Zwischen Ausgrabung und Ausstellung: Beiträge zur Archäologie Vorderasiens. Festschrift für Lutz Martin 9783963271083, 3963271086

„Zwischen Ausgrabung und Ausstellung“ bietet 42 Beiträge zur vorderasiatischen Archäologie, zur Assyriologie und zur Wis

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Zwischen Ausgrabung und Ausstellung: Beiträge zur Archäologie Vorderasiens. Festschrift für Lutz Martin
 9783963271083, 3963271086

Table of contents :
Umschlag
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Grußwort der Herausgeberinnen
Schriftenverzeichnis von Lutz Martin
Kuhn: Amélineau – Flinders Petrie und Schweinfurth … Das Konvolut frühägyptischer Funde aus dem Königsfriedhof in Abydos im Ägyptischen Museum und Papyrussammlung Berlin
Arnst: Die Hauptsache ist der Effekt! Nochmals zum „syrischen“ Trinkrohr und was die Ägypter damit tranken
Finneiser: Wiedersehen mit archäologischem Kulturgut. Altägyptische und vorderasiatische Altertümer in der ersten Sonderausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin nach dem 2. Weltkrieg
Meyer: Eine „neue“ Sphinx von Hattuša. Abformung und originalgetreue Bemalung
Schneider: Die geretteten Götter vom Tell Halaf. Eine Begegnung mit dem Abenteuer. Einblicke der Ausstellungsgestalter
Krebernik: Eine lexikalische Liste (HS 2944) zur Anatomie des Opferschafes
Marzahn: Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel. Zu einer Archäologie des Schriftbildes
Maul: „Dieser Mann wird sich freuen!“
Becker: Zu den spätneolithischen Rundhäusern am Tell Halaf
Elsen-Novák / Novák: Der „kulturelle Code“ des „aramäischen“ Gōzāna (Tall Ḥalaf)
Fakhro: Tell Halaf (Gūzāna). Neo-Assyrian Residence on the Southern Mud-Brick Terrace
Katzy: Wie die Spätzeit am Tell Halaf wieder mal für eine Überraschung gut ist! Drei weibliche Figurinen vom Tell Halaf
Orthmann: Der Tell Halaf und die neuassyrische Kunst
Sievertsen: Funktionale Aspekte der Keramikinventare aus dem Assyrischen Statthalterpalast von Tell Halaf / Guzana
Ahrens: „Der elende Feind von Ḫatti“ und sein Versteck. Der Tell Sefinet Nuḫ und seine strategische Rolle während der Schlacht von Kadeš
Bachmann: Neuassyrische Wandmalereien aus Tell Sheikh Hassan
Bartl / Badawi: Eisenzeitliche Siedlungen am mittleren Orontes. Das Reich von Hamath
Buccellati: Degrees of Digitality. The Case of Excavation Reports
Kelly-Buccellati: To Sift or Not to Sift … Research on the Effectiveness of Sifting
Machule: Tall Munbāqa war wirklich nicht BERSIBA
Sürenhage: “This is as strange as everything else here”. Nachgrabungen im Augentempel und den Hochterrassen von Tall Brak
Boehmer: Zur Herkunft eines Akkad-zeitlichen Rollsiegels mit einer Tempelbau-Szene
Bonatz: Wie sah die Glyptik im Zentrum des Mittani-Reichs aus? E in Einblick aus Tell Feḫeriye
Bretschneider: Zur religiösen Ikonographie des Geiers im Alten Iran. Der Bronzebecher aus Grab 42 von Marlik
Drüppel: Auch in einem Berg von Scherben kann man ein Muster erkennen. Mineralogische Analyse der Rohmaterialien, Verarbeitung und Brennbedingungen Halaf-zeitlicher Keramik aus dem nördlichen Mesopotamien
Gries / Schmidt: Die kerngeformten Glasgefäße aus Gräbern in Assur
Hamoto: Ein Terrakottarelief mit Gilgamesch-Bild
Helwing: Steingefäße des 3. Jts. v. Chr. aus Uruk. Ein neuer Blick auf die Chloritgefäße
Kertai: The “Sun(God) of all People”Šamaš’s. Presence in the Throneroom of Ashurnasirpal II at Kalḫu
Kulemann-Ossen: Materielle Verbindungen zwischen der Ḫābūr-Region und Kilikien im 1. Jt. v. Chr.
Müller-Neuhof: Silexfunde als chronologische Indikatoren historischer Perioden. Babylon in frühdynastischer Zeit
Niehr: Zur religionsgeschichtlichen Botschaft eines palmyrenischen Votivreliefs
Sollee: Das Scherbenzimmer von Assur. Ein Deutungsversuch
Strommenger: Altsyrische Terrakottafiguren in primärer und sekundärer Verwendung
Böhme: Gemeinsam der Wissen- und Leidenschaft für Archäologie verpflichtet. Walter Andrae (1875‒1956) und Gertrude Lowthian Bell (1868‒1926) − Weggefährten in stürmischen Zeiten
Cholidis: Tell Halaf-Scherben in der Händelallee, Berlin. Ein Brief Werner Otto von Hentigs an seine Kinder
Kröger: Max von Oppenheim und der Heilige Krieg. Noch einmal die Denkschrift von 1914
Mietke: Verschlüsselte Botschaften zwischen Konstantinopel und Berlin
Pedde: Vom Erzgebirge ins Land der Fowlingbulls. Karl May und die vorderasiatischen Altertümer
Rehm: „Immerhin mögen die Assyrer als die treuesten Verwahrer dieses ursprünglichen Motives gelten“. Gottfried Semper und die Assyrer. Eine Annäherung
Teichmann: Zwischen Abenteurertum, Politik und Wissenschaft. Max von Oppenheim (1860‒1946)
Wartke: Charles Sester. Die Tragik eines deutschen Patrioten im Vorderen Orient

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marru 9 Zwischen Ausgrabung und Ausstellung Beiträge zur Archäologie Vorderasiens Festschrift für Lutz Martin

Zwischen Ausgrabung und Ausstellung Beiträge zur Archäologie Vorderasiens Festschrift für Lutz Martin Herausgegeben von Nadja Cholidis, Elisabeth Katzy und Sabina Kulemann-Ossen

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12.11.2020 15:59:30

Zwischen Ausgrabung und Ausstellung Beiträge zur Archäologie Vorderasiens Festschrift für Lutz Martin

Herausgegeben von Nadja Cholidis, Elisabeth Katzy und Sabina Kulemann-Ossen

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

marru Studien zur Vorderasiatischen Archäologie Studies in Near and Middle Eastern Archaeology

Band 9 Herausgegeben von Reinhard Dittmann, Ellen Rehm und Dirk Wicke

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Zwischen Ausgrabung und Ausstellung Beiträge zur Archäologie Vorderasiens Festschrift für Lutz Martin

Herausgegeben von Nadja Cholidis, Elisabeth Katzy und Sabina Kulemann-Ossen

Zaphon Münster 2020 © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Illustrationen auf dem Einband: • Skorpionentor, Tell Halaf 1912 (© Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, Köln) • Grabungsbereich A, Tell Halaf 2007 (© Tell Halaf Projekt).

Zwischen Ausgrabung und Ausstellung. Beiträge zur Archäologie Vorderasiens. Festschrift für Lutz Martin Herausgegeben von Nadja Cholidis, Elisabeth Katzy und Sabina Kulemann-Ossen marru 9

© 2020 Zaphon, Münster (www.zaphon.de) All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photo-copying, recording, or otherwise, without the prior permission of the publisher. Printed in Germany Printed on acid-free paper ISBN 978-3-96327-108-3 ISSN 2569-5851

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Lutz Martin, im Hintergrund die östliche Sphinx vom Tell Halaf, Berlin 2010 (© Staatliche Museen zu Berlin – Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer).

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis

Grußwort der Herausgeberinnen ............................................................. XI Schriftenverzeichnis von Lutz Martin .................................................... XIII Ägypten ‒ „Hauptsache ist der Effekt!“ Robert Kuhn Amélineau – Flinders Petrie und Schweinfurth … Das Konvolut frühägyptischer Funde aus dem Königsfriedhof in Abydos im Ägyptischen Museum und Papyrussammlung Berlin ........................................................................................... 1 Caris-Beatrice Arnst Die Hauptsache ist der Effekt! Nochmals zum „syrischen“ Trinkrohr und was die Ägypter damit tranken ................................................................................. 29

Abenteuer Ausstellung Klaus Finneiser Wiedersehen mit archäologischem Kulturgut. Altägyptische und vorderasiatische Altertümer in der ersten Sonderausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin nach dem 2. Weltkrieg ........................................ 51 Daniel Meyer Eine „neue“ Sphinx von Hattuša. Abformung und originalgetreue Bemalung ......... 65 Moritz Schneider Die geretteten Götter vom Tell Halaf. Eine Begegnung mit dem Abenteuer. Einblicke der Ausstellungsgestalter .............. 73

„Dieser Mann wird sich freuen!“ – Philologische Beiträge Manfred Krebernik Eine lexikalische Liste (HS 2944) zur Anatomie des Opferschafes ......................... 83 Joachim Marzahn Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel. Zu einer Archäologie des Schriftbildes..................................................................... 99 Stefan M. Maul „Dieser Mann wird sich freuen!“ ............................................................................ 127

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis

VIII

Tell Halaf ‒ „Immer noch gut für Überraschungen“ Jörg Becker Zu den spätneolithischen Rundhäusern am Tell Halaf ........................................... 131 Gabriele Elsen-Novák / Mirko Novák Der „kulturelle Code“ des „aramäischen“ Gōzāna (Tall Ḥalaf) ............................. 139 Mohamad Fakhro Tell Halaf (Gūzāna). Neo-Assyrian Residence on the Southern Mud-Brick Terrace ....................................................................... 173 Elisabeth Katzy Wie die Spätzeit am Tell Halaf wieder mal für eine Überraschung gut ist! Drei weibliche Figurinen vom Tell Halaf ............................................................... 183 Winfried Orthmann Der Tell Halaf und die neuassyrische Kunst ........................................................... 193 Uwe Sievertsen Funktionale Aspekte der Keramikinventare aus dem Assyrischen Statthalterpalast von Tell Halaf / Guzana ............................................................... 201

Syria Antiqua Alexander Ahrens „Der elende Feind von Ḫatti“ und sein Versteck. Der Tell Sefinet Nuḫ und seine strategische Rolle während der Schlacht von Kadeš .............................. 211 Friederike Bachmann Neuassyrische Wandmalereien aus Tell Sheikh Hassan ......................................... 219 Karin Bartl / Massoud Badawi Eisenzeitliche Siedlungen am mittleren Orontes. Das Reich von Hamath ............. 231 Giorgio Buccellati Degrees of Digitality. The Case of Excavation Reports ......................................... 247 Marilyn Kelly-Buccellati To Sift or Not to Sift ... Research on the Effectiveness of Sifting .......................... 259 Dittmar Machule Tall Munbāqa war wirklich nicht BERSIBA .......................................................... 267 Dietrich Sürenhagen “This is as strange as everything else here”. Nachgrabungen im Augentempel und den Hochterrassen von Tall Brak .......................................... 273

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Inhaltsverzeichnis

IX

Vom Fund zur Deutung – Neue Überlegungen zu materiellen Zeugnissen Rainer Michael Boehmer Zur Herkunft eines Akkad-zeitlichen Rollsiegels mit einer Tempelbau-Szene .................................................................................... 299 Dominik Bonatz Wie sah die Glyptik im Zentrum des Mittani-Reichs aus? Ein Einblick aus Tell Feḫeriye................................................................................ 303 Joachim Bretschneider Zur religiösen Ikonographie des Geiers im Alten Iran. Der Bronzebecher aus Grab 42 von Marlik ............................................................ 311 Kirsten Drüppel Auch in einem Berg von Scherben kann man ein Muster erkennen. Mineralogische Analyse der Rohmaterialien, Verarbeitung und Brennbedingungen Halaf-zeitlicher Keramik aus dem nördlichen Mesopotamien .......... 325 Helen Gries / Katharina Schmidt Die kerngeformten Glasgefäße aus Gräbern in Assur............................................. 339 Azad Hamoto Ein Terrakottarelief mit Gilgamesch-Bild .............................................................. 355 Barbara Helwing Steingefäße des 3. Jts. v. Chr. aus Uruk. Ein neuer Blick auf die Chloritgefäße .... 359 David Kertai The “Sun(God) of all People”. Šamaš’s Presence in the Throneroom of Ashurnasirpal II at Kalḫu..................................................... 385 Sabina Kulemann-Ossen Materielle Verbindungen zwischen der Ḫābūr-Region und Kilikien im 1. Jt. v. Chr. ................................................................................. 399 Bernd Müller-Neuhof Silexfunde als chronologische Indikatoren historischer Perioden. Babylon in frühdynastischer Zeit ............................................................................ 411 Herbert Niehr Zur religionsgeschichtlichen Botschaft eines palmyrenischen Votivreliefs ........... 423 Alexander E. Sollee Das Scherbenzimmer von Assur. Ein Deutungsversuch ......................................... 433 Eva Strommenger Altsyrische Terrakottafiguren in primärer und sekundärer Verwendung ............... 447

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

X

Inhaltsverzeichnis

„Weggefährten in stürmischen Zeiten“ Sabine Böhme Gemeinsam der Wissen- und Leidenschaft für Archäologie verpflichtet. Walter Andrae (1875‒1956) und Gertrude Lowthian Bell (1868‒1926) – Weggefährten in stürmischen Zeiten ...................................................................... 457 Nadja Cholidis Tell Halaf-Scherben in der Händelallee, Berlin. Ein Brief Werner Otto von Hentigs an seine Kinder .............................................. 471 Martin Kröger Max von Oppenheim und der Heilige Krieg. Noch einmal die Denkschrift von 1914 .................................................................. 483 Gabriele Mietke Verschlüsselte Botschaften zwischen Konstantinopel und Berlin .......................... 489 Friedhelm Pedde Vom Erzgebirge ins Land der Fowlingbulls. Karl May und die vorderasiatischen Altertümer ..................................................... 507 Ellen Rehm „Immerhin mögen die Assyrer als die treuesten Verwahrer dieses ursprünglichen Motives gelten“. Gottfried Semper und die Assyrer. Eine Annäherung .................................................................................................... 535 Gabriele Teichmann Zwischen Abenteurertum, Politik und Wissenschaft. Max von Oppenheim (1860‒1946) ........................................................................ 569 Ralf-B. Wartke Charles Sester. Die Tragik eines deutschen Patrioten im Vorderen Orient ............ 581

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Grußwort der Herausgeberinnen Anlässlich seines Ausscheidens aus dem aktiven Museumsdienst haben wir Freunde und Weggefährten gefragt, ob sie für die Festschrift Lutz Martin einen Beitrag beisteuern wollen. Die Resonanz war überwältigend: Nur wenige Stunden nach der Anfrage hatten bereits die Hälfte der Kolleginnen und Kollegen nicht nur zugesagt, sondern auch ihre große Wertschätzung zum Ausdruck gebracht. Der Titel der Festschrift „Zwischen Ausgrabung und Ausstellung“ ist mit Bedacht gewählt, spiegelt er doch vortrefflich die beiden Eckpfeiler seiner archäologischen Karriere wider. Nach dem Studium der Vorderasiatischen Archäologie und Altorientalistik an der Humboldt-Universität zu Berlin promovierte Lutz Martin 1993 über Steingefäße aus Uruk / Warka. Als Glücksfall erwies es sich, dass er ein Jahr später als wissenschaftlicher Mitarbeiter seinen Dienst im Vorderasiatischen Museum (VAM) aufnehmen konnte. Er sollte schwerpunktmäßig die Grabungstradition des Museums fortführen. Dass er für diese Aufgabe bestens geeignet war, hatte er schon in Karasura (Bulgarien) und Tell Abu Hgaira (Syrien) bewiesen, zwei Grabungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Während der deutsch-syrischen Mission in Tell Abu Hgaira entdeckte Lutz Martin seine große Liebe zu Syrien – Menschen, Land und kulturellem Erbe. Dank seiner sehr guten Kenntnisse der arabischen Sprache konnte er viele Freundschaften schließen, darunter mit zahlreichen Kollegen, denen er sich bis heute eng verbunden fühlt. Große Anteilnahme und Unterstützung erfuhr er 1989 durch westdeutsche Kollegen in Syrien nach dem tragischen Unfalltod von Marion Hinkel und Joachim Voos, dem Grabungsleiter von Abu Hgaira. Zur gleichen Zeit fiel die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland, eine weitere wichtige Zäsur im Leben von Lutz Martin, wie die Auflösung der Akademie der Wissenschaften der DDR 1992. Nach einer kurzen Phase der Unsicherheit bot sich mit der Übernahme der örtlichen Grabungsleitung 1993 in Tell Knedig (Syrien) eine neue Perspektive. Die Ausgrabungen, die bis 1998 dauerten, brachten wichtige Erkenntnisse nicht nur zur Frühen Bronzezeit in der Region, sondern auch zur neuassyrischen Zeit. Projektleiterin dieser ersten Grabung des Vorderasiatischen Museums nach der Wende war Evelyn Klengel-Brandt, die Lutz Martin schließlich an das Museum holte. Als im Zuge der Baufreimachung Ende der 1990er Jahre die Keller des Pergamonmuseums beräumt werden mussten, war Martin für die Auslagerung der Überreste aus dem zerstörten Tell Halaf-Museum – annähernd 27.000 Fragmente aus Basalt! – verantwortlich. Gemeinsam mit dem Steinrestaurator des VAM, Stefan Geismeier, erkannte er das Potential des Materials, was angesichts seiner ersten Ausbildung zum Geologiefacharbeiter nicht verwundert. Seiner Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass das Restaurierungsprojekt 2001 seine Arbeit aufnehmen konnte. Das Ziel war hochgesteckt: Die Wiederherstellung der Skulpturen vom Eingang des Westpalastes!

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XII

Grußwort

Die Erfolge des unter Leitung von Nadja Cholidis, Stefan Geismeier und Lutz Martin stehenden Vorhabens waren so beeindruckend, dass der syrische Antikendienst dem Vorderasiatischen Museum das Angebot machte, die Ausgrabungen am Tell Halaf wieder aufzunehmen. Die neuen Fragestellungen überzeugten ebenfalls die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die das Projekt ab 2006 förderte, ab 2008 als Langzeitprojekt. Als der Jubilar 1988 zum ersten Mal den sagenumwobenen Tell Halaf besucht hatte, hätte er sich nicht träumen lassen, dass er 18 Jahre später als Grabungsleiter die Arbeiten Max von Oppenheims fortsetzen würde. 2010 mussten die Arbeiten vor Ort aufgrund des Bürgerkrieges eingestellt werden; das damit verbundene Leid der Bevölkerung belastet ihn bis heute. Obwohl vorrangig für Ausgrabungsprojekte verantwortlich, hat sich Lutz Martin noch als Ausstellungskurator einen Namen gemacht. An erster Stelle zu nennen ist die mit 800.000 Besuchern erfolgreichste Ausstellung des Vorderasiatischen Museums. „Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf“, im Januar 2011 eröffnet, überzeugte nicht nur durch die spektakulären Restaurierungsergebnisse, sondern auch durch das großartige Design. 2006 in das Kuratorium der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung berufen, hat Lutz Martin maßgeblich dazu beigetragen, das Lebenswerk Max von Oppenheims wieder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Vielfalt der Beiträge in diesem Band, gegliedert in acht Themenschwerpunkte, beschreibt Lutz Martins Forscherinteressen auf ausgezeichnete Weise. Die Herausgeberinnen danken allen Autorinnen und Autoren für ihre anregenden Artikel und persönlichen Widmungen. Unser Dank gilt an dieser Stelle auch Reinhard Dittmann, Ellen Rehm und Dirk Wicke, die sich sofort bereit erklärt haben, die Festschrift in der Reihe marru als Band 9 aufzunehmen. Wir sind davon überzeugt, dass Lutz Martin als Senior Consultant weiterhin für die Archäologie Vorderasiens eine besondere Rolle einnehmen wird und hoffen, dass er dem Vorderasiatischen Museum und der Fachwelt mit seinem reichen Erfahrungsschatz und seiner Begeisterung für Kulturvermittlung noch lange erhalten bleibt. Wir wünschen ihm von Herzen weiterhin viel Erfolg und persönlich alles Gute!

Nadja Cholidis Elisabeth Katzy Sabina Kulemann-Ossen

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Schriftenverzeichnis von Lutz Martin Monografien 2006 2002 1993

(zusammen mit Cholidis, N. / F. Ismā’īl), Tall Ḥalaf wa al-manqib al-barūn fūn Ūbnhaim, Dimašq (arab. Übersetzung). (zusammen mit Cholidis, N.), Kopf hoch! Mut hoch! Und Humor hoch! – Der Tell Halaf und sein Ausgräber Max Freiherr von Oppenheim, Mainz. (zusammen mit Lindemeyer, E.), Uruk Kleinfunde III, Kleinfunde im Vorderasiatischen Museum zu Berlin: Steingefäße und Asphalt, Farbreste, Fritte, Glas, Holz, Knochen / Elfenbein, Muschel / Perlmutt / Schnecke, Ausgrabungen in Uruk / Warka Endberichte 9, Mainz.

Herausgeberschaften 2019

2013 2012

2011

2010

2009

2005

(zusammen mit Oppenheim, Chr. Freiherr von), Max von Oppenheim und die arabische Welt. Die Stiftung des Diplomaten, Forschers und Sammlers, mit Beiträgen von N. Cholidis, M. Hanisch, L. Martin, G. Teichmann und B. Wiesmüller, hrsg. im Auftrag der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, Köln. (zusammen mit Bonatz, D.), 100 Jahre Feldforschungen in Nordost-Syrien – Eine Bilanz. Schriften der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, 18, Wiesbaden. (zusammen mit Baghdo, A. M. H. / M. Novák / W. Orthmann), Ausgrabungen auf dem Tell Halaf, Teil II, Vorbericht über die dritte bis fünfte syrisch-deutsche Grabungskampagne auf dem Tell Halaf mit Beiträgen von J. Becker, G. Elsen-Novák, M. Fakhru, A. Fuchs, S. Abdel Ghafour, B. Hemeier, R. Heitmann, C. Hübner, E. Katzy, A. Luther, K. Malige, S. Partheil, N. Reifarth, W. Röllig, U. Sievertsen, A. Sollee, E. Völling und R.-B. Wartke, Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,2, hrsg. von W. Röllig, Wiesbaden. (zusammen mit Cholidis, N.), Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf, Begleitbuch zur gleichnamigen Sonderausstellung des Vorderasiatischen Museums vom 28.01.2011 bis 14.08.2011, Berlin / Regensburg. (zusammen mit Cholidis, N.), Tell Halaf, Fünfter Band: Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung mit Beiträgen von Aron A. Dornauer, K. Drüppel, U. Dubiel, S. Geismeier und K. Rohn, Berlin / New York. (zusammen mit Baghdo A. M. H. / M. Novák / W. Orthmann), Ausgrabungen auf dem Tell Halaf in Nordost-Syrien, Teil I. Vorbericht über die erste und zweite syrisch-deutsche Grabungskampagne auf dem Tell Halaf mit Beiträgen von J. Becker, K. Deckers, G. Elsen-Novák, M. Fakhru, S. A. Ghafour, B. Hemeier, S. Hörner, C. Hübner, E. Katzy, M. Reutemann, S. Riehl, U. Sievertsen und B. Wolf, Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, Band 3.1, hrsg. von W. Röllig, Wiesbaden. (zusammen mit Klengel-Brandt, E. / S. Kulemann-Ossen), Tall Knēdiǧ, Die Ergebnisse der Ausgrabungen des Vorderasiatischen Museums Berlin in Nordost-Syrien von 1993 bis 1998 mit Beiträgen von K. Bastert-Lamprichs / H. G. Gebel / E. Klengel-Brandt / S. Kulemann-Ossen / L. Martin / E. Vila / R.-B. Wartke / U. WittwerBackofen, 113. Wissenschaftliche Veröffentlichung der Deutschen Orient-Gesellschaft, Saarwellingen.

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Schriftenverzeichnis

XIV

Artikel Im Druck − −

2020

2019

− −



− −





2018



Die Glyptik vom Tell Abu Hğaira I und ihr Beitrag zur Datierung der frühbronzezeitlichen Siedlung, in: GS Brentjes. „An dem Tell Halaf verzweifle ich dennoch nicht …“ – Der Tell Halaf und sein Entdecker Max Freiherr von Oppenheim, in: A. Müller (Hrsg.), Vereinschronik des Freundeskreises Alter Kulturen Freiberg. Nahe bei den Eltern: Säuglingsbestattungen in der frühbronzezeitlichen Siedlung von Tell Abu Hǧaira I in Nordost-Syrien, in: A. Ahrens / D. Rokitta-Krumnow / F. Bloch / Cl. Bührig (Hrsg.), Drawing the Threads Together. Studies on Archaeology in Honour of Karin Bartl, marru 10, Münster, 361–378. Jericho in Berlin, in: M. Peilstöcker / S. Wolfram (Hrsg.), Life at the Dead Sea. Proceedings of the International Conference held at the State Museum of Archaeology Chemnitz (smac), February 21–24, 2018, Ägypten und Altes Testament 96, Münster, 45–52. The New Excavations at Tell Halaf, in: Les Annales Archéologiques Arabes Syriennes. Revue d’Archéologie et d’Histoire LIX – LX, 55– 64. Unlocking Architectures – Communicating Cultures. Ancient Near Eastern Worlds in the Vorderasiatisches Museum, in: G. Emberling / L. Petit (Hrsg.), in: Museums and the Ancient Middle East. Curatorial Practice and Audiences, Abingdon / New York, 73–86. Lamassu oder Götterstatue?, in: H. Neumann / D. Prechel (Hrsg.), Beiträge zur Kenntnis und Deutung altorientalischer Archivalien. Festschrift für Helmut Freydank zum 80. Geburtstag, dubsar 6, Münster, 131–143. Babel und Bibel – Wie ein Streit Berlin in Aufregung versetzte, in: Alter Orient aktuell 16, 26–27. Archäologische Grabungen am Tell Halaf und am Djebelet el Beda, in: Max von Oppenheim und die arabische Welt. Die Stiftung des Diplomaten, Forschers und Sammlers, hrsg. von L. Martin und Chr. Freiherr von Oppenheim im Auftrag der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, mit Beiträgen von N. Cholidis, M. Hanisch, L. Martin, G. Teichmann und B. Wiesmüller, Köln, 69–73. Grabungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, in: Max von Oppenheim und die arabische Welt. Die Stiftung des Diplomaten, Forschers und Sammlers, hrsg. von L. Martin und Chr. Freiherr von Oppenheim im Auftrag der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, mit Beiträgen von N. Cholidis, M. Hanisch, L. Martin, G. Teichmann und B. Wiesmüller, Köln, 92–97. Forschungsförderung, in: Max von Oppenheim und die arabische Welt. Die Stiftung des Diplomaten, Forschers und Sammlers, hrsg. von L. Martin und Chr. Freiherr von Oppenheim im Auftrag der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, mit Beiträgen von N. Cholidis, M. Hanisch, L. Martin, G. Teichmann und B. Wiesmüller, Köln, 98–101. Der Tell Halaf im Spiegel der neuen Feldforschungen, in: Grenzüberschreitungen. Studien zur Kulturgeschichte des Alten Orients. Festschrift für Hans Neumann zum 65. Geburtstag am 9. Mai 2018, hrsg. von K. Kleber, G. Neumann und S. Paulus unter Mitarbeit von C. Möllenbeck, Dubsar 5, 385–400. (zusammen mit Jendritzki, G.), Ein bronzenes Rollsiegel aus dem Bīt Reš in Uruk / Warka, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 150, 7–18.

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Schriftenverzeichnis −

2016 2014 2013



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− 2011 − − − −

XV

Auf großer Fahrt – Die Terrakottawagenmodelle vom Tell Abu Hğaira I, in: J. Marzahn / F. Pedde (Hrsg.), Hauptsache Museum. Der Alte Orient im Fokus, Festschrift für Ralf-B. Wartke, marru 6, Münster, 71–89. Tell Halaf (Hassake), in: Y. Kanjou / A. Tsuneki, A history of Syria in One Hundred Sites, Oxford, 268–271. Wahre Kunst bleibt unvergänglich? – Zerstörung und Plünderung am Tell Halaf seit der Antike, in: Antike Welt 3, 8–14. (zusammen mit Cholidis, N.), „Hoffentlich wird ihm bald eine bessere, würdigere Aufnahmestätte zuteil, …“. Das Tell Halaf-Museum als Spielball privater und öffentlicher Interessen, in: Zwischen Politik und Kunst. Die Staatlichen Museen zu Berlin in der Zeit des Nationalsozialismus. Für das Zentralarchiv – Staatliche Museen zu Berlin hrsg. von J. Grabowski und P. Winter, Schriften zur Geschichte der Berliner Museen 2, Köln / Weimar / Wien, 331–349. (zusammen mit Bonatz, D.), Vorwort / Preface, in: Bonatz, D. / L. Martin (Hrsg.), 100 Jahre Feldforschungen in Nordost-Syrien – Eine Bilanz, Schriften der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, 18, Wiesbaden, IX–XII. Max von Oppenheim – Diplomat, Orientalist und Ausgräber?, in: Anatolian Metal VI, Der Anschnitt, Beiheft 6, 57–70. (zusammen mit Baghdo, A. M. H. / Novák, M.), Einleitung, in: zusammen mit A. M. H. Baghdo / M. Novák / W. Orthmann (Hrsg.), Ausgrabungen auf dem Tell Halaf, Teil II, Vorbericht über die dritte bis fünfte syrisch-deutsche Grabungskampagne auf dem Tell Halaf mit Beiträgen von J. Becker, G. Elsen-Novák, M. Fakhru, A. Fuchs, S. Abdel Ghafour, B. Hemeier, R. Heitmann, C. Hübner, E. Katzy, A. Luther, K. Malige, S. Partheil, N. Reifarth, W. Röllig, U. Sievertsen, A. Sollee, E. Völling und R.-B. Wartke, Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,2, hrsg. von W. Röllig, Wiesbaden, 7−10. (zusammen mit Fakhru, M. / Heitmann, R.), Die Grabungen am West-Palast und auf der Lehmziegelterrasse, in: A. M. H. Baghdo / L. Martin / M. Novák / W. Orthmann (Hrsg.), Ausgrabungen auf dem Tell Halaf, Teil II, Vorbericht über die dritte bis fünfte syrisch-deutsche Grabungskampagne auf dem Tell Halaf mit Beiträgen von J. Becker, G. Elsen-Novák, M. Fakhru, A. Fuchs, S. Abdel Ghafour, B. Hemeier, R. Heitmann, C. Hübner, E. Katzy, A. Luther, K. Malige, S. Partheil, N. Reifarth, W. Röllig, U. Sievertsen, A. Sollee, E. Völling und R.-B. Wartke, Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,2, hrsg. von W. Röllig, Wiesbaden, 47−61. Neue archäologische Feldforschungen am Tell Halaf, dem biblischen Gosan, in: Archäologischer Anzeiger 1. Halbband 2011, 215–234. (zusammen mit Cholidis, N.), Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf – Ein temporäres Tell Halaf-Museum, in: Museumsjournal 1, 20–23. Eroberungen mit Spaten und Zeichenstift, in: Damals, Das Magazin zur Geschichte 43,2, 22–25. „Der Tell Halaf verlangt aber noch mehrere Ausgrabungskampagnen“, in: Damals, Das Magazin zur Geschichte 43,2, 42–44. (zusammen mit K. Zimmermann), Hoher Besuch im Pergamonmuseum. Eine Göttin aus Aleppo zu Gast auf der Berliner Museumsinsel, in: Antike Welt 2), 35–37. (zusammen mit Drüppel, K. / Kratzig, A. / Franz, G. / Brätz, H. / Geismeier, S.), Aramaic Basalt Statues from Tell Halaf, Syria: Locating the Ancient Quarries, in: Archaeometry 53, 3, 441–468.

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Schriftenverzeichnis

XVI − 2010

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2009 2008

2007

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− 2006

(zusammen mit Cholidis, N.), Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf, in: Aktuell, Informationen aus Berlin Nr. 87, 15–17. (zusammen mit Kulemann-Ossen, S.), 75 Jahre nach Babylon. Die Ausgrabungen des Vorderasiatischen Museums am Tall Knēdiǧ in Nordost-Syrien, in: Das Altertum 55, 13–32. Immer noch gut für Überraschungen, in: Forschung 1, 4–9. Das Skorpionentor, (zusammen mit N. Cholidis (Hrsg.)), Tell Halaf. Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung, Tell Halaf Band V, Berlin / New York, 197–209. Der Kultraum, in: (zusammen mit N. Cholidis (Hrsg.)), Tell Halaf. Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung, Tell Halaf Band V, Berlin / New York, 221–235. (zusammen mit Cholidis, N.), Das Lehmziegelmassiv, in: N. Cholidis / L. Martin (Hrsg.), Tell Halaf. Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung, Tell Halaf Band V, Berlin / New York, 211–219. (zusammen mit Cholidis, N.), Einführung und Überblick, in: N. Cholidis / L. Martin (Hrsg.), Tell Halaf. Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung, Tell Halaf Band V, Berlin / New York, 1–15. (zusammen mit Cholidis, N.), Die Bildwerke vom Djebelet el-Beda, in: N. Cholidis / L. Martin (Hrsg.), Tell Halaf. Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung, Tell Halaf Band V, Berlin / New York, 317–335. (zusammen mit Cholidis, N. / Dubiel, U.), Zusammenfassung, in: N. Cholidis / L. Martin (Hrsg.), Tell Halaf. Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung, Tell Halaf Band V, Berlin / New York, 337–367. (zusammen mit M. Novák), Neue Grabfunde auf dem Tell Halaf, in: Archäologie in Deutschland 6, 12‒17. Ricerche archeologiche sul campo sulle tracce di Max von Oppenheim, in: R. Dolce (Hrsg.), Studi di Art Archeologia del Vincino Oriente in Memoria di Anton Moortgat a 30 Anni dalla sua Scomparsa, Roma, 440. Echt „antik“?, in: Antike Welt 40/3, 29–31. (zusammen mit Kulemann-Ossen, S.), Gefäßsets, Schmuck und Waffen – Zum Umgang mit den Toten am Tall Knēdiǧ im 3. und 1. Jt. v. Chr., in: D. Bonatz / R. M. Czichon / F. J. Kreppner, Fundstellen, Gesammelte Schriften zur Archäologie und Geschichte Altvorderasiens ad honorem Hartmut Kühne, Wiesbaden, 233–250. Die Statuette VA 4853 – Eine Darstellung des Wettergottes?, in: M. Alparslan / M. Doǧan-Alparslan / H. Peker, Belkis Dinçol ve Dinçol’a Amarǧan. Vita. Festschrift in Honor of Belkis Dinçol und Ali Dinçol, Istanbul, 475–482. Schicht um Schicht. Neue Ausgrabungen am Tell Halaf (Syrien) folgen den Spuren Max von Oppenheims, in: Antike Welt 38/3, 35–37. Die Sammlung Wido Ludwig im Vorderasiatischen Museum Berlin, in: ISIMU 6, 2003, erschienen 2007, 85–96. (zusammen mit Cholidis, N.), Lebendiges Erbe – Erinnerung an Max Freiherr von Oppenheim (1860‒1946), in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern, Bd. 132, 2006, erschienen 2007, 33–43. (zusammen mit Marzahn, J.), Enstitüz’ün Berlin’deki Muhabir Üyelerinin Faaliyetleri, in: Haberler, Eskicag Bilimleri Enstitusu Bülteni 24, Mayis 2007, 7–8. Einst vom Winde verweht – jetzt im Wasser versunken, in: Antike Welt 37/1, 33– 35.

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Schriftenverzeichnis 2005

2004 − − − 2003 − − 2002 − −

2001 − −



2000

− −



1999

XVII

(zusammen mit Cholidis, N. / Geismeier, S. / Drüppel, K. / Franz, G.), The Tell Halaf-Project, in: Berichte der Deutschen Mineralogischen Gesellschaft, Beihefte zum European Journal of Mineralogy 17, 23. (zusammen mit Dubiel, U.), Stierfigur aus Aleppo in Berlin ‒ Bildwerke vom Tell Halaf (Syrien) werden restauriert, in: Antike Welt, Heft 35/3, 40–43. Abu Ḫijārah I, Tall, in: S. Anastasio / M. Lebeau / M. Sauvage, Atlas of Preclassical Upper Mesopotamia, Subartu XIII, 36. Kunaydij, Tall, in: S. Anastasio / M. Lebeau / M. Sauvage, Atlas of Preclassical Upper Mesopotamia, Subartu XIII, 220. Tell Halaf: Neue Steinbildwerke für das Vorderasiatische Museum, in: Preußischer Kulturbesitz, Bd. 40, 2003, Berlin, 197–206. (zusammen mit Cholidis, N.), Ein Bündnis für die Götter ‒ Das Tell Halaf-Projekt des Vorderasiatischen Museums, Berlin, in: Wirtschaft und Wissenschaft, 18–21. Max von Oppenheims Berliner archäologische Sammlung ‒ Geschichte und Zukunft, in: Colloquium Anatolicum II, 87–109. Hamath and Tell Halaf. Two Centers of Aramaean City-States, in: Hama and Orontes, History and Culture, Homs, 81–88. Architekt und Künstler ‒ Orientmotive aus dem Nachlaß Wido Ludwig, in: Orient Aktuell 3, 26–28. (zusammen mit Baghdoo, A. M.), Tall Abu Hǧaira, in: Enzyclopaedia Arabienne, Damascus, 808–809. (zusammen mit Hertel, I. / Paul, L. / Schöne, C.), Restaurierung einer Deichselzier, 3D Formerfassung und Herstellung von Stützplatten für eine Deichselzier, in: EVA 2002 Berlin, Konferenzband, Berlin, 121–127. Architektur im Dialog, Vorderasiatische und ägyptische Großarchitektur im neuen Westflügel des Pergamonmuseums, in: EOS XIV, 8–10. Kuzey Suriye Tell Knedig‘de Arkeolojik Kazilar, in: Haberler, Eskicag Bilimleri Enstitusu Bülteni 12,12–13. Geborgen aus Schutt und Asche ‒ Die Zukunft der Tell Halaf-Funde, in: G. Teichmann / G. Völger (Hrsg.) im Auftrag der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, Faszination Orient: Max von Oppenheim. Forscher, Sammler, Diplomat, Köln, 266–277. Tall Knēdiǧ, in: B. Salje (Hrsg.) Vorderasiatische Museen, Gestern-Heute-Morgen, Berlin-Paris-London-New York, Eine Standortbestimmung, Kolloquium aus Anlaß des einhundertjährigen Bestehens des Vorderasiatischen Museums Berlin am 7. Mai 1999, Mainz, 117–122. Ausgrabungen – Eine Forschungsaufgabe des Vorderasiatischen Museums, Führungsblatt zur Sonderausstellung „Vor der Flut gerettet”, Vorderasiatisches Museum der Staatlichen Museen zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Mai. Vor der Flut gerettet, in: EOS XI, 16–22. (zusammen mit Kulemann-Ossen, S.), Tall Knēdiǧ ‒ A Rural Site in the Iron Age, in: G. Bunnens, Essays on Syria in the Iron Age, Ancient Near Eastern Studies, Supplement 7, Louvain, 487–503. (zusammen mit Jendritzki, G. mit einem Beitrag von J. Riederer), Badewanne oder Sarkophag?, in: J. W. Meyer / M. Novàk / A. Pruß (Hrsg.), Beiträge zur vorderasiatischen Archäologie, Winfried Orthmann gewidmet, Frankfurt a. Main, 180–195. Uruk – Eine jahrtausendealte Zivilisation, in: Welt und Umwelt der Bibel, Nr. 11, 4. Jg., 74–77 (Nachdruck d. franz. Ausgabe).

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XVIII − − − −

1998 − − − − −

1997 −



1996 −

1995 − 1994 − 1992 −

Schriftenverzeichnis (zusammen mit Geismeier, S.), Ein Puzzle aus Stein – Rekonstruktion von Skulpturen und Reliefs aus den Ausgrabungen am Tall Ḥalaf / Syrien, in: EOS VII, 20–23. Wieder im Vorderasiatischen Museum, in: EOS IX, 22. Grabbauten im Kalksteinmassiv, Syrien, 4.‒6. Jh., in: C. Tietze, Die Pyramide, Geschichte, Entdeckung, Faszination, Weimar / Berlin, 98–100. Natürliche Umweltbedingungen – Faktoren der sozialen und kulturellen Entwicklung, in: H. Kühne / R. Bernbeck / K. Bartl, Fluchtpunkt Uruk, Archäologische Einheit aus methodischer Vielfalt, Schriften für Hans Jörg Nissen, Rahden, 8–86. Tall Knēdiǧ – Ein frühbronzezeitliches Dorf – Ausgrabungen des Vorderasiatischen Museums in Syrien, in: EOS I, 6–7. (zusammen mit Kulemann-Ossen, S.), Tall Knēdiǧ, in: Orient-Express, 6–8. Uruk, une civilisation plurimillénaire, in: Le monde de la bible 112, 68–71. Deutsche archäologische Feldforschungen zu vorhellenistischen Perioden in Syrien, in: Altorientalische Forschungen 25, 265–284. Rettungsgrabungen im Gebiet des nördlichen Haburstausees, in: M. Lebeau (Hrsg.), About Subartu, Studies Devoted to Upper Mesopotamia, Subartu IV,1, 171–179. (zusammen mit Klengel-Brandt, E. / Kulemann-Ossen S. / Wartke, R.-B.), Vorläufiger Bericht über die Ausgrabungen des Vorderasiatischen Museums auf Tall Knēdiǧ / NO-Syrien, Zusammenfassung der Ergebnisse 1993–1997, in: Mitteilungen der Deutschen Orientgesellschaft 130, 73–82. (zusammen mit Kulemann-Ossen, S.), Ausgrabungen auf dem Tall Knēdiǧ 1995– 1996, in: Orient-Express, 6–8. (zusammen mit Klengel-Brandt E. / Kulemann-Ossen, S. / Wartke, R.-B. mit Beiträgen von H. G. K. Gebel und E. Vila), Vorläufiger Bericht über die Ausgrabungen des Vorderasiatischen Museums auf Tall Knēdiǧ Knēdiǧ NO-Syrien, Ergebnisse der Kampagnen 1995 und 1996, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 129, 39–87. (zusammen mit Wartke, R.-B.), Die Grabungen auf dem Tell Abu Hǧaira / NOSyrien, in: H. Waetzoldt und H. Hauptmann (Hrsg.), Assyrien im Wandel der Zeiten, XXXIXe Rencontre Assyriologique Internationale, Heidelberg 6.–10. Juli 1992, Heidelberger Studien zum Alten Orient, 6, 315–316 . Ausgrabungen auf dem Tall Knēdiǧ / NO-Syrien, in: Arcus 3, 47–60. (zusammen mit Klengel, E. / Kulemann, S. / Wartke, R.-B.), Vorläufiger Bericht über die Ausgrabungen des Vorderasiatischen Museums auf Tall Knēdiǧ / NOSyrien, Ergebnisse der Kampagnen 1993 und 1994, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 128, 33–67. Ein elamisches Rollsiegel aus Bubastis. in: Altorientalische Forschungen 22, 103– 109. Ausgrabungen am Tall Knēdiǧ in NO-Syrien, in: Orient-Express, 46–50. (zusammen mit R.-B. Wartke), Tall Abu Hğaira (1987–1990), in: Archiv für Orientforschung XL/XLI, 200‒215. Uruk, in: Lexikon der Kunst (Neubearb.): Architektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Band 7, Leipzig. (zusammen mit Tietze, C.), Ausgrabungen auf dem Tell Abu Hğaira, in: Altorientalische Forschungen 19, 263–274. (zusammen mit Wartke, R.-B.), Die Grabungen auf dem Tell Abu Hğaira / NOSyrien, in: Résumés Coopération Internationale, XXXIXe Rencontre Assyriologique Internationale, Heidelberg, 46.

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Schriftenverzeichnis −

1991 − 1990



XIX

Die Steingefäße aus Uruk als kulturhistorische Informationsquelle ‒ Eine typologische, chronologische, materialtechnische und herstellungsspezifische Untersuchung der Steingefäße des 4. bis 1. Jahrtausend v. Chr. aus den Ausgrabungen in UrukWarka, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 33, 553–567. Syrien, in: Das Altertum 37, 192. Tell Abu Hğaira, in: Orient-Express, 8–11. (zusammen mit Henrion, G. / Henrion, R.), Herkunftsnachweise an Obsidianartefakten mittels multivariater Klassifizierung von Spurenelementanalysen, in: Baghdader Mitteilungen 21, 73‒90. Syrien, in: Das Altertum 36, 256.

Katalogbeiträge 2020

2019

2017

2016

2014

2012

(zusammen mit Bunnefeld, J.-H.), Von der Ostsee nach Assur – Zum Bernsteinaustausch im frühen 2. Jt. v. Chr., in: Meller, H. et. al. (Hrsg.), Die Umwelt der Himmelsscheibe von Nebra, Ausstellung des Museums für Vorgeschichte Halle (im Druck) Blanchard, V. (Hrsg.), Royaumes oubliés. De l’empire Hititte aux Araméens, Paris.  Sur la trace des Araméens. Nouvelle fouilles à Tell Halaf 2006–2010, 327–331.  Moulage d’une stèle funéraire ornée d’une scène du banquet, 215  Statue d’homme-oiseau-scorpion, 340–341.  Socle aux sphinx, 355.  Reconstitution du socle aux sphinx, 355.  Petit Orthostates, 356–372.  Statue de couple assis, 373.  Statue féminine funéraire dite «Déesse trônant», 374–375.  Blanchard, V. (Hrsg.), Royaumes oubliés. De l’empire Hititte aux Araméens, Album de l’exposition, Paris.  Statue d’homme-oiseau-scorpion, 38.  Orthostat orné d’un sphinx, 42.  Orthostat orné d’un combat d’animaux, 43.  Orthostat orné d’un homme-poisson, 44.  Orthostat orné d’un personnage assis et de deux hommes-taureaux soutenant un disque ailé, 44.  Statue féminine funéraire dite «Déesse trônant», 45. Petit, L. P. / Morandi Bonacossi, D. (Hrsg.), Nineveh the Great City. Symbol of Beauty and Power, Papers on Archaeology of the Leiden Museum of Antiquities 13, Leiden.  Nineveh in Berlin, 303–308. Thomas, A. (Hrsg.), L’histoire commence en Mésopotamie, Lens.  Statuettes de taureaux, 131.  Reconstruction d’un panneau mural orné de cônes d’argile, 175. Aruz, J. / Graff, S. B. / Rakic, Y. (Hrsg.), Assyria to Iberia – At the Dawn of Classical Age, New York.  Vessel fragment with goat, 66–67.  Panel with Mushhushshu dragon, 344–345. Archäologie in Vorderasien. Forschung im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zehn DFG-Langfristprojekte im Porträt. Begleitheft zur Ausstellung, Bonn.  Tell Halaf / Guzana (Syrien), 74–79. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Schriftenverzeichnis

XX 2011



2008





2005

Cholidis, N. / Martin, L. (Hrsg.), Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf. Begleitband zur gleichnamigen Sonderausstellung des Vorderasiatischen Museums vom 28.01.2011 bis zum 14.08.2011, Berlin / Regensburg.  zusammen mit Baghdo, A. M. H., Mit Spaten, Pinsel und Computer. Die neuen Ausgrabungen am Tell Halaf, 181–188.  Spur der Steine. Die Gründungsgeschichte des Tell Halaf-Projekts, 293–298.  Ein Wunsch wird Wirklichkeit. Zur künftigen Präsentation der Tell HalafSammlung im Vorderasiatischen Museum, 395–402. (zusammen mit Cholidis, N. / Boehme, J.), Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf, Kurzführer zur gleichnamigen Sonderausstellung, Berlin / Regensburg.  Für immer verloren?, 29  Spur der Steine – Die Bergung, 30.  Mit Geduld und Augenmaß – Sortieren und Identifizieren, 31‒32.  Das Mögliche sehen – Die Restaurierung, 33‒35.  Für Kaiser, Volk und Vaterland – Die Ausgrabungen auf dem Tell Halaf (1911– 1913), 55.  Springmäuse verwirren den Ausgräber oder Wohnen vor 3000 Jahren, 56.  Ohne Bürokratie geht es nicht –Schriftzeugnisse vom Tell Halaf, 57.  Zur Baukunst, 58.  Der Scherben Schönheit – Die Halaf-Zeit, 60.  Grabungsdokumentation, 63.  Syrisch-deutsche Zusammenarbeit und neue Ausgrabungen, 73.  Blick in die Zukunft – Tell Halaf im Jahre 2025, 74. Marzahn, J. / Schauerte, G. (Hrsg.), Babylon-Wahrheit, Berlin.  Ischtar-Tor (Rekonstruktion des äußeren Tores), 155–156, Abb. 29.  Gründungsfigur, 159–161, Abb. 92.  Alabasterplatte in Ziegelform, 159–161, Abb. 92.  Gründungsfigur in Form eines Korbträger, 159‒161, Abb. 93.  Wandknauf, 159–61, Abb. 94.  Fassade Innin-Tempel des Karaindasch (Rekonstruktion), 186, Abb. 115.  Gewichtsente, 265–266, Abb. 184.  Steingefäße und -geräte, 305–306, Abb. 218.  Öllampen, 307–308, Abb. 221.  Anthropoider Sarkophag, 325‒327, Abb. 203. Al-Maqdissi, M. (Hrsg.), Pionniers et protagnistes de l’archeologie syrienne, 1860– 1960, D’Ernest Renan à Sélim Abdulhak, Documentes d’archeologie syrienne XIV, Damas.  Les publications définitives de Tell Halaf, 59–61.  Notice sur Djebelet el Beda, 62–64. Aruz, J. / Benzel, K. / Evans, J. M. (Hrsg.), Beyond Babylon. Art, Trade, and Diplomacy in the Second Millennium B.C., New York.  Striding Male Figure, 179. Masterpieces of the Museum Island Berlin – Visions of the Divine in the Sanctuary of Art, Tokyo, (in Japanisch).  Head of a bull, 88.  Head of a Sumerian, 76.  Head of Ur-ningirsu, 83.  Kneeling god, 83. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Schriftenverzeichnis 2003

XXI

Aruz, J. / R. Wallenfels (Hrsg.), Art of the First Cities. The Third Millennium B. C. from the Mediterranean to the Indus, New York.  Head of a Sheep, 16.  Recumbent Animals, in: J. Aruz / R. Wallenfels, 16–17.  Spouted Vessel with Inlaid Bands, 18.  Cone Mosaic Panel, 18–19.  Bowl with Bulls in Relief, 42.  Vessel Fragment with an Image of a Goddess, 77–20.  Head of a Bull, 83.  Vessel Fragment with a Leopard (?) and Snake, 336. Ausstellungsbegleiter Faszination Orient, Max von Oppenheim, Sammler, Forscher, Diplomat, Rautenstrauch-Joest-Museum für Völkerkunde Köln.  (zusammen mit P. Mesenhöller), Der Archäologe, 20–21.  Orthostaten, 22–23.  Sphingen- und Greifenkopf, 24.  Doppelsitzbild eines Ehepaares, 25. Vorderasiatisches Museum Berlin, Geschichte und Geschichten zum hundertjährigen Bestehen, hrsg. vom Außenamt der Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Berlin.  Ausgrabungen des Vorderasiatischen Museums nach 1945, 17–18.  Das Ischtar-Tor von Babylon, 23–24.  Uruk / Warka, 29–30.  Habuba Kabira, 31‒32. Harper, P. O. et al. (eds), Discoveries at Ashur on the Tigris, Assyrian Origins, Antiquities in the Vorderasiatisches Museum, Berlin, New York.  The Archaic Ishtar Temple Level G, Mid-Late Third Millennium B. C., 25–26.  Single-Handled Vessel with Lid, 88.  Two-Handled Vase, 89.  Relief Vessel Fragment, 90.  Two-Handled Vase, 90‒91.  Inlays, 98‒99.

2001

2000

1995

Rezensionen 2020

2017

− −

A. Wissing, Die Bestattungen der Frühen und Mittleren Bronzezeit in der zentralen Oberstadt von Tall Mozan / Urkeš. Eine vergleichende Analyse zu den Bestattungspraktiken des Oberen Ḫābūrgebietes. Studien zur Urbanisierung Nordmesopotamiens. Ausgrabungen 1998 – 2001 in der zentralen Oberstadt von Tall Mozan / Urkeš, SUN Serie A, Band 5, Wiesbaden 2017, in: Orientalistische Literaturzeitung (im Druck). R. Hempelmann, Tell Chuēra, Kharab Sayyar und die Urbanisierung der westlichen Ğazīra. Mit Beiträgen von Taos Babour und Matthias Hüls, Wiesbaden 2013, in: Orientalistische Literaturzeitung 112, 131–134. P. Pfälzner (Hrsg.), Interdisziplinäre Studien zur Königsgruft von Qaṭna, Qaṭna Studien Bd. 1, Wiesbaden 2011, in: Orientalistische Literaturzeitung 112, 335–338. P. Pfälzner et al., (Re-) Constructing Funerary Rituals in the Ancient Near East. Proceedings of the First International Symposium of the Tübingen Post-Graduate School “Symbols of the Dead” in May 2009, Wiesbaden 2012, in: Orientalistische Literaturzeitung 112, 495–498. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

XXII 2010

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2000 1996

− 1995 1994 − 1992

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Amélineau – Flinders Petrie und Schweinfurth … Das Konvolut frühägyptischer Funde aus dem Königsfriedhof in Abydos im Ägyptischen Museum und Papyrussammlung Berlin Robert Kuhn / Berlin Mit ca. 600 Funden besitzt das Ägyptische Museum und Papyrussammlung Berlin ein beeindruckendes Konvolut an zumeist fragmentiert erhaltenen Stücken, die aus der frühägyptischen Königsnekropole Umm el-Qa’ab bei Abydos in Mittelägypten stammen. Dabei ist allerdings nicht nur interessant, was die Funde selbst über diese, auch heute nach ca. 100 Jahren Forschung so spannenden und mit vielen Fragen verbundene Epoche zu sagen haben. Die mit den Funden verbundenen Archivalien zeigen gleichsam das Ringen der einzelnen Museen um interessante Funde und neue Aspekte der Forschungsgeschichte auf. Wenngleich der Fundplatz vorwiegend mit dem britischen Ausgräber W. M. Flinders Petrie verbunden ist, zeigt das Berliner Konvolut, das die Objekte über sehr unterschiedliche Wege an die Berliner Sammlung gelangt sind (Abb. 1). Diese Forschung ist noch nicht gänzlich abgeschlossen, doch soll hier bereits ein kurzer Vorgeschmack auf die bereits erfolgten und noch zu erwartenden Ergebnisse gegeben werden. C. Schmidt; 1; 0% W. von Bissing; 2; 0%

Bonn; 3; 1% A. Erman; 3; 1%

C. A. Reinhardt; 6; 1%

G. Schweinfurth; 20; 3% L. Borchardt; 11; 2%

E. Amélineau; 187; 33%

W. M. Flinders Petrie; 341; 59%

Abb. 1

Zusammensetzung der Provenienz des Konvolutes aus dem frühzeitlichen Gräberfeld von Umm el-Qa’ab, Abydos im Ägyptischen Museum Berlin (Stand November 2018). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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So zeigt sich, dass neben der Hauptmasse des Materials, die tatsächlich über die Kontakte mit dem späteren Ausgräber W. M. Flinders Petrie nach Berlin gelangte, ein nicht unwesentliches Konvolut (ca. 33 %) aus den früheren französischen Grabungen durch E. Amélineau stammt1. Des Weiteren gelangten Objekte durch den Verkauf und Spenden namenhafter Sammler und Ägyptologen in die Sammlung. Allerdings kann bislang nicht für alle sicher rekonstruiert werden, ob es sich hierbei um Material aus dem Konvolut der französischen, der britischen oder gar eigene „Surveys vor Ort“ handelt. In diesem Zusammenhang ist vor allem das kleine Konvolut bestehend aus ca. 20 Objekten interessant, welches dem Museum 1897 von dem berühmten Afrikaforscher G. A. Schweinfurth überlassen worden ist und das, wie unten gezeigt wird, mit den Grabungen E. Amélineau’s in Verbindung steht. Der französische Archäologe und Koptologe E. Amélineau (1850–1915), dessen Arbeiten vorwiegend von denen seines britischen Kontrahenten W. M. Flinders Petrie überschattet sind, hat die frühzeitliche Königsnekropole 1895–1898 entdeckt und maßgeblich ausgegraben2. Wohl dosierte Gerüchte wie etwa das Zerstören von Befunden und schlechte Dokumentation von Funden sowie der Verkauf von archäologischen Funden vor Ort3 brachten den Franzosen jedoch in Misskredit, so dass er seine Grabungskonzession verlor. Ab 1899 grub schließlich W. M. Flinders Petrie vor Ort, wobei E. Amélineau zumindest offiziell die Grabungslizenz noch bis 1900 innehatte4. Vieles spricht heute dafür, dass es sich um eine absichtliche und mit unlauteren Mitteln geführte Kampagne des Briten gegen E. Amélineau handelte, um gezielt die Konzession eines prestigeträchtigen Ausgrabungsortes zu ergattern – die Details sind allerdings noch immer nicht restlos aufgeklärt. Die Forschung der letzten Jahre konnte jedoch zeigen, dass sich die Arbeiten E. Amélineaus bei weitem nicht hinter denen seiner Zeitgenossen verstecken mussten und seine Dokumentation entgegen der späteren Publikationslage, sehr viel besser gewesen sein muss5. Allein 1

Cf. den ersten kurzen Vorbericht zu den laufenden Arbeiten: Kuhn 2014: 18–24. Die Arbeiten sind teils mit einigen Jahren Verzögerung zwischen 1899 und 1906 in vier voluminösen Bänden vorgelegt worden. 3 Flinders Petrie 1931: 172–174; 176; Kraemer 2013. Es wird offenbar, dass dieser Survey letztlich vor allem von Anfang an dazu diente, die Arbeiten des Franzosen auszuspionieren und möglichst die Konzession an sich zu reißen. Es muss daher auch offen bleiben, welche Wertigkeit diesen Gerüchten beigemessen werden kann und sollte. Trotz allem wurden ganz ähnliche Worte von Seiten der ägyptischen Altertümerverwaltung, die zu dieser Zeit noch in französischer Hand lag, gleichsam laut und führten schließlich zum Entzug der Grabungskonzession. Der damalige Chef der Antikenverwaltung, J. De Morgan beschreibt in seinen Memoiren die Vergabe der Konzession an E. Amélineau als « j’ai commis un crime de lèsescience que je me reprocherai tout ma vie » erklärt: J. De Morgan 1997: 409. Es fragt sich hier vor allem, inwieweit diese Aufzeichnungen von den Gerüchten beeinflusst waren, die vorwiegend von Flinders Petrie gestreut worden sind. 4 Flinders Petrie 1900; 1901. Dieses Problem ist bislang nur wenig beachtet worden. Unter dem Wissen von G. Maspéro übernahm W. M. Flinders Petrie letztlich widerrechtlich die Grabung. 5 Auf die Ungenauigkeiten bei den Tafelverweisen und im Text ist bereits häufig hingewiesen worden. Auf der anderen Seite zeigen auch die Publikationen, das E. Amélineau als einer der ersten mit sehr vielen Fotografien von Funden gearbeitet hat, was gleichsam darauf schließen 2

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der Nachweis lässt sich bislang nur schwer führen, da die Notizen und Grabungstagebücher des Franzosen verschollen sind. Mit der Konzession verließen E. Amélineau auch seine Sponsoren6, so dass er sich gezwungen sah, einen Teil der ihm laut Antikendekret von 1891 durch Fundteilung zugewiesenen Objekte, in einer Auktion im Februar 1904 im renommierten Pariser Auktionshaus Drouot zu verkaufen7. Aus dem hier angebotenen Konvolut von insgesamt 333 Lots speist sich auch ein Teil des Berliner Bestandes, wenngleich bis heute nicht einwandfrei geklärt werden konnte, wie das Material nach Berlin kam8. Nachweislich war H. Schäfer während der Auktion in Paris anwesend, ist allerdings von den beiden ebenfalls anwesenden armenischen Kunsthändlerbrüdern Kalbedjian9 zumeist überboten worden10. Interessanterweise befinden sich unter den Berliner Stücken allerdings Objekte, die nachweislich auf der Auktion von den Kalebdjians erworben worden sind11. Eine noch erhaltene Quittung im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin lässt zudem erkennen, dass die Stücke 1907 von J. Simon, einem der wohl wichtigsten Mäzene der Ägyptischen Sammlung, an das Museum verkauft worden sind12. Allerdings nennt die Quittung schlicht „Abydos-Kollektion“ ohne weitere Details über die Anzahl der Objekte etc. zu bieten. Bislang konnte nur eine kleine Anzahl des Berliner Konvolutes eindeutig mit den im Katalog von 1904 genannten Nummern identifiziert werden13. Problematisch ist dabei zum einen die teils nur sehr grob und vage gehaltene Beschreibung Amélineaus im Auktionskata-

lässt, dass entsprechende Notizen und Hinweise zu den eigentlichen Befunden hierzu auf der Grabung erfolgt sind. Leider haben nur viele dieser Informationen nicht Eingang in seine späteren Publikationen gefunden, die ehedem vielmehr als Vorberichte, denn abschließende Publikation verfasst waren. Eine differenzierte Sichtweise auf die Arbeiten von E. Amélineau ist derzeit in Arbeit: cf. Effland / Effland, in Vorber. Andreas Effland ist für viele Hinweise und Auskünfte herzlich zu danken. Einstweilen sei auf die Beschreibung und teils neue Sichtweise auf die Vita des Franzosen durch Étienne 2007 verwiesen. 6 Étienne 2007: 35. Als Sponsoren der Grabungen konnten mittlerweile die Bankiers Marquis de Biron de Sigismond Bardac und der Comte de la Bassetière identifiziert werden. 7 Auktionskatalog 1904. 8 Kuhn 2014. 9 Armenische Kunsthändlerfamilie, von denen vor allem die beiden Brüder Hagob und Garbis mit einem Geschäft in Kairo agierten, das spätestens ab 1900 belegt ist. Später ab 1905 besaßen sie auch eine Dependence in Paris. Bekannt wurden sie im Fach vor allem dadurch, dass sie große Teile der Sammlung von Amélineau, Hilton-Price und MacGregor erwarben und diese dann weiterverkauften. Cf. das Kurzporträt bei Hagen / Ryholt 2016: 225–226. 10 Dies wird vor allem aus den überlieferten Briefen des amerikanischen Ägyptologen H. Breasted offenbar, der ebenfalls während der Auktion zugegen war und über einige der Details in Briefen berichtet: cf. Larson 2010: 72. 11 Ein steinernes langovoides Gefäß (Auktionskatalog 1904, Nr. 212) ging beispielsweise aufgrund der Annotation im Exemplar aus Châteaudun an die Brüder Kalebdjian. Das Objekte wurde 1907 in Berlin inventarisiert und befindet sich in der Berliner Sammlung unter der Inv.-Nr. 18139: cf. Scharff 1929: 215; Kuhn 2016: 137–139. 12 Unpublizierter Quittungsbeleg: GV 728, S. 1313 (Quittung vom 08.08.1907) cf. Kuhn 2016. 13 Kuhn 2016; Kuhn in Vorber. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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log als auch die vor allem durch den II. Weltkrieg bedingte Dokumentations- und Erhaltungslage der Objekte im Museum. Nicht selten lassen sich nur noch kleinteilige Fragmente nachweisen, die teils (noch) nicht eindeutig identifiziert werden konnten. Zudem zeigt sich, dass nicht alle Objekte, darunter vor allem Steinwerkzeuge, vor dem II. Weltkrieg allesamt inventarisiert worden sind. Daher lässt sich bei einigen Massenprodukten wie etwa dünnen Feuersteinklingen nicht mehr zweifelsfrei sagen, ob es sich um ehemals aus dem Konvolut Amélineau oder Flinders Petrie stammende Stücke handelt. Die detaillierte Kleinarbeit und weitere Suche in den unterschiedlichen Archiven wird daher auch in den nächsten Jahren notwendig sein, um sich diesem Konvolut abschließend widmen zu können. G. Schweinfurth Während der Konflikt zwischen W. M. Flinders Petrie und E. Amélineau hinlänglich bekannt ist, sei an dieser Stelle ein weiterer Kontrahent vorgestellt, der sich ebenfalls in ganz ähnlicher Weise wie der britische Kollege um das „Abwerben“ der Abydos-Konzession bemühte. Im Archiv des Berliner Museums findet sich ein interessanter Brief von G. Schweinfurth14, der sich an den ehemaligen Direktor des Ägyptischen Museums, A. Erman, richtet. G. Schweinfurth, der vor allem aus Interesse an der Botanik nach Ägypten gegangen war und seit 1875 mehrere Jahre in Kairo lebte, unterhielt allerdings schon früh enge Kontakte mit Archäologen und Ägyptologen. Bis heute ist die Bedeutung G. Schweinfurths für die Ägyptologie nicht vollständig herausgearbeitet worden, dabei kommt ihm vor allem an der Erforschung der frühesten kulturellen Hinterlassenschaften im Niltal – vor allem der Steinzeit – große Bedeutung zu15. Daneben mischte sich der eher naturwissenschaftlich interessierte Universalgelehrte in den ägyptologischen Fachdiskurs ein, in dem er vor allem von früh an auch anthropologische, botanische und zoologische Quellen zum Vergleich hinzuzog und somit teils neue und innovative Ideen einzuflechten vermochte. Darüber hinaus war G. Schweinfurth offensichtlich ein emsiger Sammler, der sowohl auf Grabungen und Surveys16 als auch bei den diversen Antikenhändlern fündig wurde. Das so zusammengetragene Material bestehend aus Bodenproben, botanischen Resten als auch Archaeologica stellte er schließlich diversen europäischen Museen zur Verfügung, was sich letztlich in dem zeitgenössischen Zitat G. Roeders, seinerzeit Direktor der Sammlung in Hildesheim zeigt: „Wer in irgendeine größere ägyptologische Sammlung tritt, blicke um sich, ob er nicht eine Spur vom Schweinfurth-Wirken in ihr erkennt. … Hätte Schweinfurth die unsichtbaren Gaben nicht gerettet, wären viele von ihnen gewiss nicht auf uns gekommen, 14 Der Brief findet sich zusammen mit weiteren Separata von G. Schweinfurth gebunden in der Separata-Sammlung des Nachlasses von Adolf Erman: Inv.-Nr. Dd 16 Sch II: 126–131. 15 Neben einer frühen Biographie Guenther 1954, die sich vor allem mit dem Afrikaforscher im Generellen beschäftigt, sei einstweilen auf die vorwiegend ägyptologische Sichtweise verwiesen: Roeder 1926; Finneiser 2010: 48–51; Finneiser / Linscheid / Pehlivanian 2010. Zur Bedeutung Schweinfurths für die Erforschung des Paläolithikums in Ägypten: Toepfer 1989; Briois / Midant-Reynes 2014. 16 Kuhn in Vorber.

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sondern achtlos vernichtet oder schlecht geborgen worden.“17 Wenngleich G. Roeder hier besonders auf die Bedeutung hinweist, die den zuvor eher achtlos behandelten botanischen Proben und Textilfragmenten18 auf den frühen Grabungen in Ägypten aufgrund von G. Schweinfurth zu Gute kamen, ist bis heute in vielen Fällen nicht zweifelsfrei zu belegen, wie der Forscher im Einzelnen an das Material gelangt ist. In diesem Zusammenhang ist der in Berlin aufbewahrte Brief des Forschers in vielerlei Hinsicht interessant: Inhalt des Briefes, hier mit Dossier überschrieben ist eine Kurzzusammenfassung der Grabungen E. Amélineaus mitsamt kleiner Grabskizzen, verbunden mit der Aufforderung an Erman diese, oder doch eine ähnliche Grabung – für das Ägyptische Museum in Berlin zu gewinnen. Dossier19: G. Schweinfurth, Notizen Om-el-Gaab betreffend von G. Schweinfurth, Juni 1897 Om el Gaab bei Abydos. [mit ergebensten Grüßen. Ich werden morgen, Freitag um /2 kommen. G. S.20] [S. 127] Om el-gaab bei Abydos. Die nördlichen Hügel der Om-el-Gaâb genannten Gruppe sind 1896 von Amélineau nur unvollständig erfasst worden und versprechen noch 2–3 unberührte Königsgräber. Die alten Scherbenhügel, die sich hier im Lauf einer langen Reihe von Dynastien aufgehäuft haben, entsprachen offenbar dem Bedürfnis, an der altgeheiligten Stelle des Todtencults des Osiris Spenden niederzulegen. Ausser den kleinsten Schalen, Näpfen und Tellern, finden sich hier (mehr auf der Oberfläche) eine Menge grosser Amphoren. Es ist mir fraglich ob diese Scherbenhügel alle einen Nucleus von Felsmasse oder nur theilweise haben, in dem ursprünglich die Königgräber ausgeschachtet waren. Bei dem von Amelineau als „Den“ bezeichneten Stufengrabe ist das gewiss der Fall. Es kann aber sein, dass die anderen, [?21] der grosse Bau (von 1897) demjenigen von Negada (de Morgan 1897) entsprechend, ursprünglich oberirdische Bauten darstellten, die erst nach und nach von den Scherbenmassen ausgefüllt und verdeckt wurden. [S. 128] Man hat vom Nil bei Baliana bis Abydos 13 Kilom. Wenn man sich dem Platze nähert, gewahrt man über der Linie des Wüstenrandes mit ihren Dörfern und Palmen, in die auch die alten Tempel eingefügt sind, in der Höhe auf gelblichen Sandgrunde, d. h. zwischen dem Fuss des Gebirgsabfalls und der Randlinie des Nilthals die Mitte haltend, einen rötlich-braunen Streifen. Das sind die „Om el Gaab“ genannten 5–7 Scherbenhügel, 3–2 Kilom. entfernt von den alten Tempeln. [S. 126]

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Roeder 1926: 580. Vor allem die Bedeutung für die Textilarchäologie: Linscheid 2010: 14–19. 19 Die Abschrift folgt der tatsächlich vorliegenden Orthographie. 20 Die kurze Annotation findet sich am rechten unteren Rand des kleinen Dossiers. 21 Wort nicht sicher zu entziffern. 18

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Ich zweifle nicht daran, dass Amélineau im kommenden Jahre seine Ausgrabung bei Abydos fortsetzen wird und dass als dann keine Aussicht ist den Franzosen diesen Platz wegzunehmen. Sollte er keine Gelder (??) aufzutreiben vermögen, so müsste man sehr schnell bei der Hand sein, um den Platz zu sichern. Ich werde wohl bald erfahren ob Amélineau seine Grabungen fortzusetzen gedenkt, oder nicht. Es giebt im thinitischen Gau aber noch andere viel versprechende Stellen zur Ausbeutung, namentl. weiter im Nord (sic!) von Abydos (z. B. Bet Allam).

Skizze 1: Grab des « rois serpent » (ob ursprünglich ein Freibau??) Mit Thonziegelmauern ringsherum Theilweise erscheinen die Mauern gerötet, durchgebrannt, vom Feuer, das den Inhalt des Grabes zerstörte (5.000 Silex …)

Skizze 2: Stufengrab des Königs „Den“ Im Grabe „Den“ fand sich die grosse Granitvase, die den Horusnamen zweimal zeigte22. 22

Wenngleich die Bezeichnung „Granitvase“ etwas merkwürdig anmutet, so dürfte G. Schweinfurth mutmaßlich auf den sogenannten Mörser Bezug nehmen, dessen Fragmente heute im Museum von Mariémont (B.101) und Brüssel (MRAH 100) aufbewahrt werden. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Skizze 3: Das Grab des „Gad“ Königs ist kleiner, war mit „Holz“ gepflastert (nach Amél.) Mauer aus geschlagener Nilerde, aber mit Maueraufsatz von Luftziegeln.

Skizze 4: Scherbenhügel bei Abydos „Om el-Gaâb“ (D. h. Mutter der Kleinen Töpfchen), 2 Kil. vom Seti Temp.

Amélineau 1899: pl. 19B mit S. 121 und S. 288; Hendrickx / Eyckerman 2009: 305–306; Vanhulle 2013: 211–213; Kuhn i. Vorber. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Skizze 5: Grab des Dewen *** Dem Brief folgen teils recht detaillierte Skizzen, die inhaltlich allerdings offensichtlich etwas durcheinander gekommen zu sein scheinen. Im Folgenden seien sie in ihrer chronologischen Reihenfolge kurz kommentiert: Skizze 4 Ziemlich weit am Ende des Briefes steht die Skizze des gesamten Gräberfeldes und zeigt den Grabungszustand der ersten zwei französischen Kampagnen 1895/1896– 1896/1897. Ganz im Nordwesten ohne weitere Markierung nur als Oval eingezeichnet, dürfte der älteste, heute als Friedhof U bezeichnete, zu finden sein23. Südlich hiervon mit drei Kreuzen markiert, findet sich das sogenannte Hauptgräberfeld Umm el-Qaab mit den Königsgräbern der 1. Dynastie. Während der Kampagnen von E. Amélineau wurden die Gräber der Könige Djer, Djet, Dewen, Semerchet und Qa’a ausgegraben. Es mag daher verwundern, dass G. Schweinfurth hier nur drei Kreuze anführt, obwohl auch ihm bereits alle Gräber bekannt gewesen sein dürften. Leicht westlich des Wadi-Verlaufes, zumindest nach der Skizze von G. Schweinfurth, hat er ein weiteres Grab, das nahezu S-N orientiert sein soll, eingezeichnet. Es weist einen charakteristischen Knick auf. Das Grab ist nochmals in seiner Skizze 3 23

Bei Amélineau 1899: 75–88 als « premier plateau » benannt – dieses Areal ist heute als Friedhof „U“ bekannt. Zur Auswertung des keramischen Materials liegt bereits eine vollumfassende Publikation vor: cf. Hartmann 2017. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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aufgenommen. Sowohl die Skizze als auch die namentliche Zuweisung durch G. Schweinfurth irritieren, da es sich eindeutig um das Grab des letzten hier bestatteten Königs, Chasechemuj, handelt (s. u.). Auf der Ostseite des gestrichelt wiedergegebenen Wadiverlaufes findet sich ein weiteres Oval mit einem Kreuz. G. Schweinfurth vermutet hier wären noch 2–3 Königsgräber zu entdecken, was ihn wohl auch dazu animierte die Stelle mit einem Kreuz entsprechend zu markieren. Die Untersuchungen der letzten 100 Jahre haben jedoch gezeigt, dass es sich bei dem Areal des sogenannten Südhügels um kein Königsgrab handelt24. Interessant ist an der Skizze des Gesamtareals von G. Schweinfurth nicht zuletzt, die Bedeutung, die er offensichtlich auch dem Wadi-Eingang zuspricht. Neben der von ihm Erwähnung findenden Bedeutung als alter Karawanenweg zur „Großen Oase“25, haben vor allem A. und U. Effland unlängst auch die mythische Bedeutung des Wadis als Eingang in die Unterwelt und somit wichtige Prozessionsachse im Zusammenhang mit der Anlage der Nekropole schlüssig nachweisen können26. Skizze 1: Grab des « roi serpent » Die Skizze zeigt einen Schnitt durch die Königskammer des Grabes, die kurz nach E. Amélineau auch von W. M. Flinders Petrie und später bei den Nachgrabungen durch das DAI Kairo erneut zumindest kurz angeschnitten worden ist27. Eine vollständige neue Ausgrabung der Anlage steht bislang noch aus. Bereits E. Amélineau verweist auf den Umstand, dass die Ziegel teils aufgrund eines sekundär erfolgten Brandes verziegelt gewesen seien, was sich auch durch die Grabungen des britischen Archäologen und die deutschen Nachgrabungen hat bestätigen lassen28. Interessant und bis heute nicht gänzlich verstanden, ist der obere Einbau des Lehmziegelmauerwerks, das bereits bei G. Schweinfurth als Freibau(?) angesprochen wird und zu diversen Diskussionen und Thesen zur Gestaltung des Oberbaus geführt hat29. Interessant ist die riesige Anzahl an Silexfunden, die von G. Schweinfurth im Zusammenhang mit dem Grab erwähnt wird. Die Zahl von 5.000 Feuersteinwerkzeugen scheint doch auch optimistisch gesehen, etwas hoch gegriffen. E. Amélineau erwähnt für das Grab des Chasechemui immerhin 594 solcher Objekte30. Dies ist neben der Erwähnung des Fundes von 394 Pfeilspitzen aus Silex (sic!)31 aus der ersten

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Effland / Effland 2013: 93–97. Gemeint sein dürfte hier wohl die Oase Charga. Tatsächlich ist der Abgang durch das Wadi bei Umm el-Qa’ab Bestandteil der alten Oasenroute. 26 Dreyer 2007 als möglicher Bezugspunkt und Eingang in die Unterwelt; ein ausführliches Konzept unter Einbindung weiterer geographischer und baulicher Besonderheiten insbesondere für die Kulttopographie ab dem Neuen Reich: cf. Effland / Effland 2010: 133–167; Effland / Effland 2013: bes. S. 46. 27 Zu den neuen Arbeiten: Dreyer 1991: 93–104; Meyrat 2013: 31–35. 28 Dreyer 1993: 57. 29 Zusammenfassend mit Erwähnung der älteren Thesen und Literatur: Dreyer 1991. 30 Amélineau 1902: 271. 31 Amélineau 1899: 183. 25

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Kampagne allerdings auch die einzige quantitative Aussage zu Feuersteingeräten, die vom französischen Ausgräber getätigt werden. Skizzen 2 und 5: Stufengrab des Königs Den Eines der größten und architektonisch spannendsten Gräber des Friedhofes ist unweigerlich das des Königs Dewen aus der Mitte der 1. Dynastie, welches offensichtlich auch G. Schweinfurth faszinierte und ihn bewog mehrere Skizzen anzufertigen. Es handelt sich hierbei aber nicht, wie die etwas verwirrende Betitelung G. Schweinfurths mutmaßen ließe, um ein Stufengrab32, sondern um das erste Königsgrab, welches mittels Lehmziegeltreppe zugänglich ist. Diese Treppe, laut G. Schweinfurth bestehend aus zwei Teilen mit je 14 Stufen, taucht daher auch in seiner Skizze zweifach auf. Diese Treppe dürfte nicht nur für den Bau der Königskammer, sondern vor allem auch für die Logistik der Beschickung und die Abhaltung der Bestattung von großer Bedeutung gewesen sein, vereinfachte sie doch das Betreten der Kammer deutlich. Nach der erneuten Aufnahme des Grabes im Rahmen der deutschen Nachgrabungen konnte die 7 m tiefe Hauptkammer mit den Maßen 8,8 m x 16 m erneut komplett ausgegraben werden. Die Maße, die G. Schweinfurth angibt sind daher recht gut abgeschätzt oder gemessen. Irritierend ist allerdings die in Skizze 2 aufgeführte Pflasterung der Königskammer. Zwar ist es richtig, dass sich vor allem im Westen der Königskammer noch ein monolithischer Block aus Aswan-Granit befindet, doch sind die kleinen pflasterartigen Einzeichnungen Schweinfurths deplatziert. Es handelte sich hingegen um wahrlich große Steinplatten33, deren Einsetzen auch technisch und logistisch einen erheblichen Aufwand bedeutet haben musste. Des Weiteren wirkt es heute bemerkenswert, dass er gerade beim Grab des Dewen, für das bereits E. Amélineau eine starke Verfärbung der Ziegel aufgrund eines sekundären Brandes angibt, keinerlei Erwähnung in den Skizzen findet, wohingegen er dies für das Grab des Djet explizit aufführt. Die zum Grab dazugehörigen 153 Nebenkammern, sowie der bereits von W. M. Flinders Petrie erwähnte Annex sind hingegen nicht aufgeführt, wobei fraglich bleibt, ob sie tatsächlich von E. Amélineau allesamt aufgedeckt worden sind. Wie viele der Nebengräber tatsächlich bereits von E. Amélineau aufgedeckt worden waren, lässt sich derweil kaum feststellen, da der Ausgräber in seinem Bericht die Existenz dieser Kammern nur en-passant erwähnt, allerdings keine quantitativen Angaben macht34. Dies findet sich auch in der Publikation seines Planes, der gleichfalls allein den Treppenzugang und die Königskammer zeigt35. Zumindest einige der Nebengräber waren, wie dies auch Skizze 5 zeigt, offensichtlich bereits ausgegraben. So verweist G. Schweinfurth auf „contrahierte Skelettreste“, die sich oberhalb 32

Die Bezeichnung G. Schweinfurths wirkt irritierend, allerdings ist dies sicherlich lediglich eine ungenau gebrauchter Wortlaut und kein inhaltlicher Fehler. Schweinfurth war durchaus bewusst, dass es sich nicht um eine „Stufenmastaba“ gehandelt hat. 33 Dreyer 1998: Abb. 31. 34 Amélineau 1899: 121. 35 Amélineau 1899: fig. 10. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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des Treppenzugangs befinden und zu den Nebengräbern oberhalb des Zugangs gehören. Skizze 3: Grab des „Gad“ Königs Etwas merkwürdig mutet die Skizze 3 an, die dem Grab des Gad / God [?] gewidmet ist und einen Knick in der Grabachse aufweist. Für die Identifizierung helfen zum einen aber die Annotation, es handele sich um den großen Bau, den E. Amélineau 1897 entdeckt und auszugraben begonnen hatte, sowie die Angabe der Anzahl der Kammern, die sich mit der 1902 für das Grab des Chasechemui decken36. Warum es in der Skizze zu diesem deutlichen Knick kommt, der sich weder in der Planzeichnung Amélineaus noch in der Realität findet37, muss dabei ungewiss bleiben. Nicht nur die Grabungen W. M. Flinders Petries, sondern vor allem die Nachgrabungen durch das DAI haben dazu geführt, dass wir nun einen vollständigen und guten Architekturplan des Grabes vorliegen haben. *** Leider ist bislang keine Antwort auf den Brief von G. Schweinfurth überliefert – wenn es diese überhaupt in schriftlicher Form gegeben hat. Wie auf der ersten Seite des Briefes vermerkt, ersuchte er um ein persönliches Gespräch bei Erman. Sicherlich ist davon auszugehen, dass G. Schweinfurth eine kurze Notiz zum Gespräch auch in seinen Kalendertagebüchern vermerkt hat, von denen leider viele Bänder während und kurz nach dem II. Weltkrieg verloren gingen. Ein kleiner Teil – allerdings spätere Jahre in Ägypten betreffend – befindet sich heute in der Obhut des Archives in Krakau38, ein weiterer Teil wird in der Preußischen Staatsbibliothek aufbewahrt39. Daher müssen viele der sich an den Brief anschließenden Debatten derweil Spekulation bleiben. Immerhin lässt sich über die Archive der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte40 rekonstruieren, dass G. Schweinfurth nicht nur über seine Arbeiten und Reisen ständig per Briefverkehr korrespondierte sondern auch im Juni in Berlin für einen Vortrag anwesend war. Soweit bekannt, lassen sich keine offiziellen Anfragen von Berliner Seite nachweisen, die auf das Drängen zum Erhalt einer Grabungskonzession vor Ort hinweisen. Während sich G. Schweinfurth im hier vorgestellten Brief weitgehend bedeckt hält, hat er doch im Laufe der nächsten beiden Jahre auch öffentlich häufig Stellung 36

Amélineau 1902: Plan du tombeau (ohne Seitenangabe). Zur Besprechung der Architektur nach der erneuten Aufnahme des Grabes im Rahmen der Nachuntersuchungen durch das DAI Kairo: Dreyer et al. 2003: 108–114 mit einem aktuellen Grabplan. Man sieht hier durchaus, dass die Mauern zwar nicht ganz so gerade verlaufen, wie sie bei E. Amélineau 1902 ausgeführt sind, ein so starker Knick wie bei Schweinfurth findet sich dennoch nicht. 38 Nodzyńska 2007. 39 Finneiser / Linscheid / Pehlivanian 2010. 40 In der Zeitschrift der Gesellschaft, Zeitschrift für Ethnologie, finden sich zudem große Teile der Briefe Schweinfurths vollständig abgedruckt und geben somit eindrücklich Einsicht in die laufenden Forschungsarbeiten und Reisen des Botanikers. 37

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bezogen und – ähnlich wie W. M. Flinders Petrie – vehement die Grabungsmethodik und -arbeit von E. Amélineau angeprangert und aufs schärfste kritisiert41. Wenngleich es zu keiner Berliner Beteiligung oder Grabungsübernahme in Abydos gekommen ist, so war man von Seiten des Museums sehr wohl an Funden aus dem Königsgräberfeld interessiert, was die beträchtliche Anzahl an Objekten aus Abydos belegt. Eine kleine Anzahl von 20 Funden verdankt das Museum einer Schenkung von G. Schweinfurth aus dem Jahre 1897, die unzweifelhaft im Zusammenhang mit dem hier kurz vorgestellten Brief stehen. Das Inventarbuch führt sie allesamt als „aus den Grabungen von Amélineau“. Allein zwei Konvolute organischen Materials (Sykomorenfeigen ÄM 14898–ÄM 14899) sind erst 1899 von G. Schweinfurth geschenkt worden. Von den ehemals 20 Objekten werden heute fünf Objekte vermisst. Die noch vorhandenen zeigen teils kriegs- und lagerungsbedingte Schäden. Die Bruchstücke und Objekte dürfte G. Schweinfurth im umliegenden Grabungsschutt aufgelesen und nicht bei einem offiziellen Besuch der Grabung von E. Amélineau vom Ausgräber überreicht bekommen haben. Hierfür spricht auch die Notiz im Inventarbuch, die sich allerdings leider nur auf eine einzige Nummer bezieht: „… aus dem Grab des roi serpent zu Om el-Gaab (Abydos), das von Amélineau 1896 geöffnet ist. 1897 von Schweinfurth aufgelesen.“42. Es ist wohl zu Recht davon auszugehen, dass auch die übrigen Funde auf diese Weise erworben worden sind. Aus den Briefen und Vorträgen, die vor allem der Zeitschrift für Ethnologie abgedruckt sind, ist allerdings gut dokumentiert, dass G. Schweinfurth in engem Kontakt mit E. Amélineau gestanden hat. Vor allem ging es ihm um interessante Aspekte zur frühen Mumifizierung, die auch den Berliner Anatom R. Virchow interessierten. Zu diesem Zweck stand G. Schweinfurth in Verhandlung mit E. Amélineau, um entsprechende Schädelfunde aus Abydos für die Berliner Gesellschaft zu erwerben43. Neben der Frage nach Schädeln schreibt er in einem Brief vom 16.12.1896 aus Aswan an die Berliner Gesellschaft „… auch ließe sich sehr leicht für ihre Gesellschaft eine Collection charakteristischer Topfscherben u.s.w. zusammenstellen, von denen im weggeräumten Schutt der Ausgrabungen zu Abydos viele

41 So berichtet G. Schweinfurth vor allem in Medien, die einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sind und nicht ausschließlich in Fachjournalen über die laufenden Grabungen des Franzosen. Cf. Schweinfurth 1897; Schweinfurth 1898: 141–145. In diesen Texten wird er nicht müde, die Arbeiten Amélineaus mit „… auf dem Felde der ägyptischen Schatzgräberei“ (Schweinfurth 1898: 141) und weiter: „… Die dem glücklichen Entdecker für die Gegend von Abydos ertheilte Ausgrabungsbefugniss hat noch für die zwei nächsten Jahre Geltung, ein Vorzug, der nicht mit Unrecht von vielen Seiten bemäkelt worden ist, da Amélineau, so gross auch seine Verdienste um die Förderung der ägyptischen Alterthumskunde sein mögen … späteren Generationen, wenn er noch zwei weitere Kampagnen besteht, schwerlich irgendetwas von hervorragendem Interesse auf dem von ihm ausgebeuteten Felde zu entdecken übrig lassen wird …“ (Schweinfurth 1898: 144–145). 42 So der Inv.-Bucheintrag für die Nummer ÄM 13991. 43 Brief vom 16.12.1896 cf. Schweinfurth 1897: 30 ff.

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Tausende nutzlose daliegen sollen. Wenn ich dazu im Stande bin, will ich selbst hingehen und nachsehen. …“44 Auf den meisten Funden ist zudem noch eine in Rot aufgetragene numerische Markierung45 – in einigen wenigen Fällen sogar kleine Aufkleber erhalten, die möglicherweise auf alte Listen von G. Schweinfurth zurückgehen, die aber bislang nicht verifiziert werden konnten. In Rot handelt es sich jeweils um Zahlen, die offensichtlich Materialklassen bzw. Typen bezeichnen. Die Aufkleber benennen den Fundort. Katalog46 I) Tongefäße *ÄM 13961. Vollständig erhaltener kleiner Deckel / Schälchen (Abb. 2) M: Nilton. H. 3,7 cm; Dm. 14,0 cm; Gewicht: 267 g. Rote Kreideaufschrift: 27 Handaufgebautes, unregelmäßig geformtes und nachgedrehtes, flaches Deckelchen oder Schälchen mit ausgezogener, abgerundeter Randlippe und flachem Standboden. Die Außen- und Innenwandung sind jeweils rot bemalt. Stellenweise findet sich Sinter auf der Oberfläche. Laut Inv.-Buch nahe des Dewen-Grabes gefunden. Ton und Ausführung sind sehr viel dicker und grober gearbeitet als die üblichen vor Ort gefundenen qaab-Schälchen des Neuen Reiches und der Spätzeit, so dass hier durchaus ein Schälchen / Deckelchen der 1. Dynastie vorliegen könnte.

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Brief vom 16.12.1896 cf. Schweinfurth 1897: 30. Es handelt sich hierbei um Zahlen von 27 bis 44. Da gleiche Zahlen bei gleichen Gefäßtypen genannt werden, spricht dies sehr dafür, dass hierbei eine interne Nummerierung bzw. typologische Einteilung der Funde vorgenommen worden ist. Um Hinweise auf die Grabnummer etc. dürfte es sich jedoch augenscheinlich nicht handeln. Im Gegensatz dazu verweisen die kleinen handgeschriebenen Aufkleber auf die Herkunft „Abydos“, teils mit weiterer Klärung des Grabes, wenngleich keine weiteren näheren Fundortspezifizierungen vorgenommen worden sind. 46 Die hier verwendeten Abkürzungen sind wie folgt aufzulösen: * steht vor Objekten, die nicht Kriegsverlust sind; M = Material; H = max. erhaltene Höhe; Dm: max. Randdurchmesser; BDm = max. Bodendurchmesser; T = Tiefe; WD = Wandstärke. Die Formenansprache erfolgt auf Grundlage des Gefäßindex (Gi), wie er von Holthoer 1977 und Hendrickx / Bielen 2001 herausgearbeitet worden ist. 45

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Abb. 2

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Kleine Schälchen / Deckelchen aus der Königsnekropole von Abydos. Ägyptisches Museum und Papyrussammlung Berlin ÄM 13961, 13962, 13967-1–13967-3 (Zeichnungen: R. Kuhn, Tuschung: S. Konert). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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*ÄM 13962. Vollständig erhaltener kleiner Deckel / Schüsselchen (Abb. 2) M: Nilton. H. 4,2 cm; Dm. 13,8 cm; Gewicht: 380 g. Rote Kreideaufschrift: Nummer nicht mehr sicher lesbar. Ganz ähnlich handaufgebautes Deckelchen / flaches Schälchen, wie ÄM 13961, allerdings sehr viel grober gearbeitet. Vor allem im Bereich des leicht ausgezogenen Standfußes finden sich viele Fingerabdrücke und Druckspuren. Die kleine Drehschnecke im Zentrum der Schaleninnenseite spricht dafür, dass das Gefäß nach dem Handaufbau nachgedreht worden ist. Laut Inv.-Buch nahe des Dewen-Grabes gefunden. Die kleinen Räucherschälchen, die charakteristischen qaab, die nicht zuletzt auch für die Namengebung des Fundplatzes eine große Rolle spielten47, können unweigerlich mit den Prozessionen und Ritualen des Neuen Reiches verbunden werden. In der Forschung ist ihnen hingegen bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden48. V. Müller hat in ihrer Bearbeitung der Schälchen aus den Deponierungen nahe des Dewen-Grabes in Umm el-Qaab fünf Typen unterschieden, die sie mit Kulthandlungen aus der Spätzeit in Zusammenhang bringt. Typologisch ist dabei vor allem interessant, dass gerade Vertreter der Gruppen I–IV, zu denen auch Beispiele des Schweinfurth-Konvolutes gehören, bislang ausschließlich für den Raum Abydos belegt werden können49. Leider hat G. Schweinfurth nicht die genaue Lage der Schälchen dokumentiert, doch scheint ein Großteil des Materials tatsächlich aus dem Bereich des Dewen-Grabes zu stammen. Während der Nachgrabungen des DAI vor Ort, konnte gezeigt werden, dass viele der kleinen Schälchen mit der Mündung nach unten gedreht deponiert worden waren. Zudem fanden sich in vielen der Schälchen Pflanzenkörner, darunter Kichererbsen, Sykomorenfrüchte, Blätter und kleine Zweige, die als Opfergaben interpretiert werden50, die letztlich im Zusammenhang mit dem Osiriskult vor Ort stehen. Inwieweit es sich um (Opfer-) schälchen bzw. Deckel handelt, lässt sich anhand der Gefäßform nicht zweifelsfrei unterscheiden, da es sich grundsätzlich um multifunktionale Formen handelt51. Abgesehen von den beiden ersten kleinen Schälchen/Deckelchen (ÄM 13961–13962) dürften die restlichen Formen aus den jüngeren Belegungshorizonten der Spätzeit stammen. *ÄM 13974. Randscherbe einer langovoiden Flasche (Weinflasche). (Abb. 3) M: Mergelton. H. 20,5 cm; Dm. 23 cm; WD. 1,5–1,7 cm; Gewicht: 851 g. Publiziert: Scharff 1929: Kat.-Nr. 379. 47

Petrie 1900: 7. Müller 2003: 99–101; Budka 2010. 49 Müller 2003: 99–101; Budka 2010: 45. 50 Müller 2003: 101. Müller verweist gleichsam darauf, dass die botanische Bestimmung des neugefundenen Materials noch aussteht. Bei einer Untersuchung der Deponierungen westlich des Chasechemui-Grabes konnten zudem Koprolithen in Zusammenhang mit den qaabSchälchen nachgewiesen werden: Effland 2010: 26–27; 29. 51 Hierzu ausführlich: Müller 2006: 40; Müller 2008: 151–152. 48

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Rote Kreideaufschrift: 44 Der Mündungsrand ist handgerollt und recht spitz nach unten einziehend. Der Hals ist kurz und zieht nach außen. Oberhalb der Schulter, 5,5 cm unterhalb des Mündungsrandes, lassen sich noch zwei Dekorbögen erkennen, die beide mit dem Finger in den noch feuchten Ton gezogen worden sind. Der Durchmesser des rechten Bogens beträgt ca. 8 cm. Während der rechte nahezu einen vollständigen Kreis beschreibt, ist der linke zweigeteilt. Unter dem linken Bogen befindet sich leicht versetzt und den ersten schneidend ab ca. 8 cm vom Mündungsrand ein weiterer Halbbogen, der allerdings sehr viel enger gezogen worden ist. Im Inneren des Scherbens lassen sich mindestens drei unterschiedliche Zonen erkennen, die mit unterschiedlichen Herstellungsverfahren zusammenhängen52: Der obere Teil bis mind. 5 cm unterhalb des Mündungsrandes zeigt dünne parallel und horizontal verlaufende Rillen, die als Drehrillen aufgefasst werden können und dafür Zeugnis ablegen, dass zumindest der Mündungsrand auf einem sich langsam drehenden Untersatz separat vom restlichen Gefäß gefertigt worden ist53. Es folgt schließlich ein weiterer Abschnitt, der sehr unregelmäßig geglättet ist und viele Fingerspuren aufweist, eine Zone, die bis ca. 11,5 cm ab Mündungsrand reicht. Bis zur erhaltenen Höhe ist eine etwas besser geglättete Zone zu erkennen, die aber ebenfalls noch deutliche Fingerabdruckspuren aufweist. Die beiden letzten Zonen dürfen wohl mit dem Zusammensetzen der separat gearbeiteten Gefäßteile Mündung und Körper gesehen werden, die hier nur sehr grob mittels Fingerverstrich und Abdruck zusammengebracht wurden. Charakteristisch für die Gefäße der 1. Dynastie ist auch eine dicke Wandstärke, die sich mit 1,5–1,7 cm auch beim Berliner Fragment nachweisen lässt. Mit seinem Randdurchmesser von 23 cm gehört das Berliner Gefäß zu einem Vertreter der großen Weinflaschen54. Die teils über 1 m großen Flaschen, die ein Fassungsvermögen von über 25 l hatten, werden häufig für die ägyptische Frühgeschichte als wichtiges Datierungskriterium herangezogen55. Aufgrund der Fragmentierung des vorliegenden Stückes kann allerdings kein eindeutiger Einbezug des von J. Smythe und E.-C. Köhler vorgelegten Index in Zusammenschau von Durchmesser und Höhe gegeben werden. Davon abgesehen konnte E.-M. Engel bei der Bearbeitung des keramischen Materials aus dem Grab des Semerchet nachweisen, dass offensichtlich auch während der Regierungszeit des entsprechenden Königs eine sehr große Bandbreite unterschiedlicher 52

Diese Beobachtungen decken sich mit der kurzen Beschreibung von E.-M. Engel 2013: 46– 54. 53 Bislang wird in der Forschung noch immer debattiert, ab wann tatsächlich die ersten richtigen Drehscheiben bei der Keramikbearbeitung in Ägypten verwendet worden sind. Zumeist besteht die Annahme, dass dies nicht vor dem Alten Reich geschehen ist und mit Vorderasiatischen Wurzeln zusammenhängt – cf. hierzu Doherty 2015. Die Keramik der frühen 1. Dynastie zeigt allerdings bereits unzweifelhaft, dass zumindest mit Drehhilfen gearbeitet worden ist. 54 Die meisten Randdurchmesser vergleichbarer Gefäße aus dem Grab des Semerchet liegen bei unter 20 cm, cf. Engel 2013: Abb. 42a. 55 Zur typologischen Fragestellung und ihre Bedeutung: Flinders Petrie 1953: pl. XVIII– XXIII (bes. 74–76); Kaiser 1964: 86–125; Köhler 1996: 51–54; Köhler 2017: 26–29. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Gefäßformen für die Weinflaschen genutzt wurde. Letzteres gemahnt daher auch zur Vorsicht, die Bedeutung des erwähnten Indexes für die chronologische Fragestellung allzu großen Wert beizumessen. Dennoch ist vor allem durch die Grabungen der großen Elitefriedhöfe in Abydos und Sakkara zumindest eine grobe Entwicklung der Weinflaschen möglich56: Während die großen langovoiden Flaschen der 1. Dynastie zumeist plastische Zierwülste aufweisen, sind auch leicht eingedrückte Bogenmotive wie im vorliegenden Fall nachgewiesen. Letztere finden sich bereits ganz am Anfang der Weinflaschen aus der Phase Naqada IIIB/C157 und sind wohl bis mindestens in die Regierungszeit des Königs Semerchet belegt58. ÄM 13991/01–02. Zwei Wandscherben von größeren Vorratsgefäßen bzw. einer Weinflasche. *ÄM 13991/01 M. Mergelton H. 12,0 cm; B. 13,3 cm; T. 3,2 cm Aufschrift in roter Kreide: 39 Aufkleber „aus Abydos, Om el-Gaab, rois serpent“ Publiziert: Scharff 1929: Kat.-Nr. 399. ÄM 13991/02. Kriegsverlust – vermisst. Laut Inv.-Buch stammen beide Fragmente aus dem Grab des « roi serpent » (Djet). A. Scharff schreibt in seinem kurzen Katalogbeitrag zudem, dass der Scherben einen „glasurartigen Überzug“ aufweise, ohne diesen aber näher zu bezeichnen59. Von den beiden dereinst vorliegenden Scherben, ist heute nur noch eine vorhanden. Den Archivaufnahmen nach zu urteilen, dürften beide Scherben unzweifelhaft gleichsam zu einem großen langovoiden bzw. ovoiden Gefäß aus Mergelton gehören. Der von A. Scharff im Bestandskatalog angesprochene Überzug bezieht sich auf den sekundären Brand des Scherbens und stellt wohl keinen echten Überzug dar. Die Bruchkanten des noch vorhandenen Scherbens zeigen zudem deutliche Verrundungen auf, die darauf schließen lassen, dass es sich um ein sekundär als Grabungsgerät verwendetes Objekt handelt.

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Siehe vorige Anm. So z. B. Tell el-Farkha: cf. Jucha 2012: fig. 3 (Grab 91: Naqada IIIB); aus Buto, Schicht IV: cf. Köhler 1998: Taf. 13.1; Tell el-Murra: cf. Kazimierczak 2016: pl. 1; pl. 3. Ebenso findet sich durch das Gräberfeld von Abydos zumindest eine frühe Form bereits aus dem Grab des Iri-Hor: cf. Köhler 1996: 51. 58 Zu einem entsprechenden Exemplar: Engel 2013: 48 (U-KK/75; H. 82 cm; Randdurchm. 16 cm; M. Nilton). Laut Engel 2018: 118–119 fanden sich ca. 47 Exemplare dieser Gefäßform auch im Material aus dem Grab des Qa’a vom Ende der 1. Dynastie. Allerdings geht auch die Bearbeiterin davon aus, dass es sich um sekundär verworfenes Material aus dem naheliegenden Königsgrab des Dewen aus der Mitte der 1. Dynastie handelt dürfte. 59 Scharff 1929: 167 zu Kat.-Nr. 399. 57

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ÄM 13974

ÄM 13973-1

ÄM 13973-3

ÄM 13971-2

Abb. 3

ÄM 13972

ÄM 13971-1

Ton- und Steingefäße aus der Königsnekropole von Abydos. Ägyptisches Museum und Papyrussammlung Berlin: ÄM 13974 (Weinflasche), ÄM 13973-1 (Schale Stein), ÄM 13973-3 (Steinschale), ÄM 13972 (Boden einer Steinschale), ÄM 13971-2 (steinernes Zylindergefäß), ÄM 13971-1 (steinernes Zylindergefäß). Zeichnungen: R. Kuhn, E. Limberg, Tuschung: S. Konert.

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II) Steingefäße ÄM 13993. Mündungsfragment eines Tellers/Schälchens mit direktem Rand M. Grauwacke (?) / Kalkstein (?) H. 11 cm Publiziert: Scharff 1929: Kat.-Nr. 684. Genaue Maße und Profil des Fragmentes lassen sich aus dem erhaltenen Archivgut nicht rekonstruieren. Nach Ausweis des bei A. Scharff publizierten Fotos scheint es sich allerdings um einen Napf mit trichterförmigen Wandverlauf zu handeln, der mit einem direkten Rand abschließt. Solche Gefäße finden sich vor allem aus Bergkristall und aus Kalkstein gefertigt in den abydenischen Königsgräbern. Die Bestimmung des Gesteins ist unsicher, da A. Scharff im Katalog nur die Bezeichnung „grauer Stein“ bietet60. Dies könnte auf Grauwacke oder einen grauen Kalkstein hinweisen. Ein Zusammenhang mit einem bestimmten Königsgrab lässt sich nicht mehr rekonstruieren. *ÄM 13973-01. Mündungsfragment eines Tellers (Abb. 3) M. Grauwacke H. 6,7 cm; Dm. 36 cm; WD. 0,4–0,5 cm rote Kreideaufschrift 43; handgeschriebenes Etikett „Den“; Publiziert: Scharff 1929: Kat.-Nr. 692b Mündungsfragment eines großen Tellers mit leicht eingebogenem, abgerundetem Mündungsrand. Auf der Außenseite hat sich ein kleiner Ölfleck erhalten, der möglicherweise vom sekundären Brand schwärzlich verfärbt ist. Teller dieses Typs fanden sich bislang nur wenige im Grab des Dewen, wo die Mehrheit der offenen Formen eher auf den etwas kleineren Schalen, Schüsseln und Näpfen liegt. *ÄM 13973-02. Wandfragment – ehemals vollständiges Randfragment M. Grauwacke H. 16,2 cm + x; WD. 0,4–0,8 cm Rote Kreideaufschrift: 43; mit Bleistift zudem „Den“ Publiziert: Scharff 1929: Kat.-Nr. 692b Dereinst im Inventar als vollständiges Randfragment geführt, handelt es sich nun nur noch um ein Wandfragment. Kriegsbedingt sind weder Mündungsrand noch Ansatz des Bodens erhalten und rekonstruierbar. Es wird sich wohl aber um ein vergleichbares Fragment eines Tellers oder einer Schale mit leicht eingebogenen Rand handeln. Die Verfärbung des Fragmentes spricht für einen sekundären Brand, der nicht kriegsbedingt erfolgt ist. Darauf deutet auch das noch erhaltene kleine handgeschriebene Etikett hin, welches auf die Herkunft aus dem Grab des Dewen verweist. *ÄM 13973-03. Randfragment eines Tellers (Abb. 3) M. Grauwacke H. 6,2 cm + x; Dm 19 cm Rote Kreideaufschrift: 43 60

Scharff 1929: 229 zu Kat.-Nr. 684. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Publiziert: Scharff 1929: Kat.-Nr. 692c Laut Tuscheaufschrift war das Gefäß zunächst fälschlicherweise unter der Nummer ÄM 13983 inventarisiert, was allerdings ein vermisstes Stück aus dem Wadi Gerawi darstellt. Das noch erhaltene Fragment aus Abydos ist ein Randfragment eines Tellers mit einziehendem, leicht abgerundetem Rand (RL). Aufgrund des noch erhaltenen, handgeschriebenen Aufklebers, lässt es sich zweifelsfrei dem Konvolut aus dem Grab des Dewen zuweisen, wo sich weitere solcher Gefäße belegen lassen. Mit dem Randdurchmesser von 19 cm gehört der Teller allerdings zu den eher seltenen kleineren Formen im Grabinventar. ÄM 13942. Fragment eines Mündungsrandes einer größeren Schale M. Quarz / Bergkristall. H. 7,0 cm Publiziert: Scharff 1929: Kat.-Nr. 733. Die genaue Randgestaltung des als Kriegsverlust verzeichneten Gefäßfragmentes lässt sich heute, genau wie die exakten Maße, leider nicht mehr sicherstellen. Die Archivaufnahmen und Publikationsfotos von A. Scharff zeigen je eine leicht schräge Aufsicht, die vor allem den genauen Verlauf des Mündungsrandes nicht mehr sicher bestimmen lassen. Laut A. Scharff liegt ein „leicht gerundeter Rand“ vor. Gefäßbruchstücke von ähnlichen Tellern, Schalen und Schüsseln aus Bergkristall / Quarz fanden sich auch während der Nachgrabungen und gehören sicherlich auch aufgrund des besonderen Materials zu den herausragenden Grabbeigaben. Allein aus dem Bereich des Dewengrabes konnten 199 Fragmente von Gefäßen aus Bergkristall bestimmt werden61, die vorwiegend offene Formen wie Schalen und kleine Schüsselchen repräsentieren. Wie die alten Fotos des Berliner Objektes zeigen, sind zudem deutliche Brandbzw. Schmauchspuren zu erkennen. Das Fragment ist sehr wahrscheinlich mit dem Grab des Königs Dewen zu verbinden. *ÄM 13972. Bodenfragment eines größeren Napfes. (Abb. 3) M. Grauwacke / Siltstein H. 8,2 cm; BDm 8 cm. Rote Kreideaufschrift: 42 Etikett: handgeschrieben. „Grab des Den“ Publiziert: Scharff 1929: Kat.-Nr. 692.a. Bodenfragment eines Tellers mit einem inneren scharfkantigen Bodenabsatz. Sehr wahrscheinlich handelt es sich hierbei um ein Relikt des Arbeitsvorganges, der vor allem im Falle der Schalen und Teller häufig belassen wurde und regelrecht als Stilelement beibehalten worden ist62. Brandspuren. Sehr wahrscheinlich aus dem Grab des Dewen.

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Cf. Kuhn in Vorber. Cf. Kuhn in Vorber. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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*ÄM 13971-01. Mündungsfragment eines Zylindergefäßes (Abb. 3) M. Kalzit-Alabaster H. 18 cm + x; Dm. 13,4 cm Rote Kreideaufschrift: 38 Publiziert: Scharff 1929: Kat.-Nr. 603 *ÄM 13971-02. Mündungsfragment eines Zylindergefäßes (Abb. 3) M. Kalzit-Alabaster H. 5,8 cm + x; Dm. 14,8 cm Rote Kreideaufschrift: 38 Publiziert: Scharff 1929: Kat.-Nr. 603 Beide Fragmente gehören zur für die 1. Dynastie typischen Zylindergefäßform, die zumeist auch quantitativ in den Elitebestattungen am häufigsten vorliegt. Sie weisen kurz unterhalb des Mündungsrandes ein dünnes plastisches, nach rechts gerichtetes Kerbband auf. Laut Inv.-Buch stammen die beiden Fragmente aus dem Grab des Djet. Auf den beiden sekundär verbrannten Stücken findet sich kein Hinweis mehr auf ein Etikett wie bei den anderen Fragmenten. III) Organisches Material Unter den organischen Funden befinden sich zwei Konvolute von verkohlten Feigenfrüchten, die laut Aufkleber aus dem Grab des Chasechemui stammen sollen. Dem gegenüber findet sich ein kleiner, von G. Schweinfurth handgeschriebener Zettel, der das Grab des Königs Ti als Herkunft benennt, das 57 Kammern besitzen soll63. Wie es zu diesem verwirrenden Vertauschen der Kontexte kam, lässt sich nicht mehr sicher rekonstruieren. Aufgrund der Nennung der Kammeranzahl sowie dem Ergebnis der Nachgrabungen, ist jedoch davon auszugehen, dass die – auch im Inventarbuch genannte Herkunft Grab des Chasechemui – stimmt. Tatsächlich wurden auch bei den Nachgrabungen durch das DAI Kairo weitere Nachweise für Feigen vor allem im südlichen Abschnitt des Grabes entdeckt, so dass davon ausgegangen wird, dass in der Kammer V 48, 51 und 53 Kisten mit Feigen deponiert worden sind64. Feigen dürften als süße Früchte, vor allem aber auch bei der Herstellung von Bier und Wein eine größere Bedeutung gespielt haben65. Interessant ist, dass im Falle des Berliner Konvolutes nicht nur die Früchte selbst in gutem Erhaltungszustand vorliegen, sondern einige noch mit Resten von Holzkisten bzw. Holzlatten verklebt sind. Ob es sich hierbei tatsächlich um stark verdrückte Kistenwände handelt, oder nicht vielmehr eine zum Trocknen bzw. sicheren Lagern gefertigte Konstruktion 63

Nach dem System von W. M. Flinders Petrie wird mit dem Grab T, das den Dewen bezeichnet. War zu diesem verwirrenden Umbenennen geführt hat ist fraglich. Zumal auch G. Schweinfurth selbst auch in den anderen Fällen nicht vom Grab Ti spricht. 64 Dreyer et al. 2003: 111. Die Kammernummer richtet sich nach der Bezeichnung des DAISystems. 65 So fanden sich auch in mindestens elf Gefäßen aus dem Grab U-j Feigenscheiben, die gleichsam mit dem Süßen des Weins bzw. mit dem Fermentierungsprozess verbunden werden: McGovern 2003: 94. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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vorliegt, die sich in den Kisten befand, lässt sich aufgrund der starken Fragmentierung allerdings nicht mehr mit Sicherheit sagen. *ÄM 14898. Teile von Ficus sycomorus verkohlt. Laut Inv.-Buch aus dem Grab des Chasechemui, Ende 2. Dyn. Unpubliziert66. *ÄM 14899. Teile von Ficus sycomorus verkohlt. Laut Inv.-Buch aus dem Grab des Chasechemui, Ende 2. Dyn. Unpubliziert. Ausblick Bislang ist aufgrund der Sammlungsgeschichte in Berlin vieles unklar und kann nicht abschließend bewertet werden. Während der Krieg viele Verluste an Objekten sowie Archivmaterial gefordert hat67, sind weitere Archivalien durch Sammlungsteilung und Umzüge verlorengegangen und erschweren heute den Zugang und die Absicherung von Kontexten und Informationen zu den einzelnen Objekten. Auf der anderen Seite harren in Depots noch viele Objekte ihrer finalen Inventarisierung und Ansprache, eine Aufgabe, die ebenfalls aufgrund der bereits genannten Schwierigkeiten sukzessive erfolgt und zu neuen Entdeckungen und Bewertungen führt. Daher liegt auch in den nächsten Jahren ein wichtiger Fokus gerade in der Aufarbeitung, dem Sortieren und dem Digitalisieren der noch vorhandenen Archivalien. Dies wird nicht nur dazu beitragen, die Sammlungsgeschichte und ihre Genese sowie zeitgebundene Ausrichtung besser zu verstehen, sondern gleichsam ein anderes Licht auf viele der noch vorhandenen und verloren gegangenen archäologischen Funde werfen. Die Arbeit anhand und mit Archivalien, die immer mehr in den verschiedenen Sammlungen als Chance denn als unliebsamer, zu verwaltender Klotz verstanden wird, zeigt immer mehr das Potential sich Themen und Orten zu nähern, die zu großen Teilen aufgrund von Zeit und Raubgräberei vor Ort bei Weitem keine solche Erhaltung mehr aufweisen, wie sie uns in den Archivalien noch präsentiert wird. Einen solchen schwierigen Fall stellt auch das hier vorgestellte Königsgräberfeld von Abydos dar, welches nicht nur schwer unter modernen Raubgrabungen gelitten hat. Immer mehr verdichten sich die Hinweise auf eine aktive Nutzung des Geländes und der Gräber selbst für Rituale, die zu Umbauten in den Gräbern, Aus- bzw. zeitweiliges Freiräumen von Innenkammern etc. geführt haben, und die unser heutiges Verständnis der originären Grabzusammensetzung erschweren. Aufgrund seiner eminenten Bedeutung für das ägyptische Verständnis und die Tradition spielte dieser Fundplatz jedoch nicht nur in der Antike, sondern verstärkt auch nach der Wiederentdeckung in archäologischen Kreisen eine große Bedeutung. Wie sich immer mehr zeigt, waren es nicht nur die beiden Kontrahenten W. M. Flinders Petrie und E. Amélineau, sondern auch andere Parteien, die ganz ähnliche Interessen am Platz verfolgten wie der britische Archäologe. Es ist daher für die Rekonstruktion des Fundplatzes als auch der Forschungsgeschichte wichtig, sich gerade auch diesen 66

Die beiden hier aufgeführten Konvolute sind lediglich in Listenform bei Germer 1988: 40; Germer 1990: 14 bestimmt und publiziert. 67 Zusammenfassend für die Ägyptische Sammlung cf. Finneiser 2013. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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kleineren Konvoluten und Sammlern zu widmen, die Objekte vom Fundplatz zusammengetragen haben. Die intensive Beschäftigung mit diesen Altfunden und Archivdokumenten verspricht somit auf lange Sicht ein sehr viel komplexeres und gleichzeitig differenzierteres Bild von der Fund- und Grabungsgeschichte zu zeichnen. Gleichzeitig stellen auch diese Dokumente selbstverständlich lediglich Ausschnitte einer dem jeweiligen Zeitgeist verpflichteten Dokumentation dar. Damit gehen offensichtliche Fehlzuweisungen einher, vertauschte und teils nicht mehr zu identifizierende Objekte etc. Es steht zu befürchten, dass einige dieser Aspekte tatsächlich nie mehr zu klären sein werden, es lohnt sich allerdings die Anstrengung auf sich zu nehmen, um zumindest zu versuchen, mehr Klarheit in diese Phase der ägyptologischen Wissenschaftsgeschichte als auch eine hochspannende Epoche altägyptischer Geschichte zu erhalten. Dank Für die Kommentierung des Textes und wichtige Hinweise sei besonders Dr. A. Effland und Dr. P. Meyrat gedankt. Gleichsam gilt der Dank den Kollegen des Zentralarchivs, Frau Dr. P. Winter sowie Frau C. Pilgermann. Die Tuschung der Zeichnungen wurde freundlicherweise von Frau S. Konert übernommen.

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Die Hauptsache ist der Effekt! Nochmals zum „syrischen“ Trinkrohr und was die Ägypter damit tranken1 Caris-Beatrice Arnst / Berlin Seit der Erstveröffentlichung der vermutlich aus dem antiken Achet-Aton (Tell elAmarna) stammenden „Stele eines syrischen Söldners“ (ÄM 14122; Abb. 1)2 erregt die dargestellte Trinkszene große Beachtung: Denn der auf einem Klapphocker sitzende Soldat trinkt mittels eines langen, gewinkelten Rohres direkt aus der in einem hohen Gestell stehenden Amphore. Dies war zumindest bei den höhergestellten Ägyptern nicht üblich, die durchgeseihtes oder abgeschöpftes Bier aus handlichen Krügen tranken, Wein hingegen aus Trinkschalen oder Bechern. Terura3 – wie die Beischrift den Syrer nennt – ist durch Vollbart, üppiges, von einer weißen Stirnbinde umwundenes Haupthaar und den buntgemusterten, troddelbesetzten Schurz deutlich als Semit gekennzeichnet. Charakteristisch sind auch seine überzeichneten Gesichtszüge mit der starken Augenbrauenwulst, der kleinen gebogenen Nase und den wulstigen Lippen.4 Seinen Berufsstand verdeutlichen die hinter ihm aufgestellte Lanze und der Dolch in seinem Gürtel. Offenbar war er einer jener Söldner aus dem syrisch-palästinensischen Raum, die im Neuen Reich zur Verstärkung der ägyptischen Streitkräfte verpflichtet wurden, teilweise eigene Teileinheiten bildeten und unter Amenophis IV. (1353–1336 v. Chr.) sogar in der königlichen Leibgarde5 dienten. Die Sitte, zum Trinken ein Rohr zu benutzen, hatte schon 1898 Adolf Erman als eine „nordsyrisch-kleinasiatische“ erkannt.6 Als Beleg verwies er auf ein Rollsiegel der ihm damals noch unterstehenden Vorderasiatischen Abteilung: ein besonders schönes Stück aus Hämatit der altsyrischen Periode, aus der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. (VA 522; Abb. 2).7 Im Unterschied zur Stele des syrischen Söldners zeigt die Abrollung zwei Personen, die gemeinsam mit Trinkrohren aus einem 1

Das Thema ergab sich, als ich in unserer Museumssammlung auf ein Siegelamulett mit Darstellung der „syrischen Trinksitte“ stieß, deren interdisziplinäre Erörterung auch Dich, lieber Lutz, interessieren könnte. Der Titel „Die Hauptsache ist der Effekt“ ist einem Lied aus dem deutschen Kultfilm „Das Spukschloss im Spessart“ (1960) entlehnt. – An dieser Stelle Dank an Dr. Paola Ivanov für die kurzfristige Beauftragung einer Neuaufnahme für Abb. 7, sowie an Dr. Jana Helmbold-Doyé für aufmerksames Korrekturlesen und Hinweise. 2 Spiegelberg / Erman 1898: 126–129. 3 Schneider 1992: 237, erkennt darin den akkadischen Namen Tūra-ric, „Wende dich (mir) zu, Freund“. 4 Sehr differenziert und ausdrucksstark dargestellte „Semiten“ finden sich im memphitischen Grab des Haremhab; Martin 2016: Tf. 123 [69], Tf. 135–140 [72]. 5 Lepsius 1849–1859: Abt. III, Bl. 92. 6 Spiegelberg / Erman 1898: 129. 7 Spiegelberg / Erman 1898: 129. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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großen, auf einem Ständer stehenden Gefäß trinken: Rechts die Hauptfigur, die durch das Falbelgewand und die erhöhte Sitzposition als höherrangig ausgewiesen ist, und links außen ein mit einem einfacheren langen Gewand bekleideter Mann. Die Trinkrohre sind gebogen und bestanden somit aus einem flexibel biegbaren Rohr. Eine dritte, unmittelbar neben dem bauchigen Gefäß stehende Person gießt aus einer kleinen Flasche Flüssigkeit nach. Auch auf der Syrer-Stele ist außer der Ehefrau noch ein junger Diener zu sehen, der dem Soldaten das Trinkrohr in den Mund führt und dabei in der linken Hand einen Becher hält. Auf den Inhalt und Zweck dieser kleinen Gefäße (Flaschen, Becher) werden wir später zurückkommen. Bereits frühdynastische sumerische Weihplatten zeigen in rituellen Bankettszenen Personen, die Trinkrohre benutzen. „In der Kultur Sumers kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Gefäße Bier enthielten.“8 Gemäß den bildlichen Darstellungen9 und archäologischen Funden von Filterspitzen aus Knochen und Bronze10 waren Trinkrohre „auch über Obermesopotamien bis Anatolien sowie im Golf verbreitet.“11 Hinzu kommen Textbelege. Nach Walther Sallaberger kann das Altsumerische sim ge kaš2 sur als „ein Filter (sim) für das Rohr (ge) zum Biertrinken (kaš2 sur)“12 interpretiert werden, während das Altassyrische *quanum ša kirrātim „Rohr des Biergefäßes“ bedeutet. Ein Rollsiegel aus dem sumerischen Stadtstaat Eschnunna (Tell Asmar) zeigt Löwe und Esel auf Hockern sitzend, wie sie gemeinsam aus einem Gefäß mit Trinkrohren saugen.13 Emma Brunner-Traut hatte es als Vergleich für ein ägyptisches Bildostrakon herangezogen, das von allen parodistischen Mäuse-KatzenBildern das „ausführlichste sowie auch reizvollste“14 sei, doch im Krieg zerstört wurde (München, ÄS 1549). Eine Aquarellkopie lässt aber gut erkennen, dass eine als vornehme Dame ausstaffierte Maus auf einem Klapphocker sitzt und „nach syrischer Sitte mit einem Saugrohr“15 aus einer Amphore trinkt (Abb. 3). Das Trinkrohr, das die Mäusedame in der Linken hält, ist wie auf der Berliner Syrer-Stele gewin8

Sallaberger 2013: 105. Für andere Darstellungen mit vergleichbaren Trinkszenen s. Moortgat 1940: Tf. 62, Nr. 139–143; Weisgerber 2005: 162–164, Abb. 8–11: Müller-Karpe 2005: 171, Abb. 1. 10 Maeir / Garfinkel 1992: 218–223, halten Knochen mit Löchern, wie sie in Gesher, Sasa, Kabri und andernorts gefunden wurden, für Filterspitzen. Dayagi-Mendels 1999: 115, die Abb. rechts oben zeigt zwei bronzene Filterspitzen aus Tell el-Ajjul und Megiddo. Weisgerber 2005: 158, Abb. 3 zeigt zwei bronzene Filterspitzen aus der altsyrischen Stadt Ekalte (Tall Munbāqa). Müller-Karpe 2005: 181, 183, Abb. 13 zeigt ein bronzenes Trinkrohrstück mit integriertem Filter, das in der Tempelbrauerei der hethitischen Stadt Sarissa (Kuşklı) gefunden wurde. 11 Sallaberger 2013: 105. Den Gebrauch des Trinkrohres in Zypern belegt die bekannte Hubbard Amphora (Nicosia, 1938/XI-2/3; um 800 v. Chr.); https://www.metmuseum.org /exhibitions/listings/2014/assyria-to-iberia/blog/posts/feasting-in-cyprus [Zugriff am 12.03.2019]; dankenswerter Hinweis von Dr. Helmut Brandl. 12 Sallaberger 2013: 107. 13 Brunner-Traut 1956: 89, Abb. 27. 14 Brunner-Traut 1956: 95. 15 Brunner-Traut 1956: 95, Tf. II (95). Siehe auch Simon 1992: 561, Abb. 8; dort alle Bildbelege im Überblick. 9

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kelt. Von den beiden Katzen, die sie bedienen, betätigt sich eine nahe der Gefäßöffnung. In ihrer erhobenen Linken könnte sie einen Becher halten, doch wegen der abgebrochenen Scherbenecke ist das nicht mehr eindeutig feststellbar. Auf einem anderen, stark abgeriebenen Ostrakon sitzt eine Mäusedame vor einer mit Trinkrohr bestückten Amphore, führt aber anscheinend eine Lotusblüte zur Nase (Brüssel, E. 6442).16 In dem Ständer steht noch ein Wassergefäß, über dem die Katze einen Becher und eine Schüssel balancierend offeriert. Ein Gegenstück dazu bildet ein Ostrakon in Kairo (CG 2315)17, das ebenfalls in einem Gestell eine Amphore und ein Wassergefäß zeigt; letzteres ist mit einer Schale abgedeckt. Diesmal sitzt ein als edler Herr bekleideter Hund unter einem Laubendach und saugt genussvoll seinen Trank, wobei er das überlange, gewinkelte Trinkrohr mit der Rechten stützen muss. Dem entspricht auch eine Wandmalerei im Grab des Ipuj (TT 217)18, wo in einer schattigen Laube in einem Doppelgestell eine mit Trinkrohr bestückte Amphore und ein Wassergefäß aufgestellt sind. Sie dienten wohl der davor hockenden Frau als Erfrischung, die am Flussufer Tauschhandel betreibt. Das Doppelgestell mit Trinkrohr bestückter Amphore und Wassergefäß ist noch in zwei anderen thebanischen Gräbern abgebildet – und zwar in der sogenannten Speisetisch-Szene, die den Verstorbenen mit seiner Ehefrau beim Empfang von Opferspeisen zeigt. Im Grab des Nachtamun (TT 341)19 könnten die Getränke für die daneben stehende Musikkapelle bestimmt gewesen sein. Doch in der beschädigten Darstellung im Grab des Schuroj (TT 13)20 scheint sich der Verstorbene oder ein Verwandter des Trinkrohres zu bedienen; es reicht über den gedeckten Opfertisch hinweg und ist damit außerordentlich lang. Ein Malereifragment aus einem unbekannten Grab (Turin, Suppl. 1343)21 zeigt zwei Diener, die zwei separat aufgestellte Amphoren mit Trinkrohren bestücken. Mit drei anderen Bruchstücken ließ es sich einer Bankettszene zuordnen, die Lise Manniche historisierend wertete und das Grab ans Ende der 18. Dynastie setzte.22 Demgegenüber zeigt der satirisch-erotische Papyrus Turin (Suppl. 55001; um 1150 v. Chr.), der auch Tierfabel-Szenen enthält, am Ende beider Abschnitte Bierkrüge mit Trinkrohren.23 Diese sind gebogen, wie auf dem oben besprochenen altsyrischen Rollsiegel (s. Abb. 2). Alle diese Darstellungen stehen in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang: Sie wurden in der weitverzweigten Nekropole Theben-West entdeckt und sind gegen Ende der 18. und bis zum Ausgang der 20. Dynastie entstanden, etwa 1320 bis 1100 v. Chr.

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http://www.globalegyptianmuseum.org/record.aspx?id=1069 [Zugriff am 27.02.2019]; Simon 1992: 561, Abb. 7. 17 Vandier d’Abbadie 1937: Tf. XLVIII; Simon 1992: 561, Abb. 9. 18 Davies: 1927, Tf. 30; Simon 1992: 562, Abb. 11. 19 Davies: 1948, Tf. XXVIII; Simon 1992: 563, Abb. 13. 20 Simon 1992: 562, Abb. 12. 21 Simon 1992: 562, Abb. 10. 22 Manniche 1988: 181–184. Mit Blick auf die übrigen Malereifragmente sei die Bankettszene anachronistisch und “for an archaizing effect” ausgewählt worden, siehe S. 183. 23 Omlin 1973: Tf. XVI–XVII (nicht mehr erhalten, unsicher); Tf. XI, Abschn. x+1, vgl. Tf. XIV, S. 28. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Darüber hinaus ist die „syrische Trinksitte“ auch auf Skarabäen abgebildet. Dafür wurden bereits in den beiden grundlegenden Bildostraka-Publikationen Beispiele gegeben24, die durch weitere Belege ergänzt werden können.25 Auch auf einem der kürzlich revidierten Berliner Skarabäen konnte dieses Motiv identifiziert werden (ÄM 19700; Abb. 4).26 Die Basisbilder zeigen über einem nb-Zeichen (Korb, „Herr“) ein oder zwei Bes-Figuren in Seitenansicht27, die sich mit Trinkrohren aus einem großen Gefäß bedienen. Die Trinkrohre scheinen meist gebogen zu sein, was auf den miniaturhaften Bildern nicht immer klar erkennbar ist. Ebenso sind die Merkmale des zwergenhaften Schutzgottes – fratzenartige Gesichtszüge, Tierohren, wilder Zottelbart, Federkrone und Fellschurz mit Tierschwanz – nur zu erahnen. Bes, der als Helfer des sich nachts verjüngenden Sonnengottes galt, war damit generell Beschützer vor gefährlichen Schlangen und Dämonen der Finsternis. Durch Musik und Tanz vertrieb er diese Feinde der Sonne (und der Menschen) und animierte anschließend zu feucht-fröhlichen Siegesfesten. Bes schützte nicht nur die Sonne in ihrer morgendlichen „Kind-Phase“, sondern auch das werdende und junge menschliche Leben im häuslichen Bereich. Dort verhielt er sich wie ein typischer Hausgeist, indem er nachts Bier trank, das ihm die Bewohner als Opfer hingestellt hatten – und genau das ist auf diesen Skarabäen abgebildet. Auf dem Berliner Skarabäus (s. Abb. 4) ist Bes im Verhältnis zu dem geständerten Biergefäß so klein, dass er das Saugrohr zu sich herunterbiegen muss. Eine andere Variante des Motivs ist auf einem zweiten Berliner Siegelamulett abgebildet, einem ovalen Plättchen, das wie der obige Skarabäus aus Steatit gearbeitet ist (ÄM 16790; Abb. 5).28 Hier sitzt ein Mann auf einem Stuhl und trinkt aus einer großen, geständerten Amphore, wobei er das gebogene Trinkrohr mit der Linken umfasst und in der Rechten vermutlich ein gefaltetes Tuch hält. Um diese Szene herum sind Hieroglyphen eingeritzt: in tête-bêche-Anordnung „der gute Gott, Herr beider Länder“ sowie Neb-Maat-Re, der Thronname Amenophis’ III. Da Siegelamulette mit Königsnamen vielfach posthum hergestellt wurden, als Beschwörung der überragenden Macht dieses Königs oder wie hier als Trigramm des Gottesnamens Amun29, kann als Datierung nur Ende der 18. Dynastie oder später angegeben wer24 Vandier d’Abbadie 1946: 77, fig. 40; Brunner-Traut 1956: 95, Abb. 29, Anm. 3. Diese Beispiele wurden erstmals publiziert von Müller 1918: 62, Abb. 65. 25 Basel: Hornung / Staehelin 1976: 330, Kat.-Nr. 702; 377, Kat.-Nr. B 26. Vgl. auch S. 343, Kat.-Nr. 773, wo eine Katze vor einem mit Trinkrohr bestückten Krug hockt. Heidelberg: Feucht 1986: 164–165, Kat.-Nr. 432 u. 439. Kairo: Newberry 1907: Tf. IX, CG 36331. 26 Länge 3,8 cm, Breite 2,8 cm, Höhe 1,3 cm; 1910 von Lina Olympia Leitner aus dem Nachlass ihres verstorbenen Mannes, dem britischen Orientalisten und Forschungsreisenden Gottlieb Wilhelm Leitner (1840–1899), gekauft. Für diesen Hinweis danke ich Dr. Jana Helmbold-Doyé, der dieser Skarabäus bei der aktuellen Revision auffiel. 27 Bes-Figuren wurden häufiger in Frontalansicht dargestellt, damit ihre abschreckende, antidämonische Kraft zur vollen Wirkung kommt; dazu auch Hornung / Staehelin 1976: 94. 28 Länge 3 cm, Breite 2,3 cm, Höhe 1,1 cm; 1903 vom Missionar Otto Huber in Omdurman / Sudan gekauft. 29 Hornung / Staehelin 1976: 64. Keel 1995: 243 erklärt genau: “die Sonnenscheibe als j von jtn, Maat bzw. Maatfeder als m und nb als n“ ergibt Jmn = Amun.

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den. Der auf der Oberseite eingeschnitzte Frauenkopf mit flankierenden Uräen symbolisiert die Himmels-, Mutter- und Totengöttin Hathor. Die Trinkszene auf der Basis scheint auf Hathor als „Herrin der Trunkenheit“ anzuspielen, die ebenso wie Bes Musik, Gesang und Tanz liebte. In ihrem Tempel in Dendera wurde jährlich zur Nilschwemme ein Festritual zelebriert, das auf den „Mythos von der Himmelskuh“ Bezug nahm.30 Zur Begrüßung und Besänftigung servierte man der Göttin ein spezielles Bier mit einem hohen Malzanteil, das mit Wasser, Dattelbrei, Myrrhe und weiteren Aromata versetzt und mit Ocker rot gefärbt wurde.31 Neben anderen Biersorten wurde ihr dann auch Wein dargeboten, der wegen seiner Farbe mit dem Blut getöteter Feinde assoziiert ist, sowie ein schnapsartiger Trank32 – bis sie zuletzt völlig berauscht zur „Herrin der Trunkenheit ohne Ende“33 wurde. Mit Siegelamuletten, die Trinkszenen in Kombination mit den Gottheiten Hathor oder Bes enthalten, verbanden die Träger bzw. die damit Ausgestatteten allgemein die Hoffnung auf Schutz während der gefährdeten Übergänge bei Geburt bzw. Wiedergeburt. Zugleich sollten ihre Vitalkräfte gestärkt werden, die hier bildmagisch durch das Kraftgetränk Bier angeregt werden. Zuletzt belegen auch archäologische Funde den Gebrauch von Trinkrohren in Ägypten: Unter den Küchenutensilien, die exemplarisch in einer Broschüre des Metropolitan Museum of Art abgebildet sind, befindet sich ein Vorratsgefäß mit einem gebogenen Trinkrohr aus Bronze, das an seinem unteren Ende einen Filter aufweisen soll.34 Gut dokumentiert ist ein Trinkset, das 1921 bei den britischen Ausgrabungen in Amarna gefunden wurde und sich heute im British Museum befindet (EA 55149; Abb. 6). Es besteht aus einem rechtwinkligen Rohrstück, das durch eine Strebe verstärkt und im Winkel mit einer durchbrochen gearbeiteten Lilie dekoriert ist. Dazu gehören ein Filterstück und ein kleiner Krug mit Griff, die allesamt aus Blei gefertigt sind. Mit Bezug auf die Berliner Syrer-Stele wurde bereits 1926 eine plausible Rekonstruktion vorgestellt, wonach in das Winkelstück zwei Rohrstängel eingesteckt und am unteren Ende das Filterstück befestigt wurde.35 Damit konnten auch kürzere und weniger biegsame Rohrstängel verwendet und unbrauchbar gewordene Stücke jederzeit ersetzt werden36; das wertvolle Winkel- und Filterstück ließ sich gereinigt für den nächsten Gebrauch aufbewahren. Ob sich der Nutzer in Amarna eine schleichende Bleivergiftung zugezogen hatte oder dieser entging, weil er das Trinkset in seinem Versteck37 vergessen hatte, ist nicht überliefert. 30

Dazu Hornung 1991; Lieven 2003: 48. Lieven 2003: 48. 32 Lieven 2003: 49. 33 Junker 1906: 106, aus dem Kultlied der sieben Hathoren. 34 Scott 1973: Abb. 11; leider ohne Inventarnummer, Herkunft und sonstige Angaben. 35 Griffith 1926: 23, fig. 2. 36 Weisgerber 2005: 157, glaubte, dass das Winkelstück entwickelt wurde, um „das Trinken in würdevoller, gerader Sitzposition“ zu ermöglichen. Mesopotamische Rollsiegel zeigen Personen durchaus würdevoll auf Thronen sitzend, andere sogar im Stehen trinkend. Nur sind deren Trinkrohre viel länger und flexibel gebogen; s. Abb. 2 sowie Weisgerber 2005: 162, Abb. 8. 37 Peet / Woolley 1923: 24. Das Trinkset wurde östlich des Privathauses N. 49.20 (Main City) an der Wand eines Anbaus in einem Versteck gefunden; dieses wurde durch zwei nachfolgen31

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Jedenfalls besteht auch das Bruchstück von einem gewinkelten Trinkrohr, das stark korrodiert und zerbrochen aus dem etwa zeitgleichen Wrack des Handelsschiffes von Uluburun geborgen wurde, aus Blei.38 Offenbar schätzte man die leichte Formbarkeit dieses Metalls, seinen attraktiven silbrigen Glanz und die relativ einfache Gewinnung. Das Blei für das Amarna-Trinkset kann nach Thomas Stöllner allerdings nicht aus der Bergbauanlage am Gebel el-Zeit in der Ostwüste Ägyptens stammen, da der Bleiglanz (Galenit) dort nur zu Kohl-Schminkpulver verarbeitet wurde.39 Damit kommen nur Blei-Silber- bzw. Blei-Zinkerze in Betracht, die aus Lagerstätten „im alpidisch metallogenetischen Gürtel zwischen Balkan, Ägäis, Anatolien, Kaukasus und Zentraliran“40 stammen, wozu auch die Bleiglätte-Vorkommen in Nordsyrien gehören.41 Andere Funde von Filterspitzen, wie sie Claire Simon zusammengestellt hat42, belegen ihre Verbreitung seit dem Neuen Reich vom Nildelta bis nach Nubien. Außer dem ovoiden „Amarna-Typ“ gibt es konische und kugelähnliche Formen, vorzugsweise aus Metall (Blei, Kupferlegierungen, später Eisen), seltener aus Fayence. Unter Ägyptologen herrscht bis heute Uneinigkeit, was der Syrer auf der Berliner Stele eigentlich trinkt. Schon bei der Erstveröffentlichung plädierte Wilhelm Spiegelberg für Wein, Adolf Erman im zweiten Abschnitt für Bier.43 Diejenigen, die sich für Bier aussprachen44, fanden wohl die von Erman genannten Anhaltspunkte überzeugend: Trinkszenen auf mesopotamischen Rollsiegeln (s. Abb. 2) und die Textstelle bei Xenophon (Anabasis IV, 5, 26), der diese Trinksitte gegen 400 v. Chr. im armenischen Bergland beobachtet hatte. Die anderen hielten dagegen, dass das abgebildete Gefäß eine Weinamphore sei und somit Wein genossen wird.45 Unentschiedene ließen die Frage „Wein oder Bier“ offen oder nannten es allgemein ein Getränk.46 Jedenfalls spiegelt sich die jeweilige Auffassung vom Getränk des Syrers in der Beurteilung der übrigen Bild- und Fundbelege.47 Um Klarheit in dieser Frage de Fußbodenpflasterungen überbaut. Von dort stammen auch das bekannte Glasgefäß in Fischgestalt (EA 55193) und zwei kleine Glasflaschen, die wie das Trinkset als wertvolle Prestigeobjekte galten. 38 Museum für Unterwasserarchäologie Bodrum, Inv.-Nr. KW 419. Weisgerber 2005:157, Abb. 1, Kat.-Nr. 177 auf S. 625; Van de Mieroop 2010: 135. 39 Stöllner 2005: 462. Zu Blei in Ägypten Ogden 2000: 168–169. Das Berliner Ägyptische Museum besitzt aus Amarna zwei Rohstücke aus Blei (ÄM 24783: 70 g, ÄM 36909: 2,15 g), die jedoch nicht datierbar sind. 40 Stöllner 2005: 460 mit Abb. 11, Gesamtüberblick S. 460–462. 41 Um die Herkunft des Bleis zu bestimmen, müssten an den Trinkrohrstücken aus Amarna und Uluburun Blei-Isotopen-Analysen durchgeführt werden, was sich angesichts ihres Erhaltungszustandes verbietet. 42 Simon 1992: 555–556, Abb. 1–5 auf S. 560. 43 Spiegelberg / Erman 1898: 127 u. 129. 44 Brovarski / Lacovara 1982: 109; Priese 1989: 32; Kendall 1999: 239, Kat.-Nr. 114. 45 Helck 1971: 74–75; Seyfried [SMB-digital, 2019]. 46 Vandier d’Abbadie 1946: 76; Priese 1991: 130, Kat.-Nr. 80 (vgl. Priese 1989: 32); Simon 1992: 555, 557. 47 Wein: Griffith 1926: 22 (Filter); Brunner-Traut 1956: 95 (Ostraka); Hornung / Staehelin 1976: 330, Kat.-Nr. 702; S. 377, Kat.-Nr. B 26 (Skarabäen). Bier: Kendall 1999: 239, Kat.© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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zu gewinnen, werden nun folgende Überlegungen und Argumente vorgestellt: 1) Auf der Berliner Syrer-Stele ist tatsächlich eine Amphore abgebildet – und zwar eine spitzbodige mit schlankem Hals und zwei vertikalen Griffen; das gilt auch für die meisten hier genannten Bildbelege. Wo die Amphore in einem Doppelgestell steht, ist sie im Vergleich zu dem rotbraunen Wassergefäß beigefarben wiedergegeben. Das entspricht dem originalen Farbton der aus Mergelton48 hergestellten Amphoren, die seit etwa 1400 v. Chr. in Gebrauch waren. Grabmalereien zeigen sie häufig in Szenen vom Weinkeltern und -abfüllen oder beim Entladen von Handelsschiffen. Auch als archäologische Funde sind sie zahlreich in Museumssammlungen vertreten. Einige dieser Amphoren tragen hieratische Tintenaufschriften, die den Inhalt, dessen Herkunft und anderes bezeichnen, was durch intakte Lehmverschlüsse mit Siegelabdrücken gestützt wird. Danach enthielten viele Amphoren Wein, waren aber auch mit Ölen, Honig, Datteln, Weinbeeren, Weihrauch und ebenso mit Bier gefüllt.49 Manche Aufschriften sind indifferent, weil sie nur den Empfänger angeben. So wurde in einer Amphore mit der Aufschrift „für den Ka des Architekten Cha“ (Turin, Suppl. 8526; aus TT 8)50 unerwartet gepökeltes Geflügelfleisch entdeckt.51 Selbst eine präzise Deklaration, wie „süßer Wein“ auf einer Amphore aus dem Grabschatz des Tutanchamun (KV 62), sagt mitunter nichts über den tatsächlichen Inhalt – in diesem Fall waren es getrocknete Linsen.52 Viele Gefäße und darunter Amphoren blieben aber unbeschriftet, “and so whatever information one gleans from the labels may not be representative of the full picture.”53 Hinzu kommt, dass Amphoren häufig wiederverwendet wurden.54 Zahlreiche Funde, besonders aus der Arbeiterstadt von Amarna, bezeugen dieses Recycling. So konnte auf einer Randscherbe, die einer „Weinamphore“ zugeordnet wurde, ein dünner Belag als Bierrückstand identifiziert werden.55 Auch eine im Künstlerdorf Deir el-Medina gefundene Amphore (Warschau, MNW 139067)56 enthielt überraschend Getreidemaische. Der fehlende Gefäßhals und der provisorische Strohverschluss könnten ein Indiz für ihre Wiederverwendung sein, denn die Lehmversiegelungen waren so stark, dass die Gefäßhälse zum Öffnen oft abgeschlagen werden mussten.57 Amphoren konnten also durchaus Bier enthalten, ob im Erst- oder Zweitgebrauch.

