen und Wolfgang Bauer vor dem Hintergrund der revolutionären Wegmarken 1918–1968. In: Österreich in Geschichte und Literatur 3/2011. Martin Weidinger, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Universität Wien. Seit 2002 Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, seit 2008 Projektmitarbeiter ebendort. Forschungsschwerpunkte: politische Theorie und Ideengeschichte mit besonderem Fokus auf Staat und Geschlecht, USamerikanische Kulturgeschichte, Film und Politikwissenschaft, österreichisches und deutsches Kino der Zwischenkriegszeit. Zuletzt erschienen: Hybrider Staat und Parastaat. Inszenierungen von Staatlichkeit in Filmen von Fritz Lang. In: Eva Kreisky/Marion Löffler/Sabine Zelger (Hg.): Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit. Wien 2011, 67–85. Ulla Wischermann, Apl. Prof. Dr., studierte Deutsche Philologie und Kommunikationswissenschaft in Münster und Bremen. Sie ist Professorin für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung, sowie Geschäftsführende Direktorin des Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien. Arbeitsschwerpunkte: Frauenbewegungsgeschichte, Mediensoziologie, Öffentlichkeitstheorien und Soziale Bewegungsforschung. Publikationen u.a.: Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900 (2003); Mitherausgeberin der Buchreihe Klassikerinnen feministischer Theorie (2009 und 2010) sowie der Zeitschrift Feministische Studien. Sabine Zelger, Dr. phil., studierte Germanistik und Theaterwissenschaften in Wien. Projektmitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik an der Universität Wien. Forschungstätigkeiten am Institut für Philosophie an der Universität Wien sowie am Forschungsinstitut des Wiener Roten Kreuzes. Arbeitsschwerpunkte: Staat, Bürokratie, Kommunikation in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Gender-Forschung; Literaturtheorie, Politische Bildung, Didaktik. Letzte Buchpublikation: Das ist alles viel komplizierter, Herr Sektionschef! Bürokratie – literarische Reflexionen aus Österreich. Wien/Köln/Weimar 2009.

Gender Studies Dorett Funcke, Petra Thorn (Hg.) Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform 2010, 498 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1073-4

Udo Gerheim Die Produktion des Freiers Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie Januar 2012, ca. 338 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1758-0

Ute Kalender Körper von Wert Eine kritische Analyse der bioethischen Diskurse über die Stammzellforschung Dezember 2011, 444 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1825-9

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Gender Studies Ralph J. Poole Gefährliche Maskulinitäten Männlichkeit und Subversion am Rande der Kulturen Januar 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1767-2

Julia Reuter Geschlecht und Körper Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit Juli 2011, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1526-5

Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.) Die intersektionelle Stadt Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit Januar 2012, ca. 170 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1415-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Gender Studies Kerstin Bronner Grenzenlos normal? Aushandlungen von Gender aus handlungspraktischer und biografischer Perspektive Januar 2011, 274 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1643-9

Mart Busche, Laura Maikowski, Ines Pohlkamp, Ellen Wesemüller (Hg.) Feministische Mädchenarbeit weiterdenken Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis 2010, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1383-4

Andreas Heilmann Normalität auf Bewährung Outings in der Politik und die Konstruktion homosexueller Männlichkeit Januar 2011, 354 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1606-4

Katharina Knüttel, Martin Seeliger (Hg.) Intersektionalität und Kulturindustrie Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentationen März 2011, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1494-7

Martina Läubli, Sabrina Sahli (Hg.) Männlichkeiten denken Aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Masculinity Studies

Doris Leibetseder Queere Tracks Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik 2010, 340 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1193-9

Gerlinde Mauerer (Hg.) Frauengesundheit in Theorie und Praxis Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften 2010, 240 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1461-9

Hanna Meissner Jenseits des autonomen Subjekts Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx 2010, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1381-0

Uta Schirmer Geschlecht anders gestalten Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten 2010, 438 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1345-2

Barbara Schütze Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte Transsexualismus als Schattendiskurs pädagogischer Geschlechterforschung 2010, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1276-9

Juli 2011, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1720-7

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