Nr. 115 (Filter); Kemp 2012: 209 (Filter). 48 Rose 2012: 126–127, Abb. 1 rechts. Gefäße aus Mergelton waren robust, doch relativ dünnwandig; um sie für Flüssigkeiten weniger durchlässig zu machen erhielten sie einen glättenden Überzug. 49 Kemp 2012: 214. Eine Amphore, die laut Aufschrift Behenöl (altägyptisch baq) enthielt, s. S. 213, fig. 6.18. 50 Donadoni Roveri 1989: 114, Nr. 9, Abb. 13–15. 51 Ikram 2000: 664. 52 Reeves 1995: 206; vgl. Tabelle S. 203, Nr. 509. 53 Kemp 2012: 212. 54 Kemp 2012: 213. 55 Samuel 2000: 543, fig. 22.5a. 56 Aksamit 1997: 175–176, Kat.-Nr. 89. 57 Aksamit 1997: 175. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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2) Bier war in Ägypten ebenso wie Brot ein Grundnahrungsmittel, weshalb es seit ältester Zeit in Opferlisten und -szenen für die Versorgung von Toten und Göttern erscheint. Als täglicher Mindestbedarf galten zwei Krüge Bier.58 Wein hingegen war das Getränk der Götter, denen er in reichem Maße als Opfer darzubringen war. Auch die Toten wünschten sich laut der traditionellen Opferformel Wein, allerdings erst nach der Grundversorgung mit Bier. Darüber hinaus war Wein dem König, seinem Hofstaat und der Oberschicht vorbehalten, denn es war ein teures, luxuriöses Getränk. Die Arbeiter und Künstler in Deir el-Medina, die die Gräber im Tal der Könige schufen (etwa 1520–1069 v. Chr.), erhielten niemals Wein zugeteilt, täglich dagegen Bier.59 Der syrische Söldner der Berliner Stele, die Händlerin und die Musikerinnen von zwei besprochenen Grabmalereien (TT 217, TT 341) gehörten nicht zu den Eliten, die sich dieses Luxusgetränk hätten leisten können. Auch die Bildostraka belegen keinen Weingenuss, denn sie zeigen parodierend eine Statusumkehr: Die aus kleinen Verhältnissen Aufgestiegenen (Mäuse, Hund) gebärden sich vornehm, bleiben aber „neureiche Pöbel“60, weil sie weiter profanes Bier trinken und das auch noch auf ausländische, ungesittete Weise. 3) Angesichts zahlreicher Bild- und Textbelege war vorderasiatischen Archäologen schon früh klar, dass in Mesopotamien Saug- bzw. Trinkrohre nur beim Biertrinken Verwendung fanden.61 Mit ihrer Hilfe konnte ungefiltertes, von Spelzen und Schwebpartikeln durchsetztes Bier auch noch dicht über dem Gefäßboden aufgesogen werden. Angeblich sei das Bier am Gefäßboden besonders nährstoffreich.62 4) Erman nannte die Szene auf der Berliner Syrer-Stele „ein Gelage heimatlicher Art“.63 Denn weshalb sollte es den in seiner neuen, fremden Heimat verstorbenen Soldaten erfreuen, als verehrter Ahne traditionell ägyptische Opferspeisen, einen Blumenstrauß oder einen Krug voll Wein dargereicht zu bekommen?64 Da er zu Lebzeiten offenbar gern Bier trank, hielten es seine Angehörigen für angemessen, ihn bildmagisch mit seinem Lieblingsgetränk zu versorgen und ihn auch das heimatliche Trinkrohr benutzen zu lassen. „Allen wird es erfreulicher erschienen sein, im Tode bei einem Gelage heimatlicher Art zu sitzen“65 – vielleicht auch mit Bier nach 58

Helck 1975: 791. Meyer 1986: 1174; Endesfelder 2018: 60–61. 60 Brunner-Traut 1956: 96. 61 Zu einer Sonderausstellung des Instituts für Vorderasiatische Archäologie der LMU München im Jahr 2018, mit Bezug auf den Rollsiegel IB 1840: https://www.vorderasarchaeologie.uni-muenchen.de/forschung/from-mesopotamia-with-love/glyptik/index.html [Zugriff am 12.02.2019]. 62 Sallaberger 2013: 107. 63 Spiegelberg / Erman 1898: 128, 129. 64 Vgl. die Speisetisch-Szene im Grab des Anj in Amarna, Davies 1908: Tf. IX; vgl. außerdem die Stelen des Pacha, Anj-Men, Ptahmaj und Aj, Davies 1903: Tf. XXI–XXIII. Auf der Stele, die Anj-Men dem königlichen Schreiber Aj gestiftet hat, wird aus einem Bierkrug laut Beischrift Wein geopfert (Kairo, JE 29747), Davies 1908: Tf. XXII, Rose 2012: 131. Zur Funktion dieser Stelen wie auch der Berliner Syrer-Stele (ÄM 14122) im Rahmen des Ahnenkultes s. Fitzenreiter 2008: 104–105. 65 Spiegelberg / Erman 1898: 128. 59

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syrischem Rezept. Mit dem Trinkrohr, das auf der Berliner Syrer-Stele und anderen Bildbelegen zu sehen ist, wurde also auch in Ägypten ausschließlich Bier getrunken. Exkurs Die Sitte, Bier mit einem Trinkrohr zu trinken, ist weiter verbreitet als gemeinhin von Archäologen angenommen wird. Und sie wird noch heute von traditionellen indigenen Gemeinschaften gepflegt. Wegen der Beziehungen, die seit alters zwischen Ägypten und Nubien als dem „Korridor zu Afrika“66 bestehen, ist es naheliegend, zunächst weiter im Süden Ausschau zu halten. Und tatsächlich lässt sich das Trinkrohr auch im Sudan nachweisen. Im antiken Tempelkomplex von Musawwarat es-Sufra, als „Große Anlage“ bezeichnet, zeigt eines der Sekundärbilder zwei Männer beim Biertrinken. Sie hocken gebeugt über dem Biertopf, weil Ihre Trinkrohre kurz und gerade sind.67 Das kleine Ritzbild wird der meroitischen Epoche zugerechnet (ca. 300 v. Chr.–350 n. Chr.)68, obgleich viele Graffiti auch später entstanden sein können und insgesamt schwer zu datieren sind. Jedenfalls lieben es einheimische Besucher, weil es ebenso gut eines der rezenten “merissa sittings”69 wiedergeben könnte. Das Merisa-Bier wird noch heute, trotz Verboten durch das islamischautoritäre Regime, von den Ganza gebraut und bei gemeinschaftlichen Gelagen mit Trinkrohren getrunken.70 Noch weiter südlich sind Bier-Trinkrohre vor allem in Ostafrika anzutreffen – in Uganda, Kenia und Tansania. Durch Berichte von Missionaren und Ethnologen ist überliefert, aus welchem Material sie hergestellt und wie sie benutzt wurden: „Das Saugrohr, Uzechi genannt, besteht aus einem makellosen Stengel einer 3–4 mm dicken, verholzten Schlingpflanze und lässt sich wie ein Schlauch biegen. Am unteren Ende befindet sich ein 5–10 cm langes Körbchen, welches aus feinem Flechtwerke hergestellt, das Eindringen von Hirseresten in das Rohr verhindern soll. [...] Um nicht von Nachbarn abhängig zu sein und bei öffentlichen Trinkgelagen nicht geschädigt zu werden, führen leidenschaftliche Trinker ihr Rohr selbst bei Ausgängen mit und tragen es dann in einem dünnen Bambusfutterale“ 71 (Abb. 7)72. Bei einigen lokalen Gemeinschaften gehen die mit ihren Trinkrohren ausgerüsteten älteren Männer fast jeden Nachmittag auf die Suche, um bei einem Nachbarn frisches Bier zu trinken.73 Doch meist werden im Alltag Bierpartys veranstaltet, um Arbeitsgruppen zu bilden (für die Ernte, einen Brunnen- oder Hausbau 66

In Anlehnung an Adams 1977. Kleinitz 2014: 98, Abb. 9; siehe auch http://musawwaratgraffiti.mpiwg-berlin.mpg.de/ graffiti/graffiti_corpus/pictorial_Graffiti [Zugriff am 19.03.2019]. 68 Kleinitz 2008: 28. 69 Dirar 1993: 22. 70 González-Ruibal 2014: 78. Die Ganza leben im Yabus Valley, in der südlichen Grenzregion zwischen Sudan, Südsudan und Äthiopien, und pflegen trotz Unterdrückung und Bedrohung viele ihrer alten Bräuche. 71 Schoeller 1904: 110; bezieht sich auf den Kavirondo Golf am Viktoriasee, Kenia. 72 Trinkrohr aus Uganda, 1896 für das Berliner Ethnologische Museum angekauft (III E 4570): Länge 56 cm, Durchmesser ca. 1,2 cm, Rohrhalm. 73 Karp 1980: 84–85; bezieht sich auf die Iteso im Grenzgebiet von Kenia und Uganda. 67

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u. a.) oder die Bindung sozialer Gruppen (Lineages, Altersklassen, Berufsgruppen, Geheimbünde u. a.) zu stärken.74 Vor allem aber gehören Biergelage zu magischreligiösen Festen und Zeremonien, die in Verbindung mit Übergangsriten zelebriert werden. Dem Angliederungsritus für Fremde, der ein gemeinsames Mahl, Biergelage und Gabentausch beinhaltet, ist es beispielsweise zu verdanken, dass afrikanische Trinkrohre in die Hände von Forschungsreisenden und später in Museen gelangten.75 Die Abbildung (Abb. 8) zeigt ein gemeinschaftliches Biertrinken während einer Beschneidungszeremonie bei den Bukusu in Kenia. Einer der Männer gießt aus einem blauen Plastikkrug Flüssigkeit in den mittig platzierten Biertopf. Hier ergibt sich eine Verbindung zu dem altsyrischen Rollsiegel, wo eine Frau (?) aus einem kleinen Krug Flüssigkeit nachgießt (s. Abb. 2). Die Erklärung hierfür liefert die Beschreibung einer Bierzubereitung bei den Luo in Kenia: “Some beer, called kwete, is served unfiltered, and mixed with hot water. This is consumed through long vinestem straws (oseke) dipped into a large communal drinking pot [...]. Hot water is prepared in a pot over the hearth and carried to the drinking in a gourd vessel called poko or lwendo. This water and additional beer (from an mbugo kept next to the drinking pot) are added periodically to adjust the strength and temperature of the beer.”76 Der kleine Krug enthielt demnach heißes Wasser und etwas Stammwürze. Bei Bedarf nachgegossen, wird ein Nachgären der am Gefäßboden verbliebenen Maische ausgelöst, wodurch sich zwangsläufig die Temperatur erhöht, vor allem aber die Stärke des Bieres ändert. Auf der Syrer-Stele (s. Abb. 1) und den übrigen ägyptischen Bildbelegen ist das Auffrischen des Bieres nicht explizit dargestellt, doch steht meist ein Bediensteter neben der Bier-Amphore und hält einen Becher77 bereit. Dass zum Nachgießen alternativ auch ein kleiner Krug78 verwendet wurde, beweist das bleierne Trinkset aus Amarna (s. Abb. 6). Die Zubereitungsarten für ostafrikanisches Bier sind regional verschieden, doch letztlich entsteht durch Fermentieren heimischer Hirsearten ein trübes, dickflüssiges und durch den hohen Stärkegehalt recht nahrhaftes Bier (Bouza, Merisa, Malwa, Pombe). Erstaunlicherweise wird auch viel weiter im Osten – in Nordost-Indien, in Nord-Bangladesh, in Nepal und Tibet – von indigenen Bergbewohnern Hirse- oder Reisbier mit dem Trinkrohr getrunken (Chang, Bitchi, Apong, Murwa, Tongba).79 Vom Murwa-Bier im indischen Bundesland Sikkim wird berichtet, dass es ebenso wie die traditionell gebrauten afrikanischen Biere noch warm getrunken wird. Frisch

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Karp 1980: 88, 101. Speke 1864: 332. 76 Dietler / Herbich 2006: 402. 77 Sie entsprechen dem Typ „hoher, rundbodiger Becher mit schwarzem Rand“, s. Bourriau 1982: 78; vgl. einen Berliner Becher (ÄM 21513), Höhe 15 cm, Durchmesser 6,4 cm. 78 Griffith 1926: 22; er misst etwa Höhe 9 cm. Griffith glaubte, der kleine Krug “might have been used for ladling out some quantities of wine”. 79 Als Beispiel sei auf die Mru in der nördlichen Bergregion von Bangladesh verwiesen, die bei Rinderfesten Reisbier mit Trinkrohren trinken; s. Brauns / Löffler 1986: 226, Abb. S. 227 links. 75

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würde es schmecken “like negus of cape sherry, rather sour”.80 Auch ostafrikanisches Hirsebier schmeckt säuerlich. Für Europäer wäre es gewöhnungsbedürftig, „da es in den meisten Fällen so unappetitlich aussieht, dass der Anblick genügt“.81 Die Einheimischen würden aber „ganz unglaubliche Quantitäten“ trinken und „Tag und Nacht ununterbrochen“ im Biergenuss schwelgen.82 Der Alkoholgehalt dieser traditionell gebrauten Hirsebiere ist aber vergleichsweise gering (2% bis 3,5%), so dass davon schon viel konsumiert werden muss, bis sich Volltrunkenheit einstellt. Allerdings wird durch den kleinen „Durchlauf“ des Trinkrohres die Wirkung des Alkohols gesteigert. In vielen indigenen Gemeinschaften ist Bier mehr als ein kräftigendes und zugleich erfrischendes Getränk. Zum einen demonstriert es Besitz und Status der Ältesten, die üblicherweise das Bier für Feste und Rituale spendieren. Indem sie dieser Verpflichtung nachkommen, sorgen sie für den sozialen Zusammenhalt. Zum anderen verdeutlicht die Praxis des Biertrinkens geschlechtliche und soziale Differenzierung. In Tansania beispielsweise trinken die Männer Bier aus “long-necked calabashes using a reed-straw”, während Frauen Bier nur aus “short-necked calabashes” trinken dürfen, wobei sie keinesfalls Trinkrohre benutzen dürfen.83 Bei den Iteso in Kenia–Uganda dürfen Männer und Frauen gemeinsam mit Trinkrohren Bier trinken. Doch müssen sie sich in zwei Kreisen um den Biertopf herum hinhocken – geordnet nach Generationen, Geschlecht, genealogischen Beziehungen und Verwandtschaftsgrad – weil nur so ihre Familienbande gestärkt werden.84 Vor allem aber gilt Bier als ein Medium, das die Ahnen und die Lebenden verbindet.85 Den Ahnen wird Bier geopfert, damit sie im Gegenzug für Vitalität, Fruchtbarkeit und Wachstum der Gemeinschaft und ebenso der Feldfrüchte und Nutztiere sorgen. Folglich werden auch Neugeborene – ob beim Ritual des Verlassens der Geburtshütte oder der ersten Namensgebung („Stillzeit-Name“) – unter Anrufung verstorbener Verwandter mit Bier initiiert, indem man ihnen mit dem Finger etwas Bier verabreicht86 oder sie mit Bier besprüht.87 Biertrinken – ob mit oder ohne Trinkrohr – hat also nach traditionellen Vorstellungen durchaus einen „Effekt“. Allerdings ist dieser viel umfassender, weitaus komplexer, als es allein aus Artefakten, Bild- und Textbelegen früher Hochkulturen in Mesopotamien und Ägypten abzuleiten wäre. 80

Negus ist eine Art Glühwein aus Rotwein, Zitrone, Zucker und einem Schuss Sherry; Johnston 1856: 251. 81 Zum sauren Geschmack s. Johnston 1856: 251; zum unappetitlichen Aussehen s. Schoeller 1904: 110. 82 Schoeller 1904: 110. 83 Hames 2012: 87. 84 Karp 1980: 99–101 mit Abbildung. 85 Arthur 2014 (ohne Seitenzählung), bezieht sich auf die Gamo in Süd-Äthiopien. 86 McGovern 2009: 252, beobachtet bei den Iteso in Kenia–Uganda. Die Großmutter mütterlicherseits muss ihren Finger in Bier tauchen und dem Baby in den Mund stecken. “If the child swallos, the ‚sucking name‘ is accepted.” 87 Kipkorir / Welbourn 2008: 45, beobachtet bei den Marakwet in Kenia, wo das Neugeborene “is mouth-sprayed with honey-beer”. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Caris-Beatrice Arnst Abbildungen

Abb. 1

Stele eines syrischen Söldners. Berlin, ÄM 14122. (© Ägyptisches Museum und Papyrussammlung, Staatliche Museen zu Berlin. Foto: Sandra Steiß)

Abb. 2

Trinkszene auf einem altsyrischen Rollsiegel (mit Abdruck). Berlin, VA 522. (© Vorderasiatisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin. Foto: Olaf M. Teßmer) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 3

Bildostrakon mit trinkender Mäusedame, Aquarellkopie. München, ÄS 1549 (nach Brunner-Traut 1956: Tf. II, Kat.-Nr. 95)

Abb. 4

Basisfläche eines Skarabäus mit trinkendem Schutzgott Bes. Berlin, ÄM 19700 (© Ägyptisches Museum und Papyrussammlung, Staatliche Museen zu Berlin. Foto: Andreas Paasch)

Abb. 5

Basisfläche eines Siegelamuletts mit trinkendem Mann. Berlin, ÄM 16790 (© Ägyptisches Museum und Papyrussammlung, Staatliche Museen zu Berlin. Foto: Andreas Paasch)

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Abb. 6

Trinkset aus rechtwinkligem Rohrstück, Filter und kleinem Krug. London, British Museum, EA 55149 (nach Peet / Woolley 1923: 24, fig. 5)

Abb. 7

Trinkrohr mit gitterartig geflochtenem Filter aus Uganda. Berlin, III E 4570 (© Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin. Foto: Claudia Obrocki)

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Abb. 8

Bouza-Trinken während einer Beschneidungszeremonie bei den Bukusu in Kenia (Internetquelle: https://westfm.co.ke/the-rite-of-passage-bukusu-circumcision/ siphoning-busaa/ [Zugriff am 07.03.2019])

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Wiedersehen mit archäologischem Kulturgut Altägyptische und vorderasiatische Altertümer in der ersten Sonderausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin nach dem 2. Weltkrieg Klaus Finneiser / Berlin In den Chroniken des Ägyptischen Museums und Papyrussammlung sowie des Vorderasiatischen Museums erscheint immer wieder 1953 als das Jahr, in dem beide Sammlungen nach dem 2. Weltkrieg ihre Ausstellungstätigkeit wieder aufgenommen haben.1 In einem kleinen Ausstellungsheftchen wird jedoch davon berichtet, dass anlässlich der Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin bereits 1951 sechs Räume mit „Gegenständen verschiedenster Art, die in Mesopotamien, dem Zweistromland (am Euphrat und Tigris), sowie den östlich und westlich angrenzenden Länder, d. h. in den heutigen Staaten Irak, Iran, Israel und der Türkei, gefunden worden sind“2 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Ein Jahr später hat W. Andrae (1875‒1956)3 eine Publikation veröffentlicht, die besagt, dass bereits 16 Räume mit vorderasiatischen Altertümern zu besichtigen waren.4 Nur sehr Wenigen dürfte wahrscheinlich bekannt sein, dass sowohl die ägyptische als auch die vorderasiatische Sammlung bereits 1946 in einer Sonderausstellung einzelne Objekte aus ihrem Bestand einem interessierten Publikum präsentierten. Im Dezember wurde in einigen Räumen des Schlossmuseums im stark beschädigten Berliner Stadtschloss die Ausstellung „Wiedersehen mit Museumsgut. Erste Schau seit 1940 aus Beständen der Berliner Kunstmuseen“5 vom Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, L. Justi (1876‒1957)6, eröffnet. Insgesamt wurden 98 Kunstwerke aus den verschiedenen Sammlungen der Staatlichen Museen gezeigt. Diese wurden aus den begrenzt zur Verfügung stehenden Beständen der Museen ausgewählt.7 Zahlreiche Objekte aller Sammlungen waren im Krieg beschädigt bzw. 1

Z. B. Meyer 1956. Hier ist von 14 Sälen die Rede. Siehe Staatliche Museen Berlin 1951. Der Text ist in deutsch, russisch, englisch und französisch abgedruckt, sicherlich aufgrund des internationalen Ereignisses. 3 Walter Andrae war von 1928‒1951 Direktor der Vorderasiatischen Abteilung in Berlin. 4 Andrae 1952. 5 Justi 1946. 6 Ludwig Justi, der von den Nationalsozialisten bereits 1941 pensioniert worden war, löste am 17. August 1946 den ab 1945 kommissarisch eingesetzten Carl Weickert (1885‒1975) als Generaldirektor der Staatlichen Museen Berlin ab und war bis 1957 im Amt. Zu Weickert und Justi siehe: Winter 2008: 60‒65. 7 Nicht vertreten waren die Antikensammlung und das Münzkabinett, deren Sammlungen durch die Auslagerungen, Zerstörungen und Beschlagnahmungen stark dezimiert waren und für L. Justi wohl keine geeigneten Objekte zur Verfügung stellen konnten. 2

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zerstört worden. Hinzu kam, dass von der sowjetischen Besatzungsmacht bereits damit begonnen wurde, die auf der Museumsinsel und in den anderen Berliner Bergungsorten8 verbliebenen Kunstobjekte in die UdSSR abzutransportieren. Die außerhalb Berlins verbrachten Kunstgegenstände9 waren inzwischen in die von den Engländern und Amerikanern eingerichteten “Collecting Points” nach Celle und Wiesbaden überführt worden und konnten ebenfalls nicht genutzt werden. Die Vorbereitungen Der inzwischen 70-jährige L. Justi trat sofort nach Amtsantritt an die Direktoren der einzelnen Museen mit der Idee heran, mit repräsentativen Objekten, die noch in den Sammlungen verblieben waren, eine Sonderausstellung zu zeigen. So schrieb z. B. der damalige Direktor der Ägyptischen Sammlung R. Anthes (1896‒1985) am 17. September 1946 in sein Tagebuch: „… Beim Rückweg treffe ich Justi, der anschließend mit mir durch den Keller des Neuen Museums geht – ihm ist vor allem wichtig, daß er was für eine Ausstellung zusammenbringen kann …“.10 Am 17. November 1946 notiert er dann, dass L. Justi die Ausstellung im Schloss ausrichten wird. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch noch nicht klar, was in der Ausstellung gezeigt werden soll. Bei R. Anthes heißt es am 18. November dazu: „Da die Frage, ob Gesamtausstellung der Museen oder bloße Bilderausstellung (so russischer Wunsch), noch ungeklärt, haben wir heute nur einen Gipsabguß (der Oberkörper Amenemhet III. aus Fayjum) zum Schloss bringen lassen, als nur vorläufiges Ersatzstück“.11 Eine Woche später vermerkte er, dass die Ägyptische Abteilung in der Schloss-Ausstellung ein ganzes Kabinett belegen soll.12 Am Folgetag suchte er dann mögliche Objekte aus. In einem Schreiben vom 26. November 1946 werden neun Objekte aufgelistet, mit der Bemerkung, er [Anthes] habe sie heute ins Schloss bringen lassen (Abb. 1),13 Die dort gemachten Angaben unterscheiden sich allerdings etwas von denen, die er am gleichen Tag in sein Tagebuch einträgt (Abb. 2).14 Während dort die Bronzekatze (ÄM 2055) aufgezählt wird, gibt die Liste auf dem Laufzettel die Bronzefigur einer Priesterin (ÄM 2309) an. Ein Relief aus der Perserzeit (ÄM 23721) ist in beiden Aufzählungen mit „zurückgezogen“ benannt, das Fragment einer Sargecke (ÄM 14524) findet sich nur auf dem Laufzettel. Im Tagebuch wurde das Stück irrtümlich mit ÄM 1452115 angegeben. Der ganz zu Planungsbeginn als einziges Objekt der Ägyptischen Sammlung vorgesehene Kopf von einer Sphinx der Hatschepsut (ÄM 2301) taucht bis dato gar nicht mehr auf. Am 29. November 1946 fand im Schloss ein Treffen mit R. Anthes, L. Justi, E. Kühnel16 8

Es handelt sich z. B. um die Flak-Bunker in Friedrichshain, am Zoo oder in der Münze. U. a. in den Bergwerkstollen in Kaiseroda und Grasleben. 10 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 17.09.46. 11 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 18.11.46. 12 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 25.11.46. 13 Archiv-ÄMP, Akte „Schloss-Ausstellung 1946/48“. 14 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 26.11.46. 15 ÄM 14521 ist eine Statuette eines Mannes, der auf einer Kline liegt. 16 Ernst Kühnel (1882‒1964) war von 1931‒1951 Direktor des Islamischen Museums. 9

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und R. Schmidt17 statt, wahrscheinlich um den Aufbau zu besprechen.18 Da auch die Papyrussammlung vertreten sein sollte, zeigte der Papyrusrestaurator R. Ibscher19 Direktor R. Anthes einige geeignete Stücke: „1) hierat. Spät Totenpap., zwei Stücke. 2.) griech. Papyrus der Ptolemäerzeit. 3.) koptisches Pergament breit. 4.) arabisches Bestätigungsschreiben. Papier“20. R. Anthes hat sich letztlich nur für die Positionen 1 und 3 entschieden.21 Auch muss man sich kurze Zeit danach auf die endgültige Leihliste geeinigt haben. Alle ausgewählten Objekte waren relativ leicht in die Ausstellung einzubringen. Lediglich der wieder aufgenommene Kopf der Hatschepsut beanspruchte etwas mehr Aufmerksamkeit. Zum einen weil R. Anthes im November kleine Beschädigungen an den Gipsergänzungen festgestellt hatte,22 und zum anderen wegen des Gewichts. Hausarbeiter sollten den Kopf am 2. Dezember 1946 ins Schloss transportieren, wurden aber von R. Anthes gestoppt, da der Meister nicht anwesend war.23 Einen Tag später erfolgte der Transport und drei weitere Tage danach wurde der Kopf „hochgeleiert“.24 Aber auch in den anderen Abteilungen wurde mit Hochdruck an den Vorbereitungen für die Ausstellung gearbeitet.25 Ägyptische und vorderasiatische Objekte in der Ausstellung Die Sonderausstellung wurde am 21. Dezember 1946 von L. Justi eröffnet und fand in einigen relativ intakten Räumen des Schlossmuseums im stark kriegsbeschädigten Berliner Schloss statt. Die Räume befanden sich im Mittelgeschoss an der Nord-OstEcke des Schlosses. Vor der Belegung durch das Schlossmuseum gehörte der Bereich zum königlichen Wohnkomplex.26 Schon im Treppenhaus wurden die Besucher von drei holzgeschnitzten Tempelwächtern aus dem alten Japan begrüßt. Den Ausstellungsbeginn bildete das alte Ägypten. Am Anfang des Rundganges stand das Oberteil einer Statue der Königin Hatschepsut (Kat.-Nr. 1; ÄM 2301)27. Sie sollte „als erster starker und weihevoller Eindruck in der kleinen Ausstellung … den Besucher darauf hinweisen, daß er in

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Robert Schmidt (1878‒1952), war von 1928‒1947 Direktor des Kunstgewerbemuseums. Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 29.11.46. 19 Rolf Ibscher (1906‒1967), Papyruskonservator an der Akademie der Wissenschaften und hat nach dem 2. Weltkrieg Papyri der Papyrussammlung betreut und restauriert. 20 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 2.12.46. 21 Archiv ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 2.12.46. Justi 1946: 4. Leider waren die Inventarnummern der Papyri nicht mehr zu ermitteln. 22 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 17.11.46. 23 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 2.12.46. 24 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 3.12.46 und 4.‒6.12.46. 25 Vgl. z. B. die Tätigkeitsberichte des VAM vom 14.11.1946, der SKS vom 14.12.1946 oder der NG vom 17.12. 1946; in: SMB/ZA II A/GD 108, Bl. 72, 86, 95 und 101. Siehe Winter 2008: 68. 26 Siehe Schneider 2013. Der Grundriss ist auf der vorderen Einbandseite, hier als erstes Stockwerk des Schlosses benannt. 27 Neues Reich, 18. Dynastie, ca. 1479‒1458 v. u. Z. 18

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den Bereich ehrwürdiger Denkmäler der Menschheitsgeschichte eintritt“28. In den sich anschließenden Seitenkabinetten konnte man dann „Ägyptische Kunstwerke kleinen Maßstabes“29 betrachten. Beim Eingang folgte ein Kalzit-Alabastergefäß (Kat.-Nr. 2; ÄM 14463)30. Über dem Kamin hingen zwei Fragmente eines Amduat31 und ein mit einem kirchlichen Text beschriebener Pergament32 (Kat.-Nr. 3 und 4), auf dem Kaminsims standen drei Rundbilder: je eine Bronzefigur der löwenköpfigen Göttin Uto (Kat.-Nr. 5; ÄM 13789)33 und des ebenfalls löwenköpfigen Gottes Mahes (Kat.-Nr. 6; ÄM 13788)34 sowie die Sitzfigur des Montemhet (Kat.-Nr. 7; ÄM 17271)35. Auf der gegenüberliegenden Raumseite standen die Bronzefigur einer Katze (Kat.-Nr. 8; ÄM 2055)36 und der Kopf einer Statue eines kahlköpfigen Priesters (Kat.-Nr. 9; ÄM 10100)37. Letztlich waren am Fenster des Kabinetts die Stele der Bildhauer Majj und Chaemope (Kat.-Nr. 10; ÄM 24028)38 sowie das Relief einer Feldlagerszene aus dem Grab des Haremhab (Kat.-Nr. 11; ÄM 20363)39 ausgestellt. Nachdem der Besucher den Ausstellungsbereich mit den ägyptischen Exponaten erkundet hatte, betrat er „zunächst wie mit Scheuklappen den dunklen Teil des Ganges bis zum entgegengesetzten Ende, wo in gutem Seitenlicht anderes urältestes Kulturgut zu sehen ist, Aus VORDER-ASIEN“40. Leider ist es mir nicht gelungen, in den Archiven Unterlagen hinsichtlich von Zuarbeiten des Vorderasiatischen Museums für die Sonderausstellung – vergleichbar denen des Ägyptischen Museums – zu finden. Lediglich zwei der acht gezeigten Objekte konnten als „Ausstellungsteilnehmer“ identifiziert werden.41 Ausgangspunkt des vorderasiatischen Ausstellungsbereiches war ein babylonisches Ziegelrelief mit einer Darstellung eines Drachen – Muschchuschschu, Symbol des Gottes Marduk (Kat.-Nr. 12; VA Bab 4431; Abb. 3). Des Weiteren waren vier verschieden große Tongefäße aus Assur, Sam‘al und Jericho ausgestellt, von denen, außer der Beschreibung von L. Justi im Begleitheft (Kat.-Nr. 14‒17),42 weder die 28

Justi 1946: 4. Justi 1946: 4. 30 Spätzeit, 27. Dynastie (1. Perserzeit), ca. 5252‒401 v. u. Z. 31 Amduat: Ägyptisch „Das (Buch, von dem) was in der Unterwelt ist“. Bezeichnung von „Büchern“, die die Vorstellung der Ägypter vom Jenseits in Schrift und Bild wiedergeben. Beschrieben wird die nächtliche Fahrt des Sonnengottes in seiner Barke durch die Unterwelt. Die Inventarnummer des Objektes konnte nicht mehr ermittelt werden. 32 In koptisch beschrieben. Auch hier konnte die Inventarnummer nicht ermittelt werden. 33 Spätzeit, 26. Dynastie, 664‒525 v. u. Z. 34 Griechisch-Römische Zeit, 332 v. u. Z.–313 u. Z. 35 3. Zwischenzeit, 25. Dynastie, ca. 690‒610 v. u. Z. 36 Spätzeit, 26. Dynastie, 664‒332 v. u. Z. 37 Frühe Ptolemäerzeit, ca. 3. Jh. v. u. Z. 38 Neues Reich, 20. Dynastie, ca. 1186‒1070 v. u. Z. 39 Neues Reich, 18. Dynastie, ca. 1319‒1292 v. u. Z. 40 Justi 1946: 7. 41 Ich danke an dieser Stelle meiner Kollegin Nadja Cholidis für die Hilfe bei der Recherche und Identifizierung der beiden Objekte. 42 Justi 1946: 9. 29

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Inventarnummern noch zusätzliche Informationen zu ermitteln waren. Als Datierung wird eine Zeitspanne zwischen 2500–2300 v. u. Z. angegeben. Hinzu kam ein ebenfalls aus Assur stammender „tönerner Hock-Sarkophag“43 (Kat.-Nr. 13). Da der Katalogtext auch hier keine detaillierteren Angaben gibt, muss eine Identifizierung des Objektes offen bleiben.44 Hingegen konnte das Bruchstück eines Kudurru (Kat.-Nr. 18) identifiziert werden. Das Fragment trägt die Inventarnummer VA 213 (Abb. 4). Das achte und zugleich letzte Ausstellungsobjekt aus dem Bereich des Vorderasiatischen Museums war ein „Gestempelter Ziegel (gebrannt) des Priesterfürsten Gudea von Lagasch aus dem Tempel E-Ninnu“45. Auch hier ist nicht eindeutig, um welches Stück es sich handelt.46 Sowohl in dem Gang mit den vorderasiatischen Kulturgütern als auch in den nachfolgenden Räumen wurden Kunstwerke aus anderen Kultur- und Kunstbereichen gezeigt. Die Besucher hatten die Gelegenheit, sich Objekte aus der europäischen Vorgeschichte, von Kulturen Afrikas und der Südsee, des nahen und fernen Ostens (z. B. Babylon, Assur, China, Siam) anzusehen. Ferner umfasste die Ausstellung Zeugnisse zur „deutschen Kunst des Mittelalters, der Renaissance, des Barocks und der Volkskunst. Der Rundgang endet schließlich mit dem 19. und 20. Jahrhundert und den Entarteten“47. Bei L. Justi heißt es dazu: „Gezeigt wird Einzelnes aus den vorhandenen Beständen fast aller Abteilungen: der ägyptischen, vorderasiatischen und islamischen, der Papyrus-Sammlung, den Museen für Vor- und Frühgeschichte, für deutsche Volkskunde, für Völkerkunde, der Gemäldegalerie, der Sammlung von Bildwerken, des Kupferstichkabinetts, des Schloßmuseums und der Nationalgalerie“48. Nach der Beendigung der Sonderausstellung wurden die Objekte wieder in ihre Depoträume zurück überführt. Am 6. Februar 1948 notierte Anthes in sein Tagebuch: „Kriedemann49 holt die bisher im Schloss ausgestellten Stücke zurück, mit Ausnahme des Sphinxkopfes“50. Dieser wurde erst am 13. Februar aus dem Schloss abgeholt und in ein Depot im Keller des Pergamon-Museums gebracht.51 Alle neun Objekte, jedoch nicht die Papyri, stehen auf einer Liste mit der Überschrift „Im Schloß sind 1946/47 ausgestellt gewesen die folgenden Stücke der

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Justi 1946: 9. Nach Recherchen in der Datenbank des Vorderasiatischen Museums müsste es sich um einen der folgenden Hockersarkophage handeln: VA Ass 2288, VA Ass 2430, VA Ass 4754, VA Ass 4756, VA Ass 4766, VA Ass 4770 oder VA Ass 4775. 45 Justi 1946: 10. 46 In Frage kommen dafür drei Objekte: VA 55, VA 57 und VA 2101. Die letzte Nummer ist dabei jedoch am fraglichsten. 47 Steinkamp 2008: 153. 48 Justi 1946: 1. 49 Kriedemann war als Museumsmitarbeiter tätig. 50 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 6.2.48. 51 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 13.2.48. 44

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Ägyptischen Abteilung“. Dahinter wurden dann die jeweiligen Magazin(?)Standorte eingetragen und mit dem Kürzel „A. Mai 1950“ versehen (Abb. 5).52 Begleitpublikation Zur Ausstellung erschien, wie bereits erwähnt, das kleine, 44-seitige Begleitheft „Wiedersehen mit Museumsgut. Erste Schau seit 1940 aus Beständen der Berliner Kunstmuseen. Eröffnet im Schloßmuseum am 21. Dezember 1946. Erläuterungen.“ (Abb. 6). In dem Heftchen finden sich keine Abbildungen und auch keine Maßangaben oder Inventarnummern. Teilweise wurden Datierungen oder Herkunftsangaben angegeben. Leider existieren auch keine Fotos von der Ausstellung. L. Justi ließ sich von den Sammlungsdirektoren einige Informationen zu den Stücken zusammenstellen, wie z. B. aus einem Tagebucheintrag des Direktors der Ägyptischen Sammlung, R. Anthes, hervorgeht: „… Notizen für die Führerbeschreibung der ausgestellten Stücke“53. Die von R. Anthes zusammengestellten Informationen umfassten meist drei bis vier beschreibende Sätze sowie die Datierung, die Materialangabe und die Inventarnummer (Abb. 7).54 Letztlich schrieb er jedoch den gesamten Text alleine, was bei den Fachleuten kritisch betrachtet wurde, wie aus einer Bemerkung R. Anthes‘ ersichtlich wird: „Lossow55 mit Korrektur des generaldirektorlichen Führers durch die Ausstellung; J.[usti] hat sehr viel Senfbrei daraus gemacht“56. Mit der Hilfe des Begleitheftchens lässt sich relativ gut die Raumabfolge der Sonderausstellung nachvollziehen. Die Besucher betraten über das barocke Treppenhaus, in dem sie übrigens von drei holzgeschnitzten Tempelwächtern aus dem Fernen Osten begrüßt wurden,57 die Ausstellung im ersten Stockwerk.58 Während die Denkmäler der archäologischen, ethnologischen und volkskundlichen Sammlungen, die etwa Zweidrittel der Ausstellungsobjekte ausmachten, in einem langen Gang zusammen ausgestellt waren, lediglich die Ägyptische Abteilung hatte ein kleines eigenes Kabinett, war den Werken „der älteren und neuen deutschen Kunst jeweils ein eigener Raum vorbehalten“59, u. a. mit einigen Werken, die von den Nationalsozialisten als „entartete Kunst“ verfemt worden waren.60 Des Weiteren zeigt die Publikation gut, wo für L. Justi der Schwerpunkt der Ausstellung lag. Mehr als der Hälfte des Katalogtextes behandelt die Kunstwerke der Gemäldegalerie, des Kupferstichkabinetts, der Nationalgalerie und der Skulp52

Archiv-ÄMP, Akte „Schloss-Ausstellung 1946/48“. Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 3.12.1946. 54 Archiv-ÄMP, Objektauswahl vom 15. Dezember 1946. 55 Zu Hubertus Lossow vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hubertus_Lossow [Zugriff am 25.05.2019]. 56 Archiv-ÄMP, Nachkriegstagebuch Rudolf Anthes, 14.12.1946. 57 Justi 1946: 1. Somit waren es eigentlich nicht 98 Ausstellungsobjekte sondern 101 Stücke. 58 Schneider 2013. Einbandinnenseite. In den Führern durch das Schlossmuseum wird anstelle des ersten Stockwerks immer der Begriff „Mittelgeschoß“ verwendet. Z. B. Führer durch die Staatlichen Museen in Berlin. Das Schlossmuseum 1925: 7. 59 Justi 1946: 21, sowie Winter 2008: 70. 60 Justi 1946: 36‒43. 53

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turensammlung, während der kleinere Teil, den anderen, zahlenmäßig stärker vertretenen Sammlungen vorbehalten blieb. Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Beschreibung des Reliefs des Drachen „Musch-chusch-schu“ vom Ischtar-Tor (Kat.-Nr. 12) mit eineinhalb Seiten den größten Platz im gesamten Ausstellungsführer einnimmt. In jüngeren Publikationen, die die Sonderausstellung beleuchten, ist die Rede davon, dass diese Ausstellung „im Weißen Saal, in den darunterliegenden Räumen und im Treppenhaus des Schlosses“ stattfand.61 Jedoch gibt es weder in L. Justis kleinem Bändchen noch in anderen zeitgenössischen Berichten62 einen entsprechenden Hinweis darauf. Wäre die Ausstellung auch im „Weißen Saal“ des Schlosses gezeigt worden, so würde man doch erwarten, dass vor allem L. Justi in seinen Beschreibungen auf einen Wechsel der Stockwerke aufmerksam gemacht hätte. Auch wäre die Benennung eines so markanten Raumes als Ausstellungsort sicherlich nicht unerwähnt geblieben,63 zumal andere Räume ziemlich eindeutig beschrieben sind.64 So liegt doch eher die Vermutung nahe, dass das Wiedersehen mit Kulturgut nur in Räumen der ersten Etage stattfand. Erstaunlich ist auch, dass die Ausstellung über einen so langen Zeitraum präsentiert wurde, fand sie doch, wie L. Justi es im Heftchen selbst formulierte „notgedrungen in höchst ungünstigen und größtenteils dunklen Räumen statt, überdies in trübster Jahreszeit“.65 Man kann also mit Sicherheit davon ausgehen, dass die klimatischen Bedingungen alles andere als objektfreundlich waren. Interessant wäre auch zu erfahren, wie die Objektsicherung erfolgte. Obwohl die Ausstellung ein geteiltes Echo erfuhr,66 stand sie doch mit am Beginn einer sich ändernden Lebenslage. Nach den verheerenden Kriegsjahren kämpften die Bevölkerung zwar immer noch mit existenziellen Nöten und Problemen und der Besuch von Kulturereignissen galt sicherlich als Luxus, den sich nicht jeder leisten konnte, auch wenn die Eintrittspreise relativ moderat klingen. Erwachsene zahlten 1,00 oder 0,50 Reichsmark (RM) und Kinder 0,25 RM. Sofern die Möglichkeit und Notwendigkeit bestand, mussten noch die Fahrkosten hinzugerechnet werden. Dennoch kamen von der Eröffnung am 21. Dezember 1946 bis zur vermutlichen Schließung der Sonderausstellung Ende Januar 1948 etwa 13000 Besucher ins Stadtschloss.67 Von den Ausstellungsführern wurden etwas mehr als 2400 Exemplare verkauft und weitere „rund 500 Stück unentgeltlich an Pressevertreter, Kunstreferenten und Gewerkschaft (letztere erhielt allein 230 Stück) verteilt“.68 61

Steinkamp 2008: 152; Winter 2008: 68 oder Weigert 2000 (siehe auch Online-Version https://berlingeschichte.de/bms/bmstxt00/0012gesc.htm) [Zugriff am 25.05.2019]. 62 A. Behne, Von Hatschepsut bis Heckel, in: Sonntag, 26. Januar 1947, 3 oder P. Metz, Wiedersehen mit Museumsgut, in: Zeitschrift für Kunst, 1. Jg., Heft 2 (1947) 45‒58. 63 Als Vergleich siehe hierzu die im Oktober/November 1946 gezeigte Ausstellung „Moderne Französische Malerei“. Vgl. Winter 2008: 67 oder Weigert 2000: 154. 64 Justi 1946: 4. 65 Justi 1946: 1. 66 Winter 2008: 73‒78. 67 Zu den Besucherzahlen und der Ausstellungsdauer siehe Winter 2008: 72. 68 Winter 2008: 72. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Die Ausstellung stand mit am Anfang der Bemühungen, das Berliner Kulturleben neu zu gestalten. Bereits Mitte des Jahres 1946 wurde von den Direktoren der Sammlungen eine Reihe von Lichtbildervorträgen gestartet. Diese konnten zunächst jedoch nicht in den Museen durchgeführt werden, da sie aufgrund der Kriegszerstörungen keine Möglichkeit boten. Daher wich man z. B. auf Räume in der Universität Unter den Linden oder dem Hörsaal des Naturkundemuseums aus.69 Die erste Sonderausstellung der Staatlichen Museen wurde unter dem Titel „Exotische Masken und Puppenspiele“ am 20. August 1946 im Museum für Völkerkunde in Dahlem eröffnet. Im Oktober/November desselben Jahres wurde für nur 14 Tage im Berliner Stadtschloss die Ausstellung „Moderne Französische Malerei“ gezeigt.70 All diese Bemühungen waren darauf ausgerichtet, den Besuchern kulturelle Erlebnisse zurückzubringen, auf die sie über viele Jahre hatten verzichten müssen.

Abkürzungen Archiv-ÄMP = Archiv-Ägyptisches Museum und Papyrussammlung SMB/ZA = Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv

Bibliografie Andrae 1952 Walter Andrae, Vorderasiatische Abteilung, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin. Behne 1947 Alfred Behne, Von Hatschepsut bis Heckel, in: Sonntag, 26. Januar 1947, 3. Justi 1946 Ludwig Justi, Wiedersehen mit Museumsgut. Erste Schau seit 1940 aus Beständen der Berliner Kunstmuseen. Erläuterungen, Berlin. Metz 1947 Peter Metz, Wiedersehen mit Museumsgut, in: Zeitschrift für Kunst, 1. Jahrgang, Heft 2, 45‒ 58. Meyer 1956 Eduard Meyer, Durch vier Jahrtausende Altvorderasiatischer Kultur, Vorderasiatisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin. Schneider 2013 Richard Schneider, Das Berliner Schloss in historischen Photographien, Berlin. Staatliche Museen Berlin 1951 Staatliche Museen Berlin. Ausstellung der Vorderasiatischen Abteilung, Berlin. 69 70

Winter 2008: 53‒54. Winter 2008: 66‒67. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Steinkamp 2008 Maike Steinkamp, Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption „Entarteter“ Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR, Berlin. Weigert 2000 Dieter Weigert, Präludium auf dem Schlossplatz, in: Berlinische Monatsschrift, 9. Jahrgang, Heft 12, 148‒158. Winter 2008 Petra Winter, »Zwillingsmuseen« im geteilten Berlin. Zur Nachkriegsgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin 1945 bis 1958, in: Jahrbuch der Berliner Museen 50, Berlin.

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Klaus Finneiser Abbildungen

Abb. 1

Notizzettel von R. Anthes mit den vom Ägyptischen Museum bereitgestellten Objekten für die Schloss-Ausstellung (Archiv-ÄMP)

Abb. 2

Eintrag von R. Anthes in sein Nachkriegstagebuch (Archiv-ÄMP)

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Abb. 3

Babylonisches Ziegelrelief mit Darstellung eines Drachens (VA Bab 04431) (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer)

Abb. 4

Fragment eines Urkundensteins (VA 00213) (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer)

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Abb. 5

Klaus Finneiser

Notizzettel von R. Anthes mit Rückholungsvermerk der Objekte aus der SchlossAusstellung (Archiv-ÄMP)

Abb. 6 a und 6 b

Deck- und Titelblatt des Ausstellungskataloges 1946

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Abb. 7

Erläuterungstexte von R. Anthes für L. Justi für den Ausstellungskatalog 1946

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Eine „neue“ Sphinx von Hattuša Abformung und originalgetreue Bemalung Daniel Meyer / Berlin Anfang 2011 verdichteten sich die Hinweise, dass eine Rückgabe der „Sphinx von Hattuša“ an die Türkei stattfinden würde. Es handelte sich um eine kulturpolitische Entscheidung und so mussten die Staatlichen Museen zu Berlin überlegen, wie sie mit der Lücke in der Sammlung des Vorderasiatischen Museums umgehen sollten. Zur Vorgeschichte Die „Sphinx von Hattuša“ wurde als eine von zwei Torsphingen während der Zeit der ersten systematischen Erforschung von Hattuša (heute Boğazkale) ab 1906 von dem Berliner Assyriologen Hugo Winckler und Theodor Macridy, Kommissar der osmanischen Antikenverwaltung, erfasst.1 Ziel der Mission war es, nach ersten Tontafelfunden 1893/94 zu prüfen, ob es sich bei den Ruinen um die Überreste der hethitischen Hauptstadt Hattuša handeln könnte.2 Bei den Grabungen wurden 2.500 Keilschrifttafelfragmente geborgen und damit der endgültige Beweis erbracht. Parallel zu Winkler und Macridy, die sich hauptsächlich auf die Schriftzeugnisse konzentriert hatten, arbeitete ab 1907 ein Team unter der Leitung von Otto Puchstein in den Ruinen der Stadt.3 Die beiden Sphingen, erstmals von Puchstein beschrieben4, kamen 1915 nach Berlin. Die besser erhaltene Skulptur wurde 1924 restauriert, abgeformt und dann an die Türkei zurückgegeben. Der Abguss (VAG 1014), der seiner Zeit vor der Rückgabe gemacht wurde, ist bis heute im Pergamonmuseum ausgestellt. Abformung 2011 Da die Rückgabe der in Berlin verbliebenen, schlechter erhaltenen Sphinx zeitnah geschehen sollte, entschloss man sich vor ihrem Abbau in der Ausstellung noch zu einer Schnellabformung. Mit den Arbeiten wurde die Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin beauftragt. Innerhalb weniger Tage konnte die Laibungsfigur von einigen Beschäftigten abgeformt werden (Abb. 1). So entstanden zwei Abgüsse – einer als Formmodell, das sich heute im Depot des Vorderasiatischen Museums befindet, der andere Abguss (VAG 2739) als bemalte Kopie für die Ausstellung.

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Macridy 1908. Zur Vorgeschichte siehe Alaura 2006. 3 Puchstein 1984. 4 Puchstein 1984: 41. 2

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Abb. 1

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Abnahme der Silikonform (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer)

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Eine „neue“ Sphinx von Hattuša

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Original und Kopie Da Malkopien dem Original so genau wie möglich entsprechen sollen, wird normalerweise versucht, den Abguss unmittelbar neben dem Original zu bemalen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Es existieren im Hinblick auf die Lichtverhältnisse und den Farbeindruck gleiche Bedingungen. Diese Idealbedingungen waren allerdings durch den Termindruck nicht mehr gewährleistet. So blieb nur die Möglichkeit, Fotos zu nutzen. Dieses Verfahren hat allerdings den gravierenden Nachteil, dass das Objekt durch eine Fotografie häufig farbiger abgebildet wird und die Oberfläche detailreicher erscheint als in der Wahrnehmung durch das menschliche Auge. Die Anforderungen an Fotografien für Kataloge, Zeitschriften und Archive sind dementsprechend andere als für eine Bemalung, die den menschlichen Seheindruck quasi simulieren müssen. Der Fotograf des Vorderasiatischen Museums, Olaf M. Teßmer, konnte die hohen Anforderungen an eine Malvorlage so gut umsetzen, dass es anhand dieser Fotografien gelang, den Abguss möglichst originalgetreu zu bemalen. Als Grundlage wurde eine stark verdünnte Schellackfarbe aufgetragen. Die eigentliche Bemalung bzw. Nachbildung der Struktur und der Farbigkeit wurde dann mit einer dünn lasierenden Silikatfarbe vorgenommen, in der anorganische, mineralische Pigmente gelöst wurden. Die Farbigkeit der Sphinx ist bemerkenswert. Stellenweise erinnert der Kalkstein an Rosengranit. Möglicherweise haben sich Struktur und Farbe durch den antiken Brand verändert. So schrieb Otto Puchstein: „Reicheren Schmuck hatte der Eingang des Turmes von der Stadtseite her: ihn flankierten zwei vollständige, halb in Freiskulptur, halb in Hochrelief gearbeitete Torsphinxe der gewöhnlichen assyrischen Art […]. Sie sind leider durch Feuer stark beschädigt; das Material, woraus sie gemeißelt waren, ein rötlicher, fleckiger Kalkstein, war so stark geborsten, daß nach der Ausgrabung gerade viele der skulpierten Teile absplitterten; doch hat Curtius diese aufgelesen, und da Macridy Bey auch den ganzen Block des östlichen, linken Torkolosses von seiner Stelle genommen hat, ist Hoffnung vorhanden, daß sich diese hethitische Sphinx in Konstantinopel fast vollständig wieder zusammensetzen läßt.“5 Da die Sphinx also schon in stark zerstörtem Zustand gefunden wurde, kamen wahrscheinlich hauptsächlich die äußeren Skulpturenfragmente nach Berlin. Diese waren derart unvollständig, dass größere Partien mit Gips ergänzt werden mussten. Ein Charakteristikum derartiger Vervollständigungen aus dieser Zeit ist, dass die Ergänzungen von Gips und anderen Materialien häufig über dem Niveau des Originals liegen, was gewiss auch mit dem ästhetischen Empfinden jener Zeit zusammenhängt. Daher wurde nach der Abformung und dem Ausgießen der Form mit dem Steinrestaurator des Vorderasiatischen Museums, Stefan Geismeier, vereinbart, dass die Retusche – also das Schließen kleiner Luftlöcher im Guss und das mechanische Abnehmen von sogenannten Nähten sowie von über Niveau liegenden kleinen Gipskörnchen – soweit möglich auch das heute übliche Zurücksetzen der Ergänzungen unter das Niveau der Originaloberfläche beinhalten sollte. Die vorhandenen Ergän5

Puchstein 1984: 41. Die hier beschriebenen geborstenen Fragmente wurden 1915 tatsächlich nach Berlin gebracht und dort zusammengesetzt und restauriert. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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zungen waren nicht nur auf oder über dem Niveau des Originals, sondern auch sehr unruhig und stark strukturiert gearbeitet. Sämtliche Ergänzungen wurden in Absprache mit der Sammlung glatter und gleichmäßiger gestaltet und auf ein niedrigeres Niveau gebracht. Mit Hilfe der oben erwähnten Fotografien in starker Vergrößerung konnten dabei auch sehr kleine Details auf der Oberfläche des Bildwerks nachgemalt werden, z. B. die einzelnen hellen Kalksteinstrukturen an den Hinterläufen und an der unteren Bauchregion der Sphinx. Auch der dunkle, an einigen Stellen schwarzbräunliche Streifen, der wahrscheinlich von einem anliegenden verbrannten Holzbalken herrührt, konnte nachvollziehbar kopiert werden. Insgesamt ist die Kopie der Sphinx allerdings durch den abweichenden Bemalungsstandort und die generell hellere Farbe der Ergänzungen weniger dunkel als das Original. Abguss versus Original Gipskopien auszustellen ist ein sehr kontrovers diskutierter Vorgang. Im Fall der Hattuša-Sphinx handelte es sich bereits bei dem ausgestellten Gegenstück um eine Abformung, die ihren Sinn als Ergänzung des Originals erhielt. Mit dem Wegfall dieses Originals durch die Rückgabe wäre die Notwendigkeit eines nicht-originalen Exponats nicht mehr unbedingt gegeben. Allerdings ist eben die historische Kopie des Gegenstücks Bestandteil des ursprünglichen Ausstellungskonzepts der gesamten Sammlung und dadurch auch die Ausstellung einer Kopie der Sphinx selbst zu rechtfertigen. Ein weiterer Diskussionsgegenstand ist die originalgetreue Bemalung der Sphinx. Die gegenüberliegende Kopie aus den 1920er Jahren ist relativ gleichmäßig in einem ockerbraunen Ton bemalt und damit bewusst farblich neutral gehalten. Im Zuge der Anfertigung der Kopie der Sphinx wurde deshalb die Frage diskutiert, ob nicht etwa auch die historische Kopie des Gegenstücks ähnlich der 2011 zurückgegebenen Sphinx bemalt werden sollte, also entsprechend dem neuen Abguss. Aus unterschiedlichen Gründen wurde das Projekt aber nicht weiter verfolgt. Unterschiedliche Ansichten bezüglich originalähnlicher Abgüsse bestehen auch hinsichtlich großflächiger Ergänzungen, bei denen immer wieder im Einzelfall neu entschieden werden muss, wie umfangreich die Komplementierung eines stark zerstörten oder aus nur wenigen Fragmenten bestehenden Exponats sein soll und wie stark die Ergänzung in Stil und Form dem Original angepasst sein soll. Umstritten ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob und wie deutlich sich die Kolorierung der Ergänzungen von der Farbigkeit des Originals absetzen soll, so dass Unterschiede erkennbar bleiben, zugleich aber die Fragmente und die Ergänzungen zu einem optischen Ganzen zusammenwachsen. Während bei der Gründung und Erstausstattung der Universalmuseen die Gesamtausstellung eher einen Eindruck der jeweils ausgestellten Kultur vermitteln sollte, liegt die Aufmerksamkeit gegenwärtig eher auf den einzelnen Objekten, die in hervorgehobener Position präsentiert werden. Ein anschauliches Beispiel für diesen Unterschied ist im Neuen Museum Berlin zu sehen, in dem noch immer Freskoreste, verzierte Decken und Säulen von dem einst intendierten exotischen und monumentalen Eindruck zeugen. Durch die heutige eher sachliche Präsentation von © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Eine „neue“ Sphinx von Hattuša

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Exponaten müssen Fachwissenschaftler und Restauratoren fast immer Einzelfallentscheidungen treffen, in welchem Umfang, welcher Form und Farbgebung das jeweilige Stück ausgestellt werden soll. Auch in dieser Hinsicht ist die Kopie der Sphinx von Hattuša eine Besonderheit. Obwohl sie als Abguss vollständig aus Gips gefertigt ist, wurde sie wie ein Original behandelt, d. h., die Farbigkeit der abgeformten Originalfragmente wurden originalgetreu kopiert, während die als Ergänzungen abgesetzten Teile der Sphinx in einem einheitlichen Farbton bemalt wurden (Abb. 2).

Abb. 2

Die abgeformte Sphinx nach der Fertigstellung (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer)

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Gipsabgüsse und Digitalisate – Viel mehr als ‚nur‘ eine Kopie des Originals Sollten Abgüsse überhaupt als Exponate in Ausstellungen gelangen? Die Gründe, die dafür sprechen, sind vielfältig: Wie im Fall der Sphinx von Hattuša kann das fehlende Pendant durch eine exakte Kopie kompensiert werden, auch können Kriegsverluste oder stark beschädigte Exponate, die eine besondere Bedeutung für eine Sammlung oder Ausstellung haben, so dem Publikum anschaulich gemacht werden. Als in den 1990er Jahren der Leihverkehr von Kunstwerken stark anstieg, wurde in vielen Museen sogar intensiv darüber diskutiert, ob nicht zum Schutz der Objekte vornehmlich originalgetreu bemalte Abgüsse verliehen werden sollten! – Obwohl man sich letztlich dagegen entschied, trug diese Diskussion immerhin dazu bei, dass mit Leihgaben noch sensibler umgegangen wurde und zugleich die Bedeutung der Jahrtausende alten Praxis der Abformung wieder stärker ins Bewusstsein rückte. Die Debatte ist auch in der Gegenwart mit den Möglichkeiten der Digitalisierung noch nicht am Ende, denn Gipsabformungen von Originalen und Modellen, wie sie zum Teil schon im alten Ägypten oder Makedonien praktiziert wurden und die im Kontext der großen Grabungen im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts noch einmal aufblühten, sind bis heute in Bezug auf die Schärfe der Wiedergabe des Originals nicht zu überbieten. Abformungen mithilfe von Silikon sind allerdings von ähnlich guter Qualität und schneller in der Ausführung (Abb. 3). Derartige Direktabformungen bergen leider noch immer ein Restrisiko vor allem durch den Druck, der im Prozess der Abformung auf das Exponat ausgeübt wird. Nicht nur aus diesem Grund sind inzwischen Digitalisate unverzichtbar, indem sie eine alternative Möglichkeit, Originale für die Nachwelt zu archivieren, bieten.

Abb. 3

Detailaufnahme vom Kopf der Sphinx (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Eine „neue“ Sphinx von Hattuša

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Im Bereich kleinerer Exponate wie zum Beispiel bei Tontafeln oder kleineren Statuetten werden inzwischen mithilfe von digitalen Scans und anschließendem 3DDruck zufriedenstellende Ergebnisse erzielt, was sich insbesondere bei sehr fragilen oder farblich gefassten und daher nicht abformbaren Objekten anbietet. Bei sehr großen Objekten ist die Wiedergabe durch einen 3D-Plot allerdings noch sehr grob und kann mit einer Abformung qualitativ noch nicht konkurrieren. Auch in Bezug auf die Bemalung waren Hightech-Farbanalysen bisher nur begrenzt hilfreich. So wurden bspw. für die originalgetreue Bemalung der Büste der Nofretete punktuell die genauen Farbtöne ermittelt, auf die gesamte Bemalung der Büste hatten diese Informationen aber nur einen geringen Einfluss, da stark variierende Farbnuancen, unterschiedlich starker Farbabrieb und die Patina des Originals eben nicht dokumentiert wurden – oder werden konnten. Die Herstellung und die Qualität einer bemalten Nachbildung hängen also aktuell noch unmittelbar vom Auge des/der Ausführenden und von äußeren Umständen wie etwa Lichtverhältnissen ab. Durch diese individuellen Einflussfaktoren sind handwerklich entstandene Nachbildungen auch nie identisch, jede bemalte Nachbildung ist damit gewissermaßen ein Unikat. Über ihren ästhetischen Wert hinaus können Abgüsse im Museumsbetrieb nicht nur den direkten Kontakt mit einem Exponat durch ihre Berührbarkeit (auch) durch sehbehinderte Besucher ermöglichen, sondern auch als Studienobjekte oder Exponate in Schaudepots dienen. Ihre primäre Funktion wird allerdings wohl auch künftig die einer Ersatz-„Konservierung“ von längst verlorenen, durch Kriegsgeschehen6 oder Umwelteinflüsse zerstörten Originalen sein und damit ist ihre Erhaltung und Pflege durch die Museen einerseits und die Weitergabe der handwerklichen Technik der Gipsabformung andererseits als wichtige Aufgabe von Museen anzusehen.

Bibliografie Alaura 2006 Silvia Alaura, „Nach Boghasköi!“ ‒ Zur Vorgeschichte der Ausgrabungen in BoğazköyḪattuša und zu den archäologischen Forschungen bis zum Ersten Weltkrieg, 13. Sendschrift der Deutschen Orient-Gesellschaft, Münsterschwarzach Abtei. Macridy 1908 Theodor Bey Macridy, La porte des sphinx á Euyuk. Fouilles de Musée Impérial Ottoman, in: Mitteilungen der Vorderasiatisch-Ägyptischen Gesellschaft XIII/3, 177‒205. Puchstein 1984 Otto Puchstein, Boghasköi. Die Bauwerke, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1912, Osnabrück.

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Allgemein zu diesem Thema siehe: First Aid and Resilience for Cultural Heritage in Times of Crisis: https://www.iccrom.org/section/disaster-resilient-heritage/first-aid-and-resiliencecultural-heritage-times-crisis-far / [Zugriff am 30.10.2019]. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Die geretteten Götter vom Tell Halaf 1 Eine Begegnung mit dem Abenteuer Einblicke der Ausstellungsgestalter Moritz Schneider / Berlin Auf dem etwas versteckt liegenden ehemaligen Industrieareal ist es zunächst schwierig, die richtige Halle zu finden. Dort treffen wir auf die Kuratoren Lutz Martin und Nadja Cholidis sowie den Restaurator Stefan Geismeier. Voller Begeisterung berichten sie von der Auferstehung der einzigartigen Skulpturen vom Tell Halaf. Seit dem Bombentreffer auf das Charlottenburger Tell Halaf-Museum 1943 hatte man sie als unwiederbringlich verloren angesehen. Brandbomben und Löschwasser hatten die Basaltskulpturen in tausend Teile zersprengt. Der Schutt war noch gesichert und in den Kellern des Pergamonmuseums eingelagert worden, geriet dort aber bald in Vergessenheit. Jahrzehnte später sollten die Schutthaufen umgelagert werden. Der Restaurator Stefan Geismeier versuchte damals zunächst auf eigene Faust mit Unterstützung von Lutz Martin und später auch von Nadja Cholidis, der Staatlichen Museen zu Berlin und der Max von Oppenheim Stiftung, eine der zerstörten großen Löwenskulpturen wieder zusammenzusetzen. Nach den ersten Erfolgen wurde die Puzzlearbeit weitergeführt. In knapp zehn Jahren konzentrierter Arbeit war es nun gelungen, einen Großteil der Skulpturen und weitere Basaltobjekte wieder zusammenzufügen. Wir stehen in einer großen, sehr hohen Halle, komplett gefüllt mit Holzpaletten, die über und über mit anthrazitfarbenen Basaltbrocken belegt sind. Einige wurden anscheinend in einem aufwändigen, gigantischen Rekonstruktionspuzzle zu größeren Einheiten wieder zusammengefügt. Brocken mit ungewöhnlichen Mustern und kleinere Architekturteile liegen auf eigenen Paletten (Abb. 1). Die beiden Wissenschaftler sprechen über ihre intensive Arbeit, während wir die größte, aufrechtstehende Skulptur bestaunen, eine aus unzähligen kleinsten Stückchen zusammengefügte Götterfigur ohne Kopf, mit nur einem Arm, auch der Brustkorb nur zur Hälfte rekonstruiert. Wo ist da die Sensation? Woher diese Begeisterung? Und wie soll um alles in der Welt aus einer solchen Trümmerwüste eine Ausstellung entstehen? Wir werden in einen weiteren Raum geführt, anscheinend haben wir noch nicht alles gesehen. Vor uns stehen aus hunderten von Einzelfragmenten zusammengefügte, eindrucksvolle, etwas merkwürdige große schwarze Götterfiguren und Tiergestalten, von denen eine uns mit ihren großen, fast comic-haften, weißen Augen anstarrt. Große Reliefplatten stehen herum und Fabelwesen wie der Skorpionenvogelmann und die großen Löwenfiguren. 1

Titel in Anlehnung an die Berliner Ausstellung „Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf“, vom 21.8.‒14.8.2011 im Pergamonmuseum. Das Ausstellungsdesign hat neo.studio neumann schneider architekten, Berlin, entwickelt. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 1

Moritz Schneider

Kleine Sortierhalle ‒ Bruchstücke auf Paletten (© Staatliche Museen zu Berlin – Vorderasiatisches Museum, Foto Olaf M. Teßmer)

Wir beginnen zu verstehen. Die Rekonstruktions- und Restaurierungsarbeiten sind vorerst abgeschlossen und die verlorenen Berliner Schätze vom Tell Halaf wieder sichtbar geworden. Nach und nach lernen wir die beteiligten Wissenschaftler und Restauratoren kennen und bekommen ein Bild von dem Werk, das sie vollbracht haben, von der damit verbundenen Herausforderung und Leidenschaft sowie von der besonderen Expertise. Die Begeisterung für das Thema steckt auch uns schnell an. Ein vergessener und verborgener Schatz und seine faszinierende Geschichte breiten sich vor uns aus und damit die Dramaturgie der Ausstellung: Es wird eine sinnlich erlebbare, dramatische und phantastische Erzählung von Entdeckung, mehrfacher Zerstörung und Wiederauferstehung sein. Auch wir, die Ausstellungsarchitekten, sind bereits mittendrin in dem Abenteuer vom Tell Halaf. Die Ausstellung und ihre Szenografie Die Ausstellungsthemen liegen auf der Hand und lesen sich wie ein spannendes Drehbuch. Wir führen den Besucher über einen erlebnisreichen Parcours durch elf Themenbereiche, die wir inhaltlich und chronologisch miteinander verschränken. Zwei Hauptstränge ziehen sich durch die Ausstellung: Der eine gilt der außergewöhnlichen Person des Entdeckers, Orientkenners und reichen Bankierssohns Max von Oppenheim, der andere der Entdeckung, mehrfachen Zerstörung und Wiederauferstehung der Schätze vom Tell Halaf. Achthunderttausend Besucher werden es schließlich sein, die 2011 während der sieben Ausstellungsmonate ins Pergamon© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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museum strömen, um die seit ihrem Untergang 1943 zum ersten Mal gezeigten Figuren und ihre dramatische Geschichte kennenzulernen. Wir arbeiten in unseren Ausstellungen immer wieder mit Symbolen und Metaphern. Ausstellungsinhalte können so für die Besucher in besonderer Weise erlebbar werden. Dabei dienen wir als Vermittler und Übersetzer, indem wir über die Gestaltung und Anordnung der Exponate die Essenz der meist komplexen Inhalte herausarbeiten und auf emotionale Weise vermitteln. Die Ausstellung organisieren wir zusammen mit den Kuratoren über eine Folge von unterschiedlichen Inszenierungen und differenzierten Raumbildern als prägendes Motiv in einer narrativen, inhaltlichen Abfolge mit Rückblenden und verwobenen Handlungssträngen. Ein Rundgang durch die Ausstellung: Der Prolog Die zwei Handlungsstränge der Ausstellung werden gleich zu Beginn in einer Art doppeltem Prolog eingeführt. Im ersten Teil wird der Besucher mit den Transportpaletten voller Schutt auf einem goldenen Podest konfrontiert, der nach der scheinbar endgültigen Zerstörung, dem Bombardement von 1943, von den Schätzen übrigblieb und dem wir Ausstellungsarchitekten zunächst so erstaunt gegenüberstanden. Im zweiten Teil des Prologs werden Max von Oppenheim und seine Lebensgeschichte bis zur Entdeckung des Palasts und damit der zweite Erzählstrang der Ausstellung vorgestellt. (Abb. 2)

Abb. 2

Max Freiherr von Oppenheim in seinem Expeditionszelt, 1929 (© Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, Köln)

Tell Halaf-Museum Das eigene Museum, das Oppenheim in Charlottenburg für die Schätze vom Tell Halaf aufbaute, nachdem die Staatlichen Museen ihm die kalte Schulter gezeigt hatten, wird zum Anlaufpunkt für Interessenten aus aller Welt, darunter der britische Archäologe Max Mallowan und seine Ehefrau Agatha Christie. Vor unserer © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Vertiefung in das Abenteuer vom Tell Halaf hatten wir, wie wohl die allermeisten Besucher, auch nichts geahnt von der vermeintlichen politischen und archäologischen Gegnerschaft des deutschen Freiherrn mit dem Briten Lawrence von Arabien.

Abb. 3

Inszenierung von Oppenheims Tell-Halaf-Museum (© neo.studio neumann schneider architekten, Berlin)

Abb. 4

Die rekonstruierte Palast-Fassade im Tell Halaf-Museum, 1930er Jahre (© Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, Köln)

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In einer Inszenierung des von Oppenheim in einer alten Fabrik eingerichteten Tell Halaf-Museums werden von uns tragende Momente, die schweren Dielenböden, die einfachen Podeste und die vielen Rekonstruktionen wie z. B. die Palastwände integriert. In Ergänzung von zahlreichen Fotografien, Dokumenten und Originalfilmaufnahmen erlebt der Besucher durch die Inszenierung das verlorengegangene Museum der 30er und 40er Jahre. (Abb. 3 und 4) Die Zerstörung Akustisch und in Filmprojektionen dringt der Bombenangriff auf Berlin in einen Sonderraum der Ausstellung ein. Einige wenige ältere Berliner machen um ihn und damit um ihre Kriegserinnerungen einen Bogen, während Jüngere hier drastisch mit der ihnen fremden Geschichte des Untergangs konfrontiert werden. Über der roten Glut des brennenden Berlin liegen große Skulpturenfragmente aus dem zusammengebrochenen Museum mit aufgeschmolzenen Resten von Dachpappe, Glassplittern und Nägeln. (Abb. 5)

Abb. 5

Die Zerstörung von Oppenheims Tell-Halaf-Museum (© neo.studio neumann schneider architekten, Berlin)

27.000 Fragmente – Die Restaurierung Große Spiegel verlängern im folgenden Raum die Trümmerhaufen der zerstörten Museumsschätze über den Ausstellungsraum hinaus und führen dem Betrachter die zehnjährige Herkulesarbeit der Restauratoren vor Augen und erinnern an die dreihundert Paletten mit Fragmenten, die am Anfang der Arbeiten standen. Spiegel sind mittlerweile ein häufig von uns eingesetztes Element, um Ausstellungen um nicht

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sichtbare Ebenen zu erweitern und metaphorisch in den Erlebnisraum der Besucher zu bringen. (Abb. 6)

Abb. 6

Die Restaurierung (© neo.studio neumann schneider architekten, Berlin)

Die Götter vom Palast vom Tell Halaf Im Anschluss an diese emotionale Rückblende in die totale Zerstörung und Aufarbeitung gelangen die Besucher nun in das Allerheiligste, den Palastsaal mit den geretteten Göttern vom Tell Halaf, dem mystischen und strahlenden Highlight der Ausstellung. Als dramaturgisches Herzstück integrieren wir den monumentalen Schlütersaal in den Parcours der Ausstellung. Wir nutzen dabei die imposante Architektur des großen Saales im Nordkopf des Pergamonmuseums und platzieren die Skulpturen in den Seitenachsen und vor der zentralen goldenen Rückwand in dem ansonsten anthrazit angelegten und verdunkelten Saal. Die Wand und die Podeste der Skulpturen legen wir als goldene Flächen aus vielen kleinen lebhaften Quadraten an. Diese dienen als Symbol für den Wert der Skulpturen, die sie für den Fürsten der Palastanlage auf dem Wüstenhügel gehabt haben mögen, als auch für die herausragende Bedeutung der Wiederauferstehung der Skulpturen. Die ca. 27.000 goldenen Quadrate in der gesamten Ausstellung verweisen zudem auf die Anzahl der Fragmente, aus denen die Objekte und Skulpturen wieder zusammengefügt worden sind. (Abb. 7‒8)

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Abb. 7

Der Palast (© neo.studio neumann schneider architekten, Berlin)

Abb. 8

Zusammengesetzte Götter auf goldenen Podesten (© neo.studio neumann schneider architekten, Berlin)

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Fortsetzung zweiter Erzählstrang: Die Entdeckung in der Wüste Gelbliches Licht, eine Sanddüne, gegen die Fenster des Museums geschüttet, hinter dem die reale Berliner S-Bahn vorbeirattert, erinnert an die Situation, wie der Baron Max von Oppenheim für die Firma Siemens eine Expeditionsreise nach Syrien unternimmt, um die optimale Streckenführung der Bagdadbahn zu erkunden. Zufällig stößt er dabei auf die Skulpturen des Palastes vom Tell Halaf und kann mithilfe seiner guten Kontakte zur osmanischen Antikendirektion und nahezu unbegrenzter eigener Mittel sein Gelehrteninteresse zu voller Entfaltung bringen. Damit beginnt eines der farbigsten Kapitel der Archäologie in Deutschland. (Abb. 9)

Abb. 9

Die Wüste (© neo.studio neumann schneider architekten, Berlin)

Orientinstitut und Epilog Am Ende vertieft die Ausstellung noch einmal die universalwissenschaftlichen Arbeiten rund um die Grabung von Oppenheim und seines ungewöhnlich gut ausgestatteten Expeditionsteams und des von ihm 1922 gegründeten ersten Orientinstitutes des Deutschen Reichs in seiner Wohnung am Savignyplatz 6 und endet mit einem Epilog und Ausblick auf aktuelle Grabungen am Tell Halaf und auf die Zukunft eines Teils der Stücke in der zukünftigen neuen Dauerausstellung im Pergamonmuseum. (Abb. 10)

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Abb. 10

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Orientinstitut (© neo.studio neumann schneider architekten, Berlin)

Ausstellungen erzählen – unsere Leidenschaft Kuratoren haben spannende Geschichten zu erzählen. Wir filtern diese gemeinsam mit ihnen heraus und lassen sie in unserer Übersetzungsarbeit in die Dramaturgie und Gestaltung transdisziplinär einfließen. Unsere Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die für die Ausstellung verantwortlich waren, wurde von gegenseitigen Vertrauen geprägt. Wir teilten die Neugier auf die Impulse, die der jeweils andere in die gemeinsame Arbeit einbringen konnte. Unsere Begeisterung wurde dadurch wechselseitig belebt und potenziert. Die Erzählungen von Lutz Martin über seine Ausgrabungen in Syrien und am Tell Halaf sowie seine Erfahrungen mit der syrischen Kultur bleiben mir persönlich in lebendiger Erinnerung. Dr. Lutz Martin und seine Kolleginnen und Kollegen haben nicht nur einen archäologischen Schatz geborgen und wiedererweckt, sondern auch mit uns ein besonderes Ausstellungserlebnis und eine besondere Erinnerung geschaffen. Darum behalten Die geretteten Götter vom Tell Halaf auch für uns eine bleibende Sonderstellung unter den Ausstellungsprojekten, an denen wir mitgewirkt haben.2

2

Die Ausstellung wurde im weiteren Verlauf mit drei renommierten Design-Preisen/ Nominierungen ausgezeichnet: reddot design award – Kategorie Event Design, winner 2011; Art Directors Club (ADC) – Kategorie Kommunikation im Raum 2011 German Design Award – Nominee 2013. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Literaturempfehlungen Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Tell Halaf. Vorberichte über die erste und zweite syrisch-deutsche Grabungskampagne. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,1, Wiesbaden 2009. Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Tell Halaf. Vorberichte über die dritte bis fünfte syrisch-deutsche Grabungskampagne. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,2, Wiesbaden 2012. Nadja Cholidis / Lutz Martin (Hrsg.), Tell Halaf V. Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung, Berlin / New York 2010. Nadja Cholidis / Lutz Martin (Hrsg.), Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf, Begleitbuch zur Sonderausstellung des Vorderasiatischen Museums, Regensburg / Berlin 2011. Max von Oppenheim und die arabische Welt. Die Stiftung des Diplomaten, Forschers und Sammlers, hrsg. v. Lutz Martin und Christopher Freiherr von Oppenheim im Auftrag der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung mit Beiträgen von Nadja Cholidis, Marc Hanisch, Lutz Martin, Gabriele Teichmann und Beate Wiesmüller, Köln 2019. Max von Oppenheim, Der Tell Halaf. Eine neue Kultur im ältesten Mesopotamien, Leipzig 1931. Gabriele Teichmann / Gisela Völger (Hrsg.), Faszination Orient: Max von Oppenheim, Forscher, Sammler, Diplomat, Köln 2001.

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Eine lexikalische Liste (HS 2944) zur Anatomie des Opferschafes Manfred Krebernik / Jena In der Jenaer Hilprecht-Sammlung ist unter der Signatur HS 2944 eine fragmentarische Tontafel inventarisiert, zu der das Inventarbuch lediglich vermerkt: „dto., Fragment“. „Ditto“ bezieht sich hier auf die vorangehende Beschreibung von HS 1943 als einer „m/nB Schultafel“. Mit „Schultafel“ ist offenbar ein „akademischer“ Text im Unterschied etwa zu Wirtschaftstexten gemeint, nicht aber eine „Schüler-“ oder „Übungstafel“, denn die Handschrift ist klein und geübt, das sehr ungewöhnliche Layout durch sauber gezogene Linien markiert; zudem finden sich paratextliche Notationen, welche den (Haupt-) Text als eine Abschrift ausweisen. Erhalten ist in etwa die untere Tafelhälfte, der linke Rand ist stark beschädigt. Die erhaltene Höhe beträgt 50 mm, die Breite 52 mm, die größte Dicke 22 mm. Das paläographische Erscheinungsbild sowie sprachliche Kriterien – korrekte Kasusendungen, fehlende Mimation1 – sprechen für eine Datierung in die späte altbabylonische oder in die mittelbabylonischen Zeit. Die Orthographie ist weitestgehend syllabisch. Das Syllabar weist keine typisch mittelbabylonischen Syllabogramme auf, es ist vielmehr altbabylonisch. Der Schreiber hat also anscheinend eine oder mehrere altbabylonische Vorlagen (ohne Modernisierungen) kopiert. Das Layout der Tafel ist, wie schon erwähnt, sehr ungewöhnlich. Auf der Vorderseite befinden sich die Reste von zwei Kolumnen. Die linke (hier Abschnitt „A“ genannt) enthält eine Liste akkadischer Bezeichnungen von Körperteilen und Organen des Schafes. Jeder Eintrag beginnt mit dem für lexikalische Listen typischen „Merkzeichen“ in Gestalt des Zahlzeichens „1“. Die Kolumne läuft über den unteren Tafelrand hinweg und setzt sich auf der Rückseite fort bis zu deren Abbruch. Die Liste scheint sich dann weiter auf der Vorderseite in der rechten Kolumne (hier Abschnitt „B“ genannt) fortzusetzen, denn das erhaltene Ende von B besteht ebenfalls aus lexikalischen Einträgen, denen jeweils eine „1“ vorangeht. Vollständig erhalten sind nur die beiden letzten. Sie gehören demselben Wortfeld an. Auffällig ist aber, dass sich hier zwei Lemmata aus A wiederholen: B.1’ = A.3’, B.3’ = A.6’. Unterhalb von B steht eine dreiteiliges Subskript (Abschnitt „C“). Der Rest der Vs. unterhalb von C ist unbeschriftet, ebenso der untere Rand. Auf der Rückseite folgen drei Abschnitte, deren Schriftrichtung gegenüber derjenigen vom A, B und C um 90 Grad gedreht ist. Noch auf der Unterseite setzt eine als Abschnitt „D“ bezeichnete Zeile ein. Darunter – bzw. im Sinne der neuen Schriftrichtung: rechts daneben – befinden die beiden durch Linien abgeteilten Abschnitte „E“ (3 Zeilen) und „F“ (2 Zeilen). Aufgrund der gleichen Schriftrichtung scheinen D, E und F zusammenzugehören. Die hier gewählte Reihenfolge von links nach rechts ist nicht völlig sicher, denkbar ist auch, dass D den Abschluss bildet, also auf E+F folgt; dafür könnte 1

(Scheinbare) Mimation kommt nur auf graphischer Ebene vor: die entsprechenden Syllabogramme tum und rum sind daher -tu4 bzw. rù transliteriert. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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sprechen, dass D ein Kolophon wiedergibt. Doppelte, um 90 Grad versetzte Beschriftung ist vor allem auf Schultafeln der mB Zeit gut bezeugt – allerdings verteilt sie sich in der Regel auf die Vorder- und Rückseite2. Für das Layout von HS 2944 kenne ich kein weiteres Beispiel.

Abb. 1

2

HS 2944 (© Foto, Hilprecht-Sammlung der Universität Jena)

Vgl. die Übersicht in Bartelmus 2016: 15‒42, insbesondere 22‒28. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Eine lexikalische Liste (HS 2944) zur Anatomie des Opferschafes

Abb. 2

HS 2944 (Zeichnung M. Krebenik)

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Manfred Krebernik

Abb. 3 HS 2944 (Graphik M. Krebernik)

Die Abschnitte (bzw. Kolumnen) A und B enthalten wie erwähnt eine Liste von Körperteilen und Organen des Schafes in akkadischer Sprache. Eine ähnliche Liste aus altbabylonischer Zeit (BM 29663) hat kürzlich Y. Cohen veröffentlicht3; sie beginnt mit dem Stichwort UDU „Schaf“. Dieselben Termini scheinen großenteils auch in eine akk.-heth. Liste von Körperteilbezeichnungen (KBo. 1, 51) eingeflossen zu sein4. In der folgenden Edition von HS 2944 sind die Nummern der korrespondierenden Einträge in BM 29663 und KBo. 1, 51 angegeben.

3

Cohen 2018 (mit Illustrationen zum Schafsmagen S. 144). Cohen zieht Parallelen aus folgenden Texten heran: Omen-Serie Šumma immeru (YOS 10: 47–49, vgl. Cohen 2016); “Ritual of the Diviner” (Starr 1983); KBo 1, 51 (akk.-heth. Körperteil-Liste); CUSAS 18 (George 2013) Nr. 22 (Omen-Kompendium aus der Zeit der 2. Meerland-Dynastie); “Manual of Sacrificial Procedure” (Foxvog 1989). 4 Y. Cohen bereitet eine (Neu-)Edition von KBo 1, 51 vor und hat mir freundlicherweise vorab sein Ms. mitgeteilt. Ich zitiere die Einträge hier nach seiner Nummerierung. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Eine lexikalische Liste (HS 2944) zur Anatomie des Opferschafes HS 2944

BM 29663

Vs. A.1’ A.2’ A.3’ A.4’ A.5’

(abgebrochen) [1 q]i-in-n[a-tu4] [1 z]i-ib-ba-˹tu4˺ [1 ku-u]r-si-in-n[u] [1 is]-ru [1 ki]-in-ṣú

A.6’

[1 k]i-ṣí-il-lu

A.7’ A.8’f.

[1 ka-m]a?-ki-sú [1 ka]-li-it / [b]u-ur-ki

A.10’ A.11’ A.12’ A.13’

[1 a-]bu-un-na-tu4 [1 b]a-ma-tu4 [1] GABA-tu4 1 ka-as-ka-su

A.14’

1 ši-it-qu

u. Rd. A.15’ A.16’ A.17’ A.18’ A.19’

1 na-aṣ-pa-tu4 1 me- ḫe -sú 1 kar-šu 1 ḫe-pí -mu 1 na-ap-ša-ru

naṣpattu „Fleischrippe“ missu „...“ (?) karšu „Bauch, Pansen“ mu „Milz“ napšāru „Zäpfchen“

Rs. A.20’ A.21’ A.22’ A.23’

1 ḫa (ü. Rasur)-ab-šu-tu4 1 ri-qí-tu4 1 ku-uk-ku-ud-rum 1 sa-ar-Ga-tu4

A.24’

1 qé-er-bu

A.25’

1 ŠÀ.˹NÍGIN˺

A.26’ A.27’

1 up-pu 1 mu-še-ri-it-tu4

A.28’ A.29’ A.30’ A.31’

1 ša-am-ma-aḫ-ḫu 1 ˹šu˺-uḫ-ḫu [1 su]-rum-mu [1 ge-er]-gi-in-nu

A.32’ A.33’

[1 e(?)]-meš-tu4 [1 na4(?)]KIŠIB UDU

ḫabšūtu „Netzmagen (?)“ riqītu „Blättermagen“ kukkudru „Labmagen“ sarq/katu „(Labmagen mit) Zwölffingerdarm“ qerbū „Eingeweide, (Dünn-)Darm“ errū, tīrānū „Eingeweide, Gedärm“ uppu „Dickdarm“ mušērittu „Speiseröhre“(!?) šammaḫḫu „Dickdarm“ šuḫḫu „Blinddarm (?)“ surummu „Mastdarm“ gerginnû (Teil des Darmes) eme/ištu „Lab“ (?) kunuk immeri „Rückenwirbel des Schafes“

qinnatu „After“ zibbatu „Schwanz“ kursinnu „Fußknöchel“ isru (Teil des Fußes) kinṣu < kimṣu „Unterschenkel“ kiṣillu „Fußwurzelknochen“ kam(a)kissu „...“ kalīt burki „Hoden“ abunnatu „Nabel“ bāmātu „Rippengegend“ irtu „Brust“ kaskassu „Brustbein(fortsatz)“ šitqu „Einschnitt der Speiseröhre (?)“

87 KBo. 1, 51

14 13 6 5 8

44 36 15

41

40

27 26 47

40 38

29 28 30 31

43 42

34

47 (36, 46)

35 33

18

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48

88

Manfred Krebernik HS 2944 A.34’ A.35’ A.36’

[1 šu-]pé-e-tu4 [1 il-la]-ab-bu-uḫ-ḫu [1 x-x-]˹ši?˺-nu (abgebrochen)

šupētu „...“ illabbuḫḫu „Blase“ ...

BM 29663 38 42

KBo. 1, 51 50

Vs. B.1’ B.2’ B.3’ B.4’

˹NU˺

(abgebrochen) 1 ku-[ur-si-(in-)nu (?)] 1 lu-[...] 1 ˹ki˺-ṣ[i]-lu 1 ˹ki˺-is-lu

kursinnu „Knöchel“ .... kiṣillu „Fußwurzelknochen“ (= A.06’) kislu „Querfortsatz“

8 20

Die Reihenfolge der Körperteile dürfte dem Procedere einer Opferschau entsprechen5: Sie beginnt am Kopf (in HS 2944 nicht erhalten) und fährt am hinteren Körperende fort (hier setzt HS 2944 ein). Zunächst werden die äußeren Teile (After, Schwanz, Beine, Bauch und Brust) inspiziert, dann folgen innere Organe und schließlich Knochen. Eine detaillierte Auswertung unseres Textes in Bezug auf die Schafsanatomie und die Eingeweideschau ist hier nicht beabsichtigt, ich beschränke mich auf philologische Kommentare zu einzelnen Einträgen. A.3’ Der erhaltene Rest des ersten Zeichens stimmt zu UR, aber nicht zu AR; eine Ergänzung [la-a]r-si-in-nu nach BM 29663 Nr. 7 scheidet damit aus. kursinnu ist wahrscheinlich auch in B.1 zu ergänzen. A.4’ Theoretisch wären auch [er]ru „Eingeweide“ oder [kur]ru „Becken(?)“ möglich, doch spricht der Kontext für [is]ru; zu diesem Terminus, dessen genaue Bedeutung noch zu klären ist, vgl. Cohen 2018: 135 mit Lit. A.5’ Theoretisch möglich wäre auch [ḫ]inṣu (< ḫimṣu) „Fettgewebe“, doch spricht der Kontext für [k]inṣu (< kimṣu). A.6’ BM 29663 Nr. 8 hat die Variante kiṣallu, unter der das Wort in den Wbb. geführt wird: nach AHw. „Knöchel“, CAD “ankle bone”, “astragal”. Zum verbesserten Bedeutungsansatz “tarsal calcaneus” siehe Cohen 2018: 135. Dasselbe Lemma findet sich auch in B.3’. A.7’ Zu dem hier ergänzten Terminus siehe AHw III 1566 mit Verweis auf Hh XV 63 (MSL 9, 8): uzuSÌL.ZAG.UDU = kam-ki-is-su; Hh XV 248 (MSL 9, 8): [uzu]lub-bi = [k]a-ma-ki-is-su. Ein Duplikat zu Hh XV 63 ist Ashm 1924-0799+1982: 9 (MSL SS 1, Pl. viii, Nr. 34; CDLI P347757): [... = ka-m]a?-ki-is-su. A.12’ Die Lesung ist durch die syllabische Schreibung i-ir!-tum in BM 29663 Nr. 15 gesichert.

5

Vgl. Cohen 2016. Für eine aB Anleitung zur Opferschau siehe Foxvog 1989. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Eine lexikalische Liste (HS 2944) zur Anatomie des Opferschafes

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A.14’ šitqu ist in AHw. mit der Grundbedeutung „Abquetschung, Abtrennung“ gebucht; in demselben Artikel Körperteil erscheint ĝeš-gaba = šitiq irti „Brustbeinfortsatz“. Auch CAD erwähnt šitiq irti “breastbone, sternum” s.v. šitqu A “split, cleft, cut”. Beide Wbb. verzeichnen separat einen Terminus šutqu mit der Bedeutung „ein Teil der Eingeweide?“ (AHw.) bzw. „esophagus(?)“ (CAD). šitqu und šutqu sind sehr wahrscheinlich Lautvarianten desselben Lexems, denn die Nominalformen PiRS und PuRS sind in der Regel komplementär, sie kontrastieren nur sehr selten miteinander6. Diese Annahme wird m. E. durch die Präsenz von šitqu und šutqu in HS 2944 bzw. BM 29663 bestärkt. Cohen 2018: 138 verweist bezüglich šutqu auf George 2013, 144, wo auf die Grundbedeutung “cleft” hingewiesen wird. Gemeint ist wohl kein inneres Organ, sondern eine außen sichtbare „Spalte“. A.15’ Der Eintrag gehört sicherlich zu dem in den Wbb. s. v. naṣpadu „etwa Brustbeinfortsatz?“ (AHw.) bzw. naspadu “floating rib of a sheep” (CAD) verzeichneten Terminus, welcher mit šitiq irti das Logogramm uzuGAG.TI.TUR teilt. Die Schreibung mit -tu4 in HS 2944 reflektiert wohl eine feminine Form naṣpattu. Die Herleitung des Wortes ist unklar, die in AHw. vorgeschlagene Verbindung mit „ṣpd he. Schrumpfen, ar. Festbinden“ zweifelhaft, der Sibilant lässt sich daher nicht sicher bestimmen. A.16’ Der Eintrag ist vielleicht mit mi-is-sí-is-[sú] in KBo 1.51 ii 19’7 zu verbinden; in diesem Falle müsste man an unserer Stelle me- ḫe -sú emendieren. Falls meḫi-Zu tatsächlich als ein Wort zu lesen ist, könnte man dieses mit miḫṣu “as name of a feature of the exta” (CAD s. v. miḫṣu 5.b) verbinden, das in dieser Bedeutung aber anscheinend nur in der Verbindung miḫiṣ pān nakri “defeat of the vanguard of the enemy” belegt ist – eigentlich ein Omen, das auf das dieses anzeigende physische Phänomen übertragen wurde. Es würde sich dann um eine abgekürzte Formulierung meḫis-su „seine Niederlage“ handeln. A.18’ Der Eintrag 1 ḫe-pí -mu besagt, dass das Wort in der Vorlage bis auf das letzte Zeichen MU zerstört (ḫe-pi2) war. Die hier vorgeschlagene Ergänzung mu „Milz“ beruht auf dem Kontext. Das Wort findet sich auch in BM 29663 neben karšu (allerdings in umgekehrter Reihenfolge). A.20’ Das Wort gehört zu dem in AHw s. v. ḫabṣūtu(m) und CAD s. v. ḫabšūtu gebuchten Beleg ḫa-ab-sú-[tù] in KBo 1, 51 ii 188. Die Schreibungen mit -šu- in HS 2944 und BM 29663 Nr. 29 erweisen den Ansatz von CAD als richtig. Etymologisch scheint es sich um ein Verbaladjektiv (m. Pl.) oder Abstraktum zu handeln, entweder zu ḫabāšu(m) I „hart werden, anschwellen“ oder zu ḫabāšu(m) II „zerkleinern“ (beide nach AHw., CAD kennt nur das zweite Verbum). A.27’ mušērittu ist das fem. Partizip des Š-Stamms zu warādu „hinabgehen“, was zur Bedeutung „Speiseröhre“ passt. Hier erscheint das Wort allerdings unter Be6

Vgl. Krebernik 2006: 93–95. Nr. 44 in Y. Cohens Edition (vgl. Anm. 4), wo als Bedeutung fragend “non-digested food” vorgeschlagen wird. 8 Nr. 18 in Y. Cohens Edition (vgl. Anm. 4). 7

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zeichnungen für verschiedene Teile des Darms. Es könnte daher sein, dass mušērittu hier eine entsprechende Bedeutung hat. A.28’ šammaḫḫu ist offenbar die mB (und jüngere) Form von šammāḫu (< sum. šag4-maḫ). A.29’ šuḫḫu bezeichnet primär das „Gesäß“ bzw. einen „Untersatz“; ob damit der „Blinddarm“ gemeint ist (so Starr 1983, 92 mit älterer Lit.), scheint mir nicht sicher. A.31’ Der hier ergänzte Terminus gerginnû ist in AHw. unter den Nachträgen verzeichnet (AHw. III 1556). Dort wird fragend ein „sum. Fw.“ mit der Bedeutung „ein Leberteil“ angenommen. Als Belege werden „RA 65, 74, 77/9 und 81“ angegeben, d. h. drei Eingeweide-Omina in dem von J. Nougayrol (1971) edierten Text AO 7539. Nougayrol merkt dazu an: «il [scil. le terme girginnû] désigne ici un aspect, ou un élément, des intestins dont on peu, comme pour les qerbû, distinguer la tête, le milieu, et la partie grêle (la queue sans doute)»9. Als Bedeutung zieht er «un dérivé du sumérien gìr.gin.na ‘run, sequence, series, continuation’» in Betracht, das sich hier auf die Fortsetzung des Dickdarms zwischen (Spiral-)Kolon und Rektum beziehen könnte. Ihm folgt A. George, der den Terminus in ähnlichem Kontext mit “moving path (= continuous tract?)” wiedergibt.10 A.32’ Die – sehr hypothetische – Ergänzung ist das Femininum zu emṣum „sauer“. Sie setzt voraus, dass dieses im Sinne der maskulinen Form gebraucht wäre, die nach AHw. „in heth.Texten etwa Lab“ bedeutet. A.33’ Das letzte Zeichen ist eher logographisch UDU „Schaf“ als syllabisch -lu zu lesen, denn die Kombination mit vorangehendem ŠID (= šid, lak) ergibt kein sinnvolles Wort. Das vorangehende Zeichen ist daher als KIŠIB = kunukku „Siegel“ im Sinne von „Rückenwirbel“ zu interpretieren11. Der Eintrag entspricht dann ku-nu-uk UDU in BM 29663, Nr. 18. In der Lücke davor stand wohl das gewöhnlich vor KIŠIB stehende – in der vorliegenden Bedeutung freilich unpassende – Determinativ NA4. A.34’ Eine zum Wortende passende Körperteilbezeichnung wäre asqu(m)bītu „Höcker“ (von Rindern/Kamelen), doch passt diese nicht in den Kontext. Vielmehr ist hier [šu]-pé-e-tu4 als Pl. zu šu-up-tum (BM 29663, Nr. 38) zu ergänzen, womit šupa-a-tum in einem aB Extispizienbericht (YOS 10, 8: 21, siehe Goetze 1957, g) zu vergleichen ist12. Die Folge ku-nu-uk-kum – šu-pa-a-tum in YOS 10, 8: 20–21 entspricht der Folge [na4(?)]KIŠIB UDU – [1 šu-]pé-e-tu4 in HS 2944 A.33’–34’. Sollte der Terminus mit der Nebenform šūpātum von šīpātum „Wolle“ identisch sein? Dem Kontext entsprechend müsste dann aber eine Spezialbedeutung vorliegen.

9

Nougayrol 1971: 68. George 2013: = CUSAS 18, Nr. 31, §38 (S. 217 mit Kommentar S. 222‒223). AO 7539 gehört zur selben Gruppe von Texten aus der I. Meerland-Dynastie, siehe George 2013, 129‒ 142. Den Hinweis verdanke ich E. Jiménez. 11 Ich verdanke den Hinweis Y. Cohen. 12 Ich verdanke den Hinweis Y. Cohen. 10

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B.1’ Dasselbe Lemma (falls richtig ergänzt) wie in A.3’. B.2’ Unmittelbar vor dem Beginn der Zeile steht in etwas kleinerer Schrift ein textkritischer Vermerk in Gestalt des Zeichens NU. Ähnliche Markierungen in Form von NU und/oder KÚR sind auch anderswo bezeugt, ihre Funktion bedarf noch genauerer Untersuchung13. Möglicherweise bedeutet NU hier, dass diese Zeile in der bzw. einer Vorlage nicht vorhanden war. Eine mit lu-... anlautende Bezeichnung für einen Knochen kann ich nicht belegen. Das Zeichen ist daher vielleicht als UDU „Schaf“ zu interpretieren, die Markierung könnte dann bedeuten, dass die Zeile mit der vorigen zusammengehört bzw. dass beide in der Vorlage eine Einheit bildeten: 1 k[ursinni] (oder k[ursinni]āt) UDU „Knöchel des Schafes“ (tentativer Vorschlag Y. Cohens). Dagegen spricht allerdings das „Merkzeichen“ 1 vor UDU. B.3’ Dasselbe Lemma wie in A.6’. B.4’ kislu, in AHw mit „Lende(nmuskel)“ wiedergeben, bezeichnet mit CAD die Querfortsätze der Wirbelsäule14. Dies wird auch durch das Subskript bestätigt, das die Lemmata von B unter dem Oberbegriff „Knochen“ zusammenfasst (C.2, siehe unten). Auf B folgt nach einer Trennlinie Textteil „C“, der anscheinend ein Subskript zu der vorangehenden Liste A + B darstellt: –––––––––––––––––––– C.1

ŠU.NÍGIN 12 (Tilgung?) MU.MEŠ

C.2 C.3

ša GIR3.PAD.DU –––––––––––––––––––– ŠU.NÍGIN+NÍGIN 1 šu-ši ḫe-pí MU.MEŠ

C.4

NU

–––––––––––––––––––– ša zu-um-ri GAL [(x)]

Summe: 12 (Tilgung?) Namen von Knochen.

Gesamtsumme: Sechzig abgebrochen Namen. Gehörig zur großen (Serie ?) Körper.

Die variierenden Schreibungen des Logogramms für „Summe“ scheinen intendiert zu sein, weshalb die ausführlichere Variante ŠU.NÍGIN+NÍGIN hier als „Gesamtsumme“ wiedergegeben ist. Ob hinter ŠU.NÍGIN und ŠU.NÍGIN+NÍGIN zwei 13 Die Sekundärliteratur dazu – meist nur kurze Notizen – sei hier in chronologischer Folge zusammengestellt: Civil 1979: 6‒7. – Lambert 1982: 216. – van Dijk 1989: 443. – Farber 1989: 22 fn. 21. – Maul 1994: 440 mit Fn. 13. – Geller 2000: 254 ad 41. – Biggs 2002: 72. – George 2003: 867 ad 172. – Lambert 2003‒2005: 24b. – Abusch / Schwemer 2009: 108 ad iii 10’. – Schwemer 2010: 75 ad 9′; 76. – Borger 2010: 264. – Frahm 2011: 182 mit Fn. 843. – Schwemer 2015: 225‒226. – George 2016: 167‒168 mit pl. CXLVI (no. 74: 10). – Stadhouders 2018: 566. Die meisten Titel verdanke ich E. Jiménez. 14 Verwandte Lexeme in anderen sem. Sprachen weisen eine große Bedeutungsbreite auf, siehe Militarev / Kogan 2000: No. 153 (S. 138).

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verschiedene akkadische Termini stecken, und ggf. welche, ist mir unklar. Zwischen „12“ und „MU“ ist die Oberfläche beschädigt, möglicherweise handelt es sich um eine Tilgung. Zwischen šu-ši „sechzig“ und MU.MEŠ „Namen“ steht der textkritische Vermerk ḫepi „abgebrochen“, der auch in Teil D vorkommt. Er weist darauf hin, dass HS 2944 die Abschrift (mindestens) einer Vorlage darstellt, die an den betreffenden Stellen nicht (ausreichend) erhalten war. Dem Kontext nach kann an der vorliegenden Stelle kaum etwas anderes als eine Zahl gestanden haben, so dass die Gesamtsumme als 60 + x anzusetzen wäre. Unter ḫe-pí sind allerdings Zeichenspuren zu sehen, die kaum zu einem Zahlzeichen passen15. Falls dem Kopisten die Liste vollständig vorlag, hätte er die Summe natürlich ergänzen können. Ob dies Fall war und er die Ergänzung aus Gewissenhaftigkeit nicht vornahm, oder ob seine Vorlage unvollständig war, lässt sich nicht entscheiden. Da auf die kleinere Summe von „12 Knochennamen“ unmittelbar eine größere „Gesamtsumme“(?) folgt, ist erstere als Teilmenge der letzteren aufzufassen. Allerdings wiederholen sich in B zwei Termini aus A, zumindest einer davon in anderer Graphie: A.3’: [1 ku-u]r-si-in-n[u] A.6’: [1 k]i-ṣí-il-lu

= =

B.1’: 1 ku-[ur-si-(in-)nu (?)] B.3’: 1 ˹ki˺-ṣ[i]-lu

Dies könnte dafür sprechen, dass wir es mit einer Kompilation aus verschiedenen Vorlagen zu tun haben. Möglicherweise gab es auch in den nicht erhaltenen Teilen der Liste Rubriken dieser Art. Zeile C.4 ist durch eine Trennlinie abgesetzt. Vor dem Beginn der Zeile steht wieder ein textkritischer Vermerk in Gestalt des Zeichens NU (vgl. oben zu B.2); die Zeile war also vielleicht in einer Vorlage nicht vorhanden. Die Trennlinie und wohl auch der textkritische Vermerk lassen darauf schließen, dass ša zu-um-ri GAL keine genitivische Fortsetzung von MU.MEŠ in C.3 ist; auch inhaltlich ergäbe der resultierende Ausdruck „60 (+ x) Namen des großen Körpers“ keinen Sinn. C.4 ist daher vielleicht in dem Sinne zu verstehen, dass die vorangehende Liste zu einem lexikalischen Werk namens „große (Liste) ‚Körper‘“ gehört (das ich allerdings sonst nicht nachweisen kann). D, E, F Auf der rechten Tafelhälfte der Rückseite lassen sich zwei beschriftete Bereiche unterscheiden, in denen die Schrift rechtwinklig zu den Abschnitten A, B und C orientiert ist. Links befindet sich eine freie Fläche, in deren Mitte nur eine Schriftzeile (Abschnitt D) steht, die auf dem unteren – beziehungsweise in der neuen Orientierung linken – Rand einsetzt:

15

Dass ḫepi über einer Tilgung stehen kann, hat bereits Civil 1979: 331, ad r 2’ beobachtet. Für den Hinweis danke ich E. Jiménez, der sich vorstellt, wie “the scribe tried to copy a scarcely legible original but, feeling that he could not reproduce it, decided to erase what he wrote and simply note ‘break’”. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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šá ŠU ḫe-pí dIŠKUR

D.1

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Von der Hand des abgebrochen ...-Adad (PN).

Anstelle von šá ŠU könnte man auch die Lesung NÍG.ŠU „Besitz (von)“ in Erwägung ziehen. Beides würde zu dem folgenden Ausdruck passen, denn ḫe-pí d IŠKUR ist offenbar ein unvollständiger Personenname, von dem der Schreiber in der Vorlage nur mehr den zweiten Bestandteil, „Adad“, vorfand. Auf der Rückseite der Tafel, rechts von D, befindet sich eine Kolumne, die durch eine Linie von D abgegrenzt ist. Die Kolumne ist durch eine Trennlinie in zwei Abschnitte unterteilt, die hier als „E“ und „F“ bezeichnet sind. Sie bestehen aus 3 bzw. 2 Zeilen, deren rechte Enden abgebrochen sind. Wie das Fehlen des „Merkzeichens“ zeigt, sind E und F nicht lexikalischen Inhalts. E.1 E.2 E.3 F.1 F.2

NU NU

AN [...] ša AN[...] Bu-na-aḫ-ḫ[a ...] –––––––––––––––––––– MU A.A : š[u?-mu abim (?)] MU AŠ/DIŠ [...]

Was Abschnitt E betrifft, so sind nur von Z. 3 genügend Zeichen erhalten, die einen Hinweis auf den Inhalt geben könnten: Die Zeichenfolge Bu-na-aḫ-ḫa(-) lässt sich keinem bekannten akkadischen Wort zuordnen und ist daher entweder der Beginn eines Fremdwortes oder wohl eher eines Eigennamens. Zum Vergleich könnte man einerseits auf hurr. ˹bu?-na?-ḫi??-ia˺16 verweisen, andererseits auf mit bunna/i- „Güte“ gebildete Personennamen wie Bunna-Gula17. Die Zeilen 2 und 3 sind durch das bereits auf der Vs. begegnende textkritische Zeichen NU markiert, das hier wie dort auf das Fehlen der markierten Zeilen in der Vorlage hinweisen könnte. Abschnitt F besteht aus zwei mit demselben Zeichen MU beginnenden Einträgen. Im ersten scheint auf MU.A.A ein Interpunktionszeichen in Gestalt von GAM zu folgen, das hier als „:“ wiedergegeben ist. Falls das Zeichen hier eine folgende Glosse markiert, könnte danach eine syllabischen Wiedergabe von MU A.A ergänzt werden: š[u-mu abim] „Name des Vaters“. In folgenden Zeile ist der auf MU folgende Keil zweideutig: Er kann als kurzes AŠ oder als breites DIŠ interpretiert werden. In letzterem Falle könnten man auch „60“ lesen und hätte damit eine Entsprechung zu šu-ši „60“ in C.3. Das Verhältnis von D zu E+F ist, wie schon erwähnt, unsicher, auch die umgekehrte Reihenfolge E, F, D ist denkbar; die Lückenhaftigkeit von E und F erschwert die Analyse. Zwischen der lexikalischen Liste A+B mit Subskript C und den 16

In einer dreisprachigen Version der Liste Sa aus Ugarit (RS 94.2939 Rs. i 20’) als Entsprechung von AK = na-bu belegt, siehe André-Salvini / Salvini 1998: 7. Das erste Zeichen sieht auf dem Foto allerdings eher wie TIM aus. 17 Verschiedene Namen dieser Art mit Belegen findet man bei Hölscher 1996: 54‒55; sie sind dort mit „Dank (Gula etc.)“ wiedergegeben. In unserem Fall könnte das zweite Glied aḫḫē „Brüder“ gelautet haben, doch kann ich *Bunna-aḫḫē sonst nicht belegen. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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rechtwinklig dazu positionierten Abschnitten D, E, F sind keine klaren Bezüge sichtbar. Mit aller gebotenen Zurückhaltung möchte ich mit der Hypothese schließen, dass auch die Abschnitte E und F Paratexte darstellen bzw. wiedergeben, wie dies mit Sicherheit auf D zutrifft (Name eines Schreibers). Anhang: Index zur lexikalischen Liste (Abschitte A und B) abunnatu bāmātu emištu (?) errū gerginnû ḫabšūtu illabbuḫḫu irtu isru kalīt burki kam(a)kissu karšu kaskassu kinṣu (< kimṣu) kislu kiṣillu kiṣillu [na4?]KIŠIB UDU kukkudru kunuk immeri kursinnu kursinnu lu-[...] miḫṣu (?) mississu (?) mušērittu napšāru naṣpattu qerbū qinnatu riqītu sarq/katu surummu šammaḫḫu ŠÀ.NÍGIN šitqu šuḫḫu šupētu

A.10’ A.11’ A.32’ s. ŠÀ.NÍGIN A.31’ A.20’ A.35’ A.12’ A.04’ A.08’f. A.07’ A.17’ A.13’ A.05’ B.4’ A.06’ B.3’ A.33’ A.22’ s. [na4?]KIŠIB UDU A.03’ B.1’ B.2’ A.16’ A.16’ A.27’ A.19’ A.15’ A.24’ A.01’ A.21’ A.23’ A.30’ A.28’ A.25’ A.14’ A.29’ A.34’

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tīrānū ṭulīmu uppu zibbatu [x-x-]˹ši?˺-nu

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s. ŠÀ.NÍGIN A.18’ A.26’ A.02’ A.36’

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Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel Zu einer Archäologie des Schriftbildes1 Joachim Marzahn / Berlin Über Schrift allgemein, Keilschrift zumal, und die ihr eigenen vor allem materiellen Grundlagen und Traditionen sowie Schreib- und Herstellungstechniken, ist in der Altorientalistik bereits vieles untersucht und beschrieben worden.2 Kaum beachtet wurde dabei ein wichtiger Bestandteil des Schriftsatzes einer Keilschrifttafel: die Linien.3 Gemeint sind damit all jene den Text gliedernden langgezogenen Markierungen, die vor allem auf den Tontafeln älterer Perioden zu finden sind; zuweilen auch Striche genannt (engl.: ruling, franz.: trait, russ.: линия), nicht zu verwechseln mit „Zeile“ (des Textes).4 Sie gehören gewissermaßen wie selbstverständlich zum Text, begleiten und ordnen diesen, wenn sie vorhanden sind, und selbst wenn auf sie verzichtet wird, scheinen sich immer noch – gewissermaßen gedanklich untergelegt – das Schriftbild einer Keilschrifttafel mitzubestimmen. Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass ein Keilschriftschreiber, der Linien anwendete indem er sie zog, diesen neben oder besser während des Schreibens eines Textes auch einige Aufmerksamkeit und zuweilen großes Geschick widmen und ihnen auch die notwendige Zeit zuwenden musste. So wie das Formen der Tafel – welches auch durch eine andere Person geschehen konnte – gehören also die Linien untrennbar zum Schriftträger und somit zu Schriftbild sowie zum unmittelbaren Prozess des Schreibens. Linien auf Keilschrifttafeln zu sehen und zu untersuchen ist meist einfach, jedoch nicht immer, wie noch zu zeigen sein wird. Erforderlich dazu ist eine gewisse Hinwendung auf das archäologische „Objekt Tontafel“ an sich (Artefact nach Taylor), weniger die auf das Lesen von Text. Eine Untersuchung der Linien auf den Tafeln gleicht insofern ein klein wenig archäologischer Entdeckungsarbeit (vgl. Anm. 1), deren Ergebnisse ich hier auswahlweise meinem lieben Freund und 1 Der Untertitel ist angelehnt an die Arbeit von Kurt Jaritz (Jaritz 1967). Die „Archäologie“ bezieht sich hier jedoch ausschließlich auf physische Merkmale von Keilschrifttafeln, nicht auf die Inhalte der auf ihnen geschriebenen Texte. Die hier gegebenen Beispiele sind rein nach dem Wert der Sichtbarkeit ausgewählt und dienen als Illustrationen zu beschriebenen Beobachtungen. Aus Raumgründen kann dieser Beitrag nur ein kurzer Anriss eines an sich weit umfassenderen Themas sein. Für die Neuaufnahmen der hier besprochenen Tontafeln danke ich dem Fotografen des Vorderasiatischen Museums, Olaf M. Teßmer, herzlich. 2 Genannt seien hier nur auswahlweise die wichtigen Untersuchungen von Taylor 2011 und Taylor / Cartwright 2011, worin eine Fülle von weiterführender Literatur zu finden ist. 3 Vgl. hierzu etwa Walker 2014‒2016. In diesem Lexikonbeitrag, der diesem Schriftträger in seiner gesamten Erscheinungs- und Ausführungsform gewidmet ist, erscheint der Begriff der Linie (“ruling[s]”) nur einmal, obwohl die Linie optisch als ein das Schriftbild mit bestimmender Teil jeder Tafel ins Auge fällt, soweit sie solche hat. Lexikonbeiträge freilich leben auch von Kürze und präziser Dichte ihrer Informationen. 4 Vgl. zur Linie auch Taylor 2011: 15.

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Kollegen Lutz Martin, mit dem ich Zeit unserer gemeinsamen Arbeit am Vorderasiatischen Museum immer „auf einer Linie“ war, widmen möchte.5 Von Beginn der Schrifttradition in Mesopotamien an existierte offenbar eine Notwendigkeit, Sachverhalte, die mittels materieller Notations- und Informationssysteme raum- und zeitübergreifend dauerhaft gemacht werden sollten, in bestimmter Weise kodiert zu ordnen. Dies erleichterte die Rezipierung der Aufzeichnungen durch den Nutzer, sei es für den deren Hersteller selbst oder für eine andere Person. Dazu gehörte zunächst nicht die Schreibung von sprachgebundenen Einheiten entsprechend dem Fluss der menschlichen Rede,6 sehr wohl aber die Unterscheidung und Zuordnung von Inhalten zueinander der besseren Übersicht wegen. Hierbei hat die jeweils konkrete Buchungs- und Verwaltungspraxis sicher eine wichtige Rolle gespielt, auch wenn sie uns heute nicht mehr ohne Weiteres bzw. in vollem Umfang zugänglich ist. Solche Ordnungsprinzipien und Buchungsregeln konnten zunächst einerseits durch die Verwendung von gesonderten Zahlzeichensystemen erfolgen, denen Wertund Bedeutungsinhalte beigefügt waren, womit ein Grundprinzip optischer Gestaltung, das in der Keilschrift Jahrtausende lang gültig bleiben sollte, seinen Eingang vor allem in das verbreitetste Genre des Schriftguts fand: die Verwaltungsurkunde. Mengen und Sachverhalte gingen eine Einheit ein. Darüber hinaus aber nutzte man noch die Möglichkeit zusätzlicher grafischer Gestaltung der Schriftträger mithilfe der den Informationsinhalten beigeordneten grafischen Trennungshilfen: der Zeilenlinien bzw. – im Fall umfangreicherer Texte – der Kolumnenlinien. Modern gesprochen: die „Blattaufteilung“.7 1. Ursprung der Linie Selbige findet man bereits sehr früh auf den sogenannten archaischen Zahlentafeln, wofür die Tafel VAT 15337 ein gutes Beispiel ist (Abb. 1).

5 Die erforderlichen physischen Daten zu den Beispielen sind in den Bildunterschriften enthalten. Maße in cm; Höhe vor Breite vor Tafelstärke. Höhe meint stets langrechteckige Form oder “format with portrait orientation” (vgl. unten mit Anm. 17). 6 Vgl. Englund 2009: 8 und 9 (§ 2.5) und Damerow 2012: 153, 158 und 161. 7 Der Begriff „Blattaufteilung“, an sich unpassend für eine dreidimensionale Keilschrifttafel, wird im Folgenden der besseren Verständlichkeit halber für uns gegenwärtige Betrachter öfter genutzt.

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Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel

Abb. 1

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Zahlentafel (VAT 15337), Vorderseite, Maße 6,9 x 5,0 x 2,3, Uruk V?; ATU 5, 30, pl. 4. Rechts: zeichnerische Wiedergabe nach https://cdli.ucla.edu/dl/lineart/P000753_l zur besseren Erkennbarkeit.

Neben einer kreisrunden Ziffer stehen zwei Reihen einzelner Zahleindrücke, die voneinander durch gezogene Linien getrennt sind. Eine davon zieht sich über die gesamte Länge des Eintrags, die andere dagegen geht rechtwinklig davon ab und unterteilt zusätzlich eine zweite Zahlenreihe (beide etwas beschädigt). Das Werkzeug, mit dem die Zeilenlinien gezogen wurden, war dasselbe, mit dem auch die Zahlen geschrieben worden waren.8 Bei Tafeln mit weit komplexeren Einträgen jedoch, wo sich die Zahlzeichen in ihrer Größe unterscheiden mussten, war eine einfache Anwendung ein und desselben Griffels nicht mehr gegeben. Dies schloss zwar eine Linienziehung mit der runden Griffelseite nicht aus,9 aber sie war ebenso gut möglich mit der scharf geschnittenen Schreibkante des Werkzeugs, mit der man auch die sehr feinen Elemente der Schriftzeichen schrieb.10 Diese Kante wurde dann zugleich für das Ziehen der Trenn- bzw. Zeilenlinien gebraucht, so dass diese grundsätzlich in Breite und Tiefe den Schriftelementen sehr ähnlich sind (Abb. 2).

8

Siehe Marzahn 2018. Ob nun für Zahlen und Zeichen derselbe Griffel in Anwendung kam, hing letztlich von dessen Gestaltung ab. Vorstellbar ist zwar ein Griffel, dessen zwei Enden entsprechend unterschiedlich gestaltet waren. Ein Ende davon wäre scharfkantig zu denken für Schrift. Dieses konnte dann auch zur Linienziehung dienen, indem man den Griffel sehr flach über die Tafel zog. Das andere Ende wäre entsprechend gerundet zu denken und diente zur Schreibung der Zahlen. Da leider kein Rohrgriffel überdauert hat, bleibt dies zwar eine logische, aber nicht beweisbare Annahme. Im Fall von VAT 15006 steht aufgrund der unterschiedlich zu rekonstruierenden Durchmesser der Zahlzeichen zu vermuten, dass zumindest für die großen unter ihnen ein weiterer Griffel erforderlich war. 10 Man beachte: auch Zahlzeichen sind Schriftzeichen. 9

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Abb. 2

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Verwaltungsurkunde (VAT 15006), Vorderseite, 7,2 x 5,0 x 3,8, Uruk IV; ATU 5, 38, pl. 35.

2. Linientreue Wie die vorangegangenen Beispiele zeigen, bediente man sich bei der Blattaufteilung nach Notwendigkeit der Informationsinhalte bereits seit der frühesten Phase der Schrift. So eingeführt, blieb diese Technik in allen nachfolgenden Perioden der Keilschriftgeschichte erhalten, wenn auch sehr verschieden in der Häufigkeit und Art der Anwendung. Können anfangs in der frühdynastischen Zeit geometrisch anspruchsvolle Textlayouts das Aussehen einer Tontafel dominieren, so verwendete man seit den Perioden Akkad und Ur III zunehmend einfachere Gestaltungsformen. Ein anschauliches Beispiel für Ersteres ist die Tafel VAT 4617 aus Girsu, auf welcher der Text sauber in Zeilen und Kolumnen geschrieben ist (Abb. 3).

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Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel

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Frühdynastische Zeit

Abb. 3

Liste über Opfergaben (VAT 4617), Vorderseite, 11,0 x 11,0 x 2,7, Frühdynastisch IIIb; Förtsch 1916: Nr. 5; Bauer 1972: Nr. 153.

Vor allem bilden hier die Kolumnen das optisch bestimmende Grundmuster für die Aufteilung der Tafel, somit für die Gesamtkomposition der Blattaufteilung. Sie formen die vorgegebene Schriftfläche in einfacher Regelmäßigkeit des Layouts, das sich nicht selten sogar dort findet, wo kein weiterer Text die Schreibfläche füllt: auf den Rückseiten mit Kolumnenlinien ohne Inhalt. Dies weist darauf hin, dass generell die Kolumnenlinien das Layout bestimmten, was bedeutet, dass die Schreiber eine sehr genau Vorstellung davon hatten, wie viele solcher Anordnungen im Verhältnis zur vorgesehenen Größe der Tafel für den geplanten Text benötigt wurden – sicher ein Frage der großen Berufserfahrung. Wenn auch das Gesamtlayout dementsprechend vorausgeplant wurde, so erfolgte die reale Beschriftung durch Textzeilen in den Kolumnen allgemein erst nacheinander mit fortlaufendem Schriftgang, wie man an den Zeilenlinien sehen kann. Sie wurden in der Regel Zeile für Zeile nach dem Schrifteintrag gezogen und enden © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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nicht selten noch in der benachbarten Kolumne und tauchen noch als spitze Ausläufer auf (wenn sie nicht durch den dortigen Text überschrieben wurden). Da die Kolumnenlinien im Gegensatz zu den leichter zu fertigenden Zeilenlinien stets länger sind (bei größeren Tafeln z. T. erheblich), ist gelegentlich beobachten, dass der Schreiber sie nicht in einem Zug anfertigte, sondern mindestens ein weiteres Mal angesetzt hat, um sie fertig zu ziehen. Der laufende Text selbst ordnet sich in den Kolumnen nach der Zeichenzahl der jeweiligen Informationseinheit, wobei auffällt, dass einige Zeilen nicht mit der Zeichenabfolge in ihnen kongruent sind, d. h. nicht immer sind die Schriftzeichen rein linear in eine Zeile gesetzt. So in VAT 04617 Kol. I 3, 8, 11; Kol. II 1, 2, 37 und öfter auf der gesamten Tafel. Die Zeilengrößen bzw. -höhen folgen hier also der Menge des jeweils einzuschreibenden Textes und sind somit nicht in jedem Fall monolinear im eigentlichen Sinne, entsprechen also nicht einer möglichen Anordnung „eine Zeile mit Zeichen in einer Reihe“. Die einzelnen Zeilen erscheinen grafisch so eher als eine Art „Kästchen“ und sind auch in der Assyriologie demgemäß bezeichnet zu finden.11 Da die Kästchenbreite durch die Kolumnenbreite vorgegeben ist, aber nicht immer mit Schriftzeichen in einer Reihe voll ausgefüllt werden kann, erfolgt bei der Beschriftung eine bemerkenswerte stilistische Anordnung in ihnen. Zahlen werden stets links geschrieben,12 ihnen folgen die Schriftzeichen entweder die Zeile ausfüllend, oder diese mit einem sichtbaren Abstand rechts beschließend bzw. in eine zweite (und auch eine weitere) Reihe gesetzt, so dass der Eindruck eines „Blocksatzes“ bzw. einer Rechtsbündigkeit entsteht. Bemerkenswert ist, dass die Kolumnen- und die Zeilenlinien als optisches Gerüst der Tafel beim frühen Textmaterial des 3. Jahrtausends in der Regel unberührt bleiben. Beim Schreiben der Zeileninhalte (Zahlen und Text) wird allgemein ein geringer Abstand zu den Linien gewahrt, indem ein Zeichen erst unter der vorherigen Zeilenlinie angesetzt wird (nicht in diese hinein) und auch die folgende Zeilenlinie wird mit einem geringen Abstand zum darüber stehenden Zeichen gezogen. Freilich kommt es im Schreibprozess vor, dass Teile von Zeichen (einzelne Keile) eine Zeilenlinie überdecken – besser gesagt: über sie hinweg geschrieben sind, bzw. die Linie durch ein Verdrücken des Materials beeinträchtigen. Vor allem senkrechte Keile am Schluss einer Zeile decken sich auch oft mit der dann unter ihnen verlaufenden Kolumnenlinie. In wenigen Fällen kommt es allerdings vor, dass sogar eine im Schreibprozess „beschädigte“ Kolumnenlinie nachgezogen, also „repariert“ wird, wie auch ganz selten Zeilenlinien leicht nachgezogen werden. Wie schon im Beispiel der archaischen Tafel VAT 15337 (Abb. 1) gilt auch hier grundsätzlich, dass sowohl Schriftzeichen als auch Linien sicher mit ein und demselben Werkzeug, dem Griffel, gefertigt wurden. Einerseits zeigt sich dies deutlich an den Zeilenlinien, deren Ansatz sich zwar meist noch innerhalb einer Kolumnenlinie befindet, jedoch manchmal auch dicht daneben wie hier zwischen Kol. III 6‒7 (Abb. 4). 11

Vgl. hierzu schon die archaischen Texte. Ausreichend Beispiele etwa in: Nissen et al. 1990. Eine Ausnahme hiervon bilden die Texte aus Beydar: Siehe hierzu u. a. Milano et al. 2004, aber auch Krebernik et al. 2005/2006. 12

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Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel

Abb. 4

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Detail (VAT 4617) III 6‒7.

Diese Linie ist eindeutig ein sehr flacher langgestreckter Keil mit demselben Öffnungswinkel wie die Einzelkeile der Zeichen.13 Doch nicht nur diese Keilform an sich ist schon ein Hinweis auf die Verwendung desselben Griffels, sondern es lassen sich gelegentlich auch Spuren von Kapillaren des Griffelmaterials nachweisen, die charakteristisch sind für die Zeichenelemente der Schrift.14 Solche sind auch zum Teil in den Zeilenlinien erhalten geblieben. Beispiele dafür enthält die Tafel VAT 04649 (Abb. 5.1; 5.2).

Abb. 5.1

Urkunde über Gemüseboden (VAT 4649) Rückseite, 5,8 x 5,8 x 2,4, Frühdynastisch IIIb; Förtsch 1916: Nr. 189; Bauer 1972: Nr. 72.

13

Vgl. Taylor 2011: 15. Vgl. hierzu Marzahn 2013. Der Grundsatz „Kapillaren links, glatte Seite rechts“ bei Griffeleindrücken gilt freilich nur bei den Tafeln, die mit Schilfrohrgriffeln geschrieben wurden, was nicht überall im Gebrauchsbereich der Keilschrift der Fall war. 14

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Abb. 5.2

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Detail (VAT 4649) Bildbeispiel: Am Beginn der Zeilenlinie zwischen Rs. III, 2‒3 enthält die untere Linienfläche (= linke Schreibfläche des Griffels) Reste von Kapillarspuren des verwendeten Griffels; deutlich am Beginn der Linie und oberhalb des Zeichens DUMU.

Kolumnenlinien erscheinen im Gegensatz zu den Zeilenlinien meist als lange gerade Striche ohne einen keilförmigen Ansatz am Anfang, was daran liegt, dass sie an der äußeren gewölbten Kante der Tafel beginnen – wie auch die Zeilenlinien in der jeweils ersten Kolumne aus demselben Grund kaum einmal eine Keilform aufweisen. An diesen Stellen wird der Griffel nicht tiefer eingedrückt. Spuren wie in den Zeilenlinien zeigen sich in den Kolumnenlinien zudem weitaus seltener, sind sie doch weit langgezogener, was die Kapillarspuren normalerweise verwischt. Sie werden allerdings keineswegs immer „in einem Strich“ über die Tafel angelegt, sondern häufiger mehrfach angesetzt und verlängert, weil die Tafelrückseite in der Regel stärker gewölbt ist als die Vorderseite. Dies macht häufiger einen Neuansatz (neue Fortsetzung) einer Kolumnenlinie erforderlich. Diese Neuansätze enthalten zuweilen die erwähnten Spuren. So z. B. in VAT 04649, wo auf der Rückseite nahe Zeile III 4, ein Linienansatz sichtbar wird, aber auch am Linienansatz vor Zeile III 1, also am Beginn der gesamten Kolumnenlinie. Beide haben geringe Reste von Kapillarspuren (Abb. 6). Ein weiteres Beispiel hierfür liefert die Tafel VAT 4625 mit mehreren Fortsetzungen von Kolumnenlinien, in denen Zugspuren des Griffels noch die Kapillarabdrücke erkennen lassen (Abb. 7.1 und 7.2).

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Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel

Abb. 6

Abb. 7.1

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Detail (VAT 4649), Rückseite: deutliche Spuren der Kapillarlinien des Griffels in der Kolumnenlinie links (zur Aufsicht gedreht).

Urkunde über Versorgungsfelder (VAT 4625), Rückseite, 15,5 x 15,7 x 3,3, Frühdynastisch IIIb; Marzahn 1991: Nr. 70. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 7.2

Joachim Marzahn

Detail (VAT 4625), Rückseite: Nahaufnahme des unteren Teils der Kolumnenlinie zwischen den Kolumnen 9 und 10 mit Kapillarspuren des Griffels.

Beide Arten von Griffelspuren zeigen an, dass der Schreiber bequemerweise die Handhaltung mit dem Schreibwerkzeug nicht zu ändern brauchte, wenn er eine längere Linie zog, bevor er Text auf die Tafel setzte und auch nicht während er vom Schreiben der Keilschriftzeichen zur Linienziehung wechselte. Vor allem bei der Herstellung der längeren Kolumnenlinien war des Öfteren ein Hin- und Herwechseln zwischen Zeichen und Linien unumgänglich. Da nun diese Schreib- und Zeichentechnik (die Linien sind über die Tafeloberfläche gezogen, also gleichsam gezeichnet) sich nicht nur im Textmaterial aus Girsu nachweisen lässt, sondern auch auf Tafeln aus anderen Perioden des 3. Jahrtausends,15 handelt es sich offensichtlich um die herkömmliche verbreitete und voraussetzbare Methode der Griffelführung bei der Anlage von Tafellayout und Text. Lediglich in jüngeren Perioden nach 2000 v. u. Z., wo die Zeilenlinien deutlich schwächer und flacher ausgeführt sind, fällt ein Nachweis solcher Art schwer. Man darf jedoch voraussetzen, dass sich die Schreib- und Zeichentechnik nicht grundlegend änderte, zumal sie ergonomisch zur Vereinfachung der Schreibtechnologie beiträgt. Der Grund für die an dem Beispiel VAT 04617 ausführlicher beschriebene Sorgfalt des Gestaltungsbildes einer Keilschrifttafel beim Gesamtlayout und der Schriftaufteilung in ihm liegt offenbar in dem Willen, die Zeichen möglichst deutlich erkennbar vom Hilfsmittel der Zeilenlinien getrennt zu halten – und dies, obwohl es sich in der Masse des Schriftgutes doch „nur“ um Verwaltungsdokumente handelt. 15 Aus Raumgründen können hier leider keine weiteren Beispiele dazu abgebildet werden. Es sei auf Bildbeispiele unter https://cdli.ucla.edu/search/ verwiesen.

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Dies führt dazu, dass sogar Texte, die aus weit weniger als zehn Zeilen bestehen, auch mehrkolumnig angelegt sind, auch wenn sie nur eine Tafelseite nutzen.16 Dieses Grundmuster aus sorgfältigen Kolumnen und Kästchen gilt weitgehend allgemein für die frühdynastische Zeit. Vergleichbares stammt auch aus anderen Orten als aus Girsu, etwa auch aus Adab, Kisch und Nippur. Dass es daneben auch Tafeln gibt, die „einkolumnig“ angelegt sind mit „echten“ Einzelzeilen, bestätigt als Ausnahme die Regel. Meist sind sie klein, mit wenig Text. Die generelle Nutzung eines Layouts von kästchenartigen Zeilen in Kolumnen auf der Keilschrifttafel wird erst allmählich, am Ende der frühdynastischen Zeit beginnend, zugunsten monolinearer Zeilen verändert, sofern es sich nicht um größere, aufgrund umfangreicheren Texts ohnehin mehrkolumnig gestaltete Tafeln handelt. Ebenso verändert sich langsam die bis dahin bevorzugte quadratähnliche äußere Tafelform mit „abgerundeten Ecken“ und mehr oder weniger ausgeprägt konvexen Kanten in eine langrechteckige Form oder “format with portrait or landscape orientation”.17 Größere Formate mit nun strenger geradkantiger Form werden bis in die Ur III-Zeit und darüber hinaus weiterverwendet.18 UR III-Zeit Im Umfeld der Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend setzt sich immer weiter, insbesondere im verbreitetsten Schriftgut der Verwaltungs- und Rechtstexte sowie der Briefliteratur, die eher langrechteckige Tafelform durch (höher als breiter), die begleitet ist von der nun vorwiegend monolinearen Zeile im Layout (mit Ausnahmen mehrkolumniger Art). Die Schreiber hatten es nun etwas einfacher bei der Gestaltung, mussten sie doch nun, die Zeilenlinien nur von einer Kante der Tafel bis zur anderen ziehen. Dabei reduziert sich der Ansatz der Linienbreite links nach wie vor auf eine Linie ohne Keilansatz aus o.g. Gründen. Bei mehrkolumnigen Tafeln bleibt jedoch der Keilansatz der Linie – wenn auch nicht durchgängig sichtbar – weiterhin erhalten, nicht nur in Ur III, sondern auch weit darüber hinaus.19 Die Zeilen werden in der Regel rechtwinklig zum linken Tafelrand bzw. zu beiden Tafelrändern positioniert wie bei dem listenartigen Verwaltungstext VAT 02219 über Lohnzahlungen an Arbeiter durch „Tempel-Beamte“ (ugula) (Abb. 8).

16

Siehe etwa VAT 04622, als Abbildung zu finden unter: https://cdli.ucla.edu/search/ mit der CDLI number P020031 [Zugriff am 20.7.2019]. Die Tafel hat nur fünf Zeilen, aber in zwei Kolumnen. 17 Taylor 2011: 14; Walker 2014‒2016: 102. 18 Gänzlich abweichende Formen, wie etwa runde Tafeln, führen gleichfalls die ältere „Blattgestaltung“ noch fort. Vgl. etwa Pettinato 1969: Tf. I‒X.s. 19 Vgl. zwei Beispiele: VAT 02202 (Ur III, zu finden unter https://cdli.ucla.edu/search/ mit der CDLI number P135576) und VAT 10172 (mittelassyrisch, https://cdli.ucla.edu/search/ mit der CDLI number P282497) [Zugriff am 20.7.2019]. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 8

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Lohnzahlungen an Arbeiter (VAT 02219), Vorderseite, 8,9 x 4,8 x 3,0, Ur III-Zeit; Reisner 1901: Nr. 15.20

Nicht selten aber neigten die Schreiber dazu, die Linien von der linken Tafelkante ausgehend ein wenig nach rechts oben verlaufen zu lassen. Es kommt so zu schräg ausgerichteten Zeilen (Abb. 4, ab Zeile 9), die als ein Charakteristikum der Keilschrifturkunden des beginnenden und weiteren 2. Jahrtausends gelten können.

20 Laut dortigem Katalog: „Liste der von 9 Beamten (ugula) aus 5 Tempeln an die Miethsclaven auf der Wiese von Girsu gezahlten Löhne“.

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Altassyrische Zeit Ein prägnanteres Beispiel hierfür ist die altassyrische Tafel VAT 09301 (Abb. 9).21

Abb. 9

Brief des Uzua an Imdilum (VAT 09301), Vorderseite, 6,7 x 11,1 x 2,9, Altassyrisch; Veenhof / Klengel-Brandt 1992: Nr. 71.

Nicht nur ist bei VAT 09301 die schräge Zeilenführung gut zu sehen, sondern auch eine endgültige Abkehr von der oben beschriebenen Sorgfalt bei der Schreibung der Zeichen innerhalb der Zeilen, die bereits in altakkadischer Zeit einsetzt. Der geringfügige Abstand von Schriftzeichen zu den Linien ist nun aufgehoben und die Zeichen sind oben in die Zeilenlinie hineingesetzt. Sie erscheinen ein wenig wie „an die

21

Durch die Standfläche für das Foto ein wenig nach rechts gekippt. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Linie angehängt“, ein recht typisches Merkmal altassyrischer Tontafeln, das sich allerdings in ähnlicher Form im altbabylonischem Schriftmaterial zeigt. Altbabylonisch–mittelbabylonische Zeit Dadurch wird gewissermaßen die eigentlich trennende Zeilenlinie mit in den „Schriftsatz“ einbezogen wie das Beispiel von VAT 06104 demonstriert (Abb. 10).22

Abb. 10

Brief über eine Lieferung (VAT 06104), Vorderseite, 6,2 x 4,2 x 2,4, Altbabylonisch; VS 16, 72; Frankena 1974: Nr. 72.

Die Schrift ist sehr viel mehr nicht nur an den Zeilenlinien orientiert, sie ist praktisch in sie hineingeschrieben, indem vor allem die senkrechten Keile der Zeichen, aber auch Teile der waagerechten Elemente, auf die Linie gesetzt wurden. Einige Einzelkeile schräger Ausführung und auch Winkelhaken greifen dabei deutlich über 22

So unter anderem auch im Schriftgut aus Mari zu beobachten, vgl. etwa den Text AO 18236 (Louvre), ein Tonknauf, dessen Frontplatte dreikolumnig beschriftet ist. Bildvorlage siehe https://cdli.ucla.edu/search/ mit der CDLI number P386350 [Zugriff am 20.7.2019]. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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die Linien hinaus und beeinträchtigen ihre Ausführung. Zugleich verändern aber auch die Zeilenlinien die Schrift, indem sie – jeweils nach Beendigung der vorherigen Zeile – gezogen wurden und dadurch Anteile von Schriftzeichen verändern (verdrücken). Die oben so genannte „Blatteinteilung“ scheint sich also hierdurch aufzulösen; Linien sind nur noch formal vorhanden. Hinzu tritt, dass nicht alle Tafeln dieser Periode sowie auch der folgenden mittelbabylonischen Zeit noch Zeilenlinien tragen, denn zunehmend wird hier auf ihre Verwendung verzichtet. Es fällt auf, dass bei altbabylonischen Briefen sehr häufig solche gezogen sind – wenn auch manchmal nicht durchgehend vor oder nach jeder Zeile. Der Brief VAT 06104 zeigt noch eine konsequente Zeilenführung, die Rechtsurkunde VAT 13440 (Abb. 9) dagegen verzichtet völlig auf eine Blatteinteilung mittels Linien. 3. Linienverlust

Abb. 11

Rechtsurkunde, Grundstückskauf (VAT 13440), Vorderseite, 10,3 x 5,5 x 3,0, Altbabylonisch; Klengel 1983a: Nr. 1; Klengel 1983b: 8‒9.

Altbabylonische Rechtsurkunden wie in Abb. 11 nutzen ohne Linien zuweilen auch die Anlage des Schriftbildes zur Orientierung des Lesenden, doch existieren hiervon Ausnahmen. Ob im Vergleich Brief und Rechtsurkunde jedoch eine Formel „Briefe © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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= Linien, Rechtsurkunden = ohne Linien“ als ein allgemeines Grundmuster gelten darf muss hier allerdings offengelassen werden, da eine verlässliche statistische Untersuchung dieses Phänomens für ein solch strukturell-optisches Merkmal im Rahmen dieser Studie nicht möglich war. Allerdings sind vor allem kleinformatige altbabylonische Urkunden recht dicht beschriftet und das Vorhandensein von Zeilenlinien daher nur schwer feststellbar, weil diese überschrieben worden sein können. Um hier einem Irrtum zu entgehen, empfiehlt es sich den rechten Rand (Tafelfläche) zu untersuchen, denn hier wären – wenn überhaupt – noch die Reste von den Linienenden sichtbar. Sind diese nicht zu entdecken, darf die Tafel wohl als frei von Zeilenlinien gelten. Als ein Beispiel dazu gelte die Rechtsurkunde VAT 00808 (Abb. 12).

Abb. 12

Rechtsurkunde, Grundstückskauf (VAT 00808), 11,5 x 6,5 x 3,0, Spätaltbabylonisch; Klengel / Klengel-Brandt 2002: Nr. 14.

VAT 00808 ist eine sehr kompakt gestaltete Tafel als sogenannte QuasiHüllentafel,23 deren auf Vorder- und Rückseite eigens von Text frei gelassene Flächen die Abrollungen der Siegel so besser sichtbar aufnehmen konnte. Diese Fläche mindern den Platz für den eigentlichen Vertragstext, so dass die Beschriftung relativ dicht erfolgen musste. Dies könnte u.U. etwaige Zeilenlinien innerhalb des Textes verdeckt haben, jedoch sind solche eben auf der Randseite nicht einmal in geringen Resten erhalten. Der Text ist somit als einer ohne Führung durch Zeilenlinien zu bewerten. Nur am Textende vor der abgesetzten Datierung erscheint eine Abschlusslinie, deren Ende noch auf dem Rand hinüber reicht. Ihr Beginn am linken Rand des Rs. ist durch die Siegelung fast zugedrückt. Allerdings existiert eine Führungslinie für die Zeilenanfänge, die zugleich die Grenze zwischen Siegelfeld und Schriftfeld

23

Siehe dazu Wilcke 1982 sowie Wilcke 1990. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel

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markiert. Sie ist auf der Vs. oben und in der Mitte sichtbar, danach überschrieben; die Rs. enthält davon nur wenige kurze Spurenstücke. Die mit dem allmählichen Verschwinden der Zeilenlinien gegen Ende der altbabylonischen Zeit einhergehende Veränderung in der „Blattgestaltung“ von Tontafeln und damit des allgemeinen Schriftbildes – zuvor waren Schrift und Linien eine Einheit – führt freilich nicht zur völligen Aufgabe von Linienzügen im Schriftmaterial. Vor allen bei literarischen oder Schultexten spielen die Zeilenlinien weiterhin eine wichtige Rolle. Bei den Briefen oder den Verwaltungs- und anderen Urkunden wird die Zeilenlinie nicht mehr oder weit seltener gebraucht. So zeigt sich z. B. das Archivgut von Tell el-Amarna weitgehend linienfrei, doch sind hier bei größeren Texten Linien zur besseren Abschnittsordnung ebenso zu finden wie in den hethitischen Quellen oder den Texten aus Ugarit.24 Die Linien dienen nun nicht mehr der zeilenweisen Ordnung als Hilfe zur Schriftausführung, sondern sind eher inhaltliche Gestaltungselemente. Eine Übersicht in Abbildungen dazu kann hier nicht gegeben werden, jedoch seien als Beispiele noch je ein mittelassyrischer und ein neuassyrischer Text vorgestellt, die den beschriebenen prinzipiellen Unterschied verdeutlichen sollen (Abb. 13 und 14).

Abb. 13

24

Gerichtliche Vorladung (VAT 08745), Vorderseite, 6,2 x 5,7 x 2,2, Mittelassyrisch; Schroeder 1920: Nr. 201, Ebeling 1933: 35‒36. Zeilenordnung nach inhaltlichen Kriterien.

Hier ohne Bildbeispiele. Zur Illustration sei auf CDLI verwiesen: https://cdli.ucla.edu. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 14

Joachim Marzahn

Brief eines Tempel-laḫḫinnu an einen anderen (VAT 08877), Vorderseite, 6,0 x 2,9 x 1,7; Schroeder 1920: Nr. 112; Postgate 1995.

Der Text Abb. 13 enthält noch die erwähnten Zeilenlinien zur Orientierung des Lesers, nicht mehr jedoch zur Blatteinteilung. Der Schriftsatz in Abb. 14 spricht für sich: er ist so sauber und gleichmäßig gefertigt, dass es keinerlei Hilfsmittel mehr bedurfte. Erwähnt sei hier noch die Bemerkung aus dem Inventarbuch der Berliner Sammlung zu VAT 00049 (Abb. 15) hinsichtlich der Gestaltung des Textes, denn dort heißt es hervorgehoben: „Trennungslinien!“. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel

Abb. 15

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Verzeichnis von Dattellieferungen aus einer Pacht (VAT 00049), Vorderseite, 4,9 x 6,8 x 2.6; Ungnad 1908: Nr. 20; San Nicolò / Ungnad 1935/1937: Nr. 391.

Der damalige Kurator (Handschrift nicht mehr zuzuordnen) fand diesen Umstand also für eine neubabylonische Tafel besonders bemerkenswert. 4. Ordnungslinien, eine Sonderrolle Die bisherige Beschreibung und Darstellung von Linien auf Tontafeln betraf jene, die sich vorwiegend als Teil eines Schriftbildes bzw. eines Layouts, das der Schrift dient, verstehen lassen. Abgesehen von Zeichnungen auf Tontafeln, die natürlich ebenfalls als Linien daherkommen, hier aber keine Betrachtung finden, gibt es noch Linien, denen eine besondere Ordnungsaufgabe zukommt: die Linien der Tabellentexte. Sie gleichen bei der Blattaufteilung auch unserer heutigen Tabellen und ordnen bestimmte zusammenhängende Sachverhalte von Texten und Daten einander übersichtlich zu, um einen schnellen Überblick zu gewährleisten. Durch ihre Gestalt sind sie meist auf den ersten Blick erkennbar wie Abb. 16 zeigt.

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Abb. 16

Joachim Marzahn

Opferliste aus Sippar (VAT 00029), Vorderseite, 8,4 x 6,2x 2,4; Ungnad 1908, Nr. 29; San Nicolò / Ungnad 1935‒1937: Nr. 745.

Doch nicht in jedem Fall sind auf tabellarischen Keilschrifttexten die Linienzüge sofort sichtbar, auch wenn der Schriftsatz an sich deutlich auf eine Tabelle hinweist wie der Text in Abb. 17 beweist.

Abb. 17

Astronomischer Text, Saturntafel (VAT 07819), Vorderseite, 8,1 x 11,6 x 1,8; Schnabel 1924: 100‒105; Neugebauer 1955: Nr. 702, 357‒358. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel

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Erst die genauere Betrachtung der Tafel erweist das Vorhandensein von Linienzügen, die dem Schreiber die Anfertigung der Tabelle erleichterten (Abb. 18).

Abb. 18

Detailaufnahme (VAT 07819)

Nicht nur, aber vor allem kurz vor dem unteren Rand der Tafel werden noch die Reste von senkrechten Linien sichtbar, wenige weitere finden sich auch neben den Schriftzeichen. In diesem Fall nutzte der Schreiber also die Linien nicht zur besseren optischen Wahrnehmung der Sachverhalte, sondern offenbar nur zum Zweck der sicheren geordneten Schriftführung – die Linien wurden überschrieben, verloren ihre Sichtbarkeit, Reste davon verraten noch ihre eigentliche Aufgabe. Ein sehr ähnliches Bild des Schriftsatzes und der Liniennutzung zeigt VAT 07809 (Abb. 19).

Abb. 19

Mondberechnung (VAT 07809), Vorderseite, 8,8, x 21,3 x 2,2; Kugler 1909‒ 1910: 584‒597; Schnabel 1927: 26‒32; Neugebauer 1955: Nr. 101, 129‒132.

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In der Detailbetrachtung allerdings wird hier noch die Verfahrensweise des Schreibers sichtbar, mit der er sich die exakte Einteilung der Beschriftung sicherte, bevor er mit der linierten Tabellierung begann, die hernach zu überschrieben beabsichtigt war. (Abb. 20).

Abb. 20

Detailaufnahme (VAT 07809)

Am oberen Rand der Vorderseite befinden sich zwischen den Textlücken noch Überreste der Entwurfsmarkierungen, die als kleine kurze Keileindrücke jene Abstände angeben, an denen die sehr feinen senkrechten Führungslinien anzusetzen waren.25 Diese wurden dann senkrecht nach unten über die Tafelfläche gezogen, so dass sie bis fast an die untere Kante reichen, ungeachtet der tatsächlichen Textmenge, die an den Orientierungslinien zu schreiben war. So blieben die Linien erhalten und letztlich von der Unterschrift teilweise bedeckt, die ihrerseits nichts mehr mit der Tabellenform zu tun hatte (Abb. 21).

25

Eine weitere Spur ist auf der Rs. geblieben – hier nicht abgebildet. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Hilfsmittel des Schreibers: die Linien auf der Tafel

Abb. 21

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Detail (VAT 07809), Rs. Die Unterschrift (Kolophon) überdeckt die senkrechten Tabellenlinien.

Es ist eigentlich überflüssig zu betonen, dass es sich bei diesen Beispielen der Tabellierungsformatierung um eine sehr präzise Zeichenarbeit und höchst feine Ausführung handelt, die man sicher einem Schreiber oder weit fortgeschrittenem Schüler mit langer Erfahrung und Liebe zum Detail und zur Genauigkeit zuordnen darf. Dies ist nicht nur an der Zartheit der Linien und an den Entwurfsmarkierungen zu sehen sowie in den kleinen Testeindrücken der Griffelspitze rechts unten auf der Rückseite von VAT 07809 (Abb. 21), die allerdings von der Form her mit den Linien nichts zu tun zu haben scheinen. Es zeigt sich auch – wo noch sichtbar – in der etwas verblüffend exakten Geradheit und Parallelität der feinen Linien, so dass der Verdacht nahe liegt, der Schreiber hätte sich dazu eines Instruments bedient, das sowohl die gerade Linie als auch den Abstand derselben einzurichten gestattete. Beweisen lässt es sich freilich nicht, aber mindestens seit « Gudea l’architecte au plan »26 ist ja bekannt, dass man solche Mess- und Linienführungsinstrumente benutzte, die handlich im Gebrauch waren. Den genannten Verdacht ein wenig zu erhärten sei abschließend noch ein weiteres Beispiel solch verdeckter und präziser Linien vorgestellt: VAT 07825 (Abb. 22 und 23).

26

Musée du Louvre, Département des Antiquités orientales, Inventarnummer AO 2. Vgl. http://cdli.ox.ac.uk/wiki/doku.php?id=architecte_au_plan [Zugriff am 19.3.2019]. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 22

Serie Enuma anu Enlil (VAT 07825), Rückseite (Vs zerstört), 12,7 x 11,6 x 2,8, Arsakidenzeit; Weidner 1941‒1944: 172‒193.

Abb. 23

Detailaufnahme (VAT 07825) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Sowohl die Doppellinie unter dem Haupttext als auch die noch rechts unten von Schrift unbedeckt gebliebenen Führungslinien27 unter den Zeilen der Textunterschrift fallen durch eine relativ exakte Parallelität auf. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: der Textbereich oberhalb der Doppellinie (soweit erhalten) lässt keinerlei Reste von Führungslinien in den Zwischenräumen zwischen den Schriftzeichen erkennen. Dennoch liegt der hier noch messbare Abstand zwischen den gedachten Mittellinien der Schriftzeilen mit 0,8 cm Abstand ziemlich genau parallel zueinander. Die Führungslinien unten dagegen (messbare und aus den Schriftzeilen ableitbare Abstände) liegen gemittelt relativ exakt 1,0 cm auseinander.28 Letztlich bleibt die Frage nach einem Hilfsmittel zur Linienziehung trotz solcher Messungen freilich immer im Bereich der Spekulation. Was jedoch aus allen verwendeten Beispielen sicher bleibt, ist die Tatsache, dass die Tontafelschreiber sich des Einsatzes der Linien auf den Tafeln bewusst und präzise zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich bedienten (bzw. sie unterließen) und sie deshalb als ein integraler Bestandteil der materiellen Schriftkultur weiterhin einige Beachtung finden sollten. Die Linie oder zumindest das Bewusstsein der linearen Schriftführung ist vom Beginn der Schriftkultur in Mesopotamien bis zu deren Ende ein wichtiges Hilfsmittel im Handwerk des Schreibers, dem er Aufmerksamkeit zuzuwenden wusste. Sie ist zugleich der Anfang einer bis heute reichenden Tradition, die uns – soweit wir noch handschriftlich arbeiten – gern zu liniierten (oder wahlweise karierten) Papieren greifen lässt.

Abbildungsnachweis Abb. 1–23 © Staatliche Museen zu Berlin – Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer

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27 28

Beide bereits bei Weidner 1941‒1944: Tf. VI dargestellt. Gemessen mit dem Messschieber und 1/10 mm Genauigkeit. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Joachim Marzahn

Englund 2009 Robert K. Englund, The Smell of the Cage. Cuneiform Digital Library Journal 4., 2009, in: http://cdli.ucla.edu/pubs/cdlj/2009/cdlj2009_004.html [Zugriff am 20.7.2019]. Förtsch 1916 Wilhelm Förtsch, Altbabylonische Wirtschafstexte aus der Zeit Lugalanda’s und Urukagina’s. Vorderasiatische Schriftdenkmäler 14, 1, Leipzig. Frankena 1974 Rintje Frankena, Briefe aus dem Berliner Museum. Altbabylonische Briefe in Umschrift und Übersetzung 6, Leiden. Jaritz 1967 Kurt von Jaritz, Schriftarchäologie der altmesopotamischen Kultur, Eine grammatologische Untersuchung zur Entstehung des ältesten Bilderschriftsystems, Graz. Klengel 1983a Horst Klengel, Altbabylonische Texte aus Babylon. Vorderasiatische Schriftdenkmäler NF 6 (22), Mainz. Klengel 1983b Horst Klengel, Bemerkungen zu den altbabylonischen Rechtsurkunden und Wirtschaftstexten aus Babylon, in: Altorientalische Forschungen 10, 5‒48. Klengel 1994 Horst Klengel, Richter Sippars in der Zeit des Ammisaduqa: ein neuer Text, in: Hermann Gasche / Michel Tanret / Caroline Janssen / Ann Degraeve (Hrsg.), Cinquante-deux réflexions sur le Proche-Orient ancien: offertes en hommage à Léon de Meyer. Mesopotamian History and Environment, Occasional Publications 2, Leuven, 169‒174. Klengel / Klengel-Brandt 2002 Horst Klengel / Evelyn Klengel-Brandt, Spät-altbabylonische Tontafeln. Texte und Siegelabrollungen. Vorderasiatische Schriftdenkmäler NF 13 (29), Mainz. Kugler 1909‒1910 Franz Xaver Kugler, Sternkunde und Sterndienst in Babel Bd. 2: Babylonische Zeitordnung und ältere Himmelskunde, Münster. Krebernik et al. 2005/2006 Manfred Krebernik / Joachim Marzahn / Gebhard Selz, Eine Fara-zeitliche „Tabelle“, in: Archiv für Orientforschung 51, 45‒53. Marzahn 1991 Joachim Marzahn, Altsumerische Verwaltungstexte aus Girsu/Lagaš. Vorderasiatische Schriftdenkmäler NF 9 (25), Berlin. Marzahn 2013 Joachim Marzahn, Keilschrift schreiben, in: Nicola Crüsemann / Margarete van Ess / Markus Hilgert (Hrsg.), Uruk – 5000 Jahre Megacity, Begleitband zur Ausstellung „Uruk – 5000 Jahre Megacity“ im Pergamonmuseum – Staatliche Museen zu Berlin – in den Reiss© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Schroeder 1917 Otto Schroeder, Altbabylonische Briefe mit Zeichen- und Namenlisten, Vorderasiatische Schriftdenkmäler 16, Leipzig. Schroeder 1920 Otto Schroeder, Keilschrittexte aus Assur verschiedenen Inhalts. 35. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft, Leipzig. Taylor 2011 Jonathan Taylor, Tablets as Artefacts, Scribes as Artisans, in: Karen Radner / Eleanor Robson (Hrsg.), The Oxford Handbook of Cuneiform Culture, Oxford, 5‒31. Taylor / Cartwright 2011 Jonathan Taylor / Caroline Cartwright, The Making and Re-Making of Clay Tablets, in: Scienze dell’antichità 17, 297‒324. Ungnad 1908 Arthur Ungnad, Vorderasiatische Schriftdenkmäler 6, Leipzig. Veenhof / Klengel-Brandt 1992 Klaas R. Veenhof / Evelyn Klengel-Brandt, Altassyrische Tontafeln aus Kültepe: Texte und Siegelabrollungen. Vorderasiatische Schriftdenkmäler NF 10 (26), Berlin. Walker 2014‒2016 Christopher B. F. Walker, Tontafel, in: Reallexikon der Assyriologie 14, Berlin / Boston, 101‒104. Weidner 1941‒1944 Ernst F. Weidner, Die astrologische Serie Enûma Anu Enlil, in: Archiv für Orientforschung 14, 172‒193. Wilcke 1982 Claus Wilcke, Zwei spät-altbabylonische Kaufverträge aus Kish, Govert van Driel / Theo J.H. Krispijn / Marten Stol / Klaus R. Veenhof (Hrsg.), Zikir šumim. Assyriological Studies Presented to F. R. Kraus on the Occasion of his Seventieth Birthday. Studia Francisci Scholten Memoriae Dicata 5, Leiden, 426‒483, bes. 450‒483. Wilcke 1990 Claus Wilcke, Rez. zu Horst Klengel, Altbabylonische Texte aus Babylon, Vorderasiatische Schriftdenkmäler NF 6 (22), in: Zeitschrift für Assyriologie und vorderasiatische Archäologie 80, 304‒305.

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„Dieser Mann wird sich freuen!“ Stefan M. Maul / Heidelberg In dem großen Tafelbestand aus dem sog. Haus des Beschwörungspriesters in Assur1 fand sich ein kleines, nahezu vollständig erhaltenes querformatiges Tontäfelchen, das von den Ausgräbern mit der Fundnummer 13955 hy versehen wurde. Es ist uns durch das noch während der Ausgrabungen in Assur entstandene Grabungsphoto Nr. 4146 bekannt (siehe Abb. 1–2).2 Mit vielen weiteren, recht gut erhaltenen Stücken wurde es am 19. Juni 1909 im Planquadrat hD8I gefunden.3 Die 21 mm lange, 37 mm breite Tafel weist ein Format auf, das von den Schreibern der spätassyrischen Zeit häufig verwendet wurde, wenn man Notizen machen oder kurze Textauszüge festhalten wollte.

Abb. 1

Ass 13955 hy, Vs. (Assur-Grabungsphoto Nr. 4146)

Wie bei vielen Tafeln aus diesem Fund ist eine Tafelseite sehr gut erhalten, während die andere weitgehend zerstört ist. Dieser Umstand dürfte damit zu erklären sein, dass die luftgetrockneten Tafeln nach der Zerstörung des Hauses, in dem sie aufbe-

1

Zu dem sog. Haus des Beschwörungspriesters und der dort entdeckten Tontafelsammlung siehe Pedersén 1986: 41–76 und Maul 2010: 189–228 jeweils mit weiterführender Bibliographie. Mit Hilfe der Grabungstagebücher Walter Andraes und der umfangreichen Photodokumentation der Ausgräber konnte Olof Pedersén in seinem 1986 erschienenen Buch Archives and libraries in the city of Assur insgesamt 631 veröffentlichte und unveröffentlichte Tontafeln und Tafelfragmente dem Fund aus dem sog. Haus des Beschwörungspriesters zuordnen. Nach einer systematischen Sichtung aller nach Berlin gelangten Tontafeln aus Assur können wir heute etwa 1300 Tontafeln und Tafelfragmente dem Schriftenbestand aus dem Besitz der assyrischen Heiler zuweisen. 2 Es handelt sich um die zweite Tafel in der vierten (von oben nach unten gezählten) Reihe. 3 Siehe Pedersén 1986: 64 unter N 4, Nr. 213. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Stefan M. Maul

wahrt worden waren, für eine Weile im Freien lagen und dabei – wohl durch Wind und Wetter – von oben eindringendem Wasser ausgesetzt waren. Während das Wasser den Ton auf den himmelwärts weisenden Tafelseiten aufweichen und das Schriftbild weitgehend zerstören konnte, blieb die dem Erdboden zugewandte Seite geschützt. Von dem ursprünglichen Text der hier vorgestellten Tafel ist dennoch so viel erhalten, dass sein Charakter bestimmt werden kann.

Abb. 2

Ass 13955 hy, Rs. (Assur-Grabungsphoto Nr. 4146)

Auf dem Täfelchen hatte Aššur-šākin-šumi,4 einer der im sog. Haus des Beschwörungspriesters wirkenden Heiler, den Wortlaut zweier Omina aufgeschrieben, die ihn wohl aus gegebenem Anlass interessierten. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist mit den Omina ein Geschehen umrissen, das einem erkrankten oder stark beunruhigten Patienten des Heilers tatsächlich widerfahren war. Wir wissen nämlich, dass in einem Unglücks- oder Krankheitsfall aber auch, wenn einem Menschen ein als besonders übel gewertetes ‘Zeichen’ erschienen war, der Heiler seinen Patienten nach in der Vergangenheit liegenden eigentümlichen Vorkommnissen bei der Vorbereitung und Darbringung von Opfern, nach außergewöhnlichen Opferschaubefunden, bemerkenswerten Erscheinungen im Traum und weiteren auffälligen und unauffälligen Begebenheiten des Alltags befragte. Zunächst hatte der Heiler herauszufinden, ob die bei der Patientenbefragung geschilderten Ereignisse als Omen zu bewerten waren. War das der Fall, konnte er sich dann in einem zweiten Schritt aufgrund einschlägiger Einträge in schriftlich fixierten Omenkompendien von der Zukunft des Betroffenen, dem Wesen seiner Erkrankung und den Heilungschancen ein Bild machen und diese Informationen nutzen, um ein angemessenes Heilverfahren zu ermitteln. Schenken wir dem in der neuassyrischen Zeit weitverbreiteten Prognose- und Diagnosehandbuch Glauben, achtete ein Heiler auf seinem Weg zum Haus seines Patienten darüber hinaus auch sehr genau auf entsprechende zeichenhafte Begeg4

Zu Aššur-šākin-šumi und seiner Position in der Heilerfamilie aus dem sog. Haus des Beschwörungspriesters siehe Maul 2010: 216. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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nungen und Vorkommnisse, um durch deren Ausdeutung bereits vor der Untersuchung des Kranken Hinweise auf Art und Verlauf seines Leidens zu erhalten.5 Das als ominös erachtete Ereignis, auf das der Heiler wohl bei einem Anamnesegespräch mit seinem Patienten aufmerksam geworden war, war eigentlich ganz belanglos. Bei einem Fußweg durch die Stadt hatte der Klient des Heilers offenbar rotgefärbten Wollabfall „entgegengenommen“. Es ist dabei völlig offen, ob die roten Rückstände der Wollherstellung tatsächlich der betreffenden Person auf der Straße übergeben worden, oder ob sie einfach an ihrer Kleidung oder ihrem Schuhwerk hängengeblieben waren. Einer heute nicht mehr zu bestimmenden Omensammlung zufolge galt dies jedenfalls als ein sehr günstiges Zeichen.6 In unserem Fall konnte der Heiler seinem Klienten die Nachricht überbringen, dass derjenige, dem solches widerfahren war, sich keine Sorgen zu machen brauchte, sondern guten Grund hatte, sich zu freuen. Umschrift Vs.

1 2 3 4

šumma(DIŠ) amēlu(NA) sūqu(SILA) ina alākī(DU)-šú mu-uk-ku sāmu(SA5) [i]m-ḫur amēlu(NA) šū(BI) ⌈i⌉-ḫad-du _____________________________________________________ síg

(Strich; es folgt eine unlesbare Zeile und dann der untere Tafelrand)

Übersetzung Vs.

1 2 3 4

Wenn ein Mann eine Straße entlanggeht (und) rotgefärbten Wollabfall [ent]gegennimmt, dann wird sich dieser Mann freuen.

Auf der Rückseite des Tontäfelchens, das in der zweiten Hälfte des siebten vorchristlichen Jahrhunderts geschrieben wurde, folgen vier weitere, vollkommen zerstörte Zeilen, in denen ein zweiter Omeneintrag notiert war, der wohl ebenfalls von „Wollabfall“ (mukku) handelte. Nach einem Trennstrich schließt sich ein kurzer Kommentar an, der das offenbar in spätneuassyrischer Zeit bereits ungebräuchliche Wort mukku erklärt und mit dem akkadischen Wort für „Filz“ gleichsetzt: Rs.

5

síg

mu-uk-ku : bir-šú

Auf dem unteren Tafelrand der Rückseite schließlich findet sich der Eintrag, der Auskunft über den Namen des Schreibers gibt: ša IAš-šur-šākin(ĜAR)-šumi(MU). 5

Zu dem Prognose- und Diagnosehandbuch siehe Scurlock 2014: 13–271 sowie Labat 1951 und Heeßel 2000. Die ersten beiden Tafeln des Werkes mit annähernd 150 Einträgen sind allein diesem Thema gewidmet. 6 Der Charakter der von Aššur-šākin-šumi notierten Omeneinträge spricht dafür, dass diese aus uns unbekannten Passagen der Šumma ālu genannten Sammlung terrestrischer Omina stammt. Zu Šumma ālu siehe Maul 2003, Freedman 1998–2017 und Heeßel 2007. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Möge dem Jubilar, dem ich mich seit Jahrzehnten verbunden fühle und der die Arbeit an der Erschließung der Assur-Texte immer tatkräftig unterstützte, die kleine Notiz des assyrischen Heilers erfreuen und die Freude – wie für den Patienten des Aššur-šākin-šumi – ein täglicher Begleiter sein!

Bibliografie Freedman 1998–2017 Sally M. Freedman, If a City is Set on a Height. The Akkadian Omen Series Šumma ālu in mēlê šakin, Philadelphia, Vol. 1, 1998; Vol. 2, 2006; Vol. 3, 2017. Heeßel 2000 Nils P. Heeßel, Babylonisch-assyrische Diagnostik. Alter Orient und Altes Testament 43, Münster. Heeßel 2007 Nils P. Heeßel, Terrestrische, teratologische, physiognomische und oneiromantische Omina. Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts 1. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 116, Wiesbaden. Labat 1951 René Labat, Traité akkadien de diagnostics et pronostics médicaux, Vol. I‒II, Paris. Maul 2003 Stefan M. Maul, Omina und Orakel. A. In Mesopotamien, in: Dietz Otto Edzard (Hrsg.), Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, Band 10, 1./2. Lieferung Oannes–Pabilsag(a), Berlin / New York, 45–88. Maul 2010 Stefan M. Maul, Die Tontafelbibliothek aus dem sogenannten »Haus des Beschwörungspriesters«, in: Stefan M. Maul / Nils P. Heeßel (Hrsg.), Assur-Forschungen. Arbeiten aus der Forschungsstelle »Edition literarischer Keilschrifttexte aus Assur« der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Wiesbaden, 189–228. Pedersén 1986 Olof Pedersén, Archives and Libraries in the City of Assur. A Survey of the Material from the German Excavations, Part II, Uppsala. Scurlock 2014 JoAnn Scurlock, Sourcebook for Ancient Mesopotamian Medicine. Writings from the Ancient World 36, Atlanta, Georgia.

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Zu den spätneolithischen Rundhäusern am Tell Halaf Jörg Becker / Halle Die charakteristischen Wohnhäuser der Halaf-Zeit werden auch am Tell Halaf durch Rundhäuser (tholoi) repräsentiert und wurden auf der Zitadelle im Bereich von Westpalast / Skorpionentor bzw. am Nordhang in den Jahren 2006–2010 freigelegt (Abb. 1). Chronologisch gehören die bislang sieben erfassten Rundbauten zeitlich den entwickelten Stufen Halaf IIa/b um die Mitte des 6. Jahrtausends v. Chr. an (vgl. die tabellarische Übersicht)1: Rundbau 1 (in Areal 6112) ist durch eine massive Außenmauer aus drei Reihen von Lehmziegeln mit einer Gesamtbreite von 1,20 m, einem Innendurchmesser von ca. 6,90 m sowie wahrscheinlich zwei abgehenden Binnenmauern charakterisiert. Sowohl die Außen- als auch die Innenfassade weisen einen weißen Kalkverputz auf. Die Rundbauten 2 und 3 (in Areal 6718) zeichnen sich hingegen durch eine geringere Größe des Innendurchmessers von ca. 2,90 m bzw. 3,30 m aus und besitzen einen vorgelegten rechteckigen Vorraum. Während für Rundbau 3 Lehmziegel bezeugt sind, ist für den innen verputzten Rundbau 2 die Konstruktion aus Stampflehm nicht auszuschließen (Abb. 2). Für die Rundbauten 4 und 5 (Areale 5912 bzw. 6719/6720) mit Innendurchmessern von ca. 5,50 m bzw. 7,00 m sind schließlich bei Mauerbreiten von 0,30 m bzw. 0,60 m ein kreuzförmiger Grundriss kennzeichnend. Dabei ist Rundbau 5 wiederum ein rechteckiger Anbau angeschlossen, der gleichfalls zu einem schlüssellochförmigen Grundriss führt. Besonders markant ist bei Rundbau 5 der sorgfältig verlegte Estrich im Rundbau selbst sowie im Anbau der bis zu 3‒4 cm dick ist und in älterer neolithischer Tradition steht. Die Innenwände waren wiederum weiß verputzt. Auf der westlichen Außenseite führte eine sorgfältig verlegte Gasse aus unterschiedlich großen Kieseln an den Rundbau heran. Sowohl im Fall des Rundbaus selbst, als auch des Anbaus, waren Lehmziegel nicht klar fassbar, sodass auch hier die Errichtung aus Stampflehm nicht auszuschließen ist (Abb. 3‒4). Der bislang unpublizierte und nur auf kleiner Fläche erfasste Rundbau 6 (in Areal 6819), aus Lehmziegeln errichtet, besitzt ebenfalls nur eine Mauerbreite von 0,30 m und lässt auf einen Innendurchmesser von ca. 4,30 m schließen. Rundbau 7 wurde in Areal 6720 schließlich direkt unterhalb von Rundbau 5 nur auf kleiner Fläche erfasst. Er dürfte ähnlich wie Rundbau 5 Dimensionen von ca. 7,00 m Innendurchmesser und einen kreuzförmigen Grundriss besessen haben. Ob auch er einen rechteckigen Anbau aufwies, lässt sich bislang durch den Stand der Ausgrabungen nicht bestätigen. Ein weiterer Rundbau dürfte direkt unterhalb von Rundbau 7 vorliegen, jedoch liegt bislang von ihm kein Grundriss vor. Insgesamt ist aber damit zu rechnen, dass

1

Vgl. die Vorberichte bei Becker 2009; Becker 2012; Becker 2013a/b und Becker 2015: 277– 326. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Jörg Becker

dieser Rundbau sowie die direkt darüber liegenden Rundbauten 7 und 5 eine lokale Bauabfolge an dieser Stelle und somit eine gewisse Kontinuität bezeugen. Gebäude

Typ

Phase

Rundbau 1 B 1 Rundbau 2 C 1

B 14 B 20 N

(Silo 1) Rundbau 3 C 1

B 19 N

Rundbau 4 B 2 (Silo 2) Rundbau 5 C 2

Rundbau 6 A Rundbau 7 B / C 2 (?)

Innendurchmesser bzw. Umfang 6,90 m (Tholos) 2,90 m (Tholos), ca. 2,5 x 2,0 m (Dromos) (1,8 m) ca. 3,30 m (Tholos), ca. 2,8 x 2,5 m (Dromos) ca. 5,50 m (Tholos) (1,30 m) ca. 7,00 m (Tholos) 4,5 x 3,4 m (Dromos) 1 x 1,5 m (Durchgang) 4,3 m (Tholos) ca. 7,00 m (Tholos)

B 12 B 19 N

B 18 N B 21 N

Innenfläche

Mauerbreite

Installation

25,40 m² 6,60 m² 5,00 m²

1,20 m 0,25–0,30 m

– Herdstelle (Inst B 65)

(2,5 m²) 8,50 m² 7, 00 m²

(0,10–0,30 m) 0,35–0,40 m

20,75 m² (1,3 m²) 32,00 m² 15,30 m² 1,50 m² 14,5 m² ca. 32 m²

0,30 m (0,15–0,20 m) 0,60 m (Tholos) 0,40 m (Dromos)



0,25–0,30 m 0,60 m

– –



(Feuerstelle)

Tabellarische Übersicht der Halaf-zeitlichen Rundbauten am Tell Halaf.

Typologisch lassen sich somit drei Grundtypen unterscheiden, die auch an zahlreichen anderen Fundorten der Halaf-Zeit ihre Parallelen finden (Abb. 5)2: Typ A – einfache, einräumige Rundbauten (Rundbau 6), Abb. 5a Typ B – mit variabler Binnengliederung (Rundbau 1 und 4), Abb. 5b (Typ B 1) und 5d (Typ B 2 mit kreuzförmigem Grundriss) Typ C – mit schlüssellochförmigem Grundriss (Rundbau 2 und 3), Abb. 5c (Typ C 1) sowie als Variante Rundbauten mit Binnengliederung, denen ebenfalls ein rechteckiger Anbau angeschlossen ist (Rundbau 5), Abb. 5e (Typ C 2) . 3

Vor allem die Typen B und C sind am Tell Halaf gut bezeugt, der Typ weit verbreiteter einräumiger Rundbauen, Typ A, aber bislang nur singulär belegt. Bei den Rundbauten mit Binnengliederung sind am Ort solche mit kreuzförmigem Grundriss mehrfach belegt, die gute Parallelen vor allem in Yarimtepe III finden4. Anders als etwa am Çavi Tarlası lässt sich erhaltungsbedingt keine besondere Präferenz beim äußeren Zugang erkennen5. Von wo aus die Gebäude betreten wurden, ist für die Rundhäuser am Tell Halaf oft nicht klar zu beantworten, bzw. 2

Vgl. ähnliche typologische Einteilungen bei Aurenche 1981: 188–190 Fig. 148–150; Breniquet 1996: 76–96 Pl. 32–47 oder Tsuneki / Miyake 1998: 164–176. 3 Für Rundbau 7, der nur zu Teilen unter dem Nachfolgebau Rundbau 5 erfasst werden konnte, ist nicht zu entscheiden, ob er ebenfalls einen rechteckigen Anbau besaß. Er entspricht somit entweder Typ B oder C. 4 Merpert / Munchaev 1993: 186–190 Fig. 9.18 und 9.19. 5 Becker / von Wickede 2018: 45 mit Abb. 8, 10, 15 oder 18. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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deutet eine größere Variabilität an. Während die Rundbauten 2 und 3 wohl durch den rechteckigen Vorraum betreten wurden, ist dies für Rundbau 5 auszuschließen; aufgrund der westlich heranführenden Gasse kann hier ein Zugang in Rundbau 5 von Westen erschlossen werden, über den erst nachfolgend der rechteckige Anbau betreten wurde. Nimmt man noch die kleineren Rundstrukturen hinzu, die räumlich den Rundbauten 2 und 4 unmittelbar benachbart sind, so ergeben sich drei Größengruppen: Größere Rundbauten mit einem Innendurchmesser zwischen ca. 4–7 m, mittlere Rundbauten mit einem Innendurchmesser von ca. 3 m und kleine Rundstrukturen von 1,3–1,8 m Innendurchmesser. Während die kleineren Rundstrukturen vermutlich als Getreidesilos oder als Öfen dienten, dürften die mittleren und größeren Rundbauten primär zu Wohn- und Arbeitszwecken genutzt worden sein. So lässt die Herdstelle in Rundbau 2 sowie die mutmaßliche Feuerstelle in Rundbau 5 auf einen Wohncharakter schließen (Abb. 4)6. Die Nutzfläche der mittleren Rundbauten 2–4 und 6 liegt im Bereich von ca. 12–20 m², während die größeren Rundbauten 1, 5 und 7 eine Nutzfläche von ca. 25–49 m² erreichen7. Allgemein liegt die Größenordnung Ḥalaf-zeitlicher Rundhäuser vielfach im Bereich zwischen ca. 3–5 m, wie etwa zahlreiche Beispiele aus Arpachiyah, Yarimtepe II, Tell Sabi Abyad I, Tell Turlu, Fıstıklı Höyük, Kurban Höyük oder Nevalı Çori zeigen. Die oft begrenzte Fläche solcher Rundhäuser wird dabei als Wohnbereich Ḥalaf-zeitlicher Kleinfamilien gedeutet. Aufgrund des Innendurchmessers des Rundbaus selbst heben sich die Rundbauten 1, 5 und wohl auch 7 am Tell Halaf mit je einem Innendurchmesser von ca. 7 m deutlich ab. Zusammen mit dem Anbau ergibt sich für Rundbau 5 eine komfortable Wohnfläche von ca. 49 m². Hinweise auf etwaige soziale Unterschiede lassen sich daraus jedoch bislang nicht ableiten8.

6

Zu den Indizien für eine Feuerstelle in Rundbau 5 siehe Becker 2012: 11 mit Anm. 9. Im Fall der Rundbauten 1, 4, 6 und 7 ist in Rechnung zu stellen, dass diese Gebäude nur partiell freigelegt werden konnten, somit unklar ist, ob nicht auch sie Anbauten besaßen, sich damit die Nutzfläche vergrößern würde. 8 Siehe z. B. Becker 2015: 88‒89, 395–402 oder Becker von Wickede 2018: 43–45 (mit weiterführender Literatur zu den genannten Vergleichsfundorten). ‒ Zur sozialen Organisation der Halaf-Zeit vgl. Akkermans 1993: 288–323 bzw. Frangipane 2007. 7

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Jörg Becker

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Zu den spätneolithischen Rundhäusern am Tell Halaf

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Breniquet 1996 Catherine Breniquet, La disparation de la culture de Halaf. Les origines de la culture d‘Obeid dans le Nord de la Mésopotamie, Paris. Frangipane 2007 Marcella Frangipane, Different Types of Egalitarian Societies and the Development of Inequality in Early Mesopotamia, in: World Archaeology 39/2, 151–176. Merpert / Munchaev 1993 Nikolai Ya. Merpert / Rauf M. Munchaev, Yarimtepe III: The Halaf Levels, in: Norman Yoffee / Jeffery J. Clark (Hrsg.), Early Stages in the Evolution of Mesopotamian Civilization. Soviet Excavations in Northern Iraq, Tucson / London, 163–205. Tsuneki / Miyake 1998 Akira Tsuneki / Yutaka Miyake, Excavations at Tell Umm Qseir in Middle Khabur Valley, North Syria. Report of the 1996 Season. Al-Shark 1, Tsukuba.

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Jörg Becker

Abbildungen

Abb. 1

Plan der Zitadelle des Tell Halaf nach dem Ausgrabungsstand von 1913 mit den primär prähistorischen Sondagen der Altgrabung (schraffiert). Die neuen Grabungsbereiche sind in verschiedenen Grautönen dargestellt. (Alle Abbildungen soweit nicht anders gekennzeichnet: © Tell Halaf-Grabung).

Abb. 2

Die kleineren Rundbauten 2 und 3 am Nordhang des Tell Halaf (Areal 6719). Ansicht von Süden. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Zu den spätneolithischen Rundhäusern am Tell Halaf

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Abb. 3

Rundbau 5 am Nordhang des Tell Halaf (Areal 6720).

Abb. 4

Rundbau 5 am Nordhang des Tell Halaf (Areal 6720). Ansicht der L-förmigen Abmauerung mit Verputz und Brandspuren einer Feuerstelle (?). Blick innerhalb des Tholos nach Südwesten.

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Abb. 5

Jörg Becker

Die spätneolithischen Rundhäuser 1–6 am Tell Halaf, M. 1:200 a) einfaches Rundhaus; b) mit Binnengliederung; c) mit rechteckigem Anbau; d) mit kreuzförmigem Grundriss, e) mit kreuzförmigem Grundriss und rechteckigem Anbau (Fs = Feuerstelle; wahrscheinlicher Eingang soweit möglich durch Pfeil markiert).

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Der „kulturelle Code“ des „aramäischen“ Gōzāna (Tall Ḥalaf) Gabriele Elsen-Novák / Mirko Novák ‒ Bern Der Tall Ḥalaf in Obermesopotamien ist insbesondere für seine Bauten und Bildwerke aus der Zeit des Herrschers Kapara bekannt, als er unter dem Namen Gōzāna (aramäisch GWZN, neuassyrisch Gu-za-na) Hauptstadt eines kleinen Fürstentums namens Palê / Bīt Baḫiani war (Abb. 1, 2). Obgleich stets außerhalb der ehemals hethitischen Einflusszone und des Verbreitungsgebietes der luwischen Hieroglyphenschrift gelegen, wird er doch aus guten Gründen dem „späthethitischen“ bzw. „syro-hethitischen“ Kulturraum der Eisenzeit zugerechnet.1 Zugleich gilt er als ein wichtiges frühes Zentrum der Aramäer, einer semitischen Population, deren Sprache für anderthalb Jahrtausende eine bedeutende Rolle in der Levante und in Mesopotamien spielte.2 Sosehr die Funde und Befunde des Tall Ḥalaf wichtige Impulse für die Diskussion um die Kultur der Aramäer und ihrer Kontakte zu den luwischen und aramäischen Fürstentümer der Levante einerseits sowie zum expandierenden neuassyrischen Reich andererseits gaben, so wenig erschöpfend sind diese Aspekte bislang geklärt worden.3 Selbst wenn uns voll bewusst ist, dass auch die folgenden Ausführungen daran nur minimal etwas ändern können, möchten wir uns doch der Frage widmen, ob und – wenn ja – in welcher Form das aramäische Gōzāna einen charakteristischen kulturellen Code aufwies und wie sich dieser kulturgeschichtlich verorten lässt. Im Rahmen eines kurzen Aufsatzes können natürlich nur einige Aspekte aufgegriffen und andiskutiert werden, eine ergiebige Behandlung des Themas muss an anderer Stelle erfolgen. Seit Max Freiherr von Oppenheim und seinen Mitarbeitern hat sich niemand um den Tall Ḥalaf und seine archäologischen Hinterlassenschaften derart verdient gemacht wie Lutz Martin. So initiierte und leitete er gemeinsam mit Nadja Cholidis das große und großartige Restaurierungsprojekt der im 2. Weltkrieg zerstörten Bestände des ehemaligen Tell Halaf-Museums in Berlin und schaffte dabei das schier Unglaubliche: die Zusammensetzung einer Vielzahl der scheinbar unwiederbringlich verlorenen Bildwerke.4 Parallel dazu erwirkte er gemeinsam mit Winfried Orthmann die Wiederaufnahme archäologischer Feldforschungen in dem mittlerweile durch moderne Überbauung akut gefährdeten Fundort, nahezu exakt 70 Jahre nach dem Ende der Arbeiten Oppenheims.5 Auch wenn diese neuen Ausgrabungen ebenso wie die alten kriegsbedingt abrupt beendet werden mussten, so haben sie doch wichtige 1

Gilibert 2013: 37. Zur Begrifflichkeit siehe zuletzt Novák 2019: 105. Zur Kultur und Geschichte der Aramäer siehe zuletzt ausführlich Lipiński 2000, Niehr 2014 und Younger 2016. 3 Novák 2013 und 2016. 4 Cholidis / Martin 2010 und 2011. 5 Baghdo et al. 2009 und 2012. 2

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Gabriele Elsen-Novák / Mirko Novák

Erkenntnisse zur Kulturgeschichte Obermesopotamiens erbracht. Es ist uns daher ein Anliegen und eine Freude, ihm, der uns als Freund und Kollege in all den Jahren der Zusammenarbeit auf dem Tall Ḥalaf sehr nahestand, die folgenden Gedanken zu widmen. Wir hoffen, dass sie sein Interesse und seine Zustimmung finden werden! Problematik, Grundüberlegungen und Fragestellungen Antike Gruppen wie „die“ Aramäer werden aus der heutigen Perspektive zumeist mit Ethnien gleichgesetzt, die wiederum definiert werden über eine gemeinsame Sprache und Kultur. Der europäische Nationalismus identifizierte Ethnien über biologische Abstammungslinien – ein Gedanke, der zumindest in der Wissenschaft längst widerlegt ist, sich aber im öffentlichen Bewusstsein nach wie vor hartnäckig hält. Stattdessen sind Ethnien als sich ständig wandelnde kulturelle und soziale Konstrukte zu verstehen. So kommt es in Umbruch- und Krisenzeiten zu Ethnogenesen, bei denen diverse Gruppierungen ungeachtet ihrer tatsächlichen Herkunft eine gemeinsame Abstammung konstruieren – oft über einen heros eponymos – und sich über eine gemeinsame Sprache, Religion oder sonstige kulturelle Normen (neu) definieren. Doch selbst nachdem sich eine ethnische Gruppe formiert hat, ist sie durch Zu- und Abwanderungen, durch externe Kulturkontakte aller Art oder weitere Faktoren ständigen Veränderungen und Neukonfigurationen unterworfen. Die meisten politischen Gebilde der Geschichte folgten eher selten sprachlichkulturellen Gegebenheiten; der multilinguale und multikulturelle Staat war vor dem 19. Jh. n. Chr. eher die Regel als die Ausnahme. Nicht selten war es primär eine das Königtum ins Zentrum stellende Ideologie, welche einem Staat bzw. Reich und seinen Bürgern eine zumindest politische Identität gab. Ganz besonders trifft dies auf Großreiche wie das Assyrische zu, durchaus aber auch auf kleinere Fürstentümer wie diejenigen des „späthethitischen“ Kulturraums, bei denen allenfalls das Onomastikon und die in den offiziellen Prunkinschriften verwendeten Sprachen und Schriften Auskunft über die „ethnische“ Zugehörigkeit zumindest der Eliten6 geben. Die Aramäer sind sprachlich wie kulturell ab dem späten 10 Jh. v. Chr. fassbar, wenngleich ihr Ethnikon in den Keilschriftquellen bereits seit dem 13. Jh. v. Chr. auftaucht.7 Darin finden sie zunächst als mobile, nomadisierende und räuberische Gruppen Erwähnung. Erst im 10. Jh. beginnen einige von ihnen, eigene territorial definierte Fürstentümer zu gründen oder die Macht in bereits existierenden Städten und Kleinreichen zu okkupieren. Andere Gruppen der Aramäer bleiben noch lange der nomadischen oder transhumanten Lebensweise verbunden und geraten dabei auch wiederholt in Konflikt mit den Sesshaften.

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Unter „Eliten“ sollen hier primär die politischen und ökonomischen Machthaber verstanden werden. Daneben gibt es verschiedene Leistungs- und Funktionseliten, so beispielsweise auch eine künstlerisch-intellektuelle. Unter dieser würden wir beispielsweise die Schreiber und ausführenden Künstler der „späthethitischen“ Fürstentümer verstehen. Diese müssen keineswegs derselben Identitätsgruppe angehört haben wie die Machtelite. Siehe hierzu unten. 7 Siehe hierzu ausführlich Lipiński 2000 und Younger 2016 sowie verschiedene Beiträge in Niehr 2014. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Der „kulturelle Code“ des „aramäischen“ Gōzāna (Tall Ḥalaf)

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Der frühe Siedlungsschwerpunkt der Aramäer lag einerseits in der nördlichen Levante – im Binnenland zwischen Śam’al im Norden und Damaskus im Süden – und andererseits in den Gebieten am Mittleren Euphrat und am Oberen Ḫābūr. Die materiellen Hinterlassenschaften der nordlevantinischen Fürstentümer waren in einem hohen Maße von der Kultur der luwisch dominierten Fürstentümer wie v. a. Karkamiš beeinflusst. Dies gilt insbesondere für die Architektur und Bildkunst, bei der es zunächst kaum möglich scheint, einen eigenständigen Beitrag der Aramäer an der „späthethitischen“ Kultur zu erkennen oder zu bestimmen, wo die Wurzeln einer von der luwischen unabhängigen aramäischen Kultur zu suchen seien. Was aber war es, was die frühen aramäischen Staatengründer an kulturellen Normen mitbrachten und woher stammen diese? Was kennzeichnete sie als Gruppe, unabhängig von der ursprünglichen Herkunft dieser Normen? Um diese Frage beantworten zu können, erscheint es sinnvoll, sich denjenigen aramäischen Fürstentümern zuzuwenden, die außerhalb des ehemals „hethitisch“ kontrollierten Raumes lagen und bei denen zumindest eine unmittelbare Übernahme von Normen der luwischen Nachbarn nicht a priori anzunehmen ist. Dies lenkt den Blick zwangsläufig auf Gōzāna, das auf dem Boden des ehemaligen Mittani-Reiches und der Westprovinz des mittelassyrischen Reiches gegründet wurde, also östlich der ehemaligen hethitischen Provinzen und des Verbreitungsgebietes der luwischen Sprache und Schrift. Die Einwanderung der Aramäer in diesen Raum kann chronologisch gut nachgezeichnet werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass zur Zeit des Tukultīapil-Ešarra I. (1114–1076 v. Chr.) „aramäische Aḫlamu“ (= nomadisierende Banden), die in die Westprovinzen des mittelassyrischen Reiches eindrangen und die es militärisch abzuwehren galt, v. a. am Mittleren Euphrat aktiv waren. Aššur-bēl-kala (1073–1056 v. Chr.) bekämpfte sie sehr heftig in „zahlreichen Kampagnen“8 zunächst ebenfalls am Euphrat,9 später dann aber auch am Fuß des Kaššiyari-Gebirges (= Ṭūr ‘Abdīn) bei Nabula (= Girnavaz nahe Nusaybin),10 sowie bei den Städten Ḫarrān11, Magrisi (= Ḥassaka) und Dūr-Katlimmu (= Tall Šēḫ Ḥamad)12. Sie hatten also seit den 60er Jahren des 11. Jh. v. Chr. im Ḫābūr-Gebiet Fuß gefasst, ohne jedoch bereits als sesshafte Herrscher von Städten in Erscheinung zu treten. Ihre Nachkommen jedoch gründeten schließlich mehrere Fürstentümer am Mittleren Euphrat, am Oberen Ḫābūr und am Oberen Tigris, die spätestens zur Zeit TukultīNinurta II. (966–935 v. Chr.)13 zumindest teilweise bereits über städtische Strukturen verfügten und sich vermutlich auch mit der hier ansässigen Bevölkerung vermischt hatten. Zumindest wird man annehmen dürfen, dass die okkupierten, wiederbesiedelten oder neu gegründeten Städte im Herrschaftsbereich der Aramäer eine

8

Grayson 1991: Aššur-bēl-kala 3: 5–6. Grayson 1991: Aššur-bēl-kala 6: 6–8. 10 Grayson 1991: Aššur-bēl-kala 7: iii 8b–9. 11 Grayson 1991: Aššur-bēl-kala 7: iii 20b. 12 Grayson 1991: Aššur-bēl-kala 7: iii 20b–29. 13 Grayson 1991: Tukultī-Ninurta II 5: 11–16. 9

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Gabriele Elsen-Novák / Mirko Novák

heterogene Bevölkerung aus Neuankömmlingen und Alteingesessenen aufwies, die vermutlich auch verschiedene Idiome sprachen. Die meisten der aramäischen Gruppierungen in Ḫanigalbat (= Obermesopotamien) wurden seit Adad-nērārī II. (911–891 v. Chr.) explizit als „Tēmaniden“14 bezeichnet, was entweder als die „südlichen (Stämme)“ zu übersetzen ist – dann aber kein örtliches Äquivalent der „nördlichen (Stämme)“ hätte15 – oder aber eine Verbindung zur bzw. mögliche Herkunft aus der Oasenstadt Taymā’ (assyr. te-ma-a-a Tema’ā16) im heutigen Saudi-Arabien andeutet (siehe hierzu unten). So sind in den assyrischen Quellen für die aramäisch sprechenden, zunächst nomadischen und später größtenteils sesshaften Bewohner Obermesopotamiens vom 12. bis zum 10. Jh. die Begrifflichkeiten „Aramäer“ und „Tēmaniden“17 bezeugt, zusätzlich benennt Aššur-nāṣir-apli II. (884–859 v. Chr.) etwas später den Herrscher von Bīt Baḫiāni als einen „Hethiter“.18 Kapara von Gōzāna, der einzige unabhängige aramäische Fürst Obermesopotamiens, der uns bislang eigene Inschriften hinterlassen hat, bezeichnet sein Herrschaftsgebiet wiederum als das Land „Palê“, einem Begriff, der in sonst keinen Quellen bezeugt und dessen Bedeutung unklar ist. Somit kursieren für dieselben Leute diverse Eigen- oder Fremdbezeichnungen! Es gibt nur wenige indirekte Hinweise darauf, dass sich die Aramäer selbst als Einheit gesehen und mit einem eigenen Ethnikon identifiziert hätten, zumindest nicht nach ihrer Sesshaftwerdung und Staatengründung; in der Regel definierte man sich dann nach der jeweiligen Stadt oder dem Fürstentum, aus dem man stammte. Alleine aus dieser sehr komplexen antiken Begrifflichkeit heraus wird deutlich, wie schwierig eine ethnische Definition „der“ Aramäer ist und wie wenig aussichtsreich es ist, nach deren spezifischer Kultur zu suchen. Welche Identität gaben sich die Leute selbst, wenn sie doch mit so verschiedenen und mehrdeutigen Begriffen bezeichnet wurden? Wenn dennoch im Folgenden von „den“ Aramäern die Rede ist und nach einem „kulturellen Code“ gesucht wird, dann deswegen, weil Kategorisierungen, so anfechtbar sie auch sind, letztlich benötigt werden, um eine Systematik kulturell definierter Gruppen vorzunehmen sowie die definierenden Merkmale zu bestimmen und deren Veränderungen zu erkennen. Besonders wichtig ist dies, um zu verstehen, wo die kulturellen Normen ihren Ursprung haben und wie diese in ein System integriert wurden, das letztlich für die Identitätsbildung relevant war. Da jedoch „Kultur“ ebenso wie „Identitätsgruppe“ als Prozesse zu verstehen sind – als Kategorien, die einer permanenten Entwicklung unterworfen und nie eine stabile Konstante waren –, muss der Fokus auf einen eng umrissenen Zeitraum beschränkt bleiben. Unter einem 14

Namentlich die Herrscher von Naṣibīna und Gidara, aber auch die bei Ḫuzirīna agierenden. Younger 2016: 230‒242 sieht ein Gegensatz der südlich des Kaššiyari-Gebirges siedelnden Tēmaniden zu dem nördlich des Gebirges gelegenen Bīt Zammāni. Bei letzterem gibt es jedoch keine äquivalente Stammesbezeichnung wie das zu erwartende „Śam’aliten“. 16 Cavigneaux / Ismael 1990: 346, Inschrift Nr. 2 iv 27. 17 Bīt Baḫiani wird zwar nicht explizit zu den Tēmaniden gezählt, jedoch alle anderen im Ḫābūr-Dreieck siedelnden Aramäer, weswegen eine Zugehörigkeit der Eliten Gōzānas zu dieser Stammesgruppe zumindest nicht unwahrscheinlich ist. 18 Grayson 1991: A.0.101.1: ii 21–23. Siehe dazu Dornauer 2010: 54. 15

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Der „kulturelle Code“ des „aramäischen“ Gōzāna (Tall Ḥalaf)

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„Aramäer“ ist im 10. Jh. v. Chr. etwas völlig anderes zu verstehen als im 7. Jh., als die meisten Aramäer politisch im Assyrischen Reich beheimatet waren und einen starken kulturellen Transformationsprozess durchlaufen hatten.19 Weiterhin prägten auch die Lebensumstände sehr maßgeblich die kulturellen Normen. So gab es bereits im 10. Jh. wie auch noch im 8. Jh. sesshafte neben nomadischen20 „Aramäern“, deren einzige wesentliche Gemeinsamkeit wohl in ihrer Sprache lag. Unser Augenmerk liegt im Folgenden daher ausschließlich auf den sesshaften, als Eliten von Kleinfürstentümern auftretenden „Aramäer“ des späten 10. Jh. und frühen 9. Jh. v. Chr. Ziel ist es herauszufinden, welche normativen Kräfte die Kultur dieser Leute geprägt haben und wie sie diese zu einem eigenen identitätsdefinierenden Code gewandelt haben. Aufgrund der Beschränktheit eines kurzen Aufsatzes werden im Folgenden lediglich einige besonders signifikante Aspekte anhand des Beispiels Gōzāna herausgegriffen und diskutiert. Schrift und Sprache Die ältesten Inschriften, die im aramäischen Gōzāna geschrieben wurden, sind in assyrischer Sprache und Keilschrift abgefasst (Abb. 3). Es handelt sich hierbei um diejenigen des Kapara auf den Bildwerken des West-Palastes. Verantwortlich hierfür zeichnete ein Schreiber mit dem akkadischen Namen Abdī-ilīya.21 Zwar ist nichts über diese Person bekannt, doch sein Name und der Umstand, dass er der Keilschrift einigermaßen kundig war, machen es wahrscheinlich, dass er aus dem Milieu der Verwaltung der vormaligen assyrischen Provinzmetropole (W)Aššukanni, nun Sikāni genannt, entstammte. In dieser hatte sich – anders als in den Regionen westlich des Ḫābūr-Gebietes – die Kenntnis der Keilschrift noch erhalten, wobei sogar gewisse sprachliche Veränderung des Assyrischen und paläografische Entwicklungen der Schrift vom mittel- zum neuassyrischen Duktus mitverfolgt wurden, man also an den Prozessen im assyrischen Kerngebiet partizipierte.22 Im Gegensatz aber zur sicher jüngeren Bilingue auf der Statue des Hadda-yiṯ’i (assyr. Adad-it’ī) aus Sikāni (Tall Faḫarīya),23 die in einem verhältnismäßig guten Assyrisch und korrekter Keilschrift gehalten ist, zeugen sowohl die Zeichen als auch die Sprache der KaparaInschriften von einem eher wenig sicheren Gebrauch derselben. Andreas Fuchs bemerkte hierzu: „Wenn er [Kapara] sich rühmt, in seinem Land der erste König gewesen zu sein, der solches getan habe, so darf man ihm das schon allein deshalb glauben, weil die teilweise unbeholfene Ausführung der Schriftzeichen für sich genommen bereits vermuten lässt, dass hier eher Anfänger als routinierte Schreiber am

19

Novák 2016. Siehe beispielsweise die Beschreibung der Kämpfe von Ninurta-kudurri-uṣur, König von Suḫu und Mari mit aramäischen Nomadenstämmen im 8. Jh. bei Cavigneaux / Ismael 1990: 346, Inschrift Nr. 2 iv 27. 21 Meissner 1933; Dornauer 2010: 50–52. 22 Dornauer 2010: 51. 23 Abou Assaf et al. 1982. 20

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Werk waren“.24 Es darf daher vermutet werden, dass zwar die Keilschriftkenntnis im 10. Jh. im Quellgebiet des Ḫābūr noch existent war, hier aber – im Gegensatz zu flussabwärts gelegenen Orten mit stärker assyrischem Gepräge wie Kaḫat, Ṭabête, Šadikanni oder Dūr-Katlimmu – nicht sehr häufig verwendet wurde und man auch nicht in sonderlich engem Austausch mit den Kanzleien in den Städten des assyrischen Kernlandes stand. Dies dürfte sich erst nach den Feldzügen Adad-nērārī II. und Assur-nāṣir-apli II. mit der daraus resultierenden Tributpflichtigkeit Gōzānas geändert haben, wie die Bilingue des Hadda-yiṯ’i bezeugt. Regelmäßige Korrespondenzen mit der Verwaltung des Oberherrn dürften hierfür verantwortlich gewesen sein. Warum aber bediente sich Kapara der Keilschrift und nicht des aramäischen oder phönizischen Alphabets oder der luwischen Hieroglyphen? Für die phönizische Schrift ist die Antwort einfach, da sie vor dem 8. Jh. v. Chr. schlichtweg nicht so weit in den Osten verbreitet gewesen sein dürfte, weswegen sie Kapara entweder unbekannt war oder aber von keinem verfügbaren Schreiber hätte genutzt werden können. Luwische Hieroglyphen sind östlich des Euphrattals, also außerhalb des Gebietes, das noch im ausgehenden 13. Jh. zum Hethitischen Großreich gehörte, nicht bezeugt und haben dort anscheinend nie Fuß fassen können. Was ist aber mit dem aramäischen Alphabet? Die Entwicklung und Verbreitung der aramäischen Schrift Die älteste aramäische Inschrift aus Gōzāna selbst fand sich auf einem kleinen Altärchen und datiert wohl ins frühe 9. Jh. v. Chr. (KAI 231).25 Sie ist aufgrund der Paläografie sicher älter als die um 840 v. Chr. entstandene Bilingue auf der Statue des Hadda-yiṯ’i (KAI 309).26 Es handelt sich bei diesen beiden Inschriften um zwei der ältesten bislang überhaupt bekannten Beispiele der aus dem phönizischen entwickelten aramäischen Alphabetschrift.27 Wenn Kapara in das 10. Jh. v. Chr. datiert – wofür zahlreiche Hinweise sprechen –,28 so stand ihm zu dieser Zeit keine Alphabetschrift zur Verfügung, da das Phönizische in Obermesopotamien nicht verfügbar und das Aramäische noch nicht entwickelt war. Im Umkehrverfahren stützt die ausschließliche Verwendung der Keilschrift durch Kapara (anders als dies bei Hadda-yi’ṯi der Fall war) folglich dessen Frühdatierung. Auch in anderen, levantinischen Fürstentümern musste vor der Etablierung der aramäischen Schrift auf andere Schriftsysteme zurückgegriffen werden. Ein Beispiel hierfür findet sich in Śam’al, in dem die älteste bekannte Königsinschrift des Kulamuwa (um 835 v. Chr.) in phönizischer Schrift und Sprache (KAI 24) und eine 24

Fuchs 2011: 354. Dankwarth / Müller 1988. 26 Zur philologischen und literaturgeschichtlichen Bedeutung der Inschrift siehe Gzella 2014: 72 passim und Gzella 2017: 235–236, zur historischen Dornauer 2010: 55–57. 27 Gzella 2014: 76–79, v. a. 78. 28 Novák 2009: 94–95; Dornauer 2010: 50–52; Fuchs 2011: 354; Novák 2013: 271; Younger 2016: 254–255. 25

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etwas spätere desselben Herrschers (KAI 25) in phönizischer Schrift und aramäischer Sprache verfasst wurde.29 Seine Nachfolger ließen ihre Inschriften zunächst ebenfalls in phönizischer Schrift und dem śam’alischen Dialekt des Aramäischen, dann ab der Mitte des 8. Jh. ausschließlich in (zentral-)aramäischer Schrift und Sprache anfertigen.30 Die ältesten (zentral-)aramäischen Inschriften aus der Levante datieren in das ausgehende 9. Jh. v. Chr., darunter z. B. diejenige des Zakkūr (KAI 202), des BarHadad von Bīt Agūsi (KAI 201)31 oder die Staatsverträge von Sfīre (KAI 222– 224).32 Ähnlich wie Kapara musste Kulamuwa von Śam’al folglich eine Schrift verwenden, die in seinem Herrschaftsgebiet bekannt war und für die er auf Schreiber zurückgreifen konnte. Die Herrscher von Śam’al hätten noch die Auswahl zwischen den in allen Nachbarstaaten verwendeten luwischen Hieroglyphen und dem damals bereits v. a. an der levantinischen Küste dominierenden phönizischen Alphabet. Da die in Śam’al gesprochene Sprache ein aramäischer Dialekt war, ließ sich dieser wesentlich besser im phönizischen Alphabet wiedergeben,33 aus dem sich dann das Aramäische entwickelte. Luwische Hieroglyphen wurden in keinem einzigen bekannten Fall für die Verschriftlichung einer semitischen Sprache verwendet.34 So wurden zwar in Śam’al einige wenige luwische Inschriften in Hieroglyphen verfasst,35 doch gilt dies nicht für die in semitischen Sprachen verfassten Königsinschriften. Aramaismen in den Inschriften Kaparas Trotz der Verwendung der assyrischen Schrift und Sprache zeigen die Inschriften Kaparas dennoch einige Besonderheiten. Dies betrifft v. a. die kurzen Vermerke auf den sogenannten „Kleinen Orthostaten“ auf der Rückseite des West-Palastes, bei denen einige die Inschrift É.GAL-lim U „Tempel des Wettergottes“ tragen (Abb. 3). In einigen Fällen wurde versucht, diese Inschriften zu tilgen, zudem findet sich in zwei Fällen zusätzlich – jedoch in anderer Ausrichtung – die Beischrift „Palast des 29

Niehr 2010: 193. Zu den Inschriften selbst siehe Tropper 1993, zu deren sprachlicher Einordnung Gzella 2017: 237. 31 Um 800 datiert die Votivinschrift für den Gott Melqart aus Brēǧ bei Aleppo mit der Erwähnung des Königs Bar-Hadad von Aram. Siehe hierzu Niehr 2010: 193 mit weiterführender Literatur. Dass es sich dabei aber nicht um einen der homonymen Könige von Aram-Damaskus sondern um einen Fürsten von Bīt-Agūsi gehandelt haben muss, lässt sich aus seiner Genealogie zweifelsfrei herauslesen. Siehe hierzu Lipinski 2000: 214 und Younger 2016: 533–536. Für den Hinweis auf diese Inschrift als eine der ältesten in aramäischer Schrift aus der Levante danken wir Florian Lippke, Fribourg. 32 Gzella 2017: 236. 33 Zur Stellung des Śam’alischen und seine Verdrängung durch den zentralaramäischen Dialekt siehe Gzella 2014: 74–75. 34 Immerhin zeigt der Umstand, dass zahlreiche phönizische und aramäische Inschriften aus Śam’al wie luwische Hieroglyphen erhaben und nicht – wie beim Aramäischen sonst üblich – eingeschnitten wurden, einen luwischen Kultureinfluss, siehe hierzu Niehr 2010:193. 35 Younger 2016: 391. 30

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Kapara“. Wiewohl daraus eine Nachzeitigkeit der letzteren gegenüber der ersteren belegt ist, gibt es doch gute Gründe anzunehmen, dass bereits die originale Inschrift auf Kapara zurückgeht.36 Dies würde bedeuten, dass Kapara die Reliefs offensichtlich für einen ursprünglich geplanten Wettergott-Tempel herstellen ließ, sich dann aber für deren Verwendung im Palast entschied. Dass durch die Inschrift keine Doppelfunktion des Gebäudes als Tempel und als Palast intendiert war, zeigt sich an der partiellen Ausradierung der Tempelinschriften. Das besondere an den Tempelinschriften ist nun aber die Verwendung des Begriffs ekallum für „Tempel“. Im Akkadischen ist diese niemals gebräuchlich, hier wird ein Tempel immer als É = bītum bezeichnet. In den westsemitischen Sprachen dagegen ist das sumerisch-akkadische Lehnwort ekallum für „Tempel“ durchaus gebräuchlich, so im Ugaritischen als hkl und im Hebräischen hekal. Weiterhin wird weder hier noch in der großen Inschrift Kaparas auf der weiblichen Monumentalstatue im Eingang des West-Palastes ein Göttername mit dem im Akkadischen üblichen Götterdeterminativ geschrieben.37 Auch in diesen Phänomenen wird ein westsemitischer und damit levantinischer Einfluss spürbar. Begrifflichkeit der aramäischen Schrift und Herkunft der obermesopotamischen Aramäer Die einzige annähernd zeitgenössische Begrifflichkeit, die für die aramäische Schrift belegt ist, findet sich in der Inschrift Karkamiš A15b des Yariri (ca. 800 v. Chr.).38 Die vier Schriften, derer Beherrschung sich der Verfasser rühmt, sind die „Schrift der Stadt [Karkamiš]“, also die luwischen Hieroglyphen, die „Schrift der Stadt Ṣūr/Tyros“, also das Phönizische Alphabet, die „Schrift der Stadt und des Landes Assur“, also die Keilschrift, sowie die ta-i-ma-ni-ti-ha (URBS) SCRIBA-li-ti „Schrift der Stadt Taima(ni)“. Während F. Starke letztere wohl korrekt als aramäisches Alphabet identifiziert und den Begriff mit den Tēmaniden Obermesopotamiens verbindet,39 vermutet K. L. Younger einen Bezug zum Südarabischen Alphabet, ausgehend von tymn „Süden“.40 Beidem spricht jedoch entgegen, dass das Stadtdeterminativ auf einen Ort verweist, wie dies auch bei den anderen Schriften der Fall ist. Damit muss die Stelle folglich als die „Schrift der Stadt Tayma(n)“ zu lesen sein. Wenn sich die Inschrift folglich auf die einzige etymologisch damit zu verbindende Stadt, nämlich Taymā’ in Nord-Arabien, bezieht, dann muss mit deren Schrift aber dennoch das aramäische und nicht das südarabische Alphabet gemeint sein, da letzteres in der Nordlevante und Obermesopotamien zu dieser Zeit gänzlich unbekannt war.41 Das aber würde wiederum bedeuten, dass sich das aramäische Alphabet in Nord-Arabien entwickelt hätte, wofür es gegenwärtig keinerlei Evidenz gibt. Wenn 36

Dornauer 2010: 51. Dornauer 2010: 51, Anm. 104. 38 Hawkins 2000: 130–133. 39 Starke 1998. 40 Younger 2014. 41 Zudem wäre das in der Zeit Yariris bereits verbreitete aramäische Alphabet in dessen Inschrift unerwähnt geblieben, was sehr unwahrscheinlich ist. 37

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sich die Stelle jedoch auf die obermesopotamischen Tēmaniden beziehen sollte, dann läge die Konsequenz darin, dass die aramäische Schrift nicht in der Levante, sondern in Obermesopotamien entwickelt worden wäre, was zumindest mit den datierten Textzeugnissen in Einklang stünde. Zudem würde aufgrund des Stadtdeterminatives anzunehmen sein, dass der Name der obermesopotamischen Tēmaniden möglicherweise von der Stadt Taymā’ abzuleiten wäre und dort ihre ursprüngliche Heimat gelegen hat. Zwar kann hier nicht geklärt werden, ob diese Vermutung zutrifft, doch spricht einstweilen einiges für sie, nicht zuletzt die Provenienz der ältesten Zeugnisse des aramäischen Alphabets aus der Region um Gōzāna. Was nun die Sprache anbetrifft, so deuten die Hinweise darauf, dass sich das Aramäische aus den kanaanäischen Idiomen der Bronzezeit entwickelt hat.42 Dies würde grundsätzlich darauf verweisen, dass die Aramäer Nachkommen der bronzezeitlichen Bevölkerung der Levante waren, die aufgrund der schwierigen Lebensumstände am Ende der Spätbronzezeit ihre sesshafte Lebensweise aufgegeben und eine nomadische übernommen haben. H. Sader spricht in diesem Zusammenhang von einem „population continuum“.43 Wie aber würde das mit einer Begrifflichkeit zusammengehen, die mit einer nordarabischen Oasenstadt zusammenhängen könnte? Denkbar wäre ein Szenario, in dem sich ehemalige Bewohner levantinischer Siedlungen diversen nomadischen Gruppen anschlossen, die wiederum aus den Wüstengebieten Nordarabiens stammten. Aus dieser heterogenen und multilingualen Population dürfte sich im Zuge einer Ethnogenese eine neue Identitätsgruppe formiert haben, die wir als „Aramäer“ kennen und die sich in verschiedene Stämme gliederte. Einer dieser Stämme wäre in Erinnerung an eine mögliche Abstammung nach der Stadt Taymā’ benannt worden. Es versteht sich, dass es sich bei dem Szenario um eine nur schwer belegbare Hypothese handelt. Architektur Obgleich die neueren Ausgrabungen zeigen konnten, dass es offenbar vor der Gründung des aramäischen Fürstentums eine Besiedlung der frühen Eisenzeit auf dem Tall Ḥalaf gab, ist es dennoch gerechtfertigt, von einer Neugründung durch die Aramäer zu sprechen. Der Ort war zuvor offensichtlich relativ klein und – soweit sich dies nach dem gegenwärtigen Forschungsstand sagen lässt – nur auf Teile der späteren Zitadelle beschränkt. Mit den Baumaßnahmen der Aramäer wurde die funktionale Topografie des Ortes grundlegend verändert: Der Ort einer Nekropole mit angrenzender Wohnbebauung wurde für den Bau des West-Palastes genutzt. Die Zitadellenmauer und die Befestigung der Unterstadt scheinen etwa gleichzeitig damit errichtet worden zu sein, wodurch das Layout der Stadt definiert wurde (Abb. 2). Auch ist der Name GWZN / gu-za-na vor dem 10. Jh. v. Chr. nicht bezeugt, er dürfte aramäisch zu etymologisieren sein.

42 43

Gzella 2014: 71. Sader 2014: 20–21. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Das Programm der bewussten Neugründung einer neuen Hauptstadt im Zuge der Staatengründung ist bei auffällig vielen aramäischen Fürstentümern zu beobachten, so in Bīt Gabbār (Śam’al), Bīt Agūsi (Arpad) und Bīt-Zammāni (Amida) sowie bei den Tēmaniden (Naṣibīna und Gidara). Nennenswerte Ausnahmen sind Aram (Damaskus), Lu’aš (Ḥamat und Ḫaḏarik) und Bīt Adini (Til-Barsip). Die meisten luwisch-sprachigen Fürstentümer wie Hiyawa (Adana), Karkamiš oder Melid verzichteten dagegen wiederum auf solche Hauptstadtgründungen und nutzten bereits in der Bronzezeit existierende Städte als Residenzen. Auch hier gibt es einige wenige Ausnahmen wie P/Walastin (Kunulua), das aber möglicherweise aus einer Siedlung von ägäischen Immigranten hervorgegangen ist. Auffällig ist, dass offenkundig in den meisten aramäischen Fürstentümern, die Residenzstädte gründeten, die alten regionalen Hauptorte mit ihren traditionsreichen Kultstätten und Tempeln als religiöse Zentren weiter fortbestanden und nicht etwa ersetzt wurden.44 Dies war – wie wir noch sehen werden – in Bīt Baḫiāni mit Aššukanni/Sikāni der Fall, aber auch in Bīt Agūsi (Aleppo) und vermutlich Bīt Gabbār (Gercin ? Tilmen Höyük ?). Die luwischen und aramäischen Hauptstädte wiesen einige Charakteristika auf, die sie miteinander verbindet, unabhängig von der Frage, ob es sich um Neugründungen oder um alte Städte handelte und ob sie von aramäisch- oder luwischsprachigen Eliten beherrscht wurden.45 Zuallererst ist die Existenz einer ummauerten, erhöhten Zitadelle zu nennen.46 Auffällig oft lag diese – wie auch in Gōzāna – peripher im Stadtgebiet, zumeist in direkter Nähe zu einem Fluss. Dies ermöglichte einerseits eine problemlose Wasserversorgung und andererseits einen schnellen Fluchtweg aus der Stadt im Falle eines Angriffs oder Aufstandes. Weiterhin sind die „späthethitischen“ Zitadellen durch eine Zweiteilung gekennzeichnet mit einem tiefer gelegenen äußeren und einem höheren inneren Bereich, beide durch Mauern voneinander getrennt. Solche Zitadellen sind vor der Eisenzeit in Vorderasien nicht bezeugt und unterscheiden sich auch von den zeitgleichen Zitadellen der assyrischen Residenzstädte. Da auch im obermesopotamischen Raum keine gesicherten Vorläufer der mittanischen und mittelassyrischen Zeit belegt sind, muss die Frage nach der Genese dieser Form offenbleiben. Immerhin könnte das mittanische Ta’idu oder das mittanische und großreichszeitliche Karkamiš dabei eine gewisse Rolle gespielt haben, ebenso aber auch das großreichszeitliche Ḫattuša. Während also die Zitadelle von Gōzāna in ihrer spezifischen Ausprägung als ein möglicherweise aus dem Westen stammendes urbanes Element darstellte, zeigt die äußere Stadtform eines ummauerten Rechteckes mit einer peripheren Zitadelle durchaus Ähnlichkeiten zu mittelassyrischen Städten wie z. B. Dūr-Katlimmu am Unterlauf des Ḫābūr.47 Die beherrschenden Baukörper in der Monumentalarchitektur des „späthethitischen“ Kulturraumes sind der Antentempel (inklusive seiner Sonderform des 44

Novák 2004. Siehe hierzu allgemein Novák 2014. 46 Zu Zitadellen im Alten Orient siehe Novák 2018. 47 Kühne 2013: 241, Fig. 4 45

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Migdal-Tempels) und das Hilāni als Palastform (Abb. 4). Ersterer ist in Gōzāna bislang nicht bezeugt, so dass sich eine weitergehende Diskussion an dieser Stelle erübrigt. Letzteres dagegen wird durch das bedeutendste Gebäude des Ortes in aramäischer Zeit repräsentiert. Die Literatur zu dieser Bauform ist sehr mannigfaltig, so dass eine weitere Behandlung hier nicht erfolgen muss.48 Wichtig zu erwähnen ist, dass sie offenkundig in der Nordlevante, vermutlich sogar im Gebiet am Ostrand des Amanus zwischen Alalaḫ im Süden und Tilmen Höyük bzw. Śam’al im Norden, während des 2. Jt. v. Chr. entstanden ist und sich im 10. und 9. Jh. im „späthethitischen“ Kulturraum verbreitet hat. Die östlichsten Vertreter – abgesehen von späteren assyrischen Adaptionen – stammen aus Gōzāna und Sikāni sowie aus Tall Šēḫ Ḥassan am Euphrat. Zwischen den obermesopotamischen Vertretern und denen der Nordlevante lassen sich einige geringe Unterschiede festmachen, doch prinzipiell handelt es sich um denselben Bautypus.49 In der Architektur Gōzānas trafen folglich westliche Elemente wie die zweigeteilte, höhengestaffelte Zitadelle und das Hilāni auf lokale obermesopotamische wie den rechteckigen Stadtplan. Die periphere Lage der Zitadelle lässt sich gleichermaßen im bronzezeitlichen Obermesopotamien wie auch in Karkamiš beobachten. Bestattungssitten Das Auftreten neuer Bestattungssitten wird in der archäologischen Forschung oft als Indikator für Immigration und ethnische Veränderungen gesehen. Das gilt insbesondere beim Wechsel von Körper- zu Brandbestattungen oder vice versa.50 Ein prominentes Beispiel hierfür ist die frühe Eisenzeit in der Levante, in der Brandbestattungen – anders als in der Bronzezeit – in größerer Anzahl nachweisbar sind.51 Dieser Umstand wird nicht selten auf die Zuwanderung anatolischer Bevölkerungsgruppen zurückgeführt, da sich in Anatolien zur Zeit des Hethitischen Großreiches sowohl textliche als auch archäologische Hinweise auf Kremation finden.52 Und tatsächlich scheint das Auftreten von Brandbestattungen vor allem in solchen Städten der eisenzeitlichen Levante mit luwisch-sprachigen Eliten dies zu bestätigen. Namentlich zu nennen sind die beiden Friedhöfe in bzw. bei Karkamiš (Yunus53 und Deve Höyük54) sowie diejenigen von Ḥamāth (Ḥamā selbst55 und das nahegelegene Rasm at-Tanǧāra56). Der letztgenannte Friedhof datiert als einziger bereits in die ausge48

Schmid / Novák 2010; Osborne 2012; Novák 2014: 265–267. Schmid / Novák 2010: 543. 50 Novák 2003. 51 Zu Brandbestattungen im syro-mesopotamischen Kulturraum des 1. Jt. v. Chr. siehe Christian 2011 und Tenu 2009. 52 Siehe beispielsweise Woolley 1955: 202. Zu anatolischen Bestattungssitten im Allgemeinen siehe Orthmann in: Hrouda / Orthmann / Strommenger 1957‒71: 603‒605, zu Ilica als einem Beispiel für einen hethitischen Brandfriedhof siehe Orthmann 1967. Zum hethitischen Bestattungsritual für den König siehe Haas 2000. 53 Woolley 1939‒40. 54 Moorey 1980. 55 Riis 1948. 56 Athanassiou 1979. 49

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hende Spätbronze- und beginnende Eisenzeit und weist einige Beigaben auf, die nach Auskunft des Ausgräbers auf anatolische Vorbilder verweisen sollen. Ob tatsächlich ein Zusammenhang von anatolischer Herkunft bzw. ethnischer Zugehörigkeit und der Sitte der Kremation besteht, bleibt allerdings fraglich; zu wenig ist zu Bestattungssitten in aramäischen Siedlungsgebieten bekannt. Immerhin zeigt der Befund von Būr-Marina (Tall Šiyuḫ Fawqānī), dass offensichtlich auch unter mutmaßlich aramäisch-sprachigen Gruppen die Kremation populär war, ohne dass ersichtlich wird, ob dies auf einen luwischen Kultureinfluss zurückzuführen ist.57 Es lohnt, sich den Befund in Gōzāna daraufhin anzuschauen. In Obermesopotamien scheint während der gesamten Bronzezeit die Inhumation die dominierende Bestattungssitte gewesen zu sein. Vereinzelte Brandbestattungen fanden sich in den mittelassyrischen Orten Tall Ṣabī‘ Abyaḍ58 am Balīḫ und Tall Muḥammad Diyab59 im Ḫābūr-Dreieck, in beiden Orten neben zahlenmäßig dominanten Körperbestattungen. Die geringe Anzahl lässt keinen Schluss darauf zu, welchen Hintergrund die Kremation an diesen beiden Orten hatte, ob es sich dabei um singuläre Phänomene handelte oder ob die Sitte doch von einem Teil der lokalen Bevölkerungen praktiziert wurde. Die zahlreichen Körperbestattungen, die an Fundorten der ausgehenden mittelassyrischen Zeit wie Tall Faḫarīya,60 Tall Ḫuēra61 oder Tall Šēḫ Ḥamad gefunden wurden, lassen jedoch eine nahezu ausschließliche Praxis der Körperbestattung in der Region vor der Jahrtausendwende vermuten. Daran änderte sich hier grundsätzlich auch während der Eisenzeit wenig, ehe erst spät in der neuassyrischen Zeit Brandbestattungen auftraten.62 Die prominenteste Ausnahme stellt scheinbar der Tall Ḥalaf/Gōzāna dar, in dem scheinbar gleichzeitig Körper- und Brandbestattungen praktiziert wurden: Erstere sind in den beiden aufwändig gemauerten Grüften nordwestlich des West-Palastes bezeugt, letztere unter den zwei kleinen Räumen mit Ahnenkultbildern.63 Dies ließ daher vermuten, dass andere als chronologische Gründe für das Nebeneinander beider Bestattungsformen verantwortlich waren, wiewohl ethnische sich auch nicht erkennen ließen. Die neuen Ausgrabungen haben indessen dieses Bild revidiert. Betrachten wir zunächst die Körperbestattungen: Zu erwähnen sind hier v. a. die Grüfte und Gräber, die nordwestlich und nordöstlich des West-Palastes entdeckt wurden. Bereits bei den alten Ausgrabungen kamen zwei aufwändig gemauerte Lehmziegelgrüfte nordwestlich des Kapara-Baus zum Vorschein, von denen eine antik ausgeraubt, die andere jedoch weitgehend intakt vorgefunden wurde.64 Die südliche, tiefer gelegene der beiden Grüfte wurde von den Ausgräbern als die ältere der beiden angesehen und der „Altbauperiode“ des West-Palastes zugeordnet (Abb. 5). Tatsächlich aber handelt es sich, den neuen Erkenntnissen zufolge, 57

Tenu 2009. Akkermanns / Wiggermann 2015: 103–107. 59 Sauvage 2005. 60 Bartl / Bonatz 2013: 277–280. 61 Klein 1995: 186–188. 62 Kreppner 2008. 63 Orthmann 2002: 47; Novák 2003: 66. 64 Zur Beschreibung siehe Orthmann 2002: 47–50. 58

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Der „kulturelle Code“ des „aramäischen“ Gōzāna (Tall Ḥalaf)

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bei dem „Altbau“ um die Fundamente des von Kapara errichteten Palastes, was jedoch an der Vorzeitigkeit der Gruft gegenüber Kapara nichts ändert. Die zeitliche Stellung der nördlichen, weitgehend ausgeraubten Gruft kann trotz ihrer 1,22 m höheren Gründungstiefe nicht genauer bestimmt werden, da die stratigrafischen Beobachtungen hierzu recht unklar sind und auch die damalige Morphologie des Geländes einen Höhenunterschied zur südlichen Gruft bedingt haben könnte. Ein wichtiges weiteres Argument für eine Datierung beider Anlagen vor Kapara ergibt sich nun durch mehrere weitere Gräber, die während der neuen Ausgrabungen im nördlichen und nordöstlichen Umfeld des West-Palastes freigelegt wurden, darunter ein relativ aufwändiges ungestörtes Lehmziegelkistengrab mit Grabinventar (Abb. 6).65 Diese gehörten ganz offenkundig zu einer Nekropole, die in diesem Bereich des Ortes lag und bei der Errichtung des Westpalastes und des Aufgangs vom Skorpionentor nicht nur aufgegeben und überbaut, sondern partiell sogar zerstört wurde. Dieser wenig respektvolle Umgang schließt eine kulturelle Beziehung der Erbauer des West-Palastes zu der in dem Friedhof bestatteten Bevölkerung aus. Ein Datierungsansatz in die ausgehende mittelassyrische Zeit wird durch die Grabarchitektur, die Beigaben und Radiocarbondaten nahegelegt. Die beiden Grüfte nordwestlich des Westpalastes könnten durchaus Teil derselben Nekropole gewesen sein; dafür sprechen die identische Bestattungsform und die Nähe zu den neu entdeckten Gräbern.66 Die Grüfte wären architektonisch gesehen reichere Varianten der Lehmziegelgräber, würden also soziale Abstufungen indizieren. Trotz der gegenüber dem West-Palast früheren Datierung wurde die südliche ältere Gruft in jüngeren Abhandlungen wiederholt in einer funktionalen Beziehung zum West-Palast des Kapara gesehen und ideologische Zusammenhänge rekonstruiert.67 Tatsächlich nahm der Palast nicht nur keinerlei Rücksicht auf die Nekropole, sein Bau kann sogar als grundlegender Bruch mit der Ortstradition aufgefasst werden. Dies gilt durchaus auch für die südliche Gruft. Annähernd zeitgleich mit dem West-Palast wurden im Süden der Zitadelle zwei einräumige, oberirdische Bauten angelegt, die in neuassyrischer Zeit unter einer monumentalen Lehmziegelterrasse begraben wurden.68 In ihrem Inneren standen zwei Statuen von sitzenden Frauen, unter denen sich Urnen mit Leichenbrand und Beigaben fanden (Abb. 7).69 Die relative Datierung zum West-Palast ergibt sich einerseits durch die neuassyrische Überbauung, andererseits durch die stilistische Nähe der Bildwerke zur Rundplastik der Kapara-Zeit (s. u.). Ob drei weitere bei den Altgrabungen freigelegte, architektonisch ähnlich aufgebaute Anlagen unmittelbar östlich des Zitadellentors ebenfalls als Grabüberbauten zu deuten sind, wie dies Langenegger vorgeschlagen hat, lässt sich aufgrund der dürftigen Befundlage nicht entscheiden.70 Im Bereich des „Kultraums“ im Süden der Unterstadt wurden zwar 65

Heitmann 2012. Novák 2013: 266. 67 Gilibert 2013; Younger 2018. 68 Martin 2010. 69 Orthmann 2002: 52–53. 70 Orthmann 2002: 50–51. 66

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keine Bestattungsreste gefunden, so dass unklar ist, ob es sich dabei gleichsam um den Überbau eines Grabes handelte, doch legen dies die Statuen und sonstigen Inventare des Gebäudes nahe.71 Auf alle Fälle scheint es, als wären Brandbestattungen in diesem Ort zeitlich auf die Periode des aramäischen Fürstentums beschränkt: Weder gibt es den Nachweis von Kremation vor den Bauaktivitäten Kaparas, noch in der Zeit nach der Einverleibung der Stadt ins Neuassyrische Reich. Es muss jedoch betont werden, dass der Befund insgesamt quantitativ wenig aussagekräftig ist. Immerhin kann festgehalten werden, dass die Sitte der Brandbestattungen in Gōzāna eine intrusive in der Region war, die auf keine erkennbare lokale Tradition fußte und auch nur auf eine relativ kurze Zeitspanne beschränkt gewesen zu sein scheint. Am selben Ort wurden kurz vor den mit Kapara verbundenen Bauaktivitäten Körperbestattungen praktiziert, die denen im nahegelegenen Tall Faḫarīya72 weitgehend entsprachen. Auch wenn ausgeschlossen werden kann, dass das Auftreten von Brandbestattungen in Gōzāna auf eine Zuwanderung anatolischer Bevölkerungsgruppen zurückzuführen ist, so sind sie doch ganz offenkundig mit den kulturellen Veränderungen verbunden, die mit der Gründung des aramäischen Fürstentums einhergingen. Ihren Ursprung scheint die Sitte der Kremation zumindest während der frühen Eisenzeit in der Nordlevante gehabt zu haben, wie die Befunde in Karkamiš und Ḥamāth nahelegen. Die Frage stellt sich nun, ob mit der Bestattungsform auch weitergehende Vorstellungen aus der Levante übernommen wurden. Hierzu lohnt sich ein genauerer Blick auf die beiden Statuen, die über den Urnen aufgestellt waren. Ahnenkultstatuen In den beiden Anlagen unter der Lehmziegelterrasse waren zwei Sitzbilder aufgestellt, eine davon die sogenannte „Große Sitzende“.73 Alleine der Zusammenhang mit den darunter gelegenen Urnen lässt bereits eine Deutung als Abbilder der hier Bestatteten und damit als Ahnenkultbilder vermuten. Dies wird umso deutlicher, wenn man die Bildwerke mit zwei Statuen vergleicht, die beiderseits des Einganges der alt- und mittelsyrisch zu datierenden Königsgruft von Qaṭna aufgestellt waren.74 Doch betrachten wir zunächst die beiden Statuen im Detail, denn sie unterscheiden sich stilistisch relativ stark voneinander. Bei der „Großen Sitzenden“ (Figur A1) handelt es sich um eine 1,92 m x 0,82 m x 0,95 m messende, im Unterkörper geradezu scharfkantig blockhaft wirkende, sitzende weibliche Figur im kurzärmeligen, langen Gewand; die Arme angewinkelt, die Unterarme auf den Schoß gebettet (Abb. 8). Während ihre linke Hand flach auf dem Knie ruht, hält sie in ihrer Rechten eine kleine Schale, die vermutlich der Auf71

Orthmann 2002: 53–55. Bartl / Bonatz 2013. 73 Orthmann 1971: 126; Bonatz 2000: 15, 28–29, Tf. V B5 und B4; Orthmann 2002: 89–90; Cholidis / Martin 2010: 211–219 und Nr. 28. 74 Cholidis / Martin 2010: 211–219 und Nr. 28. 72

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nahme von Trankopfern oder anderen Opfergaben diente. Der scheinbar zylindrische Fuß der Schale75 stellt vermutlich eher die massive Verbindung zum blockhaften Unterkörper der Figur da. Unter dem langen Rock, der von einem Fransensaum – einem Zierband mit eingeritztem Fischgrätmuster – abgeschlossen wird, kommen ihre nackten Füße zum Vorschein. Ein Rücksprung im Stein impliziert eine Unterschneidung des Rockes. Die Füße ruhen flach auf einer Art Hocker, der in seiner blockhaften Gestaltung derjenigen des Unterkörpers entspricht. Er lässt sich lediglich durch unten mittig in die Front und die Seitenflächen gearbeitete Aussparungen im Stein erkennen. Der Stuhl, auf dem die Frau sitzt, ist von diesem Hocker durch eine kräftige Einkerbung getrennt. Vierkantige Beine, an den drei sichtbaren Seiten durch eine Querstrebe verstärkt, tragen eine ebenso kantige Sitzfläche, die mit einem gewebten Stoff überzogen zu sein scheint, wie es eine eingeritzte Gitterverzierung an den Flanken der Sitzfläche vermuten lässt. Beine, Querstreben und Sitzfläche sind nicht vollplastisch, sondern reliefartig aus dem Steinblock herausgearbeitet und unterstützen dadurch den blockhaften Charakter des unteren Figurenbereiches. Im Gegensatz hierzu ist der Oberkörper mit den breiten Schultern stärker gerundet, auch wenn die flache Front keinerlei Ausformung von Brüsten erkennen lässt. Die Arme, die unter den kurzen Ärmeln mit ähnlichem Zierbortenabschluss wie beim Rock hervorkommen, zeigen ebenfalls deutlich gerundete Formen sowie eine mehr organisch anmutende Untergliederung. Beidseitig verläuft je eine Zierborte mit dem eingeritzten Fischgrätmuster vom Abschlusssaum des Ärmels bis über die Schulter nach oben. Zum Hals hin ist kein Gewandabschluss erkennbar, stattdessen zeigt sich hier das Schlüsselbein deutlich als abgerundete, V-förmige Zurücksetzung des Halsbereiches. Trotz des langen Halses ist der relativ große, rundlich wirkende Kopf durch das Haupthaar fest mit dem Körper verbunden. Vom Schläfenbereich fallen vor den großen Ohren – vollplastisch ausgearbeitet – zwei gedrehte Haarlocken auf die Brust herab, deren einzelne Strähnen durch schräge, leicht wellenförmige Ritzlinien dargestellt werden. Das in der Frontfläche fast dreieckig erscheinende Gesicht mit dem spitzen, scharfkantigen Kinn besitzt eine leicht überdimensionierte, breite Nase und mandelförmige, durch Wülste gerahmte Augen mit leicht hervortretenden Augäpfeln. Der gebogene, weit vorstoßende Nasenrücken geht unmittelbar in die Linie der fliehenden, niedrigen Stirn über, die weitestgehend von der breiten Haarkalotte verdeckt wird. Das mittig gescheitelte Haar, zeigt sich hier als eingeritzte Locken und fällt am Hinterkopf als wellige Ritzlinien mit eingedrehten Endlocken bis auf den Rücken hinunter. Der breite Mund der „Großen Sitzenden“ ist nur flüchtig ausgearbeitet; eine dünne Kerbe trennt die schmalen, nur leicht wulstigen Lippen voneinander. Eine detaillierte Ausarbeitung der Finger und Zehen mit annähernd naturalistischer Angabe der Knöchel und vor allem der Finger- bzw. Fußnägel steht der ansonsten eher groben Körperwiedergabe entgegen. Die beschriebenen langen Haarlocken sowie die Bartlosigkeit können als deutlichen Hinweis dafür gesehen werden, dass es sich hier um eine weibliche Figur handelt, auch wenn die Brüste nicht herausgearbeitet worden sind.

75

Moortgart 1955: 35. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Anders ist dies bei der zweiten in gleicher Pose sitzenden Ahnenkultfigur (Figur A2): Sie ist zwar ebenfalls blockhaft gearbeitet und in ihrem geschlossenen Umriss der „Großen Sitzenden“ eng verbunden,76 besitzt aber weitaus stärker gerundete Formen als diese (Abb. 9). So sind bei ihr die Brüste deutlich erkennbar. Während bei der „Großen Sitzenden“ alle vier Ansichtsseiten quasi als selbständige Reliefs aufgefasst werden können, die zumindest im Unterkörperbereich geradezu rechtwinklig aufeinanderstoßen,77 besitzt die zweite Figur einen stärker rundplastischen Charakter. Sie sitzt ebenfalls auf einem Stuhl mit vierkantigen Beinen und Querstreben – hier in unterschiedlichen Höhen angegebenen, die jedoch eine geringere Reliefhöhe aufweisen als bei der „Großen Sitzenden“. Auch fehlt die Musterung der Sitzfläche. Der Fußschemel ist gleichermaßen gestaltet wie der Stuhl selbst und besitzt lehnenartige Erhöhungen an den Seiten. Im Gegensatz zur „Großen Sitzenden“ füllt die Frau die gesamte Sitzfläche des Stuhles aus,78 was den geschlossenen Umriss der Figur zusätzlich unterstreicht. Sie trägt ein gleichermaßen langes, nun aber einfaches glattes Gewand, dessen Schnitt weniger gut auszumachen ist; links zeigt sich lediglich ein Armloch, während vom rechten Unterarm ein doppelt eingefasster Faltensaum herabzufallen scheint. Der Betrachter hat eher den Eindruck, dass es um den Körper geschlungen wurde und diesen wie auch die Arme geradezu verhüllt. Am runden Halsausschnitt dagegen zeigt sich eine dreifach untergliederte Bortenverzierung, bei der es sich jedoch auch um eine dreifache Perlenhalskette handeln könnte.79 An den Unterarmen trägt die Frau je zwei breite Armreifen. Sie zeigt sich fast halslos und besitzt ein kräftig herausgearbeitetes, rundliches Gesicht mit einem breiten, dreifach wulstigen Kinn. Die Wangen erscheinen fleischig hervorgewölbt, die detailliert gearbeitete Nase tritt zwischen den eng beieinanderliegenden, von schmalen Wülsten gerahmten, mandelförmigen Augen hervor. Deutlich ausgeprägte Nasenlabialfalten umrahmen den Mundbereich. Der relativ breite Mund mit seinen fest aufeinandergepressten Lippen scheint zu lächeln. Die Gestaltung der enganliegenden Ohrmuscheln mutet eher ornamental an. Die niedrige Stirn wird von einer Art Federkrone bedeckt, unter der nur noch ein schmaler Streifen der darunter hervortretenden Haare erkennbar ist, während es am Hinterkopf, in acht Locken unterteilt, bis auf den Rücken herabfällt. Jede Locke ist in mehrere Segmente gegliedert, deren lineares Muster den Eindruck erzeugt, dass sie spiralig geschlungen sind. Wie auch die „Große Sitzende“ hält die Frau in ihrer Rechten eine Schale, während ihre Linke auf dem Schoß ruht; dieses Mal jedoch das Knie zu umfassen scheint. Im Gegensatz zur Gestaltung bei Ersterer sind die Finger, wie auch die Füße dieser Frau jedoch weitaus stilistischer ausgeführt und wirken daher weniger organisch. W. Orthmann nimmt aufgrund der unterschiedlichen stilistischen Ausarbeitungen eine spätere Herstellungszeit der Statue A2 an.80

76

Orthmann 1971: 126. Orthmann 1971: 126. 78 Moortgart 1955: 36. 79 Moortgart 1955: 36. 80 Orthmann 2002: 89. 77

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Vergleicht man die zwei beschriebenen Statuen mit den 2002 in Qaṭna gefundenen altsyrischen Ahnenkultbildern, die dort zu beiden Seiten des Einganges zum Hypogäum aufgestellt worden waren,81 so zeigt sich trotz aller stilistischer Unterschiede auf den ersten Blick die ikonografische Nähe. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich hier um die Darstellung zweier männlicher Personen – wohl Königsdarstellungen82 – handelt, haben alle vier Statuen die gleiche Pose inne; auf einem Stuhl sitzend, die Füße streng nebeneinander auf einen Schemel bzw. – in Qaṭna – auf eine Plinthe gestellt, den Kopf erhoben und die Arme angewinkelt. Alle halten in ihrer Rechten die Schale zur Aufnahme von Opfergaben. Während die Linke bei den Frauenfiguren aus Gōzāna jedoch jeweils auf dem Schoß ruht, halten diejenigen in Qaṭna diese mit geballter Faust vor die Brust. Auch wenn die Ahnenkultbilder aus Qaṭna in ihrer Ausführung weitaus organischer, naturalistischer und feiner gearbeitet sind, so zeigt sich bei ihnen ebenfalls – insbesondere im Bereich des Unterkörpers – der blockhafte Charakter der Darstellung, der bei den Statuen aus Gōzāna so deutlich zum Tragen kommt. Die Art, wie die Basaltkerne unter der Sitzfläche des Stuhles erhalten bleiben und die Stuhlbeine und Querstreben – wenn auch stärker gerundet – geradezu reliefartig hervortreten lassen, ist durchaus mit der Gestaltung in Gōzāna zu vergleichen. Obgleich die beiden Figuren in Qaṭna Wulstmäntel tragen, die die nackte Brust frei lassen, während die Frauenskulpturen aus Gōzāna allein schon geschlechtsbedingt geschlossene Gewänder tragen, entspricht der verhüllende Charakter der Wulstmäntel durchaus demjenigen des Gewandes der zuletzt beschriebenen Statue von Gōzāna. Auch in einigen Details lassen sich eindeutige Gemeinsamkeiten feststellen. Wie die Figuren aus Qaṭna hält die „Große Sitzende“ die Schale in ihrer Rechten derart, dass der Daumen oben auf dem Schalenrand aufliegt, auch wenn die anderen Finger die Wandung der Schale umschließen, während das Gefäß bei den Königsfiguren aus Qaṭna auf den flach ausgestreckten Fingern ruht. Beide Königsfiguren aus Qaṭna zeigen eine deutliche, leicht kantige Darstellung des Brustbeines, was sich in stärker ausgeprägter Form auch bei der „Großen Sitzenden“ feststellen lässt. Und nicht zuletzt ist der Gesichtsausdruck der Figuren mit den großen, mandelförmigen Augen und den scheinbar fest aufeinander gepressten Lippen trotz aller Unterschiede durchaus vergleichbar. Die Funktion der Statuen aus Qaṭna als Ahnenkultbilder, die selbst beopfert wurden, steht aufgrund des Fundkontextes neben dem Zugang zur Königsgruft und der vor ihnen abgelegten flachen Teller mit Opfergaben außer Frage. Sie gehören ihrerseits zu einer Gruppe ikonografisch verwandter Sitzbilder der altsyrischen Epoche, u. a. aus Ebla, für die gleichfalls eine Deutung als Ahnenkultbilder naheliegt. Aus der mittelsyrischen Zeit liegt zumindest ein prominentes Vergleichsstück vor, die Statue des Idrimi von Alalaḫ.83 Bei diesem fehlt jedoch das in der rechten Hand gehaltene Gefäß. Alle diese Stücke stammen aus der Nordlevante zwischen 81

Elsen-Novák / Novák / Pfälzner 2003. Elsen-Novák / Novák / Pfälzner 2003: 161. 83 Dietrich / Loretz 1981; Mayer-Opificius 1981. 82

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Mittelmeer und Euphrat und nördlich von Ḥoms. Eine vergleichbare bildnerische Produktion – im Hinblick auf Ikonografie und Funktion – ist dagegen in Nordmesopotamien weder in den Perioden zuvor noch kontemporär festzumachen. Es kann also deutlich festgehalten werden, dass die aramäische Dynastie Gōzānas auf ein künstlerisches Erbe zurückgriff, welches in der bronzezeitlichen Levante westlich des Euphrats beheimatet war. Dies gilt nicht nur für die Ausführung und den Stil, sondern auch für die Ikonografie und Ikonologie der Statuen, deren Darstellung und Funktion. Das Erbe ist so offensichtlich, dass man von einer ungebrochenen Tradition ausgehen darf, ungeachtet des Umstands, dass Überlieferungslücken v. a. für das 13.‒11. Jh. vorliegen. Immerhin beweist das Beispiel der Statue des Idrimi von Alalaḫ, dass Statuen dieser Art oft noch Jahrhunderte nach ihrer Herstellung und Aufstellung sichtbar waren und verehrt wurden. Möglicherweise waren also auch den Künstlern des 10. Jh. v. Chr. noch einige in alten Tempeln oder Grabanlagen sichtbare Ahnenkultbilder aus der Bronzezeit zugänglich. Religion Über das im aramäischen Gōzāna verehrte Pantheon liegen nur wenige Informationen vor.84 Ein Tempel wurde weder in der Stadt selbst noch im nahegelegenen Sikāni ausgegraben.85 So bleiben nur einige wenige Inschriften und die Ikonografie der Bildwerke als Quellen. Der älteste textliche Hinweis stammt von den „Kleinen Orthostaten“ an der Rückseite des West-Palastes. Wie bereits erwähnt, findet sich auf einigen die partiell ausradierte Inschrift mit der Erwähnung des „Tempels des Wettergottes“. Wiewohl diese Inschriften wie auch die Platten selbst vermutlich erst zur Zeit Kaparas entstanden sind, wurden diese nicht wie offensichtlich ursprünglich vorgesehen am Tempel, sondern im Zuge einer Planänderung am Palast verbaut. So bleibt unbekannt, ob der Tempel selbst überhaupt errichtet wurde, in welcher Stadt er stand und ob er eine andere Baudekoration erhalten hat. Im Zusammenhang mit der jüngeren Statue des Hadda-yiṯ’i aus Tall Faḫarīya, die nach Auskunft der Inschrift in Sikāni im dortigen Tempel des Wettergottes von Gōzāna aufgestellt war,86 liegt die Vermutung nahe, dass sich beide Inschriften auf denselben Tempel beziehen. Der Tempel hätte demnach in Sikāni gestanden, dem urbanen Zentrum der Region während der Bronzezeit, und der Wettergott wäre als derjenige zu identifizieren, der bereits seit der Ur III-Zeit gemeinsam mit seiner Gemahlin Šāla / Šawla als Bēl Ḫābūr „Herr 84

Niehr 2010: 213–217. Mit Ausnahme des erst in neuassyrischer Zeit errichteten Tempels in der westlichen Unterstadt von Gōzāna. Entgegen der Annahme von Niehr 2014a: 139 konnte hier durch die neuen Ausgrabungen kein aramäischer Vorgängerbau festgestellt werden, die ältere Bauphase des Gebäudes brachte ausschließlich neuassyrische Keramikfunde zutage. Siehe hierzu Orthmann et al. 2012: 123. 86 So in der aramäischen Version. In der assyrischen ist vom Wettergott in Gōzāna die Rede. Dies dürfte sich aber nicht auf die Stadt, sondern die Provinz bzw. Region Gōzāna beziehen. Der Fundort Tall Faḫarīya macht es doch wahrscheinlich, dass der Tempel hier und nicht am Tall Ḥalaf zu lokalisieren ist. 85

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des Ḫābūr“ verehrt worden war.87 Das Fehlen eines eindeutigen zentralen Kultbaues in der aramäischen Stadt Gōzāna ließe dann die Vermutung zu, dass das Hauptheiligtum des Fürstentums nicht in der von den Aramäern neu errichteten Hauptstadt, sondern in der nahegelegenen alten Kultstadt lag. Vermutlich wurde der lokale Kult von den Aramäern nach der Besiedlung des Gebietes adaptiert und an seinem ursprünglichen Ort weiter gepflegt. Eine ähnliche Situation scheint auch in anderen Fürstentümern vorzuliegen.88 Das würde erklären, weswegen sich Abī-Ṣalamu von Bīt Baḫiāni im Jahre 893 v. Chr. in Sikāni vor dem Hauptheiligtum seines Fürstentums und nicht in seiner Hauptstadt Gōzāna dem assyrischen König Adad-nērārī II. unterwarf und ihm Tribut übergab. Dies spricht für eine starke Anpassung der Aramäer an die traditionellen Religionen und Kulte der von ihnen eroberten Gebiete. Tatsächlich lassen sich genuin „aramäische“ Gottheiten weder in Gōzāna noch andernorts festmachen. So waren überregional verehrte Gottheiten wie der Wettergott von Aleppo und der Mondgott von Ḫarrān oder die wenigen sonstigen in den Textquellen aus Gōzāna erwähnten Götter Nergal und Enmešarra spätestens seit dem 3. Jt. v. Chr. von den verschiedensten in diesem Raum siedelnden ethnischen Gruppen verehrt worden. Gleiches galt für den Sonnengott, auf den sich Hinweise in der Bildkunst finden.89 Andere Götter wie Ba’al Ḥammon, Ba’al Ṣemed, Rešep oder Rakkab’El, die beispielsweise im ebenfalls aramäischen Śam’al, aber auch bei den Phöniziern verehrt wurden,90 sind in den Inschriften aus Gōzāna wiederum nicht belegt, zeigen also gleichfalls eine eher regionale Verbreitung. Immerhin könnte Ba’al Ṣemed, der „Herr der Keule“, eventuell mit dem keulenschwingenden Gott auf einigen Orthostaten von Tall Ḥalaf91 identifiziert werden. In der Bildkunst der Kapara-Zeit finden sich mehrere ikonografische Hinweise auf Traditionen, die in die Mittani-Zeit zurückreichen.92 Nimmt man an, dass nicht nur die Ikonografie, sondern auch die damit verbundenen Vorstellungen übernommen wurden, würde dies den Eindruck einer weitgehenden Adaption lokaler Vorstellungen durch die Aramäer verstärken. Seit den Ausgrabungen durch Max Freiherr von Oppenheim galt die Rekonstruktion der drei monumentalen anthropomorphen Figuren, die nördlich des WestPalastes gefunden wurden, als auf Attributtieren stehende Götter, die als Karyatiden die Säulen des Hilani ersetzten, als gesichert. An dieser Deutung sind indessen durch die Arbeiten des Restaurierungsprojektes Zweifel erhoben worden.93 Falls die Statuen aber als separat aufgestellte Figuren ohne Bezug zu den Tierfiguren zu sehen sein sollten, stellen sich Zweifel an ihrer Identifikation als Götter. Die weibliche Figur weist keinerlei göttliche Attribute auf, die besser erhaltene der beiden männli-

87

Kessler / Müller-Kessler 1995. Novák 2004. 89 Niehr 2014a: 129–131. Siehe Cholidis / Martin 2010: 195, Nr. 50 – A3,171 (B). 90 Niehr 2010: 269–278; Niehr 2014a: 157–160. 91 Cholidis / Martin 2010: 78, V.12 und V.13 sowie ebenda 165, Nr. 1 – A3,1. 92 Orthmann 1971: 470. 93 Cholidis / Dubiel / Martin 2010. 88

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chen Figuren trägt dagegen immerhin ein Hörnerpaar am Diadem.94 Allerdings zeigt die Parallele zum gleichfalls monumentalen Ahnenkultbild des Atrisuhas aus Karkamiš, das eine Hörnerkrone durchaus auch von einem vergöttlichten Ahnen getragen werden konnte.95 Die Inschrift auf der Statue beginnt mit den Worten „Ich bin Kapara, der Sohn des Ḫadiānu“, was eine Identifikation als Bildnis eben dieses Herrschers nahelegt. Die weibliche Statue weist keinerlei göttliche Attribute auf und könnte folglich durchaus auch als Bild einer verstorbenen Angehörigen des örtlichen Herrscherhauses gedeutet werden; analoge Monumentalbilder wurden jüngst in Tall Tayinat gefunden. Träfe dies zu, dürften die Statuen auf dem Platz vor dem Eingang zum West-Palast gestanden und drei (vergöttlichte) Ahn*innen des Herrscherhauses repräsentiert haben.96 Das einzige religiöse Element, das offensichtlich in allen aramäischen wie auch luwischen Fürstentümern des „späthethitischen“ Kulturraums eine große Rolle spielte und das sich – zumindest in Gōzāna und Śam’al – nicht aus den jeweiligen regionalen Traditionen ableiten lässt, ist der mit monumentalen Bildnissen verbundene staatlich praktizierte Ahnenkult.97 Dies lag offenbar daran, dass eben dieser mehr als alles andere für die Konstituierung einer relativ jungen „Ethnie“ als Identitätsgruppe von besonderer Bedeutung war. Fazit: Der „kulturelle Code“ Was nun ist – angesichts der vielfältigen hier angesprochenen Aspekte – der „kulturelle Code“ des aramäischen Gōzāna des späten 10. und frühen 9. Jh. v. Chr.? Auffällig ist, dass er sich offensichtlich aus der Vermischung zahlreicher Elemente mit unterschiedlichen Traditionen zusammensetzt. Eines der auffälligsten Merkmale der aramäischen, aber auch der zeitgleichen luwischen Kultur des „späthethitischen“ Raumes ist ein ausgeprägter, offenbar für die Konstituierung der staatlichen Identitäten essentieller Ahnenkult, der sich vor allem in monumentalen Kultbildern und damit assoziierten Ritualen artikulierte. Die Ikonografie, Monumentalität und Funktion dieser Ahnenkultbilder haben eine gut bezeugte bronzezeitliche Tradition in der Nordlevante, aus deren kulturellem Erbe sie folglich sowohl von den aramäischen wie den luwischen Eliten übernommen worden sind. Anders jedoch als in der Bronzezeit, als sie zumindest in Qaṭna gar mit anonymisierten Kollektivbeisetzungen und Körperbestattungen auftraten, wurden die Kultbilder nun mit Kremationen und Individualbeisetzungen verbunden. Diese wiederum scheinen ihre Ursprünge im bronzezeitlichen Anatolien gehabt zu haben, sind aber in der Eisenzeit gleichermaßen in luwischen und aramäischen Fürstentümern fassbar. Diese beiden Traditionsstränge scheinen in der Nordlevante, vielleicht im Gebiet um Karkamiš, zu einem neuen Konzept des Toten- und Ahnenkultes verbunden worden zu sein. Die Gründer des aramäischen Gōzāna müssen dieses Konzept unter nicht bekannten Umständen adaptiert und nach Obermesopotamien im94

Orthmann 2002: 68. Lange 2017: 77. 96 Lange 2017: 81–82. 97 Niehr 2006. 95

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portiert haben. Hier im Ḫābūr-Gebiet wiederum waren weder Ahnenkultbilder noch Kremationen zuvor bekannt bzw. populär. Eine ebensolche westliche Herkunft lässt die Architektur Gōzānas erkennen, namentlich die Bauform des Hilāni, die vermutlich aus dem Amuq-Gebiet und der Islahiye-Ebene stammte und seit dem 10. Jh. zu einem Markenzeichen des späthethitischen Kulturraumes avancierte. Diese Bauform ist für die uns interessierende Zeit in Obermesopotamien nur durch wenige, zumeist auf das Gebiet von Gōzāna beschränkte Beispiele repräsentiert. Die urbanistische Struktur Gōzānas mit einer peripher gelegenen und in zwei Zonen unterteilten Zitadelle ist gleichsam für die späthethitische Kultur prägend, könnte jedoch zumindest teilweise aus obermesopotamischen, mittannischen Traditionen erwachsen sein. Andere Aspekte der Kultur Gōzānas zeigen nämlich sehr deutliche lokale bzw. regionale Einflüsse, die nach der Einwanderung der Aramäer in das Ḫābūr-Gebiet von diesen adaptiert wurden. Dazu gehört in erster Linie das lokale Pantheon, an dessen Spitze der als Bēl-Ḫābūr verehrte Wettergott und seine Gemahlin Šāla standen. Deren Tempel in Sikāni scheint ungeachtet der Gründung der nahegelegenen neuen Residenzstadt Gōzāna das religiöse und kultische Zentrum des Fürstentums geblieben zu sein. Auch in der Ikonografie des Baudekors des West-Palastes zeigen sich nicht wenige mittannische Elemente, die aus dem lokalen Erbe übernommen worden sein müssen. Gleiches gilt für die assyrische Keilschrift, der sich Kapara bedienen musste, ehe einige Jahrzehnte später das aramäische Alphabet in Gōzāna verwendet werden konnte. Dieses wiederum leitete sich zwar ohne Zweifel vom phönizischen Alphabet der levantinischen Küste ab, wurde aber von den Luwiern als die „Schrift der Stadt Taymā’“ bzw. die der nach eben dieser Stadt benannten Tēmaniden Obermesopotamiens bezeichnet. Dass die beiden ältesten bislang bekannten aramäischen Inschriften aus Gōzāna und Sikāni stammen, scheint eine zumindest sehr frühe Verwendung dieser Schrift im Ḫābūr-Gebiet anzudeuten. Zusammenfassend zeigt sich also, aus welch unterschiedlichen Traditionen sich die Kulturmerkmale des aramäischen Gōzāna speisten, wobei die meisten aus der Nordlevante oder aus Obermesopotamien stammen und nur wenige ins hethitische Anatolien verweisen. Das jedoch markanteste Phänomen ist die sehr dichte Verknüpfung dieser verschiedenen Merkmale zu einem sehr charakteristischen „Code“, der jedoch nur in Teilen spezifisch ist für Gōzāna, zum überwiegenden Teil jedoch Gemeinsamkeiten aufweist mit den anderen „späthethitischen“ Fürstentümern, unabhängig ob diese von aramäischen oder luwischen Dynastien beherrscht wurden. Diese Verbindung verschiedenster Merkmale geschah dabei keinesfalls eklektizistisch, sondern durchaus in Form einer echten Synthese, die etwas Neues, Originelles hervorbrachte. Genau deswegen jedoch ist die Beschäftigung mit der Kultur des aramäischen Gōzāna so faszinierend. Eben dieser Faszination erlag schon manch großer Forscher, darunter Max Freiherr von Oppenheim und Lutz Martin!

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Gabriele Elsen-Novák / Mirko Novák

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Gabriele Elsen-Novák / Mirko Novák

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Gabriele Elsen-Novák / Mirko Novák

Abbildungen

Abb. 1

Karte der aramäischen und luwischen Fürstentümer im späten 10. und frühen 9. Jh. v. Chr. (© Institut für Archäologische Wissenschaften, Universität Bern).

Abb. 2

Plan des Tell Halaf (© artefacts.de).

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Abb. 3

Relief A3, 94 von den sogenannten Kleinen Orthostaten der Rückseite des WestPalastes mit den Inschriften „Palast des Kapara, Sohnes des Ḫadianu“ in Zeilen rechts oben sowie „Tempel des Wettergottes“ in vertikaler Schreibrichtung links (nach Cholidis / Martin 2010: 191).

Abb. 4

Der West-Palast im Bautyp des Hilāni (nach Langenegger / Müller / Naumann 1950).

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Gabriele Elsen-Novák / Mirko Novák

Abb. 5

Südliche, ältere Gruft nordwestlich des West-Palastes (nach Orthmann 2002: 45, Abb. 24).

Abb. 6

Grab 16 nordöstlich des West-Palastes (nach Heitmann 2012: Beilage 3).

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Abb. 7

Grabkapelle mit Ahnenkultbild („Große Sitzende“) über Urne mit Leichenbrand und Beigaben (nach Langenegger / Müller / Naumann 1950: 160, Abb. 8).

Abb. 8

Ahnenkultbild A1, „Große Sitzende“ (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Gabriele Elsen-Novák / Mirko Novák

Abb. 9

Ahnenkultbild A2 (nach Moortgat 1955: Tf. 6).

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Abb. 10

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Ahnenkultbilder aus Qaṭna, späte Altsyrische Zeit (nach Elsen-Novák / Novák / Pfälzner 2003: 157, Abb. 18).

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Tell Halaf (Gūzāna) Neo-Assyrian Residence on the Southern Mud-Brick Terrace Mohamad Fakhro / Tübingen – Aleppo Introduction Tell Halaf (ancient Gūzāna) is located in Northeastern Syria, at the Djirdjib, one of the branches of the Khabur River (Fig. 1). A few kilometers to the east lies the modern town of Ras El-‘Ain. Directly to the north of the Tell is the legendary Baghdad railway, which forms the current border between Syria and Turkey. The ancient settlement is divided into a town complex with an almost rectangular, 6 hectares large citadel, measuring ca. 20m in height, and an also almost rectangular lower town of approximately 60 hectares. Max von Oppenheim (1860−1946)1 discovered the site in 1899. Regular excavations by Oppenheim followed in the years 1911−1913 and 1927, 1929. After nearly 80 years, the Directorate General of Antiquities and Museums in Damascus and the Museum of the Ancient Near East in Berlin formed a joint excavation expedition in cooperation with the universities of Halle, Tübingen and Bern (Fig. 2). The new excavations began in 2006, followed by five campaigns before the work was unfortunately interrupted in 2010. Historical Outlines The excavations produced round buildings and a great amount of typical painted pottery and other objects (seals, terracotta-figurines, etc.) from the Halaf culture (Neolithic and Chalcolithic)2. At the beginning of the first millennium BC, the Aramaic ruling dynasty known as Bit Baḫiani founded its capital on the prehistoric settlement mound. The most important ruler of Gūzāna was presumably Kapara, during whose reign in the late 10th to early 9th century BC the ‘western palace’ was erected. Oppenheim called this building ‘temple palace’3. It is also known as bit hilani, the Assyrian name for a northern Syrian type of a palace, consisting of two parallel long rectangular rooms with a colonnaded portico at the entrance4. The city of Gūzāna was firstly mentioned in a report of a military campaign which dates back to 894 BC, to the reign of the king Adad-nērārī II (911−891 BC), who mentioned Abi-salāmu offering obedience to the Assyrian king and sending him a tribute. 1

For more information about Max von Oppenheim see Cholidis / Martin 2002: 31−42. Becker 2012: 11−46, Becker 2013: 45−64. 3 Oppenheim 1933: 81. “This great building thus served at the same time both as temple and as the king’s government palace. That is why we have called it a ‘temple palace’.” 4 Martin 2016: 268−271. 2

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Mohamad Fakhro

At the beginning of the ninth century BC, Guzāna and its kingdom became a vassal of the Assyrian empire. Assyrian military garrisons were distributed in the town and its rulers came under the indirect control and command of the Assyrian king. From the end of the 9th century onwards, Guzāna and its kingdom were part of the Assyrian provincial system. After the fall of the Assyrian kingdom, the site continued to exist until Seleucid- and Early Parthian times.5 Today, parts of the citadel are used as a cemetery for the neighboring village of Tell Halaf. Southern Mud-Brick Terrace The inner structure of the citadel was modified dramatically at the beginning of the Assyrian rule. Huge and high mud-brick terraces were built in the south and east of the citadel6, overbuilding the fortification wall and buildings of the Aramaean period and stretching beyond the former limit of the citadel into the area of the Lower town. In this, they followed the pattern of the Assyrian capital cities7. The southern terrace was built on the south part of the citadel over the fortification wall and the Aramaean buildings, which separate the citadel from the Lower town. The northern part of this structure is contemporary to the period of the “old building” that was extended to the south, to be used as terrace for a larger building. The main entrance of the citadel is located in the western part, leading to the Scorpion Gate of the Western-Palace (Hilāni). Modern village houses occupy the southern part. No remains were found in the mud-brick terrace during the past excavations. However, only in the southern expansion of the terrace to the east of the citadel gate, many tombs, containing two monumental tomb sculptures, were found. The sculptures were found in situ and were covered by a mud-brick structure8. Neo-Assyrian Residence The excavations 2006 to 2010 focused on the terrace (areas 6805, 6806, 6807, 6905, 6906 and 6907). A large Hellenistic building (A3) consisting of four rooms, was discovered.9 At the lower levels, – under the Hellenistic building – two rooms (A1: A, A1: B) and a courtyard (A1: C) were found on the eastern edge of the mudbrick terrace as part of the large residence A1 (Fig. 3). House A1 dates to the Neo-Assyrian period (RA VIII-2). It was built at a level of about 362.60 m on the mud-brick terrace (phase A8) and above the southern wall of the citadel of Guzāna, east of the main trench of the Oppenheim excavations. It consisted of two rooms (A1: A, A1: B) and a courtyard (A1: C). The two rooms were found in the first two campaigns in 2006 and 2007 (Fig. 4). The western part of 5

Novák 2009: 93−98; Katzy 2015: 41–42. For the mud-brick terrace, see Langenegger / Müller / Naumann 1950: 144–159. For the citadel, Orthmann 2002: 26−31. 7 Novák 2013: 259−280. 8 Langenegger / Müller / Naumann 1950: 145. 9 Katzy 2012: 185−209. 6

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Tell Halaf (Gūzāna)

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the house is unclear because of Oppenheim’s main trench in the citadel, and the southern part is not visible due to the occupation of modern houses. To the north and east we need further work to reveal other details of the building. The pottery and the small finds of House A1 showed that the building was still used during the Late Babylonian period (RA VIII-3). The main entrance of the House is not found, but one can enter the courtyard through three doors. Door Inst. A205 is leading from the west room A1.A into courtyard A1: C. Door Inst. A288 was found in the northern wall M A273 of courtyard A1: C, possibly leading to the side room (unclear). Passage Inst. A277 was found in the southern wall M A223, directly adjacent to slope of the modern houses. Another passage was found between the northern wall M A43, M A30 and the western wall M A8, leading from room A1: A into the room A1: B (Fig. 5). Ceramics and Small Finds The floor inventory of House A1 provided rich pottery material for phases A7/A6, (8th and 6th centuries BC, Neo-Assyrian and Late Babylonian). The assemblages of rooms A1: A and A1: B consisted of 90% medium-fine sherds with chaff and sand (standard ware 3.1), 4.5% fine ware 3.3, and 4% of other wares (3.2, 3.4, fine mineral deposits of sand and lime, and fine chaff); cooking ware 3.5 made up only 1.5% of the total amount of the sherds. The shape analysis shows that the most common vessels were bottles (38%) and bowls (36.5%). Moreover, 9% of the fragments come from cups, 7.5% from pots, and 2.5% from cylindrical stands. Small vessels were also represented with 2.5%, large vessels with 1.5%. Finally, more than 90% of the pieces found in the House A1 were made on the fast potter’s wheel.10 The floor inventory of room A1: A and courtyard A1: C has produced more than 200 small finds. In room A1: A, stone tools, spindles, bone spoons as well as some jewelry beads and a gold earring have been detected. Moreover, a small clay cuneiform tablet TH08A−0149 was found next to the doorway (Inst. A205) in the south of the room. Its dimensions are 2.2 cm in length, 3.3 cm in width, and 1.3 cm in diameter. It was a loan contract for silver, mentioning a woman named Beléssapilakku as the presumable owner of the residence and giving a terminus post quem for its destruction. There are two possibilities for dating, depending on if the personal name of the limmu in line 7, Aššur-da’’inanni, was either the governor of Zamua (733 BC) or of Que (685 BC).11 In addition, the majority of small finds was found in the courtyard A1: C in loci FS A308 and FS A415, directly on the gravel pavement (Fig. 6). The collections include many metal objects as bronze (small head), iron and a piece of lead. Almost half of the finds are jewelry beads of various kinds (stone, quartz, ceramics) and colors (white, black, blue and yellow). Other finds are a fibula, a needle and various fragments of bronze and shells, basalt stone vessels, stone tools, and ivory, bone and horn objects12. 10

Sievertsen 2012: 139−183. Fuchs / Röllig 2012: 211. 12 Martin / Fakhru / Heitmann 2012: 47−61. 11

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Mohamad Fakhro

Stratigraphy of the Southern Mud-Brick Terrace The excavations have yielded a sequence of archaeological layers, reaching from the Pre-Arameaen to the Hellenistic period.13 Level / Period

Phase

RA XII Modern remains RA IX−1 Hellenistic (Seleucid)

A1

Occupation (Structure) Tell surface

A5 al A5 bL

Building A3 Inst. A106

ca. 330−127 BC

RA VIII−3 Late Babylonian RA VIII−2 Neo-Assyrian RA VIII−1 Neo-Assyrian

A6 L

House A1 (Latest use of the House) House A1

ca. 612−539 BC

ca. 900−758 BC

RA VII−3 Aramean RA VII−2 Pre-Aramean

A10 L

Mud-brick Terrace and South Extension Northern part Wall M A193 Floor Inst. A194 Wall M A196

A7 L A8 L A9 L

A11 L

Date 20th, 21th century

ca. 758−612 BC

ca. 950−900 BC ca.1060−950 BC

Chronology of the southern mud-brick terrace Conclusion The architectural plan of House A1 is a closed unit, similar to the typical plan of the new Assyrian type in Syria and Mesopotamia with inner courtyards and reception suites, including a main hall and a bathroom. In addition, the new excavations at House A1 have revealed a luxury inventory consisting of a cuneiform tablet, a golden earring, bronze fibulae, glazed vessels and jewelry beads, etc. It was surely one of the elite residences at the citadel. However, the southern mud-brick terrace needs more archaeological investigation to reveal all the features of this important Neo-Assyrian house. Therefore, after the end of the war in Syria, if circumstances permit, the further excavations should, in particular, focus on the Iron Age levels, which promise great results.

13

Martin / Fakhru / Heitmann 2012: 57. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Tell Halaf (Gūzāna)

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Bibliography Becker 2012 Jörg Becker, Die Ausgrabungen in den prähistorischen Schichten, in: Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Tell Halaf: Vorberichte über die dritte bis fünfte syrisch-deutsche Grabungskampagne. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,2, Wiesbaden, 11−46. Becker 2013 Jörg Becker, Tell Halaf − Die prähistorischen Schichten − Neue Einblicke, in: Dominik Bonatz / Lutz Martin (Hrsg.), 100 Jahre archäologische Feldforschungen in Nordost-Syrien − eine Bilanz. Schriften der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 18, Wiesbaden, 45−64. Cholidis / Martin 2002 Nadja Cholidis / Lutz Martin, Kopf hoch! Mut hoch! Humor hoch! Der Tell Halaf und sein Ausgräber Max Freiherr von Oppenheim, Mainz. Fuchs / Röllig 2012 Andreas Fuchs / Wolfgang Röllig, Die neuen Schriftfunde von Tell Halaf, in: Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Tell Halaf: Vorberichte über die dritte bis fünfte syrisch-deutsche Grabungskampagne. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,2, Wiesbaden, 211−214. Katzy 2012 Elisabeth Katzy, Die hellenistische Epoche am Tell Halaf, in: Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Tell Halaf: Vorberichte über die dritte bis fünfte syrisch-deutsche Grabungskampagne. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3, 2, Wiesbaden, 185−209. Katzy 2015 Elisabeth Katzy, Hellenisierung Nordmesopotamiens am Beispiel des Khabur-Gebietes, in: Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Ausgrabungen auf dem Tell Halaf in Nordost-Syrien, Teil 4. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3, Wiesbaden. Langenegger / Müller / Naumann 1950 Felix Langenegger / Karl Müller / Rudolf Naumann, Tell Halaf II. Die Bauwerke, herausgegeben von Max Freiherr von Oppenheim, Berlin. Martin / Fakhru / Heitmann 2012 Lutz Martin / Mohammed Fakhru / Raphaela Heitmann, Die Grabungen am West-Palast und auf der Lehmziegelterrasse, in: Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Tell Halaf: Vorberichte über die dritte bis fünfte syrisch-deutsche Grabungskampagne. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von OppenheimStiftung 3,2, Wiesbaden, 47−61. Martin 2016 Lutz Martin, Tell Halaf (Hassake), in: Youssef Kanjou / Akira Tsuneki (Hrsg.), A History of Syria in One Hundred Sites, Oxford, 268−271.

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Mohamad Fakhro

Novák 2009 Mirko Novák, Zur Geschichte der aramäisch-assyrischen Stadt Gūzāna, in Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Vorberichte über die erste und zweite syrisch-deutsche Grabungskampagne auf dem Tell Halaf, Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,1, Wiesbaden, 93−98. Novák 2013 Mirko Novák, Gōzān and Gūzāna – Anatolians, Aramaeans, and Assyrians in Tell Halaf, in: Dominik Bonatz / Lutz Martin (Hrsg.), 100 Jahre archäologische Feldforschung in NordostSyrien – Eine Bilanz. Schriften der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 18, Wiesbaden, 259−280. Oppenheim 1933 Baron Max von Oppenheim, Tell Halaf. A New Culture in Oldest Mesopotamia, London / New York. Orthmann 2002 Winfried Orthmann, Die aramäsch-assyrische Stadt Guzana. Ein Rückblick auf die Ausgrabungen Max von Oppenheims in Tell Halaf. Schriften der Max Freiherr von OppenheimStiftung 15, Saarbrücken. Sievertsen 2012 Uwe Sievertsen, Die eisenzeitliche Keramik, in: Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Tell Halaf: Vorberichte über die dritte bis fünfte syrisch-deutsche Grabungskampagne. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,2, Wiesbaden, 139−183.

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Figures

Fig. 1

Tell Halaf from the Northern side, 2006. (© Tell Halaf Project)

Fig. 2

Map of the citadel with the new excavation areas. (© Tell Halaf-Grabung) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Fig. 3

Mohamad Fakhro

Plan of House A1, phase A7 (Neo-Assyrian). (© Tell Halaf-Grabung)

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Tell Halaf (Gūzāna)

Fig. 4

Neo-Assyrian House, Room A1: A and A1: B. (© Tell Halaf-Grabung)

Fig. 5

Passage leading from room A1: A to room A1: B. (© Tell Halaf-Grabung)

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Fig. 6

Mohamad Fakhro

Gravel pavement of the courtyard A1: C in front of the door to room A1: A. (© Tell Halaf-Grabung)

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Wie die Spätzeit am Tell Halaf wieder mal für eine Überraschung gut ist!1 Drei weibliche Figurinen vom Tell Halaf Elisabeth Katzy / Berlin Zwei weibliche Figurinen von den Altgrabungen am Tell Halaf (Abb. 1–2), die von Barthel Hrouda als palmyrenische Terrakotten publiziert wurden,2 haben bisher kaum Beachtung in der Forschung gefunden. Während der Neugrabungen 2007 kam ein weiteres, fast identisches Fragment (Abb. 3) wie eine der beiden Figurinen von der Altgrabung (Abb. 1) hinzu, das die Datierung dieser Objektgruppe durch einen neuen stratigrafischen Kontext ins Wanken brachte. Erst als der 2011 ausgebrochene militärische Konflikt in Syrien zum zweiten Mal nach 1939 die Arbeiten am Tell Halaf unmöglich machte,3 wurde eine zusammenhängende wissenschaftliche Aufarbeitung und Auswertung aller während der Neugrabungen (2006‒2010)4 am Tell Halaf dokumentierten Befunde und Fundgruppen durchgeführt. In diesem Zusammenhang bot sich die Möglichkeit, die Datierung und Bestimmung dieser Figurinen näher zu untersuchen und zu überprüfen. Die Terrakotten vom Tell Halaf bilden einen wichtigen Teil der Abschlusspublikationen,5 in die eine umfassende Fundbearbeitung und Neubewertung des bereits von Hrouda vorgelegten Altmaterials 19626 und ihre Einbindung in die neu erarbeitete Chronologie einfließen sollen.7 Allein diese Fundgattung umfasst ein sehr breites und faszinierendes Spektrum.

Abb. 1

Frauenfigurine aus Altgrabungen (THB 1037.12 / © Tell Halaf-Grabung).

1

Mein besonderer Dank gilt Lutz Martin für die Möglichkeit und das Anvertrauen der Bearbeitung des Spätzeitmaterials sowie prägenden Grabungskampagnen am Tell Halaf. Es ist mir deshalb eine große Freude, ihm diesen Beitrag zu widmen. 2 Hrouda 1962: 14, 23, Taf. 15. 130 (TH 4102 = TH B 1037.12), 131 (TH 4103). 3 Zur Grabungsgeschichte mit weiterführender Literatur siehe Baghdo et al. 2009: 7–8. 4 Zu den Neugrabungen siehe Baghdo et al. 2009 und Baghdo et al. 2012. 5 Gries / Katzy / Scheying (in Vorber.). 6 Hrouda 1962. 7 Becker / Novák 2012: 221–233, insbesondere 230–233. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 2

Frauenfigurine aus den Altgrabungen (TH 4103 / © Tell Halaf-Grabung).

Abb. 3

Frauenfigurine aus den Neugrabungen (TH07C-0117 / © Tell Halaf-Grabung).

Die drei erwähnten spätzeitlichen Figurinenfragmente (Abb. 1–3) stammen von weiblichen, vollständig bekleideten Terrakotten und stellen ein bisher singuläres Beispiel in der Koroplastik dieser Epoche nicht nur am Tell Halaf, sondern auch im gesamten syrisch-mesopotamischen Raum dar. Sie erinnern auf den ersten Blick sehr stark an die palmyrenische Ikonographie, weniger an die gängige Thematik der Terrakotten der hellenistisch-römischen Zeit, die uns aus diesem Gebiet bekannt ist. Die ersten Exemplare dieser Gruppe wurden von Hrouda als „palmyrenische © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Figurinen“ publiziert.8 Die genauen Fundumstände dieser Stücke blieben unbekannt, weil die gesamte im Tell Halaf-Museum in Berlin aufbewahrte Grabungsdokumentation bei den Luftangriffen der Alliierten 1943 verloren gegangen war. Hrouda begründet seine Zuordnung mit der Gewandgestaltung und der Armhaltung, die von ihm als Erzeugnis palmyrenischer Werkstätten bezeichnet werden. Dadurch sei seiner Meinung nach einer großen Verwandtschaft mit Werken der palmyrenischen Kunst zu erkennen. Diese Ähnlichkeiten seien durch die Verwendung einer Platte als hinterer/rückwärtiger Abschluss der Figur, insbesondere an einem Beispiel der Altgrabungen (Abb. 1) ganz deutlich zu erkennen. Die gleichen ikonographischen Merkmale seien – so Hrouda – bei den Grabbüsten aus Palmyra zu finden.9 Die Präsenz fremder Einflüsse in der materiellen Kultur am Tell Halaf scheint auf den ersten Blick nicht zu verwundern.10 Dies geht mit Sicherheit auf zahlreiche Kulturkontakte an diesem Fundort aufgrund seiner geopolitischen Lage am Verkehrsweg zwischen dem Mittelmeerraum und Mesopotamien (je nach Jahrhundert innerhalb oder am Rande eines Reiches) zurück.11 In diesem Zusammenhang drängen sich jedoch zwei Fragen auf: Inwieweit kann die von Hrouda vorgeschlagene Datierung der Figurinen als „palmyrenisch“ überhaupt bestätigt werden und woran lässt sich das festmachen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen die folgenden Aspekte kurz beleuchtet werden: 1. Herstellungstechnik mit den von Hrouda erwähnten Details 2. Ikonographische Details 3. Datierung der Gruppe Als erstes soll die Herstellungstechnik näher besprochen werden. Alle drei Figurinen sind aus einem rötlichen, mittelfeinen Ton mit mineralischer Magerung und schwarzen Einschlüssen hergestellt und aus einer einteiligen Form gepresst. Nur die Vorderseite ist mit einem Relief versehen, die Rückseite dagegen ist glattgestrichen. Die Figurinen weisen an den Seiten entlang des Oberkörpers jeweils einen schmalen Absatz auf, wie sie auch bei den sog. Astarte-Reliefs zu beobachten sind. Dieses Detail ist nur an einem Fragment aus den Altgrabungen zu beobachten (Abb. 2) und wurde von Hrouda fälschlich als Rest einer Loculus-Verschlussplatte interpretiert. Diese Technik, Terrakottareliefs aus Modeln zu pressen, hat eine lange Tradition in der Region. Sie stammt aus dem südlichen Mesopotamien und wurde dort gegen Ende des 3. Jts. v. Chr. entwickelt.12 In Syrien ist die Modeltechnik zwar spätestens seit dem Beginn der Mittleren Bronzezeit bekannt gewesen,13 sie hat sich jedoch erst 8

Siehe Anm. 2. Bossert 1951: Nr. 541–552. 10 Aramäische Steinskulpturen, neuassyrische Einflüsse oder achämenidische Einflüsse. 11 Der Neue Pauly Atlas der Antiken Kulturen: 13 Karte A und B, 15 Karte A und B, 29, 33 Karte A und B, 47 Karte A und B, 49, 51, 53 Karte A und B, 55 Karte A und B, 113, 115, 117, 129, 159, 161, 181, 215, 217. 12 Opificius 1961: 24. 13 Wrede 1991: 156, Anm. 139. 9

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in der Späteren Bronzezeit durchgesetzt14 und wird mindestens bis in die hellenistische Zeit verwendet.15 Obwohl die Herstellungstechnik beibehalten wird, hat sich das Aussehen der Reliefs im Laufe der Jahrhunderte stark gewandelt. Insbesondere werden in der hellenistischen Zeit neue ikonographische Themen ins Repertoire aufgenommen. Statt frontal dargestellter, nackter Frauen, sog. Astarte-Reliefs,16 werden jetzt bekleidete Frauen wie die Beispiele aus Tell Halaf verdeutlichen, wiedergegeben. Dieses generell für die Spätzeit typische Merkmal ist auch an anderen Fundorten in Ober- und Untermesopotamien belegt, wie beispielsweise für Dura Europos,17 Babylon,18 Uruk,19 und Seleukia a. T.20 Ein weiterer Diskussionspunkt sind die ikonographischen Details. Die Figurinen zeigen jeweils eine mit einem Chiton und einem Mantel bekleidete Frau, ihren Hals schmückt eine Perlenkette mit einem Anhänger. Von den Armen hat sich lediglich der linke bzw. der rechte Arm erhalten, ein Fragment zeigt den rechten Arm am Körper anliegend (Abb. 2). Diese Fragmente gehörten mit großer Wahrscheinlichkeit zu stehenden Figurinen. Obwohl die auffällige Gewandgestaltung an die palmyrenische Ikonographie erinnert,21 ist sie jedoch der hellenistischen Ikonographie im hellenistischen Osten zuzuordnen und nicht der römischen. Eine solche Darstellung entstand an der levantinischen Küste im 3. Jh. v. Chr.22 Von dort aus verbreitete sie sich über den gesamten syrischen Raum bis nach Nordmesopotamien. Eine Gewandgestaltung in dieser Art ist besonders sichtbar in der Ikonographie der reliefierten Grabplatten an der levantinischen Küste. Diese haben zwar ihren Ursprung in der griechischen Grabplastik,23 die aufgrund der geopolitischen Lage als Importgut in die Region gelangte, ihre Motive wurden aber mit der Zeit sowohl durch fremde Künstler als auch von lokalen Handwerkern übernommen.24 Auf diese Art sind einige stilistische Merkmale von der Ikonographie der Grabreliefs in die Koroplastik eingegangen bzw. wurden von dieser adaptiert. Insbesondere wird dies an hellenistischen Beispielen aus Kharayeb bei Tyros in der Südlevante deutlich.25

14

Badre 1980: Taf. 26 (Mari); Meyer / Pruß 1994: Abb. 28 Nr. 415–417 (Halawa); Rossmeisl / Venema 1988: 582 Taf. 177 (Hammam et-Turkman). 15 Z. B. Klengel-Brandt / Cholidis 2006: 258–261, Taf. 69–77; Menegazzi 2014: Bd. 1, Taf. 90–93. 16 Pruß 2010: 111–157. 17 Downey 2003: 47‒52, Nr. 1–4. 18 Klengel-Brandt / Cholidis 2006: u. a. Taf. 47, Nr. 1217–1220, Taf. 53, Nr. 1364. 19 Ziegler 1962: 94–122, Kat. Nr. 652, 653, 654, 664–674, 677–735, 738–740, 742–748. 20 Menegazzi 2014: Bd. 1, Taf. 90–93. 21 Hrouda 1962: 14. 22 Butcher 2003; Parlasca 1982: 5–9. 23 Z. B. Beispiele aus Sidon aus dem frühhellenistischen Kontext vom Ende des 4. Jh. v. Chr.: Parlasca 1982: 6, Taf. 1,1. 24 Beispiele aus Umm al-Amed: Parlasca 1982: 6. Sie zeigen deutlich griechische und äußerlich orientalische Stilmerkmale. 25 Für Providence (Parlasca 1982: 7, Taf. 3,1–2) sind Grabreliefs belegt, deren Personendarstellungen die gleiche Frisur aufweisen wie die Terrakotten in Kharayeb bei Tyros. Dazu vergleiche Chéhab 1952/53. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Erst im Laufe des 1.–2. Jhs. n. Chr. sind solche stilistischen Merkmale in die palmyrenische Kunst eingeflossen.26 Die fragmentarische Überlieferung der materiellen Kultur der Koroplastik des 2.–1. Jhs. v. Chr. erschwert es, Vergleiche für die besprochenen Figurinen vom Tell Halaf zu finden. Es sind bisher keine weiteren weiblichen Terrakotten, die diesem Typus angehören, in der Khabur-Region oder allgemein im syro-mesopotamischen Raum belegt. Die Darstellung des Gewandes findet Vergleiche innerhalb der Grabreliefkunst in Homs und Tarsus, wenn auch deutlich später, während der römischen Zeit des 1.– 2. Jhs. n. Chr.27 Der Gestus mit der erhobenen linken Hand der Frau ist hier jedoch nicht anzutreffen. Dieser geht direkt auf die griechischen Vorbilder aus der klassischen und hellenistischen Zeit zurück. Die griechische Grabikonographie zeigt oft Frauenstelen mit solcher Trauergestik, nämlich mit der erhobenen rechten Hand.28 Dieses Motiv ist in der Levante bereits seit dem 3.–2. Jh. v. Chr. u. a. in Sidon und Amrit anzutreffen.29 Der hellenistische Einfluss allgemein, also die westliche Komponente der griechisch-makedonischen Kultur, präsentiert sich im Lichte der archäologischen Hinterlassenschaften Syriens und Nordmesopotamiens als unterschiedlich stark. Die angesprochenen Regionen sind in der vorhellenistischen Zeit durch ein sehr unterschiedliches Erscheinungsbild sowohl ethnisch als auch kulturell geprägt worden. Insgesamt hat man hier mit einer Serie ungleich großer kultureller Einheiten von unterschiedlicher Bedeutung zu tun, die aber teilweise richtige Kulturlandschaften im strengen Sinne des Wortes gewesen sind. Insbesondere die Terrakottafigurinen vermitteln eine sehr gute Vorstellung von dieser Vielfalt.30 Dabei fällt auf, dass manche Figurinentypen, wie die hier besprochenen, ausschließlich in einer bestimmen Region anzutreffen sind, was kaum dem Zufall der Überlieferung zu verdanken sein dürfte. Die zu unseren/den hier vorgestellten Terrakottafigurinen gemachten Beobachtungen lassen sich mit der Verbreitung der reliefierten Grabplatten v. a. in der Levante, aber auch in der Euphratregion, insb. die Belkis-Membidj-Region in Einklang bringen.31 Ihre Ikonographie scheint als Vorbild für die Terrakottafigurinen gedient zu haben, wie das im Fall von Kharayeb bei Tyros deutlich wird.32 Schließlich bildet die Analyse der ersten zwei Punkte eine wichtige Grundlage für die Datierung der behandelten Figurinengruppe. Eine Datierung in die „palmyrenische Zeit“ würde zu einer Reihe von Problemen am Tell Halaf führen. Der Begriff „palmyrenisch“ impliziert eine Datierung in die römische Zeit (spätes 1.–3.

26

Parlasca 1982: 9–10. Parlasca 1982: 5–6. 28 Z. B. auf Stelen aus Chios (Wulfmaier 2005: Kat. GR 9, Taf. 26,1; oder aus Smyrna (Zanker 1993: Abb. 1, 3, 19, 20, 22, 24). 29 Marmorstele aus Amrit, heute in Louvre AO 4864. Dazu Gubel 2002: 41, Kat. 25–26, 79, 91–94. 30 Darauf weist auch Pruß (2010) bei seiner Behandlung der Terrakotten aus der AmuqaEbene hin. 31 Parlasca 1982: 17–22. 32 Damit sind vergleichbare Motive gemeint, insbesondere bei der Darstellung der Gewänder. Dazu vgl. Parlasca 1982: 5–7. 27

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Jh. n. Chr.), die mit der Grabplastik in Palmyra in Verbindung steht.33 Für Palmyra sind jedoch keine Terrakotten aus der hellenistischen Zeit belegt, die den Beispielen aus Tell Halaf entsprechen. Bisher sind für Palmyra nur großformatige LoculusVerschlussplatten34 aus lokalem Kalkstein nachweisbar.35 Spätestens seit den Neugrabungen am Tell Halaf ist belegt, dass die Besiedlung am Tell Halaf im späten 1. Jh. v. Chr. aufgegeben wurde.36 Wie bereits erwähnt, sind die genauen Fundumstände der beiden Figurinen aus den Altgrabungen nicht bekannt, glücklicher Weise aber zu dem Stück, das während der Neugrabungen aus eindeutig hellenistischem Kontext über dem assyrischen Statthalterpalast am Tell Halaf in der Grabungsstelle C stammt (TH07C-0117).37 Dadurch kann davon ausgegangen werden, dass auch die beiden weiteren Fragmente38 aus den Altgrabungen (Abb. 1–2) aus vergleichbaren Fundumständen stammen müssen. Auch die Ergebnisse der Neugrabungen ergaben keinerlei Nachweise für eine Besiedlung am Tell Halaf während der römischen Zeit.39 Aufgrund dieser Tatsachen sprechen alle Argumente dafür, dass die drei weiblichen Figurinen vom Tell Halaf (Abb. 1–3) ihre Vorbilder in der hellenistischen Grabplastik der levantinischen Küste und nicht in der palmyrenischen Plastik hatten. Auch der Halsschmuck der Figurinen zeigt Parallelen zu den nicht nur am Tell Halaf,40 sondern im gesamten syrischen Raum belegten sog. Astarte-Reliefs der achämenidischen Zeit, deren Frauendarstellung eine einfache Perlenkette um den Hals aufweist.41 Deshalb ist es denkbar, dass man sich an den bereits in der Region bekannten ikonographischen Vorbildern orientierte. Am Tell Halaf sind weibliche Darstellungen mit Perlenketten um den Hals bereits zu Beginn des 1. Jts. v. Chr. belegt.42 Die stratigraphischen Kontexte der Neugrabungen erlauben eine Datierung dieser Gruppe in die späthellenistische Zeit, wohl in das ausgehende 2.–1. Jh. v. Chr. Zusammenfassend kann Folgendes in Bezug auf die Ausgangsfragestellung, inwieweit die von Hrouda vorgeschlagene Datierung der Figurinen als „palmyrenisch“ überhaupt bestätigt werden und woran sich das festmachen lassen kann, kon33

Zur Datierung der Grabreliefs: Ingholt 1928; Colledge 1976; Parlasca 1985: 343–356; zuletzt Schmidt-Colinet 1992; Schmidt-Colinet 2004: 189–198 und zuletzt Plattner 2010: 159–160; Zur Grabarchitektur: Gawlikowski 1970; zur Forschungsgeschichte: Sadurska 1988: insbesondere 14–16. 34 Will 1951: 70–100; Makowski 1985: 69–117; Tanabe 1986; Schmidt-Colinet / Al-As’ad 2013: Bd. 1–2; Plattner 2010: 159–184. 35 Sadurska 1988: 15–16. 36 Becker / Novák 2012: 221–233, insbesondere 230–233; Katzy 2015. 37 Studien zum Assyrischen Statthalterpalast (in Vorber.). 38 Siehe Hrouda 1962: 14 Taf. 15 Nr. 130–131. 39 Becker / Novák 2012: 221–233, insbesondere 230–233; Katzy 2015. 40 Als Beispiel dafür seien zwei unpublizierte Astarte-Reliefs aus Tell Halaf TH08A-0127; TH08A-0129 erwähnt. 41 Pruß 2010: Taf. 23, 191–197. 42 Es handelt sich um Basaltreliefplatten und Skulpturen, die sich am Hilani und dem sog. Kultraum befanden. Dazu siehe Moortgat 1955: 195 A3, 165 (Taf. 93b); 196 A 3, 166 (Taf. 95a); 254–256 Bc, 6 (Taf. 135) und Bildwerke aus dem sog. Kultraum 266–268 C 1 (Taf. 146–148). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Wie die Spätzeit am Tell Halaf wieder mal für eine Überraschung gut ist!

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statiert werden: Die von Hrouda vorgelegte Interpretation muss aus zahlreichen Gründen revidiert werden. Hierfür sprechen mehrere Argumente: die Herstellungstechnik wie auch die ikonographischen Details und die Datierung. Die Interpretation des schmalen Absatzes an einem Figurinenfragment führte bei Hrouda zu den falschen Schlussfolgerungen, indem die Figurinen als Miniaturausgaben der Loculus-Verschlussplatten gedeutet wurden. Die Funktion dieses Details kann durch die Analyse der Herstellungstechnik der Figurinen geklärt werden: Die Figurinen gehören zu den im hellenistischen Osten sehr stark verbreiteten Beispielen der weiblichen Koroplastik, die seit dem 3. Jh. v. Chr. aus einteiligen Modeln gepresst werden. Sie erinnern an die sog. Astarte-Reliefs, die an den Seiten vergleichbare Absätze hatten. Diese entstehen durch eine bestimmte Herstellungstechnik und haben nichts mit den Loculus-Verschlussplatten zu tun. Die Analyse der ikonographischen Details lässt eher auf die hellenistische und nicht auf die römische Zeit schließen. Gegen die Deutung als palmyrenisches Relief spricht auch die stratigraphische Fundlage jener Figurine der Neugrabungen am Tell Halaf, die nachweislich aus den hellenistischen Schichten stammt. Die Besiedlungszeit am Tell Halaf endet darüber hinaus im ausgehenden 1. Jh. v. Chr., die römischen Schichten fehlen gänzlich. Demnach müssten die Figurinen wie die Reliefs aus Palmyra in die Zeit zwischen dem späten 1. Jh. n. Chr. und dem 3. Jh. n. Chr. datieren. Diese Schichten sind am Tell Halaf bisher nicht vorhanden. Auch sind in Palmyra keine solchen Terrakottafigurinen belegt oder gar bekannt. Die Terrakottafigurinen spiegeln die kulturpolitische Situation in Syrien wider, die eine sehr breite Vielfalt der regionalen Ikonographie zeigt. Somit hat die Spätzeit am Tell Halaf mal wieder eine überraschende Erkenntnis gebracht, die das Verständnis über die Koroplastik der Spätzeit in Obermesopotamien erweitert.

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Wie die Spätzeit am Tell Halaf wieder mal für eine Überraschung gut ist!

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Der Tell Halaf und die neuassyrische Kunst Winfried Orthmann / Mandelbachtal Bei den Ausgrabungen, die unter der Leitung von Max von Oppenheim in Tell Halaf durchgeführt wurden, sind nur ganz wenige Bildwerke gefunden worden, die der neuassyrischen Bildkunst zugerechnet werden können; sie wurden von Anton Moortgat in Kapitel E seiner Publikation der Bildwerke vorgestellt.1 Es handelt sich um einen Kopf mit Teilen des Oberkörpers von einem Rundbildwerk, der sich heute im Vorderasiatischen Museum in Berlin befindet,2 und um das Bruchstück einer kleinen Stele, das in das British Museum in London gelangt ist.3 Anders als in Til Barsib und Arslan Tash wurden in Guzana die Stadttore offenbar nicht mit Torskulpturen ausgestattet,4 und auch das Südtor der Zitadelle blieb ohne Bildwerke. Die in Syrien bekannt gewordenen Statthalterpaläste (Til Barsib, Arslan Tash, Tell Masaikh) sind nicht mit Torfiguren oder Orthostatenreliefs ausgestattet. An die Stelle der Wanddekoration mit Reliefs tritt hier die Wandmalerei, die in Til Barsib wesentlich besser erhalten geblieben ist als im assyrischen Kernland. In Tell Halaf fanden sich in dem bedeutenden Statthalterpalast aus der Zeit der assyrischen Herrschaft keine Reste von Wandreliefs oder Wandmalereien.5 Die 1979 in Tell Fecherije entdeckte Statue des Statthalters Adad-id’i von Guzana (Abb. 1a‒1c), so die assyrische Inschrift, hat gezeigt, dass in Guzana auch nach dem Verlust der Unabhängigkeit Bildhauer tätig gewesen sind. In einem 1981 erschienenen Aufsatz hat Ali Abou Assaf eine detaillierte Beschreibung der Figur gegeben6 und, wie auch in der zusammen mit P. Bordreuil und A. Millard verfassten Hauptpublikation7, auf die Verbindung zu neuassyrischen Bildwerken hingewiesen. Diese Abhängigkeit zeigt sich insbesondere in der Darstellung des Gewandes, das sehr genau dem assyrischen Schalgewand 38 entspricht.9 Auch das schräg in den Nacken fallende Haupthaar erinnert an die Art, in der das Haar bei assyrischen 1

Moortgat 1955: 125. Cholidis / Martin 2010: 250‒251. 3 Cholidis / Martin 2010: 379. 4 Bisher wurde keines der Stadttore von Guzana ausgegraben. Anders als im assyrischen Kernland zeichnen sich nirgends im Verlauf der Stadtmauer so bedeutende Erhebungen ab, wie sie hätten entstehen müssen, wenn die Stadttore ähnlich wie in Khorsabad oder Ninive gestaltet gewesen wären. 5 Das Fehlen von Wandmalerei könnte mit dem schlechten Erhaltungszustand der Mauern in den repräsentativen Räumen des Palastes zusammenhängen. Auch der sicher vorhandene Gipsverputz der Wände wurde bei den Ausgrabungen nur an wenigen Stellen angetroffen. 6 Abou Assaf 1981. 7 Abou Assaf / Bordreuil / Millard 1982. 8 Hrouda 1965: 38‒39. 9 Diese Gewanddarstellung findet sich seit der Zeit des Assurnasirpal II. im Wandrelief (z. B. Hrouda 1965: Taf. 52,2). Agnes Spycket verweist auf das Vorkommen dieses Gewandtyps im 8. und 7. Jh. v. Chr. und sieht darin m. E. zu Unrecht einen Beleg für eine Spätdatierung der Statue aus Tell Fecherije (Spycket 1985: 67). 2

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Bildwerken vom 9. bis zur Mitte des 8. Jhs. v. Chr. gestaltet ist, auch wenn, wie schon Abou Assaf bemerkt, im Detail Unterschiede festzustellen sind.10

1b

1a Abb. 1a‒1c

10

1c Statue des Adad-id’i (Aufnahmen des Autors)

Abou Assaf 1981: 8. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Der Tell Halaf und die neuassyrische Kunst

2a Abb. 2a‒2b

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2b Statue des assyrischen Königs Salmanassar III. (Abb. 2a nach Orthmann 1975, Abb. 172; Abb. 2b nach Strommenger 1970, Taf. 5)

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Die Darstellung des sich nach unten hin verjüngenden Barthaares mit wellenförmigen Strähnen, die von zwei Reihen von Ringellocken ausgehen, entspricht dagegen eher dem Vorbild der Bildwerke aus Tell Halaf aus der vorassyrischen Zeit, worauf Abou Assaf ebenfalls hingewiesen hat.11 Die auffallendsten Merkmale, in denen sich die Statue des Adad-id’i von neuassyrischen Rundbildwerken unterscheidet, sind aber nicht die Einzelheiten, sondern die Proportionen und die Körperhaltung. Bei der 103 cm großen Statue des Salmanassar III. aus Nimrud12 (Abb. 2a‒2b) entfallen ca. 18 cm (17.5 %) auf den Kopf, ca. 22 cm (21.5 %) auf den Oberkörper (Schulter bis Gürtellinie) und ca. 63 cm (61 %) auf den Unterkörper (Gürtellinie bis Unterkante Füße).13 Ganz ähnliche Maßverhältnisse ergeben sich bei der Statue des Assurnasirpal II. aus Nimrud. 14 Bei der Statue des Salmanassar III. ergibt sich somit ein Verhältnis von Oberkörper zu Unterkörper von 1:2.9, bei der Statue des Assurnasirpal II. beträgt dieser Wert 1:2.7. Auch bei jüngeren Bildwerken aus Nimrud15 oder Arslan Tash16 liegen ähnliche Maßverhältnisse vor, nur dass die Köpfe dort aufgrund der hohen Kopfbedeckung einen größeren Anteil der Gesamthöhe der Figuren aufweisen. Bei der Statue des Adad-id’i entfallen bei einer Gesamthöhe von 165 cm 35 cm (21.9 %) auf den Kopf, 45 cm (28 %) auf den Oberkörper und 85 cm (52.1 %) auf den Unterkörper. Somit ergibt sich ein Verhältnis von Oberkörper zu Unterkörper von 1:1.9, d. h. hier ist der Oberkörper im Verhältnis zum Unterkörper wesentlich höher gearbeitet. Während bei neuassyrischen Statuen die Füße weitgehend vom Gewand überdeckt werden und nur die vorderen Teile der Füße mit den Zehen sichtbar sind, sitzt bei Adad-id’i der Gewandsaum höher, so dass die Füße mit dem Fußgelenk und die Sandalen vollständig sichtbar sind. Dabei kann man beobachten, dass – anders als bei neuassyrischen Rundbildern – der rechte Fuß leicht zurückgesetzt wird, was sich auch im Querschnitt des unteren Teils des Gewandes abzeichnet. Ein weiterer Unterschied zwischen der Statue des Adad-id’i und neuassyrischen Rundbildwerken besteht in der Körperhaltung. Bei der Statue des Salmanassar III. ist die Körpermitte aus der Achse der Figur nach vorne verschoben, während die Schulter deutlich zurückgenommen wird; auf diese Weise ergibt sich für den Oberkörper eine Neigung von ca. 15° nach hinten. Ähnlich verhält es sich bei der Statue des Assurnasirpal II. Bei der Statue des Adad-id’i ist zwar ebenfalls eine leichte Neigung des Oberkörpers festzustellen, sie ist aber nicht so stark ausgeprägt, und die Körpermitte ist nicht nach vorne verschoben. 11

Abou Assaf 1981: 9. Neben dem dort genannten Skorpionvogelmenschen können hier besonders der en face dargestellte Gott vom Eingang des Westpalastes (Moortgat 1955: Taf. 108; Cholidis / Martin 2010: Taf. 2) sowie der Sphingensockel (Cholidis / Martin 2010: 250; Gubel 2000) als Vergleichsobjekte genannt werden. 12 Strommenger 1970: 16, Nr. S2; Oates 1962: Taf. 8. 13 Alle Maßangaben sind nur ungefähr, da sie nicht am Original gemessen, sondern aus den Abbildungen errechnet wurden. 14 Budge 1914: Taf. 1; Strommenger 1970: 13‒14, Nr. An1. 15 Strommenger 1970: 18‒19; Orthmann 1975: Abb. 173, a. 16 Thureau-Dangin et al. 1931: Taf. 1; Strommenger 1970: 21‒22. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Der Tell Halaf und die neuassyrische Kunst

3a

3c Abb. 3a Abb. 3b‒3c Abb. 3d

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3b

3d Ansicht des Sitzbildes des Kammaki von vorne (nach Röllig 2003: 432) Seiten- und Rückansicht des Sitzbildes des Kammaki (Foto U. Runge, © Tell Schech Hamad Archiv) Ansicht des Sitzbildes des Kammaki von oben (© Lutz Martin)

Die Merkmale, in denen sich die Adad-id’i-Statue von neuassyrischen Bildwerken unterscheidet, finden eine weitgehende Entsprechung bei der Götterstatue der Kapara-Zeit aus dem Westpalast (Hilani). Bei einer Gesamthöhe von 265 cm © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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entfallen bei ihr 54 cm (20.4 %) auf den Kopf, 76 cm (28.7 %) auf den Oberkörper und 135 cm (50.9 %) auf den Unterkörper, das Verhältnis von Oberkörper zu Unterkörper beträgt also ungefähr 1:1,8. In der früheren Rekonstruktion im Tell HalafMuseum17 wies das Götterbild noch eine leichte Vorwölbung der Körpermitte und damit eine leichte Schrägstellung des Oberkörpers auf, in der neuen Wiederherstellung18 ist diese nicht mehr so ausgeprägt. Dass die Füße bei dem Gott vollständig sichtbar sind, hängt auch mit der andersartigen Gewanddarstellung zusammen, die auch hier anzutreffende Beinstellung mit dem leicht zurückgesetzten rechten Fuß ist davon unabhängig. Es zeigt sich also bei genauerer Betrachtung, dass die Statue des Adad-id’i eine Reihe von Eigenheiten bewahrt hat, die sie mit der Bildkunst der Kapara-Zeit verbinden. Der auf der Statue eingravierte Text, eine Bilingue, besteht sowohl in der assyrischen wie der aramäischen Sprachversion aus zwei Teilen, von denen jeder für sich eine vollständige Weihinschrift darstellt. Schon in der Hauptpublikation haben die Autoren hierfür eine Erklärung gesucht.19 Sie nahmen an, dass der erste Teil der Inschriften von einer früheren Statue übertragen worden sei.20 Dass die beiden Teile der Inschrift zu unterschiedlichen Zeiten nacheinander angebracht worden seien, wurde mit guten Gründen ausgeschlossen. Die eingehende Untersuchung der Teiltexte durch F.M. Fales21 hat in dieser Hinsicht keine neuen Gesichtspunkte erbracht. In diesem Zusammenhang ist zu überlegen, was die sowohl in der akkadischen wie der aramäischen Version des zweiten Inschriftteils enthaltene Formulierung beinhaltet, die ausdrücklich besagt, dass Ada-id’i diese Statue besser (oder schöner) als vorher gemacht habe.22 Es ist denkbar, dass – wie in der Hauptpublikation angenommen – eine neue Statue als Ersatz für eine ältere im Tempel aufgestellt wurde, wobei aber unklar bleibt, was aus der älteren geworden ist; wenn sie noch vorhanden war, ist schwer verständlich, warum man deren Inschrift auf die neue Statue übertragen hat. Eine andere Möglichkeit scheint mir zu sein, dass das Bildwerk überarbeitet wurde, wobei die ursprüngliche Oberfläche verlorenging, und dass man – aus Pietät? – die ältere Inschrift auf der neuen Oberfläche wieder angebracht hat. Wenn man diese Möglichkeit in Betracht zieht, könnte es sich um eine ‚Assyrisierung‘ eines ursprünglich in einheimischer Tradition gearbeiteten Bildwerks gehandelt haben; dies würde die Beibehaltung der ursprünglichen Proportionen und der Beinstellung erklären. Diese Eigenheiten sind aber auch dann verständlich, wenn man annimmt, dass das Bildwerk von einem Künstler geschaffen wurde, der noch in der Tradition der Kapara-Zeit arbeitete.

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Moortgat 1955: Taf. 130‒131. Cholidis / Martin 2010: Taf. 24‒25. 19 Abou Assaf / Bordreuil / Millard 1983: 68. 20 Es wurde auch in Erwägung gezogen, dass es zwei frühere Statuen gegeben haben könnte: eine mit der assyrischen, die andere mit der aramäischen Version der ersten Inschrift. 21 Fales 1983. 22 Zeilen 23‒4 des akkadischen Textes: eli maḫ-r-e ú-šá-ter. 18

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In jedem Fall kann man davon ausgehen, dass der zeitliche Abstand zwischen Kapara und Adad-id’i nicht allzu groß gewesen ist. Ein weiteres Bildwerk, das Einflüsse der neuassyrischen Kunst aufweist, ist das 1999 bei Bauarbeiten gefundene Sitzbild des Kammaki (Museumsnummer DeZ07970).23 Wie schon von Wolfgang Röllig angegeben, handelt es sich dabei um ein Bildwerk, das im Typus den beiden älteren Sitzbildern aus dem Südmassiv entspricht, die durch ihre Aufstellung über Grabschächten als Objekte der Toten- bzw. Ahnenverehrung bestimmt werden können. Leider ist über den Fundkontext der Kammaki-Figur nichts bekannt. Außer dem Bildtyp und der vermuteten Verwendung der Kammaki-Figur verbindet diese nichts mit der vorassyrischen Bildkunst des Tell Halaf. Da der Kopf und ein wesentlicher Teil des Oberkörpers abgebrochen sind und fehlen, lässt sich über die Proportionen nichts aussagen. Die Gestaltung des Gewandes entsprach ganz neuassyrischen Vorbildern, das Rosettenarmband ist ebenfalls ein neuassyrisches Schmuckstück, und auch die Andeutung der Armmuskulatur entspricht dem, was wir aus der neuassyrischen Kunst kennen. Von den Füßen wird nur der vordere Abschnitt sichtbar. Die sehr blockhafte Gestaltung des unteren Teils des Bildwerkes und die nicht sehr sorgfältige Ausarbeitung der Gewanddetails zeigen ebenso wie die von W. Röllig beschriebenen Mängel in der Ausführung der Inschrift, dass wir es nicht mit einer sehr qualitätvollen Arbeit zu tun haben. Insofern kann man bezweifeln, ob Kammaki wirklich ein Angehöriger der Herrscherfamilie gewesen ist, sollte diese in der Mitte des 8. Jhs. v. Chr. in der Gesellschaft von Guzana noch eine bedeutende Rolle gespielt haben.24 In jedem Fall ist das Bildwerk ein Beleg dafür, dass die ‚Assyrisierung‘ von Guzana in dieser Zeit weit fortgeschritten war.

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Röllig 2003. In diese Zeit wird das Bildwerk von W. Röllig wohl zu Recht datiert (Röllig 2003: 424−426). 24

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Funktionale Aspekte der Keramikinventare aus dem Assyrischen Statthalterpalast von Tell Halaf / Guzana Uwe Sievertsen / Tübingen In den Jahren 2006 bis 2010 wurden bei den neuen, von Abd el-Masih Hanna Baghdo (Antikenverwaltung Hassake) für die Generaldirektion der Altertümer und Museen Damaskus und Lutz Martin (Vorderasiatisches Museum) für die Staatlichen Museen zu Berlin1 durchgeführten syrisch-deutschen Ausgrabungen auf dem Tell Halaf in Grabungsstelle C der Zitadelle ausgedehnte Bereiche des erstmals von Max Freiherr von Oppenheim untersuchten neuassyrischen Statthalterpalastes freigelegt.2 Namentlich im Südflügel wurden aus mehreren neu aufgedeckten Höfen und Räumen teilweise sehr aufschlussreiche Keramikinventare geborgen, die einer ersten und zweiten Nutzung (Phasen C8 und C7) sowie einer Nachnutzung (Phase C6) des Palastes zugeordnet werden konnten. Für die Endpublikation der Grabungen im Statthalterpalast wurde die Keramik auch in die funktionale Deutung der Architektur einbezogen. Einige der dabei erzielten Ergebnisse sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.3 Phase C8 Historische Ereignisse wie die Eingliederung von Guzana in das assyrische Provinzialsystem machen in Verbindung mit dem Zeugnis von Stratigraphie, Funden und Keramik4 eine Datierung der Phase C8, also der ersten Palastnutzung, in die Zeit zwischen etwa der Mitte des 9. und der Mitte des 8. Jhs. v. Chr. wahrscheinlich. Die Architektur der Phase C8 konnte in Grabungsstelle C allerdings nur unvollständig erforscht werden, da sie vielfach noch unter den Befunden der Phasen C7 und C6 verborgen liegt (Abb. 1). Inventare kommen so bloß aus Hof C1:C und Bereich C1:E/D,5 während es für die übrigen nachgewiesenen Räume der ersten

1 Dem Jubilar möchte ich, verbunden mit den allerbesten Wünschen für die Zukunft, für seine großzügige Einladung zur Bearbeitung der eisenzeitlichen Keramik von Tell Halaf sowie viele unvergessliche Erlebnisse auf zahlreichen Grabungskampagnen in Nordostsyrien sehr herzlich danken! 2 Zunächst ist der „Nordost-Palast“ noch fälschlich in die aramäische Epoche datiert worden. Vgl. Langenegger / Müller / Naumann 1950: 12, 224–226. 3 Die Ausgrabungen im Statthalterpalast erfolgten unter der Leitung von Samer Abdel Ghafour und Mirko Novák. Für die bevorstehende Endpublikation bearbeitete Jochen Schmid die Architektur und Raphaela Heitmann die Stratigraphie sowie die Kleinfunde. Die Keramikzeichnungen wurden von Gabriele Elsen-Novák angefertigt. Ausführliche Vorberichte wurden von Baghdo et al. 2009 und Baghdo et al. 2012 veröffentlicht. 4 Im Hinblick auf Parallelen zur eisenzeitlichen Keramik von Tell Halaf vgl. allgemein Kreppner 2006, Anastasio 2010 und Hausleiter 2010. 5 Architektonische Einheiten des Statthalterpalastes, die nicht eindeutig als einzelner Hof oder Raum angesprochen werden können, tragen die Bezeichnung „Bereich“.

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Palastnutzung C1:H, C1:CC, C1:G und C1:B bislang noch kein stratifiziertes Fundmaterial gibt.

Abb. 1

Assyrischer Statthalterpalast von Tell Halaf/Guzana, neu freigelegter Teil des Südflügels (Phase C8).

Von dem lediglich auf begrenzter Fläche erfassten Pflaster des Hofes C1:C stammt stark zerscherbte Keramik, die vorwiegend aus Schalen (Abb. 2-2) und Schüsseln sowie Flaschen (Abb. 2-1) und Töpfen (Abb. 2-3) besteht. Becher, Gefäßständer, Lampen (Abb. 2-5) und Miniaturgefäße sind jeweils nur in einem Beleg vertreten. Der Nachweis diverser Kochtöpfe (Abb. 2-4) und eine Anzahl von Schalen kleiner und mittlerer Größe könnten andeuten, dass der Hof nicht bloß als Verteiler und Lichtspender für die angrenzenden Räume, sondern auch als Ort der Zubereitung und gegebenenfalls des Verzehrs von Nahrungsmitteln gedient hat. Den einzigen weiteren Fundkontext der Phase C8 mit stratifizierter Keramik bildet der östlich des Hofes gelegene Bereich C1:E/D. Von dort stammt das größte Keramikinventar aus den neu erforschten Räumen des Statthalterpalastes. Es verteilt sich über den gesamten Ostteil des Bereichs und setzt sich hauptsächlich aus Vorratsgefäßen in Gestalt großer und mittelgroßer Flaschen (Abb. 2-6, 2-8) sowie einer geringeren Anzahl von Töpfen (Abb. 2-9) und Großgefäßen zusammen. Ebenfalls gut bezeugt ist Geschirr, bestehend aus Schalen (Abb. 2-10), Schüsseln und Bechern (Abb. 2-11). Die Gefäße hatte man direkt auf dem Fußboden, teilweise auch in flachen Mulden sowie in einem Stampflehmkasten vor der Nordostwand abgestellt (Abb. 3). Vermutlich wurde der Bereich C1:E/D, in dem auch mehrere Reibsteine

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zum Mahlen von Getreide nachgewiesen werden konnten, in Phase C8 zur Lagerung und Verarbeitung von Nahrungsmitteln genutzt.6 Der in C1:E/D sehr häufige Flaschentyp mit schlankem, spitzovalem Gefäßkörper (Abb. 2-6) bildet eine für den ganzen Südtrakt des Statthalterpalastes charakteristische Gefäßform, die in unterschiedlichen Größen von Phase C8 bis in die Nachnutzung der Phase C6 belegt ist. Weiterhin kennzeichnend sind Flaschen bzw. Vorratsgefäße mit ovalem Körper (Abb. 2-7, 2-8).

Abb. 2

Keramik der Phase C8 aus Hof C1:C und Bereich C1:E/D.

6 Ursprünglich vorgesehene Inhaltsrückstandsanalysen an den Gefäßen aus Bereich C1:E/D sind infolge der tragischen Ereignisse in Syrien leider nicht mehr durchgeführt worden.

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Abb. 3

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Osthälfte des Bereichs C1:E/D der Phase C8 mit Installationen und Keramik in Fundlage.

Phase C7 Für die Phase C7, also die zweite Palastnutzung, erlauben die Befunde und Funde eine vorsichtige Datierung von etwa der Mitte des 8. bis zum Ende des 7. Jhs. v. Chr. Dabei lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht ermessen, ob das Gebäude der Phase C8 lediglich baufällig geworden oder vielleicht auch bei der Niederschlagung eines Aufstandes im Jahre 759/758 v. Chr. beschädigt worden ist. Die Architekturreste und Rauminventare der Phase C7 konnten sehr viel großflächiger freigelegt werden als diejenigen der Phase C8 (Abb. 4). Seinerzeit kam es zu diversen Umbauten, die einschneidende Veränderungen im Südflügel des Assyrischen Statthalterpalastes zur Folge hatten. Hervorzuheben ist namentlich eine beträchtliche Verkleinerung des Hofes durch die Integration dreier Raumzeilen im Westen und Osten. Insgesamt wurden in Grabungsstelle C ein Hof und zwölf Räume/Bereiche aus Phase C7 erfasst. Neben der Architektur im engeren Sinne tragen zu ihrer funktionalen Deutung fest installierte Einbauten sowie die Keramik- und Kleinfundauswertung bei. Mit Ausnahme der Töpferwaren vermitteln die Inventare der Phase C7 jedoch den Eindruck eines Gebäudes, das vor dem Verlassen leergeräumt wurde. Es liegen nur wenige Kleinfunde vor, die für eine funktionale Analyse von unmittelbarem Aussagewert sind. Zum Teil sehr umfangreiche Keramikinventare sind hingegen sowohl für Hof C1:CF als auch für elf weitere Räume bzw. Bereiche bezeugt, wobei allerdings die Scherben aus Raum C1:CG auf der Westseite des Hofes und Raum C1:B im östlichen Abschnitt der Grabung aufgrund des vorzeitigen Abbruchs der Feldfor© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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schungen nicht mehr ausgewertet werden konnten. In dem südlich an C1:CG anschließenden Bereich C1:CH ist der Fußboden der Phase C7 noch unter den Befunden der Phase C6 verborgen, weshalb von dort keine Inventarreste kommen.

Abb. 4

Assyrischer Statthalterpalast von Tell Halaf/Guzana, neu freigelegter Teil des Südflügels (Phase C7).

Die Teile des Südflügels, für die eine Nutzung näher eingegrenzt werden kann, scheinen in Anbetracht der Keramik, die zumeist durch Vorratsgefäße und Geschirr geprägt ist, als auch im Hinblick auf diverse Installationen einmal mehr hauptsächlich der Lagerung von Nahrungsmitteln oder auch anderer Güter sowie allgemein wirtschaftlichen Zwecken gedient zu haben.7 So ist die Keramik aus Hof C1:CF mehrheitlich durch Flaschen (Abb. 5-1), Schalen (Abb. 5-2) und Schüsseln sowie fernerhin auch Töpfe (Abb. 5-3, 5-4) und Großgefäße charakterisiert, neben denen nur vereinzelt andere Gefäßarten erscheinen. Unabhängig von der Rolle des Hofes als zentrale, wenngleich durch den Umbau deutlich verkleinerte Verkehrsfläche spricht das keramische Inventar für eine Funktion im Bereich der Magazinierung und, angesichts zahlreicher Tierknochen und einiger Kochtopfscherben, vielleicht auch wie zuvor schon in Phase C8 der Zubereitung von Speisen. Auf Aktivitäten der Lagerung und Vorratshaltung deutet gleichfalls das reichhaltige Keramikinventar des in Phase C7 neu entstandenen kleinen Raumes C1:CB auf der östlichen Hofseite. Während in den hohen und schlanken Flaschen (Abb. 57

Ein Mörser in Raum C1:CG deutet darauf hin, dass sich dort ebenfalls ein Arbeitsbereich befunden hat. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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5, 5-6) Flüssigkeiten aufbewahrt worden sein dürften, mögen die teilweise aus Feinware gefertigten, vielfach eher kleinen Schalen (Abb. 5-9), Schüsseln und Becher (Abb. 5-8) zum Umfüllen oder als Ess- und Trinkgeschirr benutzt worden sein. Verwendungszweck der Töpfe (Abb. 5-7) sollte mehrheitlich ebenfalls die Bevorratung gewesen sein, obschon auch etwas Kochtopfware vorliegt. Zugleich deutet ein Fund von zahlreichen Webgewichten entlang der südlichen Raumwand von C1:CB an, dass dort ein Webstuhl gestanden haben könnte.

Abb. 5

Keramik der Phase C7 aus Hof C1:CF, Raum C1:CB und Bereich C1:CA. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Das stark zerscherbte Inventar des nach Süden hin anschließenden Raumes C1:CN war weit weniger gut erhalten als das aus C1:CB. Unter den Gefäßen befanden sich viele Schalen und Schüsseln sowie ebenfalls eine stattliche Anzahl von Flaschen. Die Zusammensetzung der Keramik mag auch hier auf eine Speicherfunktion weisen, wobei der Fund eines Mörsers zeigt, dass der langgestreckte Raum auch als Arbeitsbereich gedient hat. Die Keramikanalyse lässt eine Lagerfunktion ferner für den einer weiteren Raumzeile zugehörigen, östlich angrenzenden Bereich C1:CA möglich erscheinen. Da dort jedoch nur ein sehr kleiner Abschnitt des Fußbodens der Phase C7 und des damit verbundenen Rauminventars erfasst worden ist, steht diese Einschätzung unter Vorbehalt. Insbesondere lässt sich nicht sagen, ob dem relativ hohen Anteil der Feinwaren (Abb. 5-10) in Bereich C1:CA eine besondere Bedeutung zukommt. Das Inventar aus dem nördlich des Hofes C1:CF gelegenen Raum C1:H enthielt unter anderem Scherben von großen Flaschen. Mit Blick auf den beide Zonen verbindenden Plattenweg ist C1:H aber sicher vornehmlich als Vestibül anzusehen. Die aufgrund des Grabungsabbruchs bloß in geringem Umfang bearbeitete Keramik kann darüber hinaus nur wenig zur Bestimmung der einstmaligen Raumnutzung beitragen. Auch bei dem nordöstlich des Hofes C1:CF gelegenen Raum C1:CC ist die Aussagekraft der Keramikanalyse eingeschränkt, da das reiche Inventar aus dem Nordabschnitt des Raumes nicht mehr ausgewertet werden konnte. Die vielen, teilweise sehr großen Flaschen (Abb. 6-1, 6-2) aus dem in Phase C7 nachweislich von Norden her erschlossenen Raum lassen jedoch vermuten, dass in C1:CC in größerem Umfang Flüssigkeiten gelagert waren. Andere Güter hat man offenbar in Töpfen (Abb. 6-3) aufbewahrt. Erwähnt sei ebenfalls noch das zahlreiche Geschirr, darunter mehrere Schüsseln (Abb. 6-4, 6-5). Ein in den Fußboden eingelassener Mörser ebenso wie diverse Steinwerkzeuge, Webgewichte und Spinnwirtel dürften zugleich anzeigen, dass der Raum nicht nur zu Speicherzwecken, sondern auch als Produktionsstätte fungiert hat. In dem östlich an C1:CC angrenzenden Raum C1:G ließ sich nur wenig Keramik sicher dem Inventar der Phase C7 zuweisen. Die beiden Beckeninstallationen des Raumes, die mit einem mehrfach erneuerten Gips- bzw. Kalkverputz versehen waren, weisen aber darauf hin, dass C1:G zu Wirtschaftszwecken gedient hat und dort mit Flüssigkeiten gearbeitet worden sein dürfte. Die Keramik aus dem östlich an Bereich C1:CA anschließenden Raum C1:E ist durch eine Anzahl von Schalen und Schüsseln, mehrere Flaschen (Abb. 6-6) und Töpfe sowie singuläre Belege von Ständern und Miniaturgefäßen charakterisiert. Allerdings konnte infolge zahlreicher Störungen bloß ein geringer Teil des ursprünglichen Rauminventars geborgen werden. Bei dem über einen breiten Durchgang im Westen mit C1:E verbundenen Raum C1:D besteht die Keramik in der Hauptsache aus Geschirr und Vorratsgefäßen (Abb. 6-7, 6-8). Dies könnte wieder auf eine Magazinfunktion deuten. Auffällig ist jedoch eine relative Häufung von Feinkeramik im nördlichen Raumabschnitt. Auch in Raum C1:E ist der Anteil der Feinwaren an der Keramik relativ hoch. Möglicherweise haben sich die in C1:E und C1:D aufbewahrten Güter qualitativ von denjeni© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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gen in den Räumen mit Konzentrationen großer Flaschen wie etwa C1:CB und C1:CC unterschieden.

Abb. 6

Keramik der Phase C7 aus Raum C1:CC, Raum C1:E, Raum C1:D und Bereich C1:F. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Das keramische Inventar des an der östlichen Peripherie des Palastes gelegenen Bereichs C1:F ist maßgeblich durch zwei große Vorratsgefäße geprägt, einen ca. 80 cm hohen Pithos (Abb. 6-9) und eine Flasche, die man jeweils in Standmulden eingelassen hatte. Die beiden Gefäße liefern die wichtigsten Hinweise auf die einstmalige Nutzung des Bereichs. Während der Pithos bei seiner Freilegung noch ausgezeichnet erhalten war, ist die Flasche in stark fragmentiertem Zustand angetroffen worden. Ebenfalls noch aus C1:F stammt ein fast vollständiger Becher (Abb. 6-10). Phase C6 Mit dem Untergang des Assyrerreiches 612 v. Chr. hat der Statthalterpalast von Guzana seine Funktion als Residenz und Verwaltungssitz wahrscheinlich eingebüßt. Jedoch kam es in Phase C6 zu einer Nachnutzung des Gebäudes, in der der ehemalige Palast offenbar in verschiedene voneinander getrennte Bereiche aufgegliedert wurde. Dabei mögen mehrere ausgezeichnet erhaltene Inventare andeuten, dass trotz der veränderten Rahmenbedingungen zumindest vom keramischen Befund her in einigen der untersuchten Gebäudeteile eine gewisse Kontinuität der Raumfunktionen gewahrt blieb. Erkennbar hat sich auch in Phase C6 im vormaligen Südflügel des Gouverneurspalastes eine Reihe von Räumlichkeiten befunden, die zur Magazinierung von Gütern, als Arbeitsbereiche und Kochstellen genutzt worden sind. Gleichzeitig lässt sich in Tell Halaf ähnlich wie an anderen Ausgrabungsorten waren- und formtypologisch keine klare Zäsur zwischen der Keramik der „postassyrischen“ Zeit und den spätassyrischen Töpferwaren der vorangehenden Phase C7 ausmachen.8

Bibliografie Anastasio 2010 Stefano Anastasio, Atlas of the Assyrian Pottery of the Iron Age. Subartu XXIV, Turnhout. Baghdo et al. 2009 Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Tell Halaf. Vorberichte über die erste und zweite syrisch-deutsche Grabungskampagne. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,1, Wiesbaden. Baghdo et al. 2012 Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann (Hrsg.), Tell Halaf. Vorberichte über die dritte bis fünfte syrisch-deutsche Grabungskampagne. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,2, Wiesbaden. Hausleiter 2010 Arnulf Hausleiter, Neuassyrische Keramik im Kerngebiet Assyriens. Chronologie und Formen. Abhandlungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 27, Wiesbaden. 8 Vgl. die richtungsweisende Untersuchung von Kreppner 2006 zur Keramik aus DūrKatlimmu.

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Kreppner 2006 Florian Janoscha Kreppner, Die Keramik des „Roten Hauses“ von Tall Šēḫ Ḥamad/DūrKatlimmu: eine Betrachtung der Keramik Nordmesopotamiens aus der zweiten Hälfte des 7. und aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Berichte der Ausgrabung Tall Schech Hamad/DurKatlimmu 7, Wiesbaden. Langenegger / Müller / Naumann 1950 Felix Langenegger / Karl Müller / Rudolf Naumann, Tell Halaf II. Die Bauwerke, herausgegeben von Max Freiherr von Oppenheim, Berlin.

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„Der elende Feind von Ḫatti“ und sein Versteck Der Tell Sefinet Nuḫ und seine strategische Rolle während der Schlacht von Kadeš Alexander Ahrens / Berlin Dieser kleine Beitrag sei Lutz Martin freundschaftlich zugeeignet Einleitung Die Schlacht von Kadeš zwischen den Ägyptern unter Ramses II. und den Hethitern unter Muwattalli II. im Jahr 1274 v. Chr. ist hinlänglich bekannt und in zahlreichen Studien behandelt worden. Die Untersuchungen haben sich detailliert mit der chronologischen Rekonstruktion der Kampfhandlungen sowie den historischen Zusammenhängen und Nachwirkungen beschäftigt; darauf soll daher hier nicht näher eingegangen werden.1 Archäologische Nachweise der Schlacht sind vor Ort bisher nicht gefunden worden und auch eine Verortung des in den spätbronzezeitlichen Quellen doch sehr detailliert beschriebenen und auf ägyptischen Reliefs dargestellten Verlaufs der Schlacht ist kaum möglich, nicht zuletzt auch bedingt durch die kontinuierliche Überprägung und damit verbundene Veränderung der spätbronzezeitlichen Landschaft. Ein Aspekt der historischen Topografie, der es ermöglichen könnte, das generelle Kampfgeschehen topografisch ein wenig besser zu verorten, soll hier vorgestellt werden. Das Präludium zur Schlacht von Kadeš: „Alt-Kadeš“ und das Versteck der Hethiter Ramses II. zog zu Anfang April 1274 v. Chr., in seinem fünften Regierungsjahr, aus Ägypten in die Levante. Das große Heer, insgesamt wohl über 20´000 Mann stark, inklusive ausländischer Söldner, marschierte in Richtung Norden. Ramses II. führte die Division „Amun“. Ihr folgten in einem Abstand die übrigen Einheiten „Re“, „Ptaḥ“ und „Seth“. In der Ebene von Scharon trennte sich eine weitere Truppe (eine Eingreiftruppe) vom Hauptheer. Diese sollte an der Küste bis zur Mündung des Eleutherus (Naḥr al-Kabir al-Ğanūbi) und dann von Westen her über die „Senke von Homs“ in Richtung Kadeš vorrücken, während Ramses II. mit der Division „Amun“ und nachfolgende Divisionen auf direktem Wege dorthin, d. h. durch die BeqaʿaEbene, marschierten. Die ägypytische Armee stieß also, nicht sonderlich überraschend, von Süden und Westen kommend auf Kadeš vor. Kurz vor der Ankunft fingen die Ägypter zwei – wie sich erst später herausstellen wird – Spione ab, die fälschlich mitteilten, dass 1

Vgl. u. a. Kitchen 1979; Kuschke 1979; von der Way 1984; Murnane 1990. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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sich das Heer der Hethiter noch bei Aleppo befinden würde. Die hethitische Armee unter Muwattalli II., ähnlich groß und ebenfalls aus unterschiedlichen Kontingenten zusammengesetzt, war vom hethitischen Kerngebiet aus über Norden kommend durch Aleppo/Ḥalab (heth. Halpa) aber bereits in Richung Kadeš vorgestoßen.2

Abb. 1

Karte der zentralen Levante mit den im Text erwähnten Fundorten (Karte: A. Ahrens, auf Grundlage von www.landkartenindex.de).

Das bronzezeitliche Kadeš (heth. Qinza) selbst, unmittelbar am Orontes (Naḥr alAṣi) südlich des Zusammenflusses mit dem nach Osten fließenden Mukadījeh gelegen, ist durch Tontafelfunde zweifelsfrei mit dem Fundort Tell Nebi Mend zu identifizieren, so dass die generelle Verortung der Schlacht, der genius loci, im Umfeld des Tell Nebi Mend als gesichert gelten darf (Abb. 1).3 In der nun folgenden Beschreibung des weiteren Geschehens werden durch ägyptische Kundschafter erneut zwei Spione der Hethiter abgefangen, die jedoch nun gestanden, dass die Aussage der beiden zuerst gefangenen Spione eine List war und sich das hethitische Heer unter der Führung Muwattallis II. – „dem elenden Feind von Ḫatti“ – bereits in Wahrheit in unmittelbarer Nähe zu Kadeš befand und dort versteckte. Wörtlich heißt es in den ägyptischen Quellen, dass der Feind „hinter Alt-Kadeš lagerte“ (ägypt. Qdš t3 isj). Diese ungewöhnliche Bezeichnung seitens der Ägypter – denn ein derartiger Name ist in den bronzezeitlichen vorderasiatischen Quellen nicht belegt – scheint zu implizieren, dass dieser Ort sich in unmittelbarer 2 3

Kuschke 1979: 19, Abb. 2. Millard 2010; Parr 2015; vgl. bereits auch Pézard 1931. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Nähe und in undefinierter Verbindung zu Kadeš befand, der Vorsatz „Alt“ könnte zudem auch darauf hinweisen, dass der Ort zum Zeitpunkt der Schlacht verlassen war (und somit Platz für ein Versteck eines derartig großen Heeres überhaupt bot, wenn man den Bericht der Ägypter wörtlich nehmen wollte).4

Abb. 2

Die Umgebung des Tell Nebi Mend während der Schlacht von Kadeš und die vermutete Lage von „Alt-Kadeš“ (Kartenausschnitt aus: A. Kuschke 1979: 9, Abb. 2).

Tell Sefinet Nuḫ: „Alt-Kadeš“? Der ca. drei Kilometer nordöstlich von Tell Nebi Mend gelegene Fundort Tell Sefinet (Nebi) Nuḫ („Die Arche Noahs“) ist für die Lokalisierung des Toponyms „AltKadeš“ bislang der plausibelste Identifizierungsvorschlag, wenngleich dies bisher noch nicht abschließend – weder historisch noch archäologisch – gesichert nachgewiesen worden ist, wenngleich eine Klärung der Frage naturgemäß generell schwierig sein dürfte (Abb. 2–3).5 Der ca. 500 x 600 m große Fundort (ca. 16 ha) besteht aus einer rechteckigen Wallanlage, die mit einiger Sicherheit in der Mittelbronzezeit errichtet worden sein dürfte; die Wälle selbst erinnern mit ihren bis zu zehn Metern Höhe und einem vorgelagerten Graben an die Wallanlagen des nahegelegenen, nur ca. 37 km entfernten, Tell Mišrife/Qaṭna (Abb. 4).6 4

Kuschke (1979: 34) bemüht die Übersetzung des Ägyptologen Hellmut Brunner, der anstelle von „alt“ eher „ruinös“ bzw. „im Verfall begriffen“ lesen wollte. 5 So bereits Kuschke 1979: 33–34; auch Ahrens 2005: 64. 6 Zum Fundort, vgl. Burke 2008: 217–218, Fig. 46; Philip 2007: 239–240, Fig. 6; Philip / Bradbury 2016: 387–389, Fig. 12; zudem auch Al-Maqdissi / Ishaq 2011 mit weiterer Literatur zu früheren Erwähnungen. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 3

Lage der Fundorte Tell Nebi Mend und Tell Sefinet Nuḫ zueinander (Karte: A. Ahrens, auf Grundlage von Google Earth).

Abb. 4

Die Wallanlagen des Tell Sefinet Nuḫ im südwestlichen Bereich des Tells und ihr vorgelagerter Graben (Foto: A. Ahrens, 2001).

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Unlängst wurde der Tell Sefinet Nuḫ mit dem in mittelbronzezeitlichen Quellen genannten Dur-Išḫi-Addu identifiziert.7 Da die namensgebende Person Išḫi-Addu wohl unbestritten mit dem bekannten altsyrischen König Qaṭnas gleichen Namens zu identifizieren sein dürfte, könnte hier ein direkter politischer Einfluss Qaṭnas auf Kadeš in der Mittelbronzezeit abgeleitet werden, der politische Einfluss Qaṭnas war zu diesem Zeitpunkt bekanntlich am stärksten und dürfte sogar noch weiter in Richtung Süden gereicht haben. In welchem konkreten konzeptionellen und politischen Zusammenhang dabei jedoch die mittelbronzezeitliche Siedlung von Qadesch selbst und Dur Išḫi-Addu standen, muss unklar bleiben. Historisch gesichert ist, dass sich in der nachfolgenden Spätbronzezeit das interne Gefüge der nordlevantinischen Kleinstaaten geändert hatte und der Einfluss Qaṭnas stark minimiert, der Herrscher von Kadeš zudem offen gegen die Könige von Qaṭna agierte und auch intrigierte. Ein politischer Einfluss Qaṭnas, der sich in einer Wallanlage wie dem Tell Sefinet Nuḫ manifestieren könnte, ist somit jedenfalls in der Spätbronzezeit – anders als in der Mittelbronzezeit – nicht mehr denkbar. Daraus zu schließen, dass die Siedlung bzw. Festung8 Dur-Išḫi-Addu in der Spätbronzezeit daher verlassen gewesen sein muss, muss nicht unbedingt zutreffen, namentlich erwähnt ist sie allerdings zu diesem Zeitpunkt, jedenfalls unter diesem Namen, allerdings auch nicht mehr. Erste Ausgrabungen, die in zwei Kampagnen in den Jahren 1981 und 1982 am Fundort Tell Sefinet Nuḫ von M. Majed Mousli durchgeführt wurden, wollten passend dazu auch einen Hiatus zwischen dem Ende der Mittelbronzezeit und der frühen Eisenzeit erkennen.9 Erneute Grabungen am Fundort im Jahre 2010 durch Michel al-Maqdissi und Eva Ishaq jedoch konnten neben spätbronzezeitlicher Keramik auch den Eingang einer Poterne am Fuße einer der Wallanlagen freilegen, die von den Ausgräbern aufgrund der Analogie zu sehr ähnlichen Befunden in Ras Šamra / Ugarit und der hethitischen Hauptstadt Ḫattuša ebenfalls spätbronzezeitlich datiert wird.10 Insgesamt betrachtet also scheint der Tell auch in der Spätbronzezeit besiedelt gewesen zu sein. Ob dies allerdings andererseits vollkommen ausschließt, dass die Siedlung nicht doch das in den ägyptischen Quellen genannte „Alt-Kadeš“ gewesen sein kann, ist ebenfalls unklar: denn die Siedlung – falls besiedelt zum Zeitpunkt der Schlacht – dürfte mit Sicherheit auf der Seite der Hethiter und ihrer levantinischen Verbündeten gestanden haben, ihnen also zunächst „Unterschlupf“ gewährt haben, zumal die Hethiter sich nach Auskunft der ägyptischen Quellen hinter Alt-Kadeš, nicht darin, verbargen.

7

Dazu ausführlicher Ziegler 2007. Philip / Bradbury (2016: 388) jedenfalls vermuten, dass der Fundort “(…) most likely to have been a special purpose site of some kind (…)”. 9 Mousli 1985; 1989/1990: 300–308 (Stratum II endet nach Mousli am Ende von MB IIC, Stratum I beginnt um 1000 v. Chr. mit der EZ I). 10 Al-Maqdissi / Ishaq 2011: 112–113. Neben spätbronzezeitlichen Funden, konnte nach Auskunft der Ausgräber auch Keramik der Eisenzeit II und III und der Frühbronzezeit (hier nicht genauer definiert) gefunden werden. Spätbronzezeitliche Scherben am Fundort hatte bereits Kuschke (1979: 33) nach einem Besuch des Fundortes erwähnt, jedoch nicht publiziert. 8

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Zusammenfassung Die Identifizierung des Verstecks des im Feldzugberichts der Ägypter genannten „Alt-Kadeš“ mit dem Fundort Tell Sefinet Nuḫ ist plausibel, jedoch nicht abschließend gesichert. Während sich der Fundort auf der Basis der Angaben in den ägyptischen Berichten zur Schlacht von Kadeš topografisch gut anbietet für diese Identifizierung, ist die Frage nach der chronologischen Abfolge der Besiedlung des Fundortes immer noch unklar bzw. passt scheinbar nicht zur Beschreibung der ägyptischen Quellen, die die Siedlung mit „alt“ (eventuell auch „ruinös“) beschreiben. Eine Lösung dieses nur scheinbaren Konflikts wäre es, die Identifizierung loszulösen von der Frage, ob die Siedlung zum Zeitpunkt der Schlacht besiedelt war oder nicht: die Hethiter hätten sich hinter der Siedlung sammeln und die Ankunft der Ägypter in der südlichen Ebene von hier aus gut beobachten können. Der Ausgang der Schlacht zeigt indes, dass sich dies letztendlich gelohnt hat. Abstract The paper discusses the possible identification of the archaeological site of Tell Sefinet (Nebi) Nuḫ, located ca. 3 km to the northeast of Tell Nebi Mend (Qadeš), with the enigmatic toponym “Old Qadeš” mentioned in the Egyptian description as the hide-out and encampment of the Hittites at the beginning of the Battle of Qadeš in 1274 BC.

Bibliografie Ahrens 2005 Alexander Ahrens, Eine Stadt zwischen den Fronten. Der Tell Nebi Mend – Kadesch (Syrien), Eine Siedlung im Grenzbereich der Großmächte Vorderasiens, in: Antike Welt 3/05, 61– 64. Burke 2008 Aaron A. Burke, Walled Up to Heaven: The Evolution of Middle Bronze Age Fortification Strategies in the Levant. Studies in the Archaeology and History of the Levant 4, Boston / Leiden. Al-Maqdissi / Ishaq 2011 Michel Al-Maqdissi / Eva Ishaq, Notes d’archéologie Levantine XXXII: Travaux archéologiques à Tell Sefinat Nouh, in: Al-Rafidan 32, 111–117. Kitchen 1979 Kenneth A. Kitchen, Ramesside Inscriptions. Historical and Biographical II, Oxford. Kuschke 1979 Arnulf Kuschke, Das Terrain der Schlacht bei Qadeš und die Anmarschwege Ramses’ II., in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 95, 7–35. Millard 2010 Allan Millard, The Cuneiform Tablets from Tell Nebi Mend, in: Levant 42, 226–236. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

„Der elende Feind von Ḫatti“ und sein Versteck

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Neuassyrische Wandmalereien aus Tell Sheikh Hassan Friederike Bachmann / Berlin Als im Jahr 1995 Evelyn Klengel-Brandt in ihrer Funktion als Direktorin des Vorderasiatischen Museums Berlin (VAM) die damals in der Universität Saarbrücken befindlichen Objekte aus der Fundteilung der Grabung Tell Sheikh Hassan1 für eine mögliche Übernahme in Augenschein nahm, lag der Fokus in besonderem Maße auf dem Fundmaterial aus mittelurukzeitlichen Schichten 2 . Dieses bildet nämlich in hervorragender Weise ein Bindeglied zwischen dem bereits im VAM gelagerten Fundgut aus den frühen Siedlungsschichten dieser Kulturstufe aus Uruk selbst sowie den späteren aus Habuba Kabira am Westufer des oberen Mittleren Euphrat3. Im März 2004 erfolgte der Umzug der Sammlung von Saarbrücken nach BerlinFriedrichshagen, in jene Werkhalle4, in der zu dieser Zeit intensiv am Tell HalafProjekt gearbeitet wurde 5 . Während wir nun im 1. Obergeschoß Vitrinen und Schränke mit Fundobjekten und Naturproben, unzähligen Ordnern an Dokumentationsmaterial sowie Lichtbildern der Grabung Tell Sheikh Hassan füllten, fiel immer wieder der Blick hinab in die Halle auf Tausende von Basaltfragmenten6, die sich über die Zeit hin nicht nur zu Bildwerken zusammenfanden, sondern auch zu Gefäßen und Werkzeugen ‒ eben jenen Nutzgegenständen, die ganz identisch auch in Tell Sheikh Hassan geborgen worden waren. Zwar ist ein großer Teil davon in Syrien verblieben7, aber: waren wir nicht gerade dabei, aus dem Konvolut der Fundteilung ebensolche Basaltfragmente von Schalen, von kleinen Altären mit Stierkopfprotomen 8 , von Mörsern, Stößeln und anderen Gegenständen in den Vitrinen zu deponieren? Und waren nicht jene Siedlungsschichten, die Tell Sheikh Hassan letztlich für die Wissenschaft bedeutend machen sollten 9 , ganz unmittelbar und erheblich gestört worden durch die Anlage eines Gebäudekomplexes mit einem

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Siehe dazu allgemein: Boese 1995. Die sog. Urukzeit repräsentiert eine Kulturstufe des 4. Jts. v. Chr. (ca. 3900‒3100 v. Chr.), ist allgemein in die Frühe, Mittlere und Späte Urukzeit differenziert und nach dem Fundort benannt, aus dem die ersten Beispiele dieser Epoche bekannt wurden: Uruk im südlichen Irak. 3 Bachmann 1998a. 4 Cholidis / Martin 2010: 3, Abb. I.4. 5 Das Restaurierungsprojekt dauerte von 2001 bis 2010 und findet seinen wissenschaftlichen Niederschlag u. a. in Cholidis / Martin 2010. 6 Cholidis / Martin 2010: 16, Abb. II.1. 7 Nach der 1990 durchgeführten Fundteilung gelangte der Syrien zugesprochene Anteil an sog. Kleinfunden in das Museum Raqqa bzw. in das Außendepot Heraqla. Sämtliche Fundobjekte der vier letzten Kampagnen verblieben im Grabungshaus Halawa sowie im zusätzlich angemieteten Magazinraum in Tawi. 8 Siehe z. B. Boese 1995: 124, Abb. 5a. 9 Tell Sheikh Hassan gilt als ein wichtiger Referenzort für die Mittlere Urukzeit (ca. 3600‒ 3300 v. Chr.); s. dazu Bachmann 1998b, bes. S. 108. 2

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Grundriss, der ganz ähnlich aus Tell Halaf und auch aus anderen nordmesopotamischen Städten der Eisenzeit bekannt ist – dem sogenannten Hilani10? Aber solche Gedanken sollten warten …, warten bis zum 12. Juli 2018, als mich die ehrenvolle Anfrage hinsichtlich eines Beitrags für diese Festschrift erreichte, eine Gelegenheit, wie die Herausgeberinnen anmerkten, etwa „aktuelle Arbeiten vorzustellen“. Das kam natürlich nicht in Betracht, da der zu Ehrende die Arbeiten für die Endpublikation der urukzeitlichen Schichten von Tell Sheikh Hassan11 im eigenen Hause seit Jahren mitverfolgt und stets unter dem Motto: „Kopf hoch! Mut hoch! und Humor hoch! …“12 wohlwollend begleitet. An „gemeinsame Unternehmungen zu erinnern“, wie etwa die Reise im Frühjahr 2006 nach Syrien, hätte zwar gleich die beiden weiteren Vorschläge impliziert, denn „denkwürdige Begebenheiten“ wie auch „unvergessliche Erlebnisse“ sind mit diesen Tagen zweifellos verbunden13, aber wir haben uns letztlich doch entschieden, den Blick nach vorne zu richten auf geplante Arbeiten und dem Jubilar aus den Arbeiten an Band IV der Endpublikation 14 diesen kleinen Beitrag über eine mögliche historisch-politische Verbindung der beiden Siedlungshügel Tell Halaf und Tell Sheikh Hassan zu widmen15. Das Gebiet des oberen syrischen Euphrat im Rahmen der Westausdehnung des neuassyrischen Reiches Den Königen des 13. Jhs. v. Chr., Adad-nerari I., Salmanassar I. und Tukulti-Ninurta I., gelingt es immer wieder, für kurze Zeit Hanigalbat, das Gebiet der nördlichen Djezireh (ehemals Mittani), zu erobern und sogar bis zum Euphrat und nach Karkemish vorzudringen. Letztlich führen diese Eroberungszüge jedoch zu keinem bleibenden politischen Wandel.

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Siehe zuletzt: Halama 2018: 185‒188 mit ausführlichen Literaturhinweisen. Zum Hilani in Tell Sheikh Hassan: Boese 1995: 218 Abb. 4 (Gesamtplan mit Rekonstruktionsvorschlägen). 11 Ausgrabungen in Tell Sheikh Hassan, Bd. II: Architektur und Stratigrafie der urukzeitlichen Schichten (i.V.); Bd. III: Urukzeitliche Gefäße und andere Artefakte aus unterschiedlichen Materialien (Arbeitstitel; i.V.). 12 Cholidis / Martin 2002. Der Titel des Buches und einer Ausstellung, die 2017 in der daadGalerie in Berlin gezeigt wurde, zitiert das Lebensmotto Max von Oppenheims. 13 Gemeint ist die Reise nach Aleppo und der gemeinsame Aufenthalt im Hotel Somar mit Ingrid Kampschulte, Johannes Boese mit Theodora und Richard sowie der Verf. in der Zeit vom 24.03.‒02.04.2006. 14 Ausgrabungen in Tell Sheikh Hassan, Bd. IV: Architektur, Keramik und Kleinfunde der Eisenzeit und jüngerer Schichten. Das Gräberfeld aus islamischer Zeit (Arbeitstitel). Dort wird ausführlich auf die Wandmalereien, die architektonischen Gegebenheiten und den historisch-politischen Hintergrund eingegangen werden. 15 Für die Durchsicht des Manuskripts bin ich Dietrich Sürenhagen sehr dankbar. Walther Sallaberger gebührt mein Dank für die Überprüfung einer korrekten Schreibweise der Königsnamen sowie für einige wertvolle Korrekturhinweise. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Erst Tiglatpileser I. (1114‒1076 v. Chr.) überquert den Euphrat16 und zieht über Byblos, Sidon sowie die Insel Arwad bis zum Libanon17. Die Küstenstädte wie auch Karkemish macht er tributpflichtig und gründet in dessen Nähe zwei später noch bedeutsame Städte: Pitru an der Mündung des Sadjur in den Euphrat und das annähernd gegenüber liegende Mutkinu, die jedoch beide bereits während der Regierungszeit König Assur-rabis II. (1012‒972 v. Chr.) von den Aramäern erobert werden18. Nach einer Schwächeperiode der Assyrer dringt erst wieder Adad-nerari II. (911‒891 v. Chr.) bis in das Euphratgebiet vor und erhält Tribut von Bit-Adini, einem aramäischen Stamm, der weite Teile des links- und rechtseuphratischen Territoriums mit Ausnahme von Karkemish beherrscht19. Als erster König nach Tiglatpileser I. dringt dann Assurnasirpal II. (883‒859 v. Chr.) in das Gebiet von Bit-Adini ein und belegt dessen Herrscher Ahuni sowie Sangara von Karkemish mit Tributzahlungen, nachdem er zuvor Bit-Bahiani mit der Hauptstadt Guzana/Tell Halaf unterworfen hatte. Er zieht weiter über Azaz, den Afrin und über den Orontes bis ans Mittelmeer (Amurru) und fordert von den Küstenstädten Tribut, wie bereits vor ihm Tiglatpileser I. Entscheidend für die Westausdehnung des assyrischen Reiches sind dann jedoch die Kriegszüge von Salmanassar III. (858‒824 v. Chr.). In mehreren Kampagnen erobert er das gesamte Gebiet von Bit-Adini, ausgenommen Karkemish, nimmt schließlich Ahuni gefangen und zieht entlang des Amanusgebirges bis zur strategisch wichtigen Mittelmeerküste. Zuvor hatte er die Städte im Gebiet des Sadjur unterworfen und zu seinen „königlichen Residenzen“ gemacht, darunter Til-Barsip, das er nun in Kar-Salmanassar umbenennt, Alligu20, Nappigu und Ruggulitu21. Ferner baut er die wichtigen Brückenköpfe Pitru und Mutkinu aus und erklärt TilBarsip zur Provinzhauptstadt. Unter seinem Nachfolger Shamshi-Adad V. (823‒811 v. Chr.) ist ein Rückgang der assyrischen Macht zu beobachten: Der Euphrat bildet jetzt wieder die Westgrenze des Reiches. Thronfolger Adad-nerari III. (810‒783 v. Chr.) zieht zwar wiederum, nachdem er Guzana zur assyrischen Provinz ernannt hat, westwärts über den Euphrat bis ans Mittelmeer. Unter seinen drei Söhnen und politischen Nachfolgern schwächelt jedoch das assyrische Reich, während der mächtige General Shamshi-ilu das ehemalige Gebiet von Bit-Adini fest im Griff hat22. Um 740/730 v. Chr. schafft Tiglatpileser III. eine neue Provinzeinteilung, Til-Barsip gehört jetzt zu Harran, aber schon sein Nachfolger Salmanassar V. (726‒722 v. Chr.) hat mit der Niederwerfung 16

Grayson 1976: 12 (LXXXVII, 1 § 30). In einer späteren Passage beschreibt er, dass er 28 Mal den Euphrat überschritten habe (LXXXVII, 4 § 97). Siehe auch: Younger Jr. 2016: 158‒ 159. 17 Grayson 1976: 23 (LXXXVII, 3 § 81‒83). 18 Younger Jr. 2016: 316. 19 Grayson 1976: 87‒88. (XCIX § 426). Younger Jr. 2016: 278‒279. 20 Grayson 1996: 35. RLA I, 70. 21 Younger Jr. 2016: 313. 22 Younger Jr. 2016: 358‒362. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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von Aufständen im ehemaligen Bit-Adini und den Westgebieten zu tun. Erst Sargon II. (721‒705 v. Chr.) gelingt die Eroberung der letzten Bastion der späthethitisch-aramäischen Kleinstaaten, nämlich Karkemish (717 v. Chr.). Bis an das Ende des assyrischen Reiches gehört das ehemalige Bit-Adini-Gebiet fest zu dessen Bestand23. Welche politische Stellung Tell Sheikh Hassan während dieser Zeit innehatte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Allerdings geben Architekturbefunde und selbst die nur äußerst fragmentarisch erhaltenen Wandmalereien doch Anlass zu der Vermutung, dass es sich um eine nicht unbedeutende, ja möglicherweise sogar hart umkämpfte „königliche Residenz” gehandelt haben könnte24. Zur Fundsituation der Tell Sheikh Hassan-Wandmalereien25 Über acht Grabungskampagnen hinweg legte man auf der Zitadelle sukzessive das sog. Hilani frei26, dessen architektonischer Gesamtkomplex mit einer 3,5 m breiten Umfassungsmauer zuletzt in das 9./8. Jh. v. Chr. datiert wird27. Während der Ausgrabungsarbeiten sind in einzelnen Räumen immer wieder Lehmziegelbrocken mit Resten von Wandmalerei in den Farben Schwarz, Weiß, Rot und Blau beobachtet worden28, Füllschutt, der einem jüngeren Gebäude letztlich als

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Nach dem Fall von Assur, Ninive und Harran (614 / 612 / 608 v. Chr.), der letzten Festung Restassyriens, schlägt der Kronprinz des spätbabylonischen Königs Nabopolassar, Nebukadnezar II., in der berühmten Schlacht von Karkemish 605 v. Chr. den mit dem letzten Assyrerkönig Assur-uballit II. verbündeten Pharao Necho II. und erobert anschließend das Gebiet des heutigen Syrien bis an die Grenze Ägyptens. Mit dem Ende der Herrschaft des letzten spätbabylonischen Königs Nabonid 539 v. Chr. bleibt das gesamte obere syrische Euphratgebiet fest in babylonischer Hand. Der Sieger, Kyros II. von Persien, verleibt es seinem Weltreich ein, wo es bis zum Siegeszug Alexander des Großen verbleibt. 24 Der in einigen Räumen beobachtete massive Brandschutt kann darauf hindeuten, dass das Hilani der Schicht 3, mit Außenmaßen von 33x21 m sowie einer nach Südwesten gerichteten 18 m breiten Freitreppe, zum Teil durch Brand zerstört worden war. Der relativ geringe, letztlich unspektakuläre Anteil an geborgenem Inventar spricht dafür, dass das Gebäude vor der Flucht der Bewohner entweder bewusst leer geräumt oder, dass es ausgeraubt und anschließend in Brand gesteckt wurde; siehe zu den spärlichen Funden beispielsweise: Boese 1995: 124 Abb. 5. 25 Die Zeichnungen mit einer jeweils detailgetreuen Beschreibung wurden vor Ort von Florian Knauss (Fragmente 1‒3) und Kai Kaniuth (Fragmente 5‒7) maßstabsgerecht angefertigt und koloriert. Beiden Archäologen sei für ihre sorgfältige Arbeit in doppelter Hinsicht ganz besonders gedankt, ist diese Dokumentation heute vor dem Hintergrund der kriegsbedingten Zerstörungen in Raqqa von unschätzbarem Wert. 26 Während der 2.‒9. Grabungskampagnen in den Jahren 1985‒1993. 27 Boese 2008: 554; siehe allerdings auch den Datierungsansatz für das Hilani der Schicht 3 im Vorbericht: Boese 1995: 205: 8./6. Jh .v. Chr. 28 Festgehalten beispielsweise im Tagesbericht vom 26.08.1986 (E. Schneider): „Verputzreste an der Hauptstegkante … zeigen eine weiße Tünchung mit blauer und schwarzer Streifenbemalung“; siehe auch Boese 1995: 26. 52‒53. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Neuassyrische Wandmalereien aus Tell Sheikh Hassan

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Fundament dienen sollte29. Es zeigte sich nämlich eindeutig, dass die Hilanimauern in einer ungefähren Höhe von 1,5 m rasiert wurden und das dabei anfallende Mauerwerk zum Teil sorgfältig in den noch anstehenden Räumen verbaut oder in den meisten Fällen lediglich eingefüllt worden war. Dies ist bei der Bewertung jener Fundstellen, aus denen die Wandmalereien stammen, unbedingt zu berücksichtigen, letztlich haben nämlich Fundplatz und -niveau wenig Relevanz, geben sie doch keine Auskunft über die originale Platzierung der Wandmalereien30. Als gesichert darf allerdings gelten, dass dieser Wanddekor ursprünglich innerhalb des Hilani und nicht in dem jüngeren Nachfolgebau angebracht war. In Areal 2232 (J) II31 wurden während der neunten Grabungskampagne im Jahr 1993 auf einer Fläche von 5,5 × 9,0 m neben einer unbestimmten Anzahl kleinerer Fragmente ausschließlich in weißer Farbe 32 sieben jeweils in kleinere Teile zerdrückte Partien mit geometrischer und floraler Wandbemalung aus schwarzer, weißer sowie roter Farbe freigelegt. Im Folgenden werden davon zwei Motivstücke vorgestellt, Fragmente einer Rosette33 sowie von konzentrischen Kreisen34. Beschreibung der Fragmente Fragment 135 (Abb. 1a und b)36: Zwei schwarze konzentrische Kreise37 (Durchmesser: 12,8 / 14,4 cm; Stärke: 0,1 / 0,2 cm) auf weißem Untergrund; Rosette aus

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Darauf, dass es sich bei diesem jüngeren Gebäude allerdings doch nicht, wie zunächst aufgrund einiger Fundstücke (siehe z. B.: Boese 1995: 103, Abb. 7) vermutet, um einen hellenistischen Palast (“Palast der Schicht 2a”: Boese 1995: 205) gehandelt hat, verwies bereits der Ausgräber selbst (Boese 2008: 554). Fundobjekte sowie Keramik in Verbindung mit typischen Grundrissschemata, Ziegel- und Plattenpflasterformaten und nicht zuletzt auch der Kanalisationstechnik (Boese 1995: 216, Abb. 2 a und b) lassen keinen Zweifel an einer Datierung in die neuassyrische Zeit und finden ihre überzeugendsten Vergleiche beispielsweise in Arslan Tash (Thureau-Dangin 1931: 27, Fig. 12), Til Barsip (Thureau-Dangin et al. 1931: 27, Fig. 12) und Tell Halaf (Langenegger / Müller / Naumann1950: 211, Abb. 106b; 281, Abb. 130; 317, Abb. 142). 30 Boese 1995, 53. Vgl. auch eine ganz ähnliche Fundsituation in Tall Ahmar (Bunnens 1993/1994: 224) und in Til Barsip (Abbate 1994: 7). 31 Die Wandmalereien stammen aus dem Bereich 9,50‒0,60 m Ost und 1,10‒2,90 m Nord bei einer Fundtiefe von 4,72‒76 m; siehe Boese 1995: 218, Abb. 4: Raum IX. 32 Deutlich zu unterscheiden von dem beige-gelben Wandverputz der unbemalten Mauerpartien; zur Technik der Wandmalerei siehe Nunn 1988: 5‒33, hier besonders 18‒31. 33 Albenda 2005: 92‒101. 34 Abbate 1994: 8 mit Anm. 4; Albenda 2005: 84‒92. 35 Die Fragmente 1 und 2 sind jeweils in mehrere Teilstücke zerdrückt, sodass der jeweilige Durchmesser der Kreise nicht exakt angegeben werden kann. 36 Elisabeth Katzy hat freundlicher Weise das Setzen der Tafeln und die maßstäbliche Anpassung übernommen, wofür ihr Verf. größten Dank schuldet. 37 Der in der Zeichnung die Blattspitzen verbindende dritte Kreis in der Mitte der Rosette stellt lediglich einen Rekonstruktionsvorschlag dar, der auf vergleichbaren Motiven, wie beispielsweise jenen aus Tell Sheikh Hamad, basiert. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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schwarz konturierten weißen Blättern (Länge: ca. 3 cm) auf rotem Grund38. Reste von zwei schwarzen Horizontallinien dürften diesen Dekorstreifen nach oben bzw. unten hin begrenzt haben, wie Beispiele aus den unten angeführten Fundorten beispielhaft zeigen. Fragment 2 (Abb. 2 a und b): Drei (?) konzentrische Kreise in Schwarz (Durchmesser: 6‒7,5 / 10,5‒13 /14,5‒14,7 cm) um einen mittigen, schwarz ausgefüllten Kreis (Durchmesser: ca. 4 cm) auf weißem Untergrund. Datierung Von besonderem Interesse ist nun in unserem Zusammenhang, wie ‒ gerade vor dem Hintergrund der oben skizzierten politischen Situation ‒ die Wandmalereien von Tell Sheikh Hassan zeitlich einzuordnen sind. Es handelt sich um typisch assyrische Motive, zu denen sich Parallelen auf glasierten Denkmälern wie auch in der Wandmalerei finden, so etwa in Nimrud, datiert in die Zeit von Adad-nerari III. bis Sanherib (704‒681 v. Chr.) 39 , in Khorsabad (Sargon II./721‒705)40 und in Tell Halaf41. Aus folgenden Fundorten stammen die überzeugendsten Vergleiche, die auch gleichzeitig einen guten Hinweis auf einen Datierungsansatz für unsere Beispiele aus Tell Sheikh Hassan bieten: Die geometrischen Dekormotive aus Arslan Tash/Hadattu, die von konzentrischen Kreisen ausgehende Horizontallinien zeigen (Abb. 3a), sind, auch wenn die innere „Scheibe“ im Gegensatz zu den anderen Beispielen nicht geschwärzt ist, dennoch ein gut vergleichbarer Dekortyp. Aus dem nahe gelegenen Tall Ahmar, dem antiken Til Barsip, stammen geometrische Wandmalereien, die in besonderem Maße an jene aus Tell Sheikh Hassan erinnern (Abb. 3b): “The pattern is made up of four concentric black rings containing a central disk of the same colour. Above and underneath them are three black parallel and equidistant lines which define the width of the composition.”42 Und aus Gebäude G der Unterstadt II in Tell Sheikh Hamad/Dur Katlimmu kennen wir geometrische Dekorfriese mit horizontalen schwarzen Streifen, konzentrischen Kreisen sowie weißen Rosetten auf schwarzem Grund (Abb. 4)43, die jenen aus Tell Sheikh Hassan sehr ähnlich sind. Die Wandmalereien aus Arslan Tash (Abb. 3a) datieren in die Zeit von Tiglatpileser III. (745‒726 v. Chr.) während für jene aus Til Barsip immerhin eine Zeitspanne der Regierungszeiten Adad-neraris III. (810‒783 v. Chr.) bis Assurbanipal (669‒ 631/627 v. Chr.) in Frage kommt. Da der Grabungsabschnitt Mittlere Unterstadt II 38

Ein Rekonstruktionsversuch hat ergeben, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit insgesamt ursprünglich 14 Blütenblätter waren. An dieser Stelle sei Daniela Greinert, Graphikerin am Vorderasiatischen Museum Berlin, für die digitale Umsetzung der Rekonstruktionen gedankt. 39 Mallowan 1966: 380‒381 mit fig. 307‒308; Abbate 1994: 12. 40 Altman 1938: 83‒85 mit pls. 31B und 89; Abbate 1994: 13. 41 Langenegger / Müller / Naumann 1950: Beilage 2. 42 Abbate 1994: 11. 43 Kühne 1984: 171, Abb. 63a. Nunn 1988: 133 mit Tf. 101 (wie das Grabungsfoto oben zeigt, handelt es sich bei dem dritten Dekorstreifen von oben ebenfalls um ein Band mit Rosetten). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Neuassyrische Wandmalereien aus Tell Sheikh Hassan

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in Tell Sheikh Hamad mit den sog. Neuassyrischen Residenzen und den darin geborgenen Wandmalereien in das 8.‒7. Jh. v. Chr. datiert wird44, dürfte letztlich ein zeitlicher Ansatz für den Dekor in Tell Sheikh Hassan ‒ auch unter Berücksichtigung architektonischer Vergleiche ‒ an das Ende des 8. bis zur Mitte des 7. Jhs. v. Chr. als gesichert gelten45. Schlussbemerkung Es ist zu befürchten, dass die Fragmente der Wandmalereien aus Tell Sheikh Hassan mit der Zerstörung des Museums in Raqqa 46 für immer verloren gegangen sind. Immerhin bleibt uns aber neben der historischen auch die aktuelle raum- und museumsbezogene Verbindung beider Siedlungshügel erhalten, letzteres ein Verdienst, das wir in vielfacher Hinsicht auch dem Jubilar zu verdanken haben.

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Kühne 2008: 548. Dies würde den ersten Datierungsvorschlag für das Hilani von Tell Sheikh Hassan in den Zeitraum 8./6. Jh. v. Chr. untermauern. Eine differenziertere Untersuchung dazu kann allerdings erst in der Endpublikation erfolgen. 46 Abdulkarim 2017: 165. 45

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Friederike Bachmann

Boese 1995 Johannes Boese, Ausgrabungen in Tell Sheikh Hassan 1: Vorläufige Berichte über die Grabungskampagnen 1984‒1990 und 1992‒1994. Schriften zur Vorderasiatischen Archäologie 5, Saarbrücken. Boese / Bachmann 2008 Johannes Boese / Friederike Bachmann, Šaiḫ Hasan, Tall, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 11, Berlin / New York, 551‒555. Bunnens 1993/1994 Guy Bunnens, Wissenschaftliche Forschungen in Syrien (5): Tall Ahmar/Til Barsip, in: Archiv für Orientforschung 40/41, 221‒225. Cholidis / Martin 2002 Nadja Cholidis / Lutz Martin, Kopf hoch! Mut hoch! und Humor hoch! Der Tell Halaf und sein Ausgräber Max von Oppenheim, Mainz. Cholidis / Martin 2010 Nadja Cholidis / Lutz Martin (Hrsg.), Tell Halaf. Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung, Berlin / New York. Grayson 1976 Albert K. Grayson, Assyrian Royal Inscriptions Part 2: From Tiglath-pileser I to Ashur-nasirapli II, Wiesbaden. Grayson 1996 Albert K. Grayson, Assyrian Rulers of the Early First Millennium BC, II (858‒745 BC). The Royal Inscriptions of Mesopotamia. Assyrian Periods, Vol. 3, Toronto / Buffalo / London. Halama 2018 Simon M. Halama, Eisenzeitliche Paläste in der nördlichen Levante. Repräsentation von Herrschaft mit architektonischen Mitteln. Münchner Abhandlungen zum Alten Orient 2, Gladbeck. Kühne 1984 Hartmut Kühne, Tall Šēḫ Hamad/Dūr-Katlimmu 1984, in: Archiv für Orientforschung 31, 170‒178. Kühne 2008 Hartmut Kühne, Šaiḫ Ḥamad, Tall, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 11, Berlin /New York, 542‒551. Langenegger / Müller / Naumann 1950 Felix Langenegger / Karl Müller / Rudolf Naumann, Tell Halaf II. Die Bauwerke, herausgegeben von Max Freiherr von Oppenheim, Berlin. Mallowan 1966 Max E. L. Mallowan, Nimrud and Its Remains II, London.

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Neuassyrische Wandmalereien aus Tell Sheikh Hassan

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Nunn 1988 Astrid Nunn, Die Wandmalerei und der glasierte Wandschmuck im Alten Orient. Handbuch der Orientalistik 7. Abt., 1. Bd., Leiden. Thureau-Dangin et al. 1931 François Thureau-Dangin / Augustine Barrois / Georges Dessin / Maurice Durand, ArslanTash, Texte et Atlas, Paris. Younger 2016 K. Lawson Younger Jr., A Political History of the Arameans: From Their Origins to the End of Their Polities, Atlanta.

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Friederike Bachmann

Abbildungen

1a

1b

Abb. 1a Abb. 1b

Tell Sheikh Hassan, Fragment 1 (in situ): Weiße Rosette mit schwarzer Konturzeichnung auf rotem Hintergrund (Dia-Nr.: 07908/© Projekt Tell Sheikh Hassan). Tell Sheikh Hassan, Fragment 1 (Zeichnung: Florian Knauss/© Projekt Tell Sheikh Hassan). Rekonstruktionsvorschlag, ergänzt unter Hinzunahme von Fragment 5 (Zeichnung: Kai Kaniuth/© Projekt Tell Sheikh Hassan).

2b

2a

Abb. 2a Abb. 2b

Tell Sheikh Hassan, Fragment 2 (in situ): schwarze konzentrische Kreise auf weißem Untergrund (Dia-Nr.: 07911/© Projekt Tell Sheikh Hassan). Tell Sheikh Hassan, Fragment 2 (Zeichnung: Florian Knauss/© Projekt Tell Sheikh Hassan).

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Neuassyrische Wandmalereien aus Tell Sheikh Hassan

Abb. 3a

Arslan Tash (nach Thureau-Dangin et al. 1931: pls. XVII: 1‒2; XLVIII:2).

Abb. 3b

Tell Ahmar / Til Barsip (nach Abbate 1994: fig. 3).

Abb. 3c

Tell Sheikh Hamad / Dur-Katlimmu (nach Kühne 1984: 171).

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Eisenzeitliche Siedlungen am mittleren Orontes Das Reich von Hamath Karin Bartl ‒ Berlin / Massoud Badawi ‒ Jableh Die eisenzeitliche Besiedlung in Syrien Der unter der Leitung von Lutz Martin in den Jahren 2006 bis 2010 durch neue Ausgrabungen untersuchte Tell Halaf1 gehört zu den eindrucksvollsten eisenzeitlichen Stätten in Syrien. Der Ort bildete im 1. Jahrtausend v. Chr. unter dem Namen Guzana das Zentrum des aramäischen Königreiches Bit Baḫiani, das zusammen mit anderen politischen Einheiten den nord- und westsyrischen Raum sowie das benachbarte südostanatolische Gebiet nach dem Niedergang des hethitischen Großreiches um 1200 v. Chr. dominierte. Die luwisch-aramäischen Fürstentümer bilden vom 12. bis in das 9. Jh. v. Chr. selbständige Herrschaftsgebiete, geraten jedoch ab dem 9. Jh. v. Chr. aufgrund assyrischer Expansionsbestrebungen zunehmend unter Druck und werden gegenüber Assyrien tributpflichtig. Im letzten Drittel des 8. Jhs. v. Chr. endet ihre Autonomie und sie werden als Provinzen endgültig in das assyrische Reich inkorporiert. Auf dem heutigen syrischen Staatsgebiet liegen neben Bit Baḫiani die Reiche von Bit Adini, Karkemisch und Bit Agusi in Nordsyrien sowie Hamath / Hama im Westen und Aram im Südwesten. Einige ihrer Residenzstädte wie Guzana / Tell Halaf, Masuwari / Til Barsip, Karkemisch / Jerablus und Hama waren bereits früh Gegenstand archäologischer Ausgrabungen, so dass zahlreiche Informationen zu den Herrschaftssitzen vorliegen.2 Weniger bekannt war hingegen lange die Besiedlungsstruktur in den einzelnen Staaten. Inzwischen erlauben jedoch die in den vergangenen Jahrzehnten vielerorts unternommenen archäologischen Oberflächenprospektionen einen Einblick über Art und Umfang der Besiedlung dieses Zeitraums. Das gilt insbesondere für das in Westsyrien gelegene Gebiet des mittleren Orontes zwischen den modernen Städten Homs und Jisr ash-Shugur, in dem sich zwischen dem 10. und 8. Jahrhundert v. Chr. das luwisch-aramäische Reich von Hamath befand. In diesem Gebiet wurden mehrere regionale Surveys durchgeführt: In der weiteren Umgebung von Hama3, in der Umgebung von Tell Mishrifeh / Qatna4, in der erweiterten Homs-Region5 und im Ghab6 (Abb. 1). 1 Baghdo et al. 2009; Baghdo et al. 2012. Die Arbeiten ergänzten mit neuen Fragestellungen die ersten Ausgrabungen, die zwischen 1911 und 1913 sowie 1927 und 1929 durch Max von Oppenheim durchgeführt wurden (Oppenheim 1931; Oppenheim 1934). 2 Sader 2014; Bryce 2012. 3 Bartl / al-Maqdissi 2014; Bartl / al-Maqdissi 2016. 4 Morandi Bonacossi 2007. 5 Philip / Bradbury 2016. 6 Fortin / Cooper 2014; Fortin 2016.

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Karin Bartl / Massoud Badawi

Das Königreich Hamath Bereits in der Spätbronzezeit (1600–1200 v. Chr.) ist die Orontes-Region durch eine komplexe Struktur mit mehreren politischen Einheiten gekennzeichnet. Mukish, Niya, Amurru, Qatna und Qadesh bilden hier zunächst autonome politische Einheiten, die jedoch bald unter den Einfluss des Reiches von Mittani geraten und in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts unter hethitische Herrschaft fallen.7 Die HamaRegion dürfte aufgrund der räumlichen Nähe bis zu dessen Zerstörung 1340 v. Chr. zum Reich von Qatna gehört haben.8 Der Untergang des hethitischen Großreiches am Ende des 13. Jahrhunderts führte in den folgenden Jahrhunderten zu einer Neustrukturierung der Herrschaftsbereiche. Für den unmittelbar an das Ende der Spätbronzezeit anschließenden Zeitraum des 12. und 11. Jahrhunderts v. Chr. sind die politischen Entwicklungen im westsyrischen Raum jedoch bisher weitgehend unklar. Das 11. Jahrhundert v. Chr. wird häufig mit der Entstehung des Reiches von W/Palistin in Verbindung gebracht.9 Die wichtigsten historischen Quellen hierzu bilden Inschriften auf Reliefs des Wettergott-Tempels in Aleppo, die einen König Taita von W/Palistin nennen.10 Allerdings ist ihre Datierung in das 11. Jh. v. Chr. nicht unumstritten.11 Das Kerngebiet von W/Palistin mit dem Zentrum Kunulua / Tell Tayinat liegt in der Ebene von Amuq.12 Inschriftenfunde mit der Nennung eines Herrschers namens Taita sind auch aus den etwa 20 km nördlich von Hama gelegenen Orten Shayzar und Mhardeh bekannt.13 Sie legen nahe, dass die südliche Grenze von W/Palistin zunächst in der weiteren Umgebung von Hama lag (Abb. 2).14 Wahrscheinlich bereits im 10. Jahrhundert v. Chr. formierte sich als neue politische Kraft südlich von W/Palistin das Reich von Hamath. Alttestamentliche Quellen berichten im Zusammenhang mit König David über einen König To‘i von Hamath (II Samuel 8: 9–10; I Chronik 18: 9–10), der verschiedentlich mit Taita identifiziert wird.15 Diese Gleichsetzung ist jedoch nicht unumstritten16. Möglicherweise 7

Bonechi 2016: Fig. 2. Turri 2015: Tav. 4.1. In diesem Zusammenhang danke ich Alexander Ahrens für wichtige Hinweise. 9 Harrison 2013b: 104–108. 10 Kohlmeyer 2009. 11 Aufgrund von 14C-Datierungen an Holzresten aus dem Tempel, die zwischen 1130 und 970 v. Chr. liegen (Kohlmeyer 2009) sowie paläographischen Analysen der Inschriften (Hawkins 2009) wurde zunächst auf eine Regierungszeit Taitas im 11./Anfang des 10. Jhs. v. Chr. geschlossen. Inzwischen wird jedoch auch die zweite Hälfte des 10. Jhs. v. Chr. für möglich gehalten. Gründe für diese Annahme sind u.a. die Tatsache, dass Taita in den Berichten Tiglat-Pilesars I. (1114‒1076 v. Chr.) über seine Feldzüge nach Westen nicht erwähnt wird, sowie Zweifel an den 14C-Daten aus Aleppo, die aufgrund des “old wood effectsˮ möglicherweise zu hoch liegen (Sass 2010). 12 Harrison 2013a. 13 Hawkins 2016: 190. Zu Taita und W/Palistin siehe ausführlich Emanuel 2015. 14 Harrison 2013b: Fig. 1. 15 Z. B. Steitler 2010. 16 Zadok 2018: 289–290. 8

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Eisenzeitliche Siedlungen am mittleren Orontes

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umfasste das Herrschaftsgebiet von Hamath in dieser Zeit nicht wesentlich mehr als die unmittelbare Umgebung der Residenzstadt Hamath / Hama. Ab dem 9. Jahrhundert v. Chr. ist das Reich Hamath sowohl archäologisch als auch inschriftlich vielfach belegt. Ein repräsentativer Gebäudekomplex, möglicherweise die Residenz, wurde während der dänischen Ausgrabungen am Tell von Hama in den Jahren 1931 bis 1938 freigelegt.17 Bei diesen Arbeiten kamen auch verschiedene Inschriften zutage.18 Sie nennen die Könige Parita, dessen Sohn Urhilina sowie Uratami, den Sohn Urhilinas. Die beiden Letztgenannten sind unter den assyrischen Namensversionen Irhuleni und Radamu aus den Annalen Salmanassars III. (859– 824 v. Chr.), in denen dieser seine Feldzüge gegen die syrischen Staaten ab 853 v. Chr. beschreibt, bekannt. Das Kerngebiet von Hamath in diesem Zeitraum dürfte, wie Inschriften des Urhilina in ar-Rastan, Qal´at al-Mudiq und Tell Štib nahelegen, das diese Orte einschließende Gebiet umfasst haben.19 Anfang des 8. Jahrhunderts v. Chr. übernimmt der Aramäer Zakkur die Herrschaft von Hamath und dem nordöstlich davon gelegenen Lu´ash. Es wird angenommen, dass zu diesem Zeitpunkt die Stadt Hatarikka / Hazrak, das mit Tell Afis identifiziert wird, die Hauptstadt des Reiches Hamath20 oder zumindest einer ihrer Königssitze21 wird.22 Durch zwei assyrische Stelenfunde aus Pazarik und Antakya aus der Zeit Adad-Niraris III. (811–783 v. Chr.), die die politischen Hintergründe von Zakkurs Herrschaft darstellen, kann dessen Regierungszeit etwa in diesen Zeitraum datiert werden. Die Antakya-Stele erlaubt zudem die ungefähre Definition der nördlichen Grenze zwischen Hamath und dem Reich Patina / Unqi (Abb. 3).23 Die Autonomie beider Reiche wird in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. infolge der Feldzüge Tiglat-Pilesars III. (745‒726 v. Chr.) beendet. Nach der assyrischen Eroberung von Patina / Unqi wird der nördliche Teil von Hamath im Jahr 738 v. Chr. annektiert, es entstehen die Provinzen Simirra und Hatarikka. Der südliche Teil wurde möglicherweise 732 v. Chr. erobert und in die neu gegründeten assyrischen Provinzen Subutu und Mansuate eingegliedert.24 Nach dem Sieg Sargons II. (722‒705 v. Chr.) über eine anti-assyrische Koalition im Jahr 720 v. Chr. wird die Residenzstadt Hama zerstört und die Region vollständig dem assyrischen Reich eingegliedert.25 In den folgenden Jahrhunderten findet die Region keine Erwähnung mehr.

17

Fugmann 1958. Riis / Buhl 1990. 19 Hawkins 2016: 185. Die Nennung von Labarna / Libanon in einer Inschrift Uratamis (Hawkins 2016: 186) könnte ein Hinweis auf die Beqa´a als Südgrenze sein. 20 Sader 2014. 21 Bryce 2012: 134. 22 Der westlich von Tell Afis gelegene eisenzeitliche Fundplatz Tell Mastuma wird verschiedentlich mit dem in den Annalen Salmanassars III. genannten Ort Aštimaku / Abšimaku gleichgesetzt (Bryce 2009: 78). 23 Hawkins 2016: 191‒192. 24 Castex 2016: 211. 25 Bryce 2009: 284. 18

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Karin Bartl / Massoud Badawi

Eisenzeitliche Siedlungen am mittleren Orontes Hama-Region Im Gebiet zwischen ar-Rastan und Qal´at Shayzar wurden in den Jahren 2003–2005 umfangreiche Prospektionen durchgeführt.26 Die eisenzeitliche Besiedlung wurde dabei in 28 Fundplätzen nachgewiesen (Abb. 4).27 Die Eisenzeit I ist mit 12 Orten vertreten, die Eisenzeit II mit 28 Siedlungen, die Eisenzeit III mit neun Orten. Sieben Siedlungen weisen alle drei Zeitabschnitte auf. Die meisten Orte befinden sich auf Tells am Orontes und seinem Nebenfluss Sarut, die Größen zwischen etwa 1,5 und 5 ha aufweisen. Den bedeutendsten Fundplatz hinsichtlich Struktur und Größe bildet Tell anNasriyah (OS 28‒29). Er besteht aus einer Tellsiedlung von ca. 2 ha Fläche sowie einer ausgedehnten Unterstadt von 45 ha, die sich nördlich und westlich davon erstreckt (Abb. 5 und Abb. 6). Diese ist im Norden und Osten durch künstliche Wallanlagen von etwa 25 m Höhe geschützt, die ebenso wie in Tell Mishrife / Qatna aus der Mittelbronzezeit stammen. Ausgrabungen haben u.a. einen Friedhof mit spätbronze- und eisenzeitlicher Belegung freigelegt.28 Die eisenzeitliche Besiedlung der Hama-Region ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Zum einen durch die Kontinuität der Besiedlung zwischen Spätbronze- und Eisenzeit. Erstere ist mit 14 Orten vertreten29, letztere mit 12 Siedlungen, wobei von diesen acht bereits in der Spätbronzezeit besiedelt sind. Zum anderen durch die Verdoppelung der Siedlungsanzahl in der Eisenzeit II gegenüber der Spätbronzezeit. Alle eisenzeitlichen Orte liegen auf mittelgroßen Tells, die bereits eine Besiedlung der Frühbronzezeit IV (2400‒2000 v. Chr.) und der Mittelbronzezeit (2000‒1600 v. Chr.)30 sowie auch der Spätbronzezeit aufweisen. Neugründungen der Eisenzeit konnten nicht nachgewiesen werden. Region um Tell Mishrife Das südlich an die Hama-Region angrenzende Gebiet wurde im Rahmen des QatnaAusgrabungsprojektes in den Jahren 2000‒2003 prospektiert.31 Die Ausgrabungen in Qatna waren auf die mittel- und spätbronzezeitlichen Schichten fokussiert, bei denen u.a. der Königspalast sowie das Königs-Hypogäum freigelegt wurden.32 Die Zerstö26 Bartl / al-Maqdissi 2014; Bartl / al-Maqdissi 2016. Der Survey am mittleren Orontes wurde als Kooperationsprojekt zwischen der Außenstelle Damaskus der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) und der Direction Générale des Antiquités et des Musées (DGAM) durchgeführt. 27 Badawi in Vorber. a. Die Chronologie der Eisenzeit wird hier folgendermaßen definiert: Eisenzeit I (1200–900 v. Chr.), Eisenzeit II (900–550 v. Chr.), Eisenzeit III (550–330 v. Chr.). Zu anderen Differenzierungen siehe auch Mazzoni 2000; Akkermans / Schwartz 2003: Fig. 11.3. 28 Parayre / Sauvage 2016. 29 Sievertsen 2014. 30 Badawi in Vorber. b. 31 Morandi Bonacossi 2007: 66. 32 Pfälzner 2011; Pfälzner / al-Maqdissi 2015.

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Eisenzeitliche Siedlungen am mittleren Orontes

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rung des Königspalastes erfolgte um 1340 v. Chr., über die Stadt bis zum Ende der Spätbronzezeit um 1200 v. Chr. liegen nur wenige Informationen vor. Es wird angenommen, dass sie zwischen 1200 und 900 weitgehend unbewohnt war. Die eisenzeitliche Neubesiedlung beginnt erst wieder um 900 v. Chr. Werkstätten und Magazine sind für den Zeitraum des 8. Jhs. v. Chr. belegt. Größe und Struktur der Siedlung deuten auf ein größeres Zentrum, das politisch sehr wahrscheinlich zum Reich von Hamath gehörte.33 Der antike Name von Tell Mishrife in der Eisenzeit ist nicht bekannt. Die Prospektionen im Umland von Tell Mishrife weisen 19 Orte in der Eisenzeit II‒III auf. Hierbei handelt es sich in allen Fällen um Siedlungen, die bereits in der Spätbronzezeit besiedelt waren. Die Eisenzeit I ist im Umland von Tell Mishrife / Qatna ebenso wenig vertreten wie im Ort selbst. Die Siedlungsplätze der EZ II‒ III verteilen sich linear in relativ gleichmäßigem Abstand an den drei, Nord‒Süd verlaufenden Hauptwadis in der Umgebung und befinden sich fast alle auf kleinen Tells.34 Wie in der Hama-Region ist die Siedlungsdichte der Eisenzeit auch in der Mishrife-Region deutlich höher als die der Spätbronzezeit, für die dort nur elf Siedlungen nachgewiesen wurden.35 Homs-Region Der Homs-Survey wurde in zwei große Regionen nördlich und südlich der Stadt Homs durchgeführt. Es handelt sich um zwei nicht zusammenhängende Gebiete, die sich in insgesamt fünf Zonen mit unterschiedlichem geomorphologisch / ökologischem Profil gliedern.36 Der zentrale Ort im südlichen Untersuchungsbereich ist Tell Nebi Mend, in dem das antike Qadesh vermutet wird. Für die Eisenzeit I fanden sich während des Surveys fast keine Belege, die Eisenzeit II ist in den beiden Großregionen mit insgesamt 34 Fundplätzen belegt. Dabei handelt es sich ganz überwiegend um Tellsiedlungen (26), die bereits ältere Besiedlung, u. a. auch der Spätbronzezeit, aufweisen.37 Einige wenige Flachsiedlungen sind Neugründungen. Auch in der Homs-Region lässt sich gegenüber der Spätbronzezeit, die mit 25 Siedlungsplätzen vertreten ist, in der Eisenzeit II ein bedeutender Siedlungszuwachs beobachten. Die Besiedlungsstruktur der Homs-Region zeigt insgesamt ein sehr konservatives Bild mit wenig Verteilungsvarianz. Die markanten, lange genutzten Siedlungsplätze (“placemarkersˮ) bilden, wie auch in der Hama-Region, die wichtigste Siedlungskategorie.38

33

Al-Maqdissi / Morandi Bonacossi 2009: 278–285; Morandi Bonacossi 2013. Morandi Bonacossi 2007: Fig. 14. 35 Morandi Bonacossi 2007: Fig. 12; 2013. 36 Philip / Newson 2014: Tab. 1. 37 Philip / Bradbury 2016: Fig. 13. 38 Philip / Bradbury 2016: 389. 34

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Karin Bartl / Massoud Badawi

Ghab Die Senke des Ghab erstreckt sich etwa 25 km nordwestlich von Hama über eine Länge von ca. 60 km Richtung Norden. Archäologische Prospektionen fanden 197039 sowie zwischen 2004 und 200640 statt. Im Ghab liegen zwei große Siedlungsplätze, die auch in der Eisenzeit von besonderer Bedeutung sind: Tell Acharneh und Tell Qarqur (Abb. 7 und Abb. 8). Tell Acharneh ist der mit Abstand größte Ort der Region, er wird häufig mit den antiken Tunip geglichen, der Hauptstadt des Landes Amurru im 2. Jahrtausend v. Chr. Während der Ausgrabungen wurden Schichten der Eisenzeit I‒II erfasst41, eine assyrische Siegesstele mit einer Inschrift Sargons II, die in der Nähe von Acharneh gefunden wurde42, belegt dessen Sieg über die aramäische Koalition bei Qarqar. Der im nördlichen Ghab gelegene Tell Qarqur wird in der Regel mit dem antiken Qarqar gleichgesetzt, wo eine luwisch-aramäische Koalition im Jahr 853 v. Chr. gegen das assyrische Heer unter Salmanassar III kämpfte und gegen Ende des 8. Jahrhunderts eine Schlacht zwischen syrischen Stämmen und Assyrern unter Sargon II stattfand. Die langjährigen Ausgrabungen vor Ort konnten die Identifikation jedoch bisher nicht verifizieren. Neben diesen beiden Siedlungen ist für die Eisenzeit auch Qal´at al-Mudiq erwähnenswert, da hier eine Stele aus der Zeit Salmanassars III gefunden wurde.43 In der Ghab-Region wurden insgesamt 22 eisenzeitliche Siedlungen nachgewiesen. Damit weist diese Periode die höchste Siedlungsdichte aller altorientalischen Perioden auf.44 Die Spätbronzezeit ist mit insgesamt 17 Siedlungen vertreten. Auch hier befinden sich die eisenzeitlichen Siedlungen fast ausschließlich auf Tells mit bronzezeitlicher Nutzung, nur zwei Orte sind Neugründungen.45 Belege für die Eisenzeit I und Eisenzeit III (Perserzeit) wurden nicht festgestellt. Diskussion Die mittlere Orontes-Region zwischen den modernen Städten Homs und Jisr alShoghur weist eine relativ hohe Siedlungsdichte für den Zeitraum der Eisenzeit II auf (Tab. 1).

39

Courtois 1973. Fortin / Cooper 2014; Fortin 2016. 41 Fortin / Cooper 2013. 42 Frame 2006. 43 Meriggi 1966–1975; Hawkins 2016: Tab.1. 44 Fortin 2016: 293. 45 Fortin / Cooper 2014: 100. 40

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Eisenzeitliche Siedlungen am mittleren Orontes

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Survey

Spätbronzezeit

Eisenzeit allgemein

Eisenzeit I 1200‒900

Eisenzeit II 900‒550

Eisenzeit III 550‒330

Hama-Region Mishrife-Region Homs-Region Ghab

14 11 25 17

28 19 34 22

12

28 1946 34 22

9

Tab. 1

Anzahl von Spätbronze- und Eisenzeitsiedlungen in der mittleren Orontes-Region

In diesem Zeitraum steigt das luwisch-aramäische Königreich Hamath zur dominierenden politischen Kraft in Westsyrien auf und kann seine Bedeutung bis zur endgültigen assyrischen Eroberung 720 v. Chr. behaupten. Die vergleichsweise hohe Anzahl von Siedlungen belegt, dass das 9./8. Jahrhundert v. Chr. in der Gesamtregion offenbar sehr günstige Siedlungsbedingungen aufwies – eine Situation, die offenbar auch durch die bereits Mitte des 9. Jahrhunderts einsetzenden assyrischen Angriffe nicht negativ beeinflusst wurde. Auch wenn hierzu keine schriftlichen Informationen vorliegen, ist anzunehmen, dass u. a. stabile politische Verhältnisse zur positiven Siedlungsentwicklung beitrugen. Siedlungen der Eisenzeit I und III wurden nur im Hama-Umland nachgewiesen, während diese Perioden im Oberflächenbefund der anderen Untersuchungsgebiete fehlen. In der Hama-Region scheinen daher die politischen Veränderungen infolge des Untergangs des hethitischen Großreiches keinen wesentlichen Einfluss auf das Siedlungsgeschehen gehabt zu haben. Die negativen Auswirkungen eines regionalen Ereignisses zeigen sich hingegen in der Mishrife- und auch in der nördlichen HomsRegion. Hier ist nach der Zerstörung der Königsstadt Qatna in der Mitte des 14. Jahrhunderts v. Chr. ein Siedlungsniedergang zu beobachten, ein Aufschwung ist erst für die Eisenzeit II belegt.47 Grundsätzlich unterscheidet sich die eisenzeitliche Siedlungsstruktur von derjenigen älterer Perioden, insbesondere der Spätbronzezeit, zwar hinsichtlich der Anzahl der Siedlungen, jedoch wenig hinsichtlich der Lokalität der Orte. In allen vier Untersuchungsgebieten bilden auch in dieser Zeit die seit langem genutzten Siedlungsplätze die vorrangigen Ortslagen. Diese gruppieren sich in der Regel entlang des Orontes sowie seiner Nebenflüsse und benachbarten Hauptwadis, so dass hier eine permanente Wasserversorgung gewährleistet war. Neben diesem grundlegenden Standortvorteil der „Altsiedlungen“ bildete möglicherweise auch die gegenüber der Umgebung erhöhte Ortslage von Tells48, die einen gewissen Schutzfaktor darstellt, einen Aspekt der Ortswahl.49 46

Für Qatna wird die Eisenzeit in die Phasen II (900‒700 v. Chr.) und III (700‒550 v. Chr.) gegliedert (al-Maqdissi / Morandi Bonacossi 2009). 47 Morandi Bonacossi 2013: 125‒126; Philip / Bradbury 2016: 384. 48 Fast alle Tellsiedlungen der Region gehen bis in die Frühbronzezeit zurück, d. h. dass sie in der Eisenzeit bereits Siedlungsschichten aus einem Zeitraum von bis zu 2000 Jahren akkumuliert hatten und dementsprechend hoch anstanden. 49 Allerdings sollte das scheinbare Fehlen von Neugründungen mit Vorsicht bewertet werden, denn flache Kleinsiedlungen sind im archäologischen Oberflächenbefund schwer auffindbar, zumal in landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebieten wie der Orontes-Region. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Karin Bartl / Massoud Badawi

Die Ermittlung der eisenzeitlichen Besiedlungsstruktur, das heißt die Definition von Zentren, Subzentren und davon abhängigen Siedlungen, ist aufgrund der Schwierigkeit der periodenspezifischen Größenbestimmung bei Tellsiedlungen relativ schwierig. Dass es neben der Residenzstadt Hamath jedoch weitere eisenzeitliche Großsiedlungen gab, belegen die Befunde in Tell Mishrife, die dort ein ökonomisches (Sub)-Zentrum zu Hama vermuten lassen. In der unmittelbaren Umgebung von Hama war möglicherweise die Siedlung Tell an-Nasriyah ein ähnliches Zentrum, das aufgrund seiner Größe und günstigen Ortslage eine besondere ökonomische Bedeutung gehabt hat. Allerdings konnten die bisherigen Ausgrabungen hierfür keine Hinweise liefern. Die Homs-Region weist hingegen für die Eisenzeit im Gegensatz zur Spätbronzezeit, als Tell Nebi Mend, in dem das antike Qadesh vermutet wird, keine eindeutig als „Zentrum“ anzusprechende Siedlung auf. Im Ghab können hingegen die Tellsiedlungen Acharneh und Qarqur aufgrund von Lage und Größe, Inschriftenfunden bzw. schriftlicher Erwähnungen hypothetisch ebenfalls als Subzentren zu Hama angesprochen werden. Die Eisenzeit II bildet hinsichtlich der Anzahl der Orte den vorläufigen Höhepunkt der Siedlungsgeschichte der mittleren Orontes-Region. Die assyrische Eroberung Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr., die auch von Deportationen der einheimischen Bevölkerung begleitet war, hatte offenbar gravierende Auswirkungen auf die Besiedlungsstruktur und führte zu einer Verringerung des Siedlungsbestandes. In der Hama-Region wird die Siedlungsdichte der Eisenzeit II erst in römisch / spätrömischer Zeit wieder erreicht bzw. übertroffen. Bibliografie Akkermans / Schwartz 2003 Peter M. M. G. Akkermans / Glenn M. Schwartz, The Archaeology of Syria. From Complex Hunter-Gatherers to Early Urban Societies (ca. 16,000–300 BC), Cambridge. Badawi in Vorber. a Massoud Badawi, La céramique de l’âge du Fer dans la moyenne vallée de l’Oronte, prospections archéologiques de 2003 à 2005, in: Karin Bartl / Massoud Badawi (eds.), Archaeological Survey in the Middle Orontes Region. Orient-Archäologie. Badawi in Vorber. b Massoud Badawi, La céramique de l’âge du Bronze moyen dans la moyenne vallée de l’Oronte, prospections archéologiques de 2003 à 2005, in: Karin Bartl / Massoud Badawi (eds.), Archaeological Survey in the Middle Orontes Region. Orient-Archäologie. Baghdo / Martin / Novák / Orthmann 2009 Abd el-Masih Hanna Baghdo / Lutz Martin / Mirko Novák / Winfried Orthmann, Ausgrabungen auf dem Tell Halaf in Nordost-Syrien. Vorbericht über die erste und zweite Grabungskampagne 2006 und 2007. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 3,1, Wiesbaden.

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Eisenzeitliche Siedlungen am mittleren Orontes

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Abbildungen

Abb. 1

Survey-Gebiete am mittleren Orontes (Karte: DAI, Orient-Abteilung, Th. Urban, K. Bartl; Karte erstellt mit USGS/NASA 90 Meter SRTM-Daten).

Abb. 2

Ungefähre Ausdehnung des Landes W/Palistin zur Zeit des Herrschers Taita (Karte: DAI, Orient-Abteilung, Th. Urban, K. Bartl; Karte erstellt mit USGS/ NASA 90 Meter SRTM-Daten).

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Abb. 3

Ungefähre Ausdehnung des Reiches von Hamath im 9./8. Jh. v. Chr. (Karte: DAI, Orient-Abteilung, Th. Urban, K. Bartl; Karte erstellt mit USGS/NASA 90 Meter SRTM-Daten).

Abb. 4

Eisenzeitliche Besiedlung in der Hama-Region, Fundplätze der Eisenzeit I‒III (Karte: DAI, Orient-Abteilung, Th. Urban). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Eisenzeitliche Siedlungen am mittleren Orontes

Abb. 5

Tell an-Nasriyah (Satellitenbild: 2019 DigitalGlobe, 14.8.2017/google earth; Beschriftung K. Bartl).

Abb. 6

Tell an-Nasriyah, Ansicht von Westen (Foto: DAI, Orient-Abteilung, K. Bartl).

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Abb. 7

Tell Acharneh im Ghab, Ansicht von Westen (Foto: DAI, Orient-Abteilung, K. Bartl).

Abb. 8

Tell Qarqur im Ghab, südlicher Tellbereich, Ansicht von Norden (Foto: DAI, Orient-Abteilung, K. Bartl).

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Degrees of Digitality The Case of Excavation Reports Giorgio Buccellati / Los Angeles 1. Digitalities The common sense meaning of the term “digital” refers to the way in which knowledge is transposed onto a form susceptible of being handled by electronic means: it refers, in other words, to the shape in which data are couched and to the processes they can thereby undergo. In a strict sense, this refers to the binary structure of the data and to the way in which they can be processed independently of human intervention, through a computer. We may call this computational digitality. It applies essentially to activities that involve programming. In a broader sense, we may speak of applied digitality. This refers to the interface that makes possible in practice the use of the digital dimension: when writing with a word processor or taking a photo with a “digital” camera, we are not operating within a properly digital mindset; we only write as if with a more powerful typewriter, we shoot as if with a more powerful 35 mm. camera. Or think of virtual reality: as a rule, one looks at it as a finished product, which conveys information of a type and in a style that was inconceivable with pre-digital means; however, the mindset of the viewer remains on this side of the interface with the digital, and is not dissimilar to the one that obtains when viewing a film. In each case, the proper digital dimension remains behind the scenes, and the application takes place only through the interface. There is a third type of digitality, which is not generally recognized as such, and on which I would like to elaborate in this article. It affects the way in which we approach the data, the way in which we conceptualize the world. If we look at this in the light of a wider historical perspective, we may say that we have actually been on a course towards digitality ever since logical thought first began to impose categories on reality as perceived. The ability to break down reality into logical categories is in a sense digital, because it aims at reconstructing that same reality out of the fragments that have been first established through analysis. This reconstruction creates a virtual dimension, which gives us control over the factual dimension. The “dissolving” of the real is implied (also etymologically) in the very meaning of the term “analysis,” and this process of dissecting a whole into its component parts and then reconstituting it into a new unity1 is in effect at the basis of the digital process. In this sense, then, digitality as we know it today brings to its full fruition what has This is the definition that Socrates gives of himself in Plato’s Phaedrus: “the lover of split fragments and of re-assembled wholes” (τούτων δὴ ἔγωγε αὐτός τε ἐραστής, ὦ Φαῖδρε, τῶν διαιρέσεων καὶ συναγωγῶν, 266 b). See also his description of the ideal orator or writer as “the one who sets boundaries … in dividing until the limit of the divisible” (ὁρισάμενός τε πάλιν κατ᾽ εἴδη μέχρι τοῦ ἀτμήτου τέμνειν, 277 b). 1

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always been at the core of any scientific enterprise. In today’s computational environment, this means that human interaction with the data is specifically anchored to the digital dimension of their structural make-up. This I call conceptual digitality. In what follows, I will focus on three specific instances of this type of digitality as they pertain to archaeological publishing.2 Being clear about these different types of digitality helps us to bring out more clearly the real uniqueness of what we have come to call the “digital revolution”. In the final analysis, the quantum leap we are witnessing is not such because of the technique used, the computer, but because of the methodology that affects the analysis and the argument. The assessment I give here of this great turn towards digitality, as found in the case of archaeological publishing, is as if a metaphor for the colleague we are celebrating, because Lutz Martin has witnessed what are perhaps even greater changes in his lifetime than the one to the computer age, and our lives have crossed at times and in places where we could fully appreciate how momentous these changes were. I trust that he will see here the echo of such shared events and of our enduring collegiality and friendship. 2. Static dimension: categorization Excavation reports are aimed at documenting data and showing how they fit together. Even in their most rudimentary form, catalogs of finds are based on categorization systems that imply binary choices, however hidden these may be: they are in fact developed along the lines of a logical tree, where concepts are broken down into progressively narrower subcategories. The ceramic classification system proposed by Delougaz in 19523 is an exemplary model for our purposes, in particular with regard to his classification system. The description he gives of the system is brief: some twenty-five pages, of which the major part is taken up by the definition of the shapes. He outlines a system that is very well thought out and lucidly explained: ten major groups, eight of which can be reduced to a simple or a composite geometrical form, and within each group ten subdivisions, each showing a slight variation of the basic shape, summarized graphically in a chart (Table I, page 11). This results in a “decimal system”, as De-

I have defined this type of digitality in the article “The Question of Digital Thought” in Nikolaeva, Tatiana M. (ed.), Issledovanija po lingvistike i semiotike (Studies in Linguistics and Semiotics) – A Festschrift for Vyacheslav V. Ivanov. Moscow: Jazyki slavjanskix kul'tur, 2010, pp. 46–55, and I have further developed it in A Critique of Archaeological Reason. Structural, Digital and Philosophical Aspects of the Excavated Record. Cambridge and New York: Cambridge University Press 2017, Part Four. See also the companion website critiqueof-AR.net. 3 Delougaz 1952: 156–161. It was my privilege to have studied briefly under him at the Oriental Institute in the early sixties, and then to serve with him at UCLA where he came in 1967 and with whose support I began to work on the creation of what became the Cotsen Institute of Archaeology. The Institute was established in 1973, two years before his death in the field, at Chogha Mish. 2

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lougaz repeatedly states,4 and he refers regularly to elements of the system as “ciphers” and “digits”. He carries out his system with great rigor, as one sees in the index by period5 and in the catalog itself; in addition, he also proposed tools for its implementation, in particular a device for measuring.6 But what matters to us here is not so much to explore the details of the system (which, in point of fact, has not been otherwise adopted in the field), but the way in which the concept of data base as is current today has been anticipated by Delougaz: it is an essentially digital system even in a pre-digital era. It was a proper data base, even if not planned for computational use. The production of data bases is at the start of a digital process. They provide the building blocks for any subsequent analysis, and are specifically construed with a view towards digital analysis. The data can be processed in a variety of different ways, through available programs, commercial and open source, which re-assemble the data at will, including complex sorts, statistical computations, and graphic displays. Several important points need to be stressed here. The structuring of a data base is profoundly heuristic in its function and intent. When properly construed, a data base is not episodic, i. e., it does not arrange casually the elements, but rather sees them as encased in a comprehensive whole. In this it differs greatly from an inventory: the latter lists, linearly, the elements as found, sorting them according to specific criteria, but without concern for the larger whole within which the pieces fall. A data base, instead, presupposes a matrix, which means that it allows for attributes that may be circumstantially missing in the corpus (the inventory), but are essential for the consistency of the whole. It is in this sense that it is heuristic: it anticipates potentially missing elements, and makes room for them. Thus on the very first page of the Delougaz catalog7 the first two digits of each vessel shape, which define a type, go from 00 to 05, and then jump to 11; one sees at once that types 06 to 09 (described in the coding system8) are missing in this particular corpus (see Fig. 1). Another central goal of a data base is that it allows for multiple sorts, which would not be possible with a purely linear inventory. This, too, is an aspect that emerges clearly from the Delougaz system: true perhaps to his original training, the system he proposes has a profound architectural sense of structure while being at the same time rooted in a mathematical frame of mind, and it is in this sense that it may be considered conceptually digital, and computational ante litteram. See for instance this remarkable statement: Without changing the order it is still possible to classify vessels in a given group of pottery according to any one of these elements. For instance, by ar4

In its abbreviated format, and in particular for the identification of provenience, the system is similar to the Dewey decimal system of library classification, as Delougaz 1952 points out in note 25 on page 21. 5 Delougaz 1952: 156–161. 6 Delougaz 1952: 15–16. 7 Delougaz 1952: Pl. 140. 8 Delougaz 1952: 7. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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ranging vessels according to the first two digits we obtain a classification based on general form regardless of size. Similarly, if a collection is grouped according to the fourth digit we obtain a classification according to the type of base only. Should it be desirable to group together all spouted vessels, all that is required is to select those whose designations end in 2, 5, or 7.9 There is a second important consideration to be made about the conceptual digitality of a data base. By virtue of being part of a matrix, the elements of a data base are of their own nature linked with each other – which is not the case with a linear inventory. This means that any such element is defined not only in itself, but also because of the essential links it automatically implies; not only does an element declare itself, it also invokes essential connections with other specific elements in the matrix. In this respect, too, the system proposed by Delougaz is exemplary. Thus the first two digits in the code of the first vessel in his catalog10 necessarily “invoke” those that follow: the definition of the first vessel as being of the type 00 is by necessity linked to the next attribute which defines the proportion, in this case identified by the code 0, to be read as “height less than 1/5 of maximum width.”11 This being said about its digital dimension, the fact remains that any data base is essentially static: it declares a set of conditions, but does not construe an argument. Or, we might say, it is in a potential state to construct an argument.12 This is so because the attribute matrix that lies behind it anticipates a series of dynamic correlations (such as sorts and links), even though it does not of its own set these correlations in motion. To do this, i. e., to activate the static dimension of a data base, a trigger is needed. 3. Dynamic Dimension – Exo- and Endogenous The trigger comes in two forms. The first operates autonomously, from outside the record: it is an exogenous system. This means that the record has first been created, and only subsequently the digital approach is brought to bear on it from the outside. An exogenous system relies on a computer program that, once started, operates from start to finish, for any given operation, on the basis of parameters that have been built into the program and are selectively invoked by the user. The other is an endogenous system. This means that the record in its entirety is born digital, in a conceptual sense. Not operating on fixed parameters, it depends on sequential choices, where both the broader argument and the data are presented in a format suited for browser access, where recursive procedures (in the linguistic sense of the term) are used to incrementally construct an argument.

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Delougaz 1952: 10. Delougaz 1952: Pl. 140. 11 Delougaz 1952: 12. 12 For a development of these concepts see Buccellati 2017, especially section 11.4. 10

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3.1 Exogenous systems: data bases and programs Spreadsheets (such as Microsoft Excel or OpenOffice Calc) and relational data base management systems (such as Microsoft Access or LibreOffice Base) are common types of turnkey programs, both commercial and open source. They trigger the potential aspects of the data base, thus activating its otherwise passive dimension. They are geared to a generic use. If in a primordial way, the process creates an argument from the collected data, because the output proposes a reconfiguration of the input according to parameters chosen by the user. The term “user” is indicative in this respect: one delegates to the program the faculty to reassemble the disjecta membra that have been gathered without knowledge of how they may fit together, and one then proposes multiple different paths towards alternative possible restructured wholes. Other programs are instead aimed at specific purposes, and serve more specialized aims, all the more so in line with the goal of creating an argument out of multiple discrete data. I will highlight here one such program developed by Federico Buccellati, in connection with our excavations at Tell Mozan, ancient Urkesh,13 and then broadened to be applicable to any archaeological project. It will serve as a model for what I have in mind when speaking of an exogenous digital system used in the production of the archaeological record. The program BlockGen produces three-dimensional renderings of architectural volumes (walls), with some significant aspects not found in commercial programs. In the words of the author: This website describes BlockGen, a plugin developed for AutoCAD 2012 to produce solid 3D blocks from data collected in archaeological contexts. AutoCAD cannot (at least until 2016) produce a 3D solid object given XYZ coordinates for each corner of the block; this plugin provides that functionality.14 There are three aspects in this that should be highlighted (see Fig. 2). (1) The input consists of coordinates for individual points of a wall as regularly taken on the excavation: in other words, the program uses data already collected in the field. (2) The program can be run at will on the excavations, on a normal computer, without any specialized hard- or software (other than AutoCAD 2012). (3) It produces segments of the walls as excavated, not only as reconstructed. These factors are very significant and relevant for our purposes. In the first place, the results have a high documentary value: the output in fact renders the situation as seen in the field rather than an idealized reconstruction; thus it can also render different components of a wall as excavated (this emerges very clearly in the publication of the Urkesh AP palace15). And since the program can be run at will, it can 13

Buccellati, F. 2016, the section on BlockGen is given as an Appendix on pp. 279‒298. See also Buccellati, F. 2015: 157–169; Buccellati, F. / Kansa 2016: 91‒97. 14 From the introduction to the website available, with the pertinent code, at github.com/ fabfab1/BlockGen. 15 See the catalog in Buccellati, F. 2016: 299‒350. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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easily provide a daily record of the work done, with metrical precision. In this way, it is also extremely useful in terms of the excavation strategy, because in addition to the up-to-date record of the existing remains, one can project what one may expect to find, which conditions the procedure to be used in the subsequent excavation. It may be said that the program offers a simple and inexpensive equivalent of photogrammetry, obtained not in an applied manner and not through the intervention of specialists,16 but through the direct and single involvement of the excavator. In this perspective, the archaeologist is neither a programmer nor a simple end user: there is rather a direct involvement precisely qua archaeologist, in the way in which the input data are provided and the way in which the program is run. Here, too, the process generates an argument, however sui generis: the discrete elements of the input are reconfigured and produce a given vision of the whole, such as is not otherwise possible. It is in this close interaction with data and programs that the digital dimension of the archaeological process emerges. It is not only that the result could not be possible without computational means; nor is the running of the program done blindly, as if clicking the shutter of a camera through which an entire scene is caught at once. Rather, the operator must have an intimate (digital) knowledge of the discrete components in function of their being re-assembled graphically in the 3-D rendering. There is a very close interaction between the archaeologist and the data that are summoned to create a finished product, and it is in this that we have the proper digital dimension of the process. 3.2 Endogenous Systems: Browser Editions Programs operate on a data base according to preset parameters, and thus the “argument” that they create is constrained by these intended limits. But there is another major limitation: the elements of the data base are effectively independent from the broader argument, i. e., from the full reconstruction of the excavation process. They serve the function of a catalog in the traditional sense (save the fact that they are immensely more flexible), and so, they remain subordinate and juxtaposed to the broader “argument,” i. e., to the narrative of the excavation with its results, no matter how extensive the size of the data base and detailed its articulation. Thus it is that, in the final analysis, even an excavation report that extensively uses “digital” means does so in a way that is not fully digital. The broader argument within which the data base is encased is in the form of a linear presentation, and even when this is made available in a “digital” format, and not just in a paper format, the content remains essentially linear. There is, in other words, a real disconnect in standard publications between the broader argument and the data as given in the data base. There are two “arguments” that run parallel to each other, without reciprocal interaction: the one that is brought to bear from the outside (exogenously) on the data base, activating its potential, and the narrative which is given in a strictly linear format, even when presented “digitally” (in PDF format). The two exist side by side, they do not speak to each other, there is no reciprocal dialog. The data base remains at the level 16

Thus avoiding what F. Buccellati calls the “UFO problem”, Buccellati, F. 2016: section 5.1. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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of a catalog, just as with the Delougaz pottery catalog: this was ahead of its time in proposing a categorization system that was perfectly suitable for digital handling, a conceptually digital catalog in a pre-computational era; but it clearly remained a catalog. It was not, in other words, an integral part of the way in which the broader “argument” was constructed.17 To obviate these limitations, I have proposed the concept of a global record and of a browser edition,18 which I have applied in the case of the excavations at Mozan, ancient Urkesh. What interests us here are only three points in this regard: the digital underpinnings of the record, the format as a multi-linear browser edition, and the impact on the excavation strategy. (1) The record is digital not because it is entered in a computer, a process which is obviously the universal rule today. The question regards the physiognomy that the record takes, the larger framework within which every atomistic observation is encased. The aim of the Urkesh Global Record is that every single observation ever made during the excavation is recorded in such a way as to be immediately encased in an all encompassing digital matrix, i. e., a matrix that is designed digitally to serve at once the highest nodes of the argument and the lowermost individual components. These components are atomistic in nature because they emerge from the ground without any claim to correlation with each other, save the manner in which they are in contact in the ground (the emplacement). From the stratigraphic moment in the field to the typological moment in the lab, every single observation, even the most minute, flows immediately into this single overall matrix, and so does every photo, drawing, or input from external sources (e. g., the surveyor’s measurements), see Fig. 3. The record is thus digital because every single observation or note of fact is born digital, with a vocation to being instantly integrated in the all encompassing whole of the system. (2) The form this takes is that of a browser edition, which in practice means a website. What makes this a dynamic process is the close interaction of the arguments in building up the record, whether discursive in nature or in the form of a data base. The hyperlink mechanism makes it possible to pursue a multi-linear argument, enabling the reader to follow multiple themes in an organized manner. Pertinent numbers are significant: for example, the record of an excavation unit like A16, which covers an area of eight 5x5 m loci, with a total volume of approximately 700 cubic meters, contains a total of more than five and half million records and more than one million hyperlinks (urkesh.org/ A16-dataset). But quantity is not an end in itself. It rather means that there are few if any limits to the interaction one can have with both the discursive narrative and the various data-bases that are included in the website.

17 It is a situation that mirrors the excavation strategy and process in the way they are generally understood. The depositional and functional understanding of the material excavated takes pride of place, and the data in their atomistic dimension (as given in the catalog) are subordinated to this understanding. By contrast, I see as essential the centrality and absolute priority of emplacement in the excavated record and of the way in which this should be reflected in the conceptual record, see Buccellati 2017, especially chapter 4. 18 See Buccellati 2006: 49‒55.

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(3) Finally, the digital dimension has a major impact on excavation strategy: since the totality of the observations made any given day by any member of the staff is processed immediately, and since no record thus entered is ever altered, we have what amounts to a final publication on a daily basis, available to all on the excavation. This means that all decisions about the progress of the excavation are based on a full knowledge of the results obtained until that moment, all accessible immediately – both in the form of the data bases and of the overarching argument that is being developed. I view this as the best validation of the digital dimension of the whole system, because it is possible only as a result of the overall approach as described. 4. Data gathering Data are at the starting point of all analysis, and here, too, the question arises as to the role of digitality in the data gathering process. The first and obvious distinction is between data collection (done manually) and data capture (done automatically). Only the second is viewed as digital. Take, for example, the record of temperature and humidity at a site, which is important when planning for conservation of the exposed portions of the excavations, such as mud brick walls. In the case of our excavations at Mozan, we considered introducing an automated system of data capture, and consulted with our colleagues Neville Agnew and Martha Demas of the Getty Conservation Institute. Together, we decided against it, and opted for a manual type of data collection, with a manual thermometer and a manual hygrometer placed within the walls of the AP palace. How fortunate it was to have done so became clear during the long war period in Syria: having been away from the site for ten years, we have nevertheless been able to maintain the record, replacing easily both instruments when they broke down. But the reason for mentioning it here is because of how it relates to the question of digitality. We eschewed the (applied) “digital” dimension of data capture, but produced a record which was wholly digital conceptually. This is because the results were entered in the data base of the project, where some preliminary simple tabulations can also be found (urkesh.org/temp, under Full Record): this is perhaps the most complete record for temperature and humidity taken within any archaeological site in Syria. Thus, what makes this truly digital is that it has become part of the broader Urkesh Global Record as described in the preceding section, and as such it can be called upon at will when dealing with other issues not only of conservation, but also, for instance, of excavation strategy (when is the best time to excavate; how to correlate this digital record with the images and videos relating to weather at the site, also available in the website; etc.). The question of data gathering is of much greater relevance in the case of archaeology than perhaps for any other science. The initial observation of the emplacement is in fact the only evidence that remains, once the excavation proceeds and the evidence so far excavated for the physical record is thereby removed and obliterated. In other words, for most of the excavated material there are no more physical data in the measure in which the excavation has progressed: one simply cannot check the data as they were in the ground, one cannot ever repeat the © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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experiment.19 Thus it is that the question of digitality becomes imperative for data gathering more than in perhaps any other case, given the necessity of having a system that maintains every single observation ever made during the excavation process. True digitality becomes then an issue that goes well beyond theory and abstraction, and becomes instead a most concrete imperative for keeping the archaeological process within the framework of an arguable analytical process.

References Buccellati 2006 Giorgio Buccellati, A Browser Edition of the Royal Palace of Urkesh: Principles and Presuppositions, in: Pascale Butterlin / Marc Lebeau / Jean-Yves Monchambert, Juan Luis Montero Fenollós / Béatrice Muller (Hrsg.), Les Espaces Syro-Mesopotamiens: Dimensions de l’experience humaine au Proche-Orient ancien, Volume d’hommage offert à Jean-Claude Margueron. Subartu 17, 49‒55. Buccellati 2015 Federico Buccellati, What Might a Field Archaeologist Want from an Architectural 3D Model?, in: Maria Gabriella Micale / Davide Nadali (Hrsg.), How Do We Want the Past to Be? On Methods and Instruments of Visualizing Ancient Reality. Piscataway, 157–169. Buccellati 2016 Federico Buccellati, Three-Dimensional Volumetric Analysis in an Archaeological Context. Urkesh/Mozan Studies 6. Bibliotheca Mesopotamica 30, Malibu. Available online at www. undena.com/BM.html#30. Buccellati 2017 Giorgio Buccellati, A Critique of Archaeological Reason. Structural, Digital, and Philosophical Aspects of the Excavated Record, Cambridge. Buccellati / Kansa 2016 Federico Buccellati / Eric Kansa, The Value of Energetic Analysis in Architecture as an Example for Data Sharing, in: Digital Applications in Archaeology and Cultural Heritage 3 (3), 91‒97. Delougaz 1952 Pinhas Delougaz, Pottery from the Diyala Region. The University of Chicago Oriental Institute Publications, Volume 63, Chicago. Available online at https://oi.uchicago.edu/research/ publications/oip/pottery-diyala-region.

19

This, too, is a central theme of the thesis I present in Buccellati, G. 2017, especially chapter 15. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Fig. 1

Categorization. A pre-computational “digital” approach (P. Delougaz, Pottery from the Diyala Region, 1952).

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Fig. 2

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Exogenous systems. The BlockGen program applied to a specific field situation: the AP Palace at Urkesh (after Buccellati 2016).

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Fig. 3

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Endogenous systems. Three parallel inquiry paths from the Urkesh Global Record. The first consists of two discursive narratives that deal respectively with glyptics and epigraphy (1a and 1b). The second is in the form of tabulations (2). The third (3a‒b) is the full segmented narrative of a single item, an impressed sealing. The narratives interact with each other as indicated by the arrows. They are accessible online at urkesh.org/A16-glypt, /A16-epigr, /A16-freq-od and /A16.108.

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To Sift or Not to Sift … Research on the Effectiveness of Sifting Marilyn Kelly-Buccellati / Los Angeles 1. Background The excavations at Tell Mozan have yielded thousands of seal impressions that are small and unbaked and therefore fragile by nature.1 The contexts of these seal impressions vary but all are difficult to find in a soil matrix that is the same color and texture as the seal impressions. Our local excavators have worked with us a number of years and are very attentive to even small artifacts of every type. They care about their work and over the years have developed trained eyes for sherds and small objects. Because of this we have been confident that little has been missed during the excavation process. But we wanted to check on this. We decided to conduct an experiment whereby all the soil from a small locus was first processed by using our usual methods. These usual methods mean that in every locus the objects are recorded individually and boxed separately. The other items (ceramics, lithics and bones) are collected in their entirety and stored separately. These groups are given q-lot numbers with a designation indicating their content. The letter q in this case stands for “quantity”, that is objects collected in quantity and triangulated within a relatively small matrix, i. e. a volume that is generally no more than one to two meters on the side, and twenty to twenty-five centimeters in height. The concept of q-lot has thus a double meaning. On the one hand it represents a volume, on the other the items found within it. Each q-lot is in turn associated with a feature, i. e., a culturally defined entity, generally an accumulation deposited on top of a floor or within a narrowly defined space, such as a pit: a q-lot as such is defined by non-cultural parameters (i. e., the measurements that define the volume), but is encased within cultural boundaries. The excavator of a given feature collects the material in separate bags labeled with the q-lot numbers pertinent to that feature. Each bag is used for only one type of object, so ceramics in one bag, lithics in another, etc. The bags are intentionally small, as is the volume from which the items come, so that the quantities for each qlot are limited. With the present experiment we decided to use a two step approach: first the ceramics, lithics and bones were collected as described above. In a second step we sifted the excavated dirt to see what had been missed. In addition to the information we received on what was missed, our sifting experiments gave us an insight into how long it takes to sift a given amount (with our mechanized system, see below, a relatively short period of time) and the manpower needed to do this. 1 It is a pleasure to dedicate this article to a colleague whose seminal work in Berlin has long inspired us. Fortunately we were able to share thoughts on the excavation process with him both at Tell Halaf and Mozan. It is in this spirit that I dedicate to him the results of a research undertaken during fieldwork in Mozan.

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2. Aims of the Research Before the research began several aims were articulated. We wanted to: •



• •



determine what types of archaeological materials (if any) were being missed entirely by the excavators and their teams at the moment of excavation. check what types and sizes of archaeological materials are consistently underrepresented in the q lots collected in the features by the excavators and their teams. This especially refers to sherds but may also refer to lithics and bone. check how many ceramic rims and bases are missed at the point of excavation and their approximate size. since at that point we were excavating strata dating to the Mittani period, we wanted to check how many painted sherds are missed at the point of excavation. check the approximate time and manpower requirements for an average qlot to be sifted.

3. The Research Context The Urkesh Global Record embodies the totality of the record of the excavation. Within it are recorded, on a daily basis in the field and during subsequent research, all the data as it is recorded and analyzed. In the case of the ceramics all the sherds are collected from the excavation units, both body sherds and shape sherds, and all are analyzed. It is because of our emphasis on the collection and analysis of the totality of the data that we are very interested in what we possibly could be missing. The context of the research were two excavation units both near the stone revetment wall surrounding the temple terrace (Fig. 1).2 J2 is located on the exterior of the wall and J3 is situated behind/inside the wall. J2 features contained mixed pottery dating to the Early Dynastic and to the Mittani periods. The excavations of J3 were just beginning and the research included four of the uppermost features (features 1,2,31,37) which had mixed ceramics dating from the Late Chalcolithic to the Mittani periods. We thought it was important to sieve the backdirt in this area at the beginning since previously there had been a number of cylinder seal impressions in adjacent areas. However the two areas were chosen for this experiment, not because of their context but for their relative ease of access. 4. How the Research was Conducted Since the excavations were deep we had constructed a mechanical method of transporting the backdirt to the surface of the tell. This method was similar to an escalator but in this case the dirt was contained within a closed tube on small shelves until it spewed out, usually directly into a trailer for removal from the site (Fig. 2). For the sieving process the dirt dropped directly into a large sieve (Fig. 3). 2

Kelly-Buccellati 2010; Buccellati / Kelly-Buccellati 2014. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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In J2 and J3 the local excavators and their teams proceeded with their standard routine of putting all the sherds, bones, and lithics in their respective plastic bags labeled with their q-lot numbers. For the sifting process we took advantage of the mechanical means we had developed so that all the soil from the defined q-lot was sifted. The system included two steps, as shown in Figs. 2 and 3. At the base of the mechanical lift, there was a 2 cms screen, and at the top a 1 cm screen. Material from both screens was combined in a single lot. At the sifting stage the sherds, bones and lithics (when present in the sifter) were collected and labeled indicating that they derived from the sifting of the soil. The sifted lots were given a different number than the non-sifted q’s from the same defined space. The process of sifting took between 10–15 minutes depending on the volume of dirt. The units needed about two extra team members to accomplish this; the sifting at times slowed down the work in the unit. At the point of washing the lithics and bones were first counted. None of the lithics were worked pieces (neither chipped stone nor ground stone) but clearly had come from the large stones near their respective q’s. Few bones were found in the sifted dirt. The washed sherds from both sources were examined to determine if there were any immediately apparent patterns or joins and to determine the approximate size range of the sherds in each type of lot. In order to obtain uniform typological statistics the lots were processed using our standard analysis system. In J2 the experiment was conducted over two days with 10 lots examined from sifted and un-sifted q-lots (Table 1). The 10 lots came from two excavated features, f166 and f174. The total number of sherds in these features was 1820, including 1695 body sherds,125 shape sherds and 57 painted sherds. In J3 the experiment was conducted also over 2 days with 12 lots examined coming from 4 excavated features, f1, f2, f31, f37. The total number of sherds examined was 1731 of these 1387 are body sherds while 144 shape sherds. The sherd count also included 92 painted sherds.3 From the two areas the total number of sherds analyzed was 3551 including both body and shape sherds. 5. Research Results We may now consider in detail the results with regard to the five aims which we had set ourselves. a‒b. Material missed or underrepresented No items were discovered other than sherds, i. e. no worked lithics, no seal impressions, no complete or even almost complete bones4, etc. As for the sherds the total number found in the sifter was high in comparison to those found at the point of excavation in the majority of q’s. However when the 3

The current cumulative count for the sherds excavated in these two units is as follows: 33,813 in J2 and 13,384 in J3. 4 The disadvantage of the mechanical process is that small fragile bones could be broken. Because of this we instructed the excavators to be especially attentive to small bones when the mechanical process was in use. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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average sherd weight in grams was computed proportionally to the average size of the sherd (assuming for this study a constant sherd density) then it is clear that sherds in the sifter are much smaller. For instance, two lots in J3 feature 37 (q56 and q57) had an average weight from the sifter of 28 grams (27.66 gr) and from the point of excavation of 108 grams (108.33 gr); this indicates a very broad range of difference in sizes. c‒d. Special diagnostic and painted sherds No special diagnostic sherds were found in the sifter. In J2 there were 36 painted sherds and in J3 25 painted sherds from sifting. The painted sherds from the sifter were so small that nothing meaningful could be gained from the painted detail. e. Time and manpower requirements The main advantage of sifting is clearly that every sherd is discovered. But in this case, and we think in general for our excavations, the disadvantages include the time it takes to wash and analyze small body sherds. In one sifted q-lot (J3q47) there were 487 body sherds, the largest size of which was 6x4 cm and the smallest 2.5x2 cm. That the sherds in this lot were on the whole small sherds can be seen by the average sherd weight of 11.56 g. As shown in Table 1, this is the general pattern for all the q-lots in the study. The answers to our research aims as formulated at the start of the research were important in terms of our excavation strategy. Clearly, an obvious advantage for a total collection system is that with the collection from the sifter, everything is certainly collected and subsequently analyzed. But the nature of the material collected through sifting is such that it does not alter significantly the primary goal of obtaining a total record. The main goal of this approach is to make possible statements of non-occurrence, which are more powerful theoretically than statements of occurrence, and have a greater heuristic value: the distributional array is complete so that statements of probability are more plausible.5 But this goal is essentially achieved, in the case of the samples studied in our project, even without sifting, given the nature of the material found through sifting. With regard to time expenditure, there are two factors to be considered: the sifting and the post-sifting analysis of the recovered material. The answer for our excavation strategy (which was behind the whole experiment in the first place) was that sifting would occur anyway since it is built into the mechanical lift operation; but that the subsequent analysis would be limited only to items that exhibited a particular typological significance – which indeed was hardly ever the case. The question may nevertheless arise as to whether even such small sherds might contribute to the analysis of the ceramics from any one stratigraphic context. The connection between context and the embedded ceramics in that context is at the heart of the decision to process all sifted material or not. In the area of Syro-Mesopotamia the ceramic evidence is abundant. From our excavations in Urkesh/Mozan we recorded on average between 40,000 and 50,000 sherds a season, depending on 5

Buccellati 2017: 119. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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multiple factors including, among others, the contexts excavated, the physical nature of these contexts, the length of the digging season. The decision then might still be applicable in very special contexts where even the small fragments retrieved through sifting might be useful.

Bibliography Buccellati 2017 Giorgio Buccellati, A Critique of Archaeological Reason, Structural, Digital, and Philosophical Aspects of the Excavated Record, Cambridge. Buccellati / Kelly-Buccellati 2014 Giorgio Buccellati / Marilyn Kelly-Buccellati, ... Nor North: The Urkesh Temple Terrace, in: Pascal Butterlin / Jean-Claude Margueron / Béatrice Muller / Michel al-Maqdissi / Dominique Beyer / Antoine Cavigneaux (Hrsg.), Mari, ni Est, ni Ouest. Actes du colloque «Mari, ni Est ni Ouest» tenu les 20‒22 octobre 2010 à Damas, Syrie, Beyrouth, 439‒461. Kelly-Buccellati 2010 Marilyn Kelly-Buccellati, Mozan/Urkesh in the Late Chalcolithic Period, in: Jörg Becker / Ralph Hempelmann / Ellen Rehm (Hrsg.), Kulturlandschaft Syrien: Zentrum und Peripherie; Festschrift für Jan-Waalke Meyer. Alter Orient und Altes Testament 371, Münster, 87‒121.

Figures

Fig. 1

Urkesh/Mozan excavation units J2 and J3. (© IIMAS)

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Fig. 2

Fig. 3

Urkesh/Mozan: Backdirt being mechanically lifted into a trailer for removal. The sifter at the base has a 2 cms mesh. (© IIMAS)

Urkesh/Mozan: Backdirt being sifted at the end of the mechanical lift. The sifter has a 1 cm mesh. (© IIMAS) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Table 1 Quantitative details of sifting experiment in excavation units J2 and J3

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Tall Munbāqa war wirklich nicht BERSIBA Dittmar Machule / Hamburg Die Stadtruine Tall Munbāqa am Euphrat wurde zwischen 1969 und 2010 von der DOG archäologisch erforscht. Ein langer Zeitraum, der viele Erinnerungen an Menschen, Dinge und Ereignisse birgt; die mit Lutz Martin verbundenen gehören zu den lebendigsten. Sein Engagement, sei es für Tell Halaf im geliebten Syrien oder in den Museen und Werkstätten Berlins, imponiert. Er gehört zu den leisen, immer freundlich-hilfsbereiten Kollegen mit Bodenhaftung, deren uneitler wissenschaftlicher Erkenntnisdrang Vorbild ist. Die kleine forschungsgeschichtliche Studie zur Verortung von Bersiba ist mein Gruß und Dank. Für Gertrude Bell war Tall Munbāqa am Ostufer des Euphrats eine außergewöhnliche Ruine. Schwankend zwischen Überzeugung und Vermutung meinte die Forscherin, BERSIBA entdeckt zu haben. Als sie am 24. Februar 1909 von Tall Munbāqa zur Weiterreise aufbrach, notierte sie im Tagebuch: “We left Bersiba at 7.40 and rode along the river bank. At 8 we reached Tell Sheikh Hassan.” Im ein Jahr später publizierten Reisebericht drückte sie sich vorsichtiger aus: “Munbaya, where my tents were pitched – the Arabic name means only an elevated spot – has been conjectured to be the Bersiba of Ptolemy’s catalogue of place-names.”1 Ein Hinweis darauf, wer diese Vermutung, “Munbaya” sei “Bersiba of Ptolemy’s catalogue”, aussprach oder wo sie, mit Ausnahme der bloßen Eintragung dieses Ortsnamens in Kieperts Karte D5. Halep, etwas über diese Zuordnung gelesen haben könnte, fand sich selbstverständlich nicht. Tall Munbāqa war unbekannt. Die Forscherin Gertrude Bell allein war diejenige, die erstmals annahm, dass die von ihr besuchte Ruine mit dem Ort BERSIBA übereinstimmen könnte. Den hatte Richard Kiepert, ohne eigene Ortskenntnisse und auch ohne die anderer Reisender, in Karten vermerkt, aber immer mit Fragezeichen. Gertrude Bells Rezeption der KiepertKarten zeigt, welche Überzeugungskraft Kartenbilder und ihre Eintragungen hatten. Schon im Brief vom 21. März 1905 schrieb sie begeistert: “My maps are the greatest joy.” Im 19. Jahrhundert war die Lokalisierung der Ptolemaios-Orte eine zentrale Forschungsfrage der Geographie. Sie blieb es als ein Spezialgebiet bis heute. Die publizierten Überlegungen, Argumentationen und Spekulationen zur Verortung der von Ptolemaios im Handbuch der Geographie gelisteten Namen sind kaum überschaubar. Unanzweifelbare Gewissheit kann in aller Regel nur über einen bestätigenden archäologischen Befund gewonnen werden. So ist es auch betreffend die Lage des antiken Ortes BERSIBA, dessen Name in Ptolemaios’ Geographie, 5. Buch, 18. Kapitel, überliefert wurde.

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Bell 1910: 517. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Carl Ritter diskutierte 1843 unter Zuhilfenahme aller zugänglichen Informationen, unter anderem Rauwolff 1583, die Lage der Ptolemaios-Orte. Chesneys ihm zugängliche Vermessung am Euphratlaufe bedeutete einen großen Fortschritt und ließ ihn im Kapitel: „II. Die 9 anderen historisch bekannt gewordenen Uebergänge über diesen Theil des mittlern Euphratlaufes formulieren: Der berüchtigte Euphratlauf ist uns aber hier der sichre Faden, an dem wir uns glücklich durch das Labyrinth der Verwirrung hindurch finden lernen.“2 Mit Bezug auf „die Lage des modernen Castells und Minarets Balis (Ptolemäus Ortsreihe ... auf dem Westufer des Euphrat)“ ist dort zur Lage von BERSIBA im Abschnitt Ptolemäus Ortsreihe am Ostufer des Euphrat unter fünfter Position zu lesen: „5) Bersima oder Birsima, jenem [dem Ort Meskene = Emar = Balis, Anmerkung des Autors] gegenüber auf der linken Uferseite des Euphrat bei Ptolm. unter 72 20’ Long. 35 36’ Lat.“3 1927 bezieht sich der Orientalist René Dussaud auf Carl Ritters Aussage und macht einen weiteren Vorschlag: « On place géneralement avec Ritter, Bersiba à Tell Mourabyat un peu au nord de Balis. Nous proposerons d’identifier Bersiba avec Til-Barsip des documents assyriens. »4 Diese Herleitung des Ortsnamens BERSIBA vom alten Namen Til-Barsip des Tall Aḥmar überzeugte. Tall Aḥmar liegt am linken Euphratufer, in ca. 85 Kilometer Luftlinienentfernung nördlich von Meskene/Balis und ca. 54 Kilometer nördlich von Tall Munbāqa. Allerdings ist die Lokalisierung von BERSIBA bei Tall Aḥmar bisher nicht archäologisch bestätigt. Dass Tall Aḥmar in Überlieferung von dessen altem Namen den Ort BERSIBA repräsentiert, verfestigte sich in Wissenschaftskreisen auch ohne den absichernden archäologischen Nachweis.5 Ein Grabungsbefund fehlt dazu. Archäologisch ist die Frage, wo genau Bersiba lag und welche Ruine diesen Ort heute repräsentiert, noch nicht beantwortet. Die auf Tall Munbāqa, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sowie in der ferneren Umgebung – zum Beispiel (nördlich) ‘Anab al-Safinah6, Tell el-‘Abd oder auch Tall al-Qitar7 und (südlich) beim nahen Tell Sheikh Hassan8 – beobachteten Relikte, insbesondere Grabanlagen, sowie Ergebnisse der 1977 und 1979 nördlich und süd-

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Ritter 1843: 1000. Ritter 1843: 1001. 4 Dussaud 1927: 462. 5 Thureau-Dangin / Dunand folgen 1936 vorsichtig Dussauds These: « Après l’ère chrétienne l’ancien nom de Barsib semble survivre sous la forme Bersiba que Dussaud a relevée dans les listes de Ptolémée … » (Thureau-Dangin / Dunand 1936: 7). L. Dillemann identifiziert ohne weitere Quellenangaben oder Argumentation Til-Barsib mit Bersiba: « ...On notera encore que Ptolémée a placé Bersiba, qui est Til Barsib, sur le parallèle 350 50 …» (Dillemann 1962: 183). Dagegen markieren Stückelberger / Graßhoff 2006: Band 2, 580ff. u. 857ff. Bersiba in ihrer Neuausgabe der Geographie des Ptolemaios in der rekonstruierten und umgezeichneten Karte Asien, 4. Karte: Zypern, Syrien, Palästina bzw. Judäa, Arabia Petraea, Mesopotamien, Arabia Deserta, Babylonien (dicht?) südlich von Munbāqa, weisen aber auf eine mögliche falsche Lokalisierung durch Ptolemaios hin. 6 Bounni 1977; Bounni 1980. 7 McClellan 1997. 8 Boese 1995: 159; Roumi 1975. 3

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lich von Tall Aḥmar durchgeführten Surveys 9 und die Beobachtungen, die 1968 bei der Vorexpedition zur Auswahl eines DOG-Grabungsortes gemacht wurden10, bestätigen, dass in römisch-byzantinischer Zeit umfangreichere Besiedlungen dieser Gegenden am oberen Euphrat existierten – welcher Art und Intensität sie auch immer waren. Die Beobachtungen Gertrude Bells, die sie in Tagebüchern und Briefen vom 17. bis 24. Februar 1909 festhielt, vor allem aber auch die Beobachtungen, die Max von Oppenheim schon 1899 machte und publizierte,11 stützen das Bild von in römisch-byzantinischer Zeit entlang des linken Euphratufers aufgereihten Siedlungen. Gertrude Bell glaubte (auch) nicht, dass das Ostufer des Euphrats immer dünn besiedelt war und schrieb: “… it is probably that there was once a continuous belt of villages by the stream, their sites being still marked by mounds.”12 Siedlungskonzentrationen haben einen Grund. Bei Tall Aḥmar, auch bei Meskene / Balis, war es der tradierte Euphrat-Übergang, nachgewiesen schon für älteste Fernhandelswege. Für den Flussabschnitt bei Tall Munbāqa-Ekalte wird davon ausgegangen, dass es in der Bronzezeit dort günstige Übergänge gab, die regional bedeutsam waren. Die Frage kam auf, ob BERSIBA als eine Art Oberbegriff der Name für mehrere Orte einer Gegend war. Rezent ist solches nicht unbekannt.13 Oder galt der Name nur einem der heutigen Ruinenorte, wo sich zeitlich entsprechende materielle Hinterlassenschaften finden lassen sollten? Diese Frage ist noch unbeantwortet. Aber die Frage danach, in welchem Gebiet Reste von BERSIBA, wenn sie erhalten geblieben sind, zu finden wären – doch bei Tell Mourabyat oder bei Tall Munbāqa oder, wie die Herleitung des Ortsnamens verspricht, bei Tall Aḥmar – ist eindeutig beantwortet. Der Berliner Geodät Dieter Lelgemann, der mit seinem Team seit Jahrzehnten zur Transformation der geographischen Lagedaten des Ptolemaios in heutige Koordinaten forschte, entwickelte für dessen bisher als unentschlüsselbar geltende Maßangaben einen Algorithmus auf rein mathematischer Basis, erfolgreich überprüft anhand der Orte in Germania. Einer geplanten Forschung und Publikation zu den Koordinaten der Orte, die Ptolemaios für Mesopotamien nennt, dankenswerter Weise vorgezogen, hat er die für BERSIBA angegebene Längen- und Breitengrade transformiert. Die Abweichgenauigkeit der errechneten Koordinaten beträgt je Minute ca. 1,5 Kilometer in Ost-West- und ca. 1,8 Kilometer in Nord-Süd-Richtung. Dieter Lelgemanns nach Ptolemaios berechnete Angaben für Bersiba, 38o 08’ Ost und 36o 41’ Nord, weisen mit einer Abweichung von je 3’, so seine Aussage, eindeutig in den Raum bei Tall Aḥmar.14

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Sanlaville 1985: 113, 171 u. 178 (Kartierung der Fundorte). Heinrich et al. 1969: 32‒35. 11 Oppenheim 1901: 81‒83. 12 Bell 1911: 47. 13 Z. B. war bei Tall Munbāqa mit dem Namen Šams ad-Dīn nicht nur der eine Ort nördlich des Ğabal Sheikh Sin gemeint. 14 Handschriftliche dreiseitig-tabellarische Auflistung vom 16.7.2016: V.18 Mesopotamien, Städte am Euphrat mit den transformierten Koordinaten der von Ptolemaios am Euphrat aufgeführten Ortsnamen. (MBQ-Archiv). Dieter Lelgemann (1939‒2017), emeritierter Professor 10

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Die historischen Euphrat-Siedlungsgebiete bei und um Tall Aḥmar gingen im Jahr 2000 im Stausee hinter dem Tishrin-Damm unter. Nur noch der eigentliche Tall ragt aus dem Wasser, nach Wikipedia bei 38.12095o Ost und 36.67443o Nord. Der archäologische Befund auf Tall Munbāqa zeigt es nun auch: Es fanden sich keine Belege dafür, dass der Ort BERSIBA auf oder bei dieser Stadtruine gelegen haben könnte.15 Demnach war BERSIBA der Name einer Siedlung unbekannter Größe und Ausdehnung, die im 2. Jahrhundert n. Chr. bei Tall Aḥmar, in einem Suchraum mit ca. 10 Kilometer Ausdehnung lag. Für die hellenistisch-römische Epoche ergibt der archäologische Befund dort verstreute Anlagen, eher Dörfer als Städte. Guy Bunnens fasste zusammen: “The Hellenistic and Roman periods are represented by scattered remains, in which we can see an indication that, although Ptolemy (in the 2nd century CE) still knew of a place called Bersiba in the region, Tell Ahmar was a village again.”16 Aber, ob sich für die Menschen zu Ptolemaios Zeiten mit BERSIBA vor allem eine oder mehrere zeitgenössische Siedlung(en) / (Ortschaft(en), gar eine räumlich klar definierte Stadt und/oder eine andere Auffälligkeit im Raum verband, beispielswiese der markante Tall Aḥmar, bleibt offen. Dass die Euphratüberquerung bei Tall Aḥmar auch im 2. Jahrhundert n. Chr. wichtig war, dürfte unbestritten sein. Immobile Ansiedlungen mit einem Ortsnamen sind dort plausibel. Sonst hätte Ptolemaios den Namen BERSIBA wohl nicht festgehalten.

Bibliografie Bell 1910 Gertrude Lowthian Bell, The East Bank of the Euphrates from Tel Ahmar to Hit, in: The Geographical Journal XXXVI, No. 5, November, 513‒537. Bell 1911 Gertrude Lowthian Bell, Amurath to Amurath, London. Online: http://archive.org/details/amurathtoamurath00bell [Zugriff am 21.07.2019].

für Astronomische und Physikalische Geodäsie an der TU Berlin, stand kurz vor Beginn der Arbeit zu Ortsnamen im Alten Orient. Er starb zu früh. 15 Karras (in Vorber.) fasst zusammen: „Aufgrund der langjährigen Grabungen konnte eindeutig festgestellt werden, dass diese bronzezeitliche Stadtruine nie römisch besiedelt gewesen ist. Der heute wie auch in der Antike weithin sichtbare Ruinenhügel ist nur als Nekropole genutzt worden, wobei es weiterhin Spekulation bleiben muss, wo die zugehörige Siedlung, bzw. Militärstation, lag. Gertrude Bell ist bei ihrem Besuch auf Tall Munbaqa davon ausgegangen, dass die architektonischen Reste, die an der Oberfläche zu sehen waren, (u. a.) aus klassischer antiker Zeit stammen (die Reste der Tumuli erkannte sie nicht als solche). Dass es nicht so ist, konnte erst durch Grabungen erwiesen werden. Weder Ptolemaios, noch alle anderen antiken Autoren, auf die Ptolemaios sich in seinem geographischen Werk gestützt hat, hatten einen Grund, einen Friedhof mit Namen zu benennen und ihn in ihren jeweiligen Abhandlungen zu erwähnen.“ 16 Bunnens 2016: 242. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Boese 1995 Johannes Boese, Ausgrabungen in Tell Sheikh Hassan I. Vorläufige Berichte über die Grabungskampagnen 1984‒1990 und 1992‒1994. Schriften zur Vorderasiatischen Archäologie 5, Saarbrücken. Bounni 1977 Adnan Bounni, Preliminary Report on the Archeological Excavations at Tell al-͑Abd and ͑Anab as-Safinah (Euphrates) 1971‒72, in: Annual of the American Schools of Oriental Research 44, 49–61. Bounni 1980 Adnan Bounni, Les tombes à tumuli du Moyen Euphrate, in: Jean Claude Margueron (Hrsg.), Le Moyen Euphrate: Zone de contacts et d’échanges. Actes du Colloque de Strasbourg, 10‒12 mars 1977. Travaux du Centre de recherche sur le Proche-Orient et la Grèce antiques 5 Leiden, 315‒325. Bunnens 2016 Guy Bunnens, 56. Tell Ahmar/Till Barsib (Aleppo), in: Youssef Kanjou / Akira Tsuneki (Hrsg.), A History of Syria in One Hundred Sites, Oxford, 239‒242. Chesney 1850 Francis Rawdon Chesney, The Expedition for the Survey of the Rivers Euphrates and Tigris: Carried on by Order of the British Government in the Years 1835, 1836, and 1837; Volume the first, Volume the second, London. Dillemann 1962 Louis Dillemann, Haute Mésopotamie orientale et pays adjacents. Contribution à la géographie historique de la région du Ve S. avant l’ère chrétienne au VIe s. de cette ère. Institut Français d'Archéologie de Beyrouth, Bibliothèque Archéologique et Historique LXXII, Paris. Dussaud 1927 René Dussaud, Topographie historique de la Syrie antique et médiévale, Paris. Heinrich et al. 1969 Ernst Heinrich / Einar von Schuler / Hansjörg Schmid / Wido Ludwig / Eva Strommenger / Ursula Seidl, Bericht über die von der Deutschen Orient-Gesellschaft mit Mitteln der Stiftung Volkswagenwerk im Euphrattal bei Aleppo begonnenen archäologischen Untersuchungen, erstattet von Mitgliedern der Expedition, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 101, 27‒67. Karras (in Vorber.) Margret Karras, Die nachbronzezeitlichen Befunde, in: Ausgrabungen in Tall MunbāqaEkalte V, Einleitung zum Kapitel: Die römische Zeit, Wiesbaden. McClellan 1997 Thomas McClellan, Qitar, El-, in: Eric M. Meyers (Hrsg.), The Oxford Encyclopedia of Archaeology in the Near East, Volume 4, New York / Oxford, 389.

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Oppenheim 1901 Max Freiherr von Oppenheim, Bericht über eine im Jahr 1899 ausgeführte Forschungsreise in der Asiatischen Türkei, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin XXXVI, 69‒99 Online: http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=PPN391365657_1901_0036%7CL OG _0044 [Zugriff am 21.07.2019]. Rauwolff 1583 Leonhart Rauwolff (Leonharti Rauwolfen/der Arßney Doctorn/und bestelten Medici zů Augspurg), Aigentliche Beschreibung der Raiß inn die Morgenländer. Reprint, in: Frühe Reisen und Seefahrten in Originalberichten Band 9, 1971, Graz. Online: https://reader. digitalesammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10901685_00005.html [Zugriff am 21.07. 2019]. Ritter 1843 Carl Ritter, Die Erdkunde im Verhältniß zur Natur und zur Geschichte des Menschen oder allgemeine vergleichende Geographie, als sichere Grundlage des Studiums und Unterrichts in physikalischen und historischen Wissenschaften. Zehnter Theil. Drittes Buch. West-Asien. Zweite stark vermehrte und umgearbeitete Ausgabe, Berlin = Die Erdkunde von Asien, Band VII. Erste Abtheilung. Das Stufenland des Euphrat- und Tigrissystems. Berlin. Online: https:// archive.org/stream/dieerdkundeimver10ritt#page/n7/mode/2up [Zugriff am 21.07.2019]. Roumi 1975 Muhammad Roumi, L’église du Tell d’as-Sayh Hassan (notes préliminaires), in: Bulletin d’études orientalis 28, 227‒230. Stückelberger / Graßhoff 2006 Alfred Stückelberger / Gerd Graßhoff (Hrsg.), Klaudios Ptolemaios. Handbuch der Geographie, Griechisch-Deutsch, 2 Bände, Basel. Thureau-Dangin / Dunand 1936 François Thureau-Dangin / Maurice Dunand, Til-Barsib. Texte. Bibliothèque Archéologique et Historique XXIII, Paris.

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“This is as strange as everything else here” 1 Nachgrabungen im Augentempel und den Hochterrassen von Tall Brak Dietrich Sürenhagen / Heidelberg Der im Titel zitierte Satz von David Oates fasst unübertrefflich zusammen, was archäologische Feldforschung an ungeahnten Überraschungen bereit halten kann: Das Betreten von Neuland gerade dort, wo man es nicht erwartet; manchmal aber auch gefolgt von der Aufgabe für sicher gehaltener (Lehr)meinungen und der Einsicht in die Zeitgebundenheit der eigenen Perspektive. Deshalb spielen Zufälle und auch Glück im Leben eines Feldarchäologen eine größere Rolle als gemeinhin angenommen. So im Jahre 2006, als sich Lutz Martin, dem Empfänger dieser Festschrift, die unverhoffte Gelegenheit bot, die Arbeiten in einer längst zum Mythos gewordenen Stadtruine des Nahen Ostens, dem Tall Halaf, als Nachfolger des legendären Max Freiherr von Oppenheim nach fast 80 Jahren wieder aufzunehmen. Er wird daher die Freude des Verfassers besonders gut verstehen, als dieser aufgrund einer eher unerwarteten Einladung von David und Joan Oates, den Ausgräbern von Tall Brak, zwischen 1986 und 1995 einen Beitrag zur Wiederauffindung und partiellen Freilegung eines bereits kurz vor dem 2. Weltkrieg zu Berühmtheit gelangten Baudenkmals leisten durfte2. Dies ist der auf einer Abfolge von Terrassen gründende (principal) ‘Eye-Temple’ (nachfolgend als Augentempel bezeichnet) am Südrand der Stadtruine, dessen Entdeckung und Ausgrabung vor gut 80 Jahren untrennbar mit den Namen von Sir Max Mallowan und seiner Ehefrau Agatha Christie verbunden bleiben wird. Der folgende Beitrag, in dem die Hauptergebnisse meiner Nachuntersuchungen im Bereich des Augentempels von Tall Brak erstmals vorgelegt werden, sei daher Lutz Martin in alter Verbundenheit gewidmet.

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David Oates während der Arbeiten im Augentempel. Die Feldarbeiten von insgesamt zehn Wochen Dauer fanden mit z. T. mehrjährigen Unterbrechungen statt. – Der Überblick über die erzielten Ergebnisse in den Abschnitten 2 und 3 soll die detaillierten Angaben in der seit vielen Jahren in Aussicht gestellten Endpublikation (Excavations at Tell Brak: Uruk & 'Ubaid Periods; zuletzt für Ende Februar 2019 angekündigt) selbstverständlich nicht ersetzen. Andererseits scheint es nach fast einem Vierteljahrhundert nicht unbedingt voreilig, erstmals etwas von dem neuen Bild zu vermitteln, welches damals bei der Erforschung dieses außergewöhnlichen Baudenkmals gewonnen werden konnte. Bei alledem ist nicht zu verkennen, dass die Arbeiten im Bereich des Augentempels und seiner Vorgänger immer noch am Anfang stehen. Es ist mir deshalb umso wichtiger, den weiter unten (in Anm. 24) zitierten Wunsch seines Entdeckers erneut an eine jüngere Forschergeneration weiterzugeben. 2

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1. Mallowans Ausgrabungen im Augentempel und den Hochterrassen (1937‒1938)

Abb. 1

Oben: Grundriss des Naramsin-Palastes mit Lageeintrag des Augentempels (nach Mallowan 1947: Taf. LIX) – Unten: Grundriss des Augentempels und Schnitt durch die Hochterrassen (nach Mallowan 1947: Taf. LVII). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Zum hohen Bekanntheitsgrad des Augentempels (Abb. 1) haben nicht nur die Aufsehen erregenden Funde beigetragen, die in seinem Umfeld zutage gekommen waren, sondern auch die anschaulichen Berichte Mallowans – zunächst in mehreren Ausgaben der Illustrated London News, sodann in einer Zusammenfassung der Ergebnisse von 1947 und schließlich in den Lebenserinnerungen des Ausgräbers3 –, denn sie vermitteln ein so lebendiges und überzeugendes Bild von der Gestalt, Ausstattung und Geschichte des Gebäudes und seiner Vorgänger, dass die meisten dieser Ausführungen in der Fachwelt schon bald als communis opinio akzeptiert wurden. 1.1 Kulturgeographische und relativchronologische Perspektiven seit Mallowans Ausgrabungen Wie Mallowan sofort erkannte, handelt es sich um einen Kultbau vom Mittelsaalhaus-Typ mit charakteristischen Merkmalen der frühsumerischen Sakralarchitektur des späten 4. Jahrtausends v. Chr., die zur Zeit der Ausgrabung und bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ausschließlich in einigen urbanen Zentren des babylonischen Raumes – neben Ḫafaǧah und Tall ‘Uqair vor allem Uruk-Warka – zutage gekommen war. Der Augentempel wurde daher zunächst als isolierter und hunderte von Kilometern entfernter Außenposten einer im Süden beheimateten Kultur betrachtet. Zur relativchronologischen Einordnung des Befundes, zu dem außer dem Gebäude noch eine Abfolge von drei älteren Terrassen gehörte, verwendete Mallowan die in den 30er Jahren zur Gliederung der frühsumerischen Kultur entwickelten Termini ‘Uruk period’ und ‘Jamdat Nasr period’. Er wies die unterste, 6 m unter dem Augentempel gelegene Terrasse (‘Red Eye-Temple’ stratum) vorläufig einer nicht näher definierten Stufe der ‘Uruk-Period’ zu und schlug für das darüber liegende, ca. 0,6 m starke ‘Grey Eye-Temple’ stratum mit seinen überaus zahlreichen, als ‘eye idols’ und ‘spectacle-topped idols’ bezeichneten Amuletten eine Datierung in die ‘earlier Jamdat Nasr period’ vor. Die nächst jüngere, 4 m hohe Terrasse, das ‘White Eye-Temple’ stratum, blieb wegen Fundmangels ohne Datierung, während der darauf errichtete (principal) ‘Eye-Temple’ der ‘late Jamdat Nasr period’ zugewiesen wurde4. Ferner nahm Mallowan an, dass der ‘Eye-Temple’ nach seiner Zusetzung “served as a platform for a subsequent temple of the early dynastic period”5, von dem allerdings so gut wie nichts mehr erhalten war. Die kulturgeographischen und relativchronologischen Perspektiven änderten sich erst in den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, als durch zahlreiche Rettungsgrabungen in syrischen, türkischen und nordirakischen Stauseegebieten das zunehmend komplexere Bild eines außerbabylonischen Netzwerks frühsumerischer Siedlungen entstand. Heute steht fest, dass all diese Siedlungen – egal, ob es sich um Neugründungen oder assoziierte Niederlassungen handelt – während der Mittleren 3

Mallowan 1947: 31‒44. 50–63. 91‒132. 150‒160. 162‒165. 192‒212. 218‒219 mit Taf. I‒ XX. XXV‒XXVIII. XXX. XLIV‒LII. LVI‒LX. LXIV. – Mallowan 1977: 135‒140. 4 Mallowan 1947: 56. Zu den Höhenangaben vgl. Mallowan 1947: 35. 37. 50. Taf. 57 section A-A. – Mallowan 1977: 135‒136. 5 Mallowan 1947: 32. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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und zu Beginn der Späten Urukzeit, also noch vor Einführung der Schrift und der Produktion bemalter Keramik vom Ǧamdat Nasr-Typ, bestanden6. Sicher ist mittlerweile auch, dass die im ‘Grey Eye-Temple’ stratum gefundenen ‘eye idols’ und ‘spectacle-topped idols’ der Mittleren Urukzeit angehören7, und die dem Augentempel zugeschriebenen Wanddekorelemente – Ton- und Steinmosaikstifte, steinerne Einlegeplättchen, Steinrosetten, verzierte Terrakottaplatten und punzierte Kupferblechbänder8 – überwiegend Entsprechungen in babylonischen Fundorten der Späten Urukzeit finden9. Die von Mallowan für die ‘Eye-Temple’-Abfolge verwendeten Termini earlier / late Jemdet Nasr period sind damit hinfällig geworden. Mit dem Ende dieser Siedlungen brachen die Beziehungen Nordmesopotamiens zu Babylonien bis auf wenige Ausnahmen für längere Zeit ab. Zu diesen Ausnahmen zählt offenbar auch Tell Brak, wo 1992, allerdings nicht im Bereich des Augentempels, bemalte Scherben vom Ǧamdat Nasr-Typ und Frühdynastisch I-zeitliche Keramik der aus Babylonien bekannten Art zum Vorschein kamen10. Damit kann auch für den Bereich des Augentempels die Möglichkeit einer Kultkontinuität bis in die Frühdynastische Zeit oder, auf Nordostsyrien bezogen, die Frühe Bronzezeit in Betracht gezogen werden, wie dies bereits Mallowan tat. 1.2 Gestalt, Ausstattung und Geschichte des Augentempels in Mallowans Berichten Der Augentempel und Ausschnitte der unter ihm befindlichen Terrassen (Abb. 1, unten) wurden bei der Freilegung des monumentalen Naramsin-Palastes in dessen Südwesttrakt entdeckt (Abb. 1, oben)11 und der Kultbau anschließend, wie der Ausgräber wiederholt betont, vollständig freigelegt12. Mallowans Berichten und Plänen zufolge bestand der Kern der Anlage aus einem Kultbau mit einem Mittelsaal von 18 m Länge und 6 m Breite und zwei flankierenden Reihen von schmäleren Nebenräumen, an den sich an der Ostseite ein Nebentrakt mit zwei Höfen und vermutlich sechs Kammern anschloss. Beide Gebäudeteile gründeten auf einer Lehmziegelterrasse und waren exakt nord-südlich ausgerichtet13. Die Gesamtmaße des Gebäudes betrugen zwischen ca. 24 und 26,5 m in nordsüdlicher und ca. 25 und 28,5 m in ostwestlicher Richtung, je nachdem, ob man die NE-buttresses vor der NO-Ecke des Gebäudes dazurechnet oder nicht. Die östliche Außenkante und das Ostende der südlichen Außenmauer waren nicht erhalten, die mit Steinen verkleideten Außenfassaden, soweit erhalten oder ergänzt, durch Vor- und Rücksprünge gegliedert. Die 6

Vgl. die neueren Zusammenfassungen in Oates 2013 und Sürenhagen 2013. Oates 2013: 52. 8 Mallowan 1947: 32. 59‒50. 95ff. 162ff. – Mallowan 1977: 135ff. 9 Vgl. etwa die identischen Rosettenblätter aus Uruk-Warka (Heinrich 1936: 43‒44. Taf. 32 a‒c, f. – Heinz 2000: 111, Nr. 1389. Taf. 73) und Tall Brak (Mallowan 1947: 162. Taf. XXX, 1). Eine Zusammenstellung solcher Funde fehlt bisher. 10 Oates / Oates 1993: 170. 178ff. (Keramik aus Area TW, phases 11-2). 11 Mallowan 1947: 50. Taf. LIX. 12 Mallowan 1947: 38. – Mallowan 1977: 135. 13 Mallowan 1947: 57. Taf. LVII. – Mallowan 1977: 136. 7

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nördliche Außenmauer des Gebäudes stand noch bis zu 3 m hoch an, während die Mauerhöhen im mittleren Bereich auf 2 m zurück gingen und bis zur Südkante auf ca. 1,3 m fielen14. In der Nordmauer wurden zwei Türen beiderseits der Mittelachse des Mittelsaales vermutet; ein sicherer Nachweis konnte jedoch nicht erbracht werden15. Als Baumaterial werden blaue, mit Häcksel gemagerte Lehmziegel angegeben, die Wände waren mit Lehm verputzt und geweißt, und die Fußböden bestanden aus Stampflehm über Lehmziegeln, der mit Asphalt und Schilfmatten bedeckt und ebenfalls geweißt war16. Im Zusetzungsmaterial der Räume und im Schutt außerhalb des Gebäudes fanden sich Teile von Wanddekor, die dem Gebäude zugeschrieben wurden; siehe bereits oben, 1.1., mit Anm. 8. 9. Nach seiner Auflassung wurde das Gebäude mit sehr harten Lehmziegeln zugesetzt, so dass ein Mastaba-artiger Sockel von mindestens 3,5 m Höhe entstand. Auf seinem Südteil entstand in einer Höhe von nur 1,5 bis 2,0 m über dem Fußbodenniveau des alten Tempels ein neues Gebäude, von dem sich allerdings kaum etwas erhalten hatte. Die Oberfläche des Sockels wies damit offenbar Höhenunterschiede auf, auf die Mallowan jedoch nicht weiter einging. Die Datierung des Neubaus in die erste Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. (Early Dynastic) wurde u. a. wegen einer am Südende der buttresses im Schutt gefundenen Gründungskapsel aus Alabaster, obwohl nicht näher datierbar, und wegen einer Pflasterung aus angeblich quadratischen, plankonvexen Ziegeln erwogen17 1.3 Bauliche Besonderheiten des Augentempels Der publizierte Grundriss des Augentempels weist einige Besonderheiten auf, die der von symmetrischer Bauplanung und Normmaßen geprägten frühsumerischen Sakralarchitektur fremd sind. 1.3.1. Dies sind zum einen die wechselnden Mauerstärken im Gebäudeinneren und die unterschiedlichen Raumbreiten der westlichen Nebenräume 1 bis 3. Asymmetrisch sind auch die sehr schmalen, östlich an den Mittelsaal angrenzenden Nebenkammern 6‒10 mit einem Raumbreitenverhältnis zum Mittelsaal und den westlichen Nebenräumen, welches (von Ost nach West) im Mittel 0,3 : 1,6 : 1,0 beträgt, während fast alle übrigen frühsumerischen Kultbauten vom Mittelsaalhaus-Typ ein streng symmetrisches Raumbreitenverhältnis von 1,0 : ≥2,0 : 1,0 aufweisen. Geringfügige, möglicherweise bautechnisch bedingte Unregelmäßigkeiten finden sich nur im Steinstifttempel in Uruk-Warka, dem Westtempel in Habuba Kabira-Süd / Tall Qannas und im Sin-Tempel I in Ḫafaǧah. Von dieser Symmetrieregel weicht allein der Sin-Tempel IV mit einem Raumbreitenverhältnis von 0,44 : 2,0 : 1,0 deutlich ab18.

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Mallowan 147: Taf. LVII section A-A. Mallowan 1947: 58. 16 Mallowan 1947: 55‒56. 59 – Mallowan 1977: 136. 17 Mallowan 1947: 31‒32. 54‒55. 195‒196. Mallowan 1977: 135‒136. 18 Heinrich 1982: Abb. 104. 129. 148. 149. 15

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Auf einen weiteren Fall hatte bereits Max Mallowan hingewiesen19. Es handelt sich um den als Anbau bezeichneten Osttrakt des Gebäudes mit zwei Höfen (11, 12) und den schmalen Kammern 13‒18, zu dem nach wie vor keine Entsprechungen in der Sakralarchitektur anderer frühsumerischer Fundorte existieren. 1.3.2. Zu den besonderen Merkmalen des Mittelsaales zählen neben einem aus Miniatur-Riemchen erbauten, weiß verputzten und reich dekorierten Postament (altar) vor der Südwand20 die offenen Seitenflügel (alae) ca. 5 m nördlich der Südmauer und des Altars. Innerhalb der Gruppe frühsumerischer Kultbauten vom Mittelsaalhaus-Typ gehören alae zu den Ausnahmen, denn sie sind außerhalb von Tall Brak insgesamt nur dreimal und ausschließlich in Uruk-Warka bezeugt (Kalksteintempel der Schicht V, Tempel G der Schicht IVc und Tempel C der Schicht IVa)21. Die Zahl der mit alae ausgestatteten Wohnhäuser aus frühsumerischer Zeit ist ebenfalls gering22. Allerdings unterscheiden sich die alae des Augentempels von denen der vorgenannten Kultbauten und Wohnhäuser dadurch, dass sie nicht in einer Flucht mit der Südwand des Mittelsaales lagen, sondern sich erst in größerem Abstand hierzu öffnen. Außerdem schloss sich an die Südmauer, anders als in den drei Beispielen aus Uruk-Warka, weder ein Kopfraum noch ein zwei- oder dreischiffiger Kopfbau an. Der Mittelsaal selbst erhielt durch die Lage der alae statt des auch in Wohnhäusern festgestellten T-förmigen Grundrisses ungewöhnlicher Weise einen kreuzförmigen Grundriss, der in der frühsumerischen Architektur keine Entsprechungen findet. 1.3.3. Bislang einzigartig sind das beschriebene Baumaterial und die Bautechnik der westlichen und nördlichen Außenmauer mit genischter Außenfassade. Text, Pläne, Profile und ein Foto23 beschreiben und zeigen bis zu 2 m hohe Fassaden mit regelmäßigen Vorsprüngen (buttresses) und Nischenspiegeln aus geschichteten, grob behauenen Basalt- und Kalksteinen auf einer 0,8 m hohen Plinthe aus gleichem Material. Nach Fertigstellung wurden die Fassaden mit Lehm verputzt. In gleicher Weise soll auch die Fassade der östlichen Außenmauer gegliedert und verschalt worden sein, obwohl von ihr allem Anschein nach nichts erhalten blieb. Im Bereich der südlichen Außenmauer, deren Außenfassade ebenfalls nicht erhalten ist, wurden dagegen keine Anzeichen für die Verwendung solcher Steine gefunden. Vergleicht man die westliche mit der nördlichen Außenmauer, so fällt auf, dass erstere hauptsächlich aus den bis zu 1 m starken Steinsetzungen bestand, gegen die sich an der Innenseite nur 0,4 bis 1 m starkes Lehmziegelmauerwerk legte. Hauptbestandteil der Nordmauer war dagegen eine 2 m breite und außen zusätzlich mit Steinen verkleidete Lehmziegelmauer. Ihre tragenden Teile waren demnach auch ohne die Steinverschalung bereits fast doppelt so stark wie die rückseitig nur schwach mit Lehmziegeln abgestützten Steinsetzungen der Westmauer.

19

Mallowan 1947: 60 – Mallowan 1977: 137. Mallowan 1947: 32. 55. 60. 93‒94. 97. 195 – Mallowan 1977: 136 ff. 21 Heinrich 1982: Abb. 114. 116. 120. 22 Nur zwei Häuser in Habuba Kabira-Süd (Strommenger et al. 2014: Beilage 1: 31. 42) und ein Haus in Djebel Aruda (van Driel / van Driel-Murray, 1983: 24 Map 1: Südteil, Westseite). 23 Mallowan 1947: 57. 59. Taf. LVII. LIX. XLVIII, 5. 20

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2. Nachgrabungen im Augentempel (1986‒1995) Mallowan war sich der Tatsache wohlbewusst, dass seine Grabungsergebnisse wegen ihrer außerordentlichen kulturgeschichtlichen Bedeutung irgendwann eine Fortsetzung der Untersuchungen erfordern würden24. Dennoch vergingen fast 50 Jahre, bis es im Bereich des Augentempels und der älteren Terrassen (siehe 3.) erneut zu Ausgrabungen kam. 2.1 Die Wiederentdeckung des Augentempels in Area ET Für die Wiederaufnahme der Arbeiten waren zunächst eine sichere Lokalisierung und Identifizierung des Augentempels erforderlich, da sich von ihm keine oberirdisch sichtbaren Spuren erhalten hatten. Detaillierte topografische Pläne, die eine erneute Einmessung erlaubt hätten, existierten nicht, und so blieben nur der Plan des Naramsin-Palastes mit dem Lageeintrag des älteren Kultbaus (Abb. 1, oben) und ein Luftfoto25 als Orientierungshilfe. Dies führte bereits 1985 zur Identifizierung der älteren Terrassen; die Suche nach dem Augentempel blieb jedoch zunächst ergebnislos. 1986 wurde dann vom Verfasser dieses Beitrages ein erneuter Versuch unternommen.

Abb. 2

Area ET. Das Grabungsgebiet von Norden (Aufnahme des Verfassers).

Als Untersuchungsgebiet kam nach Auswertung des Luftfotos nur eine ca. 30 m x 30 m große Senke in Frage, die im Norden, Westen und Osten von Mauern des Naramsin-Palastes und im Süden von einer wallartigen Schutthalde der alten Grabung begrenzt wird. Im Inneren der Senke fällt das leicht wellige Gelände um ca. 2 m nach Süden ab (Abb. 2)26. Der Nordwestbereich war durch eine flache, in 24

Daher sein Wunsch, “that one day someone will turn back to this wonderful spot and excavate the entire series, which would enable us to tie these northern temples within the great succession that has been found at Erech itself in the south.” Mallowan 1977: 136. 25 Mallowan 1947: Taf. XLIX, 1. 26 Die von Norden aufgenommene Abb. 2 zeigt das Gebiet bereits nach Beginn der neuen Ausgrabungen. Der Wall am rechten Bildrand enthält die Überreste der westlichen Außen© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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ostwestlicher Richtung verlaufende Rinne im Norden und durch eine stärker ausgeprägte, nordsüdlich verlaufende Rinne im Westen gekennzeichnet. Beides schien auf frühere Sondagen hinzudeuten, in denen sich wegen ihrer Lage noch Überreste der buttresses befinden könnten. Unmittelbar nördlich und nordöstlich der nördlichen Rinne befanden sich gut sichtbare Mauerreste des Naramsin-Palastes, bei deren östlichsten es sich zweifelsfrei um die Seitenmauern von Raum 29 handelte. Das Mauerwerk der westlich davon gelegenen Räume 30 und 31 war hingegen zunächst nicht eindeutig identifizierbar; vgl. Abb. 1, oben.

Abb. 3

Die nördlichen Steinsetzungen (buttresses) von Westen nach der Wiederfreilegung. Links Mauerwerk des Naramsin-Palastes, rechts Reste der jüngeren Überbauung der buttresses (Aufnahme des Verfassers).

Erste Nachgrabungen in der nördlichen Rinne erbrachten dann in kürzester Zeit, nur 0,5 m unter der heutigen Oberfläche, eine aus Vor- und Rücksprüngen bestehende Reihe großer, grob behauener Kalk- und Basaltsteine (Abb. 3), die im Norden un-

mauer des Naramsin-Palastes, während der nach Osten abwinkelnde Wall im Süden aus Abraum der Grabung 1937‒1938 besteht. Vorne rechts ist die Nordwestecke des Augentempels mit jüngeren Ausbesserungen zu erkennen; siehe unten, 2.5. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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mittelbar an die Fundamente der gemeinsamen Südmauer von Raum 30 und 31 des Naramsin-Palastes angrenzte und nach wenigen Metern nach Westen abfiel; vgl. auch Abb. 5: a. Ohne jeden Zweifel handelte es sich hier um einen Abschnitt der von Mallowan beschriebenen nördlichen buttresses, und damit war der Augentempel nach langer Zeit wieder sicher lokalisiert und erneut untersuchbar.

Abb. 4

Lage und Höhe von Area ET und Area TP innerhalb des NaramsinPalastes (nach Mallowan 1947: Taf. LIX, Konturplan der Brak Expedition [siehe Anm. 27] und Vorlagen des Verfassers).

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In der Folge wurden in 11 z. T. sehr kleinen Sondagen auf dem als Area ET bezeichneten Gelände und in drei Flächen des südlicher gelegenen Terrassenbereichs Area TP (Abb. 427. 5) Nachgrabungen durchgeführt, die nicht nur zur partiellen Wiederfreilegung des Augentempels und der Gründungsterrassen führten, sondern auch einige unerwartete neue Erkenntnisse mit sich brachten. 2.2 Sondierungen innerhalb des Augentempels

Abb. 5

Befunde aus den Nachgrabungen in Area ET (oben) und TP (unten). ‒ Area ET a: nördliche Steinsetzungen (buttresses) mit davor liegender Putzkante; b: westliche Steinsetzungen (buttresses) mit jüngeren Gruben; c: zugesetzte Mauer des ersten Vorgängerbaus in Terrasse 1; d: zugesetzte Mauer des zweiten Vorgängerbaus in Terrasse 2 (Vorlagen des Verfassers).

27

Der Höhenschichtenplan basiert auf dem jüngsten mir bekannten Geländeplan der Expedition, in dem Area TP bereits eingetragen ist; siehe www.tellbrak.mcdonald.com.ac.uk/home [Zugriff am 8.11.2018]. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Die Nachgrabungen in Area ET beschränkten sich aus zeitlichen Gründen auf den dreiteiligen Kultbau ohne den Osttrakt (Abb. 5, oben). Nachfolgend die wichtigsten Ergebnisse: 2.2.1. Eine vollständige Freilegung des Augentempels hat zu Mallowans Zeiten trotz gegenteiliger Angaben nicht stattgefunden. Stattdessen wurde eine noch nicht vollständig erfasste Zahl von annähernd ostwestlich und nordsüdlich verlaufenden, 1 bis 2 m breiten Suchgräben gitterförmig durch das Gelände gelegt, die einen Großteil der Räume unberührt ließ. Insgesamt wurden in den neuen Sondagen 8 dieser Suchgräben identifiziert, die mit Ausnahme des Bereichs um den Altar bereits in einer Höhe von bis zu 1 m über den alten Fußböden und auf den Steinsetzungen der buttresses endeten. Unabhängig davon treffen Mallowans Angaben zum Fußbodenmaterial des Augentempels – geweißter Lehmestrich auf asphaltierten Schilfmatten – weitestgehend zu, auch wenn sie sich vermutlich nur auf den Befund im Altarbereich stützen konnten. 2.2.2. In den neu untersuchten Flächen zwischen den alten Suchgräben kam in aller Regel Zusetzungsmaterial aus hartem rotgelben Stampflehm und Lehmbrocken zutage, welches noch hoch und ungestört anstand und an einigen Stellen die Mauerstümpfe des Augentempels überdeckte. Etwas anders verhielt es sich in einer im Norden noch hoch anstehenden, nach Süden abfallenden Fläche im Zwickel zwischen den alten Suchgräben mit den Überresten der buttresses und einer neuen Sondage im Osten. Dies ist das NW-Plateau, auf dessen Oberfläche neben Mauerresten des alten Kultbaus und rotgelbem Stampflehm auch andersartiges Ziegelmaterial in gleicher Höhe zutage kam, welches jünger sein musste als das des Augentempels, von Mallowan aber offensichtlich dem älteren Gebäude zugeschrieben wurde. Wie bei den Nachgrabungen deutlich wurde, handelt es sich hierbei um Ausbesserungsmaterial aus sehr viel späterer Zeit. Dies wurde offensichtlich nicht erkannt, was dazu führte, dass die drei Nebenräume im Nord- und Mittelabschnitt des Westflügels aus dem nur oberflächlich erfassten, meist jüngeren Mauerwerk rekonstruiert und zusätzlich mit den buttresses verbunden wurden; vgl. Abb. 1, unten. Was damals wohl nicht bemerkt wurde, ist, dass sich die Fluchten der buttresses von denen des jüngeren Mauerwerks auf der Plateau-Oberfläche wie auch der sicher erfassten Mauern des Augentempels in den weiter östlich gelegenen Bereichen deutlich unterscheiden (Abb. 5, oben). Auf diese Weise entstand ein Konstrukt aus Bauresten unterschiedlicher Zeitstellung, welches zu dem von Mallowan vorgelegten Grundriss führte. 2.2.3. In den Nachgrabungen gelang es dann doch, unmittelbar östlich des NWPlateaus drei westliche Seitenräume des alten Kultbaus in Teilen freizulegen und zu ergänzen, die allerdings in ihren Maßen erheblich von Mallowans Befund abweichen (Abb. 6). Ein weiteres wichtiges Ergebnis in diesem Bereich war, dass neben Teilen der Westmauer des Mittelsaales auch die Nordwand der westlichen ala erfasst wurde, die sich ziemlich genau an der von Mallowan angegebenen Stelle befand. Von der Südwand war hingegen nichts mehr vorhanden. Darüber hinaus kamen Ausschnitte der Nord- Ost- und Südmauer zutage, die den Grundriss des Mittelsaales vervollständigten. Hierbei ergab sich, dass die Längsachse des Raumes mit 358° fast genau nach Norden ausgerichtet ist, was sich mit Mallowans Angaben © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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zur Ausrichtung des Gebäudes deckt. Die östlichen Nebenräume des Mittelsaales und die Verbindungsmauer zum Osttrakt wurden ebenfalls sondiert, mit dem Ergebnis, dass im Nord- und Mittelabschnitt vermutlich nur zwei anstelle der von Mallowan angenommenen drei Nebenkammern existierten. Der Südabschnitt wurde nicht untersucht, so dass der Nachweis einer östlichen ala noch aussteht. Lage und Anzahl der Durchgänge zum Mittelsaal und Osttrakt sind ebenfalls noch ungeklärt. Sicher ist nur, dass der bei Mallowan angegebene Durchlass zwischen dem Mittelsaal und der nördlichsten Nebenkammer (Mallowans room 6) nicht existiert. Auch die Frage nach den postulierten Eingängen in der Nordmauer des Mittelsaales konnte bisher nicht geklärt werden, obwohl aus meiner Sicht manches für ihre Existenz spricht.

Abb. 6

Alter (grauer) und neuer (schraffierter) Grundriss des Augentempels (nach Mallowan 1947: Taf. LVII und Vorlage des Verfassers).

Sämtliche untersuchten Mauern sind in einer Technik erbaut, die m. W. in der frühsumerischen Sakralarchitektur bisher noch nicht beobachtet wurde. Hierzu wurden längliche rotbraune Lehmbrocken von mittlerem und großem Format hochkant verlegt und anschließend die Mauerwände mit einer dicken Putzschicht aus Lehm versehen und, wie bisher nur an einer Stelle nachweisbar, geweißt. Hierbei dürfte es sich um eine Variante der bis heute im Irak gebräuchlichen tauf-Bauweise, einer © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Stampflehmtechnik, handeln28. Das von Mallowan erwähnte Baumaterial aus dunkelblauen großformatigen Flachziegeln wurde nirgends festgestellt; vgl. auch Anm. 36. Von den eingangs schon erwähnten, zahlreichen Fragmenten von verschiedenartigem Wanddekor im Inneren und an der Außenseite des Augentempels, die Mallowan gefunden und dem Gebäude selbst zugeschrieben hatte, kam auch in den Nachgrabungen eine größere Anzahl zutage. Sie fanden sich ohne Ausnahme und in unterschiedlicher Höhe in der Stampflehmzusetzung der untersuchten Räume. Im Mittelsaal wurden noch in 2 m Höhe über dem Fußbodenniveau einzelne Blöcke von Steinstiftmosaiken gefunden, ähnlich den von Mallowan abgebildeten aus Terrakotta29. Dies sind zweifellos keine in situ-Funde. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Objekte zusammen mit dem rotgelben Stampflehm, der als Baumaterial in diesem Bereich sonst nicht nachweisbar ist, von anderer Stelle herbeigeschafft wurden. Hinzu kommt, dass bereits die großformatigen Flachziegel der Gründungsterrasse unter der SW-Ecke des Augentempels zahlreiche Einschlüsse der gleichen Art30 enthielten, und dass dies auch in zwei noch älteren Terrassen der Fall war (siehe 3.3). Bei dem gefundenen Baudekor handelt es sich damit zumindest nicht um ein exklusives Merkmal des Augentempels. 2.2.4. Völlig unerwartet erwies sich die von Mallowan eingetragene südliche Außenmauer mit dem gegen die Nordwand gebauten Altar als Bestandteil eines separaten Raumes südlich des Mittelsaales. Der Grund hierfür ist eine weitere, ca. 3 m weiter nördlich verlaufende Ost-West-Mauer, von der ein kurzer Abschnitt in weitgehend unberührtem Zustand freigelegt wurde. Sie war bereits stark erodiert und nur noch 1.1 m hoch erhalten, als sie zusammen mit den übrigen Teilen des Gebäudes mit rotgelbem Stampflehm zugesetzt wurde. Während der alten Grabungen war diese Mauer offensichtlich nicht erkannt worden. Der Altar und der ihn umgebende Raum, von dem bisher nur die Südmauer und zwei aufeinander folgende Estriche erfasst wurden, entstanden vermutlich zu einem Zeitpunkt, als der Augentempel seine Funktion bereits teilweise oder ganz verloren hatte. Der Altar ist gegenüber der Zentralachse des Mittelsaales um 0,6 m nach Osten versetzt und befand sich bei seiner Wiederfreilegung in einem beklagenswerten Zustand (Abb. 8). Zuvor existierte an dieser Stelle ein Kopfraum, der um mindestens eine Mauerbreite weiter nach Süden gereicht haben muss und zwei übereinander liegende Estriche aus Gips mit Asphaltanstrich besaß, die vor Errichtung des Altars bis zur Nordkante von dessen neuer Südmauer ausgeschlagen wurden. Die Südmauer selbst gründet auf den Resten dieses älteren Estrichs. Der Altar wurde auf einem neu verlegten, geweißten Lehmestrich erbaut, der später erneuert wurde. Sein Baumaterial besteht aus gelbrötlichen, in grauem Mörtel verlegten Miniatur-Riemchen mit den Maßen 14 x 4–5 x 4 cm, was Mallowans Angaben weitestgehend entspricht.

28

Hierzu ausführlicher Eichmann 2007: 192 mit Literatur. Mallowan 1947: Taf. VI, 3. 30 Kleine Mosaikstifte aus Terrakotta, Kupferblechfragmente, rechteckige Steineinlagen mit rückseitiger Durchbohrung und Asphaltstücke mit Mattenabdrücken. 29

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Seine Seitenflächen waren bis zu sechsmal verputzt und geweißt worden, was für eine längere Nutzung spricht.

Abb. 7

Ergänzter neuer Grundriss des Augentempels. Punktiert: jüngere Einbauten (Altar und Rückmauer) im nicht sicher rekonstruierbaren Kopfraum (hell) (Vorlage des Verfassers).

Abb. 8

Die Überreste des Altars 1993 (Aufnahme des Verfassers). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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2.2.5. Die wichtigsten Ergebnisse der Nachgrabungen im Augentempel sind zusammengefasst folgende (Abb. 6. 7): Der fast exakt nordsüdlich ausgerichtete Grundriss des Kultbaus entspricht dem klassischen Schema des frühsumerischen Mittelsaalhauses. Er besteht aus einem Mittelsaal mit drei Seitenräumen im Westen, zwei im Osten und einem Kopfraum im Süden, dessen Größe noch nicht geklärt werden konnte. Dieser enthielt als jüngere Einbauten eine Südmauer, den Altar vor deren Nordwand und zwei Estriche. Der Mittelsaal besaß an seinem Südende mit hoher Wahrscheinlichkeit zwei alae, von denen bisher nur die Nordwand der westlichen erfasst wurde. Zusammen mit der neu entdeckten Südmauer des Mittelsaales ergibt sich hieraus ein T-förmiger Grundriss wie in den drei oben genannten frühsumerischen Kultbauten aus Uruk-Warka und in einigen Wohnhäusern aus dieser Zeit; vgl. Anm. 21. 22. In situ-Befunde, die eine Wanddekoration in der von Mallowan beschriebenen Art bestätigen, liegen nicht vor. Dagegen bestätigte sich, dass Fußböden und Innenwände, wie von Mallowan angegeben, geweisst waren. Die Außenfassaden konnten bisher nicht ausreichend untersucht werden. Sicher ist nur, dass die von Mallowan angegebenen, mit Steinen verblendeten Vor- und Rücksprünge nicht Bestandteil des Augentempels waren, sondern einer jüngeren Zeit angehören; siehe unten, 2.5. Baumaterial, Mauerstärken und Raummaße stimmen mit Mallowans Angaben nur selten überein. Die Mauern sind in Stampflehmtechnik errichtet und, soweit erfasst, annähernd gleich stark. Die Länge des Mittelsaales beträgt wegen der neu entdeckten Südmauer statt der angegebenen 18 m nur noch gut 13 m. Die westlichen Nebenräume sind im Mittel 2,5 m, die östlichen 1,5 m breit. Daraus ergibt sich für die drei Raumzeilen ein Raumbreitenverhältnis von 1,0 : 2,4 : 0,6, welches seine nächsten Entsprechungen in Sin Tempel IV in Khafajah (0,44 : 2,0 : 1,0) findet; siehe auch oben, 1.3.1. 2.3 Auflassung, Verfall und Nachnutzung des Augentempels Für die Nutzungsdauer des Augentempels konnten keine sicheren Anhaltspunkte gewonnen werden. Darauf, dass sie recht lang gewesen sein könnte, deutet vielleicht die viermalige Erneuerung eines nur in Resten erhaltenen Estrichs an der Nordwand der westlichen ala des Mittelsaales. Die Auflassung des Gebäudes hatte keinen sofortigen Abriss mit anschließender Zusetzung zur Folge, sondern es setzte ein Verfallsprozess ein, der zu fortschreitender Erosion insbesondere der Mauern im Südteil führte. Auf eine längere Verfallszeit deuten auch stärkere feinlehmige Ablagerungen zwischen Fußboden und späterer rotlehmiger Zusetzung im Gebäudeinneren hin, die den Schluss nahe legen, dass der Kultbau lange Zeit ungenutzt und ohne Dach dastand, wodurch Wind und Regen ungehindert in das Innere gelangten. Aus bisher ungeklärten Gründen kam es in dieser Phase nochmals zu vereinzelten Aktivitäten innerhalb des Gebäudes, indem erst jetzt die prominenteste Installation, der Altar, gemeinsam mit seiner rückwärtigen Mauer und neuem Estrich erbaut und reich geschmückt wurde. Unabhängig davon, ob dies bereits im Zusammenhang mit der Auflassung des Augentempels geschah oder zu einem Zeitpunkt, als der © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Verfallsprozess der alten Mauern schon weiter fortgeschritten war, dürfte es sich am ehesten um einen einräumigen Einbau handeln, dessen übrige Mauern noch nicht identifiziert werden konnten. Eine erste Zusetzung des Altar-Raumes mit Ziegelbruch31 fand zu einem Zeitpunkt statt, als die Südmauer des Mittelsaales bereits bis auf eine Höhe von 1.1 m erodiert, und die jüngere Mauer südlich des Altars bis auf etwa die gleiche Höhe abgerissen worden war32. Erst danach wurde das gesamte Gebäude mit Stampflehm zugesetzt, von dem sich noch Reste auf dem Stumpf der Mittelsaalmauer fanden. Ebenfalls während der Verfallszeit wurde in einem der westlichen Seitenräume über dem Estrich ein niedriger Sockel aus Flachziegeln errichtet, dessen Funktion unklar bleibt. Im Mittelsaal und im Kopfraum kam es hingegen zur fast vollständigen Abtragung der Fußböden. Im letztgenannten Fall besteht ein direkter zeitlicher Zusammenhang mit der Errichtung des Altars und dessen rückwärtiger Mauer. 2.4 Zusetzung des Augentempels und jüngere Bauten auf der Mastaba Nachnutzung und Verfallszeit endeten damit, dass der Augentempel und seine nähere Umgebung mit sehr festem, rotgelbem Stampflehm (und nicht, wie von Mallowan angegeben, mit Lehmziegeln) zugesetzt wurden. Hierdurch entstand ein Mastabaartiger Sockel, der über die Grenzen des Gebäudes hinaus reichte und mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Süden abgestuft war. Der Sockel ist bis zu einer Höhe von 3,4 m über den Fußböden des Augentempels erhalten und überdeckt damit sämtliche Mauerreste des verfallenen Gebäudes um mindestens 0.5 m. Zwei oder drei Lehmputzschichten, die sich unmittelbar nördlich der Steinreihe am Ostende der buttresses von Norden her gegen das rotgelbe Zusetzungsmaterial legen (Abb. 5: a), sind der einzige Hinweis darauf, dass die Außenseiten der Mastaba mehrfach verputzt wurden. Es hat den Anschein, dass die Zusetzung später erneuert oder erweitert wurde, da sich an derselben Stelle hiergegen eine weitere Ummantelung aus dem gleichen Material legt, die sich dann unter den Fundamenten des NaramsinPalastes verliert.

31

Anders ist Mallowans Interpretation des von ihm nur auf den Altar bezogenen Befundes, die von Plünderungen ausgeht (“plunderers who ... smashed the roof and buried the pedestal under a pile of mud-brick debris”; Mallowan 1947: 93), wohl kaum zu bewerten. 32 Zum Zustand der Altar-Mauer vgl. das Foto in: Mallowan 1947: Taf. XLVIII, 4. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 9

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Rekonstruktionsvorschlag der Mastaba über dem Augentempel. Schwarz an der Nordseite: Lage und Höhe der erhaltenen Putzkante (Vorlage des Verfassers).

Der Rekonstruktionsvorschlag einer gestuften Mastaba (Abb. 9) berücksichtigt die Grundfläche des Augentempels einschließlich des nicht untersuchten Osttraktes und die südwestlich des Gebäudes in einer Sondage festgestellten Reste der Zusetzung. Weitere Anhaltspunkte sind die Orientierung der im Nordwesten festgestellten Putzkante (Abb. 5: a), die erhaltenen Mauerhöhen im Gebäude und Mallowans Höhenund Lageangaben zu den als early dynastic bezeichneten Pflasterresten über dem Südteil des Augentempels, östlich der Südwestecke der buttresses (siehe oben, 1.2). Danach könnte die Mastaba eine annähernd quadratische Grundfläche von ca. 28 m N-S x 27 m O-W bei einer Nordausrichtung von 345° besessen haben; geböschte Außenseiten sind denkbar33. Die in Abb. 9 mit 1,8 m bzw. 3,6 m34 angesetzten Höhen der beiden Sockelstufen sind zwar hypothetisch, kommen aber im Falle der unteren Stufe den von Mallowan angegebenen Höhen der „frühdynastischen“ Baureste sehr nahe, die in jedem Fall auf einem Niveau unterhalb der höchsten erhaltenen Mauerkronen des Augentempels lagen.

33

Vgl. die Abfolge der frühen Hochterrassen und ihrer Kultbauten auf der Anu-Ziqqurrat in Uruk-Warka bis zur Zusetzung des im Gegensatz zu seinen Vorgängern noch hoch anstehenden „Weißen Tempels“ (Zustand A1); Heinrich 1982: Abb. 78‒80. 83. 94; Eichmann 2007: 461ff., insbesondere 515ff. 34 Entsprechend vier bzw. acht Stampflehmlagen von 0,4 bis 0,5 m Stärke. Dies entspricht der Standardstärke im frühdynastischen „Stampflehmgebäude“ in Uruk-Warka; siehe Eichmann 2007: 192. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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2.5

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Ausbesserungen und Rampen (Mallowan’s buttresses) auf der Nordwestseite der Mastaba

Wie oben bereits erwähnt und in Abb. 5, oben, und Abb. 10 deutlich erkennbar, weichen die Fluchten der von Mallowan als buttresses bezeichneten Steinsetzungen am und außerhalb des Augentempels mit 351° deutlich von dessen fast exakter Nordausrichtung ab. Wäre dies bereits zur Zeit der alten Ausgrabungen erkannt worden, hätte die Untersuchung vielleicht einen anderen Verlauf genommen, und es wäre bereits damals erkannt worden, dass weder eine bauliche noch eine zeitliche Verbindung des Mauerwerks hinter den Steinsetzungen zu den Mauern des Augentempels besteht.

Abb. 10

Jüngere Lehmziegel-Verschalungen und -Zusetzungen (dunkelgrau) und Steinrampe (buttresses; hellgrau) an der Nordwestecke der Mastaba und des Augentempels (Vorlage des Verfassers).

Die Nachuntersuchungen ließen erkennen, dass die nordsüdlich verlaufende Steinsetzung zwar auf einheitlicher Höhe gründet, ihre Oberfläche aber wegen der zunehmenden Anzahl der darunter liegenden Steinlagen nach Norden ansteigt. Die © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Steigung setzt sich an der Nordseite bis zu einer Höhe von 2,4 m über dem Ausgangsniveau in östlicher Richtung fort. Am Ende, 3 m bevor sie abbricht, verläuft die hier nur noch einlagige Steinsetzung horizontal. Sie gründet in diesem Abschnitt direkt auf dem noch hoch anstehenden rotlehmigen Zusetzungsmaterial des Augentempels, während sie zuvor auf tiefer liegendem Mauerwerk errichtet worden war, welches aus Flachziegeln unterschiedlichen Formats, darunter auch quadratischen, bestand, die in rotem Mörtel verlegt waren. Dieses Mauerwerk legt sich an der Nordseite mit einer Breite von fast 3 m von Westen gegen die hier abbrechende Nordaußenmauer des Augentempels und schneidet zugleich die Lehmzusetzung des nördlichsten Nebenraumes. Es ist damit zu einem späteren Zeitpunkt als die Mastaba entstanden, vermutlich als diese bereits baufällig geworden war, und an ihrer nordwestlichen „Wetterseite“ Ausbesserungen durch eine neue Verschalung erforderlich wurden. Später wurde der obere Teil dieser Verschalung um bis zu 2 m zurückgenommen und so eine Basis für die Steinsetzungen geschaffen. Diese waren bei ihrer Wiederfreilegung an einigen Stellen bereits durch mehrere Gruben gestört, die aus alter Zeit stammen dürften. Sie könnten der Grund für Mallowans Rekonstruktion einer durch Vor- und Rücksprünge gegliederten Fassade aus einreihig verlegten Steinen auf einer massiven Plinthe35 gewesen sein, sind aber, wie in Abb. 5: b und Abb. 10 gut erkennbar, ungleichmäßig verteilt. An anderen Stellen kamen dagegen Anhäufungen unbestimmten Alters von Steinen zutage, die sich nicht mehr in ihrem ursprünglichen Kontext befanden. Die durchschnittliche Breite der Steinsetzungen betrug, nach dem ungestörten Befund am Südende zu urteilen, 1,5 m. Sie bildeten das Fundament einer Rampe, für deren Begehbarkeit eigentlich eine Ausgleichsschicht aus Lehm o. ä. zu erwarten wäre; hiervon fanden sich leider, wohl durch die alten Grabungen bedingt, keine Spuren. Dieser Bauzustand wurde später mit Flachziegeln in unterschiedlichen Formaten und Farben, diesmal unter Verwendung von grauem Mörtel, zugesetzt. Hierdurch entstand eine neue Verschalung an der Nordwestseite der Mastaba, die auch auf Teile der abgestuften Oberfläche übergreift. Wie schon zuvor, wurden auch hier gelegentlich quadratische Flachziegel verwendet. Bevor es zur Errichtung des Naramsin-Palastes kam, erfolgte dann noch eine dritte Ausbesserung mit z. T. zerbrochenen Flachziegeln unterschiedlichen Formats in gelbem Mörtel, welche die früheren Verschalungen und Abdeckungen wohl vollständig überbaute. Eine genauere Datierung der Baumaßnahmen nach der Auflassung des Augentempels scheint zur Zeit nicht möglich. Im Falle der Mastaba kommt allgemein nur der Zeitraum von der Späten Urukzeit gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. bis zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt während der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends infrage, als die Ausbesserungsarbeiten an der Mastaba begannen. Bisher einziges Indiz für das Alter der drei Verschalungen mitsamt der Steinrampe ist das „post-urukzeitliche“ quadratische Format einiger hierfür verwendeter Ziegel, und so bleibt weiterhin nur der Naramsin-Palast als sichere zeitliche Untergrenze.

35

Vgl. insbesondere Mallowan 1947: Taf. LIX. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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3.

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Nachgrabungen im Bereich der Hochterrassen in Area ET und TP (1986)

3.1 Die oberen Terrassen 1 und 2 mit zwei Vorgängern des Augentempels in Area ET

Abb. 11

Terrassenabfolgen und jüngere Ausraubungen in Area TP (Vorlage des Verfassers).

Die von zahlreichen Raublöchern und -gängen durchwühlten Terrassen (Abb. 11. Abb. 12) wurden überwiegend in Area TP, südlich des Augentempels und jenseits von Mallowans alten Schutthalden, auf größerer Fläche freigelegt. In Area ET kamen außerdem kleine Ausschnitte der jüngsten Terrasse 1, auf der der Augentempel © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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gründet, im Bereich des Gebäudes selbst und in einer ca. 5 m weiter südlich gelegenen Sondage außerhalb des Augentempels zutage. Ihr Baumaterial besteht aus gelbrötlichen und braunen Flachziegeln von mittlerem und großem Format. 0,8 m hoch erhaltene Reste fanden sich auch noch in Area TP am Nordrand von Fläche I wieder, wo sie hangseitig abbrachen. Die Südgrenze der Terrasse ist daher nicht mehr feststellbar. Unter dem Augentempel steht sie 0,4 m höher an als in seiner unmittelbaren Umgebung, so dass von einem eigenen Gründungssockel ausgegangen werden kann, der nur wenig über die Außenkanten des Gebäudes hinausragte. Die Gesamtstärke von Terrasse 1 beträgt damit zwischen 0,8 und 1.2 m. Unter der SW-Ecke des Augentempels schloss sie die in nordsüdlicher Richtung verlaufende Mauer eines Vorgängerbaus ein, die aus kleinformatigen Flachziegeln erbaut war; zur Lage vgl. Abb. 5: c. Die Nordausrichtung der Mauerfugen weicht um ± 4° von der fast exakten Nordausrichtung des Augentempels nach Westen ab. In der oben genannten Sondage südlich des Augentempels wurde unter Terrasse 1 die Oberfläche einer weiteren Terrasse erreicht, welche sich durch ihre vielfarbigen und oft zerbrochenen Flachziegel von der jüngeren Terrasse deutlich unterscheidet. Dies ist Terrasse 2, die nach weiteren 10 m in Area TP die gesamte Osthälfte von Fläche I einnimmt und an der Nordostecke von Fläche II hangseitig abbricht; ihre Stärke beträgt dort im Mittel 1,5 m. In der weiter nördlich in Area ET gelegenen Sondage kam innerhalb der Terrasse eine in westöstlicher Richtung verlaufende Mauer aus dunkelgraublauen, in rotem Mörtel verlegten Flachziegeln36 zutage, die zu einem weiteren, noch älteren Vorgänger des Augentempels gehört haben muss. Dieser gründet ca. 1,5 m tiefer als sein Nachfolger und ist um mindestens 5 m nach Süden versetzt; zur Lage vgl. Abb. 5: d. Die Mauerfugen lassen eine Nordausrichtung des Gebäudes von 7° erkennen, während die Fugen der z. T. aus Bruchmaterial bestehenden Terrassenziegel keine einheitliche Richtung aufweisen. Damit steht fest, dass der Augentempel entgegen Mallowans Annahmen nicht auf einer 4 m hohen, Mastaba-ähnlichen Terrasse gründet, die in einem Zuge hochgemauert wurde, sondern dass es unter ihm bis in eine Tiefe von höchstens 3 m bereits zwei Vorgängerbauten mit unterschiedlichen Nordausrichtungen gab, die bis auf niedrige Stümpfe abgerissen und zugesetzt worden waren.

36

Es handelt sich um großformatige Flachziegel mit den Maßen 44‒48 x 20 x ?, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den von Mallowan beschriebenen Lehmziegeln des Augentempels haben (blaufarbig, 37,5 x 17,5 x 9 cm; siehe Mallowan 1947: 55). Entweder beruhen Mallowans Angaben auf einer Verwechslung mit Ziegelmaterial desselben älteren Gebäudes, das dann an anderer, unbekannter Stelle gefunden worden sein müsste, oder es liegt eine Beschreibung von blaugrauen Ziegeln jüngeren Datums vor, die bei den Ausbesserungen über der Nordwestecke der Mastaba verwendet und irrtümlich für Mauerwerk des Augentempels gehalten wurden; zum Befund siehe oben, 2.2.2. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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3.2 Die älterenTerrassen 3‒6 in Area TP

Abb. 12

Südteil von Area TP (Trench II) von Westen. Terrassen 2 (linke obere Ecke), 3 (oberes Drittel), 4a (Mitte, unter Maßstab, und unterer Bildrand) und 4b (unten rechts) (Aufnahme des Verfassers).

Die Terrasse, auf der der ältere Vorgängerbau gründet, wurde bisher nur in Fläche II von Area TP erfasst und als Terrasse 3 bezeichnet. Sie hat eine Stärke von 1,1 m und enthielt im untersuchten Gebiet keine zugesetzten Gebäudereste. Ihr Baumaterial besteht aus großformatigen Flachziegeln von hellgrauer und roter Farbe, deren Fugen 352° nach Norden ausgerichtet sind, was ziemlich genau der Flucht der sehr viel späteren Rampe an der Westseite der Mastaba über dem Augentempel entspricht; vgl. Abb. 9. Sie ist von den Lehmziegelverbänden einer noch tiefer gelegenen Terrasse durch eine ca. 0,3 m dicke hellgraue Stampflehmschicht getrennt, die entweder eine eigene Terrasse darstellt, oder einen Schutz der darunter liegenden Lehmziegelverbände bewirken sollte. Ich muss die Frage offen lassen und unterscheide vorläufig zwischen einer oberen Terrasse 4 a aus Stampflehm und einer vielleicht älteren, 1,4 m starken Terrasse aus großformatigen Flachziegeln 4 b. Zu ihrer Errichtung wurden alternierend mehrlagige Schichten von (dunkel)grauen und roten Ziegeln in dunkelgrauem Mörtel verlegt. Die Fugen weisen diesmal die gleiche Nordausrichtung auf wie der Mittelsaal im drei Terrassen höher gelegenen Augentempel. Unter Terrasse 4 b kam in Fläche II als Ältestes die Terrasse 5 im Profil einer Raubgrube zum Vorschein. Sie ist nur 0,8 m stark und besteht aus dunkelgrauen großformatigen Flachziegeln, in deren unterster Lage hunderte von Steinperlen pro Ziegelfläche im Mörtel verbacken waren. Es ist daher so gut wie sicher, dass diese Terrasse mit Mallowans ‘Grey Eye-Temple’ stratum identisch ist. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Die Oberfläche einer aus rötlichen Flachziegeln bestehenden Terrasse 6 wurde in Fläche III, gut 25 m östlich von Fläche I, unter den auch dort sicher identifizierten Terrassen 4 b und 5 erreicht, und auch hier war der Mörtel der untersten Ziegellage von Terrasse 5 mit Steinperlen übersät. Die Nordausrichtung der Fugen beträgt 345°, womit die vermutete Nordausrichtung der Mastaba über dem Augentempel genau übereinstimmen würde. Terrasse 6 konnte nicht weiter untersucht werden, aber es spricht alles dafür, dass es sich bei ihr um Mallowans älteste Terrasse, das ‘Red Eye-Temple’ stratum, handelt. Noch ältere Terrassen scheinen nicht ausgeschlossen, weil die Sohle der dunkelgrauen Terrasse 5 mit ca. + 342 m ü. N.N. immer noch mehr als 2 m höher liegt als der Südrand von Tall Brak, der auf einem aktuellen Höhenschichtenplan der Brak Expedition (siehe Abb. 4) mit + 340 m ü. N.N. angegeben wird. 3.3 Die Gesamtabfolge der Terrassen 6‒1 und die Neugliederung des ‘White Eye-Temple’ stratum Im Ergebnis ist festzustellen, dass die bisher ältesten Terrassen 6 und 5 wegen ihrer Höhenlage, und im Falle von Terrasse 5 auch wegen ihrer Stärke, Ziegelformate und Fundeinschlüsse, mit Mallowans Beschreibungen des ‘Red’ und ‘Grey Eye-Temple’ stratum in den meisten Punkten übereinstimmen. Das von Mallowan angenommene, darüber liegende ‘White Eye-Temple’ stratum von insgesamt 5 m Höhe besteht dagegen aus insgesamt vier oder sogar fünf aufeinander folgenden Terrassen von 0,3 bis 1,5 m Stärke (Terrassen 4 b bis 1), deren Ziegelformate in keinem einzigen Fall mit Mallowans Angaben in Einklang zu bringen sind. Die insgesamt 6 m mächtige Terrassenabfolge dürfte mindestens sechs Vorläufer des „Augentempels“ enthalten, von denen die beiden jüngsten in den obersten Terrassen 2 und 1 bereits nachgewiesen werden konnten. Fundeinschlüsse von der Art, wie sie besonders zahlreich in der über 3 m hohen Stampflehmzusetzung des Augentempels zutage kamen (kleine Mosaikstifte aus Stein und Terrakotta, Kupferblechfragmente, steinerne Intarsien und verschiedenartige Perlen) sind ab Terrasse 3 durchgehend bezeugt, so dass eine Datierung der jüngeren Terrassenabfolge 3 bis 1 mitsamt dem Augentempel in den älteren, noch schriftlosen Abschnitt der Späten Urukzeit die größte Wahrscheinlichkeit hat. Schlussbemerkung Nach 50 Jahren kontinuierlich weiterentwickelter Grabungstechnik und intensiver Forschung kann es nicht besonders überraschen, dass die von Mallowan beschriebenen Befunde und ihre Interpretation nicht immer durch die Nachuntersuchungen und den Gang der Forschung bestätigt wurden. Mallowans dauerhafte Verdienste sind von anderer Art. Sie bestehen darin, die kulturgeschichtliche Stellung des Augentempels und seiner Vorgänger im Spannungsfeld frühsumerischer und spätchalkolithischer Traditionen bereits früh sichtbar gemacht und so den Anstoß zur Erforschung eines ambivalenten Kulturkomplexes von beachtlicher geografischer Größe gegeben zu haben. Hierfür sind die Ausgrabungen aus neuerer Zeit in Orten wie Arslantepe, Hassek Höyük, Habuba Kabira-Süd, Tall Saih Hasan, Hamukar und © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Godin Tepe der beste Beweis. Und so bin ich zuversichtlich, dass der Bereich des Augentempels in Tall Brak auch weiterhin zu den wichtigsten Ausgrabungsstätten in Syrien zählen wird.

Bibliografie Eichmann 2007 Ricardo Eichmann, Uruk Architektur I. Von den Anfängen bis zur frühdynastischen Zeit. Ausgrabungen in Uruk-Warka Endberichte, Band 14, Rahden. Heinrich 1936 Heinrich, Ernst, Kleinfunde aus den archaischen Tempelschichten in Uruk. Ausgrabungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Uruk-Warka, Band 1, Leipzig. Heinrich 1982 Ernst Heinrich, Die Tempel und Heiligtümer im Alten Mesopotamien. Denkmäler Antiker Architektur, Band 14, Berlin. Heinz 2000 Marlies Heinz, Die Kleinfunde aus Stein, in: Pedde et al. 2000, 103‒132. 167‒169. Mallowan 1947 Max E. L. Mallowan, Excavations at Brak and Chagar Bazar, in: Iraq 9, 1‒87. 89‒259. Mallowan 1977 Max E. L. Mallowan, Mallowan’s Memoirs, London. Oates 2013 Joan Oates, The Proto-Urban (Uruk) Period in Northeast Syria, in: Orthmann et al. 2013, 43‒ 60. Oates / Oates 1993 David Oates / Joan Oates, Excavations at Tell Brak 1992-93, in: Iraq 55, 155‒199. Orthmann et al. 2013 Winfried Orthmann / Michel al Maqdissi / Paolo Matthiae (Hrsg.), Archéologie et Histoire de la Syrie, I: La Syrie de l’ époque néolitique à l’âge du fer, Wiesbaden. Pedde et al. 2000 Friedhelm Pedde / Marlies Heinz / Bernd Müller Neuhof, Uruk Kleinfunde IV. Metall- und Steinobjekte im Vorderasiatischen Museum zu Berlin. Ausgrabungen in Uruk-Warka Endberichte, Band 21, Mainz. Strommenger et al. 2014 Eva Strommenger / Dietrich Sürenhagen / Dessa Rittig, Ausgrabungen in Habuba Kabira II. Die Kleinfunde von Habuba Kabira-Süd. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft, Band 141, Wiesbaden.

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Sürenhagen 2013 Dietrich Sürenhagen, Die Uruk-Periode im syrischen Euphrattal, in: Orthmann et al. 2013, 61‒74. van Driel / van Driel-Murray 1983 Govert van Driel / Carol van Driel-Murray, Jebel Aruda, The 1982 Season of Excavation, Interim Report, in: Akkadica 33, 1‒26.

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Zur Herkunft eines Akkad-zeitlichen Rollsiegels mit einer Tempelbau-Szene Rainer Michael Boehmer / Bayreuth Frau Dr. Liane Jakob-Rost war während der Zeit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach Dr. Gerhard Meyer ab 1977 Direktorin des Vorderasiatischen Museums im Pergamonmuseum zu Ost-Berlin. Als West-Berliner durfte ich nach DDR-Gesetzgebung Ost-Berlin nur auf Antrag einen Tag im Monat besuchen. Im Frühjahr 1986 stattete ich Frau Dr. Jakob-Rost einen Besuch ab, um mit ihr über die Veröffentlichung der im Vorderasiatischen Museum lagernden Funde aus den Vorkriegsgrabungen in Uruk zu sprechen. Sie stimmte meiner Bitte sofort zu, dieselben in der von mir als Direktor der Abteilung Baghdad des Deutschen Archäologischen Instituts herausgegebenen Reihe „Uruk-Warka. Endberichte“ (AUWE) publizieren zu dürfen. Einen Monat später, bei einem zweiten Besuch bei ihr, musste sie diese Genehmigung auf Anordnung einer „höheren Stelle“ teilweise zurückziehen. Danach durfte das westliche DAI nur die Stücke publizieren, die bereits beispielsweise in den Uruk-Vorberichten (UVB) veröffentlicht worden waren. Aber die Direktorin des Vorderasiatischen Museums traf eine großartige, der Sache dienende und ‒ was sich heute einer, der die Zeiten damals nicht miterlebt hat, kaum vorstellen kann ‒ durchaus mutige Entscheidung: sie bot mir an, zwei wissenschaftliche Mitarbeiter ihres Museums mit der Aufarbeitung aller, auch der bisher unpublizierten Uruk-Funde zu beauftragen. Das DAI könne dann diese Arbeiten später in der AUWE-Reihe drucken. Die Themen gab ich vor, und Frau JakobRost betraute daraufhin Elke Lindemeyer mit der Bearbeitung von Kleinfunden aus bestimmten Materialien und Lutz Martin mit der der Steinschalen (AUWE 9).1 Im Rahmen dieser Aufgaben durften beide Autoren einige wenige Male mit Genehmigung der DDR-Behörden nach West-Berlin fahren und das DAI besuchen. So lernte ich neben der feinen, leider so früh heimgegangenen Elke Lindemeyer († 1996) im Herbst 1986 auch Lutz Martin kennen, der dann mit seiner Arbeit unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer promovieren konnte2 und einige Zeit später Kurator am Vorderasiatischen Museum wurde. Die Bekanntschaft mit Lutz Martin, heute stellvertretender Direktor des Museums, wuchs im Laufe der Zeit zu einem freundschaftlichen Verhältnis, auch aufgrund unserer gemeinsamen christlichen Grundeinstellung. So ist es mir eine sehr große Freude, heute seiner Festschrift diese Miscelle beisteuern zu dürfen. Am Sonntag, den 28. Januar 2001, lernte ich Elie Borowski kennen. Er weilte damals mit seiner Frau Batya in Ruhpolding im Chiemgau, um mit Franz Rutzen, dem Verleger unzähliger archäologischer Bücher (Verlag Philipp von Zabern) und 1

Lindemeyer / Martin 1993. Die Prüfungskommission bestand damals bereits aus Professoren der BRD und der gerade zu Grunde gegangenen DDR: Rainer Michael Boehmer (BRD), Horst Klengel († 2019, ehemals DDR) und Hans J. Nissen (BRD).

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Ehrenmitglied des Deutschen Archäologischen Instituts, den Druck des Bandes über die gläsernen Objekte im Bible Lands Museum Jerusalem zu besprechen.3 Ich war auf der Rückreise von Tirol nach Deutschland für zwei Tage in Ruhpolding und von Franz und Eva Rutzen zum Mittagessen in einem urbayerischen Wirtshaus eingeladen. Auch Elie und Batya Borowski nahmen daran teil. Ich kannte beide bis dahin nicht. Elie saß mir am Tisch gegenüber. Wir pflegten die übliche nichtssagende Konversation, an die sich normalerweise später kein Mensch erinnern kann, bis ich erwähnte, dass ich mein letztes Buch4 den beiden orientalischen Archäologen gewidmet habe, die von den Nazis umgebracht worden waren, nämlich Stefan Przeworski (Warschau) und Louis Delaporte (Paris). [Außer diesen beiden wäre noch Francois Thureau-Dangin zu nennen, der jedoch nicht Archäologe, sondern Philologe war. Der große Franzose ist von den Nationalsozialisten inhaftiert worden und verstarb bald nach der Freilassung.] Augenblicklich ging eine Veränderung in Elies Gesicht vor. Er war im Nu ein anderer geworden, tief ergriffen, bekam feuchte Augen und streckte mir seine Arme über den Tisch entgegen, um meine Hände zu ergreifen. „Dass heute noch einer meines Lehrers Delaporte gedenkt!“ waren seine Worte. Die ganze Dankbarkeit Louis Delaporte gegenüber und die tiefe Trauer über dessen gewaltsamen Tod lagen darin, vibrierten in seiner Stimme. Wir haben uns sofort so verstanden, als ob wir uns nicht erst ein paar Minuten, sondern unser ganzes Leben lang gekannt hätten. Nach dem Essen stand er als erster auf, kam um den Tisch herum und umarmte mich, den etwa 17 Jahre Jüngeren, in aller Herzlichkeit5 ‒ unvergesslich! Wir haben uns danach nur noch einmal wiedergesehen, und zwar im April des gleichen Jahres im Verlag Philipp von Zabern in Mainz, wo wir beide wegen unserer Publikationen zu tun hatten. Er war damals schon fast 90 Jahre alt, sein Gedächtnis war exzellent. Er wusste sehr viel über Große des Fachs zu erzählen6, die schon längst verstorben waren. So erwähnte er unter anderem, dass Friedrich Sarre während seiner Reise im Euphrat-Tigris-Gebiet7 einmal einem Beduinen mit seiner Schafherde begegnete. Das ist an sich nichts Besonderes, aber der Mann saß im Schatten eines Baumes, von dem an einer Schnur ein Rollsiegel herabhing. Bei dem Baum könnte es sich um einen der vielen Wunsch-/Segensbäume gehandelt haben,

3

Bianchi et al. 2002. Boehmer 1999. 5 Seine ungemeine Herzlichkeit kam aus seinem tiefgläubigen in Gott verankerten Herzen und verlieh seinen blauen Augen eine strahlende Freundlichkeit, wie ich sie in meinem Leben nur bei ganz wenigen Menschen erlebt habe. Unsere Begegnung in Ruhpolding bleibt mir ein menschlich tiefer Gewinn. 6 Meine Anregung, doch sein großes Wissen über bedeutende Kollegen der frühen Zeit auf Band zu sprechen und so der Nachwelt zu überliefern, konnte Elie Borowski aus arbeitsbedingten Gründen nicht mehr nachkommen. Er widmete sich bis zu seinem Heimgang 2003 mit aller Kraft, die ihm in seinem hohen Alter noch zur Verfügung stand, vor allem der Veröffentlichung der Sammlung des Bible Lands Museum in Jerusalem. 7 Vgl. Sarre / Herzfeld 1911–1920. 4

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die noch heute meist in der Nähe von Heiligengräbern stehen und durch aufgehängte Kleiderfetzen und andere kleine Besitztümer erkennbar sind.8 Sarre betrachtete es und bemerkte sofort, dass es eine sehr ungewöhnliche Szene bot: Neben einer Götterkampfszene waren Götter zu sehen, die offensichtlich mit dem Bau eines Tempels beschäftigt waren (Abb. 1 a, b).9 Sarre hat dann das akkadzeitliche Stück erworben, und es gelangte später über seine Witwe in den Besitz von Elie Borowski. Es wurde erstmals von Dietrich Opitz veröffentlicht und gedeutet,10 in jüngster Zeit hat Frans Wiggermann die Szene neu interpretiert. Heute befindet sich das Siegel im Bible Lands Museum Jerusalem.11

Abb. 1a Abb. 1b

Siegel mit Götterkampfszene (© Courtesy of the Bible Lands Museum Jerusalem. Photographer: Moshe Caine) Moderne Abrollung (© Courtesy of the Bible Lands Museum Jerusalem, Photographer: Takayoshi Oshima)

Bibliografie Amiet 1980 Pierre Amiet, La glyptique mésopotamienne archaique, deuxième édition revue et corrigée avec un supplément, Paris. Bianchi et al. 2002 Robert Steven Bianchi / Birgit Schlick-Nolte / G. Max Bernheimer / Dan Barag, Reflections on Ancient Glass from the Borowski Collection, Mainz.

8

Für diesen Hinweis danke ich Ursula Calmeyer-Seidl. Maße des Siegels: Höhe 3,8 cm, Durchmesser 2,7 cm. 10 Opitz 1930/31: 61‒62, Taf. 3.2. Zu weiteren Veröffentlichungen siehe: Frankfort 1939: 117‒118, Taf. 27k; Boehmer 1965: 118, 189, Nr. 915, Abb. 353; Muscarella 1981: 88, Nr. 44; Collon 1988: 172, Nr. 802; Amiet 1980: Nr. 1485, Taf. 112; Roitman 2003: 15. 11 Inv.Nr. BLMJ 2784; Bible Lands Museum 2002: 50, Seal 377. 9

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Bible Lands Museum 2002 Bible Lands Museum Jerusalem, Guide to the Collection, Bible Lands Museum Jerusalem. Boehmer 1965 Rainer Michael Boehmer, Die Entwicklung der Glyptik während der Akkad-Zeit. Untersuchungen zur Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 15, Berlin. Boehmer 1999 Rainer Michael Boehmer, Uruk: Früheste Siegelabrollungen. Uruk-Warka, Endberichte Band 24, Mainz. Collon 1988 Dominique Collon, First Impressions: Cylinder Seals in the Ancient Near East, London. Frankfort 1939 Henri Frankfort, Cylinder Seals: A Documentary Essay on the Art and Religion of the Ancient Near East, London. Lindemeyer / Martin 1993 Elke Lindemeyer / Lutz Martin, Kleinfunde aus dem Vorderasiatischen Museum zu Berlin: Steingefäße und Asphalt, Farbreste, Fritte, Glas, Holz, Knochen/Elfenbein, Muschel/Perlmutt/ Schnecke. Uruk-Warka, Endberichte Band 9, Mainz. Muscarella 1981 Oscar W. Muscarella (Hrsg.), Ladders to Heaven: Art Treasures from Lands of the Bible, Toronto. Opitz 1930/1931 Dietrich Opitz, Studien zur altorientalischen Kunst, in: Archiv für Orientforschung 6, 59‒65. Roitman 2003 Adolfo Roitman, Envisioning the Temple: Scrolls, Stones and Symbols, The Israel Museum, Jerusalem. Sarre / Herzfeld 1911–1920 Friedrich Sarre / Ernst Herzfeld, Archäologische Reise im Euphrat- und Tigris-Gebiet, 4 Bände, Berlin. Wiggermann 2011 Frans A. M. Wiggermann, The Mesopotamian Pandemonium. A Provisional Census, in: Studi e Materiali di Storia delle Religioni 77/2, Rom, 298‒322.

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Wie sah die Glyptik im Zentrum des Mittani-Reichs aus? Ein Einblick aus Tell Feḫeriye Dominik Bonatz / Berlin Wie so viele andere archäologische Projekte in Syrien mussten die Ausgrabungen in Tell Feḫeriye nach Ausbruch des Bürgerkrieges eingestellt werden. Fast gleichzeitig mit den geschätzten Nachbarn auf dem Tell Halaf fand 2010 die unerwartet letzte Grabungskampagne am Tell Feḫeriye statt. Die bis dahin in insgesamt vier Forschungsaufenthalten erzielten Ergebnisse ließen an eine solche abrupte Unterbrechung der Arbeiten nicht denken. Mithin war es gelungen, am Westhang des Hügels großflächig Architekturschichten der mittelassyrischen Besiedlung im 13. Jahrhundert v. u. Z freizulegen und darunter die ersten Fundkontexte aufzudecken, in denen sich die für diesen Ort so wichtige Mittani-Periode deutlich abzeichnete. Noch immer, und durch die Ausgrabungen zwischen 2006 und 2010 bekräftigt, gilt Tell Feḫeriye im Quellgebiet des Chabur als der wahrscheinlichste Kandidat für die Identifizierung der alten Mittani-Hauptstadt, Waššukanni. Dieser Beitrag, den ich meinem über die Jahre der guten Zusammenarbeit in Nordost-Syrien und in Berlin sehr lieb gewonnenen Kollegen Lutz Martin widme, soll am Beispiel einer kleinen Gruppe von Siegelabrollungen einen ersten Einblick in die am Tell Feḫeriye zu erwartenden Funde aus der Mittani-Zeit bieten. Für die spätbronzezeitliche Besiedlung am Westhang des Tell Feḫeriye (Grabungsarea C) ergibt sich nach bisheriger Kenntnislage ein sehr wechselvolles Bild. Den Assyrern muss es spätestens zu Beginn der Regierungszeit Šalmanassers I. (1263‒1234 v. u. Z.) gelungen sein, den Ort fest in ihren Besitz zu nehmen. Die freigelegten Reste eines monumentalen Gebäudes (Building D) in Area C I‒II weisen möglicherweise auf die Existenz eines Palastes, der noch in der Zeit der Mittani-Herrschaft errichtet wurde, dann aber nach der Machtübernahme durch die Assyrer für längere Zeit als Sitz der lokalen Provinzverwaltung diente. Darauf deuten die im Füllschutt dieses Gebäudes gefundenen mittelassyrischen Texte. Sie haben eine Laufzeit von der Mitte der Regierungszeit Šalmanassers I. bis zu den frühen Jahren der Regierung Tukulti-Ninurtas I.1 Die Texte wurden zusammen mit anderem Abfall aus einer noch unentdeckten Bibliothek entsorgt, als der Palast aufgegeben und zugeschüttet wurde, um darauf Häuser bzw. Residenzen für assyrische Beamte zu errichten. Bereits 2009 war es bei den Ausgrabungen gelungen, in einer Sondage innerhalb einer der großen Räume des Monumentalgebäudes unter sein Gründungsniveau zu gelangen und somit einen früheren, gänzlich der Mittani-Zeit zuzurechnenden Bauhorizont zu erreichen.2 Bei den Ausgrabungen im folgenden Jahr wurden schließlich 1 2

Bonatz 2014: 73‒75 und persönliche Kommunikation Eva Cancik-Kirschbaum. Bonatz 2013: 220‒221; Bonatz 2014: 68‒70. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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tiefere Niveaus vor der Westfassade des Gebäudes freigelegt. Dort fanden sich in einer Grube zahlreiche Siegelabrollungen auf Gefäßverschlüssen und Türverschlüssen der Mittani-Zeit. Leider konnte davon in dieser Kampagne nur ein geringer Teil soweit restauriert und dokumentiert werden, dass er für weitere Forschungszwecke nutzbar ist.3 Der größere Rest hingegen harrt seitdem seiner Aufarbeitung in den unzugänglichen Funddepots in Syrien. Immerhin geben die Funde schon jetzt zu verstehen, dass im Bereich des Monumentalgebäudes bereits in der Mittani-Zeit administrative Vorgänge, nämlich das Versiegeln von Waren und Magazinräumen, stattfanden, wie sich dann auch am gleichen Ort in der mittelassyrischen Zeit fortsetzten.

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Abb. 1a

Siegelabrollung TF-4205 im Original.

Abb. 1b

Siegelabrollung TF-4205 in der Rekonstruktion (Felix Wolter).

Bonatz 2013: 222‒223, Abb. 8. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Nicht nur die erwähnte Abfallgrube vor der Fassade des Monumentalgebäudes erbrachte Siegelabrollungen aus der Mittani-Zeit, sondern auch zwei weitere Fundkontexte, der eine innerhalb, der andere außerhalb dieses Gebäudes. Im ersten Fall handelt es sich um eine einzelne Siegelabrollung auf einem nachträglich verbrannten Tonverschluss, der sich höchstwahrscheinlich als Gefäßverschluss interpretieren lässt (Abb. 1a‒b). Der Kontext dieses Einzelfundes in der untersten Schicht (C-348) des freigelegten Raumes des Monumentalgebäudes ist dessen frühester Nutzungsphase zuzuschreiben, d. h. der ausgehenden Mittani-Periode im wahrscheinlich späten 14. Jahrhundert v. u. Z. Die Siegelabrollung ist längs des flachen und länglichen Tonverschlusses abgerollt. Ihr rechter Bildrand ist weggebrochen. Da jedoch der kleine Rest einer zweiten Siegelabrollung am oberen Rand des Tonverschlusses erhalten geblieben ist und gerade dieser die Füße einer stehenden Person zeigt, von der wiederum der obere Teil auf der unteren Siegelabrollung erhalten ist, lässt sich das Siegelbild fast vollständig rekonstruieren. Es zeigt eine Figur im sog. Knielauf, die mit ihrem ausgestreckten linken Arm ein gehörntes Tier, wohl eine Gazelle oder Antilope, an den Hinterläufen packt, sodass es mit dem Kopf nach unten in der Luft hängt. Davor steht eine nach rechts gewandte stehende Figur, die den rechten Arm an die Hüfte gelegt und den linken, jetzt nicht mehr erhaltenen Arm möglicherweise nach vorne gestreckt hat. Im Gegensatz zu dem mit einem kurzen Rock gekleideten Mann im Knielauf trägt diese Figur ein langes, bis zu den Füßen hinabreichendes Gewand. Beide haben die gleiche runde Kappe oder kappenförmige Haartracht, von der ein kurzes Band im Nacken herabhängt. Das linke Bildfeld nehmen schließlich oben eine hockende Sphinx und unten der Kopf und Hals eines Pferdes ein. Am oberen Bildrand ist der Rest eines Dreieckfrieses erkennbar, was auf einen verzierten Rand oder möglicherweise auch eine Metallkappe am originalen Siegelzylinder schließen lässt. Alle Bildelemente, die zwei menschlichen Figuren und die drei Tierdarstellungen, finden sich im motivischen Repertoire der Mittani-Glyptik wieder, insbesondere innerhalb des sog. ‘Common Style’. Da die Siegelabrollung aus Tell Feḫeriye aber eine plastische Ausarbeitung der Figuren erkennen lässt, feine Gravuren an den Flügeln und Mähnen der Tiere sowie Gesichtern der menschlichen Figuren zeigt und eher eine freie Komposition ohne Standlinie ist, steht dieses Stück dem von Edith Porada anhand der Nuzi-Glyptik definierten ‘Elaborate Style’ nahe.4 Die Figur des Mannes im Knielauf ist dabei eine sowohl in der Glyptik des Ostens (Nuzi) also auch des Westens (Alalach und südliche Levante) sehr häufig vertretenes Motiv, wobei es jedoch in der Regel Darstellungen von ein oder zwei einen stilisierten Baum flankierende Männer im Knielauf sind, die das Motiv vervollständigen.5 Die Motivvariante mit der an den Hinterläufen hochgehaltenen Gazelle oder Antilope ist hingegen sehr selten. Sie findet ihre deutlichste Parallele auf einem Fritte-Siegel aus einem Grab des Level II in Alalach.6 Das Siegelbild zeigt ansonsten eine sehr dichte, 4

Porada 1947. Z. B. Stein 1993: Fig. X; Collon 1983: Nrn. 50‒55, 75. 6 Collon 1983: Nr. 65. 5

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mehrfigurige Komposition, in der unter anderem eine stehende Figur im langen Gewand ähnlich derjenigen auf der Siegelabrollung aus Tell Feḫeriye erscheint. Das andere, sehr spezifische Bildelement auf der Siegelabrollung TF-4205 ist der Pferdekopf im unteren linken Bildrand. Pferde sind in der Mittani-Glyptik selten auszumachen, was auch damit zusammenhängt, dass bei den flüchtig gearbeiteten Stücken des ‘Common Style’ häufig schwer zu entscheiden ist, ob ein tatsächlich ein Pferd oder doch eine der viel häufiger vertretenen Capridenarten gemeint ist. Um Pferde oder Wildesel dürfte es sich aber bei einer Reihe von Siegeln aus der Levante handeln, die Beate Salje der ‘Palästinensischen Gruppe’ zuordnet.7 Betrachtet man bei diesen Tieren, die aufrecht und im Kampf mit ein oder zwei menschlichen Figuren dargestellt sind, ihren zurückgewandten Kopf und den Hals mit der Haarmähne allein, offenbart sich die Ähnlichkeit zu dem auf der Siegelabrollung aus Tell Feḫeriye dargestellten pars pro toto-Element einer Pferdedarstellung. Obwohl also einige spezifische Elemente in der Darstellung auf TF-4205 Richtung Westen weisen, könnte das in seiner Machart für die übliche ‘Common Style’Glyptik augenscheinlich überqualifizierte und durch den Dreiecksfries am Rand zusätzlich veredelte Stück auf eine für das Zentrum des Mittani-Reiches noch mangels an Belegen deutlich unerforschte Produktionseigenschaft verweisen.

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Abb. 2

Siegelabrollung TF-10101 und TF-10106 (Original und Rekonstruktion: Felix Wolter).

Abb. 3

Siegelabrollung TF-10107 (Rekonstruktion: Felix Wolter)

Salje 1990: Nrn. 206, 207, 210. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Wie sah die Glyptik im Zentrum des Mittani-Reichs aus?

Abb. 4

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Rekonstruktion des Siegelmotivs auf sechs Siegelabrollungen aus Tell Brak (nach Matthews 1997: Fig. 179.3)

Der zweite Fundkontext (C-1042), der gleich fünf Fragmente von Siegelabrollungen der Mittani-Glyptik beinhaltete, gehört zu einer der Ablagerungen, die sich über einer westlich der Fassade des Monumentalgebäudes verlaufenden Straße fanden. Diese Straße weist mehrere Bauniveaus auf, von denen jedes durch Unterfütterungen und dünnschichtige Aufschüttungen getrennt ist. Neben einer Unmenge von Scherben, die hier als Füllmaterial Verwendung fanden, sind es im Fall des Kontexts C-1042 eben auch die nutzlos gewordenen Fragmente von Tonverschlüssen, die hier entsorgt wurden. Wie bei der Nutzung des Monumentalgebäudes lässt sich auch in der Abfolge der mehreren übereinander gelagerten Straßenniveaus vor allem anhand der Keramiksequenz der allmähliche Übergang von der Mittani- zur mittelassyrischen Phase beobachten. Dabei ist im Fall der Straßenablagerung C-1042 festzuhalten, dass sich darin neben den Tonverschlussfragmenten mit Abrollungen von Mittani-Siegeln auch zwei Fragmente von Tonverschlüssen mit einem Siegelmotiv aus der Zeit Šalmanassers I. fanden.8 Für diese Vergesellschaftung von zeitlich grundsätzlich unterschiedlichen Siegelungen gibt es zwei mögliche Erklärungen: Erstens könnten die Mittani-Siegelabrollungen, da es sich offensichtlich um Abfallmaterial handelt, deutlich später als zum Zeitpunkt ihrer ursprünglichen Nutzung in diesen Kontext gewandert sein. Zweitens aber könnte es sich auch um Siegelungen handeln, die trotz formal bestehender Vorherrschaft der Assyrer noch zirkulierten. Diese zweite Möglichkeit ergibt insofern Sinn, als in Tell Feḫeriye anhand der Keramikentwicklung eine Fortführung lokaler, mittani-zeitlicher Traditionen parallel zu den neuen assyrischen Standards bis in die Zeit Šalmanassers I. zu beobachten ist (s. Coppini in Vorber.). Was nun die kleine Kollektion der Mittani-Siegelabrollungen betrifft, ist zunächst festzustellen, dass sich alle Stücke stilistisch gleichen. Anders als beim ‘Common Style’ und mehr noch bei dem ‘Elaborate Style’ handelt es sich um sehr dünne Gravuren in Kombination mit sparsam ausgeführte Kugelbohrungen. Die Körper der Figuren sind deutlich überlängt. Das Fehlen von Standlinien und der für

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Bonatz 2013: Abb. 11, TF-10103; Bonatz im Druck: Motiv M.As 9. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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den ‘Common Style’ typischen Isokephalie verleihen der Komposition etwas Ungeordnetes. Das am vollständigsten erhaltene und hier im Detail besprochene Motiv findet sich auf zwei Fragmenten von Gefäßverschlüssen (TF-10101 und TF-10106), die auf ihrer Rückseite Abdrücke von Schnüren und einen durchgehenden Schnurkanal aufweisen (Abb. 2a‒b). Im Zentrum der Komposition steht ein großes aufrechtes Mischwesen mit Flügeln, dessen Kopf leider nicht erhalten ist. Rechts davon befindet sich ein schreitender Löwe mit vorgestreckter rechter Tatze und darüber eine frontal dargestellte nackte Figur, bei der ebenfalls der Kopf fehlt. Das Motiv der nackten Figur (wohl zumeist als Frau zu verstehen) in Frontalansicht ist in der Mittani-Glyptik sehr geläufig, wobei es sich jedoch in aller Regel um Figuren handelt, die beide Arme vor die Brust halten.9 Die Variante mit weit ausgestreckten Armen, wie auf dem Siegelbild aus Tell Feḫeriye gegeben, ist dagegen nur sehr selten zu finden.10 Links des zentralen Flügelwesens erscheint ein sich gegenüberstehendes Paar Stiermenschen. Zwar ist auch bei diesen Wesen der Kopf nicht erhalten, doch erlauben Parallelen zu ähnlichen Darstellungen in der Mittani-Glyptik eine eindeutige Identifizierung als Stiermenschen. Die engste Parallele für dieses Motiv findet sich auf insgesamt sechs Siegelabrollungen des gleichen Siegels auf Tür- und Gefäßverschlüssen aus Tell Brak, zu denen der Bearbeiter, Donald Matthews, vermerkt, dass sich das darauf abgebildete Paar Stiermenschen deutlich von den qualitativ besser geschnittenen Beispielen aus anderen Regionen der Mittani-Glyptik unterscheidet.11 Auch die restliche Komposition des Siegelbildes aus Tell Brak (Abb. 4) zeigt deutliche stilistische und ikonographische Parallelen zu den Siegelabrollungen aus dem Kontext C-1042, vor allem wenn man hierzu auch die auf dem Gefäßverschluss TF-10107 erhaltene Komposition aus hockenden Sphingen und Capriden berücksichtigt (Abb. 3). Offensichtlich präsentieren deshalb die Siegelabrollungen aus Tell Feḫeriye und Tell Brak einen gemeinsamen Regional- bzw. Werkstattstil. Matthews bezeichnet ihn weitläufig als ‘Intermediate Style’12, in Anlehnung an die von Porada getroffene Unterscheidung von Siegeln, die sich nicht eindeutig einer der für die Mittani-Zeit geläufigen Stilgruppen zuordnen lassen.13 Bislang resultiert die Bezeichnung ‘Intermediate Style’ jedoch aus der Verlegenheit, bestimmte stilistische und ikonographische Eigenarten weder zeitlich noch geographisch näher zuordnen zu können. Mit den neuen Funden aus Tell Feḫeriye deutet sich aber an, dass es sich hierbei um eine für den zentralen Bereich des Mittani-Bereiches charakteristische Produktion handeln könnte, bei der wir uns zeitlich höchstwahrscheinlich im 14. Jahrhundert v. u. Z befinden. Weitere Stücke aus dem bislang aus Tell Feḫeriye bekannten und vielleicht in der Zukunft trotz aller Widrigkeiten doch noch zu erwei-

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Z. B. Salje 1990: Nr. 26, 27; Stein 1993: Nr. 22, 24, 546, 624, 741. Z. B. Salje 1990: Nr. 326. 11 Matthews 1997: 52, Abb. 68‒69. 12 Matthews 1992: 51. 13 Porada 1947: 40‒42, Group XV. 10

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ternden Corpus an Mittani-Siegelungen aus Tell Feḫeriye werden darüber hoffentlich mehr Auskunft geben. Bibliografie Bonatz 2013 Dominik Bonatz, Tell Fekheriye – Renewed Excavations at the “Head of the Spring”, in: Dominik Bonatz / Lutz Martin (Hrsg.), 100 Jahre archäologische Feldforschungen in NordostSyrien – Eine Bilanz. Schriften der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 18, Wiesbaden, 209‒234. Bonatz 2014 Dominik Bonatz, Tell Fekheriye in the Late Bronze Age: Archaeological Investigations into the Structures of Political Governance in the Upper Mesopotamian Piedmont, in: Dominik Bonatz (Hrsg.), The Archaeology of Political Spaces. The Upper Mesopotamian Piedmont in the Second Millennium BCE. Topoi Berlin Studies of the Ancient World 12, Berlin / Boston, 61‒84. Bonatz im Druck Dominik Bonatz, Middle Assyrian Seal Motivs from Tell Fekheriye, Syria. Tell Fekheriye Final Reports, Vol. I, Berlin / Boston. Collon 1982 Dominique Collon, The Alalakh Cylinder Seals. British Archaeological Reports International Series 132, Oxford. Coppini in Vorber. Costanza Coppini, The Late Bronze Age Ceramic Sequence at Tell Fekheriye: Mittani and Middle-Assyrian Pottery. Tell Fekheriye Final Reports, Vol. II, Berlin / Boston. Matthews 1997 Donald Matthews, Seals and Sealing, in: David Oates / Joan Oates / Helen McDonald, Excavations at Tell Brak. Vol. 1: The Mittani and Old Babylonian Periods, McDonald Institute Monographs, Cambridge und London, 47‒60. Porada 1974 Edith Porada, Seal Impressions of Nuzi, in: Annual of the American Schools of Oriental Research 24, 1‒138. Salje 1990 Beate Salje, Der ‘Common Style’ der Mitanni-Glyptik und die Glyptik der Levante und Zyperns in der Späten Bronzezeit. Baghdader Forschungen 11, Mainz. Stein 1993 Diana Stein, The Seal Impressions, in: Gernot Wilhelm (Hrsg.), Das Archiv des ŠilwaTeššup, Heft 8, Wiesbaden.

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Zur religiösen Ikonographie des Geiers im Alten Iran Der Bronzebecher aus Grab 42 von Marlik Joachim Bretschneider / Gent Auch wenn der Geier als Symbol für die letzte Phase des irdischen Daseins steht, so will es doch nicht heißen, dass das reiche und produktive Arbeitsleben unseres hoch verehrten Kollegen und Freundes Dr. Lutz Martin sein Ende finden wird. Die glücklichen Jahre der gemeinsamen Feldforschung in Syrien sind zwar vorbei, aber sein Forschergeist wird nicht ruhen. Mit großer Freude widmen wir ihm diesen kleinen Beitrag zur religiösen Ikonographie zu seinem Geburtstag.1 Den Funden aus der 1961–1962 unter der Leitung von Ezat O. Negahban freigelegten Nekropole von Marlik Tepe in der nordiranischen Provinz Gilan (Abb. 1) wird ein außergewöhnlicher wissenschaftlicher Stellenwert zugesprochen.2 In den 53 Steinkistengräbern fanden sich unter anderem 26 figürlich verzierte Metallgefäße aus Gold, Silber und Bronze, die unser Verständnis zur kulturellen Entwicklung des Nordiran in der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. erheblich erweitern konnten. Herkunft und Datierung der Gefäße wurden kontrovers diskutiert:3 Die vor wenigen Jahren vorgelegten Analysen von Christian K. Piller, Untersuchungen zur relativen Chronologie der Nekropole von Marlik (Elektronische Hochschulschriften der LMU München 2007, online-version) unterscheiden vier Hauptbelegungsphasen (Stufe I, Stufe IIa, Stufe IIb und Stufe III) innerhalb der Nekropole, wobei die Stufen IIa/b die „Klassische Marlik-Kultur“ früh bis spät repräsentieren. Beide Belegungsphasen datieren in die Eisen I-Zeit des späten 13.–11. Jahrhunderts v. Chr. und stehen für die Anlage großer Steingräber mit reichen Beigaben (Waffen, Schmuck, Metall- und Keramikgefäße) für die Mitglieder der lokalen Oberschicht.4 Verschiedene Gräber werden einer kriegerischen Elite zugeschrieben.5 Der überwiegende Anteil der figürlich verzierten Metallgefäße stammt aus Waffengräbern, die dort in der Nähe des Schädels oder des Oberkörpers des Bestatteten deponiert waren.6 Verschiedene Stil- und Qualitätsstufen lassen sich bei den Gefäßen aus Gold, Silber, Elektron oder Bronze unterscheiden, wobei die qualitätsvolleren Stücke mit assyrischen, babylonischen und elamischen Stilmerkmalen anfäng1

Ellen Rehm danke ich herzlichst für die Durchsicht des Manuskripts und die vielen Anregungen. 2 Negahban 1996. 3 Eine Zusammenstellung der Bibliographie zu Marlik, in: Negahban 1983; Calmeyer 1987/ 90; Negahban 1996; Vaḥdati 2006; Piller 2008; Abdi 2010. 4 Negahban (1996: 54) spricht selbst von “royal cemetery”. Piller (2008: 242) von „Separatfriedhofes für die örtliche Oberschicht. Die restliche Bevölkerung bestattete ihre Toten offenbar in den niedriger gelegenen Tälern rund um den Hügel.“ 5 Piller 2008: 238, Abb. 33. 6 Piller 2008: 199, Anm. 500 mit Verweis auf Negahban 1983: 33, Fig. 3 und Negahban 1996: Pl. 16, C für Marlik Grab 47 und 52. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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lich einer nicht einheimischen Produktion bzw. zugewanderten Kunsthandwerkern zugeschrieben wurden.7 Aber genauere Untersuchungen führten zu einem anderen Ergebnis. So versteht E. O. Negahban die hochwertigen Gefäße als Erzeugnisse lokaler Handwerker der Gilan-Region,8ohne dass jedoch bislang ein Produktionszentrum innerhalb eines Siedlungskontextes ermittelt werden konnte. Auch die umfangreichen Untersuchungen und Stilanalysen von Ulrike Löw zu den Figürlich verzierte Metallgefäße aus Nord- und Nordwestiran (Münster, 1998) favorisieren eine lokale Herstellung im Nordiran. Sie verweist u. a. auf die mittelassyrischen, kassitischen, elamitischen und mittanischen Siegelfunde aus den Gräbern von Marlik, die Zeichen eines dynamischen Handels und kulturellen Austausches mit den umliegenden Regionen sind und die aufblühende toreutischen Reliefkunst des späteren 2. Jahrtausends v. Chr. im Nordiran mit beeinflusst haben.9 Vergleichbare reliefierte Gold- und Silberbecher mit figürlichen Verzierungen sind aus dem nordwestiranischen Hasanlu10 und Kaluraz11 nahe Marlik Tepe bekannt. Grab 42 Die Fragmente zweier Bronzegefäße wurden zu Beginn der Ausgrabung in einem der ersten Testgäben (Trench XX F) innerhalb eines unregelmäßig geformten Grabes (ca. 5,0 m lang und 5,0 m breit, mit einer durchschnittlichen Tiefe von 2,5 m) freigelegt,12 das wahrscheinlich bereits in der Antike teilweise geplündert war.13 Die Zuweisung verschiedener Goldknöpfe, Bronzefigurinen und zweier Rollsiegel zum Grabkontext ist nicht gesichert, aber wahrscheinlich, da keine weiteren Gräber in der direkten Umgebung aufgedeckt wurden. Die relativ große Zahl von Goldblechknöpfen wird als Trachtausstattung eines reichen Kriegergrabes der Stufe II interpretiert.14 Die beiden Bronzegefäße mit ihren reichen Reliefdekors in Form einer Jagddarstellung15 (98M) und einer Karawanenszene16 (1394M) werden der Stilgruppe 5 und 7 von U. Löw zugeschrieben. C. K. Piller weist überzeugend die Gefäße aus Grab 42 7

Porada 1964: 200; Calmeyer 1982: 341. Negahban 1983: viii. 9 Löw 1998: 522–523; Löw 2001: 304; Piller (2008: 199) übernimmt die miteinander verwandten zwölf verschiedenen Stilgruppen aus der Arbeit von Löw (Löw 1998) für seine Kombinationstabelle, wobei eine deutliche Diskrepanz innerhalb der chronologischen Zuweisungen zwischen den beiden Autoren deutlich wird. Die Produktion der Gefäße wird von beiden Autoren zeitnah zur Existenz des Verstorben rekonstruiert, sei es als Prestigeobjekt zu Lebzeiten oder als Beigabengefäß für das Grabensemble. 10 Dyson 2004: 45–46; Porada 1962: 84‒90; Winter 1989: 87–106. 11 Ohtsu 2012: 409–412; Löw 2001: 301, Abb. 5. 12 Negahban 1996: M1, 6, 21, 42, Table 1; Piller 2008: 229–230; Löw 1995/1996: 156‒157 (mit Zeichnungen des Grabinventars). 13 Piller 2008: 230. 14 Piller 2008: 230. 15 Negahban 1983: 81‒82, Fig. 56; Negahban 1996: 88, Fig. 7:54, Ills. 2, 3, 6, 12; Löw 1998: 123–124, Fig. 26a, b; PKG 1975: Abb. 308. 16 Negahban 1983: 86, Fig. 60; Löw 1998: 141, Fig. 32a. 8

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der Belegungsstufe IIb zu, was kulturhistorisch der späten Klassischen MarlikKultur der Eisenzeit I des spätes 12.–11. Jh. v. Chr. entspricht. Gefäß mit Hirsch- und Geierjagd Das reich dekorierte bronzene Reliefgefäß 98 M aus Grab 42 von Marlik ist leider nur fragmentarisch erhalten. Die durch E. O. Negahban im Detail beschriebenen Fragmente lassen sich zu einem größeren Becher mit ziselierten Darstellungen rekonstruieren (Fig. 2). Auf der vom Ausgräber vorgelegten Umzeichnung können drei größere Wandungsfragmente (Fragment A–C) unterschieden werden, die eindeutig einer Bildkomposition mit zwei Bildfriesen zuzuordnen ist. Auf dem besser erhaltenen oberen Fries lassen sich die Oberkörper zweier bärtiger Männer ausmachen (Frag. A); diese stellen einen Wagenlenker und einen Bogenschützen dar. Wagen und Zugpferde sind bis auf ein paar Zügelfragmente verloren, können jedoch aufgrund des Fragmentes C rekonstruiert werden. Hier sind die Zugpferde und ein Teil des Speichenrades erhalten, so wie wir es auch von der Wagenszene auf dem Silberbecher aus Hasanlu kennen.17 Das links nicht unmittelbar anschließende Fragment B zeigt drei aasfressende Geier, die sich über die Läufe, Fell(?) und Innereien(?) eines Cerviden hermachen. Der Geierszene zuzuordnen ist rechts ein stehender Mann im kurzen Rock und Diadem, der einen Bogen festhält.18 Mit seiner Linken hält er die Fleisch- oder Fellreste eines erlegten Tieres bzw. seiner Jagdbeute empor, um die Aasfresser anzulocken. Der Bogenschütze des Wagens hat bereits mit zwei Pfeilen den Körper eines der Vögel durchbohrt, ein zweiter verwunderter Geier ist aufgrund eines kleineren Fragmentes zu rekonstruieren. Fragment C muss aufgrund seiner Darstellung – zu sehen sind die Läufe von Zugpferden und die Schwanzfedern eines Vogels im oberen Fries sowie Geweihe von drei Hirschen im unteren Fries – zwischen Fragment A und B platziert werden (Fig. 3–4).19 Diese Anpassung erlaubt eine glaubwürdige Rekonstruktion des unteren Bildfrieses, der deutliche kompositorische Parallelen mit der Geierjagd des oberen Frieses aufweist und eine Interpretation der Gesamtdarstellung ermöglicht. Die vom Streitwagen aus gejagten Tiere sind nun große Vierfüßer, die aufgrund der Geweih- und Fellreste als Cerviden zu identifizieren sind. Von zwei Pfeilen getroffen, bricht ein Hirsch vor den Vorderläufen der Pferde zusammen, drei weitere Cerviden dürfen aufgrund der Geweihe nach rechts flüchtend 17

Porada 1962: 103 mit Abbildung; Löw 2001: Abb. 3. Ein auf seinen Bogen ‚gelehnt‘, stehender Mann in kurzem Rock und mit Schlangendiadem ist auch von dem Goldbecher aus Hasanlu bekannt, auch dort scheint er mit einer Raubvogelszene in Verbindung zu stehen, wobei es sich aber um einen Adler – mit einer Frau auf dem Rücken – handeln soll. Die bislang schwer interpretierbare Szene wird nicht dem KumarbiEpos der Hauptszene zugeordnet (siehe oben Anmerkung 9; Orthmann 1975: 390–391, Fig. 112). 19 Dieser Rekonstruktionsversuch wurde vom Autor bereits vor vielen Jahren in einer Seminararbeit zu den Funden aus Marlik am Institut für Altorientalistik in Münster vorgestellt und findet sich später auch bei Löw (Löw 1998: Fig. 26a). 18

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ergänzt werden. Verschiedene kleinere Fragmente lassen sich in diesen Rekonstruktionsversuch einpassen. Die Jagd der Könige und Fürsten vom Wagen aus auf Löwen, Gazellen, Hirsche, Wildschweine gehört zum Standardrepertoire in der vorderasiatischen Bildkunst. Ungewöhnlich dagegen ist die Geierjagd, deren ökonomischer Nutzen als sehr gering eingeschätzt werden muss.20 Das Ködern der Vögel mit den Kadavern der im unteren Bildfries erlegten Hirsche unterstreicht eine solche Vermutung. Zudem wird der Verzehr von aasfressenden Tieren in verschiedenen Kulturen tabuisiert.21 Das Motiv der Geierjagd ist meines Wissens für Mesopotamien und die Levante nicht belegt und tritt hier im Norden des Iran erstmalig in Erscheinung.22 Um zu einem Deutungsvorschlag dieser ungewöhnlichen Jagdszene zu kommen, sei ein Blick auf andere Geierdarstellungen aus Marlik und ihre Interpretation geworfen. Die religionsgeschichtliche Bedeutung des Geiers für die Bewohner Marliks manifestiert sich am deutlichsten in den Reliefkompositionen eines anderen goldenen Bechers (610 M) aus Grab 2 (H: 20 cm; Dm. des Gefäßrands: 14 cm).23 E. O. Negahban interpretiert die vier aufeinander Bezug nehmenden Bildfriese überzeugend als “circle of life from birth to death and rebirth again” (Fig. 5–6).24 Der unterste Fries zeigt ein Muttertier mit Jungem, ein Bildsymbol für das werdende Leben und der Fruchtbarkeit. Im zweiten Bildfries erscheint das ausgewachsene Tier – jetzt jeweils als Paare – am Sakral-Baum zu sehen: Sinnbild des Lebens schlechthin. Im dritten Bildstreifen präsentiert sich eine Reihe von Wildebern, die von über sie gleitenden Vögeln, wohl Geiern, begleitet werden: Sie symbolisieren meines Erachtens wohl den Tod des Capriden. In dem obersten Fries liegen nun tote Capriden auf dem Rücken und werden jeweils von zwei Geiern entfleischt. Zwischen den Köpfen der Geier dieser Gruppen erscheint, scheinbar schwebend, ein (menschlicher?) Fötus ähnliches Wesen, das die Hände auf die Voluten eines Palmbaumes gelegt hat. 20

Für die prähistorischen Perioden Vorderasiens sieht von der Osten-Sacken (Osten-Sacken 2015: 463) auch eher einen rituellen Hintergrund für die Jagd und mögliche Haltung von großen Greifvögeln: „Im ausgehenden Paläolithikum und frühen Neolithikum sind Greifvögel besonders häufig im Fundmaterial vorderasiatischer Grabungen belegt. Neben der Nutzung von Fleisch, Federn und Knochen spielt bei Greifvögeln, besonders bei großen Arten, der Symbolwert eine Rolle, der sich auch in der Verwendung in Ritualen niederschlägt. Solche sind in prähistorischer Zeit in Vorderasien anhand einiger Fundkomplexe nachweisbar. Die Haltung einzelner Tiere für eine solche Bestimmung ist denkbar, möglich auch ihre Verwendung als Jagdhelfer, wobei der praktische Einsatz von Greifvögeln eine religiöse, totemistische oder symbolische Verwendung nicht ausschließt.“ 21 Von der Osten-Sacken 2017: 87 mit 271. 22 Das Motiv des (aasfressenden) Geiers ist in der Reliefkunst iranischer Metallerzeugnisse des späten 2. und frühen 1. Jahrtausends v. Chr. häufiger belegt. Siehe Löw 1998: 650, Fig. 16; 653, Fig. 79; 660, Taf. 50; Orthmann 1975: Abb. 308. Zur Vogeljagd im Alten Orient siehe von der Osten 2015: 99–143. 23 Negahban 1983: 28–30, Fig. 14; Negahban 1996: 75–77, Ill. 3, 4, 8, 11, 12, Fig. 4, Pl. 22; Color Plates XVIII and XIX; Löw 1998: 130–140, Fig. 28. 24 Negahban 1983: 28‒30, bes. 29; Negahban 1996: 75–77. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Es ist mit E. O. Negahban anzunehmen, dass hier der Zyklus des Lebens – Sinnbild einer religiösen Ordnung – in einer nordiranisch-kaukasischen Tierfabel erzählt wird.25 Der den Capriden zerfleischende Geier symbolisiert das letzte Stadium eines tödlichen Kampfes, doch ist er nur ein Glied in der tierfabelhaften Genesis. Das hockende fötusartige Wesen am Palmbaum scheint das wiederbeginnende Leben zu symbolisieren. Der Geier ist das Tier, das den Toten in einen neuen Zustand überführt. Die verschiedenen Säugetiere dieser Bildkomposition symbolisierten den Lebenszyklus in einer von animistischen Glaubensvorstellungen geprägten Bildsprache, wobei eine vielfältige Beziehung zwischen der Sepulkralkultur von Marlik und den versinnbildlichten „Naturphänomen“ zu unterstellen ist.26 Wenn man an dieser Stelle alle Geierdarstellungen im Alten Orient Revue passieren lässt, kann man Folgendes festhalten: Darstellungen von Geiern nehmen vor allem in der Bildkunst seit dem Neolithikum eine besondere Rolle ein. Klein- und großformatige Rundbilder und Reliefs sind u. a. für Göbekli Tepe27 und Nevali Çori28 belegt und können einer animistisch und schamanistisch geprägten Glaubenswelt/Religiosität zugeordnet werden. Das Brauchtum der rituellen Entfleischung (“Excarnation”) durch Geier als erste Stufe des zweistufigen Begräbnisrituals (mit dem Aussetzen der Toten auf Plattformen [“sky burials”]) wird für die neolithischen Wandmalereien aus Çatalhöyük vermutet.29 Wandmalereien aus dem “Vulture Shrine” mit den Darstellungen fliegender Geier über kopflosen Menschen bereichern unser Deutungsspektrum (Fig. 7). Neben dieser profanen Erklärung wird zudem die geboten, dass die Vögel auch Priester (Schamanen?) im Vogelgewand sind, die die „Seele“ des Toten fliegend ins „transzendente Jenseits“ transportieren.30

25 Die einzelnen Motive sind in der mesopotamisch-levantinische Kunst belegt, finden sich aber nie in einer solchen nord-iranischen Gesamtkomposition/Zusammenstellung. 26 Allgemein zur Tiersymbolik im Alten Iran: Cool Root 2002: 169–209. 27Schmidt 2006: 38–40, Fig. 2. Auf dem Pfeiler 43 von Göbekli Tepe wird der Geier mit anderen Tieren und einem kopflosen Menschen (vgl. Çatalhöyük) dargestellt. 28 Hauptmann / Schmidt 2007: 67–69, Kat. Nr. 95, Kat. Nr. 101, Kat. Nr. 103. 29 Außerhalb der Siedlung errichtete Pfahlbauten mit hölzernen Plattformen zum Aussetzen auserwählter Verstorbener könnten in der Wandmalerei der Kultstätte VI B II dargestellt sein. Vgl. Mellaart 1967: 241 Taf. 8; zu den Bestattungstürmen siehe Bretschneider: 1991: 31–36. Schädel von Gänsegeiern (gyps fulva) mit roter Bemalung fanden sich in den modellierten „Brüsten“ (Wandvorsprüngen) an der Ostwand der Kultstätte SVI.10 (Mellaart 1967: 48, Taf. 28). 30 Rituelle Deponierungen von Flügelknochen großer Greifvögel (Bartgeier, Gänsegeier, Seeadler) sind aus dem ausgehenden Mesolithikum aus Zawi Chemi Shanidar/Zagros bekannt und werden von R. Solecki (Solecki 1977: 42–47; Solecki / McGovern 1980: 91) im Vergleich mit den Geierdarstellungen aus Çatalhöyük als Teil eines rituellen SchamanenKostüms gedeutet. Adlerknochen finden sich als Beigabe in einem natufienzeitlichen Schamanengrab in der Höhle von Hilazon Tachtit (Grosman et al. 2008: 17665–17669). Umfassend zu Greifvogelknochen in rituellen Zusammenhängen, von der Osten-Sacken 2015: 99– 109.

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Neben diesen Beispielen sind für den weitaus jüngeren iranischen Raum die beiden, fast identischen proto-elamitischen Bronzebilder (ca. 3000–2800 v. Chr.) zweier bärtiger und gegürteter „Helden-Dämonen“ mit gehörnten Kappen und Stiefeln mit gebogenen Spitzen zu nennen. Die Helden tragen einen Umhang in Form einer Raubvogelhaut, wahrscheinlich eines Geiers. Mit ihnen erhalten sie die übernatürlichen Kräfte eines “scamanic hero” (Fig. 8a–b).3132 Im Gegensatz zu den bisher genannten Belegen aus Anatolien und Iran erscheint der Geier im mesopotamischen Kernland ausschließlich in kriegerischen Kontexten, die fast mehrheitlich als „Genre-Bild“ zu deuten sind und in der Regel kaum übernatürliche Elemente aufweisen.33 Es handelt sich um die Schlachtenszenen der „Geierstele“, „Sargon-Stele“ und denen auf der viel jüngeren neuassyrischen Relief-Orthostaten, auf denen die Aasfresser über die Leichen der Feinde herfallen und ihre Körperteile in die Lüfte tragen.34 Der Geier symbolisiert hier die totale und in die Ewigkeit fortdauernde Vernichtung des Gegners, dessen Leichnam nicht bestattet wird und somit auch keine Totenopfer empfangen kann. Eine rituelle Entfleischung des Verstorbenen durch Geier, wie es für manche neolithische Kulturen in Vorderasien zu vermuten ist und auch durch Herodot (I 140) in der Beschreibung persischer Bestattungsgebrauche dokumentiert wird35, ist für den sumerisch-babylonische Kulturraum auszuschließen. Obwohl die konkreten Glaubensvorstellungen hinter dem Motiv der Geierjagd auf dem Grabbecher von Marlik verborgen sind, ist doch eine Verbindung zum Tod anzunehmen. Sollte hier eine Überwindung des Todes – welcher Art auch immer – 31

Hier abgebildet ist das Exemplar aus dem Brooklyn Museum (Höhe: 17,2cm), das zweite Stück (Höhe: 17,5cm) befindet sich in der Albright-Knox Art Gallery, Buffalo. 32 Zusammenfassend mit älterer Literatur: Lapérouse 2003: Kat.-Nr. 15a, b, 46–48. Zum “ibex-horned hero” in der iranischen Kunst, Root 2002: 184–186; von der Osten-Sacken 1992 – Zur kontrovers geführten Diskussion in Verbindung mit schamanistischen Glaubensvorstellungen im Alten Iran siehe Literatur in: Gignoux 2005. 33 Ausnahme der Bogen-schießende Gott in der Flügelsonne. 34 Winter 1985: 16; Orthmann 1975: Abb. 90–91 (Geier-Stele); Abb. 99a–b (Sargon-Stele); Abb. 203b (neuassyrisches Relief aus Nimrud/Assurnasirpal II.); weitere Schlachtenszenen mit Geiern aus Südwestpalast in Nimrud (Tiglat-Pilesar III.) und Ninive (Sanherib), siehe Negahban 1983: 30. 35 „Folgende Dinge werden als Geheimnisse und nicht offen berichtet, nämlich über den Verstorbenen, daß die Leiche eines persischen Mannes nie begraben wird, bevor sie von Vögeln oder Hunden zerrissen wird. Was die Magier betrifft, so weiß ich bestimmt, dass sie so handeln, denn sie tun es offen.“ H. S. Nyberg (Nyberg 1938: 310) und G. Widengren (Widengren 1965: 35, 132) verbinden mit diesem Ritual eine ostiranische Sitte, die bei den Steppenvölkern in Zentralasien vorherrschend war. Die Parsen in Indien und die Zarathustrier im Iran scheinen diese vorgeschichtliche Sitte übernommen zu haben, wie im Awesta belegt (Videvdat 6.44/45/46 nach K. F. Geldner 1926: 40) berichtet wird: „Schöpfer! Wohin sollen wir den Körper der toten Menschen tragen, Ahura Masdah, wo niederlegen? Auf die höchsten Stellen, Spitama Zarathustra, daß ihn am ehesten die aasfressenden Hunde oder Vögel gewahren. Dort sollen die Masdahanbeter den Toten befestigen an seinen Füßen und seinem Haar mittels Eisen oder Stein oder Rohr, auf daß nicht die aasfressenden Hunde oder Vogel von seinen Knochen welche zu Gewässern oder Pflanzen verschleppen.“ © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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durch das Heranlocken und die Jagd, somit die Tötung des „Totenvogels“ angedeutet werden? Dass Unsterblichkeit auch im Alten Orient erstrebenswert war, weiß man bekanntlich aus dem Gilgamesch-Epos. Bibliografie Abdi 2010 Kamyar Abdi, Mārlik, Encyclopaedia Iranica. Online: http://www.iranicaonline.org/articles/marlik [Zugriff am 3.7.2019]. Badisches Landesmuseum 2007 Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.), Die ältesten Monumente der Menschheit. Vor 12.000 Jahren in Anatolien. Begleitbuch zur Ausstellung im Badischen Landesmuseum vom 20. Januar bis zum 17. Juni 2007, Stuttgart. Bretschneider 1991 Joachim Bretschneider, Architekturmodelle in Vorderasien und der östlichen Ägäis vom Neolithikum bis in das 1. Jahrtausend. Phänomene in der Kleinkunst an Beispielen aus Mesopotamien, dem Iran, Anatolien, Syrien, der Levante und dem ägäischen Raum unter besonderer Berücksichtigung der bau- und religionsgeschichtlichen Aspekte. Alter Orient und Altes Testament 229, Kevelaer / Neukirchen-Vluyn. Calmeyer 1982 Peter Calmeyer, Mesopotamien und Iran im II. und I. Jahrtausend, in: Hans-Jörg Nissen / Joachim Renger (Hrsg.), Mesopotamien und seine Nachbarn, Berlin, 339–348. Calmeyer 1987/90 Peter Calmeyer, Marlik Tepe, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 7, 426–429. Cool Root 2002 Margaret Cool Root, Animals in the Art of Iran, in: B. J. Collins, A History of the Animal World in the Ancient Near East, Leiden / Boston / Köln, 169–209. Dyson 2004 Robert H. Dyson Jr., Ḥassanlu Tepe II. The Golden Bowl. Encyclopaedia Iranica, Online: http://www.iranicaonline.org/articles/hasanlu-teppe-ii [Zugriff am 3.7.2019]. Geldner 1926 Karl Friedrich Geldner, Das Awesta, Tübingen. Gignoux 2005 Philippe Gignoux, Shamanism. Encyclopaedia Iranica. Online : http://www.iranicaonline.org/articles/shamanism [Zugriff am 3.7.2019].

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Abbildungen

Abb. 1

Karte (nach Löw 1998: Fig. 1).

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Abb. 2

Umzeichnung (nach Negahban 1996: Fig. 7, 54 / Ausschnitt).

Abb. 3

Umzeichnung (nach Löw 1998: Abb. 26a basierend auf Negahban 1996: Abb. 7, 54).

Abb. 4

Rekonstruktionsversuch (Bretschneider basierend auf Negahban 1996: Abb. 7, 54).

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Abb. 5

Detailaufnahme (nach Negahban 1983: Abb. 14).

Abb. 6

Umzeichnung (nach Löw 1998: Fig 28 basierend auf Negahban 1996: Abb. 4, 14). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 7

Rekonstruktionszeichnung (nach Mellaart 1967, Abb. 47).

Abb. 8a‒c

„Helden-Dämon“ (nach Lapérouse 2003: Kat.-Nr. 15a).

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Auch in einem Berg von Scherben kann man ein Muster erkennen Mineralogische Analyse der Rohmaterialien, Verarbeitung und Brennbedingungen Halaf-zeitlicher Keramik aus dem nördlichen Mesopotamien Kirsten Drüppel / Karlsruhe 1. Einleitung Im Rahmen eines archäologisch-mineralogischen Gemeinschaftsprojekts in den Jahren 2014‒2018 wurden 74 Halaf-zeitliche Keramik-Scherben aus elf archäologischen Fundstätten untersucht. Diese umfassen Çavi Tarlası und Nevalı Çori in der Südost-Türkei, Tell Ḥalaf, Tell Harūbi, Mišrife, Ḫirbet Hağğ Badrān, ‘Ağila-Süd, Tell Ṭawīla, Tell Umm Qṣīr und Šams ed-Dīn in Nordost-Syrien sowie Yarimtepe II im Nord-Irak (Abb. 1).

Abb. 1

Geografische Lage der untersuchten Halaf-zeitlichen Fundstätten. Die nicht eingezeichneten Fundorte Tell Harūbi, Mišrife, Ḫirbet Hağğ Badrān und ‘Ağila-Süd liegen allesamt in der näheren Umgebung von Tell Ṭawīla in der Nordost-Türkei.

Petrographische Merkmale der Scherben wurden an polierten Anschliffen mittels Polarisations- und Rasterelektronenmikroskopie (REM) ermittelt, während die Zu© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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sammensetzungen der einzelnen Phasen mittels Elektronenstrahlmikrosonden-analytik (ESMA) bestimmt wurden. Der Phasenbestand der Scherben wurde mit Hilfe von Röntgenpulverdiffraktometrie (XRD) über Rietveld-Analytik berechnet. Die Klassifizierung der Scherben erfolgte auf Basis von (1) Gehalt, Typ und Verteilung der Zuschlagstoffe, (2) Farbe, Gefüge und Zusammensetzung der feinkörnigen Matrix und (3) Art der während des Brandes neu gebildeten Phasen. Durch die mineralogischen Untersuchungen sollte geklärt werden, welche Rohmaterialien für die Produktion der Keramik in den einzelnen archäologischen Fundstätten verwendet und auf welche Weise diese verarbeitet und gebrannt wurden. Ziel der Arbeit war es, Charakteristika Halaf-zeitlicher Keramik einzelner Fundorte zu bestimmen um mögliche Handelsbeziehungen zu rekonstruieren. 2. Geologischer Überblick Alle Fundorte liegen im Bereich der Arabischen Plattform. An der Erdoberfläche sind überwiegend kreidezeitliche und jüngere flachmarine Ablagerungen aufgeschlossen1. Zu etwa einem Drittel ist das Untersuchungsgebiet von vulkanosedimentären Abfolgen bedeckt. Die darin enthaltenen, überwiegend basaltischen Vulkanite weisen eine Altersspanne von 11-0 Ma auf2,3. Die jüngsten sedimentären Einheiten der Region sind quartäre alluviale Kies- und Sandterrassen, die sich entlang der Ufer der Flusssysteme Euphrat und Tigris und ihrer Zuflüsse erstrecken. Die untersuchten archäologischen Fundorte unterscheiden sich hinsichtlich ihrer geologischen Umgebungen. Çavi Tarlası liegt auf einer Hochterrasse des Euphrat in der Südost-Türkei. Nevalı Çori findet sich etwa 30 km flussabwärts im Uferbereich des Kantara, einem Zufluss des Euphrat. Sedimentäre Einheiten in der Umgebung beider Fundorte umfassen quartäre Flussablagerungen sowie miozäne Mergel, Kalksteine und Sandsteine. Während südlich von Nevalı Çori mächtige kreidezeitliche Abfolgen aufgeschlossen sind, findet sich in der unmittelbaren Nachbarschaft von Çavi Tarlası der basaltische Karaca Dağ-Vulkan. Šams ed-Dīn liegt am Flussufer des Euphrat in Nordost-Syrien. In der Umgebung finden sich Kalksteine, Mergel, Konglomerate, Sandsteine, kleinere Gipsvorkommen und Basalte. Tell Umm Qṣīr liegt am östlichen Ufer des Chabur, einem Zufluss des Euphrat, in Nordost-Syrien. Die geologische Umgebung von Tell Umm Qṣīr ähnelt stark der von Šams ed-Dīn, wobei miozäner Gips, Mergel und Kalkstein stärker vertreten sind. Tell Ḥalaf ist am Ufer des Djirjib gelegen, einem Zufluss des Chabur. In diesem Bereich dominieren miozäne Abfolgen, darunter Mergel, Kalksteine, Sandsteine und Dolomite sowie untergeordnet Gips. Zudem findet sich nahebei der basaltische Vulkan El Kbise. Die Fundstätten Tell Harūbi, Mišrife, Ḫirbet Hağğ Badrān, ‘Ağila-Süd, Tell Ṭawīla liegen allesamt in der Umgebung des Wadi al-Hamar, etwa 50 km westlich von Tell Halaf. Pliozäne Sedimentabfolgen umfassen im Fall von Hağğ Badrān, ‘Ağila-Süd und Tell Ṭawīla tonig-siltige Mergel,

1

Okay 2008. Pearce et al. 1990. 3 Yilmaz et al. 1998. 2

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Sandsteine, Tone und Kiese während um Tell Harūbi und Mišrife überwiegend Sandsteine, Kiese, Konglomerate und Kalksteine auftreten. Der Fundort Yarimtepe II liegt innerhalb des Sinjar-Tals, etwa 7 km südwestlich von Tal Afar im Nord-Irak. Die Ablagerungen sind hier vor allem Kalkstein, Gips und Anhydrit, die in pliozäne Tonsteine, Sandsteine und Konglomerate übergehen. 3. Ergebnisse 3.1 Rohmaterialien Der Phasenbestand (Tabellen 1‒3) und das Gefüge der Scherben (Abb. 2, 3) der unterschiedlichen Ausgrabungsstätten legen ein einheitliches Rezept und vergleichbares Vorgehen bei der Herstellung der Keramik nahe. Die mineralischen Zuschlagstoffe im mergeligen Bindemittel umfassen überwiegend Quarz-, Plagioklas- und Kalifeldspat-Sande und Kalkstein-Bruchstücke in variablen Anteilen (Abb. 3).

Abb. 2

Farben der Oberflächen und Querschnitte von Keramikfragmenten der verschieden Fundorte in der Südosttürkei (a–c), Nordost-Syrien (d–l) und dem Nord-Irak (m–o)

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Organische Zuschlagstoffe, wie z. B. Pflanzenfasern zur Verbesserung der plastischen Eigenschaften des Tons sind, mit Ausnahme der Grobkeramik, vergleichsweise selten. Die Anteile der Nebengemengeteile variieren dagegen stark in Abhängigkeit von den lokal verfügbaren lithologischen Einheiten und belegen damit eine lokale Produktion der Keramiken.

Abb. 3

Mikrofotographien (Polarisationsmikroskop) von Dünnschliffen repräsentativer Keramikscherben der verschiedenen Fundorte (Bildbreite = 1,2 mm). (a) Grobe, mit Plagioklas-reichem Basalt und Kalkstein gemagerte Keramik aus Çavi Tarlası (ÇT 53). (b) Mit Basalt (Olivin, Ilmenit, Plagioklas) und Kalkstein (Calcit) gemagerte Feinkeramik aus Tell Ḥalaf (TH 9). (c) Mit Muschelschalenfragmenten und Kalkstein gemagerte Feinkeramik aus Hağğ Badrān (HB 15/321). (d) Helle, mit Kalkstein und Plagioklas gemagerte Feinkeramik aus ‘Ağila-Süd (AS 5-154). (Cal = Calcit, Hbl = Hornblende, Hm = Hämatit, Ilm = Ilmenit, Ol = Olivin, Pl = Plagioklas, Qz = Quarz).

Scherben aus Çavi Tarlası, welches nahe dem Karaca Dağ-Vulkan und im Bereich von Kalksteinvorkommen in der Südost-Türkei liegt, enthalten verstärkt feine Kalkstein- und Basalt-Fragmente (Abb. 2a, 3a). Basaltischer Olivin und Fe-Ti-Oxide finden sich auch in Feinkeramik-Scherben des flussabwärts gelegenen Nevalı Çori. Diese enthalten jedoch, im Gegensatz zu Feinkeramik aller anderen Fundorte, auffällig große Biotit- und Hornblende-Kristalle, die bereits makroskopisch als schwarze Einschlüsse zu erkennen sind (Abb. 2c). Die meisten Scherben aus Tell Umm Qṣīr in Nordost-Syrien sind durch hohe Gehalte an Kalifeldspat und Muscovit gekennzeichnet. Zudem kann Gips enthalten © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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sein, der vermutlich aus den nahe gelegenen Gipsvorkommen stammt. Auffällig sind die hohen Anteile an stark zerkleinerten Keramikfragmenten (Magerung). Scherben aus Šams ed-Dīn sind durch hohe Gehalte an Basaltbruchstücken charakterisiert. Proben aus Tell Ḥalaf enthalten häufig Mineralbruchstücke von Olivin, Plagioklas und Fe-Ti-Oxiden (Abb. 3b), die ihren Ursprung vermutlich ebenfalls in nahe gelegenen Basaltvorkommen haben. Scherben aus den archäologischen Fundstätten Tell Harūbi, Mišrife, Hağğ Badrān und Tell Ṭawīla ähneln sich stark in der Zusammensetzung ihrer Magerung. Scherben aus Hağğ Badrān enthalten jedoch etwas mehr Hornblende und Hämatit als die Keramikfragmente der anderen Fundorte sowie Muschelschalenbruchstücke (Abb. 3c). Bei Tell Ṭawīla sind erhöhte Gipsgehalte in den Scherben zu verzeichnen. Scherben aus ‘Ağila-Süd enthalten wenig Quarz und zudem keinen fein verteilten Hämatit, was ihre hellbeige bis braungraue Farbe begründet (Abb. 3d). Auffällig ist der hohe Anteil an millimetergroßen weißlichen Mineral- und Gesteinsfragmenten (Plagioklas und Kalkstein). Scherben aus Yarimtepe II im Nord-Irak sind vergleichsweise homogen und sehr feinkörnig ausgebildet. Sie enthalten vermehrt Muscovit und Kalifeldspat. Die homogene Verteilung sowohl der Magerung als auch der feinen, rundlichen Poren in Feinkeramik-Scherben aller Fundorte belegt eine gewisse Sorgfalt bei der Verarbeitung der Rohstoffe. Die Dominanz kantiger Kornumrisse bei der feineren Kornfraktion der Feinkeramik legt nahe, dass zu grobe Partikel zerkleinert wurden. Grobkeramik der verschiedenen Fundstätten unterscheidet sich von der Feinkeramik durch höhere Anteile an gröberen Bruchstücken von Quarz, Kalkstein, Basalt oder organischen Fasern (Sand- und Stroh-Magerung) und eine deutlich höhere Porosität. 3.2 Brennbedingungen 3.2.1 Brandatmosphäre Bereits makroskopisch weisen die Scherben der verschiedenen Fundorte z.T. deutlich unterschiedliche Farben bzw. Farbverläufe auf (Abb. 2, 3), die Rückschlüsse auf ihre Brennbedingungen zulassen. Rote und rotbraune Farben deuten hierbei auf oxidierende Brennbedingungen hin, während sich grünliche Farbtöne in einer reduzierenden Brandatmosphäre entwickeln4. Scherben aus Çavi Tarlası zeigen im Querschnitt häufig eine Farbzonierung, mit blassgrünen Kernbereichen und schmalen rötlichbraunen Randzonen, die eine Oxidation der oberflächennahen Eisenphasen während der Abkühlung der Scherben nach dem Brand belegt. Auch umgekehrte Farbverläufe treten auf (Abb. 2a). Die graue Grobkeramik aus Çavi Tarlası enthält größere weiße und schwarze Gesteinsklasten sowie längliche Poren (Stroh-Magerung; Abb. 2b). Scherben aus dem nahe gelegenen Nevalı Çori unterscheiden sich farblich deutlich von denen aus Çavi Tarlası. Auch die Feinkeramik ist hier homogen grau, mit gleichmäßig verteilten, rundlichen Poren und schwarzen Mineral-Einschlüssen (Abb. 2c). Scherben aus Tell Ḥalaf, Tell Ṭawīla, Harūbī und Mišrife sind sehr feinkörnig ausgebildet, mit fein verteilten, rundlichen Poren. Häufig finden sich Scherben mit 4

Z. B. Maritan et al. 2005. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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grünlichem Kern und rötlichen Randzonen (Abb. 2e, f, g). Ein Teil der Keramik aus Tell Ḥalaf ist homogen rot und belegt oxidierende Brennbedingungen (Abb. 2d). Dies gilt ebenfalls für die einheitlich roten Scherben aus Hağğ Badrān (Abb. 2h). Ungewöhnlich ist die graue Farbe der Scherbenfragmente aus ‘Ağila-Süd (Abb. 2i) und einer Scherbe aus Tell Harūbī, die eventuell auf geringe Hämatit-Gehalte zurückzuführen ist. Scherben aus Tell Ṭawīla sind sehr feinkörnig und meist homogen rot oder beige (Abb. 2j). Feinkeramik-Scherben aus Tell Umm Qṣīr enthalten winzige weiße und schwarze Mineralbruchstücke sowie fein verteilte, parallel orientierte Poren (Abb. 2k). Eine Farbzonierung der Scherben ist häufig, meist mit grünlichen Kern- und rötlichen Randzonen. Die Grobkeramik-Scherben sind dagegen grau gefärbt und enthalten größere dunkelgraue und weiße Klasten sowie Poren von bis zu 2 mm Länge (Stroh-Magerung). In Scherben aus Šams ed-Dīn sind eckige Mineralaggregate und längliche Poren subparallel zu den Scherbenwandungen angeordnet. Häufig ist eine Farbzonierung der Scherben mit grünlichen Kern- und rötlichen Randbereichen zu beobachten, teilweise finden sich auch homogen rote Scherben (Abb. 2l). Die Grobkeramik-Scherben enthalten gerundete Aggregate von bis zu 5 mm im Durchmesser, die eine Beimischung unzerkleinerter Flusssedimente nahelegen. Feinkeramik-Scherben aus Yarimtepe II im Nordirak enthalten zahlreiche fein verteilte, rundliche Poren. Die meisten Scherbenfragmente sind im Querschnitt homogen hellrot (Abb. 2m) oder schwach farbzoniert, mit grünlichen Kernbereichen (Abb. 2n). Stroh-getemperte keramische Grobware ist dunkelgrau und enthält weiße Gesteinsklasten von bis zu 0,5 mm im Durchmesser und längliche Poren (Abb. 2o). 3.2.2 Brenntemperaturen Die Brenntemperaturen der Keramik lassen sich anhand von in den Dünnschliffen beobachteten Reaktionstexturen sowie der während des Brandes neu gebildeten Kristallite abschätzen. Calcit-Bruchstücke in den Scherben sind i. A. zersetzt und von Hohlräumen umgeben (Abb. 4a). Das Gefüge belegt, dass der Calcit während des Brandes bei Temperaturen von etwa 700°C unter Volumenabnahme zu CaO zersetzt wurde. Mikrokristallite, die sich während dem Brand der Kalzium-reichen Keramik in der Matrix neu gebildet haben, umfassen Gehlenit, Fassait, Anorthit und Wollastonit. Diese Minerale sind exzellente Temperaturindikatoren, da sie in natürlichen Gesteinen selten auftreten und nur in eng begrenzten Temperaturintervallen stabil sind. Gehlenit konnte mittels XRD in den meisten Scherben aller Lokalitäten nachgewiesen werden, mit Ausnahme der Keramikfragmente aus Nevalı Çori und ‘Ağila-Süd. Am häufigsten tritt Gehlenit in den Feinkeramik-Fragmenten aus Tell Ḥalaf, Tell Ṭawīla, Tell Umm Qṣīr (Abb. 4b), Šams ed-Dīn und Yarimtepe II auf. In Grobkeramik-Scherben ist Gehlenit entweder akzessorisch vertreten oder nicht vorhanden. Das Calcium-Silikat bildet sich während des Brandes auf Kosten von Calcit und Schichtsilikaten (wie z. B. Hellglimmer und Illit) bei Temperaturen von

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ca. 800‒850° und ist bis zu Temperaturen von etwa 1050°C stabil5,6,7. Eine negative Korrelation der Gehlenit- und Calcit-Gehalte ist in vielen der untersuchten Scherben nachvollziehbar. Ab ca. 950°C reagiert der Gehlenit mit Quarz und Schmelze unter Bildung von Anorthit. Zusätzlich kann sich Anorthit bereits bei ca. 850°C auf Kosten von Muscovit und Calcit bilden8. Anorthit-Mikrokristalle wurden elektronenmikroskopisch nur in wenigen Scherben identifiziert (Abb. 4c), könnten allerdings aufgrund ihrer geringen Korngröße in einigen Scherben übersehen worden sein. Mittels XRD ist es nicht möglich, zwischen dem Plagioklas der Zuschlagstoffe und neu gebildetem Anorthit zu unterscheiden. Fassait ist eine Hochtemperaturphase karbonathaltiger Keramik. Der Al-reiche Klinopyroxen bildet sich auf Kosten der in der keramischen Rohmasse enthaltenen Schichtsilikate (wie z. B. Muscovit, Illit oder Chlorit) und Calcit bei Temperaturen von ca. 800‒850°C9. Mittels XRD ist es nicht möglich, zwischen Klinopyroxen der Zuschlagstoffe und neu gebildetem Fassait zu unterscheiden. Fassait wurde jedoch mittels REM und ESMA als Mikrokristallite in nahezu allen Klinopyroxen-reichen Scherben identifiziert (Abb. 4c, d). Die höchsten Gehalte an Fassait finden sich in Keramikfragmenten aus Tell Ḥalaf und Yarimtepe II. Bei Temperaturen von > 850°C reagieren noch vorhandener Quarz und Calcit unter Bildung von Wollastonit10. Wollastonit wurde nur in einer Scherbe aus Šams ed-Dīn und zwei Scherben aus Tell Ḥalaf gefunden, wo er in Reaktionssäumen um reliktischen Calcit vorkommt. Generell nimmt der Gehalt an amorpher Phase mit steigender Brenntemperatur ab, während zugleich Gehlenit, Fassait, Wollastonit und Anorthit kristallisieren. Der Anteil an amorpher Substanz ist in allen untersuchten Scherben hoch. Auch die Erhaltung von Muscovit und Illit in vielen der Scherben (Abb. 4b, c, d) belegt, dass die Brenntemperaturen nicht wesentlich höher als 1000°C gelegen haben können.

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Cultrone et al. 2001. Maritan et al. 2005. 7 Rathossi / Pontikes 2010. 8 Rathossi / Pontikes 2010. 9 Rathossi / Pontikes 2010. 10 Rathossi / Pontikes 2010. 6

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Abb. 4

Rückstreuelektronenbilder (REM) von repräsentativen Scherben der verschiedenen Fundorte. (a) Hohlräume um Calcitfragmente in Feinware aus Çavi Tarlası (ÇT 16), (b) Neu gebildeter Gehlenit in Säumen um Calcit in Feinkeramik aus Tell Umm Qṣīr (UQ 2), (c) Neu gebildeter Anorthit und Fassait in Feinware aus Tell Ḥalaf (TH 4), (d) FassaitMikrokristalle in Feinware aus ‘Ağila-Süd (AS 5-307), (e) Quarz-, Kalkstein- und Kalifeldspat-gemagerte Grobware aus Çavi Tarlası (ÇT 53), (f) Strohmagerung (längliche Porenräume) der Grobware aus Yarimtepe II (YT 23). (Ab = Albit, An = Anorthit, Cal = Calcit, Chl = Chlorit, Cpx = Klinopyroxen, Fa = Fassait, Gh = Gehlenit, Hm = Hämatit, Ilm = Ilmenit, Ilt = Illit, Kfs = K-Feldspat, Ms = Muscovit, Qz = Quarz). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Auch in einem Berg von Scherben kann man ein Muster erkennen

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Zusammenfassend lassen sich die folgenden Brenntemperaturen für die verschiedenen Fundorte ableiten. In Feinkeramik-Bruchstücken aus Çavi Tarlası, Tell Ḥalaf, Tell Harūbi, Mišrife, Ḫirbet Hağğ Badrān, Tell Ṭawīla, Tell Umm Qṣīr, Šams edDīn und Yarimtepe II wurden neu gebildete Mikrokristallite von Fassait und Gehlenit identifiziert, die Brenntemperaturen von ≥ 850°Canzeigen. Mit Ausnahme der Scherben aus Yarimtepe II sind diese Proben zugleich durch niedrige Gehalte an den originalen Schlichtsilikaten (Tonminerale und Glimmer) charakterisiert. Gehlenit konnte in den Scherben aus Nevalı Çori sowie einzelnen Keramikfragmenten anderer Fundorte nicht identifiziert werden. Da viele dieser Scherben noch hohe Gehalte an Calcit und den Schichsilikaten (Illit/Muscovit) aufweisen, ist anzunehmen, dass diese unter etwas niedrigeren Temperaturen gebrannt wurden. Eine Scherbe aus ‘Ağila-Süd enthält keinen Gehlenit, zeigt dafür aber hohe Fassait- und zugleich niedrige Calcit-Gehalte. Diese Keramik hat vermutlich höhere Brenntemperaturen von > 900°C erfahren, da unter diesen Bedingungen vermehrt Fassait kristallisiert, während die Anteile an Gehlenit und Calcit abnehmen. Die höchsten Gehalte an Gehlenit und Fassait weisen Scherben aus Yarimtepe II und Tell Ḥalaf auf und belegen damit noch höhere Brenntemperaturen von ≥ 950°C. Die meisten Proben der Grobkeramik aus Çavi Tarlası (Abb. 4e), Nevalı Çori, Yarimtepe II (Abb. 4f), Tell Umm Qṣīr und Šams ed-Dīn enthalten weder Fassait noch Gehlenit, zeigen jedoch zersetzten Calcit/Kalkstein und implizieren so deutlich niedrigere Brenntemperaturen zwischen 700°C und 800–850°C. Insgesamt lassen die Variationen im Gefüge und Phasenbestand sowie der Brenntemperaturen von Fein- und Grobkeramik unterschiedlicher Ausgrabungsstätten auf eine lokale Produktion schließen, die jedoch deutlichen Schwankungen hinsichtlich der Sorgfalt in der Aufbereitung der Rohstoffe sowie der Brennbedingungen unterlag.

Bibliografie Cultrone et al. 2001 Giuseppe Cultrone / Carlos Rodriguez-Navarro / Eduardo Sebastián / Olga Cazalla / Maria Jose De La Torre, Carbonate and Silicate Phase Reactions During Ceramic Firing, in: European Journal of Mineralogy 13, 621‒634. Maritan et al. 2005 Lara Maritan / Claudio Mazzoli / Veronica Michielin / Daniele Morandi / Marta Luciani / Gianmario Molin, Provenance and Production Technology of Bronze Age and Iron Age Pottery from Tell Mishrifeh / Qatna (Syria), in: Archaeometry 47, 723‒744. Okay 2008 Aral I. Okay, Geology of Turkey: A Synopsis, in: Anschnitt 21, 19‒42. Pearce et al. 1990 Julian Pearce / John F. Bender / Stephen E. De Long / William S.F. Kidd / P.J. Low / Yusuf Güner / Fuat Şaroğlu / Yücel Yilmaz / Stephen Moorbath / John G. Mitchell, Genesis of

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Kirsten Drüppel

Collision Volcanism in Eastern Anatolia, Turkey, in: Journal of Volcanology and Geothermal Research 44, 189‒229. Rathossi / Pontikes 2010. Christina Rathossi / Yiannis Pontikes, Effect of Firing Temperature and Atmosphere on Ceramics Made of NW Peloponnese Clay Sediments. Part I: Reaction Paths, Crystalline Phases, Microstructure and Colour, in: Journal of the European Ceramic Society 30, 1841– 1851. Yilmaz et al. 1998 Yücel Yilmaz / Yusuf Güner / Fuat Şaroğlu, Geology of the Quaternary Volcanic Centres of the East Anatolia, in: Journal of Volcanology and Geothermal Research 85, 173‒210.

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Tabelle 1

Mineralogische Zusammensetzung von Halaf-zeitlichen Scherben aus Fundorten in der Südost-Türkei. Phasengehalte bestimmt mittels Rietveld-Analytik an Röntgenbeugungsdiagrammen (Mineral-Abkürzungen: Anl = Analcim, Bt = Biotit, Cal = Calcit, Chl = Chlorit, Cpx = Klinopyroxen, Dol = Dolomit, Gh = Gehlenit, Gp = Gips, Hbl = Hornblende, Hm = Hämatit, Ilm = Ilmenit, Ilt = Illit, Kfs = K-Feldspat, Mag = Magnetit, Ms = Muscovit, Pl = Plagioklas, Qz = Quarz, Spl = Spinell).

Auch in einem Berg von Scherben kann man ein Muster erkennen Tabellen

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Tabelle 2a

Mineralogische Zusammensetzung von Halaf-zeitlichen Scherben aus Fundorten in Nordost-Syrien. Phasengehalte bestimmt mittels Rietveld-Analytik an Röntgenbeugungsdiagrammen (Mineral-Abkürzungen wie Tabelle 1).

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Tabelle 2b

Mineralogische Zusammensetzung von Halaf-zeitlichen Scherben aus Fundorten in Nordost-Syrien. Phasengehalte bestimmt mittels Rietveld-Analytik an Röntgenbeugungsdiagrammen (Mineral-Abkürzungen wie Tabelle 1).

Auch in einem Berg von Scherben kann man ein Muster erkennen

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Tabelle 3 Mineralogische Zusammensetzung von Halaf-zeitlichen Scherben aus Fundorten im Nord-Irak. Phasengehalte bestimmt mittels Rietveld-Analytik an Röntgenbeugungsdiagrammen (Mineral-Abkürzungen wie Tabelle 1).

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Die kerngeformten Glasgefäße aus Gräbern in Assur1 Helen Gries / Berlin – Katharina Schmidt / Amman Einleitung Der folgende Beitrag widmet sich den kerngeformten Glasgefäßen der mittelassyrischen Zeit aus Gräbern in Assur. Auch wenn diese nur einen kleinen Teil der Objektgruppe ausmachen – der weitaus größere Teil stammt aus anderen Kontexten, vorrangig aus dem Ischtar-Tempel in Assur –,2 beschränken wir uns hier auf die Gefäße aus Grabkontexten, da diese weitreichendere kulturhistorische Schlussfolgerungen zulassen.3 Neben technologischen Aspekten steht die Frage nach dem Wert dieser Gefäße im diachronen Vergleich im Vordergrund. Erstmals publiziert wurden die kerngeformten Glasgefäße in Hallers (1954) umfangreicher Arbeit zu den Gräbern in Assur. Ferner legte Barag (1970) sechs Gefäße dieser Gruppe in Oppenheims grundlegender Publikation “Glass and Glassmaking in Mesopotamia” (1970) vor. Die Gräber der mittelassyrischen Zeit aus Assur sind unlängst von Pedde (2012) neubearbeitet und vollständig vorgelegt worden. Diese Arbeit bietet nun eine solide Grundlage für weiterführende Untersuchungen. Frühes Glas und die Technik des Kernformens Vom Menschen intentionell hergestelltes Glas taucht erstmals im 15. Jh. v. Chr. auf. In dieser Zeit wird Glas aus Quarzkieseln und einem Flussmittel – aus Asche von Wüsten- oder Küstenpflanzen – hergestellt, die auf über 1000 °C erhitzt werden, sodass sie miteinander verschmelzen.4 Primäre Produktionsstätten von Glas – d. h. Stätten der Herstellung von Rohglas – sind in dieser Zeit selten im archäologischen Kontext nachzuweisen. In der Mitte des 14. Jhs. v. Chr. sind zwei aus Ägypten bekannt (Amarna und Malkata),5 im Zweistromland hingegen sind bisher keine Produktionszentren einwandfrei belegt, obwohl man allgemein davon ausgeht, dass hier Glas in mehreren Werkstätten hergestellt wurde.6 Die in diesem Beitrag behandelten Glasgefäße aus Assur zählen zu den frühesten intentionell gefertigten Gefäßen. Sie wurden mit der Technik des Kernformens hergestellt. Kerngeformte Glasgefäße treten erstmals um 1500 v. Chr. auf und sind bis 1

Unser Interesse an Glas und glasierten Objekten, geht auf die gemeinsamen Erfahrungen am Tell Halaf zurück und die Begeisterung für die dort gefunden glasierten Gefäße (Sievertsen 2012). Unser besonderer Dank gilt Lutz Martin für die lehrreichen und prägenden Grabungskampagnen am Tell Halaf. Es ist uns deshalb eine große Freude, ihm diesen Beitrag zu widmen. 2 Schmitt 2012: Kat.-Nr. 1129+1267, 1151, 1271, 1273, 1274, 1276, 1277, 1713–1715. 3 Eine umfängliche Untersuchung zu allen kerngeformten Glasgefäßen aus Assur des 2. Jts. ist in Vorbereitung (Gries / Schmidt in Vorber.). 4 Turner 1956. 5 Nicholson 2007; Pusch / Rehren 2007. 6 Shortland 2012; Walton et al. 2012; Shortland et al. 2017. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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zum Aufkommen des Glasblasens (ca. 50 v. Chr.) eine der häufigsten Herstellungstechniken. Zu den ältesten bekannten kerngeformten Glasgefäßen in Mesopotamien zählen neben Stücken aus Assur jene aus Nuzi, Alalach, Tell al-Rimah und Tell Brak (s. u.). Das Prinzip des Kernformens beruht auf der Ummantelung eines Kerns mit Glas. Der geformte Kern aus Ton, Sand und einem organischen Bindemittel bestimmte dabei die spätere Form des Glasgefäßes und wurde nach dem Zusammenschmelzen und Abkühlen des Glases entfernt.7 Zunächst wurde der Kern auf einer Stange – die aus Metall gefertigt war – befestigt. Das Grundglas wurde dann entweder in viskosem Zustand durch Umwickeln8, in flüssigem Zustand durch Tauchen9 oder in kaltem Zustand durch die Aufnahme von Glaspulver, das dann durch Erhitzen zu einem Glasmantel geschmolzen wurde, umgeben.10 Dieses Basisglas stellte dabei die Glasschicht dar, die direkt auf dem Kern auflag und die Grundfarbe des späteren Glasgefäßes bildete. Charakteristisch für alle kerngeformten Glasgefäße ist deren polychromer Farbaufbau, der durch das Auftragen von kontrastfarbigem Glas auf das Basisglas erreicht wurde und zu unterschiedlichen Mustern gezogen werden konnte. Diese Dekorelemente wurden immer durch das Erhitzen eines vorfabrizierten ein- oder mehrfarbigen Glasstabes erzielt, die um das Grundglas gewunden und dann zu verschiedenen Mustern gezogen wurden. Punkt-, und Augendekore wurden durch Tupfen von heißem Glas auf das Grundglas erzielt. Voraussetzung für diesen Vorgang war das sog. Heißarbeiten, d.h., dass sowohl das Grundglas als auch das Dekorglas nur unter Hitzeeinwirkung bei über 500 °C homogen aneinandergefügt werden konnte. Ferner war die Abstimmung des Wärmeausdehnungsverhaltens von Grundglas und Dekorglas aufeinander, die durch die chemische Zusammensetzung der unterschiedlichen Gläser gesteuert werden konnte, für die erfolgreiche Herstellung eines kerngeformten Glasgefäßes entscheidend. Wichen diese zu stark voneinander ab, drohte das Zerspringen des Glases oder das Abplatzen von Dekorelementen.11 Dies zeigt, dass die Herstellung der frühen kerngeformten Gefäße umfangreiches technisches Wissen sowie eine geschulte handwerkliche Praxis voraussetzte. Nach dem Auftragen des Dekors konnte eine Glättung der Gefäßoberfläche durch Erhitzen, durch die Bearbeitung mit einem flachen Werkzeug oder durch hin und her rollen des Glasgefäßes auf einem Märbelstein erzielt werden.12 Ränder, Böden und Henkel wurden danach ebenfalls in Heißarbeit an das Grundglas angeschmolzen und/oder mit einer Zange geformt. Häufig sind einfache oder tordierte 7

Zu Herstellungsexperimenten von Kernen siehe Grose 1989: 31; Gudenrath 1991: 214; Giberson 2004, zusammenfassend zur Herstellungstechnik von kerngeformten Gefäßen und dem Aufbau des Kerns siehe Schmidt 2019: 83–85. 8 Zu dieser Technik siehe ausführlich Cummings 1997: 29; Grose 1989: 31; Stern / SchlickNolte 1994: 40. 9 Gudenrath 1991: 214. 10 Cummings 1997: 29; Giberson 2004. 11 Stern / Schlick-Nolte 1994: 32. 12 Dieser Vorgang wird im Englischen mit dem Verb “marvering” bezeichnet und findet im Deutschen keine direkte Übersetzung. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Glasfäden um Rand- und Bodenabschluss gelegt.13 Nach Beendigung der Heißarbeit wurde das Glasgefäß zusammen mit dem Kern langsam abgekühlt. Der Kern konnte erst in kaltem Zustand herausgekratzt werden, sodass auf der Innenseite des Gefäßes eine charakteristische raue, oft mit Sandkörnern versehene Oberfläche zurückblieb. Katalog der kerngeformten Glasgefäße aus Assur Die in diesem Beitrag behandelten Glasgefäße umfassen sieben Flaschen und einen Becher. Die Flaschen lassen sich dabei anhand der charakteristischen Böden in „Flasche mit abgerundetem oder spitzem Boden“, „Flasche mit Knopfboden“ und „Flasche mit Noppenboden“ unterteilen. Bei dem Becher handelt sich um ein offenes Gefäß mit drei applizierten Standfüßen. Zwar sind Becher mit Knopfboden aus Glas belegt, ein Becher mit Standfüßen, der in seiner Ausformung Beispielen aus Quarzkeramik, folgt ist bis auf das aufgeführte Stück bislang unbekannt.14 Die Glasgefäße aus Assur zeichnen sich durch vielfältige Dekorvariationen aus, wie Fadenverzierungen aus einfachen oder tordierten Fäden, Girlanden-, Feder- und Mäanderdekor, Guillocheverzierung sowie Punktapplikationen. Dabei treten die einzelnen Dekorelemente ausschließlich in Kombination auf. Flaschen Flasche mit abgerundetem oder spitzem Boden Fl1 – VA 05910 – Ass 13707 g – Abb. 1 Maße: H. 17,4 cm (bei Barag 1970 im Original); Dm. max. 7,4 cm; Dm. Hals max. 3,7 cm Fundort: e C 7 III, „östlich Nebotempel-Hauptfront im Südhof“, Ziegelgruft, Gruft 37 Beschreibung: Ovale Flasche mit sich nach unten hin stark verjüngender Wandung, abgerundeter Boden (dieser ist falsch als Knopfboden rekonstruiert),15 langer breiter Hals, unterhalb des Randes leicht eingezogen, gerundeter Rand; Gefäß zur Hälfte im unteren Teil ergänzt; stark grau korrodierte Grundfarbe, bräunlich mit weißem Fadendekor, bläuliche Irisierung. Rand mit Auflage eines weiß-grau korrodierten, tordierten Fadens. Hals mit zu Girlanden gezogenem Fadendekor, dieser geht im Schulterbereich in einen Federdekor über, der den gesamten Bauchbereich bedeckt. Die Ritzlinien des Federdekors bilden eine kannelierte Oberfläche. Lit.: Haller 1954: 115. Taf. 24b; Barag 1970: 143–144, Abb. 19; Pedde 2015: 71–72, Nr. 1010, Taf. 14. Vgl.: Sowohl in der Form als auch dem Dekor entspricht das Gefäß einer Flasche aus Alalach (Barag 1970: Abb. 38). Einzig der Gefäßköper ist stärker geglättet worden, sodass die Oberfläche nicht kanneliert ist. Ein weiteres Fragment aus Assur (Ass 19956 a/VA 17406) weist einen ähnlichen Dekor auf (siehe Schmitt 2012: 234, Kat.-Nr. 1713, Taf. 281 [Sammelfoto]). 13

Gudenrath 1991: 215. Für einen Glasbecher mit Standfuß aus Tell al-Rimah vgl. Oates 1967a: Taf. 35c. Für Beispiele zu ähnlichen Gefäßen aus Quarzkeramik vgl. Wicke 2008: 196–198. 15 Die Beschreibung folgt dem originalen Zustand, der auf einem Grabungsfoto dokumentiert ist. Dieses zeigt ein komplettes Gefäß. Die Flasche muss vollständig gefunden worden sein, ist wohl erst später zerbrochen und dann fehlerhaft restauriert worden. 14

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Die stark kannelierte Oberfläche findet Parallelen in Tell Brak (Oates / Oates / McDonald 1997: 237, 6). Fl2 – VA 05912 – Ass 13707 f – Abb. 2 Maße: Dm. max. 8,5 cm; H. erh. 12,5 cm; Dm. Hals 4,5 cm; Wandung 0,4 cm Fundort: e C 7 III, „östlich Nebotempel-Hauptfront im Südhof“, Ziegelgruft, Gruft 37 Beschreibung: Ovale Flasche, sich stark nach unten verjüngend, spitzrunder Boden, langer, breiter Hals sich zum Rand hin verjüngend; rundes Loch unterhalb des Randes;16 Gefäß zerbrochen jedoch vollständig rekonstruierbar (vgl. Foto Barag 1970: Abb. 21, Haller 1954: Taf. 24 c); transluzent, dunkelblaue Grundfarbe, weiß-gelb-orangener Fadendekor; Rand mit tordierter Fadenauflage; Hals mit nach unten gezogenem gelb-weißem Girlandendekor, gelbbeige korrodierter, tordierter Faden auf Schulter trennt Hals- und Bauchbereich; im oberen und zentralen Bauchbereich weiß-gelb-orangener Mäanderdekor, im unteren Bauchbereich nach unten gezogener Girlandendekor. Lit.: Haller 1954: 114–115, Taf. 24c; Barag 1970: 144, Fig. 21; Pedde 2015: 71–72, Nr. 10-9, Taf. 14 Vgl.: Vergleichbare Flaschen mit abgerundetem Boden und breitem Hals finden sich in Alalach (Barag 1970: Abb. 38) und auch in Assur (Ass 19956 a/VA 17406). Eine gut mit Fl2 vergleichbare kerngeformte, nach unten spitz zulaufende Flasche aus Tell Brak weist ebenfalls breite Girlanden auf den Schultern und weite Mäander auf dem Bauchbereich auf, auch die Farbkombination (weiß-gelb auf blau) stimmt überein (Oates / Oates / McDonald 1997: 237, 1, 6). Aus Tell al-Rimah ist ebenfalls eine vergleichbare Flasche aus einem Grabkontext bekannt (Oates 1967b: Taf. 37e). Flasche mit Knopfboden Fl5 – VA 05699 – Ass 14331 b – Abb. 3 Maße: Dm. 7,5 cm; H. 23,2 cm; Dm. Rand 4,4 cm; Dm. Knopfboden 2,2 cm Fundort: c C 8 I, „Mitte, Ostkante, 90 cm unter Hügeloberfläche“, Grab 133 Beschreibung: Ovale Flasche mit Knopfboden, langer, gerader, breiter Hals; fast vollständig erhalten, stellenweise ergänzt; opak weiße Grundfarbe, stellenweise gelblich korrodiert, opak/transluzent dunkelblau-rötlichbraun-weiße Dekorfäden und Punktdekor; Rand mit dunkelblauer Fadenauflage; am oberen und unteren Abschluss des Halses je ein Mäanderband, mittig des Halses zwei sich zu einem Guillocheband kreuzende, dreifarbige tordierte Fäden, diese von dunkelblauen Punkten umgeben; dreifarbig tordierter Faden auf Schulter, darunter Girlandendekor; im zentralen Bauchbereich dreifarbig tordierte Fadenauflage zu Guillocheband gelegt mit Punktdekor; unterer Bauchbereich dreifarbiger tordierter Faden und dreifarbiger Mäanderdekor; Gefäßoden mit breiten senkrecht aufliegenden Glasfäden, Knopfboden mit dreifarbig tordierter Fadenauflage; gut geglättete Oberfläche. Lit.: Haller 1954: 18, Grab 133, Taf. 11f; Barag 1970: 144, Nr. 5, Abb. 22; Wartke 1995: 107, Kat.-Nr. 69; Evans 2008: 422, Kat.-Nr. 274; Pedde 2015: 85–86, Nr. 69, Taf. 47.

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Auf dem Grabungsfoto ist das Loch deutlich zu erkennen (Haller 1954: Taf. 24 c). Dies kann heute nicht mehr am Original überprüft werden, da der Rand in diesem Bereich beschädigt ist. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Die kerngeformten Glasgefäße aus Gräbern in Assur

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Vgl.: Eine direkte Parallele für das aufwendig verzierte Gefäß findet sich lediglich in Assur (VA 17417). Ebenfalls mit Guillochebändern verziert ist Fl6 (VA Ass 03659/ Ass 19037 a), jedoch weist dieses keinen Girlandendekor auf. Fl3 – VA 05911 – Ass 13707 h – Abb. 4 Maße: Dm. max. 8,1 cm; H. max. erh. 10,9 cm; Dm. Wandung 0,6 cm Fundort: e C 7 III, „östlich Nebotempel-Hauptfront im Südhof“, Ziegelgruft, Gruft 37 Beschreibung: Ovale Flasche, sich stark nach unten verjüngend, Knopfboden, langer, breiter, gerader Hals, heute lediglich Gefäßkörper erhalten, beim Auffinden war die gesamte Flasche intakt (vgl. dazu Barag 1970: Abb. 20), rundes Loch unterhalb des Randes; grünlich korrodierte Grundfarbe, vormals transluzent blau; korrodierter, vormals zweifarbig tordierter Fadendekor; unregelmäßige, zweifarbig korrodierte Ovale; auf Halsbereich Ovale, die eng aneinander in vier Reihen angeordnet sind, weiße Fadenauflage auf Schulter, im Bauchbereich mittig weiße horizontale Fadenauflage, darüber und darunter Ovale, in unregelmäßigen Reihen angeordnet. Lit.: Haller 1954: 114–115, Taf. 24d; Barag 1970: 144, Abb. 20; Stern / Schlick-Nolte 1994: 28–29, Abb. 7; Pedde 2015: 71–72, Nr. 10-11, Taf. 15. Vgl.: Eine entsprechende Flasche mit fast ausschließlich gepunktetem Dekor auf dem Bauchbereich findet sich als Vergleich nicht, auch wenn Punktdekorationen häufig auf den Gefäßen aus Assur zu beobachten sind. Ein vergleichbarer Punktdekor findet sich beispielsweise auf Fl5 und Fl6; dort sind die Punkte mit Guillochebändern kombiniert. Ebenfalls mit einfarbigen Punkten dekoriert, ist eine Schale aus Nuzi (Barag 1970: 138, Abb. 3). Eine Parallele zu Fl3 und Fl4 stellen die Gefäße aus Tell Brak dar, die mit einfarbigem Punktdekor verziert sind (Oates / Oates / McDonald 1997: 83, Abb. 121, Taf. 241. 31). Diese können als eine der wenigen Glasfunde identifiziert werden, die aus Level III/IV stammen und daher älter als die finale Phase des Palastes aus der Mittanizeit sind. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Punktdekorationen auf kerngeformten Glasgefäßen bereits sehr früh auftreten. Fl4 – VA 05939 – Ass 14331 a – Abb. 5 Maße: Dm. max. 5,5 cm; H. 14,5 cm; Dm. Hals max. 2,7 cm Fundort: c C 8 I, „Mitte, Ostkante, 90 cm unter Hügeloberfläche“, Grab 133 Beschreibung: Ovale Flasche mit Knopfboden, runde Wandung. langer, gerader Hals; weißbeige korrodierte Grundfarbe, vormals blau, dunkelblau-weißer Fadendekor und Punktdekor; Rand mit tordierter Fadenauflage, unterhalb des Randes dunkelblau-weißer Mäanderdekor, darunter unregelmäßiger, blauer Punktdekor; auf Schulter zweifach tordierter Faden, darunter dreifacher dunkelblauer Girlandendekor; Bauchbereich mit tordierten Fäden und zwei Reihen Punktdekor; Gefäßabschluss von Mäanderdekor und Punktreihe begrenzt; Knopfboden mit tordierter Fadenauflage; lediglich Mäanderdekor geglättet, in Halsbereich kaum geglättet. Lit.: Haller 1954: 18, Taf. 11f; Barag 1970: 144, Fig. 22; Miglus 1996: 394; Hauser 2012: 147; Pedde 2012: 85, Nr. 69-1, Taf. 47. Vgl.: siehe Fl3. Fl6 – VA Ass 03659 – Ass 19037 a – Abb. 6 Maße: Dm. max. 4,4 cm; H. 13,2 cm; Dm. Hals 2,3; Wandung 0,2 cm Fundort: g C 5 III, Doppeltopfgrab, Grab 600 Beschreibung: Ovale Flasche mit Knopfboden, langer, gerader Hals; Gefäß fast vollständig erhalten; zu dunkelgrau korrodierte Grundfarbe, gelb-weißer, stellenweise stark korrodierter Faden- und Punktdekor; Rand mit einfarbig weißer Fadenauflage, auf Hals und Körper je © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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monochrome Fäden, die sich zu Guillochebändern kreuzen, darum gelbe Punkte; Hals und Schulterbereich durch gelbe, horizontale Fäden getrennt; unterer Abschluss mit vertikalen, monochromen Fäden und gelben Punkten. Lit.: Haller 1994: 46, Grab 600; Barag 1970: 145, Fig. 23; Pedde / Lundström 2008: 97, Nr. 574; Pedde 2015: Nr. 27-3 (das Foto auf Taf. 30 zeigt nicht dieses Gefäß, sondern Fl9). Vgl.: Eine direkte Parallele für dieses Gefäß findet sich lediglich in Assur (VA 17417). Ebenfalls mit Guillochebändern verziert ist Fl5, die Guillochebänder sind jedoch deutlich dicker und größer. Flasche mit Noppenboden Fl9 – VA 05818 – Ass 19036 e – Abb. 7 Maße: Dm. max. ca. 5–5,5 cm; H. 5,4 cm; Wandung: 0,4 cm Fundort: g C 5 III, Topfgrab, im Alten Palast in Raum 13, Grab 492 Beschreibung: Vier Fragmente einer Flasche mit Noppenboden, darunter ein Bodenfragment; transluzent dunkelblaue Grundfarbe, gelb-weißer Fadendekor, dieser ist als Federndekor über das gesamte Gefäß gezogen, kannelierte Oberfläche, da nicht geglättet. Lit.: Haller 1954: 40, Kat.-Nr. 492; Pedde / Lundström 2008: 97, Kat.-Nr. 573; Pedde 2015: 79–80, Nr. 28-2, Taf. 30 (dort fälschlich als Nr. 27-3 bezeichnet). Vgl.: Der Noppboden von Fl9, der innerhalb der kerngeformten Gefäße aus Assur bislang keinen Vergleich findet, kann gut mit einem Bodenfragment aus Tell Brak verglichen werden (Oates / Oates / McDonald 1997: 237, 14). Becher Be1 – VA 05909 – Ass 13707 i – Abb. 8 Maße: Dm. 6,6 cm; H. 10,1 cm; Wandung max. 0,3 cm Fundort: e C 7 III, „östlich Nebotempel-Hauptfront im Südhof“, Ziegelgruft, Gruft 37 Beschreibung: Dreifußbecher mit unregelmäßiger ovaler Wandung; ungleichmäßige, nach außen ziehende Standfüße; runder Rand mit Fadenauflage; dunkelblaue Grundfarbe mit fast vollständig beige korrodierter Fadenauflage; auf Gefäßkörper drei Reihen stark nach oben gezogener Girlandendekor, die an der Spitze runde Tupfen bilden; unterer Abschluss zwischen den Standfüßen breite, nach unten gezogene Mäander; Standfüße sind als letztes über die Fadenauflage durch leichten Druck angefügt; leichte Irisierung, feine Bruchlinien. Lit.: Haller 1954: 114–115, Taf. 24e; Barag 1970: 143, Fig. 18; Wartke 1995: 107, Kat.Nr. 70, Taf. 12; Pedde 2015: 71–72, Nr. 10-12, Taf. 14. Vgl. Es handelt sich um den einzigen bekannten Becher dieser Art aus Glas. Der Becher ähnelt äußerlich einer Gefäßgruppe mit kapselförmigem Körper und drei Standfüßen aus Quarzkeramik. Jedoch handelt es sich bei diesen Gefäßen nicht um Becher, sondern um Pyxiden, wie die Halterung für den Deckel zweifelsfrei belegt (siehe dazu Wicke 2008: 196– 197). Zwei dieser Pyxiden fanden sich in Assur (siehe Schmitt 2012: Kat.-Nr. 1124. 1176, Taf. 264 mit älterer Literatur).

Fundkontexte Aus vier mittelassyrischen Gräbern in Assur sind insgesamt acht kerngeformte Glasgefäße bekannt. Weiterhin fanden sich zwei Mosaikschalen, welche streng genom© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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men nicht aus Glas, sondern aus einer Form von Quarzkeramik, der sogenannten “Glassy faience” bestehen,17 sowie zwei, nicht weiter zu bestimmende Glasgefäße in Gräbern.18 Im Folgenden werden die Fundkontexte der kerngeformten Gefäße kurz vorgestellt. In der Ziegelgruft 37, die in einem Wohnhaus unter dem Hof des Nabu-Tempels gelegen ist, fanden sich drei Glasflaschen und ein Glasbecher (Fl1, Fl2, Fl3, Be1).19 Es handelt sich um eine Mehrfachbestattung von mindestens sieben Individuen. Zwei relativ intakte Skelette wurden in Rückenlage aufgefunden und fünf weitere Schädel ohne anatomischen Zusammenhang. Die Beigaben befanden sich im nördlichen Bereich der Gruftanlage und können mehrheitlich keinem der Toten zugeschrieben werden. Neben den vier Glasgefäßen fanden sich noch zwei Glasnadeln mit einem vergoldeten Bronzekopf. Weitere Beigaben waren mindestens acht glasierte, bemalte und undekorierte Keramikgefäße, ein Steingefäß, eine Silberschale, sechs Goldohrringe, ein kupferner Fingerring, ein durchbohrter Steingegenstand (Perle/Spielstein), Perlen und Anhänger aus verschiedenen Materialien, Muscheln und drei Knochennadeln. Es handelt sich um das reichste Grabinventar der frühmittelassyrischen Zeit in Assur. 20 Zwei Gräber fanden sich im Raum 13 des mittelassyrischen Anbaus des Alten Palasts, die beide Glasflaschen enthielten.21 Bei Grab 600 handelt es sich um ein Doppeltopfgrab mit einer Mehrfachbestattung. Die jüngere Bestattung liegt noch in Hockerlage und von einer älteren hat sich nur der Schädel erhalten. Dieser können sowohl eine Haarnadel als auch zwei goldene Ohrringe zugewiesen werden. Neben einer Glasflasche (Fl6) fanden sich in dem Doppeltopfgrab noch ein Zitzenbecher, ein Henkel eines Alabastrons, drei kleine Pyxiden aus Quarzkeramik und ein weiteres Quarzkeramikobjekt, ein Rollsiegel, ein Fingerring und vier Armreife sowie zwei kleine Ringe aus Kupfer, Perlen aus verschiedenen Materialien, das Fragment einer Elfenbeinnadel und eine Pfeilspitze. Bei dem Zitzenbecher handelt es sich um Nuzi-Keramik.22 Bei der zweiten Bestattung handelt es sich um ein Topfgrab (Grab 492), in dem ebenfalls mehrfach bestattet wurde. Neben einem Hocker fanden sich noch die Reste zweier älterer Bestattungen. Weitere Beigaben bzw. Trachtelemente außer den Glasflaschen (Fl9) sind ein Zitzenbecher, ein Rollsiegel, Perlen aus Quarzkeramik und zwei Knochenringe. Das Scherbengrab (Grab 133) ist stark gestört. Es haben sich nur die Knochen des Unterkörpers erhalten, demnach handelt es sich um einen Hocker. Das Grab 17

Wartke 2012; Schmidt 2019: 38–39. Vgl. Pedde 2015: 30; Ass 5180 c wird im Fundjournal als „Glasknauf“ bezeichnet, dabei könnte es sich um den Boden eines Glasgefäßes handeln. Jedoch ist das Objekt weder gezeichnet noch fotografiert, sodass unklar ist, um was für ein Objekt es sich handelt (Pedde 2015: 80, Nr. 34). 19 Zur Gruft siehe Haller 1954: 13, Abb. 148, Gruft 37; Miglus 1996: 139. 388, Plan 117. 118; Pedde 2015: 71–72, Nr. 10, Taf. 14–15 mit weiterer Literatur. 20 Für weitere Angaben zum Grabinventar siehe Pedde 2015: 71–72. 21 Zum mittelassyrischen Anbau des Alten Palasts und den Gräbern dort siehe Pedde / Lundström 2008: 32–37. 59–62. 22 Für weitere Angaben zum Grabinventar siehe Pedde 2015: 79. 18

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enthielt zwei Glasflaschen (Fl4, Fl5) sowie Perlen aus Stein und Quarzkeramik, einen Ohrring aus Gold sowie ein Rollsiegel. Pedde datiert alle Bestattungen mit kerngeformten Glasgefäßen in die frühmittelassyrische Zeit (14. Jh. v. Chr.). Als datierende Objekte führt er dabei die Keramikgefäße, die Rollsiegel, vor allem aber auch die kerngeformten Glasgefäße an. Jedoch legen insbesondere die Zitzenbecher in den Gräbern 600 und 492 eine Datierung ins 13. Jh. nahe. Da es sich bei den Gräbern zumeist um Mehrfachbestattungen handelt und die Beigaben nicht sicher einer Bestattung zugeschrieben werden können, ist es möglich, dass diese im 14. Jh. angelegt und bis ins 13. Jh. genutzt wurden.23 Anhand der Grabkontexte ist somit nur eine relativ grobe zeitliche Einordnung der kerngeformten Glasgefäße ins 14./13. Jh. möglich. Auswertung Da die Gruppe der kerngeformten Gefäße aus Gräbern in Assur relativ klein ist, scheinen Vergleiche zu solchen aus anderen Fundorten umso lohnender. Diese sollen zum einen chronologische Bezüge herstellen und zum anderen einen Überblick darüber geben, in welchen Fundkontexten kerngeformte Glasgefäße in dieser Zeit auftreten. Die weitaus meisten Glasfunde aus Tell Brak, unter ihnen auch die kerngeformten Gefäße, stammen aus Level 2 der letzten Phase des Mittani Palastes, welcher von Salmanasser I. (1263–1234) zerstört wurde.24 Die Glasfunde weisen folglich einen terminus ante quem auf.25 Eine interessante Parallele für die Flaschen Fl3, Fl4 stellen die Gefäße aus Tell Brak mit einfarbigem Punktdekor dar,26 da diese als einer der wenigen Glasfunde aus Level III/IV stammen und daher älter als die letzte Phase des Palastes aus der Mittanizeit datieren. Die kerngeformten Gefäße aus Tell al-Rimah können mehrheitlich dem Level 2 zugewiesen werden und stammen aus dem Tempel (Site A) als auch aus dem Palast (Site C). Lediglich eine kerngeformte Flasche stammt aus einem Grab und ist gut mit Fl2 vergleichbar.27 Die übrigen Grabbeigaben sind ebenfalls gut mit denen aus Assur zu vergleichen und umfassen ein mittanisches Rollsiegel aus Quarzkeramik und eines aus Glas, ferner eine Goldscheibe und verschiedenen Perlen, u. a. aus Quarzkeramik und Karneol. Ähnlich ist auch die Mehrfachbestattung, die mindestens fünf Individuen umfasst und dadurch keine eindeutige Datierung zulässt. Die, für diese Untersuchung relevanten Vergleichsstücke aus Nuzi stammen aus der Schicht II. Neben Perlen, Mosaikglasfragmenten und modelgeformten Stücken ist dabei auch eine große Anzahl von kerngeformten Gefäßen belegt. Soweit dies sich von den wenigen gut erhaltenen, bekannten kerngeformten Gefäßen und Fragmenten ableiten lässt, weisen die Stücke, insbesondere der Dekor, große

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Pedde 2015: 38. 42. 44–45. Oates / Oates / McDonald 1997: 35. 25 Brill 1997: 81. 26 Oates / Oates / McDonald 1997: 83, Abb. 121, Taf. 241, 31. 27 Oates 1967b: 93, Taf. 37e. 24

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Ähnlichkeit mit Stücken aus Assur auf.28 Das Ende der Schicht II in Nuzi wurde dabei in die Mitte des 14. Jhs. v. Chr. datiert und mit der Zerstörung durch Assuruballiṭ (ca. 1365–1330 v. Chr.) in Zusammenhang gebracht.29 Der Beginn von Stratum II wird im frühen 15. Jh. v. Chr. angesetzt30, für die Laufzeit der Glasobjekte kann somit das 15./14. Jh. v. Chr. angesetzt werden. Die Kontexte, in denen Glasfunde der Schicht II gefunden wurden umfassen dabei den Palast, sowie die Wohngebiete SWS (“Southwestern Section”), NES (“Northeastern Section”) und NWR (“Northwestern Ridge”), für den Tempel kann eine Zuordnung der Glasfunde zur Schicht II nicht eindeutig getroffen werden.31 Dass die kerngeformten Glasgefäße aus den Gräbern in Assur auch noch ins 13. Jh. v. Chr. datieren können, belegen die zahlreichen vergleichbaren Glasgefäßfragmente aus dem Ischtar-Tempel Tukulti-Ninurtas I. (siehe Anm. 2). Anhand der Kontexte lässt sich die Datierung der Glasgefäße auf das 14./13. Jh. eingrenzen. Diese Datierung stimmt mit vergleichbaren Glasgefäßen aus Nuzi und Tell Brak überein. Bis auf den Becher (Be1) fanden sich ausschließlich Flaschen in den Gräbern in Assur. Der Becher ist ein Unikat und offene Gefäße sind vor allem aus dem IschtarTempel in Assur bekannt.32 Bei den beiden kerngeformten Gefäßen aus den Gräbern in Tell al-Rimah und Ur handelt es sich ebenfalls um Flaschen (siehe Anm. 33). Gleich zwei Flaschen aus Gruft 37 in Assur weisen je ein rundes, gleichmäßiges Loch im Randbereich auf, welches intentional angebracht wurde. Möglicherweise könnte es sich hierbei um Löcher für die Anbringung eines Deckels handeln. Da vergleichbare Funde fehlen und Glasgefäße dieser Art zumeist mit einem organischen Stopper oder einem Stofftuch abgedeckt und mit einer Schnur festgebunden wurden, bleibt dies spekulativ. Bei den Gräbern in Assur handelt es sich nicht um geschlossene Fundkomplexe (Mehrfachbestattung/gestört), daher ist eine Aussage zum sozialen Satus der Bestatteten nur eingeschränkt möglich. Damit einhergehend kann auch keine direkte Wertzuweisung der Glasobjekte vorgenommen werden. Jedoch gibt es im Fundmaterial Indikatoren, die nahelegen, dass den kerngeformten Glasgefäßen in der mittelassyrischen Zeit ein hoher materieller und sozialer Wert beigemessen wurde. Glasgefäße sind in Gräbern der mittelassyrischen Zeit in Assur insgesamt relativ selten. Nur 3,7 % der Gräber enthielten überhaupt Glasgefäße (einschließlich der Mosaikschalen 28

Shortland et al. 2017: 14, Fig. 5; Starr 1939: Taf. 128–130. Für eine abweichende Datierung auf Grundlage der Feldzugsberichte mittelassyrischer Könige vgl. Mayer 1978: 5–6. Dieser schlägt als Zerstörungszeitpunkt für Nuzi die Mitte des 12. Jhs. vor, die im Rahmen eines elamischen Feldzuges durch Šilḫak-inšušinak durchgeführt wurde. Für einen zusammenfassenden Überblick über die Stratigrafie und Datierungskriterien in Nuzi vgl. auch Mönninghoff 2017: 11–16. 30 Dies basiert auf der Grundlage von vier bis fünf postulierten Schreibergenerationen, für die 100 bis 120 Jahre angenommen werden, vgl. hierzu Stein 1989: 59. 31 Für die Neuauswertung und stratigrafische Zuweisung der Funde aus Stratum II vgl. Mönninghoff 2017. Wir danken Hannah Mönninghoff zudem für die Bereitstellung ihrer Fundtabelle der Schicht II in Nuzi. 32 Gries / Schmidt in Vorber. 29

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aus “Glassy faience”). Kerngeformte Gefäße fanden sich sogar nur in 1,9 % der mittelassyrischen Gräber, wobei zwei Gräber gleich mehrere solcher Glasgefäße enthielten. Außerhalb von Assur sind vergleichbare Gefäße nur in Tell al-Rimah und Ur in Gräbern gefunden worden.33 Es handelt sich jeweils um eine birnenförmige Flasche. Auch wenn die geringe Anzahl an Glasgefäßen zum Teil der Publikationslage geschuldet ist, bleibt insgesamt festzustellen, dass diese allgemein in Gräbern des 14./13. Jhs. sehr selten sind. Weitaus häufiger sind diese in Tempeln und Palästen anzutreffen (s. o.). Darüber hinaus finden sich die kerngeformten Glasgefäße häufig zusammen mit weiteren wertvollen Beigaben in Gräbern. So enthielten 75 % der Gräber mit kerngeformten Glasgefäßen auch Goldohrringe, welche nur in 12,6 % der Gräber in Assur vertreten sind und gehäuft in den sehr reichen Gräbern auftreten. In der frühmittelassyrischen Zeit, in welche die hier behandelten Gräber datieren, finden diese sich sogar nur in 5,6 % der Gräber. Weiterhin beinhalteten 75 % der Gräber mit kerngeformten Gefäßen auch Rollsiegel, welche insgesamt nur in fünf Gräbern der 215 Gräber (2,3 %) der mittelassyrischen Zeit entdeckt wurden.34 Einen weiteren Hinweis auf den hohen sozialen Status der Bestatteten gibt der Fundort der Gräber 600 und 492. Beide wurden im mittelassyrischen Anbau des Alten Palasts gefunden. Ein Bestattungsplatz im Palastbereich wird sicherlich nur Palastangehörigen oder anderen höhergestellten Personen zugekommen sein. Die Distribution der kerngeformten Gefäße, die Lage der Gräber und die weiteren Beigaben sprechen daher dafür, dass diesen Objekten in der mittelassyrischen Zeit ein hoher Wert beigemessen wurde. Dies steht im Gegensatz zur Bedeutung der kerngeformten Gefäße in der ersten Hälfte des 1. Jts. v. Chr. Hier kann beobachtet werden, dass die Gräber, in denen kerngeformte Gefäße auftreten, nicht besonders reich ausgestattet waren. Ferner ist auch die Qualität der kerngeformten Gefäße selbst (Formen- und Dekorvielfalt, Material-, und Farbqualität) deutlich gemindert gegenüber jenen aus der 2. Hälfte des 2. Jts.35 Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass zu Beginn der Glasproduktion im 2. Jt. kerngeformten Glasgefäßen ein besonderer Wert beigemessen wurde, den diese Gefäße im frühen ersten Jahrtausend zu verlieren scheinen. Die kerngeformten Glasgefäße des 14./13. Jhs. sind technisch herausragend und erfordern ein großes Maß an handwerkliches Können. Als Grabbeigaben wurden diese nur selten verwendet und wenn, so handelt es sich nahezu ausschließlich um Flaschen, welche nur in reichen Gräbern anzutreffen sind.

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Vgl. Oates 1967b: 93, Taf. 37e; Woolley 1962: 131, Pl. 29a; Barag 1970: 147, Fig. 28. Die statistische Auswertung der Funde innerhalb der Gräber erfolgte anhand des Katalogs von Pedde 2015. 35 Schmidt 2019: 155–158. 34

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Bildnachweis Abb. 1‒8:

Vorderasiatisches Museum ‒ Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Olaf M. Teßmer

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Abbildungen

Abb. 1 Flasche Fl1 mit abgerundetem Boden (dieser ist falsch als Knopfboden rekonstruiert) (VA 05910 – Ass 13707 g)

Abb. 2 Flasche Fl2 mit spitzrundem Boden (VA 05912 – Ass 13707 f)

Abb. 3 Flasche Fl5 mit Knopfboden (VA 05699 – Ass 14331 b)

Abb. 4 Flasche Fl3 mit Knopfboden, bei Auffinden war Gefäß intakt (VA 05911 – Ass 13707 h)

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Abb. 5 Flasche Fl4 mit Knopfboden (VA 05939 – Ass 14331 a)

Abb. 6 Flasche Fl6 mit Knopfboden (VA Ass 03659 – Ass 19037 a)

Abb. 7 Flasche Fl9 mit Noppenboden (VA 05818 – Ass 19036 e)

Abb. 8 Becher Be1 (VA 05909 – Ass 13707 i)

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Ein Terrakottarelief mit Gilgamesch-Bild1 Azad Hamoto / München – Aleppo Das hier in diesem kurzen Aufsatz behandelte Terrakottarelief (Abb. 1) fand bis dato aus unverständlichen und vielleicht unachtsamen Gründen kaum ernsthafte Beachtung oder jegliche Bemerkung, sowohl in der mythologischen wie auch in der kunsthistorischen altorientalischen Fachliteratur2!

Abb. 1

Jagd- bzw. Kampfszene mit einer Affengestalt in der Baumkrone (© The Trustees of the British Museum)

Das oben erwähnte Stück befindet sich heute im British Museum, London. Aus Ton hergestellt, misst es 8,9 cm in der Höhe und 12, 7 cm in der Breite. Es besitzt eine rechteckige Form und wird in die altbabylonische Periode datiert3. Das Relief spiegelt eine Jagd- bzw. Kampfszene in der Natur oder in einem Wald(?) wider. Zu sehen ist ein Mann mit einer Kappe, mit einem Nackenschutz und einem kurzen Schurz, der bis zu seinen Knien reicht. Der Oberkörper ist nicht bekleidet. Mit seinem linken Fuß stützt er sich auf den unteren Teil eines Baumstammes, mit 1

Der Aufsatz ist meinem besonderen Freund und Kollegen Dr. Lutz Martin sowohl zu seinem Geburtstag als auch für die langjährige Freundschaft und vor allem für die herzerwärmenden unzähligen gemeinsamen Stunden in Syrien und in Berlin gewidmet! 2 Nicht (ein)mal in dem fast einheitlichen kunsthistorischen wertgeschätzten Sammelwerk von Hans Ulrich Steymans (Hrsg.) über den Helden Gilgamesch: Steymans 2010. 3 Opificius 1961: 176; Hamoto 1995: 91, Nr. 68, Abb. 62. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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dem rechten steht er gleichmäßig senkrecht auf dem Boden, beide Füße sind bar dargestellt. In den Händen hält er Pfeil und Bogen. Details seiner Physiognomie sind nicht erkennbar. Hinter ihm dargestellt ist eine weitere kleine hockende menschliche Figur, die ähnlich wie er gekleidet ist und die ihn an den Hüften festhält bzw. abstützt. Die Details dieser Figur sind sehr verschwommen. Ein leicht geschwungener fast S-förmiger Baum mit ovaler und von Ästen und Blättern dichten Krone nimmt in der Mitte des Geschehens Platz. Oben rechts auf der Baumkrone ist eine Affengestalt kauernd wahrzunehmen, die sich an den Ästen des Baumes festhält. Deutlich sichtbar beim Primaten sind seine hockende bzw. kauernde Grundstellung und seine Hartbestandteile wie die hundeartige Schnauze4, die ihn als einen Pavian identifizieren lässt5. Rechts der Szene ist ein Wildschwein mit gesenktem Kopf abgebildet, gekennzeichnet durch einen massiven und gedrungenen Körper. Der Kopf wirkt fast überdimensioniert, gut erkennbar ist seine kurze Schnauze. Das dem Betrachter zugewandte linke Auge liegt weit und schräg oben am Kopf. Von der Stirn bis über den Rücken verläuft ein Kamm langer Borsten. Die Jagd- bzw. die Kampfszene auf diesem Terrakottarelief mit zwei Helden und einem Gegner in Gestalt eines Affen ist fast wie eine Moment- bzw. Augenblickaufnahme; sie zeigt die menschliche Hauptfigur, wie sie die Sehne ihres Bogens bis zum Anschlag zieht, um das Zielobjekt, den auf dem Baum kauernden Affen, (genau und) tödlich zu treffen!

Abb. 2

4 5

Tötung des Humbaba (VA 07246) (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer)

Hamoto 1995: 9‒10. Hamoto 1995: 4. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Ein Terrakottarelief mit Gilgamesch-Bild

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Unmissverständlich wird hier die Tötung des Pavians dargestellt, nicht das unbeachtet friedlich im Kampfmotiv weidende Wildschwein. Schon früh erkannte Ruth Opificius, dass es sich auf diesem Stück um den Helden Gilgamesch und seinen Freund und Helfer Enkidu handeln muss, die sich in einer Kampfhandlung abbilden6. Sie verglich die Szene und datierte sie mit zwei sehr guten Beispielen, die die beiden Helden in ähnlichen Kampfszenen wiedergeben7. Bei dem ersten Beispiel (Abb. 2) ist der Sieg über Ḫumbaba, Wächter des Zedernwaldes, dargestellt, und beim zweiten Terrakottarelief (Abb. 3.) geht es um die Tötung des Himmelsstieres. Beide Motive sind bekanntlich im Epos des Helden Gilgamesch8 zu finden.

Abb. 3

Tötung des Himmelsstieres (VA 05392) (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer)

Basierend auf dem genannten Epos und dem, was wir aus der Sechsten Tafel über die Feindseligkeit zwischen der Liebes- und der Kriegsgöttin Ištar und dem Halbgott bzw. dem Halbmenschen Gilgamesch wissen, ist zu untermauern, dass der Held in der oben beschriebenen Darstellung bei dem Versuch dargestellt ist, das Symbol dieser Göttin zu töten9! Der Affe, und insbesondere die Spezies der Affengattung Pavian, hatte eine sehr bedeutende Stellung zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. im Alten Orient inne und gehörte zur engsten kultischen Sphäre und dem Kreis der Göttin Ištar10. Dass es sich beim vorgestellten Terrakottarelief (Abb. 1) um eine weitere heroische Tat des Gilgamesch handelt, ist offenkundig und unverkennbar. Aller Wahr6

Opificius 1961: 238‒239. Opificius 1961: 225, 227. 8 Schott 1999. 9 Hamoto 1995: 51. 10 Hamoto 1995: 50‒52, 73‒74. 7

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scheinlichkeit nach ist dieses außergewöhnliche Motiv im Bereich der volksmythologischen und oralen Sagen und Anekdoten der alten Mesopotamier zu sehen und zu verstehen. Auch diesbezüglich liegt die Vermutung sehr nahe, dass es in deren mündliche und nicht in deren schriftliche Kulturtradition einzuordnen ist. Bibliografie Hamoto 1995 Azad Hamoto, Der Affe in der altorientalischen Kunst. Forschungen zur Anthropologie und Religionsgeschichte 28, Münster. Opificius 1961 Ruth Opificius, Das altbabylonische Terrakottarelief. Untersuchungen zur Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 2, Berlin. Schott 1999 Albert Schott, Das Gilgamesch-Epos. Neu herausgegeben von Wolfram von Soden, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 7235, Stuttgart [Nachdruck]. Steymans 2010 Hans Ulrich Steymans (Hrsg.), Gilgamesch: Ikonographie eines Helden. Orbis Biblicus et Orientals 245, Fribourg.

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Steingefäße des 3. Jts. v. Chr. aus Uruk Ein neuer Blick auf die Chloritgefäße Barbara Helwing / Berlin Meine erste Begegnung mit Lutz Martin begann im März 2019 mit einem verirrten Blumenstrauß. Er nahm das unerwartete Geschenk an der Pforte des Pergamonmuseums entgegen und schickte mir Fotos davon. Seither genieße ich das Privileg, von seinen in langen Jahren am Museum erworbenen Kenntnissen und Erfahrungen zu lernen, die er offen und gerne geteilt hat. Dafür möchte ich Dank sagen, mit einem symbolischen Blumenstrauß von ausgewählten Chloritschiefer-Gefäßscherben des 3. Jts. v. Chr. aus Uruk aus dem Bestand des Vorderasiatischen Museums. Lutz Martin hat diese vor einem Vierteljahrhundert veröffentlicht1, doch haben neue Entdeckungen in Südostiran unsere Kenntnis dieser frühbronzezeitlichen Fundgruppe erheblich vermehrt. So erlaubt der Blick von Iran aus heute auch eine teils neue Bewertung der bekannten Funde aus Uruk und erweitert die Möglichkeiten, Rekonstruktionen für die nur fragmentarisch erhaltenen Motive anzubieten, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Zum Hintergrund Einer der wichtigsten Fundorte im Portfolio des Vorderasiatischen Museums in Berlin ist Uruk, der moderne Ort Warka, im Süden von Irak. Hier begann die Deutsche Orient-Gesellschaft 1912/13 mit ersten Untersuchungen, die sie zwischen 1928 und 1939 sowie seit 1953/54 fortsetzen konnte2. Im Rahmen der damals üblichen Fundteilungen wurde der Fundbestand der frühen Grabungskampagnen bis 1939 zunächst zwischen dem Osmanischen Reich und später Irak einerseits, und der Deutschen Orient-Gesellschaft andererseits aufgeteilt. Seit 1958 liegt die Verantwortung für die noch immer andauernden Untersuchungen beim Deutschen Archäologischen Institut (DAI). Die in Deutschland befindlichen Funde liegen im Vorderasiatischen Museum und in der Universität Heidelberg in der Uruk-Sammlung. Das DAI hat sich auf Initiative von R. M. Boehmer auch um die umfassende Publikation der Befunde und Funde in der monumentalen Reihe „Ausgrabungen in Uruk Warka – Endberichte (AUWE)“ verdient gemacht. In Band 9 dieser Reihe präsentiert Lutz Martin die im Vorderasiatischen Museum lagernden Steingefäße in ihrem stratigraphischen und räumlichen Kontext3. Unter den fast 1500 vorgelegten Stücken findet sich auch eine kleine Gruppe von Gefäßfragmenten aus Chloritschiefer, einem grüngrauen, relativ weichen, schnitzbaren „Speckstein“. Im 3. Jt. v. Chr. fertigten Steinhandwerker charakteristische, mit flachem Bildrelief dekorierte Gefäße aus diesem Material. Für lange Zeit war Tappe Yahya in der iranischen Provinz Kerman der 1

Martin 1993. Van Ess 2013. 3 Martin 1993. 2

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einzige Fundort, an dem eine Herstellung von Chloritgefäßen über mehrere stratigraphische Schichten nachgewiesen werden konnte4. Doch tatsächlich waren die Funde von Yahya nur Vorboten der jüngeren, spektakulären Entdeckungen in der Flussoase des Halilrud in Südostiran5. Zunächst seit der Jahrtausendwende Ziel von Raubgrabungen, haben seither systematische Oberflächenbegehungen und Forschungsgrabungen in den benachbarten Fundstätten von Konar Sandal Süd und Nord eine eigenständige bronzezeitliche Fundlandschaft des 3. und 2. Jts. v. Chr. erschlossen6, die sich insbesondere durch eine urbane Struktur mit spezialisiertem Handwerk auszeichneten, darunter auch die meisterhafte Produktion von geschnitzten Chloritgefäßen. Zwischen Südostiran, dem Persischen Golf und dem südlichen Mesopotamien zeigen Chloritgefäße und Siegelbilder weitreichende Beziehungen verschiedenster Art an: ob es sich um Handelsgut, Beute oder diplomatische Geschenke handelt – Forscher haben alle drei Modelle umfassend diskutiert – ist eine der Fragen, für deren Beantwortung inzwischen eine bessere Grundlage besteht. Mit den spektakulären Neuentdeckungen in Südostiran im Hintergrund ist es also heute möglich, die in AUWE 9 vorgelegten Chloritgefäße einer erneuten Bewertung zu unterziehen und damit auch eine differenziertere Perspektive auf die Fernbeziehungen von Uruk im 3. Jt. v. Chr. zu öffnen. Das Rohmaterial Unter der allgemeinen Bezeichnung „Chlorit“ (englisch: chlorite) fassen Archäologen Gesteine wie Chloritschiefer, Serpentinit und Steatit zusammen7, die sich alle durch geringe Härte, eine oftmals glänzende Oberfläche und ein Farbspektrum von hellgrau über grüngrau bis schwarz auszeichnen. Mineralogisch handelt es sich um unterschiedliche metamorphe Gesteine, oftmals mit Beimischungen anderer Minerale. Eine Bestimmung ist nur durch eine Autopsie möglich, was für den Großteil des publizierten Materials nicht möglich ist. Im Material aus Uruk bestimmte Lutz Martin die meisten Scherben als Chloritschiefer, doch lagen ihm nicht alle Stücke im Original vor8. Chloritschiefer und verwandte oder assoziierte Gesteine kommen natürlich sowohl in Südostiran9 wie auch in Oman vor. In beiden Regionen wurde das Material abgebaut und zu Gefäßen und anderen Objekten verarbeitet, wobei erhebliche stilistische und chronologische Unterschiede beobachtet werden. Wie wir heute wissen, zeichnet sich Südostiran durch eine reichhaltige Produktion an figürlich verzierten geschnitzten Chloritgefäßen aus. Diese Region, insbesondere die Flussoase am Halilrud, wird inzwischen mit dem aus akkadischen Textquellen bekannten Marhaschi identifiziert10, und das Wort marḫušu bezeichnet ein Mineral aus dieser Landschaft, möglicherweise Chloritschiefer. Auch wenn bisher noch kaum 4

Kohl 1975a; Lamberg-Karlovsky 1988. Lawler 2003; Majidzadeh 2003a; Majidzadeh 2003b. 6 Majidzadeh 2008. 7 Moorey 1994. 8 Martin 1993: 29–35. 9 Kohl et al. 1979; Kohl 2001: 219–220. 10 Steinkeller 1982: 251. 5

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analytische Untersuchungen zur Herkunft des hier betrachteten Materials vorliegen11, so stehen die Fragmente aus Uruk aufgrund von Typologie, Ikonographie und Stil der südostiranischen Produktion des 3. Jts. v. Chr. nahe. Chloritgefäße in Westasien Herkunft und Bedeutung Einzelne, mit fantastischen Reliefszenen verzierte Chloritgefäße12 waren seit den 1930er Jahren in Grabungen in Mesopotamien gefunden geworden, z. B. in Bismaya13, Kish14, Mari15, Hafaji16, Agrab17 und Ur18, später kamen weitere Orte wie Nippur19 hinzu. In der Mehrzahl waren sie in Tempeln deponiert und einige trugen eine königliche Weihinschrift20. Auch aus Susa war eine größere Anzahl von in ähnlicher Weise geschnitzten Gefäßen bekannt, sowohl aus Chlorit wie auch aus Bitumen21. Die stratigrafische Situation und die Weihinschriften frühdynastischer Herrscher erlaubten eine Datierung dieser Fundgruppe in das 3. Jahrtausend v. Chr. Die mesopotamischen Funde waren jedoch nicht die einzigen. Schon Aurel Stein hatte Fragmente von Steingefäßen in Südostiran22 und im Makran aufgelesen, und vergleichbare Gefäße wurden zur gleichen Zeit auch im Industal gefunden23. Angesichts dieser weiten Verbreitung blieb der Ursprungsort von Chloritgefäßen lange im Verborgenen. Henri Frankfort hatte aufgrund der Gleichartigkeit der Chloritgefäße in verschiedenen frühdynastischen Fundorten eine Herkunft aus Mesopotamien vorausgesetzt24. Dem widersprach schon Louis Le Breton während seiner 11

Martin 1993: 29–36; Schüller 1963. Aruz / Wallenfels 2003: 325–344; diese Zusammenstellung dokumentiert allerdings auch anschaulich das Dilemma der fehlenden Fundkontexte für Objekte aus Museumssammlungen ohne Provenienz, aber auch für das Konvolut von Tarut, welches wahrscheinlich aus einem Zwischenlager stammt; für eine umfassende Zusammenstellung vgl. Kohl 1975a. 13 Banks 1912: 260‒270 mit Abbildungen Seite 261 Nr. 7–8, 17–19; 267; 270; Wilson 2012: 113, 127, Taf. 51–54; 81–83 (das komplex bebilderte Gefäß Taf. 55 gehört einer anderen Tradition an). 14 Field 1933. 15 Parrot 1956: Taf. XLVII, 150; XLVIII, 185; XLIX, 267, 666, 3393; Parrot 1967: pl. LXXI, 2628. 16 Frankfort 1935: 47 Abb. 53 aus Sin-Tempel; Abb. 54‒55 Tierkampfszene; Abb. 56 Hausmodell. 17 Frankfort 1936: Abb. 10, 12. 18 Aus PG 800 (Königin Shub’ad): Taf. 178, U.10522-3, sowie aus anderen Gräbern weitere ohne Abbildung Woolley 1934; Woolley 1955: Taf. 36, U.231. 19 Hansen / Dales 1962. 20 Zumeist mit akkadischen Herrschernamen, vor allem von Rimusch, vgl. Braun-Holzinger 1991: 110 Fußnote 490; Evelyn und Horst Klengel (1980) sahen Stücke mit solchen Inschriften von Anfang an als Beutegut an. 21 Connan / Deschesne 1996; Le Breton 1957; de Miroschedji 1973. 22 Stein 1937: Taf. VIII, A. 34,140, 141, 365 aus Bampur. 23 Mackay 1932. 24 Frankfort 1954: 19 Fußnote 4. 12

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Bearbeitung der Funde aus Susa, wo es Chloritgefäße und stilistisch ähnliche Behälter aus Bitumenmastix gab, da er schon frühzeitig die Abhängigkeit der Motive vom iranischen Hochland gesehen hatte25. Auch Leonard Woolley hatte zuvor schon im Material aus dem sog. Königsfriedhof von Ur eindeutige Beziehungen zu Elam und dem Industal erkannt, stützte sich in seiner Argumentation aber hauptsächlich auf Siegel26. In der ersten systematischen Zusammenstellung von Chloritgefäßen im Großraum von Syrien bis zum Indus stellte Farzand A. Durrani regionale Gruppen und Vergleiche dazu vor, leitete aber seinerseits die Funde aus Iran und dem Industal weiterhin von Vorbildern in Mesopotamien ab27. Erst die systematischen Ausgrabungen in Tappe Yahya in Südostiran seit den späten 1960er Jahren erbrachten schließlich auch Hinweise auf Werkstätten, in denen Chlorit zu solchen Gefäßen verarbeitet wurde28. Eine Verwendung dieses Materials ist in Yahya bereits im späten Neolithikum belegt, doch ihre Blütezeit erlebte die Chloritschnitzerei in Periode Yahya IVB, im späteren 3. Jt. v. Chr., zeitgleich mit FD III in Mesopotamien. Eine systematische Studie an Rohmaterial und Fertigprodukten sowohl aus Yahya wie auch aus mesopotamischen Fundorten ergab eine Unterscheidung von mindestens vier geologisch differenzierten Lagerstätten von Chlorit und Steatit, die in unterschiedlichem Maße in den einzelnen Regionen genutzt wurden, bzw. deren Produkte an unterschiedlichen Fundorten auftraten29. Damit war die Frage nach einer eindeutigen Herkunft obsolet geworden, da die Gefäße nicht von einem einzigen Ort oder aus einer sehr eng umgrenzten Region stammen konnten. Trotz des unterschiedlichen Rohmaterials gab es allerdings weitreichende Übereinstimmungen im Bildprogramm der Gefäße auch über weite Distanzen hinweg. Philip Kohl führte hierfür den Begriff “intercultural style” ein30 um zu verdeutlichen, dass hier ein über kulturelle Grenzen hinweg geteiltes Verständnis der Ikonographie bestand. Zeitgleich mit den Entdeckungen in Yahya untersuchte Pierre de Miroschedji im Louvre eine Gruppe von Steatitgefäßen aus den alten Grabungen in Susa31. Er gelangte auf der Grundlage von Material, Gefäßform und Motivschatz zu einer grundlegenden Unterscheidung in zwei Produktionsserien. Seine sogenannte série ancienne umfasst geschnitzte Gefäße mit fantastischem Bilddekor der Art, die Kohl als intercultural style angesprochen hatte, während die série récente mit Kreiszirkelmustern und tief eingeschnittenem Kerbdekor jünger ist und von der arabischen Halbinsel stammt. Die Funde aus den Tempeln Mesopotamiens mit ihren frühdynastischen Weihinschriften32 gehören sämtlich der série ancienne an. Neben Yahya war in den späten 1970er Jahren mit der Insel Tarut im Persischen Golf ein weiterer wichtiger Fundort mit hunderten Steingefäßen wie auch Halbfabri25

Le Breton 1957: 120 Abb. 43, 1–7. Woolley 1934: 396–398. 27 Durrani 1964. 28 Kohl 1975a; Kohl 1975b. 29 Kohl et al. 1979. 30 Kohl 1975b. 31 De Miroschedji 1973. 32 Zu den beschrifteten Gefäßen vgl. Braun-Holzinger 1991: 109–110. 26

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Steingefäße des 3. Jts. v. Chr. aus Uruk

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katen bekannt geworden, leider ohne zuverlässige archäologische Dokumentation. Der über 600 Stücke umfassende Corpus im Nationalmuseum Riad33 umfasst gänzlich unterschiedliche Stile, darunter auch figürlich geschnitzte Gefäße des intercultural style. Edith Porada zeigte in Zusammenhang mit der Entdeckung von Tarut systematisch die weitreichenden stilistischen und thematischen Verbindungen, aber auch Unterschiede zwischen den vereinzelten Funden von Chloritgefäßen auf34. Die solcherart beschriebene Vielfalt ist möglicherweise ein Hinweis auf die ursprüngliche Funktion der Insel als Handelshafen und Umschlagplatz35. Pierre Amiet prägte schließlich den Begriff transelamisch für diese figürlich verzierten Gefäße wie auch für anderes Material aus Südostiran36, da er ihren Ursprung weit im Osten sah, jenseits der historisch belegten aber geographisch unklar beschriebenen Landschaft von Elam, und insbesondere in Südostiran in einer Region, die Piotr Steinkeller anhand von Textquellen der Region Marhaschi zuordnete37. Amiet suchte mit dieser Begriffsbildung explizit die Benennung intercultural zu ersetzen, die ihm als zu vage erschien. Handelsgut, Beutestücke, Geschenke? Zur Interpretation der Chloritgefäße Mit diesen ersten und auf minimaler Materialbasis fußenden Versuchen, die Herkunft der Chloritgefäße zu entschlüsseln und ihren Bildkanon zu definieren, entstanden zugleich erste Hypothesen zu den Netzwerken, innerhalb derer diese Objekte zirkulierten. Diese waren jedoch begrifflich oft unscharf gefasst – man sprach von Kontakten38, Austausch39 oder Interaktionen40, vermied aber eine Festlegung auf konkrete handlungsbeschreibende Termini oder historische Konzepte. Philip Kohls erste, explizit theoretische, Modellbildung41 sah die Gefäße ausdrücklich als Handelsware an, die in einem komplexen Handelsnetzwerk zirkulierten. Dieses Netzwerk definierte er als ein „Weltsystem“, darin Immanuel Wallersteins für die frühkapitalistische Welt entwickeltem Modell eines “world system”42 folgend: ein asymmetrisches Wirtschaftssystem, in dem ein technologisch und zivilisatorisch überlegenes Zentrum unterentwickelte Peripherien systematisch ausbeutet. Der „Weltsystem-“Begriff ist seit den 1970er Jahren vielfach von Archäologen aufgegriffen worden, um über kulturelle Grenzen hinweg in der materiellen Kultur sichtbare Systeme von Kontakt und Austausch zu beschreiben43. Die Übertragung des Begriffs auf vormoderne Gesellschaften hat jedoch auch viel Kritik hervorgerufen 44, 33

Burkholder 1971; Zarins 1978. Porada 1971. 35 Crawford 1998: 44–50; Kohl 2001: 220–221. 36 Amiet 1986: 138. 37 Potts 2004; Steinkeller 1982; Steinkeller 2006. 38 Porada 1971. 39 Amiet 1986. 40 Lamberg-Karlovsky / Tosi 1973. 41 Kohl 1975a. 42 Wallerstein 1974. 43 Kohl 1987; Edens 1992; Algaze 1993; Frank 1993; Sherratt 1993; Kohl 2011. 44 Stein 1999. 34

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da frühe Ökonomien45 kaum mit dem aufstrebenden Kapitalismus des Wallersteinschen Modells vergleichbar sind. Gregory Possehls Vorschlag eines Tauschnetzwerks verfolgt einen prinzipiell anderen Ansatz46. Er begreift die Chloritgefäße grundsätzlich als lokale Produkte für die direkte Nutzung in ihrer Herkunftsregion und sieht keine Marktökonomie in ihrer Verbreitung. Nur in vergleichsweise seltenen Fällen, und deshalb keineswegs systematisch, seien sie als Geschenke innerhalb von Eliten und Verwandtschaftsgruppen auch in weit entfernte Regionen gelangt. Beide Modelle, das Weltsystem und das Elitennetzwerk, lehnt Carl C. LambergKarlovsky in seiner Neubewertung des Materials aus Yahya ausdrücklich ab47. Er sucht, die Chloritgefäße in ihrem funktionalen Kontext innerhalb des Totenkults zu verstehen und sieht deshalb auch eine über eine weite Region geteilte Ritualauffassung als treibende Kraft hinter der weiten Verbreitung der Chloritgefäße. Dem widerspricht Eva Braun-Holzinger in ihrer Zusammenstellung der mesopotamischen Weihgaben ausdrücklich48, da die Gefäße in Mesopotamien klar mit Inschriften versehen als Weihgaben in Tempeln deponiert wurden und im Totenkult eine zu vernachlässigende Rolle spielten49. In ihrer Argumentation ist kein Platz für differenzierte Überlegungen der Art, dass die Gefäße in Mesopotamien eine andere Rolle erfüllt haben könnten als in ihrer Herkunftsregion, wie dies in einer Objektbiographie von Lamberg-Karlovsky überzeugend deutlich wird50. Unter dem Eindruck der neuen Entdeckungen in Südostiran bedürfen nun alle diese Überlegungen und Argumentationen einer Überprüfung und Neubewertung. Neue Forschungen in Südostiran Seit der Entdeckung der bronzezeitlichen Halilrud-Kultur im Jahr 2001, in der Umgebung der Stadt Jiroft in Südostiran51 mit ihren Fundstätten entlang des gleichnamigen Flusses, und mit den daraufhin begonnenen archäologischen Grabungen in Konar Sandal Süd und Nord52, nimmt die historische Region Marhaschi Konturen an. Damit wird heute eine neue Kontextualisierung der Chloritgefäßproduktion im 3. Jt. v. Chr. möglich, die auch die Bewertung der Funde aus Tappe Yahya IVB auf eine neue Grundlage hebt53. Zwar stammen die Funde aus „Jiroft“ aus unbeobachteten Raubgrabungen in ausgedehnten reichen Friedhöfen, und das Material wurde 45

Polanyi et al. 1965; Renger 1994. Zuerst eingeführt durch Possehl 1986; das Konzept einer “Middle Asian Interaction Sphere” ist eine folgerichtige Weiterentwicklung dieses Modells, vgl. Possehl 2007. 47 Lamberg-Karlovsky 1988. 48 Braun-Holzinger 1991: 110 Fußnote 488. 49 Der Friedhof von Ur ist der einzige Kontext in Mesopotamien, wo Chloritgefäße im Kontext des Totenkults auftreten, vgl. Woolley 1934. 50 Lamberg-Karlovsky 1993. 51 Majidzadeh 2003a; Majidzadeh 2003b. 52 Majidzadeh 2008. 53 Als Philip Kohl Kohl 2001 seine Reflektion über die Bedeutung der Funde von Yahya schrieb, waren die Funde von „Jiroft“ noch unbekannt, die wenig später das gesamte Bild veränderten; vgl. auch Pittman 2013. 46

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Steingefäße des 3. Jts. v. Chr. aus Uruk

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größtenteils von der Polizei konfisziert oder, nach illegalem Export ins Ausland, erfolgreich von Iran zurückgefordert, so dass keinerlei Kontextbeobachtungen vorliegen54; doch haben die nachfolgenden Ausgrabungen im Siedlungshügel von Konar Sandal Süd55 Rohmaterialien und Produktionsabfälle der Steingefäßproduktion erbracht, welche die Hypothese einer Produktion am Ort stützen. Zugleich zeigten Siegelabrollungen aus den Grabungen in Konar Sandal Süd die direkte Verbindung des Ortes mit frühdynastischen Städten in Südmesopotamien an, zumal sogar ein Stadtsiegel aus Ur gefunden wurde56. Angesichts der Fundmengen ist inzwischen auch deutlich, dass die Chloritschnitzerwerkstätten in der Halilrud-Region keineswegs vorwiegend systematisch für einen Export von Luxusgütern arbeiteten, sondern dass die Chloritgefäße zuallererst eine eminente Rolle für die lokale Bevölkerung spielten, die sie im Totenkult benutzte57. Die Fundmenge erlaubt heute auch die Unterscheidung von stilistischen, materialtechnischen und thematischen Präferenzen zwischen den Produktionen unterschiedlicher Werkstätten58. Außer den beraubten Gräberfeldern in der Jiroft-Region kennen wir Chloritgefäße in der weiteren Region aus Schahdad59 als Grabbeigaben. Im extrem trockenen Schahr-e Suchte mit guten Erhaltungsbedingungen für organisches Material sind zudem auch Holzobjekte erhalten, welche den aus Chlorit gefertigten Stücken gleichen60. Dies ist ein Hinweis darauf, dass möglicherweise geschnitzte Holzgefäße den aus beständigem Chlorit gefertigten Stücken zur Seite zu stellen wären, diese aber in der Regel nicht erhalten sind. Die geraubten Gefäßkonvolute aus „Jiroft“ ergeben erst durch die gesicherten Beobachtungen zu den Grabsitten in Schahdad und Schahr-e Suchte und den Werkstätten in Konar Sandal Süd und Tappe Yahya ein kohärentes Bild. Sie verdeutlichen die wichtige Rolle Südostirans als ein Zentrum der Chloritschnitzerei. Die größte Gruppe der Produktion bilden Gefäße verschiedener Formengruppen, zudem gibt es eine Reihe andersartiger dreidimensionaler Objekte, wie Spielbretter und schwere, „handtaschenförmige“ Gewichte61, die in ähnlicher Weise mit Bildmotiven verziert sind. Durch die gute Erhaltung vollständiger Gefäße wird zugleich die

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Die Entdeckungen von „Jiroft“ sind von der Forschung zwiespältig aufgenommen worden. Einerseits war die Entdeckung einer vollkommen unbekannten bronzezeitlichen Fundlandschaft eine Sensation, dazu Lamberg-Karlovsky 2003; Lawler 2003; Pittman 2003. Andererseits hatten die Raubgrabungen umfangreiche Zerstörungen angerichtet und es gab keinerlei Beobachtungen zu den Fundkontexten. Das Gros der Funde war in zwei Gruppen von Polizei und Zoll konfisziert worden und niemand wusste, ob nicht bereits in diesen Konvoluten schon Fälschungen enthalten waren. Historische Erfahrungen mit der Fälschung ganzer Fundkategorien waren Anlass genug, die „Jiroft“-Funde als Referenzgröße abzulehnen, dazu grundsätzlich Muscarella 2000; und in Hinblick auf „Jiroft“, Muscarella 2005. 55 Majidzadeh 2008. 56 Matthews / Richardson 2019; Pittman 2008. 57 Lamberg-Karlovsky 1988: 52–55. 58 Pittman 2017; in diesem Sinne bereits Porada 1971: 326. 59 Hakemi 1997 Areal D, Raum 7 Nr. 4449. 60 Spielbrett aus Holz, vgl. Piperno / Salvatori 2007: 294, Grab 731 Nr. 8087. 61 Zur Formentypologie vgl. Lamberg-Karlovsky 1988; Perrot / Majidzadeh 2005: Fig. 3. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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eigenständige Prägung des Motivschatzes deutlich, der auf lokale Deutungsmuster verweist. Anhand dieser Vorbilder aus Südostiran ist es nun auch leichter möglich, fragmentierte Motive sinnvoll zu ergänzen. Der Motivschatz der Chloritgefäße ist vielfältig, doch zeigt die Kombination der Motive klare Präferenzen. Zu den wichtigsten wiederkehrenden Motivgruppen gehören das „Hüttenmotiv“ und Schlangenkämpfe62. Diese frühe Beobachtung wird in der ersten Bearbeitung der neuen Funde durch Jean Perrot und Youssef Majidzadeh bestätigt63, die einen klar strukturierten Themenkanon mit aus der natürlichen Welt entlehnten und mit fantastischen Motiven erkannten, in dem der Kampf zwischen Leopard oder Raubvogel gegen die Schlange eines der Hauptthemen bildet. Seither hat es mehrfach Versuche gegeben, die ikonographischen Themen der Chloritgefäße mit aus sumerischen Texten bekannten Mythen in Verbindung zu bringen, insbesondere mit dem Etana-Mythos64. Da die Chloritgefäße in Mesopotamien und Südostiran jedoch offenbar unterschiedliche Funktionen erfüllten, ist eine solche direkte Übertragung eines immateriellen Konzepts aus einem anderen Kulturkreis nach Südostiran problematisch. Chloritgefäße in Uruk: Funde, Kontexte, Klassifikationen Vor dem Hintergrund des neuen Kenntnisstands fügen sich nun die Chloritgefäßfragmente aus Uruk in ein größeres Bild, das zum Zeitpunkt der Erstpublikation des Urukmaterials so noch nicht sichtbar gewesen war. Das Material aus Uruk bildet eine kleine, nun aber klar zu umgrenzende Fundgruppe. Es handelt sich durchgehend um Bruchstücke, überwiegend aus sekundären Fundlagen in jüngerem Schutt im Bereich von Eanna65. Die wichtigsten Fundgruppen Kampfszenen: Schlangen, Geier, Menschen Schlangen gehören zu den abwechslungsreichsten Motiven der Gefäße aus Uruk, und waren auch im Fundbestand aus „Jiroft“ sehr häufig. Die Darstellung der Schlangen ist sehr ähnlich, als plastischer Wulst und mit regelmäßigen spitzovalen Bohrlöchern versehen, letztere dienten zur Aufnahme von Einlagen aus Muschel oder Koralle. In Uruk sind drei Fragmente belegt, die ausschließlich Schlangen zeigen. In einem Fall (Kat.-Nr. 1) ist die Binnenzeichnung der Schlange lediglich grob geritzt, wahrscheinlich stammt dieses Gefäß aus einer anderen Werkstatt als die beiden anderen. Es wirkt wie eine unvollkommene Variante einer großen Platte, an deren unterem Bildabschluss zwei gewaltige Schlangen im sog. Guilloche-Motiv umeinander geschlungen sind (Kat.-Nr. 2); dieses Flechtband war kein einfaches Dekor, sondern die Schlangen hatten zweifellos Köpfe, die aber hier nicht erhalten sind. Gute 62

Lamberg-Karlovsky 1988. Perrot / Majidzadeh 2005; Perrot / Majidzadeh 2006. 64 Vidale 2015. 65 Martin 1993: 11–17. 63

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Beispiele aus dem „Jiroft“-Bestand zeigen verwickelte Schlangen immer mit Kopf66. Das dritte kleine Fragment (Kat.-Nr. 3) zeigt nur einen Ausschnitt des Schlangenleibes. Eine vierte Scherbe, die zu einem außergewöhnlich großen Gefäß gehört haben muss (Kat.-Nr. 4a), zeigt Schlangenleiber, die von zwei Klauen ergriffen werden. Ähnlich gestaltet wie die Schlangenleiber, sind oberhalb der Klauen zweimal mehrere sichelförmige Flächen zu sehen, die in einem spitzen Dreieck enden. Der Vergleich mit den Motiven aus „Jiroft“ legt eine Rekonstruktion als Flügel nahe, wir sehen hier also das Fragment einer Szene, in der zwei Greifvögel mit Schlangen kämpfen. Für eine Rekonstruktion der Szene (Abb. 4b) bietet sich der Vergleich mit ähnlichen Motiven aus „Jiroft“ an67, auch wenn das Gefäß der Uruk-Scherbe ursprünglich wesentlich größer war und deshalb die Anordnung der Vögel vielleicht variiert. Zudem läuft ein Band im unteren Bildbereich in einer gebogenen Spitze aus und erinnert deshalb eher an die geläufigen Darstellungen von Skorpionen. Kleiner Exkurs zu den Raubvögeln aus Jiroft Die Raubvögel auf Chloritobjekten aus Jiroft werden in der Regel als Adler angesprochen. Sie ähneln in ihrer Standarddarstellung – frontal, mit gespreizten Flügeln und Beinen – der Darstellung des löwenköpfigen anzu-Vogels, wie er auf frühdynastischen Siegeln und Gefäßmalerei bekannt ist. Dennoch handelt es sich bei den Vögeln aus Jiroft nicht um Adler, sondern um Geier, genauer gesagt, um Bartgeier (Abb. 4c), gekennzeichnet durch einen kleinen Federbusch unterhalb des Schnabels68. Die Deutung des Vogels als Bartgeier nehme ich hier auch zum Anlass, die Ableitung der Raubvögel aus dem mesopotamischen Mythenschatz grundsätzlich in Frage zu stellen. Bartgeier sind große schlanke Raubvögel mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,9 m, die sich nahrungstechnisch auf den Verzehr von Knochen spezialisiert haben. Sie fressen kleine Knochen vollständig, und zerkleinern große Knochen, indem sie diese aus größerer Höhe auf Felsen fallen lassen. Nachdem die Chloritgefäße in Südostiran in Zusammenhang mit Bestattungssitten Verwendung fanden, liegt es nahe, die Darstellung der knochenfressenden Bartgeier in Zusammenhang mit der Behandlung der Toten zu sehen, möglicherweise als Botschafter aus dem Reich des Todes. Das fünfte Fragment ist die Randscherbe eines konischen Bechers (Kat.-Nr. 5), auf dessen Außenseite Abschnitte einer Schlange neben einer menschlichen Figur im Profil sichtbar sind. Von letzterer sehen wir lediglich die langen, zu einem Knoten geschlungenen Haare und vom Rücken aus eine waagrechte, dann nach unten abgewinkelte Form. Die Frisur weist diese Figur eindeutig als menschlich aus, es 66

Majidzadeh 2003: 98–104. Majidzadeh 2003: 92–93; Piran 2012: 82–83. 68 Den kleinen Federbusch am Schnabel hatten bereits Perrot / Majidzadeh 2005: 137 erkannt, dies hat sie jedoch nicht zu einer Revision ihrer Ansprache als „Adler“ veranlasst. Erst Vidale 2015 gelangte zu einer Beschreibung der Raubvögel als Bartgeier und versuchte, dies in Zusammenhang mit dem Etana-Mythos als eine Episode zu sehen, in der die Geier eine Tierkarkasse fressen. 67

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gibt gleichartige Darstellungen in den Jiroft-Konvoluten69 und auch in Tarut70. Im Gegensatz zu Menschen sind die anthropomorphen Helden und Mischwesen, die im Jiroft-Material ebenfalls häufig sind, immer mit offenem Haar dargestellt. Die spitzwinklige Fläche könnte eine nach hinten gewendete Schulter darstellen, wäre dann aber nicht anatomisch korrekt. Ich halte es deshalb für wahrscheinlich, dass diese Fläche vielmehr den Rand eines großen Gefäßes darstellt, in dem die Figur sitzt. Solche Szenen sind aus „Jiroft“ bekannt, sie scheinen auf ein kanonisiertes Ereignis aus dem Mythenschatz von Marhaschi hinzuweisen. Dieses Stück ist das einzige mit einer Weihinschrift, die sekundär innen unter dem Rand angebracht wurde71. Drei andere Stücke tragen figürliche Motive, sind aber aufgrund des kleinen erhaltenen Ausschnitts schwer zu rekonstruieren. Das Bodenfragment eines zylindrischen Gefäßes (Kat.-Nr. 6, o. Abb.) zeigt ein pflanzliches Motiv neben einer Struktur auf zwei geraden Beinen, möglicherweise ein Möbelstück. Ein weiteres Wandfragment (Kat.-Nr. 7, o. Abb.) ist mit schmalen, fein geritzten Streifen gegliedert, davor sieht man eine rundliche Fläche, möglicherweise ein Tierkörper. Daneben sind kleine Partien einer zweiten Figur erhalten, die vielleicht einen Tierschwanz bilden. Die Feinheit der Ritzungen setzt dieses Stück von den Produkten der Werkstätten im Halilrud-Gebiet ab und verweist auf andere Werkstatttraditionen. Das dritte Stück ist das Fragment wohl eines konischen Bechers (Kat.-Nr. 8), auf dem ein Bündel parallel verlaufender gebogener Linien und Teile eines Blatts oder Ohrs zu sehen sind. Durch den Verlauf des Gefäßprofils ist am ehesten eine Rekonstruktion wahrscheinlich, bei der das Linienbündel von einer waagrechten Linie herabhängt; dann würde sich darunter ein Tierohr oder ein Blatt befinden. Das Linienbündel selbst ist ohne Innengliederung und erinnert an die Darstellung von Wasser72. In der Ikonografie von Jiroft entspringen Wasserströme in der Regel zwischen den Hörnern von Stieren73. Haus- und Stadtmodelle Ein weiteres häufiges Motiv der Chloritgefäßproduktion in der Halilrud-Region sind Haus- bzw. Stadtmodelle74, die dort bis zu 12% der Gesamtproduktion ausmachen. Sie sind auch im Material aus Uruk mit zwei Grundtypen vertreten. Als Einzelstück belegt ist das Fragment eines zylindrischen Gefäßes mit tief eingeschnittenen senkrechten Feldern (Kat.-Nr. 9), die nach oben einen gestaffelten Abschluss haben. In diesen Feldern war ursprünglich farbige Paste eingebracht, und kleine rautenförmige Einlegeplättchen dienten der weiteren Innengliederung der Farbfelder. Das Stück

69

Majidzadeh 2003: 54–56. Zarins 1978: Taf. 70, 49. 71 Für eine erste Lesung vgl. Klengel / Klengel 1980; s. a. Braun-Holzinger 1991: 149 G. 185. 72 Majidzadeh 2003: 110. 73 Majidzadeh 2003: 13–14, 45–46, 53. 74 Delougaz 1960; zumeist flache zylindrische Gefäße, seltener konische Becher, vgl. Majidzadeh 2003: 67–75; Piran 2012: 98–99. 70

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stammt nicht aus den Ausgrabungen in Uruk, sondern war in einem Dorf in der Nähe angekauft worden. Ernst Heinrich bezog sich bei seinen Rekonstruktionen der Tempel von Uruk mit ihren rhythmisch durch Vor- und Rücksprünge gegliederten Fassaden, wie sie auch im archäologischen Befund von Uruk dokumentiert sind, explizit auf dieses Stück75. Der umfangreiche Einsatz von farbiger Paste ist im bronzezeitlichen Halilrud selten, aber nicht unbekannt, und so liefert auch diese Region die beste Parallele: ein niedriges zylindrisches Gefäß aus dem ersten „Jiroft“-Konvolut hat ähnliche senkrechte Kerblinien, und Reste weißer Paste sind in kleineren Feldern mit dreieckiger Schraffur erhalten76. M. Vidale hat kürzlich die Parallelen dieser Fassadengestaltung zu einem Tempel in Mundigak herausgestellt77. Die zweite Gruppe von Architekturmodellen umfasst drei Fragmente mit der „Standarddarstellung“ von Haus- bzw. Stadtmodellen, im Englischen oft als “hut motif” angesprochen. Dies sind in der Regel niedrige zylindrische oder auch eckige Gefäße, die auf der Außenseite mehrfach gestaffelte eckige Einheiten, teils mit durchhängendem oberen Abschluss, zeigen. Diese werden als hintereinander aufragende Hausfassaden, teils mit Toren, angesehen – das Modell wäre dann eine ganze Stadt, nicht ein einzelnes Gebäude. Die durchhängenden Torbogen verweisen wohl auf echte Häuser aus organischem Material, möglicherweise Schilf oder eine zeltartige Konstruktion78. Freie Flächen neben und über den Toren zeigen eine feine Innengliederung durch Kreuzschraffur oder Streifen kleiner quadratischer Felder, die an Ziegel erinnern. In einem Fall aus den Konvoluten aus „Jiroft“ ist zwischen zwei Fassaden eine Struktur mit treppenartig abgestuftem oberen Abschluss sichtbar, bei der es sich um die Darstellung einer Tempelfassade handeln könnte79. Gleichartige Darstellungen sind auch in Yahya vertreten80. Das Motiv des Stadtmodells fand weite Verbreitung in Mesopotamien81, in Tarut82 und Susa83, und ist auch in Uruk in drei Exemplaren, zwei Rand- (Kat.-Nr. 10, 12) und einem Wandfragment (Kat.-Nr. 11), belegt. Alle drei Fragmente aus Uruk zeigen ein Tor mit einem tief durchhängenden Türsturz als zentralem Element und lassen sich direkt mit den vollständigen Exemplaren aus den „Jiroft“-Konvoluten vergleichen.

75

Heinrich 1936: 37 Abb. 5 Taf. 25c. Majidzadeh 2003: 68. 77 Vidale 2017. 78 Delougaz 1960 schlug eine Rekonstruktion als Zelt, mit durchhängenden Spannseilen, vor; Crawford 1991: 185–186 schlug ebenso organische Baumaterialien vor, wie Schilf. 79 Majidzadeh 2003: 70–71; Piran 2012: 98. 80 Kohl 2001: Fig. 9.10. 81 Basmachi 1950: pl. V, 4. 82 Zarins 1978: Taf. 66, 109, 119, 271, 568. 83 Amiet 1986: 124; für eine vereinfachte Darstellung auf einem Bitumengefäß vgl. Connan / Deschesne 1996: 162‒163 Nr. 74; de Miroschedji 1973: Taf. IV, a‒h; V, c‒d. 76

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Exkurs zu den Stadtmodellen Eine plausible Interpretation der weit verbreiteten Gefäße mit Architekturdarstellungen steht noch aus. Aufgrund der hintereinander gestaffelten Module ist eine Ansprache als „Stadtmodell“ zu vermuten, und die durchhängenden Tor- oder Fensterstürze passen zu der Darstellung von Gebäuden aus organischem Baumaterial. Zugleich hat jedoch bereits Philip Kohl angemerkt, dass auch einzelne Lehmziegelfassaden derartige durchhängende Nischen- oder Fensterstürze haben können84, also die Staffelung der Module keineswegs auf eine Vielzahl an Gebäuden, sondern vielleicht nur auf eine komplexe Fassadengestaltung hinweist. Carl C. Lamberg-Karlovsky hat in den ziegelgemauerten Grablegen in Schahdad den “hutpots” vergleichbare gemauerte Strukturen mit aufgemalten Türstürzen85 beobachtet. Das “hut motif” ist in der mesopotamischen Ikonographie seit der Urukzeit mit der Darstellung von Herdentieren verknüpft, die aus einer solchen Konstruktion, vielleicht eine oben offene Hürde, hinaustreten. Fruchtbarkeit und Gesundheit der Herden stehen unter göttlichem Schutz, und die Darstellung der Hürden und Herden unterstreicht deren Bedeutung für das Wohlergehen der Gemeinschaft86. M. Vidale hat kürzlich versucht, die Darstellungen aus dem Halilrud-Kanon mit Themen aus den wesentlich jüngeren Avesta-Texten in Verbindung zu bringen87 und die Architekturmodelle als Darstellung einer unterirdischen Festung, genannt vara, zu interpretieren. Hinter der Vorstellung eines vara liegt eine Flutlegende aus dem ZendAvesta, in der dem Helden Yima die Aufgabe zufällt, das Leben auf der Erde in einem vara vor der Flut zu retten. Der Mythos spiegelt Motive, die wir ebenso aus den kanonischen mesopotamischen Flutlegenden kennen, doch ist die Rückübertragung jüngerer mythologischer Motive aus dem Avesta in die iranische Bronzezeit problematisch. Die Darstellung gefüllter Speicher und Ställe erscheint demgegenüber als eine plausiblere Variante der Interpretation. Iterative Muster An die Stadtmodelle schließen sich weitere Fragmente an, denen vor allem die repetitive Binnenzeichnung in Form von kleinen versetzten faszettierten Quadraten gemeinsam ist, die an Mauerwerk erinnern. Diese könnten zu ebensolchen Stadtmodellen gehört haben, wir kennen allerdings auch Gefäße, die vollständig mit Abschnitten solcher Binnenzeichnung dekoriert sind, aus Tarut88, Susa89 und aus der Halilrud-Produktion90. Zu dem Bruchstück eines konischen Gefäßes, dessen Quadratflächen durch Zickzacklinien getrennt sind (Kat.-Nr. 13), passt am ehesten ein

84

Kohl 2001: 222. Lamberg-Karlovsky 1988: 53. 86 Delougaz 1968. 87 Vidale 2017. 88 Zarins 1978: Taf. 66, 345. 89 De Miroschedji 1973: Abb. 5, 9‒13. 90 Majidzadeh 2003: 116; Piran 2012: 98–99; ein Steingewicht mit einer komplexen Stadtansicht bei Piran 2012: 68. 85

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konischer Becher aus dem zweiten Konvolut aus „Jiroft“91. Bei den kleineren Fragmenten (Kat.-Nr. 14‒17, sowie Kat.-Nr. 18‒19 o. Abb.) ist eine Zuweisung zu einem Stadtmodell nicht eindeutig möglich. Abschließend seien drei Einzelstücke genannt, die ebenfalls jeweils mit iterativen Mustern verziert sind. Insgesamt fünf wohl zusammengehörige Fragmente (Kat.-Nr. 20, o. Abb.) tragen ein Muster aus dicht gesetzten, spitz endenden Schuppen mit Innenzeichnung. Dieses Gefäß zeigt auf der Innenseite Spuren der Herstellung auf einer drehbaren Scheibe, eine Technik, die z. B. in Yahya nicht verwendet wurde92. Vergleichbare Schuppenmuster kommen auch im ersten Konvolut aus „Jiroft“ vor93, sind aber auch in Susa belegt94. Eine flache runde Platte (Kat.-Nr. 21) trägt am Rand umlaufend ein Muster aus schuppenartigen Bögen, wie sie sonst in der Halilrud-Produktion Berge darstellen95; solche Schuppen können aber auch flächig aufgebracht sein und erinnern dann an den Stamm einer Palme96. Ein letztes Stück trägt ein Muster aus ineinander gesetzten Quadraten und kann keinem eindeutigen Motiv zugewiesen werden (Kat.-Nr. 22). Zusammenfassung: Chloritgefäße in Uruk Die vorangehende detaillierte Auflistung hat für diese Gruppe von Chloritgefäßen aus Uruk eine gute Vergleichbarkeit mit den Fundkonvoluten aus „Jiroft“ und Tappe Yahya gezeigt. Auch wenn ohne mineralogische Referenzen eine zweifelsfreie Zuordnung dieser Scherben zu einzelnen Produktionsstätten am Halilrud nicht möglich ist, ist diese aufgrund der ikonographischen und stilistischen Vergleiche sowohl für die Gruppe der Schlangenkämpfe, wie auch der Stadtmodelle und der iterativen Muster sehr wahrscheinlich. Zugleich wurden auch Unterschiede z. B. in der Produktionstechnik zwischen der Werkstatt in Yahya und dem Urukmaterial festgestellt, was aber den weiteren Raum als Herkunftsregion nicht ausschließt. Die Chloritgefäße verknüpfen Uruk mit dem im späteren 3. Jahrtausend v. Chr. zwischen Mesopotamien, Ostiran, Zentralasien, dem Indus und den Anrainern des Persischen Golfs bestehenden Netzwerk zirkulierender Steingefäße. Angesichts dieser weiten Verbreitung ist es kein Wunder, dass solche Gefäße auch im spätfrühdynastischen Uruk zu finden waren. Uruk hatte zwar die übermächtige Stellung verloren, die es im ausgehenden 4. Jt. v. Chr. eingenommen hatte und geriet gegen Ende der FD-Zeit unter die Oberhoheit der Nachbarstadt Ur. Doch noch immer gelangte Material aus dem überregionalen Netzwerk in die Stadt, auch wenn wir das Ausmaß des Materialflusses und seine Motivation anhand der vorliegenden Funde nur vage erahnen können. An dieser Stelle soll deshalb eine Erörterung der heutigen Befundlage diesen Beitrag abschließen.

91

Piran 2012: 70. Kohl 2001: Fig. 9.4 zeigt zwei der Fragmente aus Uruk. 93 Majidzadeh 2003: 44. 94 De Miroschedji 1973: Abb. 4, 2. 95 Majidzadeh 2003: 13. 96 Piran 2012: 74. 92

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Chloritgefäße in einer überregionalen Perspektive Die Blütezeit der Austauschbeziehungen zwischen dem Halilrud-Tal und Mesopotamien, die sich anhand von mesopotamischen Siegelabrollungen aus Konar Sandal nachvollziehen lassen, war die jüngere frühdynastische Zeit97. Auch wenn die Ergebnisse von Konar Sandal nur eingeschränkte Rückschlüsse auf die Datierung der kontextlosen Chloritgefäße aus „Jiroft“ erlauben, so ist aus Gründen der Vergleichbarkeit von Siegelthemen und der Ikonographie der Gefäße wahrscheinlich, dass diese demselben Zeithorizont angehören. Hingegen sind auf vielen Chloritgefäßen in Mesopotamien akkadische Inschriften angebracht, vor allem solche, die König Rimusch nennen und der „Beute aus Parahshum“ zugehörig sind. Diesen chronologischen Widerspruch können wir beim gegenwärtigen Wissensstand und ohne neue Grundlagenforschung derzeit noch nicht befriedigend auflösen. Doch entfällt mit einer solchen chronologischen Differenzierung der Verwendung von Chloritgefäßen in Iran und in Mesopotamien jede Grundlage für eine Diskussion im Rahmen von Modellen von Handelsnetzwerken oder Austauschbeziehungen, die ja eine chronologische Gleichzeitigkeit voraussetzen. Jenseits der reinen Chronologiedebatte spricht die andersartige Verwendung der Chloritgefäße in Mesopotamien als Tempelweihgaben mit sekundärer Beschriftung dafür, dass diese Gefäße dort eine Bedeutung hatten, die jenseits ihrer Ikonografie liegt. Vielmehr wäre die unterschiedliche Funktion dieser Gefäße in Südostiran und in Mesopotamien, in Iran im Totenkult, in Mesopotamien als Weihgabe nach einem erfolgreichen Feldzug98, Grund genug, diesen Objekten im primären Grabkult eine längere Aufbewahrung zuzugestehen. Ihre Weihung in Mesopotamien nach Abschluss einer erfolgreichen militärischen Intervention würde sich gut in das Bild des Siegerrechts einpassen, welches das Plündern von Tempeln, Palästen, aber auch Häusern und Gräbern erlaubt. Als Trophäen einer solchen Verwüstung, die selbst die Grabstätten des Gegners vernichtet, hätten die in den mesopotamischen Tempeln geweihten Gefäße im Verlauf ihrer Geschichte eine tiefgreifende Umdeutung erfahren, von einer Rolle im Totenkult über die Plünderung von Grabstätten bis hin zur Weihung nach dem Abschluss des Kriegszugs. Auch wenn eine solche Deutung der mesopotamischen Chloritgefäße hypothetisch bleiben muss, so öffnet sie doch den Blick auf mögliche partikulare Dynamiken, welche der Verbreitung dieser Objekte in Mesopotamien zugrunde liegen können. Die Gefäßfragmente aus Uruk, die aufgrund ihrer überwiegenden Fundlage in sekundärem Schutt im Eannabezirk sicherlich ebenso als Weihgaben anzusprechen sind wie andere Funde aus mesopotamischen Kontexten, könnten ebenso wie die anderen bekannten Funde „aus der Beute von Parahshum“ aus Südostiran im Lauf der akkadischen Eroberungsfeldzüge nach Uruk gelangt sein. Durch die Entdeckungen und nachfolgenden Untersuchungen in der Nähe von Jiroft ergibt sich heute ein differenzierteres Bild dieser Region als Produktionszentrum und zugleich Hauptverbreitungsgebiet der figürlich geschnitzten Chloritgefäße. Zugleich wird ihre eminente Rolle im Totenkult dieser Region sichtbar, während in 97 98

Pittman 2013. Klengel / Klengel 1980. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Mesopotamien die gleichen Objekte als Tempelweihgaben vorkommen. Die Ungleichzeitigkeit der Nutzung spricht für ein Nacheinander dieser Praktiken und erlaubt eine generalisierte biografische Betrachtung dieser Objektkategorie, mit einer primären Verwendung im lokalen Totenkult in Südostiran und eine sekundären Deponierung im Tempel durch Teilnehmer eines akkadischen Kriegszugs. Dank: zum ersten Mal konnte ich für diesen Artikel auf die Zusammenarbeit mit dem bewährten Team des Vorderasiatischen Museums vertrauen, und danke all denen, die mich unterstützt haben: Nadja Cholidis hat mit mir alle registrierten Nummern im Depot durchgesehen, Olaf Teßmer hat die in Berlin liegenden Chloritscherben neu fotografiert, Christine Kainert hat die Abbildungen gesetzt und die schöne Zeichnung von Kat.-Nr. 4 angefertigt, und Juliane Eule hat die Inschrift von Kat.-Nr. 5 neu gelesen.

Liste der Chloritgefäße aus Uruk Kat.-Nr. 1: Martin 1993, Kat.-Nr. 921. Kat.-Nr. 2: Martin 1993, Kat.-Nr. 920. Kat.-Nr. 3: VA 14898 – W. 04737. Kat.-Nr. 4: Martin 1993, Kat.-Nr. 1102. Kat.-Nr. 5: Martin 1993, Kat.-Nr. 690. Kat.-Nr. 6: Martin 1993, Kat.-Nr. 932, hier ohne Abbildung. Kat.-Nr. 7: Martin 1993, Kat.-Nr. 1103, hier ohne Abbildung. Kat.-Nr. 8: Martin 1993, Kat.-Nr. 1110. Kat.-Nr. 9: Martin 1993, Kat.-Nr. 219. Kat.-Nr. 10: Martin 1993, Kat.-Nr. 797. Kat.-Nr. 11: Martin 1993, Kat.-Nr. 1105. Kat.-Nr. 12: Martin 1993, Kat.-Nr. 774. Kat.-Nr. 13: Martin 1993, Kat.-Nr. 291. Kat.-Nr. 14: Martin 1993, Kat.-Nr. 777. Kat.-Nr. 15: Martin 1993, Kat.-Nr. 1108. Kat.-Nr. 16: Martin 1993, Kat.-Nr. 1106. Kat.-Nr. 17: Martin 1993, Kat.-Nr. 691. Kat.-Nr. 18: Martin 1993, Kat.-Nr. 776, hier ohne Abbildung. Kat.-Nr. 19: Martin 1993, Kat.-Nr. 777, hier ohne Abbildung. Kat.-Nr. 20: Martin 1993, Kat.-Nr. 1107, hier ohne Abbildung. Kat.-Nr. 21: Martin 1993, Kat.-Nr. 307. Kat.-Nr. 22: VA 13009 – W. 01089.

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Lesung der Weihinschrift auf Gefäß Kat.-Nr. 5 – VA 14876 Juliane Eule, Berlin VA 14876 1 u[r]-saĝ-pa-˹è˺(UD.D[U]) 2 ˹unug˺ki Ursaĝ-pa’e aus Uruk. Kommentar Z. 1) Dieser Personenname ist auch in Fāra und Lagaš belegt, s. Pomponio 1987: 261 und Balke 2017: 442. Z. 2) Die Inschrift bricht in der Zeile ab. Ob sie hier endet, bleibt daher offen. Bibliografie Algaze 1993 Guillermo Algaze, The Uruk World System. The Dynamics of Expansion of Early Mesopotamian Civilization, Chicago. Amiet 1986 Pierre Amiet, L’âge des échanges inter-iraniens. 3500‒1700 avant J. C. Éd. de la Réunion des Musées Nationaux 11, Paris. Aruz / Wallenfels 2003 Joan Aruz / Ronald Wallenfels (Hrsg.), Art of the First Cities. The Third Millennium B.C. from the Mediterranean to the Indus, New Haven / London. Balke 2017 Thomas E. Balke, Das altsumerische Onomastikon. Namengebung und Prosopografie nach den Quellen aus Lagas. dubsar 1, Münster. Banks 1912 Edgar J. Banks, Bismaya or the Lost City of Adab. A Story of Adventure, of Exploration, and of Excavation Among the Ruins of the Oldest of the Buried Cities of Babylonia, New York / London. Basmachi 1950 Faraj Basmachi, Sculptured Stone Vases in the Iraq Museum, in: Sumer 6, 165–176. Braun-Holzinger 1991 Eva A. Braun-Holzinger, Mesopotamische Weihgaben der frühdynastischen bis altbabylonischen Zeit. Heidelberger Studien zum Alten Orient 3, Heidelberg. Burkholder 1971 Grace Burkholder, Steatite Carvings from Saudi Arabia, in: Artibus Asiae 33, 4, 306–322.

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Steingefäße des 3. Jts. v. Chr. aus Uruk

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Steingefäße des 3. Jts. v. Chr. aus Uruk

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Tafeln

Tafel 1

Uruk, Chloritgefäßscherben Kat.-Nr. 1, 2, 3, 5, 8. (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Tafel 2

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Uruk, Chloritgefäßscherbe Kat.-Nr. 4 (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer). Abb. 4b zeigt eine Projektion dieses Bildes auf eine Zeichnung eines Gefäßes aus „Jiroft“, Zeichnung und Montage Christine Kainert. Abb. 4c zeigt einen Bartgeier, fotografiert im Alpenzoo, Innsbruck, Österreich (Foto Richard Bartz (CC BY-SA 2.5.)) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Steingefäße des 3. Jts. v. Chr. aus Uruk

Tafel 3

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Uruk, Chloritgefäßscherben Kat.-Nr. 9, 10, 11, 12 (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Tafel 4

Barbara Helwing

Uruk, Chloritgefäßscherben Kat.-Nr. 13‒17, 21‒22 (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Foto: Olaf M. Teßmer) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

The “Sun(God) of all People” Šamaš’s Presence in the Throneroom of Ashurnasirpal II at Kalḫu David Kertai / Jerusalem1 The scene behind the throne dais in Ashurnasirpal II’s throneroom in Kalḫu’s Northwest Palace is arguably the canonical image of its era (Fig. 1). Situated in the most prominent location within the palace and employed on seals by elite individuals throughout the empire (allowing these elites to mark their royal associations),2 the scene is also likely the most frequently discussed and interpreted of the extant Assyrian images from the reign of Ashurnasirpal II, with scholars positing a range of different interpretations of its elements and overall meaning. This article will limit its focus to the winged disc appearing in the scene. Often associated with Assyria’s titular god Aššur, as first suggested by Henri Frankfort,3 this article will argue that the winged disc is instead an emblem of the god Šamaš, an alternative argument often made in scholarship.4 This paper does not aim to provide a detailed assessment of Šamaš, a task long overdue but beyond the scope of this paper, but will instead aim to recontextualize him within the throneroom. It is a great pleasure to dedicate this article to Lutz Martin, whose kindness and professionalism made work at Tell Halaf an exceptionally pleasant and productive undertaking. The Visual Presence of Šamaš The depiction of Assyrian gods followed the same principles used for depicting humans. Gods were rendered as genericized personas with divinely perfected bodies rather than unique personalities.5 Specific identities were mapped onto these bodies and communicated to the viewer through attributes and additions (e.g., the wearing of a beard and/or particular garments). The bodies of the gods were not only similarly generalised but were identical to those of humans. Rather than being made physically distinct, gods were marked out as divine by the addition of a distinct headwear. This generally took the form of a horned crown, the divine identifier par excellence in Mesopotamia. 1

This article was written and researched at the Martin Buber Society of Fellows in the Humanities and Social Sciences at the Hebrew University of Jerusalem and the Institute for the Study of the Ancient World, New York University. I would especially like to thank Beate Pongratz-Leisten, Karen Sonik, and Frans Wiggermann for their remarks and suggestions. 2 Winter 2000. 3 Frankfort 1939: 210‒215. 4 The scholarship, which have been treated extensively by, amongst others, Eckhart Unger (Unger 1965), Ruth Mayer-Opificius (Mayer-Opificius 1984), Tallay Ornan (Ornan 2005). 5 Kippenberg 1990; Pongratz-Leisten 2011; Sonik 2015. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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In the absence of specific attributes, contextualisation, or accompanying inscriptions, individual gods are not identifiable. As with humans, additional information is provided through the addition of emblems, attributes, and context. The various emblems, which were often specific to individual deities, could stand in place of the anthropomorphic god. The consistency of their appearance in conjunction with specific gods, in combination with additional textual verification, allows most emblems to be clearly associated with particular gods.6 The attributes used by the gods, in contrast to their emblems, are much more limited in number and are generic rather than specific to individual gods (though some attributes, too, may stand in place of the anthropomorphic god). Common attributes such as the axe or the bow and arrow are used by most gods; gods bearing these are therefore generally beyond identification if they are shown with only such attributes. Šamaš was among a select group of gods with his own distinct attributes, including the saw with which he cuts his way through the mountains to rise every morning, his own specific emblems, including the cross, the sun-disc, and, as argued here, the winged disc, as well as his own creature the horse. Šamaš and the Winged Disc As a divine emblem the winged disc would commonly be associated with a single god or goddess. However, one of the main questions concerning the winged disc is whether it is a single emblem with an unusual amount of variation or whether the identified variations in fact constitute different emblems, which were perhaps associated with different gods. The main variants identified are: (1) The non-anthropomorphised winged disc: this is the winged disc without an anthropomorphic god in its centre (Fig. 2). (2) The anthropomorphised winged disc: this is the winged disc with an anthropomorphic god in its centre (Fig. 1). (3) The winged disc with gods at its wings: this is the winged disc with two additional gods, one at the end of each wing (Fig. 3). The link between the non-anthropomorphised winged disc and the god Šamaš is corroborated by, amongst other things, Assyrian stelae that both depict this emblem and mention Šamaš in the accompanying inscriptions. These stelae have been studied in detail by Julian Reade.7 His analysis shows that while the emblems used on Assyrian stelae differ in number, their sequence was consistent. The winged disc is part of the most common group of five emblems, and it is usually depicted together with the moon crescent (Sîn), the lighting fork (Adad), the star (Ištar), and a horned crown. The inscriptions make clear that, in these settings, the winged disc is exclusively associated with Šamaš. Notably, the god Aššur is made present through his own emblem: the horned crown. This crown is otherwise rare in Assyria as emblem (though very common as headwear of the gods).

6 7

Seidl 1968; Seidl 1971; Herles 2006. Reade 1977. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

The “Sun(God) of all People”

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The Winged Disc with Anthropomorphic Gods The argument that the different types of winged disc, and especially the anthropomorphised winged disc versus the non-anthropomorphised winged disc, need to be distinguished has been made most forcefully by Simo Parpola.8 He supported his argument with a text whose relevant part is translated as “40 double hours is the disc of the sun. 60 double hours is the disc of the moon. The inside of the s[un is Ma]rduk. The inside of the moon is Nabû.”9 The scholarly and esoteric nature of the text makes this a problematic foundation for such an argument. Aside from the fact that the text does not mention a disc, but rather describes the circumference of the sun/ moon, and that it mentions Marduk instead of Aššur,10 the text is a scholarly one and does not obviously relate to the visual domain. The text continues with the line, “inside the sun there is a viper (bašmu),” which is not at all related to the iconographic tradition of the winged disc. A more productive venue for analysing the winged disc is to examine the large corpus of scenes that incorporate the winged disc in its various manifestations. Such an analysis reveals that there is no significant difference between the anthropomorphised vs. non-anthropomorphised winged discs. The two appear interchangeably. The seal compositions in which the winged disc appears, which incorporate various of the elements known from Ashurnasirpal II’s throneroom, are, moreover, notable for their frequent incorporation also of creatures related to Šamaš: the kusarikku (bull-man; Fig. 4) or girtablillȗ (scorpion-man; Fig. 3) are often shown holding up the winged disc. The few anthropomorphic depictions of Šamaš in Neo-Assyrian times support the idea that all variants of the winged disc should be associated with Šamaš and undermine the (implicit) ontological distinctiveness assigned to anthropomorphism (at least in the context of Assyria). On Sennacherib’s rock reliefs at Maltai, groups of seven anthropomorphic gods are shown. The groups are headed by Aššur (in-andof-itself an uncommon presence) and his wife Mullissu.11 The fifth god can be identified as Šamaš, since he is standing on a horse. On one of the reliefs, the disc atop his crown is replaced by a winged disc, emphasising the connection between the two. The position of Šamaš in these compositions, fifth in the line, corresponds to his previous position as third god on Assyrian stelae, only with Mullissu and Nabȗ included alongside Aššur ahead of him. If, at Maltai, Šamaš is shown with his emblem rather than being replaced by an anthropomorphised winged disc, a Neo-Assyrian seal more clearly combines the two. The seal depicts Šamaš standing on his horse but with his upper body integrated into the winged disc (Fig. 5).12 A similar scene appears on a Middle Assyrian seal, though with the addition of two minor deities kneeling while they 8

Parpola 1993: 185, n. 93. See also Parpola 2000: 171. SAA 3, 39: r. 4‒5 (Livingstone 1989). 10 In this case Marduk is unlikely to stand for Aššur since Aššur himself is mentioned a few sentences later in the same text (r. 8). 11 Bachmann 1927: 21, Abb. 15, Taf. 21. 12 Keel-Leu 2004: Nr. 236. 9

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support Šamaš.13 These minor gods likely represent the anthropomorphic gods who later appear at either end of the wings in the winged disc with gods at its wings.14 Probably, they are the same two gods who appear atop the so-called Šamaš Tablet holding up the sun-disc. As Claudia Fischer has argued, these gods are likely to be the same as those who hold open the gate for the rising sun-god on Akkadian seals.15 Šamaš in the Throneroom of Ashurnasirpal II The anthropomorphised winged disc appears most prominently in the throneroom of Ashurnasirpal II. In addition to its presence in the scenes shown behind the throne dais (relief 23; Fig. 1) and in the middle of the room (relief 13), this winged disc is present four more times in the narrative scenes shown along the southern wall of the room (reliefs 3, 5 [Fig. 6], 11, and 18). At the centre of the room (relief 13), the god holds his bow downwards while making a greeting gesture, similar to his posture on the Broken Obelisk, the earliest depiction of this motif.16 The god in the winged disc behind the throne dais holds a ring while making a similar greeting gesture. Both central discs are shown with radiating lines that probably represent rays of the sun. A similar winged disk is shown on relief 18 above the king and the crown prince, with the latter shown in his role of introducing prisoners to the king.17 The three additional winged discs in the throneroom accompany the king during battle and are shown above the king as he stands in his chariot. The king and gods in these discs are depicted as performing the same action: they draw an arrow during combat in 3U and 11U; and they make a greeting gesture after the battle has been won in 5U. Each emblem is slightly different. The greeting god’s disc most clearly represents a sun-disc (Fig. 6). The disc is formed by combining the four-legged cross of Šamaš with four sunrays. This disc has been shifted for visibility as the god occupies its centre.18 The cross is rare in Assyrian iconography and seems to have been used exclusively by the king. Ashurnasirpal II’s stelae highlight the correlation between Šamaš’s different emblems. On the king’s stele in the Ninurta Temple the cross appears as part of Ashurnasirpal II’s necklace together with the emblems of Adad, Sîn, and Ištar (Fig. 2). The horned crown of Aššur is probably hidden under his clothes, replicating the five divine emblems shown on the upper part of the stele, though the cross in the necklace (Šamaš) is replaced on the upper part of the stele with a variant of the winged disc (wings encompassing a sun-disc containing a cross and four rays).19 On the so-called Banquet Stele, placed in a niche (AE) just outside the throneroom, the king wears a similar necklace with five emblems.20 Six emblems 13

Amiet 1973: Nr. 413. Seidl / Sallaberger 2005‒2006: 58. 15 Fischer 2002: 127. 16 Börker-Klähn 1982: Nr. 131 17 Kertai 2017. 18 Barnett / Lorenzini 1975: pl. 39. 19 Barnett / Lorenzini 1975: pl. 2. 20 Mallowan 1966: 73. 14

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The “Sun(God) of all People”

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also appear separately at the top of the stele (five of these replicating those on the necklace and the sixth depicts the seven dots of the Sebettu). The sun-disc on the necklace is similar to the sun-disc that appears at the top of the stele.21 The Kurkh Stele of Shalmaneser III found at Üçtepe, on which the king is likewise shown wearing a necklace of emblems, is notable for depicting the winged disc (rather than merely a sun-disc) in the necklace.22 The cross representing Šamaš is also present on later royal monuments. It is placed above Tiglath-pileser III, in combination with a disc (star?) and a moon crescent, on a relief that was intended for his royal palace at Kalḫu.23 The three emblems of cross, disc (star?), and moon crescent must represent the ubiquitous trio of Šamaš, Ištar, and Sîn. On a stele from Tell Rimah, Adad-nerari III is shown wearing a necklace with only a cross.24 This type of necklace is also shown on a stele of ŠamšiAdad V that is dedicated to Ninurta but was found in the Nabȗ Temple in Kalḫu.25 On the Prominence of Šamaš? The correlation between divine prominence and a god’s visual presence in the world ‒ through emblems, creatures, or anthropomorphic depictions ‒ was a complicated one in Assyria. The god Aššur, despite his prominence, was in many ways a poorly articulated god with few unique features of his own. In the absence of such specificity, Aššur cannot positively be identified. Even the horned crown, the only emblem that can be clearly linked with Aššur, is not specific to him but derives from the most exalted of earlier divinities like Anu. The use of the horned crown as emblem is moreover limited to royal contexts such as stelae and is not used widely or by gods other than Aššur. The visual depictions of other prominent gods are similarly complicated. The powerful god Ninurta, for example, is often invoked but is almost never depicted using his emblem (a bird) on Assyrian stelae or seals.26 He is, however, prominent on seals in his anthropomorphic form, as in the emblematic scene in which he fights Anzȗ (or another of his opponents). The visual presence of Šamaš is almost the opposite; Šamaš rarely appears in anthropomorphic form but is omnipresent through his emblems: the cross, the sun-disc, and the winged disc. These emblems could be used interchangeably on stelae but not on seals, in which the emblems occupied different contexts. On seals, the cross was rare; the sun-disc was part of a trio of emblems together with the moon sickle (Sîn) and the star (Ištar); and the winged disc was part of scenes similar to the one depicted in the throneroom. While earlier scholarship has mostly focused on explaining Aššur’s presence in the throneroom through the depiction of the winged disc, the significance of the god Šamaš for the Assyrians has not gone unremarked. As Stefan Maul has argued: “the 21

Wiseman 1952: pl. VII. BM 118884. 23 Barnett / Falkner 1962: VIII. For Tiglath-pileser III’s palace see Kertai 2015: 80–82. 24 Oates 1968: pl. XXXVIII. 25 Gadd 1936: 149–150. 26 The main exception is Sennacherib’s rock relief at Judi Dagh (King 1913: 73–77). 22

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Assyrians and Babylonians saw a connection between the sun, which maintains order within creation, and the earthly social order”.27 Šamaš features prominently in the royal inscriptions. Ashurnasirpal II’s texts describe him as the “judge of heaven (and) underworld, commander of all”28 on the stele placed in the Ninurta Temple. The same text describes Šamaš’s role towards Ashurnasirpal’s kingship as follows: “In my accession year (and) in my first regnal year when the god Šamaš, judge of the (four) quarters, spread his beneficial protection over me, (and) when I nobly ascended the royal throne, he placed in my hand the sceptre for the shepherding of the people.”29 Šamaš’s role during the king’s coronation is made more explicit in Ashurbanipal’s Coronation Hymn, which starts with “May Šamaš, king of heaven and earth, elevate you to shepherdship over the four [region]s” and only then moves on to mentioning Aššur.30 As Beate Pongratz-Leisten argues, the coronation was actually performed in front of Šamaš: she notes, moreover, that “Ashurbanipal’s invocation of the sun god Šamaš is inextricably linked to his claim to universal control”.31 Šamaš was one of the gods that accompanied the Assyrian army on military campaigns and, in Ashurnasirpal II’s inscriptions, Šamaš is especially prominent in such contexts. In addition to the winged disc that accompanies the king in battle, the Assyrian chariots make Šamaš’s presence visible in a subtler way by adorning the king’s horses with Šamaš’s sun-disc with cross. This adornment is particular to these military contexts. Horses are otherwise, especially in later periods, adorned with rosettes.32 Rosettes also adorn the king’s chariot on relief WFL-19, which shows the king crossing mountains.33 The chariot used in the hunting scene depicted on relief WFL-13 instead shows a lion, the emblem of kingship, turning his head back towards the king akin to the lion being hunted.34 Šamaš is sometimes associated with the king more directly. From the reign of Adad-nerari I (1295–1264 BC) onwards the sign 20, commonly used to refer to Šamaš, came to be used to write the word king (šarru) in the sign’s reading as MAN.35 In his royal inscriptions Ashurnasirpal II is described as the “strong king, king of the universe, unrivalled king, king of all the four quarters, sun(god) of all people” [i.e. the divine sun (dšamšu)].36 Esarhaddon is called “the very image (ṣal27

Fischer 2002: 132. Maul 1999b: 202, 206–207. Grayson 1991: A.0.101.17: 9. 29 Grayson 1991: A.0.101.1: i.43–45; A.0.101.17: i.61–65. 30 Porter 2000: 265; Pongratz-Leisten 2015: 214; SAA 3, 11: 1 (Livingstone 1989). 31 Pongratz-Leisten 2015: 214. SAA 3, 11: r. 3–4 (Livingstone 1989). 32 A winged disc adorns a chariot of Tiglath-pileser III whose horse is adorned with a rosette (Barnett / Falkner 1962: LXVIII–LXIX). 33 Barnett / Falkner 1962: CXVI–CXVII). WFL numbering follows Paley / Sobolewski 1987: pl. 5. 34 Barnett / Lorenzini 1975: pl. 37. 35 Pongratz-Leisten 2015: 175. 36 Grayson 1991: A.0.101.1: 9–10; A.0.101.3: 17–18; A0.101.28: 7–8; A.0.101.56: 1–2. The Kurkh Stele has the variant “… marvellous shepherd, commander of all people, king of all the four quarters, sun(god) of all people …” (A.0.101.19: 20–22). 28

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mu) of Šamaš” by one of his scholars.37 As Peter Machinist argues, “from the texts where these expressions occur, it becomes evident the king is considered Šamaš especially as he displays, in clear and public manner, his sovereign control and order over the known world, just as the god manifests the light of his rule over the world.” Beyond modern theoretical and theological arguments associating Aššur with (some variants of) the winged disc, all existing evidence points to its association with Šamaš. The inescapable conclusion, that the room focuses on the king’s relation with Šamaš rather than Aššur, highlights the need for a more holistic and nuanced view of Assyrian religion. Bibliography Amiet 1973 Pierre Amiet, Bas-Reliefs Imaginaires de l’ancien Orient: D’après Les Cachets et Les SceauxCylindres, Paris. Bachmann 1927 Walter Bachmann, Felsreliefs in Assyrien, Bawian, Maltai und Gundük, Leipzig. Barnett / Lorenzini 1975 Richard David Barnett / Amleto Lorenzini, Assyrische Skulpturen im British Museum, Toronto. Barnett / Falkner 1962 Richard David Barnett / Margarete Falkner, The Sculptures of Aššur-Nasir-Apli II, 883–859 B.C., Tiglath-Pileser III, 745–727 B.C. and Esarhaddon, 681–669 B.C., from the Central and South-West Palaces at Nimrud, London. Börker-Klähn 1982 Jutta Börker-Klähn, Altvorderasiatische Bildstelen und vergleichbare Felsreliefs. Baghdader Forschungen 4, Mainz. Fischer 2002 Claudia Fischer, Twilight of the Sun-God, in: Iraq 64, 125–134. Frankfort 1939 Henri Frankfort, Cylinder Seals. A Documentary Essay on the Art and Religion of the Ancient Near East, London. Grayson 1991 Albert Kirk Grayson, Assyrian Rulers of the Early First Millennium BC I (1114‒ 859 BC). The Royal Inscriptions of Mesopotamia, Assyrian Periods Volume 2, Toronto.

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Figures

Fig. 1

Drawing of Relief 23, Ashurnasirpal II’s throneroom Northwest Palace, Kalḫu (after Layard 1849: pl. 25).

Fig. 2

Upper part of Ashurnasirpal II stele, Ninurta Temple, Kalḫu (BM 118805; © Trustees of the British Museum).

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Fig. 3

Modern impression of an Assyrian seal showing, amongst others, two girtablillȗ (scorpion-men) holding up an anthropomorphised winged disc with gods at its wings (BM 102966; © Trustees of the British Museum).

Fig. 4

The Šamaš Tablet of Nabu-aplu-iddina showing Šamaš sitting on a chair supported by two kusarikku (bull-men). The sun-disc is held up by two minor deities who are likely identical to the two gods in the anthropomorphised winged disc (BM 91000; © Trustees of the British Museum).

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Fig. 5

Modern drawing of an Assyrian seal showing Šamaš, whose upper body is integrated into the winged disc with gods at its wings, standing on his horse, two kusarikku (bull-men) support the winged disc (after Schroer 1987: Abb. 107).

Fig. 6

Anthropomorphised winged disc integrated into a sun-disc with cross and sunrays, fragment of relief 5 (upper part) in Ashurnasirpal II’s throneroom Northwest Palace, Kalḫu (BM 124551; © Trustees of the British Museum). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Materielle Verbindungen zwischen der Ḫābūr-Region und Kilikien im 1. Jt. v. Chr. Sabina Kulemann-Ossen / Freiburg i. Brsg. In den Jahren 1993–1998 unternahm das Vorderasiatische Museum Berlin unter Leitung der damaligen Direktorin Evelyn Klengel-Brandt Ausgrabungen am Tell Knēdiǧ in der nordost-syrischen Ḫābūr-Region. Die örtliche Grabungsleitung lag in den Händen von Lutz Martin, den ich in meiner Zeit als Mitarbeiterin des Grabungsprojektes als guten Freund und Kollegen schätzen gelernt habe. Wenn auch die gemeinsamen Jahre in Tell Knēdiǧ lange zurückliegen, so sind wir bis heute in enger Freundschaft verbunden. Während Lutz Martin mit seiner Arbeit am Tell Ḥalaf der nordostsyrischen Region treu geblieben ist, hat es mich in den vergangenen Jahren über Umwege in die Türkei geführt, wo ich seit 2011 an den Grabungen im kilikischen Fundort Sirkeli Höyük teilnehme. Obwohl unsere Forschungsschwerpunkte unterdessen regional weit voneinander entfernt liegen, existiert eine materielle Verbindung zwischen dem Ḫābūr-Gebiet und Kilikien, die in diesem, dem Jubilar gewidmeten Aufsatz, untersucht werden soll. Es handelt sich dabei um neuassyrische Keramik, die nicht nur in der nahe dem assyrischen Kernland gelegenen Ḫābūr-Region auftritt, sondern sich ebenso, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, in Kilikien findet. Für die Ḫābūr-Region haben sowohl Lutz Martins Arbeiten am Tell Knēdiǧ als auch am Tell Ḥalaf wesentlich zum Verständnis neuassyrischer Keramik beigetragen. In Kilikien nehmen die neueren Ausgrabungen am Sirkeli Höyük eine wichtige Rolle bei der Erforschung dieser Materialgruppe ein, der seit den Arbeiten in Tarsus-Gözlükule1 nur wenig Beachtung geschenkt wurde. Der Assyrische Korridor – Geografische und kulturelle Brücke Der Ḫābūr, der nördlich der modernen Provinzhauptstadt Ḥassaka von mehreren Zubringerflüssen gespeist wird, die das sog. Ḫābūr-Dreieck bilden, ist der größte Nebenfluss des Euphrats. Die Ḫābūr-Region war als Teil Obermesopotamiens Durchgangsgebiet für wichtige Ost-West- und Nord-Südverbindungen und stellte daher schon früh einen bedeutenden Kulturraum dar (Abb. 1). Beispielhaft dafür ist der Tell Ḥalaf, der namensgebend für die spätneolithische Ḥalaf-Kultur (ca. 6000– 5300 v. Chr.) war. Nach einer langen Siedlungsunterbrechung wurde der Ort erst wieder zu Beginn des 1. Jts. v. Chr., als Hauptstadt des aramäischen Fürstentums Bēt Baḫiāni, genutzt. Seine Inkorporation in das neuassyrische Provinzialsystem erfolgte im 9. Jh. v. Chr., vermutlich unter dem Herrscher Aššur-naṣir-apli II.2 Kilikien bildete durch seine Lage zwischen dem Mittelmeer und dem Taurussowie dem Amanus-Gebirge im Altertum eine wichtige Schnittstelle zwischen Syrien – und damit auch Ägypten und Mesopotamien –, Zypern und Zentralanatolien. Den Zugang zu Nordsyrien und Zentralanatolien boten die „Amanische“, die 1 2

Goldmann 1963. Dornauer 2010: 55. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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„Syrische“ und die „Kilikische Pforte“, sowie das Tal des Göksu-Flusses. Die besondere geografische Lage Kilikiens spiegelt sich deutlich in den materiellen Hinterlassenschaften, insbesondere der Keramik, der einzelnen Epochen wider. So können schon für das Neolithikum und Chalkolithikum Verbindungen zu den Ḥalaf- und ‘Ubaid-Kulturen erkannt werden, während sich für die Bronzezeit eher Kontakte zu Anatolien, Syrien und Zypern ablesen lassen.3 Die Eisenzeit Kilikiens ist ab dem 11./10. Jh. v. Chr. hauptsächlich durch einen auffallend hohen Anteil bemalter Keramikwaren gekennzeichnet, die ihren Ursprung in Zypern haben, aber größtenteils in Kilikien selbst hergestellt wurden. Daher werden sie häufig auch unter dem Begriff „zypro-kilikische Waren“ zusammengefasst (Abb. 2).4 Mit dem verstärkten politischen Druck Assyriens auf Kilikien im 8. Jh. v. Chr. tritt schließlich in einigen kilikischen Siedlungen vermehrt Keramik auf (Abb. 4), die deutliche Parallelen zu neuassyrischen Gefäßen aufweist. Die geografische Verbindung zwischen der Ḫābūr-Region und Kilikien bildete der sog. Assyrische Korridor, ein ost-westlich verlaufender Gebietsstreifen, der vom Mittleren Tigris über das Ḫābūr-Dreieck und den Oberlauf des Balīḫ bis zum Mittleren Euphrat reichte, von wo aus er sich in das nordlevantinische Tafelland und den Golf von Iskenderun bis nach Kilikien erstreckte (Abb.1). Im Norden wurde er begrenzt durch die Gebirgsketten des Tur Abdin, des Karaca Dağ und des Taurus, im Süden durch den Ǧabal Sinǧār, den Ǧabal Abd al-Azīz und die nordsyrische Steppenlandschaft. Das Gebiet stellte den primären Expansionsraum des Assyrischen Reiches dar, der zur Erschließung von Kulturland und von Handels- und Militärrouten nach Westen hin benötigt wurde. Nicht zuletzt äußert sich dies darin, dass die wichtigste der assyrischen Königsstraßen durch den Korridor verlief. Neuassyrische Keramik in der Ḫābūr-Region Das Waren- und Gefäßrepertoire der neuassyrischen Keramik aus dem Unteren und dem Oberen Ḫābūr-Gebiet ist insgesamt sehr eng mit dem des assyrischen Kernlandes verbunden.5 Eine wichtige Siedlung mit neuassyrischer Keramik in der Oberen Ḫābūr-Region stellt neben Tell Ḥalaf6 vor allem Tell Barri7 dar. Beide Orte sind auch deshalb von Bedeutung, weil sie Aufschluss über den Beginn der Adaption neuassyrischer Keramik liefern. In Tell Ḥalaf wurde die charakteristische Keramik der aramäischen Kulturstufe in der Periode RA VIII-1 (ca. 900–758 v. Chr.) fast völlig verdrängt und durch assyrisches Material ersetzt.8 Im östlicher und somit näher am assyrischen Kernland gelegenen Tell Barri dagegen lässt sich keine so deutliche Zäsur im Keramikmaterial erkennen. Dort blieb der assyrische Einfluss auf die

3

Novák 2010: 400–409. Siehe dazu Kulemann-Ossen / Mönninghoff 2019. 5 Anastasio 2010: 15. 6 Hrouda 1962; Sievertsen 2009; Sievertsen 2012. 7 D’Agostino 2009. 8 Becker / Novák 2012: 227. 4

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Materielle Verbindungen zwischen der Ḫābūr-Region und Kilikien

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Keramik von der mittel- bis zur neuassyrischen Zeit erhalten, nur vereinzelte Stücke der sog. Rillenkeramik deuten auf andere kulturelle Verbindungen.9 Weiter im Süden, am Unteren Ḫābūr, nimmt der Tell Šēḫ Ḥamad eine besondere Rolle ein, dessen Zitadelle Schichten aus der neuassyrisch I-Periode (ca. 936– 824 v. Chr.) aufweist.10 Eine zugehörige, nord-östlich vorgelagerte Unterstadt II mit Elite- und Residenzbebauung entstand im 9. Jh. v. Chr.11 Wie in Tell Barri zeigt sich ein durchgängiger Einfluss Assyriens auch im keramischen Material Tell Šēḫ Ḥamads.12 Als kleinere dörfliche Siedlungen im 1. Jt. v. Chr. am Unterlauf des Flusses verdienen Tell Rad Šaqrah13 und Tell Knēdiǧ14 Beachtung. Letzterer Ort ist auch insofern interessant, als ein Friedhof aus der neuassyrischen Zeit mit insgesamt 37 Gräbern und Überresten von 56 Bestatteten15 sowie zahlreichen Bestattungsgefäßen und Keramikbeifunden ausgegraben wurde.16 Vergleichbar häufig kommen im assyrischen Kernland und in der Ḫābūr-Region einfache, vorwiegend mit Häcksel gemagerte Waren vor.17 Diese machen in Tell Ḥalaf in Gebäude A1 etwa 90% des Scherbenaufkommens aus.18 Auch im neuassyrischen Fundbereich 7.1. und den späteren, postassyrischen Fundkontexten des Roten Hauses von Tell Šēḫ Ḥamad dominieren häckselgemagerte Waren mit knapp 90% bzw. 96% eindeutig.19 Eine vergleichbare Aussage lässt sich für Tell Knēdiǧ treffen, wo diese Waren ebenfalls am häufigsten auftraten20, wenn auch etwas geringfügiger als in Tell Ḥalaf und Tell Šēḫ Ḥamad. Typische Formtypen im Repertoire der Häckselwaren sind rundwandige und karinierte Schalen und Schüsseln mit Hammerrand oder übergeschlagenem Rand (Abb. 3 a–c) sowie geschlossene Gefäßtypen (Abb. 3 d–f). Eine häufige Gefäßform der Feinwaren aus neuassyrischer Zeit sind dünnwandige Becher mit abgesetztem Hals (Abb. 3 g–h). Zu den Feinwaren zählt auch die sog. Palastware, die durch einen sehr fein geschlämmten Ton, zumeist ohne Magerungsbestandteile, gekennzeichnet ist. Die Benennung dieser Ware erfolgte aufgrund ihres palatialen Fundkontextes in Nimrud, wo sie erstmals in größerer Anzahl ent-

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Becker / Novák 2012: 225 und D’Agostino 2016: 113. Siehe Homepage der Ausgrabung Tell Šēḫ Ḥamad, http://www.schechhamad.de/ausgra bung/topographie.php [Zugriff am 05.06.2019]. 11 Ebenda. 12 Becker / Novák 2012: 225. 13 Reiche 1999. 14 Kulemann-Ossen 2005. 15 Martin 2005. 16 Zu diesem Befund siehe auch Kulemann-Ossen / Martin 2008. 17 Zu den Häckselwaren aus dem assyrischen Kernland siehe z. B. Qasriǧ Cliff im EskiMosul-Gebiet (Curtis 1989: 16). Eine genauere Beschreibung dieser Waren findet sich auch bei Anastasio 2010: 31. 18 Sievertsen 2012: 143–144. 19 Kreppner 2006: 61. 20 Kulemann-Ossen 2005: 140–141. 10

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deckt wurden.21 Die Gefäße sind extrem dünnwandig, manchmal mit Dellen verziert22 und besitzen glatte Oberflächen, die durch intensives Schlämmen entstanden sind.23 Eine klare Trennung zwischen der sog. Palastware und anderen Feinwaren wird häufig nicht vorgenommen, da sich die Waren bestimmte Gefäßformen teilen und auch in ihrer Ton- und Oberflächenbeschaffenheit gewisse Übereinstimmungen aufweisen.24 Eine der wenigen verzierten Waren innerhalb der Gruppe der neuassyrischen Keramik aus der Ḫābūr-Region ist die sog. Šēḫ Ḥamad-Ware, eine durch ihren besonderen Dekor mit geriefter Wellenlinie und/oder Fingernägeleindrücken oder sonstigen eingedrückten und plastischen Ornamenten verzierten Keramikgattung (Abb. 3 i–j), deren Vorkommen auf die Ǧazīra beschränkt ist.25 Vereinzelt finden sich auch glasierte Waren im Repertoire der neuassyrischen Keramik, wie z. B. in Tell Šēḫ Ḥamad26 oder Tell Knēdiǧ27. Die sog. Red Slip Ware, eine für Kilikien und die gesamte Levante typische Keramikgattung der Eisenzeit, taucht, wenn auch nur in Form von singulären Stücken, immer wieder in den neuassyrischen Keramikassemblagen aus der Ḫābūr-Region auf.28 Es bestehen allerdings wesentliche Unterschiede in der Beschaffenheit der Red Slip Wares, die sich sowohl auf die Qualität des roten Überzugs als auch auf die Beschaffenheit des Tonmaterials, den Brand und die Formtypen beziehen.29 Assyrisierende Keramik in Kilikien Während sich die Expansionsbestrebungen des neuassyrischen Reiches bereits früh auf die Ḫābūr-Region richteten, gelangte das Kleinreich Que/Ḥiyawa im Ebenen Kilikien verstärkt erst ab der Regierungszeit Tiglatpilesars III. im 8. Jh. v. Chr. unter den politischen Druck Assyriens. Dadurch kam Keramik in die Region, deren direkte Verbindung zu neuassyrischen Gefäßen offensichtlich ist, wenn auch das Waren- und Formenrepertoire einige Unterschiede zu dem des assyrischen Kernlandes aufweist.30 Erstmals wurde Keramik in dieser Tradition bei den Ausgrabungen der eisenzeitlichen Schichten in Tarsus-Gözlükule beobachtet, wo Goldman eine „assyrische Periode“ definierte, die sie aufgrund der Keramik und assyrischer Tontafelfunde zeitlich zwischen 700 und 600 v. Chr. einstufte. Allerdings kommt Keramik 21

Rawson 1954. Allgemein zur Palastware siehe Hausleiter 2010: 258–260, speziell zu Dellenbechern ebenda: 267. 23 Zur Definition von Palastware siehe Rawson 1954; Green 1999: 108–109; Kreppner 2006: 53 und Anastasio 2010: 32. 24 Kreppner 2006: 53. 25 Kreppner 2006: 65; Anastasio 2010: 32–33. 26 Kühne 1984: 175 Nr.16. 27 Kulemann-Ossen 2005: 141. 28 Z. B. in Tell Šēḫ Ḥamad (Kreppner 2006: Tab. 19), aber auch im assyrischen Kernland, siehe z. B. Nimrud (Oates 1959: 136). 29 Kreppner 2006: 63; Anastasio 2010: 33. 30 Anders als für die Ḫābūr-Region wird deshalb für Kilikien der Begriff „assyrisierende Keramik“ gewählt. 22

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Materielle Verbindungen zwischen der Ḫābūr-Region und Kilikien

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neuassyrischen Stils in Tarsus bereits auch in den vorhergehenden früh- und mitteleisenzeitlichen Horizonten vor.31 In den neueren Ausgrabungen in der Region, wie in Sirkeli Höyük oder Kinet Höyük, wurde ebenfalls entsprechende Keramik gefunden. In letzterem Ort wurden darüber hinaus für die 2. Hälfte des 8. Jhs. v. Chr. wesentliche Veränderungen in der Architektur, aber auch im Tierknochenmaterial festgestellt, welche auf die Präsenz der Assyrer in der Region zurückgeführt werden.32 Damit einher ging ein Rückgang der bemalten lokalen zypro-kilikischen Keramik sowie eine Zunahme häckselgemagerter Waren, die in den älteren Schichten nicht vorhanden waren.33 Insgesamt scheint in Kinet Höyük die Adaption assyrischer Keramik stärker ausgeprägt zu sein als in Sirkeli Höyük. Auch hier konnte beobachtet werden, dass in Zusammenhang mit assyrisierenden Gefäßtypen Häckselmagerung auftritt34, wenn dort auch deutliche Unterschiede zu den Häckselwaren aus der Ḫābūr-Region erkennbar sind. So ist der Anteil an Häcksel als Magerungsbestandteil bei den Sirkeli Höyük-Stücken auffällig geringer und die Häckseleinschlüsse sind deutlich feiner als bei den Belegen aus dem Ḫābūr-Gebiet. Häcksel wurde außerdem nur selten als Hauptmagerung verwendet, zumeist sind die assyrisierenden Gefäße ausschließlich mineralisch oder vorwiegend mineralisch und zusätzlich mit Häcksel gemagert.35 Bei den Gefäßtypen dominieren Schalen, für die durchweg gute Vergleiche in den Assemblagen des assyrischen Kernlandes und der Ḫābūr-Region zu finden sind (Abb. 4 a–c). Geschlossene Gefäßtypen der Standardware, wie Töpfe oder Flaschen, die assyrischen Ursprungs sind, sind nur sehr vereinzelt in Sirkeli Höyük anzutreffen. Ebenso sind in Tarsus-Gözlükule unter den „assyrischen“ Gefäßtypen Schalen am häufigsten belegt.36 Waren, die den assyrischen Feinwaren und der Palastware ähnlich sind, stammen aus Kinet Höyük37, Tarsus-Gözlükule38, Sirkeli Höyük39, und Tepebağ40. In Tarsus kommt die Assyrian Type Yellow White Ware der assyrischen Palastware am nächsten, vor allem ihre Formtypen, hauptsächlich Becher mit scharfem Wandungsknick, zeigen enge Übereinstimmungen.41 Die Feinwaren aus Sirkeli Höyük, die mit assyrischen Gefäßtypen assoziiert sind, sind durch cremefarbene oder grünliche, tongrun31

Goldman 1963: 14, 91. Hodos et al. 2005: 65. 33 Hodos et al. 2005: 65 konzentrieren ihre Untersuchung auf die Keramik, die aus den der neuassyrischen Periode vorhergehenden und nachfolgenden Kontexte stammt, weswegen keine genauere Beschreibung der assyrisierenden Keramik erfolgt. 34 Der bronzezeitlichen Tradition am Sirkeli Höyük folgend sind die lokalen Standardwaren der Eisenzeit – anders als die assyrisierenden – fast ausschließlich mineralisch gemagert (Kozal et al. 2019: 357). 35 Kulemann-Ossen 2019a: 190 und 2019b: 316. 36 Hanfmann 1963: 137 und Fig. 137. 37 Hodos et al. 2005: 65. Die Ware wird hier nicht näher beschrieben. 38 Hanfmann 1963: 71, 126, 138, 188. 39 Kulemann-Ossen 2019a: 190 und 2019b: 317. 40 Persönliche Mitteilung Deniz Yaşin (Beitrag dazu in Vorbereitung). 41 Hanfmann 1963: Fig.120/311–315. 32

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dig unbehandelte oder tongrundig verstrichene Oberflächen gekennzeichnet. Auch hier sind Becher mit Wandungsknick die häufigste Gefäßform (Abb. 4 d–e).42 Aufgrund von Vergleichen wird für die Mehrzahl der assyrisierenden Gefäßformen aus Sirkeli Höyük von einer Datierung in den Zeitraum von der 2. Hälfte des 8. Jhs. bis zum Beginn des 7. Jhs. v. Chr. ausgegangen. Zeitgleich sind hier drei Arten von Keramikassemblagen belegt: (1) ausschließlich lokale Assemblagen mit unverzierten Standardwaren und bemalten zypro-kilikischen Waren, (2) gemischte Assemblagen, die aus lokalem Eisenzeit-Material mit (wenigen) assyrischen Elementen bestehen, und (3) wenige Assemblagen, die fast ausschließlich assyrisierendes Material enthalten. Fazit Die von Ost nach West erfolgte Expansion des neuassyrischen Reiches spiegelt sich deutlich in der Qualität und Quantität sowie der zeitlichen Stellung der entsprechenden Keramik wider. Im Ḫābūr-Gebiet lässt sich bereits für das 9. Jh. v. Chr. eine ausgeprägte Adaption neuassyrischer Keramik feststellen. So stimmen die dortigen Keramikrepertoires sehr eng mit denen aus dem assyrischen Kernland überein, nur wenige lokale Besonderheiten, wie z. B. die Šēḫ Ḥamad-Ware, können beobachtet werden. In Kilikien findet sich zwar vereinzelt assyrisierende Keramik schon in Kontexten der Frühen Eisenzeit, ein verstärkter Einfluss der neuassyrischen Waren- und Gefäßtypen auf die lokale Keramikproduktion lässt sich aber erst für die 2. Hälfte des 8. Jhs. v. Chr. feststellen. Dabei variieren Art und Grad des Einflusses von Ort zu Ort. Anders als in den Siedlungen der Ḫābūr-Region scheinen die assyrisierenden Waren- und Formtypen in Kilikien hauptsächlich auf Servier-, Trink- und Essgeschirr, d. h. auf Gefäße mit hoher Sichtbarkeit, beschränkt zu sein. Keramik mit geringerer Sichtbarkeit, wie Koch- und Vorratsgefäße, wurden den bisherigen Beobachtungen zufolge eher in der lokalen Tradition der Orte gefertigt. Auch gibt es bis dato kaum Hinweise auf assyrische Transportgefäße, die auf Handelsaktivitäten verweisen.43 Diese ersten Beobachtungen zeigen, dass die Keramik einen wesentlichen Beitrag zu etwaigen Fragen nach der Chronologie und der Intensität von „Assyrisierungsprozessen“ leisten kann. Es ist daher zu hoffen, dass sich bei den zukünftigen Forschungen zur Eisenzeit-Keramik beider Regionen das Augenmerk verstärkt auch auf die Modi der Adaption neuassyrischer Keramik richtet. Dabei sollte untersucht werden, welche neuen Formen und Waren in der lokalen Produktion imitiert und welche Technologien adaptiert wurden, aber auch an welchen traditionellen Mustern und Normen festgehalten wurde und welche Art von Keramik mit ihren jeweils

42

Kulemann-Ossen 2019a: 190. Naturwissenschaftliche und chemische Untersuchungen, die an der Keramik von Sirkeli Höyük durch Sinem Hacıosmanoğlu (Eberhard Karls Universität Tübingen) durchgeführt werden, geben zukünftig Auskunft über die genaue Herkunft der assyrisierenden Waren sowie über eine etwaige Adaption von Herstellungstechniken. 43

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zugrunde liegenden funktionalen oder repräsentativen Konnotationen politisch-kulturelle Änderungen besonders stark reflektierte.

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Abbildungen

Abb. 1

Kilikien, die Ḫābūr-Region und das assyrische Kernland (© Mirko Novák, Universität Bern, Institut für Archäologische Wissenschaften)

Abb. 2

Fläschchen (Si12-D0095) aus Sektor D in Sirkeli Höyük, zypro-kilikische Ware im White Painted-Stil (Kulemann-Ossen 2919b: Abb. 282.6, © Sirkeli Höyük-Projekt, Foto: Laura Simons)

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Abb. 3

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Neuassyrische Keramik aus Tell Knēdiǧ (Kulemann-Ossen 2005: Tf. 100e, h, d, Tf. 101d, Tf. 116c, Tf. 118c, Tf. 120c, Tf. 122d, Tf. 123b, Tf. 104k, Tf. 104j, alle Abbildungen © Tell Knēdiǧ-Projekt) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 4

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Assyrisierende Keramik aus Sirkeli Höyük (a–d: Kulemann-Ossen 2019b: Abb. 280.4, Abb. 281.1, Abb. 280.6, Abb. 281.5; e: Kulemann-Ossen 2019a: Abb. 176.2, alle Abbildungen © Sirkeli Höyük-Projekt)

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Silexfunde als chronologische Indikatoren historischer Perioden Babylon in frühdynastischer Zeit Bernd Müller-Neuhof / Berlin Zum Geleit Steine lagen ihm nicht im Weg, sie säumten ihn. Im Verlauf seiner wissenschaftlichen Karriere hat sich Lutz Martin vor allen Dingen mit steinernen Artefakten in Gestalt von Steingefäßen (Uruk) und Skulpturenfragmenten (Uruk und Tell Halaf) aus Mesopotamien und Syrien befasst. Der folgende Festschriftbeitrag versucht an Lutz Martins Forschungsinteressen anzuknüpfen, den aus den historischen Perioden Vorderasiens stammenden Gerätschaften aus Stein mehr wissenschaftliche Beachtung zukommen zu lassen. Ich bedanke mich bei den Herausgeberinnen für ihre Einladung zu dieser Festschrift, der ich gerne gefolgt bin, um Lutz Martins herausragenden Beitrag für die Vorderasiatische Archäologie zu würdigen. Einführung Silexartefakte gehören gemeinhin zu den Fundgruppen, denen in der Archäologie der historischen Perioden Mesopotamiens wenig Beachtung geschenkt wird1, obwohl Sichelklingen und Dreschschlitteneinsätze noch bis in die Eisenzeit hinein Bestandteil des landwirtschaftlichen Geräterepertoires waren2 und noch im 20. Jahrhundert in Anatolien Silexklingen als Dreschschlitteneinsätze gefertigt wurden3. Dabei lässt sich aus Lithikartefakten eine Vielzahl an Erkenntnissen gewinnen, die uns die Analysen anderer Fundgruppen nicht liefern. Dazu zählen u. a. die Identifizierung technischer Spezialisierungen in der Herstellung und Nutzung der Geräte, die soziökonomischen Bedingungen (z. B. Subsistenzwirtschaft oder Erwerbswirtschaft), denen die Produktion und Verwendung unterlagen, sowie der Nachweis von Handelsnetzwerken im Kontext der Rohmaterialbeschaffung, der Verbreitung von Rohlingen und dem Vertrieb von Fertigprodukten. Gerade der Aspekt der Rohmaterialbeschaffung ist dabei von Bedeutung, da es mit Ausnahme von Flussgeröllen in Mesopotamien so gut wie keine Silexvorkommen gibt und Silexfunde in mesopotamischen Fundorten daher häufig als Importe zu betrachten sind. Die Berücksichtigung von Silexgeräten in der Kleinfundbearbeitung kann schließlich auch zu überraschenden Erkenntnissen führen, wie zum Beispiel im Fall

1

Selbiges gilt auch für Artefakte aus Quarzit, Hornstein und Obsidian. Müller-Neuhof 2010: 446; Rosen 1997: 163–164. 3 Gebel 1980: 396–401; Weiner 1980: 383–395. 2

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der urukzeitlichen Lithikassemblage aus Tell Sheikh Hassan, in der sich die bislang einzigen ägyptischen Importe in den Raum der Urukkultur nachweisen ließen.4 Die Silexklingen aus Babylon Mit den Kleinfunden aus Babylon, die im Zuge der Fundteilung zwischen dem Osmanischen Reich und der Deutschen Orient-Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Berlin verschickt wurden, gerieten auch einige Silexgeräte in das Vorderasiatische Museum, in dessen Magazinen sich heute 18 Silexgeräte (Kat.-Nrn. 1‒14) befinden, von denen 14 Geräte von den Oberflächen der Grabungsareale Stadtgebiet (Merkes), Kasr, Ostbau und Homera Hügel stammen. Diese Lithik-assemblage umfasst darüber hinaus noch vier Klingen aus Kisch (Kat.-Nrn. 15‒18), die von der Babylon-Expedition auf der Oberfläche des Tell Bender in Kisch aufgelesen wurden und in diese Assemblage integriert wurden. Neben den Oberflächenfunden stammen einige Artefakte aus Grabungen, allerdings aus nicht stratifizierten Kontexten. Lediglich zwei Klingen (Kat.-Nrn. 8 und 9) wurden in einen ungefähr in das 2. Jahrtausend v. Chr. zu datierenden Horizont im Merkes Viertel gefunden5. In seiner Monographie zu den Grabungen in der Innenstadt (Merkes) von Babylon erwähnt Oscar Reuther6 Silex- und Obsidiangeräte, die er als „Sägen“ bezeichnete, und die durch Brunnengrabungen in „alter Zeit“ oder „mit dem Aushub von Lehm zum Zweck der Ziegelherstellung an die Oberfläche des Hügels gelangten“7. Reuther erkannte bereits, dass diese Artefakte auf eine weit ältere Besiedlungsphase Babylons verweisen, die aufgrund des hohen Grundwasserspiegels bei den Grabungen allerdings nicht erreicht werden konnte.8 Fälschlicherweise ging er allerdings davon aus, dass diese Geräte in das Jungpaläolithikum datieren.9 Heute ist bekannt, dass diese Werkzeuge typologisch nicht in das Jungpaläolithikum datieren und es auch keine Hinweise auf jungpaläolithische Fundplätze in der mesopotamischen Alluvialebene gibt. Die ältesten Siedlungshorizonte, die bei den Grabungen aufgrund des hohen Grundwasserspiegels erreicht wurden, datieren in den Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends. Somit ist in allen Fällen davon auszugehen, dass die Artefakte aus älteren und damit tieferen Siedlungshorizonten stammen und vor allem durch anthropogene postdepositionale Prozesse in die jüngeren Siedlungshorizonte gerieten. Dazu zählen das Abteufen von Brunnen und Sickerschächten sowie die Lehmgewinnung aus alten Siedlungshorizonten zur Lehmziegelherstellung. Dabei gelangten auch Artefakte aus diesen älteren Siedlungshorizonten in das Baumaterial jüngerer Phasen, ein Phänomen welches nicht nur in Babylon10 und zum Beispiel in Uruk beobachtet 4

Müller-Neuhof 2015: 36–37, Tf. 41. Mündliche Mitteilung durch Katja Sternitzke. 6 Reuther 1926. 7 Reuther 1926: 4. 8 Reuther 1926. 9 Reuther 1926: 9. 10 Reuther 1926: 4. 5

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wurde11, sondern generell für die mesopotamischen Tellsiedlungen charakteristisch ist. Somit ist der primäre Kontext der hier präsentierten Silexklingen aus Babylon und Kisch in tieferen Siedlungsschichten und damit in den Resten von Vorgängersiedlungen zu verorten, die am selben Standort oder in dessen unmittelbarer Umgebung existierten. Charakterisierung der Silexklingenassemblage Alle Silexartefakte zeichnen sich durch eine hochwertige Qualität des Rohmaterials aus, welches aus verschiedenen Quellen stammt, worauf die unterschiedliche Färbung verweist. Neben geologischen Silexlagerstätten außerhalb des Alluviallandes wurden möglicherweise auch hochwertige Flussgerölle als Rohmaterial verwendet. Dabei stellt sich die Frage, ob die Geräte importiert oder vor Ort produziert wurden. Ein typologisch allerdings nicht eindeutig zu datierendes Fragment einer Kernkantenklinge (Kat.-Nr. 14) – einem Abfallprodukt der Klingenkernproduktion – kann als Beleg für eine lokale Klingenproduktion betrachtet wurden. Aufgrund der Singularität dieses Fundes, seines sekundären Fundkontextes, der unklaren Datierung und vor allem des Fehlens von Kernen und anderen Produktionsabfällen in der Assemblage sollte dieser Befund allerdings nicht überbewertet werden. Die übrige Assemblage zeichnet sich durch Sichelklingensegmente mit parallelseitigem Kantenverlauf, einem zumeist trapezoiden Querschnitt, einer rechteckigen Grundform, die durch das intentionelle Zubrechen oder Endretuschierung der Enden erzielt wurde, und durch deutlich gezähnten (dentikulierten) Lateralkanten aus (Kat.Nrn. 1, 3, 5‒11, 13, 15, 18). Dass bei einigen Exemplaren beide Lateralkanten dentikuliert sind (Kat.-Nrn. 1, 3, 5, 10, 15, 17, 18) und bei anderen nur eine Kante (Kat.Nrn. 6, 7, 8, 9, 11, 16, 17) liegt möglicherweise daran, dass die zweite Kante erst dann angelegt wurde, nachdem die erste Kante durch Gebrauch abgenutzt war.12 Darüber hinaus beinhaltet die Assemblage vier Klingenfragmente mit gebrauchsretuschierten Lateralkanten (Kat.-Nrn. 2, 4, 12, 13). Des Weiteren ließ sich Werkzeugrecycling an zwei Geräten nachweisen. Hierbei handelt es sich um Nachmodifikationen in Form von Kerbungen und Stichelabhüben (Kat.-Nrn. 12 und 8). Ein Hinweis auf die mittels Bitumen erfolgte Befestigung der dentikulierten Klingensegmente in Holzhalterungen13, geben Bitumenreste, die auf einem Segment (Kat.-Nr. 11) noch sichtbar sind. Dass die Klingen zum Schneiden vegetabiler Materialien, wie z. B. Getreide und Schilf, verwendet wurden, bestätigt schließlich der Sichelglanz, der sich auch auf einer großen Zahl der Klingen aus Babylon (Kat.-Nrn. 2, 3, 5, 8, 10, 11) und Kisch (Kat.-Nrn. 15 und 17) identifizieren ließ14.

11

Siehe Heinz / Müller-Neuhof 2000: 107–108. Siehe Crowfoot Payne 1980: 108–109. 13 Crowfoot Payne 1980. 14 Bei dem Sichelglanz handelt es sich um einen mechanischen Politureffekt, der durch die Phytolithen der Gramineen entstanden ist (Rottländer 1989: 32). 12

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Datierung Während die frühesten Belege für Sichelglanz bereits ins späte Epipaläolithikum (Natufian) datieren und Bitumenreste für die Fixierung von Klingensegmente frühestens seit dem Frühneolithikum (PPN) belegt sind15, stammen Klingen mit ausgeprägt dentikulierten Lateralkanten in der Levante frühestens aus dem Übergang vom PPN zum Spätneolithikum16 und sind in Mesopotamien erst in der frühdynastischen Zeit nachgewiesen, u. a. durch Funde aus Uruk17, Kisch18, Nippur19, Khafaji20 und Abu Salabikh21. Gerade die Klingen aus Abu Salabikh, für die Crowfoot Payne eine Typologie erstellt hat22, weisen eindeutige morphologische Parallelen zu den Klingen aus Babylon bzw. Kisch auf. Ihre aus drei Typen bestehende Typologie, die sich vor allem an der Zurichtung der Klingenenden orientiert, ist somit auch für die hier vorgestellte Assemblage anzuwenden: Typ 1: dentikulierte Sichelklingen, deren beiden Enden endretuschiert sind. Fünf Stücke aus Babylon (Kat.-Nrn. 1, 3, 6, 9, und 11), zwei aus Kisch (Nrn. 17 und 18). Typ 2: dentikulierte Sichelklingen, an denen ein Ende endretuschiert ist und das andere (zu)gebrochen (snapped) ist. Ein Stück aus Babylon (Kat.-Nr. 8), zwei aus Kisch (Kat.-Nrn. 15 und 16). Typ 3: dentikulierte Sichelklingen, deren beiden Enden (zu)gebrochen (snapped) sind. Drei Stücke aus Babylon (Kat.-Nrn. 5, 7 und 10). Ein weiteres Indiz für eine Datierung in die frühdynastische Zeit sind die bereits erwähnten Bitumenreste, die in Mesopotamien ebenfalls aus diversen frühdynastischen Siedlungshorizonten belegt sind, z. B. aus Uruk23, Abu Salabikh24, Kisch25 und Nippur26. Somit kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die dentikulierten Sichelklingensegmente aus Babylon und Kisch in die frühdynastische Zeit datieren. Aufgrund eines noch sehr lückenhaften Informationsstandes zur frühdynastischen Lithikindustrie können die Kernkantenklinge (Kat.-Nr. 14) und die gebrauchsretuschierten Klingen (Kat.-Nrn. 2, 4, 12, 13) nicht eindeutig in diesen 15

Siehe Müller-Neuhof 2010: 445–446. Siehe u. a. Rosen 1997: 138; Shea 2013: 256. 17 Müller-Neuhof 2000. 18 Crowfoot Payne 1978: D13, D14. 19 Haines 1967: Tf. 163.13. 20 Delougaz 1940: 30–31, Fig. 27. 21 Crowfoot Payne 1980: 108, Figs. 7.5–10, 8.1–12. 22 Crowfoot Payne 1980: 108. 23 Müller-Neuhof 2000: 154, 157, 166, Tfn. 112–114. 24 Crowfoot Payne 1980:107. 25 Crowfoot Payne 1978: E01. 26 Haines 1967: 156, Pl. 163,13. 16

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Silexfunde als chronologische Indikatoren historischer Perioden

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Zeitraum datiert werden. Es ist auch nicht auszuschließen, dass es sich hierbei möglicherweise um ältere Artefakte handelt. Fazit Während seit längerem bekannt ist, dass zumindest indirekt ein Keilschrifttextfragment auf einem Kalksteinbruchstück, welches sich heute in Yale befindet, bereits auf eine Besiedlung Babylons in der frühdynastischen Zeit verweist27, liegt nun hier der erste archäologische Hinweis dafür vor, auch wenn so eine kleine Assemblage natürlich nicht überbewertet werden sollte. Dennoch zeigt der Befund exemplarisch, wie wichtig es ist, Lithikfunden aus Siedlungskontexten, die in spätere (historische) Epochen der vorderasiatischen Kulturgeschichte datieren, dieselbe wissenschaftliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen wie z. B. der Keramik. Denn die lithischen Industrien zeichnen sich durch einen hohen Grad an technischer Spezialisierung aus. Das betrifft die Herstellung der Geräte und deren Verwendung in einer organisierten und auf Überschussproduktion ausgerichteten Landwirtschaft. Der Umstand, dass Silex noch in der Bronzezeit als Werkstoff für Sichelklingen (und anderer Geräte) weit verbreitet war, erklärt sich zum einen durch die materialqualitative Ebenbürtigkeit von Sicheln aus Silex und Bronzesicheln und zum anderen dadurch, dass Silexklingen von geübten Steinschlägern schnell und preiswert in großer Zahl hergestellt werden können und von der Landbevölkerung somit als kostengünstige Alternative im Gegensatz zu Bronzesicheln bevorzugt wurden.28 Summary The collection of small finds from the German excavations at Babylon that are held in the Museum of the Ancient Near East in Berlin contains 18 flint artefacts from Babylon (14 pcs.) and Kish (4 pcs.).The majority of these artefacts are denticulated sickle blade segments, which were always found in secondary contexts, often on the surface. Due to anthropogenic post-depositional processes, such as sinking wells and quarrying clay from older remains for mudbrick production, these artefacts were dislocated from their original depositional context. In fact, these artefacts derive from a settlement layer that is located below the oldest layer exposed during the excavations, which dates to the early 2nd millennium. The typological similarities between these segments and sickle blade segments from the Early Dynastic layers at Abu Salabikh, Kish, Nippur, Uruk, etc. indicate an Early Dynastic date for the blades from Babylon. That Babylon already existed in the Early Dynastic period is known from Early Dynastic cuneiform texts, which come from outside Babylon. However, with this assemblage of lithic sickle blade segments we have the first on-site archaeological evidence for an Early Dynastic period at Babylon.

27 28

Siehe André-Salvini 2008: 101–102, zit. Sollberger 1985. Siehe hierzu Rosen 1997: 161. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Bernd Müller-Neuhof

Dank Ich möchte den Kolleginnen Katja Sternitzke und Nadja Cholidis für die wertvollen Hinweise betreffs stratigraphischer und forschungsgeschichtlicher Fragen danken. Dank gebührt darüber hinaus Lutz Martin, der mir die Genehmigung für die Bearbeitung und Publikation der Silexartefakte gegeben hat, auch wenn ich ihm dafür eine Legende auftischen musste. Nicht zu vergessen in meinen Danksagungen ist auch das Babylonprojekt unter der Leitung von Eva Cancik-Kirschbaum, die der Bearbeitung dieser Assemblage außerhalb der geplanten Neuedition der Ergebnisse der Ausgrabungen in Babylon zustimmte.

Bibliografie André-Salvini 2008 Beatrice André-Salvini, Früheste historische Erwähnungen und Gründungsmythen, in: Joachim Marzahn / Günther Schauerte (Hrsg.), Babylon – Wahrheit, München, 101‒104. Crowfoot Payne 1978 Joan Crowfoot Payne, Flint and Obsidian Industries, in: Peter Roger Stuart Moorey (Hrsg.), Kish excavations 1923‒1933, D09‒E09 (Microfilm) (Oxford). Crowfoot Payne 1980 Joan Crowfoot Payne, An Early Dynastic III Flint Industry from Abu Salabikh, in: Iraq 42, 105‒11. Delougaz 1940 Pinhas Delougaz, The Temple Oval at Khafaji. Oriental Institute Publication 53, Chicago. Gebel 1980 Hans-Georg Gebel, Eine rezente Abschlagindustrie in der Region Hilvan / Südosttürkei, in: Deutsches Bergbau-Museum Bochum (Hrsg.), 5000 Jahre Feuersteinbergbau. Die Suche nach dem Stahl der Steinzeit, Bochum, 396‒401. Haines 1967 Richard C. Haines, III. The Soundings. The Structural Remains, in: Donald E. McCown / Richard C. Haines (Hrsg.), Nippur, Temple of Enlil. Oriental Institute Publications 78, Chicago, 150‒153. Müller-Neuhof 2000 Bernd Müller-Neuhof, E. Lithik, in: Friedhelm Pedde / Marlies Heinz / Bernd Müller-Neuhof, Uruk Kleinfunde IV. Metall- und Steinobjekte im Vorderasiatischen Museum Berlin. Ausgrabungen Uruk Warka Endberichte 21, Mainz, 132‒166. Müller-Neuhof 2010 Bernd Müller-Neuhof, Sichel. B. Archäologisch, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 12, 5./6., Berlin, 445‒447.

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Silexfunde als chronologische Indikatoren historischer Perioden

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Müller-Neuhof 2015 Müller-Neuhof, Die frühneolithischen und urukzeitlichen Silex- und Obsidianindustrien aus Tell Sheikh Hassan. Ausgrabungen in Tell Sheikh Hassan V.1, Gladbeck. Reuther 1926 Oscar Reuther, Die Innenstadt von Babylon (Merkes). Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orientgesellschaft 47.1, Leipzig. Rosen 1997 Steven Rosen, Lithics After the Stone Age. A Handbook of Stone Tools from the Levant, Walnut Creek. Rottländer 1989 Rolf C. A. Rottländer, Verwitterungserscheinungen an Silices und Knochen. Tübinger Beiträge zur Archäometrie 3, Tübingen. Shea 2013 John J. Shea, Stone Tools in the Paleolithic and Neolithic Near East – A Guide, Cambridge. Sollberger 1985 Edmond Sollberger, Babylon‘s Beginnings, in: Sumer 41, 10‒13. Weiner 1980 Jürgen Weiner, Die Flintminen von Çakmak – Eine im Aussterben begriffene, heute noch produzierende Feuersteinindustrie in Nordwestanatolien, in: Deutsches Bergbau-Museum Bochum (Hrsg.), 5000 Jahre Feuersteinbergbau. Die Suche nach dem Stahl der Steinzeit, Bochum, 383‒395.

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Bernd Müller-Neuhof

Katalog Kat.Nr.

Fundnr.

VA-Nr.

Geografischer Bezug

Beschreibung – (Maße und Gewicht in mm/g)

1

Bab 08334

VA 17369

Babylon; Kasr

2

Bab 28588

VA 17370

Babylon; Homera Oberfläche

3

Bab 30184

VA 17371

Babylon; südlich vom Schnitt

4

Bab 30227

VA 17372

Babylon; Stadtmauer bei Homera Oberfläche

5

Bab 32060

VA 17373

Babylon; Kasr; 21i

6

Bab 34386

VA 17374

Babylon; Merkes

7

Bab 34386

VA 17375

Babylon; Merkes

Bilateral dentikuliertes, basal und distal endretuschiertes Sichelklingensegment. Beiger Silex. L: 31; B: 15; D: 3; G: 2,1. Bipolar zugebrochenes mediales Sichelklingensegment, linkslateral dentikuliert, rechtslateral gebrauchretuschiert, mit linkslateralem bifazialem Sichelglanz. Grauschwarzer Silex mit weißgrauer Bänderung. L: 17; B: 12: D: 3; G: 0,8. Bipolar endretuschiertes mediales bilateral dentikuliertes Sichelklingensegment mit bilateralem bifazialem Sichelglanz. Brauner Silex mit beige-grauen Bändern. L: 31; B: 15; D: 3; G: 2,0. Basales Fragment einer bilateral gebrauchretuschierten Klinge. Schlagfläche erhalten. Hellbeiger Silex. (erh.) L: 22; B: 13; D: 3; G: 1,0. Mediales bipolar gebrochenes bilateral dentikuliertes Sichelklingenfragment mit bilateralem und bifazialem Sichelglanz. Grau-schwarzer Silex mit hellgrauen Sprengseln. (erh.) L: 17; B: 14: D: 3; G: 1,2. Bipolar endretuschiertes mediales Sichelklingensegment, linkslateral dentikuliert, rechtslateral leicht gebrauchretuschiert. Hellbeiger Silex. L: 31; B: 13; D: 2; G: 1,5. Bipolar gebrochenes mediales Sichelklingenfragment, linkslateral dentikuliert, rechtslateral gebrauchretuschiert. Weiß-beiger Silex. (erh.) L: 15; B: 15; D: 3; G: 1,0

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Silexfunde als chronologische Indikatoren historischer Perioden

419

Kat.Nr.

Fundnr.

VA-Nr.

Geografischer Bezug

Beschreibung (Maße und Gewicht in mm/g)

8

Bab 39194

VA 17376

Babylon; Merkes; 24/25 p1 +1,0

9

Bab 35479

VA 17377

Babylon; Merkes; 26 o2 +0,0m

10

Bab 45521

VA 17378

Babylon; Merkes; 23/24 I2

11

Bab 45481

VA 17379

Babylon; Merkes; 23/24 I2

12

Bab 45692

VA 17380

Babylon; Merkes; 23/24 I2

13

Bab 56892

VA 17381

Babylon; Stadtgebiet

14

Bab 4700

VA Bab 4211

Babylon; Ostbau Oberfläche

Mediales basal endretuschiertes und distal gebrochenes Sichelklingensegment, linkslateral dentikuliert mit linkslateral bifazialem Sichelglanz sowie rechtslateral von basal bzw. distal ausgehenden Stichelbahnresten. Dunkelbrauner Silex. (erh.) L: 32; B: 17; D: 3; G: 2,3. Mediales bipolar endretuschiertes Sichelklingensegment, linkslateral dentikuliert. Hellbrauner Silex. L: 50; B: 16; D: 5; G. 5,2. Mediales bipolar gebrochenes bilateral dentikuliertes Sichelklingensegment mit bilateralem bifazialem Sichelglanz. Grau-beiger Silex mit beigen Bändern. (erh.) L: 30; B: 15; D: 3; G. 2,4. Mediales bipolar endretuschiertes Sichelklingensegment, rechtslateral bifazial dentikuliert, und linkslateral ventral im Distalbereich dentikuliert. Mit bilateralem bifazialem Sichelglanz. Reste von Bitumen auf der Dorsalseite. Beiger Silex. L: 37; B: 14; D: 4; G: 2,9. Mediales bipolar endretuschiertes Sichelklingensegment mit Kerbung in der rechtslateral gebrauchretuschierten Kante. Hellgrauer Silex mit hellbeigen Bändern. L: 35; B: 16; D: 4; G: 2,8. Mediales bipolar (zu)gebrochenes Klingenfragment, bilateral gebrauchretuschiert. Gelb-beiger Silex. (erh.) L: 42; B: 17; D: 5; G: 4,2. Mediales Fragment einer unretuschierten Kernkantenklinge. Graubeiger Silex. (erh.) L: 32; B: 17; D: 6; G: 3,5.

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420

Bernd Müller-Neuhof

Kat.Nr.

Fundnr.

VA-Nr.

Geografischer Bezug

Beschreibung (Maße und Gewicht in mm/g)

15

Bab 3742

VA Bab 3742

Kisch; Tell Bender

16

Bab 21612

VA 17382

Kisch; Tell Bender

17

Bab 21613

VA 17383

Kisch; Tell Bender

18

Bab 29618

VA 17384

Kisch; Tell Bender

Mediales basal endretuschiertes und distal (zu)gebrochenes Sichelklingensegment, bilateral dentikuliert, mit bilateralem bifazialem Sichelglanz. Grau-schwarzer Silex mit grauen und graubeigen Bändern und Sprengseln. L: 32; B: 14; D: 3; G: 2,1. Mediales distal (zu)gebrochenes, basal endretuschiertes Sichelklingensegment, rechtslateral dentikuliert, linkslateral gebrauchretuschiert. Dunkelbrauner Silex mit hellbeigen Sprengseln. (erh.) L: 35; B: 15; D: 4; G: 3,1. Mediales bipolar endretuschiertes Sichelklingensegment, linkslateral dentikuliert, rechtslateral gebrauchretuschiert, mit linkslateralem bifazialem Sichelglanz. Rötlich-grauer Silex. L: 27; B: 14; D: 4; G: 2,2. Mediales bipolar endretuschiertes Sichelklingensegment, bilateral dentikuliert. Grau-schwarzer Silex. L: 22; B: 16; D: 5; G: 1,9.

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Silexfunde als chronologische Indikatoren historischer Perioden

Tafeln

Tafel 1

Lithikartefakte aus Babylon (Zeichnung: B. Müller-Neuhof) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

421

422

Bernd Müller-Neuhof

Tafel 2

Lithikartefakte vom Tell Bender, Kisch (Zeichnung: B. Müller-Neuhof)

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Zur religionsgeschichtlichen Botschaft eines palmyrenischen Votivreliefs Herbert Niehr / Tübingen – Stellenbosch1 1. Einführung In den Sammlungen des Musée des Beaux-Arts de Lyon befindet sich ein Relief aus Palmyra, welches die Götter Bel und Baalshamayin sowie mit Yarchibol und Aglibol je ein Mitglied ihrer Triade aufweist.2 Die Identifikation dieser vier Götter ist über die Ikonographie hinaus durch die unterhalb des Bildfeldes angebrachte palmyrenische Inschrift gesichert. Dieses Relief entstammt dem Kunsthandel, wurde also nicht in einer kontrollierten Grabung gefunden, so dass sein genauer Herkunftsort in Palmyra bzw. in der Palmyrene nicht mehr auszumachen ist. Im Jahre 1992 wurde es vom Musée des Beaux-Arts de Lyon erworben, wo es sich bis heute befindet. Eine Publikation des Reliefs erfolgte bereits 1993,3 weitere Diskussionen des Reliefs und seiner Inschrift liegen nur in sehr geringem Ausmaß vor.4 Aus diesem Grund soll dieser Artikel eine vertiefende Interpretation des Votivs im Rahmen der Religionsgeschichte Palmyras vorlegen. 2. Beschreibung Das Relief aus ockerfarbigem Kalkstein (Höhe 46,5 cm und Breite 53 cm) zeigt in Frontalansicht vier Götter Palmyras: Auf der rechten Seite thront Bel, auf der linken Seite Baalshamayin und zwischen ihnen stehen Aglibol (zur Rechten des Bel) und Yarchibol (zur Linken des Baalshamayin). Die beiden auf der Rechten und Linken des Reliefs thronenden Gottheiten Bel und Baalshamayin sind mit einem langherabfallenden Gewand bekleidet, Bel zusätzlich noch mit einem Panzer. Beide haben einen Kalathos auf ihrem Kopf. Die beiden stehenden Götter, Aglibol und Yarchibol, tragen ein kurzes Himation und darüber einen Panzer. Ihre Häupter sind mit einem Nimbus unterlegt. Die beiden thronenden Götter gleichen sich bis auf den von Bel getragenen Panzer, der bei Baalshamayin fehlt, auf den ersten Blick. Auch die beiden stehenden Götter sind sich sehr ähnlich; der einzige Unterschied liegt bei ihrem Nimbus vor, da der des Aglibol einen Halbmond aufweist.

1

Für diverse Hinweise und Hilfe bei der Abfassung dieses Artikels danke ich Florence Berg (Tübingen), Françoise Briquel-Chatonnet (Paris), Dagmar Kühn (Tübingen) und Susanne Maier (Tübingen). 2 Musée des Beaux-Arts de Lyon, Inv. 1992-13. 3 Vgl. Briquel-Chatonnet / Lozachmeur 1993. Eine erweiterte Version dieses Artikels findet sich in Briquel-Chatonnet / Lozachmeur 1998; vgl. auch Briquel-Chatonnet / Lozachmeur 2000. 4 So etwa bei Kaizer 2002: 59‒60; Niehr 2003: 115‒116; Gawlikowski 2015: 253. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 1

Herbert Niehr

Relief aus dem Musée des Beaux-Arts de Lyon, Inv. 1992-13 (Image © Lyon MBA – Photo Alain Basset).

Alle vier Götter tragen ein Szepter in ihrer Hand, wobei das Szepter des Baalshamin durch einen Strauß von Ähren angereichert ist. Bel trägt in seiner linken Hand einen Globus, Baalshamayin hat auf seinem Schoß ein nicht näher identifizierbares Objekt liegen. Die Throne der beiden sitzenden Götter unterscheiden sich durch die jeweiligen Attributtiere: Der Thron des Bel wird von einem geflügelten Löwen (Löwengreif) flankiert, während der Thron des Baalshamayin von einem Stier flankiert wird. Die Schemel der beiden thronenden Götter sind dann wieder gleich gestaltet. Mit dieser Darstellung liegt eine symmetrische und ausgewogene Komposition vor, die dadurch erzielt wird, dass einem thronenden Gott jeweils ein stehender Gott zugeteilt ist. Die so bewirkte Symmetrie wird noch unterstrichen durch die vier Szepter der Gottheiten, die so arrangiert sind, dass das Szepter eines thronenden Gottes sich parallel zum Szepter eines stehenden Gottes erhebt, die beiden Trabantengötter Schulter an Schulter stehen und sie dieselbe Handhaltung aufweisen. Die beiden ikonographischen Auffälligkeiten in dieser Komposition bestehen darin, dass Bel mit seinem Kalathos in den oberen abschließenden Rahmen des Reliefs hineinragt, er also etwas größer als Baalshamayin dargestellt wird und er gleichzeitig einen Bart aufweist, den Bel sonst nicht trägt. Hierin kann man eine bewusste

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Zur religionsgeschichtlichen Botschaft eines palmyrenischen Votivreliefs

425

Angleichung des Bel an die Darstellung des zumeist bärtig abgebildeten Baalshamayin erkennen.5 Das Inschriftenfeld unter den Füßen der Götter weist folgende zweizeilige Inschrift auf: Diese Bilder für Bel, für Baalshamayin, für Yarchibol und für Aglibol hat angefertigt Baalay, Sohn des Yedibel, Sohn des Baalay im Monat Tebet, Jahr 432.6 Mit dieser Datierung kommen wir in den Monat Januar des Jahres 121 n. Chr., d. h. in die Zeit vor der Erbauung der bekannten Cella des Baalshamayin-Tempels im Jahre 130 n. Chr. Auf die Relevanz dieser Datierung ist noch einzugehen. 3. Eine neue Interpretation des Reliefs im Kontext der Religionsgeschichte Palmyras Seitens der beiden Erstbearbeiterinnen des Reliefs, F. Briquel-Chatonnet und H. Lozachmeur, liegt folgende Gesamtinterpretation vor: « Ce petit monument associe en effet deux aspects du grand dieu du ciel, la divinité cosmique qui règle la marche des planètes (Bêl) et le maître de l’orage et des éléments atmosphériques (Baʿalšamin). Le parallélisme de la représentation iconographique des deux dieux montre une conception religieuse particulièrement élaborée. Il s’agissait en fait de justifier la coexistence de ces deux dieux suprêmes, dont la présence était accidentelle et due à la diversité de la composition ethnique de Palmyre. »7 Dieser Interpretation ist grundsätzlich zuzustimmen, sie kann allerdings vor dem Hintergrund der Religionsgeschichte Palmyras bzw. aufgrund der Geschichte der beiden Gottheiten Bel und Baalshamayin noch vertieft werden. Zu einer solchen Vertiefung verhilft ein Blick darauf, was das Relief nicht aussagt bzw. was es weglässt, wenn es Bel nur als Kosmokrator und Baalshamayin nur als Wettergott darstellt. Zunächst einmal ist zu betonen, dass sowohl Bel als auch Baalshamayin im Rahmen der Religion Palmyras zwei bedeutende Funktionen ausfüllten: Beide waren Götter des Kosmos und gleichzeitig auch Wettergötter, die für Vegetation und Fruchtbarkeit zuständig waren.8 5

So auch Briquel-Chatonnet / Lozachmeur 1998: 141 und Kaizer 2002: 59. Dabei ist Baalay der Stifter des Votivs und nicht der Steinmetz, der es herstellte, so dass das Verb als „er hat anfertigen lassen“ verstanden werden muss. 7 Briquel-Chatonnet / Lozachmeur 1998: 143. Die daran bei Kaizer 2002: 59‒60 geäußerte Kritik geht an der Sache vorbei, da Kaizer übersieht, dass Yarchibol auch in die Triade des Baalshamayin gehört. 8 Zu einem Gesamtbild des Bel in Palmyra vgl. etwa du Mesnil du Buisson 1962: 171‒198; Seyrig 1975; Teixidor 1977: 113‒121; Teixidor 1979: 1‒18; Will 1986; Dalley 1995; Kaizer 2002: 67‒79; Tubach 2006; Gawlikowski 2015. Zu einem Gesamtbild des Baalshamayin in Palmyra vgl. etwa du Mesnil du Buisson 1962: 305‒325; Collart / Vicari 1969: 201‒214; Teixidor 1977: 130‒135; Teixidor 1979: 18‒25; Collart 1986; Dunant / Stucky 2000: 50‒ 51.73‒75; Kaizer 2002: 79‒88; Niehr 2003: 103‒163. 6

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Herbert Niehr

Für Bel zeigt sich sein Charakter als Wettergott schon in seiner Vorgeschichte, da er seine Wurzeln in Palmyra auf den aramäischen Gott Hadad zurückführt. Dieser aramäische Wettergott ist ausweislich des Papyrus Amherst 63 seit dem 7. Jh. v. Chr. in Palmyra nachweisbar.9 Bels Stellung als kosmischer Gott wird zunächst daran deutlich, dass er auf dem Relief aus Lyon mit dem Globus in der Hand dargestellt wird.10 Der Nordthalamos des Bel-Tempels von Palmyra weist auf seiner Soffitte einen Adler, den Sonnenund den Mondgott sowie Sterne auf und in der Zentralkuppel des Thalamos ist Bel als Kosmokrator inmitten der Planeten als ihr Herr dargestellt.11 Ebenso weisen seine beiden Trabantengötter, Aglibol und Yarchibol, die für den Mond und die Sonne stehen, auf den Rang des Bel als kosmischer Gottheit hin.12 Auch bei Baalshamayin kommen diese beide Züge eines Wettergottes und eines Kosmokrators zusammen. Baalshamayins Charakter als Wettergott zeigt sich auf dem Relief aus Lyon an dem Stier als Begleittier und den Ähren an seinem Szepter. Dazu treten weitere Reliefs aus Palmyra und der Palmyrene, die Baalshamayin mit Ähren und Früchten ausstatten.13 Sodann ist die ein Blitzbündel haltende Hand des Wettergottes belegt. Dies ist der Fall auf drei Altären, von denen der erste aus Palmyra stammt und dem Kult des Baalshamayin zuzuordnen ist. Zwei weitere Altäre aus der Palmyrene zeigen ebenfalls dieses Motiv. Diese beiden Altäre sind dem sog. „anonymen Gott“ gewidmet, worunter Baalshamayin zu verstehen ist.14 Baalshamayin als Kosmokrator wird ersichtlich aufgrund der Ikonographie seines Tempels in Palmyra, die den Gott als Adler und als Herrn von Sonne und Mond und der Planeten auftreten lässt.15 Ein Graffito aus Khirbet Abu Duhur in der Palmyrene16 wird als die nach einer Wallfahrt erstellte Widergabe des Zentralreliefs des Baalshamayin-Tempels interpretiert,17 so dass unter Voraussetzung dieser Annahme eine Rekonstruktion dieses Reliefs, welches Baalshamayin als thronenden Kosmokrator mit dem Globus in der Rechten zeigt, möglich wird.18 Zu dieser Tempelikonographie treten noch einige Tesserae hinzu, die Baalshamayin mit einem Globus abbilden.19 Darüber hinaus ist auf seinen Namen als

9

Dazu van der Toorn 2018: 18‒37 und vorher schon Tubach 2006: 204‒205.209. Zum Globus des Bel vgl. du Mesnil du Buisson 1962: 46‒52. 11 Zum Nordthalamos und seiner Theologie vgl. Seyrig / Amy / Will 1975b: 41‒52 mit Tafel 26‒30; Seyrig / Amy / Will 1975c: 51‒70; Gawlikowski 1979/80: 22‒25 mit Abb. 4; Gawlikowski 2015: 250‒252; Pietrzykowski 1997: 32‒39.122‒124; Freyberger 2010. 12 Vgl. du Mesnil du Buisson 1962: 172‒176; Teixidor 1979: 29‒52; Tubach 2006. 13 Die Belege bei Dunant / Stucky 2000: 81 no. 1; Tf. 1/1 und Niehr 2003: 155.417 mit Abb. 22 und 23. 14 Dazu Niehr 2003: 116‒120.155. 15 Dazu Dunant / Stucky 2000: 81‒83 no. 2; Tf. 1/2; 2/2 und Niehr 2003: 137.414, Abb. 19. 16 Dazu Niehr 2003: 160 mit Anm. 429. 17 Vgl. Gawlikowski / Pietrzykowski 1980: 449‒451. 18 Vgl. Gawlikowski / Pietrzykowski 1980: 426‒435. 19 So z.B. RTP 207 und 208 bei Ingholt / Seyrig / Starcky 1955: 30. 10

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Zur religionsgeschichtlichen Botschaft eines palmyrenischen Votivreliefs

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„Herr des Himmels“ zu verweisen sowie auf die Tatsache, dass Baalshamayin in einigen palmyrenischen Inschriften ebenfalls den Titel „Herr der Welt“ trägt.20 Aus dieser kurzen Übersicht zu Bel und Baalshamayin geht hervor, dass beide Götter die Bereiche des Wettergottes bzw. des Herrn des Kosmos auf sich vereinigen. Hierzu passt auch, dass in den griechischen Inschriften aus Palmyra bzw. in den griechischen Partien der griechisch-palmyrenischen Bilinguen sowohl Bel als auch Baalshamayin als „Zeus“ bezeichnet werden.21 Allerdings gibt es an der Dominanz des Gottes Bel in der Religion Palmyras keinen Zweifel. Dies bringen auch zwei bekannte Reliefs aus der Palmyrene zum Ausdruck, die in ihrer Ikonographie und in den zugehörigen Inschriften Baalshamayin dem Bel unterordnen.22 Kehrt man wieder zurück zum Relief von Lyon, so stellt man fest, dass die Darstellung der beiden Götter bei gleichzeitiger Parallelisierung eine Komplementarität intendiert. Wie sieht dies genau aus? Bel wird auf dem Relief als kosmischer Gott repräsentiert und Baalshamayin als Wettergott. Im Hinblick auf Bel wird allerdings der Bereich der Fruchtbarkeit und Vegetation unerwähnt gelassen, während Baalshamayin nicht als Kosmokrator dargestellt wird. Insofern hat man den Eindruck, dass die theologische Idee hinter dem Relief darin besteht, beide Hochgötter Palmyras in umfassender Weise zu einem kosmischen Wettergott zu verschmelzen, ohne dass man einen der beiden Götter dabei aufgeben müsste. Somit kommen die Verehrergruppen beider Götter mit ihren Tempeln zu ihrem Recht. Es musste nicht etwa der Kult des Baalshamayin im Kult des Bel aufgehen, dessen Tempel bereits im Jahre 35 n. Chr. das Epitheton „Haus der Götter“ aufweist.23 Die konkurrierenden kultischen Interessen der unterschiedlichen Stämme Palmyras werden auf diese Weise berücksichtigt. Es bleiben noch die Fragen nach dem Stifter des Reliefs, seinem Anbringungsort und nach den Implikationen seiner Datieruung. Mit der Nennung des Baalay, Sohn des Yedibel, ist ein entscheidender Hinweis auf den Stamm der Bani Maazin, die Erbauer des Baalshamayin-Tempels von 130 n. Chr. gegeben.24 Yedibel war der Stammvater der Bani Maazin, seine Grablege befand sich in unmittelbarer Nähe des Tempels.25 Ebenso wurde im Baalshamayin-Tempel der Gad des Yedibel verehrt.26 Es ist also ein Baalshamayin-Verehrer, der mittels seines Votivs auf die Komplementarität der Götter Baalshamayin als Wettergott und Bel als Kosmokrator abhebt, denen somit der höchste Rang im Pantheon von Palmyra zukommt und die nicht gegeneinander auszuspielen sind. Die Frage nach dem Anbringungsort des Reliefs lässt sich nicht klar beantworten. Deutlich ist, dass es aufgrund seiner nicht bearbeiteten Rückwand sowie der Seitenränder, wie andere vergleichbare Reliefs auch, als Votiv an einer Wand ange20

Die Belege bei Niehr 2003: 106‒107 mit Anm. 99. Die Beleg bei Yon 2012: 425 s. v. Zeus. 22 Zu den Reliefs aus al Maqate und Wadi Arafa in der Palmyrene vgl. Niehr 2003: 158. 23 Vgl. PAT 1353,4 und PAT 269 aus dem Jahre 51 n. Chr. 24 So auch Briquel-Chatonnet / Lozachmeur 1998: 143. 25 Dazu Fellmann 1970; die Inschrift bei Dunant 1971: no. 60 (= PAT 0208). 26 Dunant 1971: no. 23. Zu weiteren Nennungen eines Yedibel in den Inschriften vom Baalshamayin-Tempel vgl. Dunant 1971: no. 22; 34; 44B; 60; 61. 21

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bracht werden sollte.27 Dabei kann es sich aufgrund der Datierung des Reliefs auf das Jahr 121 n. Chr. noch nicht um die Cella des Baalshamayin-Tempels von 130 n. Chr. gehandelt haben. Leider weiß man bislang nichts über den Vorgängerbau, der zwar unter der Cella von 130 n. Chr. zu verorten, aber archäologisch nicht nachgewiesen ist.28 Die meisten Votivreliefs des Baalshamayin-Tempels stammen aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. und man hat im Hinblick auf ihre Anbringungsorte an die Mauern des Hofes gedacht, in dem später die Cella des Baalshamayin-Tempels errichtet wurde.29 Diese Annahme könnte auch für das Relief aus Lyon zutreffend sein. Zu dieser Zeit war der Kult des Baalshamayin in Palmyra im Aufschwung begriffen und es zeigte sich, dass eine Klärung seines Verhältnisses zum Kult des Bel notwendig wurde. Der auf dem Relief aus Lyon gewählte Weg demonstriert, dass trotz aller Identität der Funktionsbereiche der beiden Hochgötter von Palmyra eine Verschmelzung der unterschiedlichen Göttergestalten Bel und Baalshamayin nicht stattfinden sollte, sondern ein friedliches Nebeneinander beider Kulte intendiert war.30 Bibliografie Briquel-Chatonnet / Lozachmeur 1993 Françoise Briquel-Chatonnet / Hélène Lozachmeur, Un nouveau bas-relief votif de Palmyre au Musée des Beaux-Arts de Lyon, in: Bulletin des Musées et Monuments Lyonnais 2, 4‒11. Briquel-Chatonnet / Lozachmeur 1998 Françoise Briquel-Chatonnet / Hélène Lozachmeur, Un nouveau bas-relief palmyrénien, in: Syria 75, 137‒143. Briquel-Chatonnet / Lozachmeur 2000 Françoise Briquel-Chatonnet / Hélène Lozachmeur, Bas-reliefs palmyréniens, in: Geneviève Galliano (Hrsg.), Recueil des Inscriptions lapidaires ouest-sémitiques du Musée des BeauxArts et du Muséum d'Histoire naturelle de Lyon. Bulletin des Musées et Monuments Lyonnais 2/3, 52‒57.

27

Zu den Votivreliefs des Baalshamayin-Tempels vgl. Collart / Vicari 1969: 155‒175 und Dunant / Stucky 2000: 43‒51; zu dem Relief aus Lyon vgl. Briquel-Chatonnet / Lozachmeur 1998: 137. 28 Zur Baugeschichte des Baalshamayin-Tempels vgl. Collart / Vicari 1969; Pietrzykowski 1997: 75‒94; Niehr 2003: 128‒141. Zu den Inschriften vgl. Dunant 1971 und Yon 2012: 151‒ 164 und zur Geschichte seiner Erforschung vgl. Stucky 2018: 64‒68. 29 Vgl. Collart / Vicari 1969: 156.175; zu diesem Hof vgl. noch Gawlikowski / Pietrzykowski 1980: 443‒446. 30 Zum Verhältnis von Bel und Baalshamayin in Palmyra vgl. etwa Seyrig 1975: 232; Teixidor 1977: 135‒140; Dirven 1999: 75‒78; Niehr 2003: 114‒116. ‒ Die Palmyra-Sektion von Papyrus Amherst 63 XVI 3‒4 und XVII 17‒19 zeigt zudem, dass Hadad und Baalshamayin bereits im 7. Jh. v. Chr. in Parallele zueinander angerufen wurden; vgl. van der Toorn 2018: 23.192‒193.212‒213. Allerdings ist über die Kulte in Palmyra zwischen dem 7. und dem 1. Jh. v. / n. Chr. nichts bekannt, so dass dieser Hinweis auch nicht überschätzt werden darf. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Zur religionsgeschichtlichen Botschaft eines palmyrenischen Votivreliefs

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Herbert Niehr

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Das Scherbenzimmer von Assur Ein Deutungsversuch Alexander E. Sollee / Bern1 Einleitung Bei den Ausgrabungen am Nordrand Assurs stießen die Ausgräber im Quadranten gC4II am Fuße des Steilhangs auf ein Gebäude, dem sie aufgrund der darin gefundenen Mengen an Keramikfragmenten (v. a. sog. Nuzi-Keramik) den Namen „Scherbenzimmer“ gaben (Abb. 1).2 Dieser Beitrag beleuchtet die Funktion dieses Gebäudes. Darin wird aufgezeigt, dass die bisherigen Interpretationen der Struktur als Teil der Befestigungsanlagen oder des nördlichen Aufgangs nicht überzeugend sind. Stattdessen sprechen mehrere Anhaltspunkte dafür, darin eine gemeinschaftlich betriebene Anlage zur Verarbeitung von Getreide zu erkennen.

Abb.1

Lage und Plan des sog. mušlālu-Bereichs am Nordrand Assurs (nach Andrae 1913: Taf. 2–4, 10). Die chronologische Einordnung der Befunde folgt Sollee 2020.

1

Mit den Erkenntnissen zur Stratigrafie des Westpalastes von Tell Halaf demonstrierte Lutz Martin, wie wichtig es ist, auch lange bestehende Ansichten im Lichte neuer Erkenntnisse zu betrachten. Ich möchte es ihm ein Stück weit gleichtun und freue mich, die folgenden Beobachtungen zu einem selten näher untersuchten Gebäude in Assur dem Jubilar zu widmen. 2 Andrae 1913: 72, Taf. 84. Analysen der dekorierten Scherben finden sich in Herzfeld 1937: 147–158; Hrouda 1957: 51–52; Cecchini 1965: 66–73. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Befund und Datierung Die Freilegung des Scherbenzimmers erfolgte im Oktober 1911 und war Teil der Arbeiten am sog. mušlālu-Bereich unterhalb der Großen Zikkurat.3 Das Gebäude maß insgesamt 16,7 × 9,4 m und wurde direkt an die Felswand, die das Stadtgebiet vom Tigrisbett trennte, gebaut (Abb. 2). Die Abmessungen des Innenraums betrugen 11,5 × 6,8 m. Im Zuge der Errichtung des Gebäudes wurde der anstehende Felsen abgearbeitet und als südliche Begrenzung des Bauwerks genutzt. Die Ausgräber stellten drei 0,7 m breite, in Abständen von 1,2 m in das Gestein geschlagene Vertiefungen fest, die vermutlich für die Dachkonstruktion gedacht waren (Abb. 2; Abb. 3). Sie befanden sich 7 m über dem Fußboden des Scherbenzimmers und zeigen somit die ursprüngliche Raumhöhe des Gebäudes an.

Abb. 2

3

Steingerechte Bauaufnahme des Scherbenzimmers (nach Andrae 1913: Taf. 8).

Die Ausführungen zum Befund sind übernommen aus Andrae 1913: 69–73, Taf. 8. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Das Scherbenzimmer von Assur

Abb. 3

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Schematische Profilzeichnungen durch das Scherbenzimmer (nach Andrae 1913: Taf. 11.2, 12.1).

Die drei 2,6 m starken Außenmauern, die das Scherbenzimmer zu den übrigen Seiten hin einfassten, besaßen einen 2 m hohen Sockel aus großen, grob behauenen Steinen in Lehmmörtel (Abb. 3; Abb. 4a–c). Die Fugen an den Mauerfassaden waren mit Mörtel aus gebranntem Gips abgedichtet. Das aufgehende Mauerwerk darüber setzte sich aus luftgetrockneten Lehmziegeln (Maße: 38 × 38 × 10 cm) und einer inneren Verschalung aus gebrannten Ziegeln (Maße: 46 × 46 × 7 cm) zusammen. Der nach Nordosten hin abschüssige Fußboden des Scherbenzimmers bestand aus in Bitumen verlegten, gebrannten Ziegeln. Eine 2,4 m breite Steinmauer separierte den Innenraum des Gebäudes in zwei Kammern, die 4,5 × 6,8 m (Raum A) bzw. 4,7 × 6,8 m (Raum B) groß waren (vgl. Abb. 2; Abb. 4a). Die Räume waren durch eine 0,4–0,74 m weite Tür mit Kraggewölbe verbunden (Abb. 3; Abb. 4b). Mit 3,4 m war die Trennmauer höher als die Steinsockel der Außenmauern, besaß aber wohl kein aufgehendes Mauerwerk. Sie unterteilte vermutlich nur den unteren Teil des Gebäudeinneren. Die Separierung der beiden Räume stellte einen zweiten Arbeitsschritt in der Konstruktion des Scherbenzimmers dar, denn die Zwischenmauer lehnte sich gegen die Innenseite der Nord© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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mauer (vgl. Abb. 4a). Ob diese Maßnahme von Beginn an Teil des Bauplans war oder erst nach einiger Zeit erfolgte, ist ungewiss. Der einzige Eingang in das Scherbenzimmer führte durch das östliche Ende der nördlichen Außenmauer. Der Durchgang war 0,95–1,15 m breit und mit einem 4,9 m Türbogen überspannt (Abb. 4c). In die Oberfläche der Schwelle war eine schmale, mit Bitumen ausgekleidete Rinne eingelassen. Direkt vor dem Türdurchgang befanden sich Schwellsteine und ein Türangelstein (Abb. 2).

Abb. 4

Fotografien des Scherbenzimmers nach der Freilegung: a) Blick in das Scherbenzimmer von Osten; b) Verbindungstür zwischen Räumen A und B; c) Eingangstür des Scherbenzimmers; d) Blick auf den „Rost“ an der Nordmauer (nach Andrae 1913: Abb. 96–97, 101–102). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Das Scherbenzimmer von Assur

Abb. 5

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Terrakotta-Gefäß Ass. 4751 aus dem Scherbenzimmer (Andrae 1913: Abb. 100).

An die äußere Fassade der Nordmauer des Scherbenzimmers angebaut war eine 0,7 m hohe Lehmziegelinstallation (von W. Andrae als „Rost“ angesprochen). Die Konstruktion bestand aus mehreren, einen Stein starke (d. h. 38 cm) Reihen Lehmziegel, die jeweils durch Lücken in der Breite eines halben Ziegels (d. h. 19 cm) voneinander getrennt waren (Abb. 2, Abb. 4d). Das östliche Ende des Rostes wies allerdings keine derartigen Unterbrechungen auf und stellte eine ca. 1,2 m breite (entspricht drei Reihen Lehmziegel) Plattform dar. Erwähnenswert ist zudem die direkt östlich des Rostes in die Felsoberfläche geschlagene, annähernde rechteckige Grube. Knapp südwestlich davon fand sich auf der Oberfläche des anstehenden Gesteins ein wannenartiger Behälter aus Terrakotta (Ass. 4751),4 dessen Innenraum in mindestens zwei Kompartiments unterteilt war (Abb. 5).5 Möglicherweise schloss sich nördlich des Scherbenzimmers ein umfriedeter Hof an. Eine von Risalit- und Vormauer geschnittene oder überlagerte, ca. 0,8 m breite Mauern aus luftgetrockneten Ziegeln (Format 37 × 37 × 10 cm) könnte dies andeuten (vgl. Abb. 2, Abb. 3b). Die Ausrichtung dieser Mauer entsprach der des Scherbenzimmers, wich hingegen von anderen angrenzenden Bauwerken deutlich ab. Das stratigrafische Verhältnis und somit auch die Zugehörigkeit zum Scherbenzimmer lassen sich jedoch nicht eindeutig klären. Wann das Scherbenzimmer errichtet wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die großen Mengen dekorierter Nuzi-Keramik stellen keinen konkreten Anhaltspunkt dar, denn die Scherben wurden in einer nach der Aufgabe des Gebäudes entstandenen Schuttschicht 1,5 m über dem Fußboden gefunden (vgl. Abb. 3).6 Dies 4

Auf dem steingerechten Plan wurde für das Objekt die falsche Fundnummer (Ass. 8751) eingetragen (vgl. Andrae 1913: Taf. 8). 5 Die auf dem Objektfoto erkennbaren Brüche deuten an, dass es ursprünglich noch ein drittes Kompartiment gegeben hatte. 6 Andrae 1913: 72. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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kann zur Mittani-Zeit oder später, jedenfalls aber vor der Errichtung der frühneuassyrischen „Risalitmauer“, geschehen sein.7 Bisher wurde das Scherbenzimmer meist in die mittelassyrische Zeit eingeordnet.8 Die Dimensionen der verwendeten Ziegel, die Entsprechungen vor allem an mittelassyrischen Bauten finden, sprechen dafür.9 Eine etwas frühere Datierung in die Mittani-Zeit sollte jedoch angesichts der spärlichen Datenlage zur Bauweise in dieser Periode nicht ausgeschlossen werden. Beachtenswert ist zudem, dass Vergleichsfunde für die in mehrere Kammern unterteilte Terrakottawanne Ass. 4751 vor allem aus Mittani-zeitlichen Kontexten stammen.10 Da es sich bei der Wanne aber um Gebrauchskeramik handelt, ist dies nicht als eindeutiges Datierungskriterium anzusehen. Angesichts der verfügbaren Informationen lässt sich diese Angelegenheit derzeit nicht klären. Eine generelle Einordnung des Befunds in die 2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. erscheint jedoch gerechtfertigt. Deutungsversuche Wegen der Nähe zu den nördlichen Befestigungsanlagen Assurs interpretierte W. Andrae das Bauwerk zunächst als Wachzimmer für die Besatzung der Befestigungsanlagen.11 Die Lage und der Fund mehrerer sog. „Wurfsteine“, auf die unten nochmals eingegangen wird, bestätigten ihn in seiner Ansicht. Diese Erklärung scheidet aber allein wegen der Position der Tür aus: Der Fundort des Türangelsteins indiziert, dass diese sich nur von außen öffnen bzw. schließen ließ.12 Zudem müsste es eine Verbindung zu angrenzenden fortifikatorischen Bauwerken geben, die im 2. Jahrtausend v. Chr. in Form der „Randmauer“ aber noch entlang der oberen Kante des Steilabfalls verliefen.13 Später sah W. Andrae das Gebäude als Teil des mušlālu von Assur.14 Auch dies ist abzulehnen. Bis in die mittelassyrische Zeit war das mušlālu von Assur noch eng mit dem Aššur-Tempel verbunden. Erst in neuassyrischer Zeit wurde dieses Gebäude in den Bereich unterhalb des Alten Palastes verlegt.15 Weitere Interpretationsmöglichkeiten überzeugen ebenso wenig. Dass es sich um ein Privathaus handelte, ist wegen der aufwendigen Bauweise unwahrscheinlich.16 Auch eine Deutung als Sakral- oder Repräsentativbau ist wenig plausibel: Es fehlen die entsprechenden Räumlichkeiten, Installationen und Gegenstände. Zudem ist die 7

Andrae 1913: 81; Sollee 2020: 32. Vergleiche u. a. Herzfeld 1937: 147; Andrae 19772: 173; Hrouda 1993–97. 9 Vergleiche Andrae 1913: 14. 10 Beispielsweise in Yorgan Tepe (Starr 1937/9: Taf. 80–81), Tell Mumbaqa (Czichon / Werner 2008: Taf. 272–277, 325–326), Tell Brak (Oates / Oates / McDonald 1997: Abb. 205. 538–539) oder Tell ar-Rimah (Postgate / Oates / Oates 1997: Taf. 101.1236). 11 Andrae 1913: 72–73. 12 Halama 2011: 37; siehe auch schon Andrae 1913: 71, 73. 13 Andrae 1913: 65–66; Halama 2011: 36. 14 Andrae 19772: 170, 173. 15 Pedde / Lundström 2008: 185; Sollee / Tudeau 2018: 431. 16 Zur Wohnarchitektur in Assur im 2. Jahrtausend v. Chr. siehe Preusser 1954: 7–14; Miglus 1996: 55–59. Siehe hierzu auch Miglus 1999. 8

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Das Scherbenzimmer von Assur

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versteckte Lage des Gebäudes wenig geeignet für repräsentative Zwecke. Als Komplex für die langfristige Lagerung von Gütern qualifiziert es sich ebenfalls nicht. Wiederum erscheint die Bauweise hierfür übertrieben aufwendig. Zusätzlich ist zu bedenken, dass die Aufbewahrung von Waren an einem Ort, der nicht von den Stadtbefestigungen geschützt war (s. o.), ein Risiko dargestellt hätte. Eine Anlage zur Getreideverarbeitung? Wenn sich das Scherbenzimmer also weder als Wohn-, Sakral-, Repräsentativ- oder Lagergebäude deuten lässt, bliebe noch zu überlegen, ob es sich um eine Produktionsstätte handeln könnte. Letztere werden gerne am Siedlungsrand bzw. knapp außerhalb lokalisiert.17 Doch was könnte hergestellt worden sein? In dem Ausgrabungsbericht werden keine der typischen Abfallprodukte (z. B. Abschläge oder Schlacken) erwähnt. Bei einer Stätte zur Verarbeitung von Lebensmitteln wäre dies wegen der Vergänglichkeit organischer Reste allerdings nicht überraschend. Einige Eigenschaften des Scherbenzimmers hätten sich z. B. für verschiedene Arbeitsschritte des Bierbrauens, wie es für den Alten Orient rekonstruiert wird, angeboten:18 Auf dem Rost direkt vor dem Gebäude oder auf dem Dach hätte das Grünmalz gut zum Dörren ausgelegt werden können. Das für das Ansetzen des Malzes und der Maische notwendige Wasser wäre nur wenige Meter nördlich des Scherbenzimmers verfügbar gewesen, da hier ein Seitenarm des Tigris verlief. Zudem hätte sich der wasserdichte Fußboden des Gebäudes für das Hantieren mit Wasser und das Auslassen von Flüssigkeit geeignet. Da sich aber keine der für das Brauen relevanten Utensilien (z.B. großes Biergefäß oder Lochbodengefäß) fanden, lässt es sich nicht als Braustube identifizieren.19 Wenngleich im Scherbenzimmer wohl kein Bier gebraut wurde, lässt sich hier nichtsdestoweniger ein wichtiger Arbeitsschritt des Brauvorgangs lokalisieren. Insbesondere die von W. Andrae erwähnten „Wurfsteine“ könnten darauf hindeuten, dass in dem Gebäude Getreide in großen Mengen zerkleinert wurde. Der Ausgräber beschrieb diese „Projektile“, wie er sie nannte, wie folgt: „Sie bestehen meist aus Basalt und haben die Gestalt und Größe eines länglichen Brotlaibs. Die Ecken und Kanten sind künstlich abgerundet.“20 Diese Ausführungen erinnern weniger an Wurf- als an Reibsteine, sog. „Läufer“ (Abb. 6). Letztere finden sich sehr häufig und in großen Mengen an antiken Stätten im Nahen Osten. Zusammen mit größeren, konkaven, auf dem Boden stehenden oder auf Arbeitsplattformen installierten Basaltsteinen (sog. Sattelmühlen) dienten sie dem Mahlen oder Schroten von Getreide.21 17

Van de Mieroop 1997: 71–72. Siehe hierzu u. a. Röllig 1970: 19–27; Curtis 2001: 215–217; Zarnkow et al. 2006; Sallaberger 2012. 19 Zu den für das Brauen notwendigen Gegenständen und Gefäßen siehe u. a. Zarnkow et al. 2006; Otto / Einwag im Druck. Für den hethitischen Raum siehe Müller-Karpe 2005. 20 Andrae 1913: 72. 21 Ellis 1993–97: 401–402; Milano 1993–97a: 23; Milano 1993–97b: 394. Zur Eignung von Läufer und Sattelmühle zum Schroten von Malz siehe Zarnkow et al. 2006: 20–21, Abb. 9. 18

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Abb. 6

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Beispiel eines Reibsteins zum Mahlen von Getreide, gefunden in der spätbronzezeitlichen „Weststadt“ von Tall Bazi (Otto 2006: Abb. 39, 53.2).

Angesichts seiner Größe und Bauweise könnte das Scherbenzimmer durchaus eine Art Mahlwerkstätte bzw. Mühle dargestellt haben. Wie oben erläutert, war sie aber wohl nicht Teil eines privaten Haushalts. Eine Nutzung der Anlage durch eine Gemeinschaft oder Institution wäre naheliegender. Dass es neben der Produktion von Lebensmitteln in Privathaushalten auch ein zentral organisiertes System der Nahrungsmittelverarbeitung in Assur im 2. Jahrtausend v. Chr. gab ist keinesfalls abwegig.22 Normalerweise erhielten Tempel und Paläste Abgaben zwar in der Form von Getreide. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Institutionen Getreide auch im bereits verarbeiteten Zustand benötigten. Mehl und das daraus produzierte Brot dienten als Bezahlungsmittel, Reiseproviant für Boten und waren wichtige Bestandteile von religiösen Zeremonien.23 Selbiges gilt auch für Bier, das bei Festen und Kulthandlungen konsumiert wurde, zugleich aber auch als Entlohnung für geleistete Arbeit diente.24 Mahlwerkstätten als eigenständige Einrichtungen sind vor allem in schriftlichen Quellen belegt.25 Aus Ur III-zeitlichen Dokumenten geht hervor, dass solche Anlagen sowie das damit assoziierte Personal zum Tempel gehörten.26 Interessant sind zudem Informationen aus mittelassyrischen Texten zur Opferverwaltung des AššurTempels: Darin werden Personen erwähnt, die das nach Assur gelieferte Getreide mahlten, um das so gewonnene Mehl in Ritualen des Aššur-Kults verwenden zu können.27 Angesichts der großen Mengen an Getreideprodukten, die zentrale Institutionen in altorientalischen Städten für verschiedene Aufgaben und Anlässe benötigten, ist die archäologische Evidenz von Mahlwerkstätten als Teil von öffentlichen Bauwerken jedoch auffällig gering.28 Dementsprechend wurde bisweilen die Vermu-

22

Vergleiche van de Mieroop 1997: 155–156; Curtis 2001: 201–202. Milano 1993–97a: 31. 24 Siehe hierzu u. a. Röllig 1970. 25 Curtis 2001: 202–203. 26 Milano 1993–97b: 395–397. 27 Maul 2013: 320–321. 28 Für Beispiele siehe Dolce 1988: 39, 43; Taf. 9.1–2; Ellis 1993–97: 401–402. 23

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Das Scherbenzimmer von Assur

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tung geäußert, dass bestimmte zu Tempeln oder Palästen gehörige Produktionsbereiche physisch getrennt an einer anderen Stelle der jeweiligen Siedlung lagen.29 Das Scherbenzimmer könnte eine solche Anlage darstellen. Neben den oben erwähnten Läufern ist diesbezüglich auf einige bauliche Eigenschaften des Bauwerks zu verweisen. Der Innenraum bot genügend Platz, um das zu verarbeitende oder bereits gemahlene Getreide vorübergehend zu lagern. Die Lage des Gebäudes unterhalb der Felswand, das Fehlen von Fenstern sowie die hohen Steinsockel dürften für eine konstante, relativ kühle Temperatur gesorgt haben. Darüber hinaus hätten die Mauern mit ihren gemörtelten massiven Steinsockel und der Verschalung aus gebrannten Ziegeln Nagern das Eindringen erschwert. Zudem ließen sich die Abfälle des Mahlprozesses auf dem mit Lehmziegeln gepflasterten Fußboden gut zusammenkehren bzw. mit Wasser aus dem nur wenige Meter nördlich vorbeifließenden Seitenarm des Tigris leicht beseitigen. Die Bauweise des Fußbodens der Mahlwerkstätte von Palast Q in Ebla deutet an, dass dies auch dort ein relevanter Faktor war.30 Der Lehmziegelrost direkt vor der Tür hätte sich, wenn Bretter über die Rinnen gelegt wurden, als ventilierte Abstellfläche angeboten. Ähnliche Anlagen, wenngleich kleiner, sind mehrfach in frühbronzezeitlichen Wohnhäusern belegt.31 Das massivere Ostende dieser Lehmziegelkonstruktion könnte hingegen als Arbeitsbank gedient haben, auf die die Sattelmühlen aufgestellt wurden. Die direkt davor gelegene, in den Felsen geschlagene Grube (Abb. 2–3) und die Terrakottawanne Ass. 4751 (Abb. 5) könnten damit im Zusammenhang gestanden haben. Problematisch an der Assoziation des Gebäudes mit dem Getreidemahlen ist auf den ersten Blick das Fehlen von Sattelmühlen, also den Gegenstücken zu den „Läufern“. Ihre Absenz könnte jedoch einer Reihe von Ursachen geschuldet sein. Sie könnten beispielsweise im 1. Jahrtausend v. Chr. für den Bau der nördlich angrenzenden Befestigungsmauern oder des mušlālu verwendet worden sein (vgl. Abb. 1). Nicht auszuschließen ist, dass die Ausgräber die Sattelmühlen schlichtweg nicht erwähnten.32 Des Weiteren lohnt sich ein Blick auf die Weststadt von Tell Bazi: Dort waren Läufer, wenn sie im inneren eines Raumes gefunden wurden, nur selten direkt mit den Sattelmühlen vergesellschaftet. Der Grund dafür liegt darin, dass das Mahlen häufig im Freien oder auf dem Dach geschah.33 Die Läufer könnten demnach separat von den Sattelmühlen aufbewahrt worden sein. Eine vergleichbare Praxis findet sich in mittelassyrischen Dokumenten: Darin ist festgehalten, dass Bäcker und Brauer bisweilen Mahlsteine vom Aššur-Tempel ausgehändigt bekamen, um ihren Tätigkeiten nachzugehen.34

29

Siehe hierzu Dolce 1988: 40–41. Dolce 1988: Taf. 9.2. 31 Pfälzner 2001: 158. 32 Ob sich Arbeitssteine dieser Art unter den in Raum A auf dem Fußboden eingezeichneten oder auf dem Lehmziegelrost auf einem Grabungsfoto erkennbaren großen Steinen fanden, lässt sich nicht sagen (vgl. Abb. 2). 33 Vergleiche Otto 2006: 82, 110, 237. 34 Jakob 2003: 394. 30

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Schlussbetrachtung Obwohl es sich nicht endgültig beweisen lässt und eine multifunktionale Verwendung des Gebäudes nicht auszuschließen ist, erscheint es angesichts der angeführten Beobachtungen möglich, das Scherbenzimmer als eine Mahlwerkstatt zu interpretieren. Vielleicht wurde hier Getreide, das innerhalb der Siedlung z. B. in einem großen Getreidesilo wie dem mittelassyrischen karmu lagerte,35 in größerem Umfang im Auftrag einer zentralen Einrichtung weiterverarbeitet. Betreiber bzw. Abnehmer des Endprodukts könnten der nahegelegene Aššur-Tempel oder der Alte Palast bzw. damit assoziierte Produktionsstätten oder Angestellte (z. B. Bäcker oder Brauer) gewesen sein.36 Eine derartige Arbeitsaufteilung hätte den Vorteil mit sich gebracht, dass den Abnehmern der arbeitsintensive Schritt des Schrotens oder Mahlens erspart geblieben wäre. Bibliografie Andrae 1913 Walter Andrae, Die Festungswerke von Assur. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 23, Berlin. Andrae 19772 Walter Andrae, Das wiedererstandene Assur, München. Cecchini 1965 Serena M. Cecchini, La Ceramica di Nuzi. Studi semitici 15, Rom. Curtis 2001 Robert I. Curtis, Ancient Food Technology, Leiden. Czichon / Werner 2008 Rainer M. Czichon / Peter Werner, Ausgrabungen in Tall Mumbāqa - Ekalte IV. Die bronzezeitliche Keramik. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 118, Wiesbaden. Dolce 1988 Rita Dolce, Some Aspects of the Primary Economic Structures of Ebla in the Third and Second Millenniums B.C.: Stores and Workplaces, in: Hartmut Waetzoldt / Harald Hauptmann (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft von Ebla. 4.‒7. November 1986. Akten der Internationalen Tagung Heidelberg. Heidelberger Studien zum Alten Orient 2, Heidelberg, 34–45. Ellis 1993–97 Richard S. Ellis, Mühle. B. Archäologisch, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 8, 401–404.

35

Siehe hierzu Llop 2005. Zu Bäckern und Brauern in der mittelassyrischen Zeit siehe Jakob 2003: 386–395, 401– 407. 36

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Das Scherbenzimmer von Assur

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Halama 2011 Simon M. Halama, Assyrische und babylonische Befestigungen des ersten Jahrtausends v. Chr. in ihrem Kontext, Magisterarbeit, Freiburg i. Br. http://archiv.ub.uni-heidel berg.de/propylaeumdok/volltexte/2011/832 [Zugriff am 24.08.2019]. Herzfeld 1937 Ernst Herzfeld, Die Kunst des zweiten Jahrtausends in Vorder-Asien. I. Teil, in: Archäologische Mitteilungen aus Iran 8, 103–160. Hrouda 1957 Barthel Hrouda, Die bemalte Keramik des zweiten Jahrtausends in Nordmesopotamien und Nordsyrien. Istanbuler Forschungen 19, Berlin. Hrouda 1993–97 Barthel Hrouda, Mušlālu. B. Archäologisch, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 8, 496. Jakob 2003 Stefan Jakob, Mittelassyrische Verwaltung und Sozialstruktur. Untersuchungen. Cuneiform Monographs 29, Leiden / Boston. Llop 2005 Jaume Llop, Die königlichen „grossen Speicher“ (karmū rabi’ūtu) der Stadt Assur in der Regierungszeit Salmanassars I. und Tukultī-Ninurtas I., in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 137, 41–55. Maul 2013 Stefan M. Maul, Das Haus des Götterkönigs. Gedanken zur Konzeption überregionaler Heiligtümer im Alten Orient, in: Kai Kaniuth / Anne Löhnert / Jared L. Miller / Adelheid Otto / Michael Roaf / Walther Sallaberger (Hrsg.), Tempel im Alten Orient. 7. Internationales Colloquium der Deutschen Orient-Gesellschaft, 11.–13. Oktober 2009, München. Colloquien der Deutschen Orient-Gesellschaft 7, Wiesbaden, 311–324. Miglus 1996 Peter Miglus, Das Wohngebiet von Assur. Stratigraphie und Architektur. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 93, Berlin. Miglus 1999 Peter Miglus, Städtische Wohnarchitektur in Babylonien und Assyrien. Baghdader Forschungen 22, Mainz. Milano 1993–97a Lucio Milano, Mehl, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 8, 22–31. Milano 1993–97b Lucio Milano, Mühle. A. I. In Mesopotamien, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 8, 393–400.

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Müller-Karpe 2005 Vuslat Müller-Karpe, Bier und Bierproduktion in Anatolien zur Bronzezeit, in: Ünsal Yalçın / Cemal Pulak / Rainer Slotta (Hrsg.), Das Schiff von Uluburun. Katalog der Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum vom 15. Juli 2005 bis 16. Juli 2006. Welthandel vor 3000 Jahren, Bochum, 171–184. Oates / Oates / McDonald 1997 David Oates / Joan Oates / Helen McDonald, Tell Brak I. The Mitanni and Old Babylonian Periods, London. Otto 2006 Adelheid Otto, Alltag und Gesellschaft zur Spätbronzezeit. Eine Fallstudie aus Tall Bazi (Syrien). Subartu 19, Turnhout. Otto / Einwag im Druck Adelheid Otto / Berthold Einwag, Beer in the Ancient Near East: State of Research und Perspectives from an Archaeological Point of View, in: Denis Lacambre (Hrsg.), Festschrift Tunca. Pedde / Lundström 2008 Friedhelm Pedde / Steven Lundström, Der Alte Palast in Assur. Architektur und Baugeschichte. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 120, Wiesbaden. Pfälzner 2001 Peter Pfälzner, Haus und Haushalt. Wohnformen des dritten Jahrtausends vor Christus in Nordmesopotamien. Damaszener Forschungen 9, Mainz. Postgate / Oates / Oates 1997 Carolyn Postgate / David Oates / Joan Oates, The Excavations at Tell al Rimah. The Pottery. Iraq Archaeological Reports 4, London. Preusser 1954 Conrad Preusser, Die Wohnhäuser in Assur. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 64, Berlin. Röllig 1970 Wolfgang Röllig, Das Bier im alten Mesopotamien, Berlin. Sallaberger 2012 Walter Sallaberger, Bierbrauen in Versen: Eine neue Edition und Interpretation der NinkasiHymne, in: Catherine Mittermayer / Sabine Ecklin (Hrsg.), Altorientalische Studien zu Ehren von Pascal Attinger. mu-ni u4 ul-li2-a-aš ĝa2-ĝa2-de3. Orbis Biblicus et Orientalis 256, Fribourg / Göttingen, 291–328. Sollee 2020 Alexander E. Sollee, „Bergesgleich baute ich hoch“ – Untersuchungen zur Architektur, Funktion und Bedeutung neuassyrischer Befestigungsanlagen. Schriften zur Vorderasiatischen Archäologie 17, Wiesbaden.

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Das Scherbenzimmer von Assur

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Sollee / Tudeau 2018 Alexander E. Sollee / Johanna Tudeau, Step by Step: Correcting our Mental Image of the mušlālu, in: Pascal Attinger / Antoine Cavigneaux / Catherine Mittermayer / Mirko Novák (Hrsg.), Text and Image. Proceedings of the 61st Rencontre Assyriologique Internationale in Bern and Geneva, 22–26 June 2015. Orbis Biblicus et Orientalis. Series Archaeologica 40, Leuven, 423–441. Starr 1937/9 Richard Francis Strong Starr, Nuzi. Report on the Excavations at Yorgan Tepa Near Kirkuk, Iraq, Cambridge. Van de Mieroop 1997 Marc van de Mieroop, The Ancient Mesopotamian City, Oxford. Zarnkow / Spieleder / Back / Sacher / Otto / Einwag 2006 Martin Zarnkow / Elmar Spieleder / Werner Back / Bertram Sacher / Adelheid Otto / Berthold Einwag, Interdisziplinäre Untersuchungen zum altorientalischen Bierbrauen in der Siedlung von Tall Bazi/Nordsyrien vor rund 3200 Jahren, in: Technikgeschichte 73,1, 3–25.

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Altsyrische Terrakottafiguren in primärer und sekundärer Verwendung Eva Strommenger / Berlin Im Jahr 1977 unterschied Oscar White Muscarella bei den Objekten der Bildenden Kunst und des Kunsthandwerks Vorderasiens zwei Gruppen, je nachdem, ob sie bei legitimen, gut bezeugten Grabungen zutage kamen oder als “unexcavated” überliefert sind. Werke der zweiten Gruppe stünden grundsätzlich unter dem Verdacht der Fälschung und wären dringend zu überprüfen.1 Das Ergebnis seiner kritischen Bilanz veröffentlichte Muscarella im Jahr 20002 mit vielen Abbildungen. Dabei beschränkt er sich auf Produkte von hohem bis gehobenem Kunsthandelswert, wie sie im Rahmen der heutzutage vorwiegend durchgeführten Grabungen im ländlichen Syrien kaum gefunden werden. Das dort zu erwartende Inventar beschränkt sich meist auf den Bedarf der jeweils üblichen Haushalte. Leider müssen Ausgräber heute bei ihrer Arbeit feststellen, dass Kunsthändler und Fälscher auch in diese Bereiche vorgedrungen sind, obgleich die Objekte nur geringe Profite versprechen. Bereits im Jahr 1935 machte Max Mallowan bei seiner Grabung in Tall Chagar Bazar eine einschlägige Erfahrung. Seine Ehefrau, die Kriminalschriftstellerin und häufige Begleiterin Agatha Christie, berichtet über den in ihr Fachgebiet gehörigen Vorfall ausführlich: „Wir haben viele interessante tierförmige Stempelsiegel gefunden, alle von einem wohlbekannten Typ. Doch auf einmal kommen mehrere höchst merkwürdige Figürchen zutage: Ein kleiner, geschwärzter Bär erscheint, ein Löwenkopf und dann eine sonderbar primitive menschliche Gestalt. Max hatte gleich Verdacht geschöpft, doch die menschliche Gestalt machte das Maß voll. Wir haben einen Fälscher unter uns. «Und einen recht geschickten Burschen dazu», bemerkt Max, als er das Bärchen voll Anerkennung herumdreht. «Sehr anständig gemacht.» Wir ermitteln weiter. Die Objekte tauchen an einer bestimmten Ecke unserer Ausgrabung auf und werden meist von dem einen oder anderen Bruder entdeckt, die beide aus einem ungefähr zehn Kilometer entfernten Dorf kommen. Plötzlich bringt ein Mann, aus demselben Dorf stammend, einen höchst zweifelhaften «Löffel aus Bitumen» – er will ihn an einem ganz anderen Platz gefunden haben. Er erhält wie gewohnt sein Bakschisch, und wir schweigen. Doch am Zahltag gibt es die große Enthüllungsszene. Max zeigt die Funde und hält eine kräftige Standpauke. «Das ist eine Gaunerei», wettert er und zerstört die Sachen vor aller Augen; nur den Bär behält er als Kuriosität. Die fündigen Arbeiter werden entlassen und ziehen fröhlich unter lauten Unschuldsbeteuerungen von dannen. Am nächsten Morgen kichern die Männer bei der Arbeit. «Der Khwaja weiß alles über alte Sachen, er ist sehr gebildet. Dem kann man nichts vormachen.»“3 1

Muscarella 1977. Siehe dazu Strommenger 1976/77. Muscarella 2000. 3 Christie 1997: 157. Die Kenntnis des Textes verdanke ich Friederike Bachmann. 2

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Leider sind keine Bilder der zweifelhaften Objekte überliefert. Mallowans Erfahrung sollte jedoch noch heute davor warnen, Grabungsarbeiter für „gute Funde“ zu belohnen. „Gute Arbeit“ ist eine bessere Alternative. Inzwischen führten zahlreiche Entwicklungsprojekte zu einer intensiveren archäologischen Erforschung der syrischen Ackerbauzonen. Sie bereichern vor allem unsere Kenntnis der Kulturgeschichte des 3. Jahrtausends v. Chr.4 Neben der allgegenwärtigen Keramik geben die zahlreichen anthropomorphen Terrakotten wertvolle Hinweise auf ihre zeitliche und regionale Position (Abb. 1‒5).

Abb. 1

Laufzeiten der älteren Gruppe altsyrischer Terrakottafiguren (nach Sakal 2013: 44 Abb. III.1).

Abb. 2

Der Herstellungsprozess einer altsyrischen Terrakottafigur (nach Sakal 2013: 46 Abb. IV.1).

4

Orthmann et al. 2013. So war es auch in Habuba Kabira (1968‒1975). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Altsyrische Terrakottafiguren in primärer und sekundärer Verwendung

Abb. 3

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Kopftypen der älteren Gruppe von Terrakottafiguren (nach Orthmann et al. 1995: 255 Abb. 99).

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Abb. 4

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Terrakottafiguren der jüngeren altsyrischen Gruppe unbekannter Herkunft aus der Sammlung Elie Borowski (nach Muscarella 1981: 252, Abb. Objekt 204. 206).

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Altsyrische Terrakottafiguren in primärer und sekundärer Verwendung

Abb. 5

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Terrakottafiguren der jüngeren Gruppe aus Tell Açana-Alalach (nach Woolley 1955: Taf. LIV. LV).

Zwei Phasen lassen sich gut unterscheiden, deren jüngere weniger reich an formalen Variationen ist (Abb. 4‒5). Leider wuchs auch das Interesse der Kunst- und Souvenirhändler an den nun intensiv erforschten Regionen. So war es auch in Habuba-Kabira Süd (1968‒1975). Nicht selten fanden sich dort während der Arbeitszeit junge Libanesen ein, die sich als Jäger ausgaben und tote Vögel an ihren Gürteln befestigt hatten. Obgleich der Kommissar des syrischen Antikendienstes ihnen jeden Kontakt mit den Arbeitern verbot, wurde bereits wenige Tage nach dem Fund der ersten gesiegelten Tonbullen in Habuba Kabira-Süd5 eine solche Bulle in Beirut angeboten! 5

Strommenger et al. 2014: Taf. 203‒211. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Mit dem neuen Grabungsprojekt in Tall Bi‘a bei Raqqa seit dem Jahr 19806 geriet die Deutsche Orient-Gesellschaft in eine Gegend, die viel stärker von Raubgräbern ausgebeutet wurde. Auf dem Ruinenhügel fanden wir einen sorgfältig aufgebauten Stapel von Ziegeln vor, die den historischen Bauten entnommen und zum Abtransport vorbereitet waren. Auch der für den Tall Bi’a eingestellte Wächter hatte gründliche Erfahrungen in der Raubgräberei. Er erwies sich jedoch als zuverlässiger und sachkundiger Berater. Mit gezieltem persönlichem Einsatz und allen anderen verfügbaren Mitteln warben wir um Verständnis für die Ziele unserer Forschungen. Bald blieben unsere Grabungsflächen weitgehend unbeschädigt. Bei einem Aufenthalt in Aleppo bot mir ein Souvenirhändler eine Terrakottafigur zum Kauf an, die offensichtlich in einer jungen Werkstatt hergestellt war. Meine ablehnende Haltung wurde nicht zur Kenntnis genommen. Der Händler folgte mir, um mir das problematische Objekt zu schenken. Als ich es im Hotel ins Wasser legte, löste es sich in moderne und antike Teile auf. Wie ich vermutet hatte, war es unter Verwendung eines antiken Fragmentes hergestellt. Später bedauerte ich, die Reste entsorgt zu haben. Am Ende einer Grabungskampagne in Tall Bi‘a bemerkte ich nämlich ein mengenmäßiges Missverhältnis in der Menge der Fragmente von stabartigen Unterkörpern der Terrakottafiguren und ihrer detailliert ausgearbeiteten Oberkörper: Offensichtlich war unmittelbar nach dem Auffinden der Objekte Brauchbares und Unbrauchbares voneinander getrennt worden. Von einem Dorf, in dem Terrakottafragmente für den Verkauf vervollständigt wurden, hatte ich bereits gehört. Der aufblühende Tourismus belebte den Markt der Andenkenhändler. Aber bereits während meiner Tätigkeit bei der Ausgrabung in Uruk wurde dort eine Fundunterschlagung durch Arbeiter offenkundig: Es geschah Weihnachten 1959, als ein keilschriftkundiger Gast drei Tontafeln an einer der aktuellen Grabungsstellen vergrub. Sie waren in Akkadisch mit Wünschen zu den Feiertagen beschrieben. Offiziell gefunden wurden sie nicht, und sie kamen auch bei gezielten Nachgrabungen nicht wieder zutage. Nach einer strengen Befragung wurde nur eine Tafel abgeliefert. Der Rest blieb verschwunden. Im folgenden Sommer jedoch kam ein in Bagdad tätiger deutscher Ingenieur in das dortige Archäologische Institut und bat um Übersetzung des Textes der zweiten Tafel, die er im Handel erworben hatte. Das Schicksal des dritten Exemplars ist mir unbekannt. Seit meinen frühen Jahren in der Archäologie erhoffe ich die Aufklärung eines weit schwereren Verlustes in der Uruk-Grabung, über den mir Professor Lenzen in unseren gemeinsamen Tagen berichtete. Demnach gingen die noch heute fehlenden Randfragmente der „Alabastervase“ auf dem Transport von der Fundstelle zum Grabungshaus durch damit beauftragte Arbeiter verloren.7 Für den Sammler, der die inzwischen unverkäuflichen Objekte aufbewahrt, sind sie gewiss zu einer schweren Last geworden, von der nur die Übergabe an das Iraq-Museum befreien könnte.

6 7

Strommenger 1981: 23. Heinrich 1936: 15‒17, Taf. 2, 3, 38. Lindemeyer / Martin 1993: 81, Taf. 219‒225. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Die von Privatsammlern im internationalen Kunsthandel erworbenen „Altertümer“ werden gelegentlich Museen übergeben und in deren Magazinen untergebracht. In diese gelangen in den Herkunftsländern oft auch die offiziell beschlagnahmten Antiken. Daher sind Museumsmagazine stets eine interessante Fundgrube für Fachwissenschaftler. Ebenso werden ihre Bestände gern für Wanderausstellungen verliehen und in deren Katalogen veröffentlicht. Die beiden hier beispielhaft gezeigten Objekte (Abb. 6 und Abb. 7) befinden sich im Magazin des Nationalmuseums von Aleppo. Die zuerst genannte Terrakotte (Abb. 6) kommt aus dem nordsyrischen Tall Kaschkaschuk III, die zweite (Abb. 7) aus dem nordwestlich des Assad-Stausees gelegenen Tall al-Qitar. Die Terrakotte aus Tall Kaschkaschuk III (Abb. 6) ist ohne Zweifel eine Fälschung aus einer syrischen Werkstatt. Sie besteht aus zwei antiken Bruchstücken, einem Kopf und einer Oberschenkelpartie, die mit Hilfe einer formbaren Masse zusammengefügt und mit einer Basis versehen wurden. Die Oberfläche des Kopfes und der Beinfragmente scheint sich von der am Rumpf und vielleicht auch an der Basis zu unterscheiden. Wer die originalen Fragmente aus ihrer jetzigen Fassung herauslöst, kann sie vielleicht durch Vergleiche mit vollständigeren Werken genauer lokalisieren und vielleicht auch Hinweise auf den Ort der modernen Werkstatt gewinnen.

Abb. 6

Moderne, unter Verwendung antiker Fragmente hergestellte Terrakottafigur; angeblich aus Tall Kaschkaschuk III. Höhe 14 cm. National Museum Aleppo (nach Rouault / Masetti-Rouault 1993: 302 Nr. 222).

Abb. 7

Oberer Teil einer Terrakottafigur der jüngeren altsyrischen Gruppe, ähnlich Abb. 4 und 5, aus Tall al-Qitar. Höhe 8,1 cm. National Museum Aleppo (Zeichnung nach McClellan 2019: 92, Fig. 18.8; Foto nach Rouault / Masetti-Rouault 1993: 345 Kat.Nr. 316).

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Der Oberkörper der Figurine aus Tall al-Qitar (Abb. 7) ist Teil einer weiblichen Figur und gemäß den in Abbildungen 4 und 5 gezeigten Beispielen zu ergänzen. Erhalten ist der Oberkörper mit ausgebreiteten Armen, die mit einer kleinen Verdickung enden, welche die Unterarme oder die Hände darstellt. Am Halsansatz ist ein breiter Schmuck appliziert. Zwei sich auf der Brust kreuzende Bänder können Tätowierungen oder Schmuck darstellen. Der Kopfteil unterscheidet sich sowohl farblich wie in der Oberflächenstruktur von dem Oberkörper. Im Vergleich mit anderen Exemplaren derselben Denkmälergruppe scheint er etwas zu groß zu sein. Er besteht offenbar aus einem formbaren Material, denn die acht runden Löcher sind mit einem gerundeten Stab eingestochen worden, wobei sich das verdrängte Material an den Rändern absetzte. Diese Technik ist vielleicht ein chronologisches Indiz. Es wäre gewiss sinnvoll, neben dem Studium der syrischen Terrakottafiguren des 3. Jahrtausends auch einen Blick auf die jeweiligen Fälschungen zu werfen. Das betrifft sowohl das spezifische Material wie die Gestaltung und die Thematik. Für die erforderlichen technologischen und Materialuntersuchungen wäre eine enge Kooperation mit den syrischen Museen erforderlich. Diese könnte die gute bisherige Zusammenarbeit wieder aufnehmen.

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Altsyrische Terrakottafiguren in primärer und sekundärer Verwendung

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Orthmann et al. 1995 Winfried Orthmann / Ralph Hempelmann / Harald Klein / Cord Kühne / Mirko Novák / Alexander Pruss / Emmanuelle Vila / Hans-Michael Weicken / Andreas Wener, Ausgrabungen in Tell Chuera in Nordost-Syrien – I: Vorbericht über die Grabungskampagnen 1986 bis 1992. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung 2, Saarbrücken. Orthmann et al. 2013 Winfried Orthmann / Paolo Matthiae / Michel al-Maqdissi (Hrsg.), Archéologie et Histoire de la Syrie I: La Syrie de l’époque néolithique à l’âge du fer. Schriften zur vorderasiatischen Archäologie 1, Wiesbaden. Rouault / Masetti-Rouault 1993 Olivier Rouault / Maria Grazia Masetti-Rouault, L´Eufrate e il tempo – Le civiltà del medio Eufrate e della Gezira siriana, Milano. Sakal 2013 Ferhan Sakal, Die anthropomorphen Terrakotten der Region am syrischen mittleren Euphrat im 3. Jahrtausend v. Chr. Subartu, 32, Turnhout. Strommenger 1976/77 Eva Strommenger, Die gefälschte Kunstgeschichte – Ein Hausputz in der Vorderasiatischen Altertumskunde?, in: Acta Praehistorica et Archaeologica 7/8, 319‒322. Strommenger 1981 Eva Strommenger, Die archäologischen Forschungen in Tall Bi‘a 1980, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 113, 23‒34. Strommenger et al. 2014 Eva Strommenger / Dietrich Sürenhagen / Dessa Rittig, Habuba II. Die Kleinfunde von Habuba Kabira-Süd. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft, Band 141, Wiesbaden. Woolley 1955 Leonard Woolley, Alalakh. An Account of the Excavations at Tell Atchana in the Hatay, 1937‒1949, Oxford.

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Gemeinsam der Wissen- und Leidenschaft für Archäologie verpflichtet Walter Andrae (1875‒1956) und Gertrude Lowthian Bell (1868‒1926) − Weggefährten in stürmischen Zeiten Sabine Böhme / Berlin – Belgrad Einleitung Nach der erfolgreichen deutschen Ausgrabungstätigkeit an Euphrat und Tigris in der wilhelminischen Zeit schien es direkt nach dem Ersten Weltkrieg für die Ausgräber selbst, allen voran Walter Andrae (1875‒1956), wenig Aussicht zu geben, diese Forschungen in absehbarer Zeit fortzusetzen. Ähnlich verhielt es sich mit den Plänen, die spektakulären Ausgrabungsfunde der Öffentlichkeit zu präsentieren, denn die meisten der zahlreichen Fundstücke aus Mesopotamien befanden sich noch nicht in Deutschland. Der deutsche Staat war zudem international geächtet, und hatte Probleme etwaige Ansprüche geltend zu machen. Die gesamte Region des Nahen Ostens war darüber hinaus nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches von umfassenden gesellschaftlichen und politischen Neuordnungen betroffen. Noch mehr als ein Jahrzehnt nach der Fundteilung der Assur-Funde im Jahr 1914 sollte deren Weg in den Museumsneubau auf der Berliner Museumsinsel mit zahlreichen Hindernissen gepflastert sein.1 Was die Babylon-Funde betraf, war, nachdem Robert Koldewey im März 19172 das Ausgrabungsgebiet Babylon verlassen musste, mit Ausnahme der im Jahr 1903 eingetroffenen 399 Kisten, weitgehend noch keine Fundteilung erfolgt. Vor diesem Hintergrund setzte im Jahr 1920 der erst seit wenigen Monaten vom Militärdienst nach Deutschland zurückgekehrte Walter Andrae ein Zeichen für einen Neuanfang. Vom beschaulichen Hemmenhofen (Bodensee) aus schickte er einen privaten Brief an eine englische Freundin: Gertrude Lowthian Bell (1868‒1926). Beide hatten sich vor dem Krieg im Irak schätzen gelernt3, seitdem jedoch den Kontakt nicht mehr gepflegt. Nun sucht Andrae bei ihr um Vermittlung nach. Ein Briefwechsel, der sich im Archiv der Deutschen Orient-Gesellschaft erhalten hat, belegt, wie die Nachwirkungen des Krieges die kollegiale Freundschaft zwischen den beiden auf die Probe stellen sollten.4

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Cholidis 2014: 133–160. Andrae 1927: 1‒6 und 7‒27. Hrouda 1990: 11. 3 Cooper 2016: 154ff. und 161. Bell besuchte die Ausgrabungen in Assur (Qal’at Sherqat) 1909 und 1911. 4 Archiv der Deutschen Orient-Gesellschaft: DOG II. 1.2.13 = SMB-ZA III/DOG II. 1.2.13. 2

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Es geht um mehr als die Babylon-Funde für Berlin Gertrude Bells Lebensleistung und herausragende Persönlichkeit haben in den letzten Jahren publizistisch wie wissenschaftlich einigen Niederschlag erfahren.5 Die Korrespondenz zwischen Andrae, zunächst als ehemaliger Ausgrabungsleiter von Assur auftretend, und Bell, Orientsekretärin beim britischen Hochkommissariat in Bagdad, vermittelt ihre unterschiedlichen Positionen und Gedanken zu damals anstehenden Kulturgutfragen, auch vor dem Hintergrund der bedrückenden Erfahrungen des Weltkriegs. Der Briefwechsel wird bis zu Bells überraschenden Tod im Sommer 1926 unterhalten, mit einigen Zäsuren in den Jahren 1921‒1923 und 1925. Nur wenige Wochen vor ihrem Tod wurden erste Räume des irakischen Nationalmuseums der Öffentlichkeit vorgestellt.6 Walter Andrae und Julius Jordan konnten schließlich im Herbst 1926 mit dem Einverständnis der britischen Mandatsregierung in der Tasche nach Bagdad reisen7, um die Fundteilung der Babylon-Funde vorzunehmen und den Transport des Berliner Anteils zu organisieren. Innerhalb weniger Jahre war möglich geworden, was zu Beginn der Korrespondenz im Jahr 1920, auch wegen der schwierigen Verhandlungsposition des besiegten Deutschlands, ausweglos schien.8 Assur- und Babylon-Kisten erreichten Berlin zu Beginn des Jahres 1927. Ein Jahr später betreibt Walter Andrae dann als Museumsdirektor nicht nur das Wiedererstehen der prächtigen mehrfarbigen Glasurziegelfronten aus der Zeit Nebukadnezars (6. Jahrhundert v. Chr.) in den neuen Räumen des Südflügels im Pergamonmuseum.9 Gleichzeitig unterlegt er die Raumabfolgen der von 1930 bis 1936 sukzessiv eröffneten ständigen Ausstellung mit einer eigenwilligen Gesamtkonzeption. Diese ist anhand Andraes umfangreichen Publikationen ab Beginn der 30er Jahre nachzuverfolgen10 und fußt in seinen Kenntnissen als Ausgräber ebenso wie in der Anthroposophie Rudolf Steiners.11 Andraes Suche nach neuen Wegen in der Gestaltung eines Museum ist ein Beispiel für die Suche nach neuen Ausdrucksformen und den Aufbruch in eine eigene Moderne in der Weimarer Republik.12 Dieser Themenkreis soll hier allerdings nicht weiter vertieft werden.13 Im Folgenden wird skizziert, wie es Bell und Andrae gelang, im Zuge der Klärung des

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Courtney 2017: 291; Cooper 2016; Howell 2007. Am 14. Juni 1926 wird der erste Raum des Iraq-Museums eröffnet. Dazu Howell 2007: 502. 7 Andrae verweist darauf in seinem Bericht zur Teilung der Babylon-Funde: Andrae 1927: 7‒ 27. 8 Meyer 1923: 1ff. 9 Dazu die Aquarell-Entwürfe auf Buchumschlag bei: Kohlmeyer / Strommenger 1999; Böhme 2017: Abb. 2. 10 Andrae 1930; Andrae 1933a; Andrae 1933b sowie Andrae 1934. 11 Böhme 2017, Böhme 2018 und Böhme 2020. Andrae wurde nach seinem Umzug im Jahr 1922 nach Berlin Gründungsmitglied der Christengemeinschaft, die der Anthroposophie sehr nahesteht. 12 Bernau 2011. 13 Andrae 1988: 175; Andrae / Boehmer 1992: 36‒37. 6

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Verbleibs der Babylon-Funde das zu überwinden, was Andrae als „Kriegspsychose des Hasses“ bezeichnete.14 Die Protagonisten: Walter Andrae und Gertrude Bell Walter Andrae versuchte 1920 von Hemmenhofen15 aus, die Publikation seiner Ausgrabungsergebnisse in Assur (Qal’at Sherqat) in die Wege zu leiten. Schnell wurde jedoch deutlich, dass das, allein gestützt auf Grabungsdokumentationen und ohne die Funde selbst, kaum möglich war. Für ihn wie für alle Verantwortlichen der Deutschen Orient-Gesellschaft war es ausgeschlossen, die Sache nach vielen Jahren gemeinsamer Bemühungen und selbstverleugnendem Verzicht, Hoffnungen und finanziellem Einsatz auf sich beruhen zu lassen.16 Andrae und Bell kannten sich durch ihre Besuche in Babylon und inspirierende Aufenthalte auf Andraes Ausgrabung während ihrer ausgedehnten Reisen im Jahr 1909 und 1911. Schon zu diesem Zeitpunkt besaß Bell ein reichhaltiges, archäologisches Wissen und begeisterte sich für die Feldforschung. Sie hatte bleibenden Eindruck beim Ausgrabungsleiter hinterlassen, da sie „… alles wissen (wollte). Außerdem … kroch (sie) unermüdlich mit mir in alle Winkel und Gruben der Grabung.“17 In seinen Erinnerungen, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen, weist Andrae sie als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten aus, die den AssurAusgrabungen je einen Besuch abstatteten. Bell wird im Jahr 1914 und nach ihren Assur-Besuchen eine Bresche für die islamzeitliche Archäologie mit einer eigenen Publikation zum Palast von Ukheidir schlagen.18 Sie widmete diese Untersuchung Andrae mit folgenden Worten: “To my friend, Dr. Walther Andrae. In grateful recollection of happy and profitable days spent in the first capital of Assyria which has been revealed by his labour and recreated by his learning.”19 Andrae gelang es Ende der 20er Jahre sogar, mit Unterstützung des ehemaligen Kulturministers und Gründungspräsidenten der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft Friedrich Schmidt-Ott20, wieder Ausgrabungen in Uruk-Warka (SüdIrak) in Gang zu bringen,21 − den ökonomisch denkbar schwierigen Zeiten zum

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Andrae 1988: 255‒256. Andrae 1988: 248. 16 Böhme 2018: 318. 17 Andrae 1988: 174. 18 Bell 1914; Andrae 1988: 174: „Zur Zeit ihres Assur-Besuches hatte sie das arabische Wüstenschloss Ocheidir (nahe bei Kerbela) aufgenommen.“ 19 Zitiert nach Cooper 2016: 163, Anm. 19. Siehe auch Bell 1914 mit Widmung auf Vorblatt. 20 Kirchhoff 2007: 243‒244. Die Förderung der Notgemeinschaft sollte sich, so der Fachausschuss 1928, auf fünf Ausgrabungsstätten verteilen, darunter Uruk-Warka, Irak mit der Grabungsleitung von Walter Andrae. 21 Andrae hatte nach der Babylon-Fundteilung vor Ort im Herbst 1926 die Genehmigung für eine neue deutsche Ausgrabung in der Tasche. Siehe: Andrae 1988: 269‒270: „Mit dem Auftrag, die Genehmigung für neue deutsche Ausgrabungen nach Berlin zu bringen, fuhren wir zunächst mit der Eisenbahn nach Bagdad. Die Kriegspsychose war endlich, endlich 15

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Trotz. Regelmäßige Würdigungen in Verbindungen mit den Ausgrabungen in Assur erhielt Andrae noch weit über seinen Tod hinaus. Er verkörpert seither im Fach der Vorderasiatischen Archäologie die Rolle einer grauen Eminenz.22 Seit kurzem rückt Andraes Schlüsselstellung im Museumsdienst in den Mittelpunkt des Interesses, wobei die bevorstehende Umgestaltung des Vorderasiatischen Museums Berlin im Zuge des Masterplanes der Berliner Museumsinsel Impulsgeber ist.23 Bells Rolle in der britischen Mandatsverwaltung im Irak wird kontrovers diskutiert.24 Andraes Briefe erreichten Bell, die seit dem Jahr 1916 bereits Head of the Iraq Branch of the Arab Bureau war, als Oriental Secretary to the Civil Administration (Orientsekretär des Hochkommissariat) im Irak unter dem Commissioner Sir Percy Cox und ab Mitte 1923 seinem Nachfolger Sir Henry Dobbs diente. Ab Oktober 1922 fungierte sie bis zu ihrem Tod zusätzlich als Honorary Director of Antiquities for Iraq. In Verbindung mit dieser Aufgabe betreibt sie intensiv den Aufbau des Nationalmuseums in Bagdad und eine Reform der Antikengesetze. Bells Rolle wird kontrovers diskutiert, da sie im Zuge der Neufassung dieser Antikengesetze 1924 ausländischen Ausgräbern noch immer viele Zugeständnisse einräumte.25 Bei ihren neuen, administrativen Aufgaben waren stets ihre beherzte Persönlichkeit, ihr Esprit und ihre Durchsetzungsfähigkeit in männerbeherrschter Domäne gefordert.26 Rückendeckung hatte sie in Bagdad nicht zuletzt durch den Respekt und ihre Beliebtheit bei den Beduinen.27 Die Korrespondenz Andrae ‒ Bell Der Briefwechsel zwischen Andrae und Bell beginnt mit dem erwähnten Schreiben aus Hemmenhofen im Jahr 1920.28 Andrae schildert darin seine eigenen Lebensumstände und augenblicklichen Vorhaben. Er kommt auf die in Portugal festgehaltenen Assur-Funde zu sprechen und beklagt, dass diese als political object missbraucht würden “instead of beeing treated as things of international value (as it ought to be with scientific works and materials) and as such returned to the excavators”. Andrae stellt mit erkennbarem Unbehagen fest, dass ein Franzose nach Lissabon zur Begutachtung der Funde geschickt worden sei. “This man”, so befürchtet er, “can not have an idea of the circumstances in which they were found. At last, my objects will have no more scientific value than any antique offered by dealers.”29 Andrae verüberwunden … Das gab uns doch den notwendigen Auftrieb nach all der Diffamierung, die Deutschland zu erleiden gehabt hatte.“ 22 Weidner 1957‒1958; Bär 2003. 23 Böhme 2017; Böhme 2018 und Böhme 2020; Maischberger / Feller 2018. 24 Zum Beispiel Collins / Tripp 2017: 1‒19. 25 Bernhardsson 2017. 26 Collins 2017: XI: “Her clear unequivocal vision cut straight through political correctness, self-importance, status and fame… At fifteen she decided that the improvable did not exist”. 27 Howell 2007: 414–433. 28 Sein erster Brief datiert auf den 27.01.1920 und umfasst eineinhalb Seiten in Typoskript auf Englisch. 29 Andrae an Bell am 27.01.1920 (DOG II. 1.2.13 = SMB-ZA III DOG II. 1.2.13). Zum Verpackungssystem der deutschen Ausgräber siehe Andrae 1988: 256. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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weist damit auf die in den deutschen Vorkriegsgrabungen so beständig hochgehaltene Bedeutung des Fundzusammenhanges und appelliert an Bells Hilfe bei einer zukünftigen Regelung. “I know very well, that after the conclusion of peace we German are not able whatever to claim anything for us. But perhaps”, fährt er fort und direkt an Bell adressiert, “we could rely on the help of some people of fair international reasoning in regard to scientific things.” Er schließt mit dem Hinweis auf gemeinsames Forschen vor dem Krieg und die anstehenden konservatorischen Aufgaben, die nur durch den Ausgräber selbst zu bewältigen seien. “Remembering our conversations at Assur, I trust that you also think it right, that the objects we have excavated at Assur should best stand in Berlin, where there is already a part of them and where the rest might be fitted together in the right way with the help of my own records.” Andraes Auftakt in diesem Briefwechsel wirkt mutig, rückblickend aber auch etwas naiv. Welche Wirkung konnte er mit seinen Zeilen bei Bell erzielen? Bells Antwort gestaltete sich sehr formal und offiziell30 und mit Sicherheit enttäuschend für ihn. Denn sie ignoriert seinen Verweis auf die freundschaftlichen Bande vor dem Krieg und zieht sich, die Assur- und Babylon-Funde betreffend, auf völkerrechtliche Standpunkte zurück. “Whether they (the Assur and Babylon finds) belong to the German or to the Turkish Government, the Portuguese Government have every right to condemn them as a Prize in the Portuguese Prize Court and it appears to be their wish to retain them for the Museum at Lisbon.” Sie ergänzt, dass sie als Treuhänderin des zukünftigen Mesopotamian State die Funde gerne für das Museum in Bagdad sichern wolle, das dort geplant sei. Aber auch für den Fall, dass die Funde nach London transferiert werden würden, sei sie sich sicher, dass Andrae als Ausgräber Zugang zu ihnen erlangen könnte: “His Majesty’s Government would give you every opportunity for completing your studies.” Weiter beantwortete Bell Andraes Appell an ihr unvoreingenommenes Urteil, das sie zugunsten des deutschen Ausgräbers ausüben solle, mit Vorwürfen bezüglich der Requirierung von Kunstobjekten durch die Deutschen während des Krieges. Das Schreiben Bells, das Andrae an den Vorstand der Deutschen Orient-Gesellschaft weiterreichte, schlug dort ein wie eine Bombe. So lässt sich nun Vorstandsmitglied Eduard Meyer zu einer schriftlichen, auf Deutsch verfassten Replik an Bell hinreißen, in der er seine „tiefste Abscheu und … unbegrenzte Verachtung gegen ein Volk (ausspricht), bei dem ein solches Verhalten möglich ist und offiziell betrieben wird.“31 Andrae möchte dazu ebenso Stellung nehmen und erläutert ihr am 10.05.20 seine Meinung in einem Brief, in dem er seine Enttäuschung über ihre Antwort zum Ausdruck bringt. Ihre Haltung habe ihn gezwungen, schreibt er, ihren ersten Brief dem Vorstand der DOG zu zeigen. Er weist darauf hin, dass die, nun in Portugal festgehaltenen Funde vor dem Krieg Gegenstand einer rechtmäßigen Fundteilung gewesen seien und es handele sich bei ihnen um „wissenschaftlichen Arbeitsstoff und keine Handelsware“, mit der nach den Maßgaben internationaler Prisen-Regelungen zu 30 31

Ihre Antwort datiert auf den 12.03.1920. Entwurf datiert auf den 28.04.1920. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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verfahren sei. Er empfinde es als Demütigung und Herabsetzung, seine Funde, wie er es formuliert, zukünftig in einem fremden Museum begutachten zu müssen. Am Ende drückt er seine Entrüstung darüber aus, dass Bell die Assur-Funde gegen die Altertümer der Merdschanije Moschee ausspiele. Es vergehen fünf Monate bis Bell antwortet, und das in einem bemerkenswert versöhnlichen Brief.32 Er offenbart Bells zielstrebigen und integren Charakter, gepaart mit der Entschlossenheit, Probleme mit einer Prise common sense zu lösen.33 Sie hatte sich Zeit zur Abklärung von Widersprüchen und Unklarheiten gelassen und war nun bereit, Fehler bzw. Missverständnisse auszuräumen. Sie wendete sich diesmal handschriftlich an Andrae, wohl um dem Ganzen nun endlich die persönliche Note zu geben. Es folgt zuerst eine Entschuldigung, dass sie sich bezüglich der Kunstobjekte, die Rede war von den sog. Marjan Tiles, geirrte hatte. Sie wäre den Aussagen der official papers gefolgt. Wie sie jedoch bei einer persönlichen Anhörung feststellen musste, hätte ein lokaler Informant diese Beschuldigung nur nach Hörensagen ausgesprochen. Sie stellt Andrae frei, weiter mit ihr zu streiten, “but I do not know what advantage it will be either to you or to me. My own belief is that more of us who are left alive in the world should try to begin fresh, overcoming if possible the terrible hatred which the war has brought to both”. Sie betont jedoch, dass sie wie Andrae bereit für einen neuen Anfang wäre, aber: “If you do not answer this letter I shall not write again but personably I shall not forget the long and warm friendship which existed between us.” Auch Bell liegt es also daran, an die „alten Zeiten“ anzuknüpfen. Bereits zu Beginn ihrer Antwort hatte sie Andrae ihre Einschätzung zur Fundproblematik übermittelt. Diese lautete, dass zumindest sie keine Chance sähe, die Funde aus Assur und Babylon je nach Deutschland zu bringen.34 Trotz der versöhnlichen Töne stand Andrae nun weiterhin vor einem Scherbenhaufen. Sein nächster Brief an Bell ist nur als Entwurf und undatiert enthalten. Vieles spricht allerdings dafür, dass er auf den 23.11.1920 datiert war, da Bell in ihrem Antwortbrief vom 09. 01. 1921 auf ein solches Schreiben Bezug nimmt und das Novemberdatum ausdrücklich nennt. In diesem Brief pflichtet Andrae ihr bei, dass zweckloser Hass begraben werden müsse. Es folgt ein Argument von ihm, das nur vor dem Hintergrund des damals in Deutschland verbreiteten Unverständnisses über den als zutiefst ungerecht empfundenen Vertrag von Versailles verständlich sein dürfte. Für die Deutschen, so Andrae, sei es schwerer als für sie, die Engländerin, Hass zu überwinden. Die Überwindung der „Kriegspsychose des Hasses“ sei nur auf „Grundlage der Gleichheit“ vorstellbar. Bells handschriftliche Antwort darauf aus dem Office des High Commissioner ist erneut aufschlussreich. Hierin verwebt sie auf drei Seiten berührend Fakten und Emotionen. Vertrauen zueinander (“confidence in one another”), so bemerkt sie gleich zu Anfang, und zwar das zwischen den Völkern Deutschlands und Englands, wäre entscheidend, um miteinander verhandeln zu können. Solange es nicht wiederhergestellt würde, sei “no permanent settlement” möglich und sie bezweifelt auch, 32

Es handelt sich um zweieinhalb Seiten, datiert auf den 14.10.1920. Vgl. Anmerkung 26. 34 Sie räumt aber ein: “[…] but the question is not one on which I have an authority.” 33

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dass beide dies noch erleben würden. Um vielleicht Andrae nicht erneut vor den Kopf zu stoßen, schränkt sie allerdings dieses harte Urteil etwas ein: “Individual trust and friendship can be recovered by those who were friends before and we must hope that this feeling of individuals will gradually penetrate the mass.” Sie bedauert manche bisher von englischen Politikern nach dem Waffenstillstand getroffenen Entscheidungen, aber nach Schuld zu suchen, lehnt sie ab. Sie meint, dass es ihrer beider Aufgabe wäre, points of union zu finden anstatt disagreement. Deshalb werde sie auch nicht auf seine Äußerungen, dass es für die Deutschen schwerer wäre als für die Engländer den Hass zu begraben, eingehen. Es ist im Gegenteil für Engländer genau so schwierig wie für Andrae “[…] to forget and forgive … and in writing to me you must not say so, otherwise you will make it impossible for me to do what I wish to do, that we remember nothing but the real pleasure and profit which I always had in your friendship and the many interests we shared and share.” Sie verweist dann auf die Folgen, die der Krieg für sie selbst hatte. Es klingt fast wie ein Manifest: “I am only one of many for whom the war has robbed the sun of its light and taken from life everything that made it worth living. There are many more dead than those who lie buried in the battlefields. But we ghosts of a former existence, it is our duty not to charge the world with our sorrow and our resentment. Both will pass away with us, let us try to make them pass away before us.”35 Nach diesen bewegenden Sätzen erkundigt sie sich schließlich nach den anderen geschätzten deutschen Bekannten wie Robert Koldewey, Julius Jordan und Walter Bachmann. In diesem Zusammenhang aufschlussreich ist ein sehr viel früherer Brief Anfang 1918 an ihren Vater Hugh, in dem sie ihren letzten Besuch in Babylon beschreibt. “On my way home yesterday (I came in by motor) I stopped at Babylon, having been asked by Sir Percy to advise on what we ought to do about the preservation of antiquities. Tempi passati weigh very heavy there ‒ not that I was thinking of Nebuchadnezzar, nor yet of Alexander, but of the warm welcome I used to find, the good company, the pleasant days spent with dear Koldewey ‒ it’s no good trying to think of him as an alien enemy; and my heart ached when I stood in the empty, dusty little room where Fattuh used to put up my camp furniture and the Germans and I held eager conversation over plans of Babylon or Ukhaidhir [Ukhaydir]. ‒ What a dreadful world of broken friendships we have created between us.”36 Beide Protagonisten überwinden die „Kriegspsychose des Hasses“ Andrae reagiert postwendend. Sein nächster Briefentwurf, in der Akte im deutschen Entwurf erhalten, datiert auf den 26.02.1921. Er betont, wie sehr ihn der in Bells Brief anklingende „Geist der Versöhnung“ und ihre „auf Aufbau gerichteten Gedanken“ gefreut hätten. Er greife gerne ihren Vorschlag auf, „dem gegenwärtigen Leben 35

Der Verlust der großen Liebe ihres Lebens, Dick Doughty-Wylie, lastete bis zu ihrem Lebensende schwer auf Gertrude Bell. Howell 2007: 253‒255, 265‒266. 36 Newcastle University: Gertrude Bell Archives/Letters: Gertrude Bell to her father, Sir Hugh Bell Jan. 18. [18.01.1918]: www.gerty.ncl.ac.uk/letters.php?year=1918&month=1 [Zugriff am 02.02.1919]. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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zu dienen und für das Vergangene nicht mehr Zeit zu haben.“ Andrae berichtet noch über die Forscherkollegen und seinen eigenen Umzug nach Berlin. Der Brief schließt mit fürsorglichen Fragen wegen des anstrengenden Klimas im Irak. Er selbst wisse „wie sehr Energie und Geist unter langer Hitze leiden“. Nur mit der Zeit gelingt es Bell und Andrae in der Korrespondenz ihren beiderseitigen Willen zur Versöhnung und konstruktiver Lösung des Problems der Funde der deutschen Grabungen in Babylon in die Tat umzusetzen. In der Akte finden sich nach dem Briefentwurf Andraes vom 20.02.1921 erst ab der Mitte des Jahres 1923 weitere Schreiben. Sehr wahrscheinlich hatten beide in der Zwischenzeit ihren Briefkontakt beibehalten, denn nun ist von einem anstehenden Besuchs Andraes in London die Rede. Anlass für die Visite ist die mögliche Rückführung von AssurFunden nach Deutschland. Wie sich dann herausstellen sollte, stammten die Funde jedoch nicht aus Andraes Grabung, sondern aus dem Kunsthandel. In seinen Lebenserinnerungen schildert der Ausgräber diese Episode in einem Kapitel, das er mit „Noch herrscht Kriegspsychose“ betitelt. In einem Brief aus dem Jahr 1923 bittet Bell Andrae dann, sich bei ihr zu melden, wenn er sich in der englischen Hauptstadt aufhalte.37 Bell übernimmt im weiteren Verlauf neue Aufgaben im Irak und vor diesem Hintergrund sind weitere Schritte in Richtung auf die deutschen Archäologen zu verzeichnen. 1923 beginnt sie mit den Arbeiten für den Aufbau eines irakischen Nationalmuseums. Gleichzeitig wird unter ihrer Leitung das irakische Antikengesetz neu gefasst, das dann 1924 in Kraft tritt.38 Sie scheint im Zuge dieses Vorhabens, die Leistung der deutschen Forscher und Archäologen im Lande vor dem Krieg neu zu bewerten. Vielleicht ist sie zu diesem Zeitpunkt auch in einer Position, die ihr erlaubt, vorhandene Sympathien für die nach dem Krieg aus der internationalen Forschungsgemeinschaft verstoßenen Deutschen zu zeigen.39 Vielleicht löst sich bei ihr aber auch nach und nach das, was Andrae in seinen Erinnerungen als „Kriegspsychose“ bezeichnete. Zum einen gibt es Anzeichen dafür, dass – wie es Linda Cooper formuliert − für Bell die von den Deutschen und in vorderster Front von Andrae vor dem Krieg an den Tag gelegten Methoden mehr und mehr zu Leitgedanken bei der Reform des Antikengesetzes wurden, in dessen Regelungen nun z. B. die Forderung nach “more scientific procedures in the field” verankert wurde.40

37

Andrae 1988: 255‒256. Er äußert sich hier rückblickend in seinen Erinnerungen: „Erst 1923 schien sich der eiserne Ring, den die Kriegspsychose und der Versailler Friedensschluß um Deutschland gelegt hatten, ein wenig zu lockern: Das British Museum ersuchte um Abholung von Funden aus Assur, die im Kriege in Basra gefunden und nach London verbracht worden seien“. 38 Ausführlicher dazu Bernhardsson 2017: 241‒256. Bells Überarbeitung der Antikengesetzgebung, die 1924 verabschiedet wurde, bezeichnet er als “hybrid”, weil es alte und neue Elemente zusammenbrachte. Es stellt zumindest einen Zwischenschritt dar, der die Grundlage legte, um “large scale exports” zu verhindern. 39 Cooper 2016: 163. 40 Cooper 2017: 77‒96, besonders 92‒93. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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In anderer Hinsicht arbeitete Bell offensichtlich auch daran, für die deutsche Babylon-Ausgrabung eine geregelte Fundteilung dadurch zu erreichen, dass diese im Nachhinein mit den Maßgaben des von ihr initiierten neuen Antikengesetzes betrachtet wurde. Sie schreibt an Sir Hugh Bell, ihren Vater, am 26.05.1926 einen Brief in dem sie hervorhebt “[…] the Dept of Antiquities is now a full time job.” 41 Und weiter unten: “I am trying to get the Cabinet to let me deal with all the things the Germans left at Babylon as I should deal with a new excavation. Privately, I have put up the Deutsch Orient Gesellschaft to make the proposal and they have suggested sending out Andrae, who dug at Sharqat, to arrange and catalogue the objects, after which I would make a division. I know Andrae very well and like him; the fact that I was working with him would make everything go smoothly and the 'Iraq Govt has complete confidence in me as a Director and would not question anything I did.” In einem späteren Brief Bells an ihren Vater schickt sie in Anlage einen kleinen Katalog des Babylonian Stone Room des Museums und zwei Postkarten mit Ausstellungsobjekten.42 Sie führt aus: “I forgot to mention in the catalogue that the bricks which form the pedestal of the statue (No 1) are blue glazed bricks from the top of the zigurrat [sic] at Ur, remains of an upper chamber built or restored, by Nabonidus, the last king of Babylon. We brought away a lot of fragments and built them up into a pedestal - it is most effective. The King is going to open this room on Monday. It's the easiest of all to arrange because it consists only of a few large objects, but it looks extremely well and I hope it will impress the Ministers! It has indeed all the appearance of a Museum.” Auffallend ist bei diesem Brief im Detail auch die Aufmerksamkeit, die Bell den blau glasierten Ziegeln aus neubabylonischer Zeit widmet, die aus dem obersten Raum der Zikkurrat von Ur stammen. Teilte Bell Andraes Begeisterung für farbige Glasurziegel, die dieser bei der späteren Gestaltung der Ausstellung in der Vorderasiatischen Abteilung des Pergamonmuseums durch die Rekonstruktion der Prozessionsstraße, des Ischtar-Tores und der Thronsaal-Fassade in den Mittelpunkt rückte? Wann Bell nun genau die Babylon-Funde offiziell für eine Fundteilung und damit für die Überführung des deutschen Anteils nach Berlin sichern konnte, ist der betreffenden DOG-Akte nicht zu entnehmen. Terminus ante quem ist Andraes letzter Brief an Bell am 30.06.1926, in dem er sich für Bells Bemühungen bedankt und ihr zusichert, sie bei der Gestaltung des Museums in Bagdad zu unterstützen.43 In 41

Newcastle University: Gertrude Bell Archives/Letters: Gertrude Bell to her father, Sir Hugh Bell. 26.05.1926: www.gerty.ncl.ac.uk/letters.php?year=1926&month=5 [Zugriff am 02.02.2019]. 42 Newcastle University: Gertrude Bell Archives/Letters: Gertrude Bell to her father, Sir Hugh Bell. 9.06.1926. www.gerty.ncl.ac.uk/letters.php?year=1926&month=6 [Zugriff am 02.02.2019]. 43 In Andrae 1988: 261 ist davon die Rede, dass ihn die Nachricht von Bell, er könne die Babylon-Funde abholen, im Sommer 1926 erreicht habe. Allerdings schreibt Andrae hier wenige Seiten zuvor, dass bereits im Jahr 1925 „Miß Gertrude Lowthian Bell aus Bagdad uns aufgefordert [hatte], die Funde aus dem deutschen Expeditionshaus in Babylon abzuholen“, siehe Andrae 1988: 258. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Portugal, wo er anlässlich der Verhandlungen bezüglich der Assur-Funde weilte, erfährt Andrae aus der Zeitung von dem unerwarteten Ableben Bells im Juli 1926. Steht nun die Überführung von Babylon-Funden wieder in den Sternen? Andrae ist nach Aussage in seinen Lebenserinnerungen von seinem Glücksstern überzeugt und das Schicksal ist ihm tatsächlich wohlgesonnen, denn, wie zu Beginn erwähnt, reisen er und Jordan noch 1926 zur Fundteilung an. Zusätzlich erhält er noch eine neue Grabungserlaubnis44, die die neue Kampagne in Uruk-Warka ermöglicht. Im Entwurf des Beileidstelegramms an den High Commissioner of Iraq heißt es: “The scientific world has lost one of their greatest archaeologist and we German Assyriologist and excavators of Babylon and Assur one of our noblest friends”. In der Korrespondenz Bell-Andrae, die die Grundlage für die Rückführungen der Babylon-Funde schuf, trafen sich zwei Forscher wieder, die die kosmopolitische Welt aus den Zeiten vor dem großen Krieg aus den hinterlassenen Fragmenten wieder zusammenzufügen versuchten. Ein Kompromiss fiel beiden schließlich offenbar deshalb leichter, weil sie erkannten, dass Sieger wie Besiegte aus den Ereignissen nur mit Verlusten herausgekommen waren. In der britischen Gesellschaft wurde dieser Gedanke in der Zwischenkriegszeit zunehmend populär.45 Gertrude Bell empfand, wie es der Briefwechsel nahelegt, die Babylon-Funde als gemeinsames Kulturerbe und großen Respekt vor Andraes Leistungen. Für Andrae wurde mit der Rückkehr der Funde das Vorderasiatische Museum Dreh- und Angelpunkt seines Forscherlebens und ebenso seiner anthroposophisch geprägten Weltanschauung. Bibliografie Andrae 1927a Walter Andrae, Der Rückerwerb der Assur-Funde aus Portugal, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 65, 1‒6. Andrae 1927b Walter Andrae, 2. Reise nach Babylon zur Teilung der Babylon-Funde, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 65, 7‒27. Andrae 1930 Walter Andrae, Das Gotteshaus und die Urform des Bauens im alten Orient. Studien zur Bauforschung Heft 2, Berlin. Andrae 1933a, Walter Andrae, Die ionische Säule, Bauform oder Symbol? Studien zur Bauforschung Heft 5, Berlin. Andrae 1933b Walter Andrae, Symbol in der Baukunst. Forschungen und Fortschritte, 9. Jg. Nr. 25, 373‒ 374.

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Andrae 1988: 269. Davies 2017: 1‒2. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Andrae 1934 Walter Andrae, Die neuen Säle für altorientalische Kunst im Vorderasiatischen Museum. Berliner Museen, 55. Jg. Heft 3, 47‒56. Andrae 1988 Walter Andrae, Lebenserinnerungen eines Ausgräbers, 2. Auflage, Stuttgart / Berlin. Andrae / Boehmer 1992 Ernst Walter Andrae / Rainer Michael Boehmer, Bilder eines Ausgräbers / Sketches by an Excavator. Walter Andrae im Orient 1898‒1919, Berlin. Bär 2003 Jürgen Bär, Walter Andrae – Ein Wegbereiter der modernen Archäologie. Grabungstechnik, Dokumentation, Naturwissenschaftliche Analysen und Alltag, in: Joachim Marzahn / Beate Salje (Hrsg.), Wiedererstehendes Assur. 100 Jahre deutsche Ausgrabungen in Assyrien, Mainz, 45‒52. Bell 1914 Gertrude Lowthian Bell, Palace and Mosque at Ukhaidir. A Study in Early Mohammadan Architecture, Oxford. Bernau 2011 Nikolaus Bernau, Das Pergamonmuseum und seine vier Museen als Lehrinstrumente einer anderen Moderne, in: Ralf Grüßinger / Volker Kästner / Andreas Scholl (Hrsg.), Pergamon. Panorama der antiken Metropole, Berlin, 389‒391. Bernhardsson 2017 Magnus T. Bernhardsson, Gertrude Bell and the Antiquities Law of Iraq; in: Paul Collins / Charles Tripp (Hrsg.), Gertrude Bell and Iraq. A Life and Legacy. Proceedings of the British Academy 205, Oxford, 241‒256. Böhme 2017 Sabine Böhme, Ein Anthroposoph lässt den Alten Orient in Berlin wiedererstehen, in: Antike Welt 4, 35‒39. Böhme 2018 Sabine Böhme, Die Goldene Leibniz-Medaille, eine Grußblatt-Sammlung, eine „Festschrift“ sowie ein Exlibris und die „deutsche Wissenschaftstradition“. Späte Ehrungen für Bruno Güterbocks (1858-1940) „unendliche Arbeit“ als Schriftführer der DOG im Jahr 1928, in: Joachim Marzahn / Friedhelm Pedde (Hrsg.), Hauptsache Museum. Der Alte Orient im Fokus, Festschrift Ralf-B. Wartke. marru 6, Münster, 311‒329. Böhme 2020 Sabine Böhme, The Ancient Processional Street of Babylon at the Pergamonmuseum Berlin. Walter Andrae's Reconstruction and Its Anthroposophical Background, in: Helmut Zander (Hrsg.), The Birth of the Science of Religion: Out of the Spirit of Occultism, Berlin (im Druck).

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Cholidis 2014 Nadja Cholidis, „Abgegeben an Portugal für Assur-Funde“. Ein Kapitel deutsch-portugiesischer Museumsgeschichte (1914‒1927), in: Petra Winter / Jörn Grabowski (Hrsg.), Zum Kriegsdienst einberufen. Die Königlichen Museen zu Berlin und der erste Weltkrieg, Köln, 133‒159. Collins / Tripp 2017 Paul Collins / Charles Tripp, Introduction, in: Paul Collins / Charles Tripps (Hrsg.), Gertrude Bell and Iraq. A Life and Legacy. Proceedings of the British Academy 205, Oxford, 1‒21. Cooper 2016 Linda Cooper, In Search of Kings and Conquerors. Gertrude Bell and the Archaeology of the Middle East, London. Cooper 2017 Linda Cooper, ‘Better than Any Ruined Site in the World’: Gertrude Bell and the Ancient City of Assur, in: Paul Collins / Charles Tripp (Hrsg.), Gertrude Bell and Iraq. A Life and Legacy. Proceedings of the British Academy 205, Oxford, 77‒96. Courtney 2017 Janet E. Courtney, In Memoriam Gertrude Margaret Lowthian Bell (14 July 1868‒12 July 1926), in: Paul Collins / Charles Tripp (Hrsg.), A Life and Legacy. Proceedings of the British Academy 205, Oxford, 291‒294. Davies 2017 Richard Davies, The British Peace Movement in the Interwar Years, in: Revue Française de Civilisation Britannique XXII-3, 1‒17. Howell 2007 Georgina Howell, Daughter of the Desert. The Remarkable Life of Gertrude Bell, London. Hrouda 1990 Barthel Hrouda, in: Robert Koldewey, Das wieder erstehende Babylon. 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, 12. Kirchhoff 2003 Jochen Kirchhoff, Wissenschaftsförderung und forschungspolitische Prioritäten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft 1920‒1932 [Dissertation, LMU München: Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften] https://edoc.ub.uni-muenchen.de/13026/ [Zugriff am 28.04.2019]. Kohlmeyer / Strommenger 1999 Kay Kohlmeyer / Eva Strommenger, Wiedererstehendes Babylon. Eine antike Weltstadt im Blick der Forschung, Berlin. Maischberger / Feller 2018 Martin Maischberger / Barbara Feller (Hrsg.), Aussenräume in Innenräumen. Die musealen Raumkonzeptionen von Walter Andrae und Theodor Wiegand im Pergamonmuseum. Berliner Schriften zur Museumsforschung 32, Berlin.

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Meyer 1923 Eduard Meyer, Fünfundzwanzig Jahre Deutsche Orient-Gesellschaft. Rede gehalten in der Festsitzung am 24. Februar 1923, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 62, 1‒ 25. Weidner 1957‒1958 Ernst Weidner, Nachruf auf Ernst Walter Andrae (18. Februar 1875 bis 28. Juli 1956), in: Archiv für Orientforschung 18, 224‒225.

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Tell Halaf-Scherben in der Händelallee, Berlin Ein Brief Werner Otto von Hentigs an seine Kinder Nadja Cholidis / Berlin Am 22. November 1943 begann die Royal Air Force mit ihren großflächigen Luftangriffen auf die Reichshauptstadt Berlin. Neben dem Stadtzentrum waren vor allem die westlichen und nordwestlichen Bezirke betroffen. Sprengbomben, Brandbomben und Stabbrandbomben lösten gewaltige Feuersbrünste aus, die ganze Straßenzüge verwüsteten (Abb. 1). So auch die Händelallee, in der der Legationsrat Werner Otto von Hentig (1886‒1984) mit seiner Familie wohnte.1

Abb. 1

Brandbomben haben die Händelallee in eine Ruinenlandschaft verwandelt (Luftbild: © Luftbilddatenbank Dr. Carls GmbH, Estenfeld, Nr. 3008)

Das Gründerzeithaus in der Händelallee 26, in den 1880er Jahren erbaut, lag am Großen Tiergarten. Wenngleich der überladene Stil nicht unbedingt nach Hentigs Geschmack war, gefielen ihm die schöne Wohnlage und der großzügige Grundriss mit insgesamt sieben Zimmern.2 Der Umzug von Amsterdam nach Berlin war 1937 erfolgt, nachdem ihm das Auswärtige Amt die Leitung des Referats VII / Orient übertragen hatte.3 Hentig stand noch ganz unter dem Eindruck des Großbrandes, als er aus der Erinnerung heraus Raum für Raum des zerstörten Zuhauses beschrieb. Der Brief, an seine fünf Kinder adressiert, begann mit folgenden Worten: „Der Abend vom 22. November 1943 [152. Fliegeralarm, 19.30‒21.12 Uhr] hat uns grausam das Dach über dem Kopf weggerissen und alles was Euch in Eurem Vaterhaus an Erinnerungen und Gegenständen bewahrt wurde, vernichtet. Die Bilder der Ahnen und 1

Findahl1991: 167: „Die Händelallee – ein Feuermeer.“ Hentig 1971: 194. 3 Biographische Daten sowie alle Auslandsposten mit jeweiligen Aufenthaltszeiten siehe Keiper / Kröger 2004: 275‒278. 2

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Großeltern, die Filme von unserem Gut Radlow, die Euch Eure Jugend wiedererstehen lassen sollten, die Aufzeichnungen Eures Vaters über seine vielfachen und merkwürdigen, zum Teil einzigartigen Erlebnisse, ja die Geschichtsblätter an denen er selbst hatte mitschreiben dürfen, die zahlreichen Werke höchster Kunst und größter handwerklicher Geschicklichkeit aus aller Herren Länder, auch den entlegensten, zum Teil sogar von Europäern noch nicht betretenen, die umfassende, auch in den letzten Jahren immer weiter bereicherte ausgesuchte Bücherei, meine und Eure Kinderbücher und Spielsachen, tausend Dinge, mit denen wir liebe Erinnerungen verbanden, alles ist mit einem Schlag unwiederbringlich vernichtet, in Rauch und Flammen aufgegangen. Die ungezählten Überlegungen und Opfer, Gänge und Reisen, die mit dem Zusammentragen verbunden waren, sind gegenstandslos und wie zu fürchten ist, sinnlos geworden.“4 Der Sammler Werner Otto von Hentig Die Freude an schönen Dingen ist gewiss schon im Elternhaus geweckt worden, erste ernstzunehmende Schritte als Sammler unternahm der junge Hentig während des Jura-Studiums. So war er nach eigenem Bekunden zunächst ein eifriger Besucher des Hôtels Druôt, eines Pariser Auktionshauses: „Zuerst zog mich die Leidenschaft der anderen an, dann die Fülle der Gegenstände, die vorgeführt wurden und schließlich bot ich ab und zu bei Kleinigkeiten mit und hatte so eines Tages für 48 Francs ein großes Ölgemälde.“5 Nach der Einberufung in den Auswärtigen Dienst 1911 entwickelte sich Hentig zu einem passionierten Sammler, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit seiner Kollektionen zu erheben. So sehr er sich über Gelegenheitskäufe freute, so scheute er auch keine Aufwendungen, seltene oder besonders reizvolle Objekte zu erwerben. Eine eher untergeordnete Rolle spielte dabei der Aspekt einer möglichen Wertsteigerung. Wie breit gestreut seine Interessen waren, zeigt die folgende Aufzählung: „So in China Gürtelschnallen, Schnupftabaksfläschchen, in Japan Stichblätter, Gebrauchsporzellane, Korbarbeiten, Farbholzschnitte, in Persien Badeschalen, Lackarbeiten, in Konstantinopel Mörser, Waffen, aus allen Ländern Waffen, Steigbügel, Münzen und anderes mehr.“6 Die Sammelleidenschaft für Porzellane teilte Hentig mit Max von Oppenheim (1860‒1946), der Meißner und Wiener Porzellan, aber auch chinesisches Blauweiß-Porzellan sammelte, das als Exportgut für den Nahen Osten hergestellt worden war.7 Obwohl 26 Jahre jünger als Oppenheim verband beide Männer das Studium der Rechtswissenschaften, ihr politisches Engagement im Nahen Osten und die Freude an erlesenem Kunsthandwerk. An die Besuche von „Maxbaron“8 im Hause Hentig konnte sich Sohn Hartmut (geb. 1925) noch 2004 lebhaft erinnern.

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Hentig 1971: 193. Hentig 1971: 215. 6 Hentig 1971: 211‒212. 7 Wiesner 2001. 8 Hentig 1962: 329. 5

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Erwähnenswert auch die Karagös-Sammlung (türk. „Schwarzauge“, zugleich Bezeichnung für das türkische Schattenspiel), die Hellmut Ritter 1924 in Auszügen veröffentlicht hatte.9 In Anlehnung an ihre ursprüngliche Verwendung ließ Hentig die Figuren in einen Lampenschirm einarbeiten: „Die Figuren selbst, aus Kameldarm geschnitten und wunderbar getönt, waren aus der dunklen Tiefe des Kastens herausgenommen, zwischen Seide eingenäht und leuchteten so uns und unseren Gästen immer wieder aus den Lampenschirmen entgegen.“10 Eine der vielen funktionalen Neuschöpfungen,11 für die sich der Sammler Hentig begeistern konnte. Genauso wichtig wie die selbst erworbenen Kunstwerke und Antiken, waren offizielle Geschenke, die Hentig von ausländischen Notabeln erhalten hatte. Sie waren Ausdruck ihrer besonderen Wertschätzung und spielten bei der Einrichtung der Wohnung eine ebenso große Rolle. Biedermeiermöbel spiegelten im Hause Hentig den vertrauten europäischen Geschmack wieder, während Asiatika, Gerätschaften und Altertümer die Vorliebe für außergewöhnliche Stücke erkennen lassen, zum Beispiel eine 400 Jahre alte Opiumpfeife oder Porzellan mit arabischer Kufi-Inschrift, ein Geschenk des Arabisten Bernhard Moritz (1859‒1939). Die Familie lebte mit den Schätzen und Statussymbolen, die der Vater aus aller Welt mitgebracht hatte, man zeigte sie Gästen und knüpfte daran die oft abenteuerliche Geschichte ihres Erwerbs. Wie die „wilde“ Mischung der Kunstrichtungen und Stilelemente – Prähistorie über Ming-Dynastie bis Biedermeier – auf die Besucher gewirkt haben mag, ist in dem Brief leider nicht enthalten. Die direkte Einbeziehung der Sammlerstücke in den Alltag trug sicher dazu bei, dass die Zimmer wohnlich blieben und nicht an ein Museum erinnerten. Diese Art der Präsentation und Ausschmückung erinnert auch an Oppenheims Wohnung am Kurfürstendamm, in der in der gleichen selbstverständlichen Weise ethnographisches Sammlungsgut und Meisterwerke islamischer Kunst mit großbürgerlichem Ambiente vermischt waren.12 Grenzen bei der Ausgestaltung der Wohnräume setzte eigentlich nur der fehlende Platz; statt eines „chinesischen“ Zimmers, in dem man beispielsweise alle Möbel, Artefakte und Gebrauchsgegenstände aus Ostasien hätte vereinen können, verteilten sich auch zusammengehörige Objekte auf die ganze Wohnung. Die Eingangshalle Obwohl Hentigs lebendige Beschreibung der einzelnen Zimmer, beginnend mit der Eingangshalle, für seine Kinder bestimmt war, ist die Darstellung auch für Fremde interessant zu lesen; und indem er sich auch Material und Farben, Licht und Inszenierung ins Gedächtnis rief, wird die Trauer über den Verlust der vielen Erinnerungsstücke noch greifbarer: „Schon im kleinen Eintrittsraum konnte der herrliche Kleiderständer aus chinesischem Hartholz nicht wirken. Er hätte, wie einmal in 9

Karagös. Türkische Schattenspiele, herausgegeben, übersetzt und erklärt von Hellmut Ritter, 1. Folge, Hannover 1924, Fig. 3, 8; Hentig 1971: 217‒218. 10 Hentig 1971: 218. 11 Hentig 1971: 211 erwähnt u. a. die nachträgliche Elektrifizierung von Vasen. 12 Völger 2001. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Posen, in einem großen freien Raum gehört, sodaß der Schwung seiner Umrisse von Licht umspielt gewesen wäre, die edlen, sparsamen und mystischen Ornamente, die Zwischenglieder aus Sandelholz klar hervorgetreten und das Gitterwerk seines Fußes deutlich sichtbar geworden wäre. Das war es nicht und so mußten wir uns damit behelfen, die Wand hinter ihm durch einen alten Schah Abbas Samt und den schmalen Raum mit einem zarten, kirschroten, alten Isparta von unten her zu erhellen und zu beleben. Auch zu erweitern hatten wir ihn versucht durch einen gewaltigen, beinahe vier Meter hohen Kristallspiegel aus Eurem großelterlichen Haus, der nur eine weinrote Tuchumrandung trug und vor dem eine chinesische Truhe mit alten, matt goldenen durchschimmernden Schnitzereien stand.“13 Im engen Eingangsraum befand sich nur eine von vielen Truhen, in der weitere Schätze aufbewahrt wurden: Bilder, Zeichnungen, japanische Tabis (knöchelhohe Socken mit abgeteiltem großen Zeh) mit dazugehöriger Strohsandale (Zōri) und die bereits erwähnte Opiumpfeife, die in Hentigs Promotionsurkunde eingerollt war.14 Zu den Erinnerungsstücken aus Ostasien, Konstantinopel und Afghanistan gesellte sich noch eine zylindrische Deckenleuchte mit durchbrochenem Gitterwerk (Fanus) aus Persien.15 Der Empfangsraum Deutlich größer und repräsentativer war der Salon mit dem großen rot-grün schimmernden Teppich aus Isparta. Im Raum verteilt standen verschiedene Sitzmöbel, die teilweise mit Teppichen oder den Vorderstücken von Kamel- und Eselstaschen bedeckt waren, um den verschlissenen Stoff darunter zu verbergen. Von der Straße aus konnte man eine Derwisch-Schale aus Persien im Fenster hängen sehen, die zu bepflanzen man immer verschoben hatte bis es zu spät war. Bei der Einrichtung der Wohnräume ließ sich Hentig ganz von seinem eigenen Geschmack leiten, und so konnten seine Besucher unter dem Bild eines chinesischen Tempels den Kopf einer palmyrenischen Grabbüste zusammen mit dem stilisierten Kopf eines Greifen aus Tumaco bestaunen.16 Ein Biedermeier-Schrank mit Glastüren diente als Vitrine; hier teilten sich Ausgrabungsfunde, „kleine Bronzen, chinesische Schminkdosen, Porzellan-Skulpturen, Holzgötter und Brotstempel, persische Küchenbeile, Opiumlampen, Glocken, turkmenische Schöpflöffel“ u. a. den knapp bemessenen Platz.17 Auch die Fläche auf dem Schrank wurde genutzt: „Auf ihm standen vier alte, wuchtige, wunderbar gediegene Schiffslaternen aus Messing mit dicken runden oder Kristallscheiben, an den beiden Seiten Krüge aus Bagdad, von denen ich einen im Bazar seiner sumerischen Ornamente herrlich edlen Form wegen gekauft und von

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Hentig 1971: 194‒195. Hentig 1971: 195. 15 Hentig 1971: 197. 16 Hentig 1971: 198. 17 Hentig 1971: 199. 14

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einem Subi Goldschmied in Silber hatte treiben lassen.“18 Da die Bibliothek wegen der vielen Türen nicht genügend Raum für alle Bücher bot, standen im Salon weitere Regale mit Klassikern und Werken der Kunstgeschichte.19 Die Bibliothek In der Bibliothek befand sich Hentigs umfangreiche Fachliteratur sowie „Perlen der Weltliteratur“, „religiöse politische Werke“, Biographien, Bibeln und Rara, etwa 2000 Bücher.20 Es ist offensichtlich, dass sich der Diplomat gründlich auf jeden seiner Auslandseinsätze vorbereitet hatte, wie die verschiedenen Sachgebiete erkennen lassen: „Vereinigte Staaten von Amerika, Südamerika, Zentralasien, China, Persien, Afghanistan und Türkei“. Der „Nahe Osten“ nahm ein ganzes Regal ein; nicht ohne Stolz wurde daran erinnert, dass es sich bei diesen Schriften mit um eine der vollständigsten Buchreihen gehandelt habe.21 In den Fensternischen standen ein Biedermeier-Sofa und ein Schreibtisch, auf dem ein Buddha aus Bronze in „göttlicher Ruhe“ thronte, umgeben von wertvollen Schalen, zwei Ming-Löwen, einer olympischen Medaille, Fotos der Familie und kleinen Bronzen.22 Da der Platz nicht für alle Mitbringsel reichte, drängten sich auf dem Eichenschrank u. a. „rituelle Badeschalen, seldschukischer und armenischer Herkunft mit langen schmalen Schnäbeln gar merkwürdig anzusehen und zwischen ihnen ein persischer Kasten mit einer alten, lange nicht mehr ausgepackten, Euch kleineren unter den Kindern glaube ich, gar nicht einmal gezeigten Münzsammlung“, darunter auch eine Goldmünze, die der Schah von Persien jedem Gast an seinem Krönungstag überreicht hatte.23 Viele kleinere Kunstwerke ließen sich noch auf den Bücherschränken unterbringen: „aus dem türkischen Rokoko stammende Uhren, Teller und Leuchter auf dem ersten Schrank, eine Sammlung persischer Streichholzbüchsen auf dem zweiten, dahinter eingelegte Spiegel und Bucheinbände aus Isfahan, schöne Schalen mit den Sternbildern und Votivtafeln dazu; auf dem Mittelteil thronte eine Kwan Yün24 aus Majolika, […]. Neben ihr zwei kleinere Bronzen, die ihre bunte Zartheit hoben. Auf dem vierten Regal das schöne chinesische kupferne Kohlebecken, Hort meiner Spielzeugsammlung und ägyptischer Grabfunde. […] Den letzten Schrank krönte schließlich ein mongolischer Dachreiter, der sich aus dem Sattel erhob, […].“25 Neben dem Reiter standen die Figurine einer Samin in traditioneller Tracht aus der Kaiserlichen Porzellanmanufaktur St. Petersburg und alte Teekannen aus Eisen. Drei Mörser unterschiedlicher Herkunft und Datierung waren auf einer alten Birkenholz18 Hentig 1971: 199. Nicht ganz eindeutig ist hier die Bezeichnung „sumerisch“ zu verstehen. Im Salon befanden sich auch Abgüsse „nach Funden aus sumerischer Zeit“, die Hentig im Museum von Aleppo erworben hatte. Hentig 1971: 198‒199. 19 Hentig 1971: 198, 201. 20 Hentig 1971: 202. 21 Hentig 1971: 202. 22 Hentig 1971: 201. 23 Hentig 1971: 202. 24 Kwan Yün bzw. Guānyīn ist der chinesische Name des Bodhisattva Avalokiteshvara. 25 Hentig 1971: 203.

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wurzel-Kommode zu einem Ensemble vereint worden und erinnerten Hentig mit Wehmut an die abenteuerlichen Umstände ihrer Erwerbung. In dem Schrank selbst befanden sich wertvolle Stoffe und auch eine Schublade mit Lebensmitteln. Dass Hentig und Sohn Hartmut gerade dieses Schubfach samt Inhalt zu retten versuchten, spricht für eine unvermittelte, nicht im Vorfeld abgesprochene Maßnahme für den Fall einer Evakuierung. Das gilt sicher auch für die kurz in Erwägung gezogene Rettung der Jagdtrophäen: „Er [ein Rothirsch] lag mir übrigens zu Füßen und ich hatte ihn auch in der Hand und hätte ich wohl mitnehmen oder hinausschleudern können, hielt aber ein Geweih für ungeeignet, um damit allein einen neuen Hausstand zu begründen.“26 Das Arbeitszimmer Obwohl alle Räume persönliche Erinnerungen bargen, fühlte sich Hentig in seiner „Wohn- und Arbeitszelle“ am wohlsten. Beherrscht wurde der kleine Raum mit Fenster zum Hinterhof von einem äußerst zweckdienlichen „Diplomatenschreibtisch“, den ein Freund nach seinen Vorgaben maßangefertigt hatte. Hier fanden alle Unterlagen und Ordner in zwei großen Kisten hinreichend Platz, die durch eine aufgelegte Tischplatte miteinander verbunden waren. Auf dem Tisch standen u. a. sein Handapparat, Adressbücher, Lexika, dazu noch Bücher, die mit besonderen Erinnerungen verbunden waren wie zum Beispiel eine Ausgabe der Odyssee, die dem Großvater gehört hatte, insgesamt nochmals etwa 1800 Bücher.27 Postkarten wurden in einem türkischen Steigbügel aufbewahrt, Bleistifte in einem alten Mörser. Der Platz reichte sogar noch für Familienbilder. Im Schreibtisch waren teures Schreibpapier, Briefe von Familienmitgliedern und Freunden, Waffen, eine Uhrensammlung und optische Geräte verstaut. Obwohl der Raum als Arbeitszimmer vor allem funktional sein musste, umgab sich Hentig auch hier mit Erinnerungs- und Sammlerstücken, die ihm besonders am Herzen lagen: Zunächst ein außergewöhnlich schöner Bilderteppich aus Khotan, der ihm als Ehrengeschenk zum Abschied überreicht worden war: „Durch alle Wüsten Chinas habe ich ihn geschleppt und doch seine schneeige Weiße erhalten können.“;28 ein Buddha aus Eisen, nicht ganz fehlerfrei gegossen, aber von beeindruckendem Ausdruck; eine Zusammenstellung chirurgischer Instrumente und ein Reisewaschbecken aus Pappmaché, das in einem Lederetui verpackt war; eine Steigbügelsammlung, wertvolle Gemälde, eine Lithografie von Emil Stumpp (1886‒ 1941), die das nächtliche Licht während des Sechs-Tage-Rennens in Dortmund so perfekt eingefangen hatte. Um den Platz im Herrenzimmer noch besser nutzen zu können, war das erste Bett durch ein Klappbett ersetzt worden. Es überrascht nicht, dass Hentig auch auf dem Rahmen noch Platz fand für zwei persische Kästen, in denen er kleinere Kunstgegenstände aus Jade und afghanische Schnallen verstaut hatte; außerdem noch mehr Bücher, ein Sphingenkopf, eine mongolische Nagaika, ein Dolchmesser mit 26

Hentig 1971: 204. Hentig 1971: 209‒210. 28 Hentig 1971: 206. 27

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einem Heft aus Mammutknochen und ein chinesischer Säbel.29 Die Wände zierten Bilder von Rembrandt, alte Stiche italienischer Meister und Zeichnungen von Arthur Ludwig Ratzka (1869‒?), um nur eine Auswahl von Werken zu nennen, die in der Wohnung zu finden waren.30 Das Esszimmer Im Esszimmer, Sammelpunkt der Familie und zugleich Durchgangsraum, standen mehrere Schränke, in denen Hentig den Großteil seines Porzellangeschirrs aufbewahrte; in China gefertigte Einzelstücke teilten sich den Platz mit einem Nymphenburger Barock-Service und einem Marcolini-Porzellan.31 Ein farbenprächtiges, 480 Teile umfassendes Service aus dem Jahre 1778 wurde in einem Eschenschrank präsentiert. Die bewegende Beschreibung der Qualität, des Dekors oder der schimmernden Farben offenbart die Leidenschaft des Connaisseurs, der in der Materialität auch eine Anleitung für das Leben sah.32 Dass er weder die historisch wertvolle Porzellansammlung noch die Bibliothek an seine Kinder weitergeben konnte, schmerzte daher sehr.33 In einem weiteren schweren Schrank aus Eiche hatte die Familie zusätzliche Garderobe eingelagert, darunter ein koptischer Schlafrock, „den Schlafrock des Dr. Goebbels, wie er bei mir hieß, weil er aus demselben Stück war, wie die von Goebbels gekauften. Die seinen will Goebbels ins Meer geworfen haben, als ich ihm erzählt hatte, daß sie bei einem Juden gekauft waren.“34 Auch die beiden großen Truhen – eine Barocktruhe und eine etwas ältere portugiesische Ledertruhe –, eine weitere Kommode sowie ein in Persien speziell angefertigter Kasten waren vollgepackt; neben Hentigs Kamerasammlung sind vor allem die Textilien zu nennen, die alle ein Raub der Flammen wurden: „Eine selten vollständige Sammlung von alten genueser und venezianischen Samten, Kaschmir Schale, Schah Abbas und andere Webereien, gedruckten, gestickten Mustern, Kissen, Seidenproben, Flügeldecken, Rhodos und Aleppo Stickereien und anderes mehr. Eine wirklich eigenartige Sammlung, die vorallem Augen und Herzen aller Frauen immer wieder so entzückt hat, daß ich sie kaum zu zeigen wagte, weil dann unausbleiblich die Bitte, dieses oder jenes Stück abzulassen, kam oder wenigstens die Andeutungen so deutlich wurden, daß man sie eigentlich kaum überhören konnte.“35 Mehrere hundert Zeichnungen, Lithografien und Vervielfältigungen der Reichsdruckerei sowie großformatige Buchkunstwerke waren im Inneren des sog. Wesendonk‘schen Schranks36 zu fin29

Hentig 1971: 208‒209. Hentig 1971: 209. 31 Bei Hentig „Margulini“, gemeint ist sicher Camillo Graf Marcolini-Feretti (1739‒1814), ab 1774 Direktor der Meißner Porzellanmanufaktur. Die in dieser Zeit gefertigten Porzellane galten als besonders meisterlich. Hentig 1971: 213. 32 Hentig 1971: 212‒213. 33 Hentig 1971: 204, 213‒214. 34 Hentig 1971: 214. Seinen Schlafrock hatte Hentig noch retten können, Hentig 1962: 328. 35 Hentig 1971: 216. 36 Vorbesitzerin des Schrankes war Agnes M. Wesendonck (1828‒1902), Hentig 1971: 212. 30

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den.37 Unter dem chinesischen Serviertisch hatten ein persischer Spiegel, der Helm einer kompletten japanischen Lackrüstung sowie ein chinesischer Steinguttopf Platz gefunden.38 Was man angesichts der vielen Erb- und Sammlerstücke sowie Schenkungen und Käufe an dieser Stelle wohl am wenigsten erwartet hätte, waren Scherben vom Tell Halaf und dem benachbarten Fecheriye: „Auf dem Fußboden [des Esszimmers] lagen auch Jahre hindurch die von mir in Fecheria und Tel Alâf gesammelten oder besser aufgelesenen Scherben und Bruchstücke: So sehr fühlten wir die Wohnung als vorläufig und so voll gestopft mit allen möglichen Schätzen dieser Welt war sie. Zu den Scherben aus Syrien waren noch einige Funde aus der Krim getreten.“39 Dem Brief ist nicht zu entnehmen, wann die Scherben aufgesammelt worden sind. Anhand der biographischen Daten kämen 1913, 1917‒1918, 1939 und 1941 in Betracht. Die Erwähnung von Tell Fecheriye könnte auf die letzte Jahresangabe verweisen, also 1941; so war Hentig im Jahr zuvor von Oppenheim um Vermittlung in Syrien gebeten worden, nachdem der Service des Antiquités du Haut-Commissariat de France en Syrie die Grabungskonzession für den Tell Halaf und Fecherije auf Calvin W. McEwan, Oriental Institute of Chicago, übertragen hatte. Da der Achtzigjährige immer noch über sehr gute Kontakte in Syrien verfügte, stellte er Hentig beifolgend eine Reihe von Empfehlungsschreiben aus, verbunden mit der Hoffnung, dass diese ihm von Nutzen sein würden.40 Zu den Adressaten gehörten u. a. die Söhne von Ibrahim Pascha, einflussreiche Stammesführer der Schammar, Milli und Aneze sowie Notabeln in Damaskus. Zugleich sollte Hentig nach dem Verbleib von Tell Halaf-Orthostaten forschen, das eingelagerte Expeditionsgepäck in Beirut und Aleppo mit Naphthalin gegen Mottenfraß versehen und „12 zisilierte Aschentellerchen im Durchmesser von 12 cm“ mitbringen. Dass sich Hentig für die reich verzierte Keramik der Halaf-Kultur (6./5. Jt. v. Chr.) interessierte, ist nicht überraschend; das hohe Alter, der feine Scherben, das ansprechende Dekor – phantasievolle geometrische Muster, figürliche Motive – und die meisterhafte Technik entsprachen dem normativen Äquivalent, das er in Anlehnung an den von ihm sehr geschätzten Ethnologen Ernst Grosse (1862‒1927) wie folgt zusammenfasste: „Stets trug er [Grosse] einige Scherben besonders guter Porzellane mit sich herum, um immer einen ganz hohen Maßstab an alles, was ihm auf diesem Gebiet begegnete, legen zu können. Tatsächlich ist der Maßstab hier wie überhaupt, denkt daran liebe Kinder, das Wesentliche. Zu leicht verliert man die Norm und begnügt sich mit Praktischem, Notwendigem statt zum mindesten immer das Schönere und Bessere zu suchen. Diese Gefahr ist, glaube ich, in unserer Zeit besonders groß und deswegen denkt immer daran, nicht in Eurer Tasche eine Scherbe eines guten Stücks herumzutragen, sondern den hohen Maßstab, den Ihr im

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Hentig 1971: 216‒217. Hentig 1971: 218. 39 Hentig 1971: 218. 40 Institut für Zeitgeschichte, Bestand Werner Otto von Hentig, ED 113/7. 38

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Haus Eures Vaters empfangen haben solltet und hoffentlich schon aus ihm mitgenommen habt.“41

Abb. 2

Scherbenkollektion der Halaf-Zeit im Direktorialgebäude (© Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, Köln)

Das Tell Halaf-Museum, in der gleichen Nacht zerstört42 wie das Heim der Familie Hentig, war von der Händelallee in 20 Minuten Fußweg zu erreichen. Hier wurden in zwei Gebäuden – einer ehemaligen Maschinenhalle und dem angrenzenden Direktorialgebäude (Abb. 2) – die Grabungsfunde vom Tell Halaf ausgestellt oder bearbeitet. Es ist naheliegend, dass Hentig nach seiner Rückkehr 1937 sowohl dort als auch im Orient-Institut der Oppenheim-Stiftung am Savignyplatz häufiger zu Gast war, um sich mit Oppenheim über die erstarkenden nationalistischen Bewegungen in der arabisch-islamischen Welt und den zu erwartenden Folgen auszutauschen.

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Hentig 1971: 212. Thieme 2011. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Kinderzimmer Dass die Zimmer der Kinder nur kurz erwähnt werden, ist verständlich, da sie ihre eigenen Räume ja selbst bestens kannten. Hier hatte sich Hentig auf die Bilder an den Wänden beschränkt, die ihm so viel bedeuteten und deren unwiederbringlicher Verlust ihn quälte.43 Das Zimmer der Mutter In zweiter Ehe mit Luise von Mach verheiratet, endet der Rundgang durch die Wohnung mit der Beschreibung ihres Zimmers.44 In diesem Raum mit Balkon zum Tiergarten und dem Parkrestaurant Charlottenhof waren alle Bilder aus Hentigs Dienstzeit in Bogotá (1934‒1936) aufgehängt worden. Biedermeiermöbel, ein Nähtischchen, ein Kastenstuhl, ein zusammenklappbares Bett und eine Frisiertoilette wurden auch hier mit Teppichen aus Persien, Afghanistan und Turkmenien kombiniert. Nachwort Nur wenige Gegenstände hatte Hentig vor den Flammen retten können, indem er sie beherzt aus dem Fenster warf wie zum Beispiel ein Gemälde des französischen Künstlers Jean-Baptiste Pillement (1728‒1808), einzelne Teppiche oder den Schah Abbas-Samt aus dem Vorraum.45 Blitzschnell eine Auswahl treffen zu müssen, während das Haus „zusammenzukrachen“ drohte, erwies sich als fast unmöglich: „Ebenso befand sich dort eine kleine Bronze von Clodion46, die ich, noch Fotografien rettend – erblickt hatte, aber nicht die Kraft fand zum Fenster hinauszuschleudern.“47 Andere Einrichtungsgegenstände waren schlichtweg zu groß oder hatten schon Feuer gefangen: „Aber der persische Thronsessel, der noch aus meinem elterlichen Hause stammte und mir überlassen war, als einmal der Brand seine samtne Sitzfläche zerstört hatte, blieb stehen und wehrte sich gegen den Gedanken hinausgefeuert mit gebrochenen Gliedern vor dem Haus anzulangen.“48 Ironie des Schicksals, dass ein Bild von Friedrich Adolph Dreyer (1780‒1850), das in Luises Zimmer gehangen hatte, schon fast durch den Wurf ins Freie gerettet, von einem Windstoß zurück in die Flammen geweht worden war.49 Wie sehr das Feuer gewütet haben muss, zeigte sich in den folgenden Tagen, als Sohn Hartmut das Kohlebecken mit dem fein durchbrochenen Deckel, mächtigen

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Hentig 1971: 218‒219. Hentig 1971: 219‒221. 45 Hentig 1971: 197, 199. 46 Claude Michel Clodion (1738‒1814), französischer Bildhauer. 47 Hentig 1971: 200. 48 Hentig 1971: 200‒201. 49 Hentig 1917: 220. Nicht nur Familie Hentig hatte versucht, Hab und Gut zu retten: „… an einzelnen Stellen versuchten die Leute [Bewohner der angrenzenden Klopstockstraße] etwas zu retten, hier und da werden Teile des Inventars auf die Straße hinausgeschleudert, aber die meisten geben die Mühe auf und lassen es nur brennen.“ Findahl 1991: 168. 44

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Henkel und materialreichen Wänden, das in der Bibliothek gestanden hatte, geschmolzen im Schutt entdeckte.50 Bibliografie Findahl 1991 Theo Findahl, Letzter Akt – Berlin 1939‒1945, Hamburg 1946, in: Hans Dietrich Schäfer (Hrsg), Berlin im Zweiten Weltkrieg. Der Untergang der Reichshauptstadt in Augenzeugenberichten, München / Zürich 1991. Hentig 1962 Werner Otto von Hentig, Mein Leben – Eine Dienstreise, Göttingen. Hentig 1971 Werner Otto von Hentig, Zeugnisse und Selbstzeugnisse. Beiträge von Marion Gräfin Dönhoff, Golo Mann, Hermann Rauschning und Hartmut von Hentig, hrsg. von Hans Wolfram von Hentig, Ebenhausen bei München. Keiper / Kröger 2004 Gerhard Keiper / Martin Kröger, Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871‒1945, Bd. 2: G‒K, Paderborn. Thieme 2011 Jürgen Thieme, „Bitte retten Sie den Rest der Stiftung“ ‒ Die Katastrophe 1943, in: Nadja Cholidis / Lutz Martin (Hrsg.), Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf, Begleitbuch zur Sonderausstellung des Vorderasiatischen Museums, Regensburg / Berlin, 279‒286. Völger 2001 Gisela Völger, Vom Werden eines Sammlers, in: Gabriele Teichmann / Gisela Völger (Hrsg.), Faszination Orient. Max von Oppenheim: Forscher, Sammler, Diplomat, Köln, 278‒315. Wiesner 2001 Ulrich Wiesner, Chinesisches Porzellan für die muslimische Welt, in: Gabriele Teichmann / Gisela Völger (Hrsg.), Faszination Orient. Max von Oppenheim: Forscher, Sammler, Diplomat, Köln, 336‒353.

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Hentig 1971: 203. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Max von Oppenheim und der Heilige Krieg Noch einmal die Denkschrift von 1914 Martin Kröger / Berlin Max von Oppenheim war weder ein Spion noch hat er den Heiligen Krieg erfunden. Der Vorwurf der Spionage haftet ihm seit einer Pressekampagne 1906 vor allem in englischen und amerikanischen Darstellungen bis heute an.1 Er geht zurück auf Oppenheims Beschäftigung am deutschen Generalkonsulat in Kairo von 1896 bis 1910.2 Von dort aus beobachtete er die „islamische Welt“. Er tat dies offiziell, geheimdienstliche Aufträge an ihn sind nicht überliefert (zumal es einen deutschen Geheimdienst auch nicht gab), seine ‚Berichte über orientalische Verhältnisse‘ können leicht im Archiv eingesehen werden.3 Von Spionage ist darin keine Spur zu finden! Die Sache mit dem Jihad ist komplizierter. Den Vorwurf, etwas mit dem Heiligen Krieg zu tun zu haben, den der Sultan in Konstantinopel am Beginn des Ersten Weltkriegs ausrief, hat sich Oppenheim nach Kräften erarbeitet. Aber hat er ihn auch verdient? War er der Abu Jihad, zu dem ihn vor allem deutsche Autoren stilisiert haben?4 Dass der Heilige Krieg “made in Germany” sei, hat schon während des Ersten Weltkriegs der Arabist Snouck Hurgronje behauptet.5 Tatsächlich besaßen die Niederlande in Indonesien die größte koloniale Einwohnerschaft islamischen Glaubens, hatten deshalb deren Aufstand am meisten zu fürchten. Als niederländischer Kolonialbeamter war Snouck Hurgronje also keineswegs interessefrei.6 Gleichwohl könnte er natürlich Recht gehabt haben. Es ist aber eine ganz besondere Art westlicher Überheblichkeit, wenn man unterstellt, dass der Sultan-Kalif, dessen Regierung und hohe islamische Geistliche die Entscheidung zum Jihad von den Aufforderungen eines protestantischen Kaisers aus Berlin oder sogar von den Einflüsterungen eines katholischen Archäologen aus Köln abhängig gemacht haben könnten. Die Türkei war innerhalb des europäischen Staatensystems zweifelsohne ein schwacher Akteur, ausschließlich Objekt war sie jedoch nicht. Als integratives Klebemittel für das vom imperialistischen Mottenfraß befallene Osmanische Reich hatte man früh den Panislamismus entdeckt. Dass sich dieser in erster Linie nach innen richtete, erkannten die Europäer nicht. Der Panislamismus und seine vermeintlich stärkste Waffe, der Heilige Krieg, wurden bald zum Schreckgespenst. Die Türken nutzten diese Angst aus, als sie ihren Kriegseintritt mit der Ausrufung des Jihad 1

Hanisch 2020. Kröger 2001. 3 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA): R 14554-65. 4 Schwanitz 2012, Kopetzky 2018. 5 Snouck Hurgronje 1915. 6 Medrow 2015. 2

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schmückten.7 In Berlin hatte man zwar vom Heiligen Krieg geredet, tatsächlich schloss man sich nur einer unverstandenen Idee an. Fritz Fischer sah das 1961 noch völlig anders. Der Heilige Krieg war für ihn eine deutsche Inszenierung, deren Libretto eine Denkschrift gewesen sei, die Max von Oppenheim 1914 verfasst hatte. Fischer führte bereits alle Elemente ein, die noch heute den Feuilletonkonsens zu Oppenheim beherrschen. Dieser habe schon in den 1890er-Jahren den Heiligen Krieg als Waffe empfohlen, den Kaiser mit dem Gedanken infiziert, ihn zu der berühmten Orientreise und der noch berühmteren Rede in Damaskus inspiriert und 1914 den Jihad als Mittel zur Revolutionierung jener Teile der islamischen Welt empfohlen, die von den Kriegsgegnern beherrscht waren.8 Nichts davon hält der genauen Recherche stand. Die einzige Erwähnung des Jihad bei Oppenheim stammt tatsächlich aus dem Jahr der Reise Wilhelms II. nach Jerusalem: „Der Jihad, der Heilige Krieg gegen die Ungläubigen,“ schreibt er im Juli 1898, „hat im Laufe der Zeiten seine Gestalt verändert. Es wird ihm gegenwärtig, statt seines früheren rein aggressiven ein mehr defensiver Charakter beigemessen.“9 Tatsächlich kannte der Kaiser diesen Bericht so wenig, wie die anderen politischen Schriftstücke Oppenheims. Eine Strategie der asymmetrischen Kriegsführung lässt sich aus dem Zitat auch nicht destillieren. Zwar war die strategische Idee, dem Feind durch Aufstände weitere Fronten zu eröffnen und Kräfte zu binden, nicht neu. Trotzdem fehlte 1914 ein Konzept dazu. Und als klar wurde, dass Großbritannien nicht neutral bleiben würde, begann das Improvisieren. 10 Dabei gab des Kaisers Interesse an nahöstlichen Entwicklungen11 allen Anstrengungen einen förderlichen Impuls. Schon vor Kriegsausbruch hatte sich Wilhelm II. festgelegt: Die deutsche Militärmission in der Türkei müsse „gegen England den Krieg und Aufstand schüren“.12 Weiter notierte er: „Und unsere Consuln in Türkei und Indien, Agenten usw. müßen die ganze mohamedan. Welt gegen dieses verhaßte, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen; denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren.“13 Es war Generalstabschef von Moltke, der das in eine Art Anweisungskatalog umformulierte, nach dem versucht werden sollte, Aufstände in Indien und Ägypten (und anderswo) zu entfachen sowie Persien und die Türkei in die deutschen Interessen einzubinden.14 Dass so etwas der oberste Militär befiehlt und nicht ein Archäologe vorschlägt, ist dem Sachverhalt recht angemessen. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt instruierte die Botschaft in Konstantinopel, dass die „mohammedanische Parole in englische Kolonien besonders nach In7

Aksakal 2011. Fischer 1961. 9 PA AA, R 14556: 15. 10 Kröger 1994. 11 Kröger 2014. 12 Randbemerkung Wilhelms II. zu Wangenheim an AA 29.7.1917, Tel. 383: PA AA, R 13262. 13 PA AA, R 19873: 43. 14 PA AA, 19876: 129‒139; R 19878: 78; R 19879: 64; R 21028: 1. 8

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dien geworfen wird. Revolutionierung Kaukasus wäre erwünscht.“15 Der Kaiser selbst ließ dem türkischen Kriegsminister Enver Pascha mitteilen: „Türkei muss losschlagen. Sultan muss die Muselmanen in Asien Indien Ägypten Afrika zum heiligen Kampf auffordern.“16 Die Revolutionsstrategie war von Anfang an ein zentraler Bestandteil deutscher Kriegsaußenpolitik. Wegen des ausbleibenden schnellen militärischen Erfolgs wurden die Revolutionsideen bald als vielleicht kriegsentscheidend wahrgenommen. Im Auswärtigen Amt hatte sich bei Kriegsbeginn eine ganze Reihe von selbsternannten und echten Experten für den Orient gemeldet. Auch Max von Oppenheim bat im August 1914 um seine Wiederverwendung. Als erste größere Diensthandlung legte er eine 136seitige ‚Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde‘ vor.17 Sie gilt manchen heute als die Blaupause der Insurrektionsstrategie und ist immer wieder Gegenstand der Forschung, des Feuilletons oder des Fernsehens gewesen.18 In der Regel wird sie aus ihrem Zusammenhang gerissen, und ihr Autor wird zum deutschen „Lawrence von Arabien“ gemacht – was immer das genau wäre. Zwar handelt es sich durchaus um eine politische Handlungsanweisung zur politischen Veränderung des gesamten Orients. Aber Oppenheim war keineswegs originär: er bündelte nur, was in manchem Kopf der politischen Führung und darüber hinaus an ungeordneten und oft bizarren Ideen längst vorhanden war. Zudem kam er mit seinem Papier viel zu spät auf den außenpolitischen Marktplatz. Ein Schreiben Oppenheims vom 7.11.1914 an Jagow kündigte die Zusendung der Denkschrift an, die dem Staatssekretär ins Große Hauptquartier in die Ardennen nachgesandt werde. Dort traf Oppenheims Brief offenbar ohne die Denkschrift am 14.11. ein. Ein Registrator notierte noch am 19.11.: „ohne Anlage ins Bureau gelangt“. Wann das Memorandum schließlich im Hauptquartier war, geht aus den Akten nicht hervor. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass die Denkschrift an Kaiser oder Reichskanzler gelangt wäre. Es heißt bloß, sie solle asserviert werden. Eine Journalnotiz vom 1.1.1915 belegt dann den Eingang von drei Exemplaren.19 In den Akten gibt es keinen Hinweis auf einen amtlichen Auftrag, es sind auch nur sehr wenige Leser belegt. Im Text wird die Ausrufung des Heiligen Krieges am 11.11.1914 als geschehene Tatsache beschrieben,20 sie kann also erst nach diesem Datum abgeschlossen worden sein. Zu diesem Zeitpunkt sind die meisten der von Oppenheim angeblich angeregten Expeditionen schon auf dem Weg. Er selbst hat früh erkannt, dass er zu spät kam, weshalb er sein Memorandum nur als ‚Nachschlagewerk‘ bezeichnete. Vieles spricht dafür, der Denkschrift eine weit geringere Bedeutung hinsichtlich der Aufstandspläne beizumessen. Eigentlich ist in ihr auch mehr von Propaganda die

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Jagow an B Pera 3.8.1914, Tel. 305: PA AA, R 1913. PA AA, R 20936: 19‒20. 17 Ediert von Epkenhans 2000 und Epkenhans 2001. 18 Z. B. Austilat 2015, Böhm 2017 oder Krekeler 2018. 19 PA AA, R 20937: 51. 20 PA AA, R 20938: 127. 16

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Rede. Oppenheim ist nicht für die Kriegführung, sondern für die Weltkriegspropaganda wegweisend geworden. In direkter Folge seiner Ausführungen wurde in Berlin eine ‚Nachrichtenstelle für den Orient‘ geschaffen, welche die Presse- und Propagandaarbeit während des gesamten Krieges im Orient, im neutralen Ausland und in Deutschland koordinierte. Zumindest in den ersten paar Monaten leitete Oppenheim diese Nachrichtenstelle. Damit war er während der Frühphase des Weltkriegs am Politikfindungsprozess des Auswärtigen Amts stark beteiligt. Aber bereits im Frühjahr 1915 wechselte er nach Konstantinopel, um dort unter Kontrolle der Botschaft und von den Türken streng zensiert ein Propagandabüro mit Lesesälen aufzubauen. Dass er hier eine Art von Geheimdienst aufgebaut habe, ist blühender Unsinn. Er beruht vermutlich einzig auf dem übersetzerischen Kurzschluss von Nachrichtensaal, Nachrichtenstelle und Nachrichtenbüro zum englischen intelligence. Ganz im Gegenteil betrieben die Deutschen eine offene und oft plumpe Propaganda, über deren Wirkung sich heute wenig sagen lässt. Vielleicht ist Max von Oppenheim der Vater der deutschen Kriegspropaganda im Orient, aber er ist nicht der Vater des Jihad. Bibliografie Aksakal 2011 Mustafa Aksakal, ‘Holy War Made in Germany’? Ottoman Origins of the 1914 Jihad, in: War in History 18/2, 184‒199. Austilat 2015 Andreas Austilat, Der deutsche Dschihad, in: Tagesspiegel 15.3.2015. Böhm 2017 Andrea Böhm, Auf den Spuren der Aramäer. Archäologe, Diplomat, Dschihadist: Das abenteuerliche Leben des Orientforschers Max Freiherr von Oppenheim, https://www.zeit.de/zeitgeschichte/2017/04/max-freiherr-von-oppenheim-orientforscher [Zugriff am 21.07.2019]. Epkenhans 2000 Tim Epkenhans, Geld darf keine Rolle spielen, in: Archivum Ottomanicum 18, 247‒250. Epkenhans 2001 Tim Epkenhans, Geld darf keine Rolle spielen, in: Archivum Ottomanicum 19, 121‒163. Fischer 1961 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf. Hanisch 2020 (voraussichtliches Erscheinungsjahr) Marc Hanisch, Der Orient der Deutschen: Max von Oppenheim und die Konstituierung eines außenpolitischen Orients in der Deutschen Nahostpolitik, Berlin.

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Kopetzky 2018 Steffen Kopetzky (Hrsg.), Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde, Berlin. Krekeler 2018 Elmar Krekeler, Wie ein deutscher Freiherr einen Dschihad der Muslime erfand, https:// www.welt.de/kultur/article174555035/Wie-Max-Freiherr-von-Oppenheim-einen-Dschihadder-Muslime-erfand.html [Zugriff am 21.07.2019]. Kröger 1994 Martin Kröger, Revolution als Programm. Ziele und Realität deutscher Orientpolitik im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München / Zürich, 366‒391. Kröger 2001 Martin Kröger, Mit Eifer ein Fremder. Die Zeit im Auswärtigen Dienst, in: Gabriele Teichmann / Gisela Völger (Hrsg.), Max Freiherr von Oppenheim. Forscher, Sammler, Diplomat, Köln, 106‒140. Kröger 2014 Martin Kröger, Traumreisen und Weltpolitik – Wilhelm II. und sein Orient, in: Veit Veltzke (Hrsg.), Playing Lawrence on the Other Side. Die Expedition Klein und das deutschosmanische Bündnis im Ersten Weltkrieg, Berlin, 89‒101. Medrow 2015 Lisa Medrow, Christiaan Snouck Hurgronje: Zur Widersprüchlichkeit seiner Analysen zum panislamischen Dschihad in publizierten Schriften und geheimen Kolonialakten, in: Lisa Medrow / Daniel Münzner / Robert Radu (Hrsg.), Kampf um Wissen. Spionage, Geheimhaltung und Öffentlichkeit 1870‒1940, Paderborn, 72‒90. Schwanitz 2012 Wolfgang G. Schwanitz, Abu Jihad des Kaisers: Streit um Max von Oppenheim, http:// www.trafoberlin.de/pdf-dateien/2012_10_24/Stefan%20M.%20Kreutzer%20Oppenheim% 20Alexander%20Will%20Weltmacht.pdf [Zugriff am 21.07.2019]. Snouck Hurgronje 1915 Christiaan Snouck Hurgronje, The Holy War “Made in Germany”, New York / London.

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Verschlüsselte Botschaften zwischen Konstantinopel und Berlin Gabriele Mietke / Berlin Seit 1897 vertrat der Archäologe Theodor Wiegand in Nachfolge des „Entdeckers von Pergamon“, Carl Humann, die Interessen der Königlichen Museen zu Berlin im Osmanischen Reich. Wiegand war Direktor an den Berliner Museen, hatte seinen Dienstsitz jedoch zuerst in Smyrna (İzmir), ab 1899 in Konstantinopel (İstanbul). Sein Nachfolger in der Türkei, der ihm allerdings unterstellt blieb, wurde 1911 Martin Schede. Die Abstimmung zwischen Wiegand bzw. Schede und verschiedenen Berliner Museumsstellen – Generaldirektor, Direktoren, Kollegen, Verwaltungsmitarbeitern – in Bezug auf Grabungsgenehmigungen, Fundteilungen, Umgang mit türkischen Notablen und Behörden, Erwerbungsmöglichkeiten, Verwaltungsvorgänge erforderte einen ständigen Schriftverkehr in Form von Briefen, Postkarten, Telegrammen. Der funktionierte auf diese Entfernung allerdings nicht immer zuverlässig. So fragte Wilhelm Bode als Direktor der Sammlung der Bildwerke der christlichen Epochen bei Wiegand nach „Haben Sie wirklich meinen Brief, den ich Ihnen vor 12‒14 Tagen schrieb nicht erhalten?“,1 und Wiegand stellte in anderem Zusammenhang gegenüber Bode unaufgeregt fest „Ausser einem wohl verloren gegangenen Telegramm zum 10. XII. habe ich [...] nichts mehr an Sie geschrieben“, als wären Einbußen an der Tagesordnung.2 Brisanz erhielten solche Verluste, wenn die Inhalte nicht für jeden bestimmt waren. Entsprechend sorgte sich Wiegand um einen Brief, in dem er sich – möglicherweise kritisch – über den Assyrologen Hermann Hilprecht ausgelassen hatte: „es waren sehr intime Sachen, ich hoffe der Brief ist nicht verloren.“3 Er fürchtete wohl, selbst schlecht dazustehen, wenn der Inhalt unberufenen Augen unterkäme. Größere Sorge noch äußerte Martin Schede in einem Brief an Wiegand, der mittlerweile Direktor der Antikensammlung in Berlin war: „Ich habe einen unbestimmten Verdacht, ob unsere Briefe nicht doch mitunter in falsche Hände geraten; so halte ich es z. B. für nicht unmöglich, daß Ihr letzter Brief auf der Post geöffnet wurde nach dem Zustand des Couverts.“4 Verschlossene Briefe galten nur dann als sicher, wenn sie mit dem regelmäßig verkehrenden Botschaftskurier transportiert oder auf einem der europäischen Postämter aufgegeben wurden, die es neben den türkischen in größeren Städten des Osmanischen Reiches gab. 1

Wilhelm Bode an Theodor Wiegand, Charlottenburg, 15. September 1903, in: DAI Berlin, Archiv der Zentrale, NL Wiegand, DE DAI-Z-AdZ NL-WieT-00029-1903-09-15. 2 Theodor Wiegand an Wilhelm Bode, Konstantinopel, 24. Dezember 1910, in: SMB-ZA, IV/NL Bode 5885. – Vielleicht wollte Wiegand auch nur darauf anspielen, dass sich Bode für ein Telegramm zu dessen Geburtstag am 10. Dezember noch nicht bedankt hatte. 3 Theodor Wiegand an Wilhelm Bode, Milet, 24. Oktober 1907, in: SMB-ZA, IV/NL Bode 5885. 4 Martin Schede an Theodor Wiegand, Tigani, 11. Juni 1911, in: SMB-ZA, I/ANT Kor 51. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Angesichts der Unsicherheiten des Postverkehrs bedienten sich Wiegand & Co. verschiedener Methoden, Inhalte vor ungebetenen Mitlesern zu verbergen. Die einfachste war, ein Thema nur anzudeuten und auf den nächsten mündlichen Austausch zu verschieben.5 Das Spektrum an Möglichkeiten, das zur Verfügung stand, wenn etwas sofort mitgeteilt werden sollte, lässt sich an Hand einiger Poststücke aufzeigen. Dabei ergeben sich auch Einblicke in die allgemeinen Verhältnisse und Fehlleistungen des zeitgenössischen Postverkehrs zwischen Berlin und der Türkei. Im späten Frühjahr 1903 waren die Bemühungen, die reliefierte Fassade des südlich von Amman gelegenen frühislamischen Palastes Meschatta bzw. Mschatta für die Abteilung der Bildwerke der christlichen Epochen der Königlichen Museen zu Berlin zu erwerben, in vollem Gange.6 Deren Direktor Wilhelm Bode setzte sowohl Theodor Wiegand als auch die Kaiserlich Deutsche Botschaft in Konstantinopel ein, um die dafür notwendige Genehmigung durch die Osmanischen Behörden zu erwirken. Mit der Zustimmung von Osman Hamdi Bey, Direktor des Archäologischen Museums in Konstantinopel und zuständig für Grabungsgenehmigungen und Antikenexporte, war nicht zu rechnen – „Hamdi würde lieber s[einen]. Abschied nehmen als zustimmen“7. Deshalb sollte Sultan Abdülhamid II. dazu bewegt werden, Mschatta per Erlass (Irade) dem deutschen Kaiser Wilhelm II. zu schenken. Für die praktische Arbeit des Abbruches und Transportes hatte Bode bereits den deutschen Bauingenieur Gottlieb Schumacher aus Haifa gewonnen. Schumacher hielt die Monate August und September für klimatisch ungeeignet, wollte ab Oktober 1903 aber seine eigene Ausgrabung auf dem Tell el-Mutesellim (Megiddo) fortsetzen und drängte deshalb gegenüber den Museen auf den 1. Juni als Beginn der Arbeiten.8 Dadurch wurde die Frage der Genehmigung Ende Mai 1903 dringlich, sollte es nicht zu einer erheblichen Verschiebung kommen. Bei diesem Stand der Dinge empfing das „Haupt-Telegraphenamt“ Berlin Dienstag, den 26. Mai 1903 um 11:58 Uhr ein Telegramm (Abb. 1).9 Als Verfasser unterschrieb [Theodor] Wiegand. Adressat der Nachricht war „pantheon berlin“, die telegrafische Kurzadresse für die Königlichen Museen zu Berlin.10 Da bei der Berech5

Zum Beispiel den Inhalt eines Gespräches mit Generalkonsul Stemrich in Konstantinopel über Konsul Richarz in Bagdad: Theodor Wiegand an Wilhelm Bode, Berlin, 28. Februar 1908, in: SMB-ZA, IV/NL Bode 5885. 6 Zu den Erwerbungsumständen siehe Enderlein 1987; Troelenberg 2014: 63‒69. 7 Das war jedenfalls die Auffassung des Auswärtigen Amtes wie auch des deutschen Botschafters in Konstantinopel: Wilhelm Bode an Theodor Wiegand, Charlottenburg, 28./29. Mai 1903, in: DAI Berlin, Archiv der Zentrale, NL Wiegand, DE DAI-Z-AdZ NL-WieT-000291903-05-28. – Siehe Troelenberg 2014: 69 mit Anm. 154. 8 Gottlieb Schumacher an Richard Schöne, Haifa, 6. März 1903, und Gottlieb Schumacher an Richard Schöne, Tell el-Mutesellim, 17. Mai 1903, in: SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 108 und Bl. 153. 9 SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 150. Aufnahmedaten im Telegrammkopf links. Für den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Petra Winter vom Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin. Unter inhaltlichem Aspekt erwähnt und abgebildet in Troelenberg 2014: 69; 70 Abb. 37. 10 Belegt durch die kostenpflichtige Verlängerung der „abgekürzten Telegrammaufschrift Pantheon“ für das Jahr 1918, in: SMB-ZA, GV 851, Beleg 322. Für den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Michaela Lederle vom Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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nung der Telegrammgebühren nach Anzahl der Wörter die Adresse mitzählte, senkten Kurzadressen die Kosten ebenso wie der sprichwörtlich gewordene schnörkellose „Telegrammstil“. Was Wiegand den Königlichen Museen mitzuteilen hatte, war offenbar so eilig, dass er dafür ein teures Telegramm anstatt eines preiswerten Briefes sandte. Anscheinend war der Inhalt aber nicht nur eilig, sondern sollte auch nicht von jedem gelesen werden, denn der Text war verschlüsselt:

Abb. 1

Telegramm Theodor Wiegand an Königliche Museen zu Berlin, Therapia, 26. Mai 1903, Ausfertigung (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Zentralarchiv)

„qqpeh gmnbf vtvea awost gmymn yowhq skumz mesos fhaib afkvh tarhz fzzmf kvhga olwmf maneq fhuis qzzss otyqx cbtfb yaous ypmgm adsyr lsqsq ysbua zgsqp htokv mezas etwua qqpgt bmusw kwqsi huagh msqaq opemw ugyw gapmf asasp gosno penhm ecsyy bfaqv zwsuf hggbu fvpgs kgnhm eptz qyhau fwamg memed bosuk meleu hywmt ejldwm uhal fmbaa syk muz = wiegand =“. Zivile Telegramme konnten nur durch Telegrafenämter übermittelt werden. Dazu musste der Text vollständig dem Telegrafenbeamten mitgeteilt werden, der ihn in Morsezeichen übersetzte und per Drahtleitung oder Funk übermittelte. Selbst wenn man dem Beamten vertraute, konnten beide Übermittlungswege unbemerkt angezapft und die Nachrichten von anderen Institutionen oder Personen als den eigentlichen Empfängern mitgelesen werden. Eine Möglichkeit, Telegrammtexte geheim zu halten, war, sie mittels Code oder Chiffre zu verschlüsseln. Bei einem Code wurden ganze Wörter, Wortgruppen oder Sätze durch festgelegte Zeichenfolgen ersetzt. Zu © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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seiner Ver- und Entschlüsselung benötigten Sender und Empfänger dasselbe Codebuch, in dem die Entsprechungen von Klar- und Codewörtern niedergelegt waren. Bei einer Chiffre wurden einzelne Buchstaben nach mehr oder weniger komplexen Prinzipien in andere Buchstaben oder Zeichen umgewandelt. Hier genügte es, wenn beide Seiten die Verschlüsselungsprinzipien kannten. Beide Methoden waren natürlich nur so lang sicher, wie Codebuch oder Schlüssel nicht in fremde Hände gelangten.11 Im Osmanischen Reich war es Privatpersonen nach Aussage Wiegands verboten, in Telegrammen Codes oder Chiffren zu benutzen. Zu dem Kreis der Berechtigten gehörte das diplomatische Personal von Botschaften und Konsulaten, mit Ausnahme der Wahlkonsuln.12 Seit dem 22. August 1901 war Wiegand der Botschaft als wissenschaftlicher Beirat „attachiert“.13 Diese förmliche Beiordnung verlieh ihm das Recht, die besonderen diplomatischen Kommunikationswege wie Kurierpost und Botschaftstelegrafie – und damit auch die Möglichkeit der Chiffre – zu nutzen. Als Absendeort des zitierten Telegramms nennt die Zeile zwischen Telegrammkopf und Text die Telegrafenstation „therapia“.14 In Therapia am Bosporus stand die Sommerresidenz der Kaiserlich Deutschen Botschaft in Konstantinopel. Der Versandort legt nahe, dass Wiegand das Telegramm über die Botschaft versandte, wahrscheinlich genau aus dem Grund, es verschlüsselt verschicken zu können. Welchen Code oder welche Chiffre hatte Wiegand verwendet? Die Botschaft benutzte eine eigene Verschlüsselung, die nur im Auswärtigen Amt aufgelöst werden konnte. Dafür gab es das Amt des „Chiffreur“, in der Zentralbehörde das

11

In der Alltagssprache wurden die beiden Termini oft nicht klar getrennt. – Zu Begriffen, Methoden und Geschichte der Verschlüsselung und Entschlüsselung von Kommunikation siehe Kahn 1996; Singh 2000; Kippenhahn 2005. 12 Theodor Wiegand an Martin Schede, Berlin, 14. November 1911, in: DAI Berlin, Archiv der Zentrale, NL Martin Schede, Korrespondenz Wiegand an Schede. – Siehe auch Martin Schede an Theodor Wiegand, Pera, 3. April 1914, und Theodor Wiegand an Martin Schede, Sayn bei Neuwied, 12. April 1914, in: SMB-ZA, I/ANT 53. Schede schlug die Verwendung einer Chiffre vor, doch erinnerte sich Wiegand, dass ihm dies früher auf dem türkischen Telegrafenamt ausgeschlagen worden war. 13 Theodor Wiegand, Jahresbericht 1.4.1901‒1.4.1902, in: SMB-ZA, I/ANT 40, Jahresberichte der Museumsstation Konstantinopel 1901‒1912, Bl. 2 verso. – Der förmliche Erlass des Reichskanzlers darüber erfolgte wahrscheinlich schon am 7. August 1901: Schreiben der Kaiserlich Deutschen Botschaft Konstantinopel an den deutschen Konsul Galli in Smyrna (İzmir), Therapia, 12. September 1901 (Abschrift), in: DAI Berlin, Archiv der Zentrale, NL Theodor Wiegand, Kasten 13, Mappe 5, „An Theodor Wiegand 1901“. 14 Hinter „therapia“ folgen „253“ als eine Kennzahl der Telegrafenstation, „60“ für die Zahl der angerechneten Wörter, „26“ als Wiederholung des Monatstages, „12 35“ für die Zeit 12:35 Uhr des Versendens. Die Versandzeit liegt nur vermeintlich nach der Empfangszeit von 11:58 Uhr, da in Konstantinopel eine gegenüber der Mitteleuropäischen um 56 Minuten 56 Sekunden frühere Zeitzone galt, seit 1910 wurde die Differenz auf 60 Minuten reguliert; siehe dazu https://www.timeanddate.de/zeitzone/tuerkei/istanbul?year=1900 [Zugriff am 12.02.2019]. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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„Chiffrierbureau“.15 Gegen ihre Verwendung spricht, dass das Telegramm direkt an die Museen adressiert war. Zwar bediente sich Wiegand in anderen Fällen der Botschaftschiffre, doch ist deren Verwendung für gewöhnlich daran zu erkennen, dass sich die aus den Verschlüsselungen rückübersetzten Klartexte auf Vordrucken des Auswärtigen Amtes mit der Überschrift „Entzifferung“ erhalten haben.16 Die verschlüsselten Texte wurden nach der Lesung für gewöhnlich vernichtet. Dadurch sollte verhindert werden, dass im schlimmsten Fall sowohl verschlüsselte Botschaft als auch Klartext Dritten in die Hände fielen. Mit Hilfe einer solchen ‚Bilingue‘ hätte die im diplomatischen Verkehr verwendete Verschlüsselungsmechanik ermittelt und auf weitere abgefangene verschlüsselte Nachrichten angewandt werden können. Es stellt eine Ausnahme dar, dass im Fall des vorliegenden Telegramms auch der chiffrierte Text aufbewahrt wurde. Neben der Botschaftschiffre waren Wiegand, Schede und den Museen noch weitere standardisierte Verschlüsselungen bekannt. Im Zusammenhang des Telegramms ohne Belang ist dabei ein „Deutscher Universal-Code“ aus dem Jahr 1908, den Schede in einem Brief an Wiegand erwähnt.17 Er war nämlich – ebenso wie ein gleichzeitig veröffentlichter „Deutscher Privat-Code“ – gedruckt öffentlich zugänglich und eignete sich deshalb nicht zur Übersendung von vertraulichen Nachrichten.18 Sein Zweck war die Einsparung von Telegrammgebühren durch Verringerung der Wortzahl. Eine weitere Verschlüsselungsmethode erwähnte Wiegand in einem Brief an Schede vom 14. November 1911, nämlich eine „Museumschiffre“, die er als zu diesem Zeitpunkt bereits „miserabel veraltet“ bezeichnete.19 Drei Jahre später scheint sie ganz außer Gebrauch gekommen zu sein, denn Schede „möchte [...] auf die absolute Notwendigkeit hinweisen, daß wir baldmöglichst eine Museumschiffre

15

Meyer 1920/2015: 54‒57. Siehe auch Brief Wollmann an Wilhelm Bode, Tempelhof, 29. März 1905, in: SMB-ZA, IV/NL Bode 5977. Wollmann unterschrieb ausdrücklich als „Geh[eimer]. Sekr[etär]. u[nd]. Chiffreur im Ausw[ärtigen]. Amt.“ 16 Zum Beispiel Botschafter Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein an Auswärtiges Amt, Konstantinopel, 15. Oktober 1904 (Telegramm), in: PA AA, R 64755, Journalnummer 14651; Botschafter Hans Wangenheim an Auswärtiges Amt, Therapia, 24. Juli 1913, in: SMB-ZA, I/ANT 50, Bl. 39. Offizielle Abschriften solcher Entzifferungen stehen ebenfalls auf Vordrucken des Auswärtigen Amtes, doch fehlt das Wort „Entzifferung“. 17 Martin Schede an Theodor Wiegand, Tigani, 26. Juni 1914, in: SMB-ZA, I/ANT Kor 51. 18 M. Lange, Deutscher Universal-Code mit Hotel-Code. Telegraphen-Schlüssel für Politik, Handel, Industrie, Bank- und Börsenwesen, Justiz, Verwaltung und alle Ereignisse des öffentlichen Lebens, Leipzig 1908, und M. Lange, Deutscher Privat-Code mit Hotel-Code. Telegraphen-Schlüssel für Geschäfts- und Familienverkehr. Mit 1 Zeittafel., Leipzig 1908, beide verzeichnet in: Kayser 1911: 20. – Der „Privat-Code“ enthielt Zahlenkombinationen und Wörter, die jeweils für ganze Sätze standen, zum Beispiel bedeuteten „1416“ oder alternativ „Dotage“ den Satz „Zustellung unmöglich, da verreist“. Ein ähnliches Prinzip ist für den Universal-Code zu vermuten, doch konnte kein erhaltenes Exemplar nachgewiesen werden. – Zu dieser Art von Codes siehe Meyer 1920/2015: 59. 19 Theodor Wiegand an Martin Schede, Berlin, 14. November 1911, in: DAI Berlin, Archiv der Zentrale, NL Martin Schede, Korrespondenz Wiegand an Schede. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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von sachverständigen Seite ausgearbeitet, besitzen.“20 Es liegt nahe, dass in dem Telegramm von 1903 eben diese Chiffre verwendet wurde, denn der verschlüsselte Text wurde in die Verwaltung der Berliner Museen gegeben, um ihn in Klartext zu transkribieren. Dort mussten also die Verschlüsselungsprinzipien bekannt gewesen sein. Sicher nachgewiesen werden kann dies nicht, da weitere Informationen zur Museumschiffre fehlen. Das Ergebnis der Dechiffrierung war enttäuschend (Abb. 2 und 3).21 Mittwoch, den 27. Mai 1903, einen Tag nach dem Empfang des Telegramms, vermerkte Ullrich, „Bureau-Vorsteher und Erster Sekretär“22 der Generalverwaltung der Königlichen Museen zu Berlin: „Das anliegende Telegramm des Herrn Direktor Dr. Wiegand ist trotz aller Mühen nicht zu entziffern. Wir haben die Umschreibung nach beiden Alphabeten versucht, sie ist uns aber nur zum kleinen Teile gelungen. Das Ermittelte ist rot unterstrichen.“23 Die Museumschiffre besaß offenbar zwei mögliche Varianten, die auf zwei – manipulierten – Alphabeten beruhten und bei denen jeweils ein verschlüsselter Buchstabe einem Buchstaben in Klartext entsprach.24 Der entschlüsselnde Beamte hatte jeweils in eine Zeile die Zeichenfolge des Telegramms, darunter die Entschlüsselung nach Alphabet 1 bzw. Alphabet 2 geschrieben. Den Zeilen des Telegramms war ein „T“, denen der Entschlüsselung nach dem ersten Alphabet eine „I“, nach dem zweiten Alphabet eine „II“ vorangesetzt. Es zeigte sich, dass die beiden Chiffren abwechselten, zwischendurch aber immer wieder Buchstabenfolgen nicht sinnvoll zu entziffern waren. In der zweiten Telegrammhälfte versagten die beiden Chiffren fast vollständig, erst gegen Ende ergaben sich wieder erkennbare Worte. Es lässt sich nicht sicher feststellen, an welcher Stelle der Übermittlung diese Defekte entstanden. Selbst die rot unterstrichenen, entzifferten Textteile enthielten noch Fehler: „Ich rate zu sofortigem telezrapuiecgen erlals an botschaft [...] meschatta diese [...] beim selamlik vom sultan erbeten w [...] lchumacher [...] nicht moeglici [...] fuer verlust [...] erwvgen werdrn urief [...] wiegand [...] unterwegs“.25 Wohl wegen der Erwähnung von „Meschatta“ legte Dr. von Burchard, „Hilfsarbeiter“26 in der Generalverwaltung der Königlichen Museen zu Berlin, das Telegramm und den unvollkommenen Entschlüsselungsversuch Bode – und nicht, was nahe gelegen hätte, Generaldirektor Richard Schöne – „zur Kenntnisnahme u[nd]. gef[älligen]. Äußerung betr[effs]. des Gehalts des Telegramms“ vor.27 20

Martin Schede an Theodor Wiegand, Pera, 3. April 1914, in: SMB-ZA, I/ANT 53. SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 151. 22 Zentralblatt für die gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen. Jahrgang 1903, Berlin 1903: 68. 23 SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 152. 24 Da es hier nicht um Kryptographie, sondern um Kommunikation – und deren Misslingen – geht, wird nicht der Versuch unternommen, den Museumscode zu rekonstruieren. 25 SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 151. Einige weitere Buchstabengruppen sind einfach schwarz unterstrichen. 26 Zentralblatt für die gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen. Jahrgang 1903, Berlin 1903: 68. 27 SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 152. 21

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Abb. 2

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Telegramm Theodor Wiegand an Königliche Museen zu Berlin, Therapia, 26. Mai 1903, Entzifferung, erste Seite (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Zentralarchiv) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 3

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Telegramm Theodor Wiegand an Königliche Museen zu Berlin, Therapia, 26. Mai 1903, Entzifferung, zweite Seite (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Zentralarchiv) © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Bode verstand aus dem verstümmelten Telegrammtext bereits so viel, „dass Sie [= Wiegand] auf direkte Forder[un]g beim Sultan vor dem Selamlik durch den Geschäftsträger dringen, u[nd]. dass dies sofort von hier aus geschehe“. Allerdings geschah zunächst einmal nichts.28 Erst Freitag, den 29. Mai wurde Bode der vollständige Telegrammtext, jetzt gleich von zwei Seiten, bekannt. Zum einen hatte das Auswärtige Amt ein chiffriertes Telegramm gleichen Inhalts erhalten, dessen Abschrift Bode auf briefliche Bitte zugeschickt bekam.29 Zum anderen traf ein Brief Wiegands vom 25. Mai 1903 ein, in dem er die übermittelte Nachricht noch einmal in Klartext wiederholte: „Ich rate zu sofortigem telegraphischem Erlaß an hiesige Botschaft, dass Meschatta diesen Freitag beim Selamlik vom Sultan erbeten werde, weil sonst Schumachers Termin nicht moeglich ist. Wenn aber Verschiebung um ein Jahr eintritt besteht Gefahr für völligen Verlust. Compensation für Hamdi kann später erfolgen. Wiegand.“30 Mit dem 29. Mai war bereits der Tag des von Wiegand erwähnten „Selamlik“ erreicht, so wurde die Fahrt des Sultans zum Freitagsgebet in die Moschee Hamidiye bezeichnet, in dessen Anschluß er Amts- und Würdenträger empfing. Erst jetzt ließ Generaldirektor Schöne über das Auswärtige Amt bei der Botschaft in Konstantinopel „den Vortrag beim Sultan heute sehr dringlich“ machen.31 Botschafter Wangenheim bemühte sich weisungsgemäß sofort um eine Audienz am selben Tag – zu spät, alle Audienztermine waren bereits an andere Botschafter vergeben, die Gelegenheit war verpasst.32 Die Umständlichkeiten, die durch die für notwendig gehaltene Verschlüsselung entstanden waren, hatten dazu geführt, dass der Klartext von Wiegands Nachricht in Berlin zu spät bekannt geworden war. Zwei weitere Wochen verstrichen, bis am 11. Juni 1903 die gewünschte Irade des Sultans über die Schenkung von Mschatta an Wilhelm II. doch noch erlassen wurde.33 Maßgeblich für den Erfolg scheint nun aber keine Audienz des Botschafters, sondern eine schriftliche Promemorie gewesen zu

28 Wilhelm Bode an Theodor Wiegand, Charlottenburg, 28./29. Mai 1903, in: DAI Berlin, Archiv der Zentrale, NL Wiegand, DE DAI-Z-AdZ NL-WieT-00029-1903-05-28. 29 SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 158‒159. – Wilhelm Bode an Theodor Wiegand, Charlottenburg, 28./29. Mai 1903, in: DAI Berlin, Archiv der Zentrale, NL Wiegand, DE DAI-Z-AdZ NLWieT-00029-1903-05-28. 30 Theodor Wiegand an Generaldirektor Richard Schöne, Konstantinopel, 25. Mai 1903, in: SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 156, mit Ankunftsvermerk oben links „pr[aesentatum] 29.5.03“. Wiegands Brief datiert auf den 25., das Telegramm wurde aber erst am 26. versandt. Entweder irrte sich Wiegand im Datum oder die Funkübermittlung des Telegramms erfolgte mit einem Tag Verspätung. – Der Text, bis auf den letzten Satz und die Signatur, auch bei Troelenberg 2014: 69. 31 Wilhelm Bode an Theodor Wiegand, Charlottenburg, 28./29. Mai 1903, in: Berlin, DAI, Archiv der Zentrale, NL Wiegand, DE DAI-Z-AdZ NL-WieT-00029-1903-05-28. 32 Theodor Wiegand an Richard Schöne, Konstantinopel, 30. Mai 1903, in: SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 163‒164. Siehe Enderlein 1987: 86‒87. 33 Telegramm Theodor Wiegand an Königliche Museen zu Berlin, Konstantinopel, 11. Juni 1903, in: SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 177. Siehe Enderlein 1987: 87.

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sein, mit der die deutschen Wünsche nach dem Selamlik beim Sultan bekannt gemacht worden waren.34 Für andere Personen als Botschaftsangehörige oder wenn Mitteilungen auch vor dem Botschafter geheim gehalten werden sollten,35 kam die Benutzung der diplomatischen Telegrafie, und damit eine Chiffrierung durch die Botschaft, nicht in Frage. Bei Bedarf wurden in diesen Fällen andere Arten der Verschlüsselung verwendet. Ein solcher Anlass entstand im Sommer 1913. Zur Finanzierung des Ende Juni 1913

Abb. 4

Telegramm Liebermann an Martin Schede, Berlin, 4. Oktober 1913, Abschrift der Ausfertigung (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Zentralarchiv)

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Theodor Wiegand an Richard Schöne, Konstantinopel, 30. Mai 1903, und Theodor Wiegand an Richard Schöne, Konstantinopel, 6. Juni 1903, in: SMB-ZA, I/IM 6, Bl. 163‒164, 176. Siehe Enderlein 1987: 87. 35 Martin Schede an Theodor Wiegand, Pera, 26. Juli 1913, in: SMB-ZA, I/ANT 50, Bl. 43‒ 44. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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begonnenen Zweiten Balkankrieges bemühte sich der osmanische Großvesir Said Halim Pascha um Anleihen bei den europäischen Großmächten. In der Folge begannen im Juli 1913 in Konstantinopel Verhandlungen zwischen der Deutschen Bank und Halim Pascha, die die Vergabe eines hohen Kredits gegen Verpfändung bedeutender Antiken aus dem Archäologischen Museum von Konstantinopel zum Gegenstand hatten, alternativ deren Verkauf.36 Angesichts der Höhe der verhandelten Summen wurde nicht nur der Vorstand der Deutschen Bank in Berlin, sondern auch der Preußische Landtag einbezogen, während die Interessen der Königlichen Museen zu Berlin als mögliche Nutznießer eines solchen Geschäftes vor allem durch Bode, Wiegand und Schede vertreten wurden. Der komplexe Verhandlungsverlauf erforderte eine oft eilige und deshalb telegrafische Korrespondenz zwischen Konstantinopel und den Entscheidungsträgern in Berlin. Um die vertraulichen geschäftlichen Inhalte dennoch geheim zu halten, wurden zwei verschiedene Methoden angewandt. Die Vertreter der Deutschen Bank, die in der Türkei wie das Botschaftspersonal dazu berechtigt waren, benutzten ihre eigene Verschlüsselung.37 Darüber hinaus vereinbarten die Korrespondenten für Telegramme partielle Codes, die vor allem die Namen der beteiligten Personen und Institutionen, aber auch Begriffe verschlüsselten. Die Codes selbst wurden in auf sicheren Wegen expedierten Briefen vereinbart.38 Dabei wurde Großvesir Said Halim Pascha zu „Friedrich“, Botschafter Hans von Wangenheim zu „Heinrich“, der Unterhändler der deutschen Bank Liebermann zu „Nase“, die deutschen und türkischen Unterhändler Kaufmann, Arif und Mosel erhielten die Codenamen „Conrad“, „Albert“ und – wie originell – „Weinberg“.39 Frieden hieß codiert „Missernte“, Summe „Heilmittel“, Ultimatum „Begrüßung“, Offerte „Bauplan“, Griechenland „Fürsorge“, Chiffreworte „Verschönerung“, Gegenvorschlag „Umrechnung“, Dreadnought (Schlachtschiff) „Spielzeug“, Assur „Brunnen“ usw.40 Dabei kamen für Dritte absurde Sätze heraus wie „Sind hiesige Informationen richtig und will Stammtisch à tout prix Missernte mit Fürsorge so sind unsere Aussichten gleich Null und wir riskieren nichts durch Begrüßung“41 (Abb. 4) oder „Umrechnung erfolgt

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Wenk 1985: 20. Martin Schede an Theodor Wiegand, Pera, 26. Juli 1913, in: SMB-ZA, I/ANT 50, Bl. 43‒ 44. Mehrere der nur in Klarschrift erhaltenen Telegramme beginnen mit „Selbst dechiffrieren“ und nehmen so auf die Verschlüsselung Bezug: SMB/ZA, I/ANT 50, Bl. 126 und 138. Von Schede als „Code“ bezeichnet, könnte es sich daher auch um eine Chiffre gehandelt haben. z. B. Telegramm Deutsariat (Telegrammadresse der Deutschen Bank) an Mitglied des Vorstandes der Deutschen Bank Karl Helfferich, Pera, 13. August 1913, in: ANT 50, Bl. 94. Das Telegramm war für Wiegand bestimmt, musste also noch weitergeleitet werden. 38 Martin Schede an Theodor Wiegand, Pera, ohne Datum (wahrscheinlich 13. Januar 1914), in: SMB-ZA I/ANT 52, Bl. 124 verso; Liebermann an Martin Schede, Therapia, Hotel Tokatlian, 18. September 1913, in: SMB-ZA, I/ANT 51, Bl. 14‒15. 39 SMB-ZA, I/ANT 50, Bl. 88, 89; SMB-ZA, I/ANT 51, Bl. 11 und 75. 40 SMB-ZA, I/ANT 51, Bl. 75‒77; I/ANT 52, Bl. 114; I/ANT 53, Bl. 95, 131 und 220. 41 Telegramm Liebermann an Martin Schede, Berlin, 4. Oktober 1913, Abschrift der Ausfertigung, in: SMB-ZA, I/ANT 51, Bl. 75. 37

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spätestens 14 Tagen da ernsthafte Verhandlungen weiteres Spielzeug schweben“42 (Abb. 5) oder „willy ist verstandigt nase bekommt bessere frage“.43 Die Empfänger der Nachrichten schrieben häufig die entcodierten Worte über den Text, um das Verständnis zu erleichtern.44 Wenn die türkische Regierung in diesem Code allerdings zu „Stammtisch“ und Kaiser Wilhelm II. zu dem für eine Majestät anmaßend vertraulichen „Willy“ wurde,45 oder wenn in anderem Zusammenhang der Vorschlag aufkam, den bei Grabungen anwesenden türkischen Kommissar mit „Schnüffel“ zu codieren,46 spielte bei der Wahl der Codes neben der für notwendig erachteten Heimlichkeit anscheinend auch eine infantile Lust an Respektlosigkeit und pubertären Späßen mit hinein. Das stand in Kontrast zu den von allen Seiten angespannt geführten Verhandlungen, deren Risiken für das Verhältnis zu der türkischen Museumsverwaltung den beteiligten Archäologen wohl bewusst war. Am Ende konnten sich türkische und deutsche Seite nicht über die Bedingungen einigen, das Geschäft kam nicht zustande.47 Nicht jede Verschlüsselung diente oder war auch nur dazu geeignet, Nachrichten zu verbergen. Mitten im Ersten Weltkrieg, nämlich im Frühjahr 1917 schickte die Kaiserlich Deutsche Botschaft in Konstantinopel eine Denkschrift von Georg Karo, Erstem Direktor der Abteilung Athen des Deutschen Archäologischen Instituts, an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, in welcher Karo die Gründung eines kulturhistorisch, nicht zuletzt archäologisch ausgerichteten deutschen Reichsinstituts in Konstantinopel anregte.48 Wiegand erfuhr davon erst im Sommer 1917 während seines militärisch-archäologischen Einsatzes in Palästina und war alarmiert. Er sah in einem solchen Reichsinstitut eine gefährliche Konkurrenz um Ressourcen und die Gunst der Türken gegenüber der bestehenden preußischen Station der Berliner Museen in Konstantinopel und reiste unverzüglich nach Deutschland, um gegen eine solche Gründung vorzugehen.

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Telegramm Martin Schede an Theodor Wiegand, Pera, 17. Januar 1914, Ausfertigung, in: SMB-ZA, I/ANT 52, Bl. 114. 43 Telegramm Theodor Wiegand an Martin Schede, Berlin, 4. September 1913, Ausfertigung in: SMB-ZA, I/ANT 50, Bl. 167. 44 SMB-ZA, I/ANT 51, Bl. 75; I/ANT 52, Bl. 114 und 151. 45 SMB-ZA, I/ANT 51, Bl. 75. – SMB/ZA, I/ANT 50, Bl. 167; I/ANT 52, Bl. 151; I/ANT 53, Bl. 95. 46 Theodor Wiegand an Martin Schede, Berlin, 14. November 1911, in: DAI Berlin, Archiv der Zentrale, NL Schede, Kasten 1, Mappe „Briefe von Hahland Walter[;] Wiegand, Theodor“. 47 Ausführlich zu dem sogenannten „Museumsgeschäft“ demnächst im Jahrbuch der Berliner Museen. 48 Botschafter Richard von Kühlmann, Bericht der Kaiserlichen Botschaft Konstantinopel Nr. 219 an Reichskanzler von Bethmann Hollweg, 2. April 2017, mit Anlage Georg Karo, „Entwurf über die Gründung eines Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Konstantinopel“, in: PA AA, RZ 503, R 64441. – Siehe Dahlhaus 1990, 206‒208. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 5

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Telegramm Martin Schede an Theodor Wiegand, Pera, 17. Januar 1914, Ausfertigung (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Zentralarchiv)

Anscheinend konnte die Institutsgründung erfolgreich verhindert werden, denn am 1. September 1917 schickte Wiegand von Berlin aus eine Postkarte an Schede, der sich zu diesem Zeitpunkt in Hasserode befand: „Unsere ‚Sache‘ steht gut. Ist im GrHQ [= Großen Hauptquartier] in unserm Sinn ἀπάνω [= griechisch: „oben“] zur Besprechung gekommen & unser neuer ὑπουργὸϛ [= griechisch: Minister] hat der μεγαλιότηϛ [= griechisch: Majestät] alles gesagt. Auch unser Freund Valentini weiß Bescheid.“ hieß es darin, und „Unser Freund ☐ [= Karo] ist im Dalles [= in Nöten, in Verlegenheit], ich möchte nicht an seiner Stelle sein. Morgen Conferenz ὑπουργὸϛ, Μπῶδε καὶ ἐγῶ [= griech.: der Minister, Bode und ich]. Ich werde auch unsere Zukunftsfragen anschneiden. Wir bleiben schwarzweiss, das ist sicher, und ungestört. [...]“49 (Abb. 6 und Abb. 7). Das Besondere an der Postkarte war, dass Wiegand einzelne Wörter durch ihre griechische Entsprechung und den Namen Karo bildhaft durch das den Namen abbildende Zeichen ☐ ersetzte. Die Abkürzung GrHQ für „Großes Hauptquartier“ konnte während des Ersten Weltkriegs wohl nicht nur deutschen Muttersprachlern aus den Nachrichten bekannt sein. Aber auch die griechischen Wörter wären von einem türkischen Geheimdienst, der mit Nachrichten der misstrauisch beobachteten, 49

SMB-ZA, I/ANT Kor 51, Band IV. – Die Fahne Preußens war „schwarzweiss“. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Gabriele Mietke

Abb. 6

Postkarte Theodor Wiegand an Martin Schede, Berlin, 1. September 1917, Vorderseite (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Zentralarchiv)

Abb. 7

Postkarte Theodor Wiegand an Martin Schede, Berlin, Rückseite (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Zentralarchiv)

der Türkei lebenden Griechen rechnen musste, ebenso wie von einem gebildeten Deutschen mit humanistischer Bildung zu „entschlüsseln“, das heißt zu übersetzen gewesen. Auch wenn nicht jeder beim ersten Lesen verstanden hätte, worum es ging, konnte das Ziel der griechischen Wörter kaum eine zuverlässige Verschlüsselung gewesen sein. Solche griechischen Einsprengsel und vergleichbare spielerische ‚Codes‘ finden sich auch sonst in der Korrespondenz vor allem zwischen Wiegand und Schede sowie zwischen Wiegand und seinem Kollegen und Mitarbeiter an der Antikensammlung in Berlin, Hermann Winnefeld. Wenn zum Beispiel eine Frauenstatue gelegentlich als „Tante“ bezeichnet wurde, ging es nicht um Verheimlichung, denn die Bedeutung ließ sich aus dem Zusammenhang meist klar erschließen. So erwähnte Winnefeld in einem Brief an Wiegand einen Aufsatz über die „Mäntelchen der Akropolistanten“, womit die Karyatiden des Erechtheions gemeint sind, und fragte ironisch „Sie können übrigens für 120000 fr[anc]s die moderne Kopie eines Tantenkopfes von der Akropolis kaufen: [...] haben Sie Lust dazu?“50 50 Hermann Winnefeld an Theodor Wiegand, Berlin, 17. September 1913, in: SMB-ZA, I/ANT Kor 53. – Siehe auch Theodor Wiegand an Hermann Winnefeld, Konstantinopel, 28. März 1907 und 20. April 1907, in: SMB-ZA, I/ANT Kor 53. Im ersten Brief sprach er von

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Verschlüsselte Botschaften zwischen Konstantinopel und Berlin

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Schede verwendete in seinen Briefen an Wiegand sogar wiederholt einen Ausdruck, der in der deutschen Sprache sonst gar nicht nachweisbar ist, nämlich „gepappst“ bzw. „gepapst“,51 etwa in dem Satz „Ungers haben den Frano bereits nach wenigen Wochen gepappst, er paßte wohl auch kaum in diesen Haushalt“52. Dabei verließ sich Schede sicher darauf, dass Wiegand das Wort in seiner Bedeutung ‚entschlüsseln‘ konnte, nämlich als „entlassen“, „hinausgeworfen“. Mit der Verwendung solcher vertrauten Ersatzworte und Worterfindungen wies die Kommunikation zwischen Wiegand, Schede und Winnefeld einzelne Elemente des sogenannten ‚Privatcode‘ auf.53 Ursprünglich als typisch für die Sprache von Paaren erkannt, lassen sich ähnliche Codes auch in der Kommunikation anderer einander nahestehender Personen beobachten. Aus den Briefwechseln zwischen Wiegand, Schede und Winnefeld geht hervor, wie eng sie sich vertrauten, aufeinander verließen und gegenüber Dritten, sei es Wilhelm Bode, sei es Osman Hamdi Bey, verbündeten. Wie es typisch für den ‚Privatcode‘ ist, war auch ihr Code eine Abgrenzung nach außen und „Zeichen eines Einverständnisses zwischen den CodePartnern“.54 Dazu gehörte auch das gemeinsame Lästern über Kollegen und Vorgesetzte oder der Spitzname für den mächtigen Verwaltungsdirektor der Königlichen Museen zu Berlin Stubenrauch: „Stubenräuschlein“.55 Standardisierte und private Chiffren und Codes wurden in der archäologischen Korrespondenz dann verwendet, wenn vertrauliche Informationen über Personen, Pläne, Geschäfte und Erwerbungen mitzuteilen waren, ohne dass Dritte – meist ging es dabei um osmanische Stellen – von den Inhalten erfahren sollten. Verschlüsselte Botschaften waren oft kompliziert zu übermitteln und zu entschlüsseln – die Kommunikation konnte sogar ganz schief gehen, wie das Beispiel Mschatta zeigt. Das traf allerdings auf die Post zwischen Deutschland und der Türkei insgesamt zu, Verluste oder lange Laufzeiten waren nicht selten. Im Fall des ‚Privatcodes‘ ging es gar nicht um Geheimhaltung, sondern um den Ausdruck und gleichzeitig die Schaffung von Vertrauen. Der größte Teil der Korrespondenz zwischen den Museen in Berlin und den Archäologen in der Türkei blieb allerdings unverschlüsselt. In diesen

einer „Frauenfigur aus Marmor“ aus Chalkedon, die er im zweiten als „Chalkedonische Tante“ bezeichnete. – Selten wurden auch andere Kollegen in den Sprachgebrauch einbezogen: Theodor Wiegand an Josef Strzygowski, Milet, 19. November 1900, in: SMB-ZA, I/SKS 4, zu J.-Nr. 4566/00. Wiegand erwähnt „Vier archaische Sitztanten“. 51 Er ist nicht im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm verzeichnet; http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB – [Zugriff am 27.02.2019]. 52 Martin Schede an Theodor Wiegand, Konstantinopel, 2. Juli 1912, in: SMB-ZA, I/ANT Kor 51. – Der Altorientalist Eckhard Unger lebte mit seiner Frau zu diesem Zeitpunkt wie Schede in Konstantinopel, eine Zeit lang im selben Haus. 53 Leisi 2016: bes. 48‒58. 54 Leisi 2016: 56. 55 Hermann Winnefeld an Theodor Wiegand, Berlin, 19. Januar 1915 (erster von zwei Briefen dieses Tages), in: SMB-ZA, ANT Kor 53. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Gabriele Mietke

Fällen genügte manchmal bereits die Nachlässigkeit der Handschrift, um es sogar dem Empfänger schwer zu machen, den Sinn zu entschlüsseln.56

Verwendete Abkürzungen Anm. – Anmerkung bes. – besonders Bl. – Blatt DAI – Deutsches Archäologisches Institut J.-Nr. – Journalnummer NL – Nachlass SMB-ZA – Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv

Bibliografie Dahlhaus 1990 Friedrich Dahlhaus, Möglichkeiten und Grenzen auswärtiger Kultur- und Pressepolitik dargestellt am Beispiel der deutsch-türkischen Beziehungen 1914‒1928 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, 444), Frankfurt am Main / Bern / New York / Paris. Enderlein 1987 Volkmar Enderlein, Die Erwerbung der Fassade von Mschatta, in: Forschungen und Berichte 26, 81‒90. Kahn 1996 David Kahn, The Codebreakers. The Story of Secret Writing, [revised edition] New York. Kayser 1911 Christian Gottlob Kayser’s Vollständiges Bücher-Lexikon. Ein Verzeichnis der seit dem Jahre 1750 im deutschen Buchhandel erschienenen Bücher und Landkarten, Band 36, 1907‒1910, L‒Z, bearbeitet von Heinrich Conrad, Leipzig. Kippenhahn 2005 Rudolf Kippenhahn, Verschlüsselte Botschaften. Geheimschrift, Enigma und Chipkarte, 4. Auflage Reinbek bei Hamburg. Leisi 2016 Ernst Leisi, Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung, 5. Auflage, mit einem Vorwort von Andreas Fischer, Tübingen.

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Das traf besonders auf Briefe Wilhelm Bodes zu, der sich dessen wohl bewusst war: Wilhelm Bode an Theodor Wiegand, Charlottenburg, 26. Januar 1902; 6. März 1902; 26. Mai 1909, in: DAI Berlin, Archiv der Zentrale, NL Wiegand, DE DAI-Z-AdZ NL-WieT-000291902-01-26; DE DAI-Z-AdZ NL-WieT-00029-1902-03-06; DE DAI-Z-AdZ NL-WieT00029-1909-05-26-002. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Verschlüsselte Botschaften zwischen Konstantinopel und Berlin

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Meyer 1920/2015 Hermann Meyer, Das politische Schriftwesen im Deutschen Auswärtigen Amt. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente, Tübingen 1920, neu herausgegeben von Harald Rösler, Duisburg, https://archiv.diplo.de/blob/1504414/ 7577fdb688a266b8d923189e1c03b89 6/meyer-volltext-data.pdf [Zugriff am 16.01.2019]. Singh 2000 Simon Singh, Geheime Botschaften. Die Kunst der Verschlüsselung von der Antike bis in die Zeiten des Internet, München / Wien. Troelenberg 2014 Eva-Maria Troelenberg, Mschatta in Berlin. Grundsteine islamischer Kunst (= Connecting art histories in the museum [1]), Dortmund. Wenk 1985 Silke Wenk, Theodor Wiegand – Chronik, in: Auf den Spuren der Antike. Theodor Wiegand, ein deutscher Archäologe, Bendorf / Rhein, 2‒39.

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Vom Erzgebirge ins Land der Fowlingbulls Karl May und die vorderasiatischen Altertümer Friedhelm Pedde / Berlin Müsste ich eine Liste mit den mir sympathischsten Kolleginnen und Kollegen machen – Lutz Martin wäre mit Sicherheit dabei. Daher ist es mir eine besondere Freude, seiner Festschrift diesen kleinen Artikel beisteuern zu dürfen. Der Jubilar stammt aus dem Erzgebirge. Einer seiner berühmten Landsleute war der Reiseschriftsteller Karl May (1842–1912), der nur etwa 60 km entfernt das Licht der Welt erblickte. Neben ihrer Herkunft verbindet beide Personen auch die Faszination für den Orient. Lutz Martin hat ihn oft bereist, viele Male dort ausgegraben und in zahlreichen Büchern und Artikeln darüber berichtet (siehe sein Schriftenverzeichnis in diesem Band). Karl May beschrieb den Orient in einer Reihe von Büchern, hat ihn aber erst, als er bereits ein berühmter Schriftsteller geworden war, als Tourist besucht und nur oberflächlich kennengelernt. Karl May ist bis heute der vermutlich meistgelesene deutsche Schriftsteller. Allein der „Orientzyklus“, der weiter unten ausführlich behandelt werden soll, hatte bis 1918 bereits eine Auflagenhöhe von 500.000.1 Inzwischen sind in Deutschland über 100 Millionen und international weitere 100 Millionen Bücher von ihm verkauft worden. Der für mich wichtigste Punkt, warum man auch heute noch ein Augenmerk auf Karl May haben sollte, ist die Tatsache, dass durch seine Bücher und seit den 1960er Jahren auch durch Kinofilme insbesondere in breiten Bevölkerungsschichten Deutschlands und Österreichs über mehrere Generationen sowohl das Bild der nordamerikanischen Indianer als auch des Orients maßgeblich geprägt worden ist. Auch für einige von uns Archäologen und Altorientalisten (aus der Generation von Lutz Martin und dem Verfasser) mag in frühen Jahren Karl Mays Lektüre ein Anstoß gewesen sein, sich näher mit dem Orient zu beschäftigen. Es lässt sich allerdings nicht verhehlen, dass inzwischen bei den später Geborenen das Interesse an Karl May deutlich nachgelassen hat und sich deren Weltbild aus anderen Quellen speist. Zwar gab es am Ende des 19. Jhs. auch bereits viele Reiseberichte in deutscher Sprache, teilweise übersetzt aus dem Englischen und Französischen, aber diese wurden in der Regel nur von den Eliten wahrgenommen. So war es in Deutschland Karl May, der seine vermeintlichen Reisen als spannende Abenteuer schilderte, dadurch einen deutlich größeren Leserkreis erreichte und diesen mit der Welt der Indianer und Orientalen vertraut machte. Bereits 1877 erschien die Erzählung „Die Rose von Kahira“ – zu einer Zeit, als Gerhard Rohlfs als erster Europäer die Oase Kufra in der Libyschen Wüste erreichte.2

1 2

Ozoróczy 1991: 55, Anm. 4. Austilat 1992. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Friedhelm Pedde

Als einer der wenigen deutschen Vorgänger kann der eine Generation ältere Friedrich Gerstäcker (1816–1872) angesehen werden, der insbesondere mit seinen von Abenteuern in Nordamerika handelnden Büchern „Die Regulatoren des Arkannsas“ und „Die Flusspiraten des Mississippi“ ebenfalls eine große Leserschaft hatte. Abgesehen davon, dass, anders als bei Gerstäcker, Karl Mays Reisen in die entsprechenden Länder entgegen seinen Behauptungen in Wirklichkeit nicht stattgefunden hatten, besaßen sie doch den Hauch des Authentischen, denn Karl May benutzte als Vorlagen für seine Bücher alle entsprechenden Publikationen, derer er habhaft werden konnte, nämlich Reiseberichte und Romane (auch die Bücher von Gerstäcker), historische Abhandlungen, Lexika, die Bibel und den Koran sowie Landkarten und etwa 200 Sprach- und Wörterbücher3 anderer Sprachen. Viele dieser Bücher hatte er erworben, wie seine umfangreiche Bibliothek in Radebeul beweist, andere hat er in öffentlichen Bibliotheken gefunden. Dieser letztgenannte Umstand macht eine lückenlose Recherche, welche Bücher Karl May als Vorlage für seine Werke benutzt hat, unmöglich, zumal die Witwe Klara May seine Bibliothek nach seinem Tode systematisch „gesäubert“ hatte. Jedenfalls schreckte Karl May nicht davor zurück, ganze Passagen aus anderen Werken mehr oder weniger versteckt zu kopieren. Er ist auf diese Weise aber wegen der hohen Auflagen seiner Bücher von einem Plagiator zu einem Multiplikator der Kenntnisse und Stereotypen der besagten Völker und Regionen geworden,4 denn wer aus seiner zahlreichen Leserschaft besaß schon solch umfangreiche Lexika und Fachliteratur? In seinen Büchern berichtet Karl May von zahllosen vermeintlichen Reisen und Abenteuern, die er selbst unternommen bzw. erlebt habe, und die großenteils vom amerikanischen „Wilden Westen“ sowie vom osmanischen Orient handeln. Dort sei er unter den Namen „Old Shatterhand“ bzw. „Kara Ben Nemsi“ ein berühmter Held. Diese falsche und letztendlich tragische Behauptung hat sicher zu seinem Erfolg beigetragen und machte ihn am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem in Deutschland bekannten und bewunderten „Star“. Der Aufbau seiner Erzählungen verkörpert recht gut die archetypische „Heldenreise“, die uns seit Gilgamesch, der Odyssee und Herakles über ungezählte Mythen und Märchen bis zu den Star Wars-Filmen von George Lucas begegnet und von Joseph Campbell so eindrucksvoll beschrieben worden ist,5 in Bezug auf Karl May neuerdings auch von Katharina Maier.6 Was den Orient angeht, soll an dieser Stelle vor allem von dem bereits eingangs erwähnten „Orientzyklus“ die Rede sein, der zunächst in regelmäßigen Fortsetzungen zwischen 1881 und 1888 in dem Magazin „Deutscher Hausschatz“ veröffentlicht und erst 1892 in sechs Buchbänden redigiert und zusammengefasst wurde.7 Die Titel des Orientzyklus sind: „Durch die Wüste“ (bis 1895 mit dem Titel „Durch Wüste und Harem“), „Durchs wilde Kurdistan“, „Von Bagdad nach Stambul“, „In den Schluchten des Balkan“, „Durch das Land der Skipetaren“ und „Der Schut“. 3

Wiegmann 1987: 179. Pedde 2015: 23. 5 Campbell 1999. 6 Maier 2018. 7 Ausführlich dazu Wiegmann 1987; Sudhoff / Vollmer 1991. 4

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Vom Erzgebirge ins Land der Fowlingbulls

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Dazu gehört außerdem als Ergänzungsband das Buch „Allah il Allah!“. Bei diesem Zyklus handelt es sich um zusammengehörende Reise- und Abenteuer-Episoden, in welchem der Protagonist Kara Ben Nemsi, ein polyglotter, omnipotenter Superheld, Anfang der 1870er Jahren von Tunesien nach Mesopotamien und über Istanbul weiter bis nach Albanien reist. Ein weiteres wichtiges Werk ist im hier beschriebenen Zusammenhang das Buch „Bei den Trümmern von Babylon“ (bis 1945 mit dem Titel „Im Reiche des silbernen Löwen“, Band II), dessen Handlung etwas später, aber im selben Jahrzehnt spielt. Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich, begünstigt durch den Kolonialismus, inzwischen ein organisierter Tourismus entwickelt. Man fuhr ab 1867 mit Thomas Cook oder ab 1869 mit dem Berliner Unternehmen Carl Stangen in den östlichen Mittelmeerraum und die weite Welt. 1899 bot Stangen bereits 199 Orient-Reisen an. Es fällt daher auf, dass Mays Protagonist Kara Ben Nemsi (also vermeintlich Karl May in Person) selten in Orten weilt, die zum damaligen Zeitpunkt bereits als etablierte Reiseziele galten wie etwa Italien und Griechenland, die Stätten der Christenheit im Heilige Land oder die Pyramiden.8 Stattdessen beschreibt er unbekannte Pfade, wo noch Gefahren lauern und es vieles unter abenteuerlichen Umständen zu entdecken gibt. Damit glaubte er, seine Tarnung als echter Reisender aufrecht erhalten zu können.9 Es liegt in der Natur der Sache, dass es im Orientzyklus in erster Linie um eine Reise durch den islamischen Kulturkreis geht. Die Erwähnungen des vorislamischen Orients sind in Karl Mays Büchern entsprechend rar und werden von vielen Lesern mit geringer historischer bzw. archäologischer Vorbildung sicher nicht übermäßig wahrgenommen; in vielen Fällen wird es das erste und einzige Mal gewesen sein, dass sie etwas darüber gelesen haben. Gleichwohl ist es reizvoll, sich diesen Stellen einmal etwas genauer zu widmen. Woher bezog Karl May sein Wissen über den Alten Orient? Obgleich es sich nicht beweisen lässt,10 hat der in Radebeul lebende Karl May mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im nahe gelegenen Dresden in der Antikensammlung im Japanischen Palais neuassyrische Reliefs gesehen. Bereits zwischen 1855 und 1857 waren von Hermann Hettner Abgüsse assyrischer Reliefs aus Nimrud und Ninive sowie ein Abguss des Schwarzen Obelisken aus Nimrud in London, Paris und Berlin für die Dresdner Sammlung erworben worden; 1862 kaufte Hettner vier originale Reliefplatten aus Nimrud, die unmittelbar zuvor mit dem Schiff aus Mesopotamien kommend in London eingetroffen waren. Diese wurden dann bereits am 1. Oktober desselben Jahres in der Antikensammlung Dresden ausgestellt.11 Karl May kannte also vermutlich Reliefs und Keilschrift im Original, hat aber offensichtlich den Großteil seines Wissens über den Alten Orient und die Antike aus Büchern bezogen. 8

An einer der ersten auf diese Weise organisierten Reise hat 1867 Mark Twain teilgenommen und darüber 1869 einen der seinerzeit meistgelesenen Reiseberichte verfasst (The Innocents Abroad), siehe Twain 1984. 9 Polaschegg 2007: 127. 10 In den Tagebuchaufzeichnungen von Karl May finden sich keine Hinweise auf einen solchen Museumsbesuch. 11 Knoll 2004. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Friedhelm Pedde

Die erste Erwähnung des Alten Orients findet sich im ersten Band des Orientzyklus mit folgenden Sätzen:12 „Hier aber, an den beiden Strömen Euphrat und Tigris, liegen nur wüste Trümmerhaufen, über die der Beduine achtlos dahinreitet, wohl ohne nur zu ahnen, daß unter den Hufen seines Pferdes die Jubel und die Seufzer von Jahrtausenden begraben liegen. Wo ist der Turm, den die Menschen im Lande Sinear bauten, als sie zueinander sprachen: »Kommt, lasset uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, damit wir uns einen Namen machen!« –? Sie haben Stadt und Turm gebaut, aber die Stätte ist verwüstet. Sie wollten sich einen Namen machen, aber die Namen der Völker, die diese Stadt nacheinander bewohnten und in dem Turm ihre Götzendienste verübten, und die Namen der Fürsten und Statthalter, die hier im Gold und im Blut von Millionen wühlten, sie sind verschollen und können mit größter Mühe von unseren Forschern kaum noch erraten werden.“13 Karl Mays Protagonist Kara Ben Nemsi trifft in Muscat einen reichen Engländer, Sir David Lindsay,14 der nach Mesopotamien will, um dort Abenteuer zu erleben und Ausgrabungen zu unternehmen. In diesem Engländer ist unschwer Austen Henry Layard wiederzuerkennen: Ein englischer Archäologe, der Mitte des 19. Jhs. im Auftrage des Britischen Museums Ausgrabungen in Nimrud und Ninive durchführte und die ausgegrabenen Schätze nach London brachte. Darunter sind die bis heute als Highlights des Britischen Museums anzusehenden neuassyrischen Reliefs, der berühmte Schwarze Obelisk und einige Lamassu – Torhüterfiguren in der Gestalt von geflügelten Stieren und Löwen mit menschlichem Gesicht und göttlicher Hörnerkrone. Während seiner Ausgrabungstätigkeit an den genannten Orten unternahm Layard eine recht abenteuerliche Reise in das Gebiet des heutigen Dreiländerecks Irak, Türkei und Iran, wo er die Jesiden besuchte, die bis heute noch von den Muslimen als Teufelsanbeter verunglimpft und zeitweilig verfolgt werden. Seine Ausgrabungen sowie diese Reise beschrieb er in einem Buch, dem eine genaue Karte seiner Reise beigegeben war. Der Band wurde in England ein Bestseller, den man sogar in Bahnhofsbuchhandlungen erwerben konnte und welcher in viele Sprachen übersetzt wurde. Dieses Buch in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Niniveh und seine Überreste“15 (heute stets unter dem Titel „Auf der Suche nach Ninive“) besaß auch Karl May, der sich nicht nur der Landkarte bediente16 und aus dem Buch ganze Passagen17 und Personen entlieh, sondern insbesondere auch die Figur Layards,18 12

Die Zitate in diesem Beitrag sind eingerückt, diejenigen von Karl May zusätzlich kursiv gesetzt. 13 Karl May, Durch Wüste und Harem: 317. 14 Möglicherweise hat Karl May den Namen Lindsay dem englischen Reisenden Alexander Crawford Lindsay entlehnt, der 1838 den Reisebericht “Letters on Egypt, Edom and the Holy Land” verfasst hatte. 15 Layard 1850. 16 Kandolf 1991: 196‒197. 17 Dazu gehört auch die Reise zu den Jesiden, beschrieben in „Durch die Wüste“ und „Durchs wilde Kurdistan“, siehe dazu auch Pedde 2015: 22. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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den er in seinen Büchern literarisch in zwei Personen aufsplittet: einerseits in die Hauptperson Kara Ben Nemsi als den Hauptakteur, andererseits in den erwähnten reichen englischen Abenteurer und Möchtegern-Ausgräber Sir David Lindsay, der ihm im ersten gemeinsamen Gespräch erzählt: „Habe gelesen von Babylon – Ninive – Ausgrabungen – Teufelsanbeter. Will hin – auch ausgraben – Fowlingbulls holen – Britisches Museum schenken.“ … „Er wollte Löwen und alle möglichen Bestien schießen, die Teufelsanbeter besuchen und mit aller Gewalt einen Fowlingbull, wie er es nannte, einen geflügelten Stier, ausgraben, um ihn dem Britischen Museum zum Geschenk zu machen.“19 Es handelt sich also bei dem eigentümlichen Begriff “Fowlingbull” ganz deutlich um einen Lamassu. Hätte Karl May das englische Original des Layardschen Buches benutzt, wäre er natürlich auf den Begriff “winged bull” gestoßen; er hatte aber dieses Buch in deutscher Übersetzung gelesen. Sein Versuch einer Rückübersetzung des „geflügelten Stieres“ ins Englische scheiterte allerdings, da er das Wort „geflügelt“ (winged) mit „Geflügel“ (fowl) verwechselte und führte somit zu einer einzigartigen, verunglückten Karl May-Wortschöpfung, die heute aus seinen Orientbüchern nicht mehr wegzudenken ist. Liest man die entsprechenden Werke Mays mit den Augen eines Archäologen, ist man erstaunt, wie detailliert und zutreffend manche Beschreibungen der Landschaften und der archäologischen Fundplätze im Orient sind. Er nennt Orte wie Assur (Kalat Schergat), Ninive und Kujundschik, Nimrud, Khorsabad („Dur Sargon“), Birs Nimrud, Babylon (mit Nennung von Amran, Kasr und Tell Babil) sowie Baalbek. Dass es sich bei der Ruine Kalat Schergat um Assur handelt, haben weder Layard noch Karl May gewusst. Layard hatte ausdrücklich darauf verzichtet, den Fundort mit einem der altorientalischen Namen in Verbindung zu bringen. Er schreibt: „Die Ruinen von Kal’at Schergat ohne bessere Hilfsmittel, als wir sie jetzt besitzen, mit irgendeinem Städtenamen, der in der Heiligen Schrift vorkommt oder von alten Geographen aufbewahrt ist, in Verbindung zu bringen, will ich nicht versuchen. Dass es eine der ältesten Städte Assyriens war, ist durch die Identifizierung des in ihren Monumenten und Ziegeln gefundenen Namens des Königs mit dem des Erbauers des Zentralpalastes von Nimrud 18

Dieser Verdacht wurde bereits 1882 in einem Leserbrief geäußert: „… M. hat ja gewiß ein glänzendes, bestechendes Talent; aber das bringt er mit all seinem unbestreitbaren Talent nicht fertig, einen nüchternen Beurtheiler glauben zu machen, daß er vorwiegend eigene Erlebnisse schildere. Wer speciell etwas von dem berühmten Assyrologen Layard kennt, möchte sich in einem bestimmten Falle zu dem Nachweise versucht fühlen, daß der phantasievolle Verfasser seine Reisen sogar bis auf Layards Werke ausgedehnt habe.“ Diese berechtigte Verdächtigung wurde vom „Deutschen Hausschatz“ jedoch entschieden bestritten, siehe Kramer 2011: 128‒129. Ausführlicher dazu auch Kandolf 1991. 19 Karl May, Durch Wüste und Harem: 320. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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(Salmanassar III.) hinreichend bewiesen; ob es aber Kalach, eine der vier im 1. Buch Mosis genannten primitiven Städte, oder das Ur des Abraham ist, das zur Zeit des Ammianus Marcellinus noch existierte, will ich nicht zu bestimmen wagen.“20 Aber da Layard eine Sitzstatue des Königs Salmanassar III. gefunden hatte21 und zudem ein den Anu-Adad-Tempel betreffendes großes, achteckiges Tonprisma des Königs Tiglatpilesar I. ans Licht kam, welches 1857 der britischen Royal Asiatic Society dazu gedient hatte, die Richtigkeit der Entzifferung der Keilschrift zu beweisen,22 wurde in den Fachkreisen aus einer Vermutung allmählich die Gewissheit, dass es sich bei Kalat Schergat um die alte assyrische Hauptstadt Assur handeln müsse. Allerdings setzte sich erst in den späten 1880er und 1890er Jahren dieses Wissen auch in der interessierten Öffentlichkeit nach und nach durch. So darf es nicht verwundern, dass Karl May, der Layards Buch als Grundlage benutzte, ebenfalls nicht wusste, dass Kalat Schergat Assur ist. In „Durch die Wüste“ entspinnt sich an einem Ort „etwa 15 englische Meilen“ südlich von Assur zwischen Sir David Lindsay und Kara Ben Nemsi folgender Dialog: „Wie heißt?“ – „Kalat Schergat.“ – „Fowling bulls dort?“ – „Hm. Müsste man erst sehen.“ … – „Werde unterdessen einmal ansehen.“ – „Was?“ – „Kalat Schergat. Fowlingbulls ausgraben, Londoner Museum schicken, berühmt werden, well!“23 Man könnte heute scherzhaft hinzufügen, dass sie Lamassus hätten finden können, die dann jetzt in London wären. Ein von Walter Andrae und seinem Team ausgegrabener, recht gut erhaltener Lamassu-Kopf aus Assur befindet sich stattdessen jetzt im Archäologischen Museum in Istanbul … Unmittelbar nach diesem Gespräch reitet Kara Ben Nemsi nach Süden und schaut durch sein Fernrohr auf die Gegend vom Kleinen Zab: „Dort hatten wohl auch die Scharen von Sardanapal, Kyaxares und Alyattes kampiert. Dort hatten die Krieger des Nabopolassar auf den Knien gelegen, als am 5. Mai im fünften Jahre jenes Herrschers eine Mondfinsternis der totalen Sonnenfinsternis folgte, welche die Schlacht von Halys so schrecklich machte. Dort hatte man wohl die Pferde aus den Fluten des Tigris getränkt, als Nebukadnezar nach Ägypten zog, um Königin Hophra abzusetzen, und das waren wohl dieselben Wasser, über welche der Todesgesang des Nerikolassar und des Nabonnad herübergeklungen ist bis zu den Bergen von Kara Zschook, Zibar und Sar Hasana.“24 Hier irrt Karl May. Die Schlacht am Halys fand in Zentralanatolien statt, siehe Herodot I, 74. Auch kann eine Mondfinsternis niemals direkt auf eine Sonnenfins20

Siehe Layard 1975: 262‒263. Im Bereich des Tabira-Tores, siehe Layard 1975: 254 und Andrae 1977: 26 Abb. 8. 22 Siehe dazu RIMA 2: 7–31 (A.0.87.1). 23 Karl May, Durch Wüste und Harem: 430. 24 Karl May, Durch Wüste und Harem: 432. 21

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ternis folgen. Aber woher hatte May diese historischen Informationen? Darauf hat der Karl-May-Forscher Rudi Schweikert eine Antwort: Karl May hatte sein umfangreiches Lexikon, den „Pierer“, dessen erste und siebte Auflage er besaß, sorgfältig durchforstet.25 Die anderen assyrischen Hauptstädte sind Karl May ebenfalls nicht fremd; auch sie sind in seine Geschichte eingebunden. Während jedoch Nimrud nur einmal kurz erwähnt wird, kommt Khorsabad, „das alte assyrische Saraghum“,26 etwas häufiger vor, aber es wird nicht weiter auf Ausgrabungen eingegangen. Nur bei der Beschreibung eines Hauses heißt es: „Das Dach war glatt, vorn mit einer assyrischen Mauerkrönung, wie man sie in Dur-Sargon zu sehen bekommt.“27 Diese Beschreibung hatte Karl May einem Buch von Franz Kaulen über assyrische und babylonische Ausgrabungen entnommen, wo eine assyrische Mauer mit stufenförmigen Zinnen aus Khorsabad – hier ebenfalls Dur-Sargon genannt – abgebildet ist.28 Das Werk hat May gern benutzt und kopiert, wie wir noch sehen werden. Weiterhin hat May diese und andere Namen archäologischer Stätten in einen Dialog mit Sir David Lindsay eingebaut, und wieder hatte May die Namen dieser Orte bei Layard gefunden:29 „Nun gleich graben nach Fowlingbulls und anderen Altertümern!“ „Der gute Mann hatte sicher sehr viel von den Ausgrabungen bei Khorsabad, Karakonjunlu, Hamam Ali, Nimrud, Eskischaf und El Hadr gelesen und gehört und war dadurch auf den Gedanken gekommen, nun seinerseits auch das Britische Museum zu bereichern und dadurch ein berühmter Mann zu werden.“30 Die Stadt Ninive – im ersten Gespräch zwischen Kara Ben Nemsi und Sir David Lindsay bereits oben erwähnt, wird einige weitere Male genannt, aber nur einmal wird es konkret, denn da kann der polyglotte Kara Ben Nemsi zeigen, dass er auch die Keilschrift beherrscht: „Ich auch gefunden.“ „Was?“ „Seltenheit, Schrift.“ „Wo?“ „Loch, hier in der Nähe. Ziegelstein.“ „Eine Schrift auf einem Ziegelstein?“ „Yes! Keilschrift. Könnt Ihr lesen?“ „Ein wenig.“ „Ich nicht. Wollen sehen!“ „Ja. Wo ist der Stein?“ „In Zelt. Gleich holen.“ Er ging hinein und brachte seinen kostbaren Fund zum Vorschein. „Hier, ansehen, lesen!“ Der Stein war beinahe vollständig zerbröckelt, und die wenigen Keile, die die verwitterte Inschrift noch zeigt, waren kaum mehr zu unterscheiden. „Nun?“ fragte Lindsay neugierig. „Wartet nur. Das ist nicht so leicht, wie Ihr denkt. Ich finde 25

Schweikert 2007: 51–53. Karl May, Durch Wüste und Harem: 497. 27 Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen III (1902): 343. 28 Kaulen 1891: Abb. 26; Schweikert 2010: 90‒91. 29 Layard 1975: 21; siehe dazu auch Hilprecht 1904: 86. 30 Karl May, Durch Wüste und Harem: 332. 26

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nur drei Worte, die vielleicht zu entziffern wären. Sie heißen, wenn ich mich nicht irre: Tetuda Babrut ésis.“ „Was heißt das?“ „Zum Ruhme Babylons ausgeführt.“ Der gute David zog seinen parallelogrammen Mund bis hinter die Ohren. „Lest Ihr richtig, Sir?“ „Ich denke es.“ „Was daraus nehmen?“ „Alles und nichts.“ „Hm! Hier doch gar nicht Babylon!“ „Was sonst?“ „Ninive.“31 Diese Inschrift ist nicht Karl Mays Phantasie entsprungen, sondern er hat sich eines Werkes von Georg Friedrich Grotefend bedient, welches sich auch in seiner Bibliothek findet. Auf diesen Zusammenhang stieß vor einigen Jahren wiederum Rudi Schweikert.32 Grotefend hatte die Inschrift auf einem „mit einer feinen Glasur überzogenen Backsteine“ entziffert. Sie lautet: „Nebukadnezar, König von Babylon, Verbinder von Betradah und Betzeda, Sohn des Nabupolassar, Königs von Babylon (bin) ich. Betramot, die Wohnung meiner Fürstin, habe ich mit den Palästen Babylons zum Ruhme Babylons ausgeführt.“33 Offenbar hat May diesen Text einfach darum benutzt, weil er ihm zugänglich war. Die Frage, warum in Ninive ein Text von Nebukadnezar gefunden wurde, hat er in seiner Erzählung nicht beantwortet. Aber die Antwort dürfte einfach sein: Karl May hatte keinen Text aus Ninive zur Hand. Auch in „Im Reiche des silbernen Löwen II“ kommt es wiederum zu Entzifferung von Keilschrifttexten durch den Protagonisten Kara Ben Nemsi34 mit dem Text Grotefends als Vorlage.35 Bereits Mitte der 1870er Jahre hatte Karl May in einem anderen Werk, den „Geographischen Predigten“,36 über altorientalische Städte geschrieben, darunter auch in nur zwei Sätzen über Ninive: „Ninive, die Hauptstadt Assyriens, hatte einen Umfang von 12 geographischen Meilen; die Mauer war 100 Fuß hoch und so dick, dass darauf 3 Wagen neben einander fahren konnten. Auch sie liegt heute in Trümmern, und ungeheure Ziegelhaufen sind die einzigen Zeugen einer längst verschwundenen Pracht und Herrlichkeit.“37 Auch hier hat Schweikert nachweisen können, dass Karl May sämtliche Informationen des ersten Satzes aus seinem „Pierer“-Lexikon hatte.38 Wenden wir uns nun von Assyrien nach Babylonien. Hier sind es Babylon und Birs Nimrud, wo Karl May Teile seiner Abenteuer stattfinden lässt. Im Orientzyklus

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Karl May, Durch Wüste und Harem: 394. Schweikert 2010: 71–73. 33 Grotefend 1856: Zeile 1–3. 34 Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen II: 591‒592. 35 Grotefend 1856: 78–84. 36 Karl May, Geographische Predigten: 294‒295. Dazu auch Sudhoff 1987. 37 Karl May, Geographische Predigten: 295. 38 Schweikert 2000: 235‒236 mit den Fußnoten 12 und 13. 32

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besuchen Kara Ben Nemsi und sein Gefährte Hadschi Halef Omar erstmalig Babylon: Karl May lässt zu diesem Anlass seinen Protagonisten sinnieren: „Was war dieses Babel gewesen? Am Euphrat gelegen und von demselben in zwei Teile geschieden, hatte die Stadt nach Herodot einen Umfang von 480 Stadien, also von sechszehn Meilen. Sie wurde eingefasst von einer 50 Ellen dicken und 200 Ellen hohen Mauer, die zur Verteidigung in gewissen Zwischenräumen mit Türmen versehen war und außerdem noch von einem breiten tiefen Wassergraben beschützt wurde. Hundert Tore von Erz führten durch diese Mauer in die Stadt, und von jedem dieser Tore ging eine gerade Straße nach dem gegenüberliegenden, so dass Babel also in ganz regelmäßige Vierecke eingeteilt war. Die drei bis vier Stock hohen Häuser waren von Backsteinen erbaut, die untereinander mit Erdharz verkittet wurden. Die Gebäude hatten prachtvolle Fassaden und wurden durch freie Räume voneinander getrennt. Das Häusermeer wurde von freien Plätzen und prachtvollen Gärten angenehm unterbrochen, in denen sich die zwei Millionen Einwohner lustwandelnd ergehen konnten. Auch die beiden Seiten des Stromes waren von hohen, starken Mauern eingefasst, durch deren eherne Wassertore, welche des Nachts geschlossen wurden, man gehen musste, wenn man per Schiff von einem Ufer zu dem andern kommen wollte. Über den Fluss führte außerdem eine herrliche Brücke, welche eine Breite von 30 Fuß besaß und nach Strabo eine Stadie, nach Diodor aber eine Viertelstunde lang war. Ihr Dach konnte abgenommen werden. Um bei der Erbauung derselben den Strom abzuleiten, war im Westen der Stadt ein See von 12 Meilen Umfang und von 75 Fuß Tiefe ausgegraben worden, in welchen man den Euphrat leitete. Dieser See wurde auch später beibehalten; er hatte die Wasser der Überschwemmungen aufzunehmen und bildete ein ungeheures Reservoir, aus welchem man bei großer Dürre mittels Schleusen die Felder bewässerte. An jeder Ecke der Brücke stand ein großer Palast; beide waren durch einen unterirdischen Gang verbunden, der unter dem Euphrat hinlief, wie z. B. der Tunnel unter der Themse. Die hervorragendsten Gebäude der Stadt waren: das alte Königsschloss, über eine Meile im Umfange, der neue Palast, mit dreifachen Mauern umgeben und zahllosen Bildhauerarbeiten geschmückt, und die hängenden Gärten der Semiramis. Diese bildeten ein Quadrat von 160000 Quadratfuß Flächenraum und wurden von einer 22 Fuß dicken Mauer umgeben. Auf großen, gewölbten Bogen erhoben sich amphitheatralisch angelegte Terrassen, zu denen man auf 10 Fuß breiten Stufen gelangte. Die Plattformen dieser Terrassen waren mit 16 Fuß langen und 4 Fuß breiten Steinen belegt, um kein Wasser hindurch zu lassen; auf den Steinen war eine dicke Lage verkittetetes Rohr, dann zwei Reihen gebrannter Ziegel, welche mit Harz gut verbunden waren, und dann hatte man das Ganze noch mit Blei bedeckt, auf dem man die beste Pflanzenerde so hoch aufgeschüttet hatte, dass die stärksten Bäume bequem Wurzel schlagen konnten. Auf der obersten Terrasse befand sich ein Brunnen, der das nötige Wasser in Fülle aus dem Euphrat sog und über die Gärten ergoß. In den Hallen einer jeden © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Terrasse hatte man prächtige, zur Nachtzeit illuminierte Gartensäle angebracht, in denen man den Duft der köstlichen Blumen und die herrlichste Aussicht auf die Stadt und deren Umgebung genießen konnte.“39 Rudi Schweikert konnte auch hier detailliert nachweisen, dass Karl May für diese Informationen nicht Herodot oder Diodor als Quelle benutzt hat, sondern wiederum seine Lexika, in erster Linie das Pierer-, aber auch sein Meyer-Lexikon.40 Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef besuchen später, aber noch im 1870erJahrzehnt ein weiteres Mal Babylon. Im bereits oben erwähnten zweiten Band der Tetralogie „Im Reiche des silbernen Löwen“, erschienen 1898, fühlte sich Karl May offenbar bemüßigt, seinen Protagonisten als historisch hoch gebildeten Reisenden darzustellen. Aus heutiger Sicht ist es allerdings mehr als befremdlich, dass May den oben zitierten Text aus „Von Bagdad nach Stambul“ fast wortwörtlich wiederholt – auch dies hat Rudi Schweikert41 nachgewiesen und synoptisch dargestellt.42 Gleichwohl gibt es im selben Band „Im Reiche des silbernen Löwen“ eine weitere ausführliche Beschreibung Babylons, die allerdings eine andere Quelle hat: „Hierauf kamen wir an dem an allen Seiten zerrissenen Tell Amran Ibn Ali vorüber, welcher diesen arabischen Namen von einem muhammedanischen Heiligen hat, der hier begraben liegt, und sahen dann die gewaltigen Trümmerhaufen des Kasr sich erheben. Kasr heißt soviel wie Schloss; dieser Name hängt mit der Bedeutung dieser Ruine zusammen, denn das Kasr ist das Residenzschloss Nabuchodonosors43 gewesen, welcher sich diese Wohnung baute, nachdem seine Vorfahren in einem auf der rechten Seite des Euphrats gelegenen Schlosse residiert hatten. Die Ruinen sind noch jetzt 400 Meter lang und 350 Meter breit, und doch soll dieses Schloss, wie der jüdische Geschichtsschreiber nach dem Chaldäer Berosus berichtet, in nur fünfzehn Tagen errichtet worden sein. Selbst wenn man annimmt, dass sämtliche Materialien vorher erst vollständig fertiggestellt und herbeigeschafft worden sind, um nur noch zusammengesetzt zu werden, erscheint diese Angabe unglaublich; allein es wurde eine jetzt in London befindliche Keilinschrift ausgegraben, welche neben anderen Stellen auch die folgende enthielt: „ina XV yumi sibirsa usakil“, zu deutsch: „in fünfzehn Tagen habe ich dieses herrliche Werk vollendet“. Wieviel Tausende von Menschenhänden haben dazu gehört, den Bau in so kurzer Zeit zustande zu bringen! Und dieses gewaltige Unternehmen war nur eines von den vielen, welche von Nabuchodonosors Unternehmensgeist und Tatkraft zeugen! Die erwähnte Inschrift sagt freilich auch in sehr stolzer Weise in Beziehung hierauf: „Ich habe den Palast er39

Karl May, Von Bagdad nach Stambul: 313–315. Schweikert 2000. 41 Schweikert 2000. 42 In einigen der späteren Ausgaben unter dem Titel „Bei den Trümmern von Babylon“ sind diese Dopplungen vom Verlag gestrichen worden, jedoch ist dieser Passus gesondert im Nachdruck erschienen bei Polaschegg / Weichenhan 2017: 219–224. 43 Karl May benutzt hier gemäß seiner Quelle den seinerzeit üblichen altgriechischen bzw. französischen Namen für Nebukadnezar II. 40

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richtet, den Sitz meines Königtums, das Herz Babels im Lande Babylonien; ich habe seine Fundamente tief unter dem Flussspiegel legen lassen; ich habe den Bau dokumentiert auf Cylindern, von asphaltiertem Mauerwerk umschlossen. Mit deinem Beistand, o erhabener Gott Merodach, habe ich diesen unzerstörbaren Palast errichtet. Möge der Gott in Babel thronen; möge er dort seine Wohnung nehmen; möge er ihre Einwohner siebenfach mehren; möge er durch mich das Volk Babyloniens beherrschen bis zu den fernsten Tagen! … Nördlich davon erreichten wir die Mudschelibeh, auch Maklubeh oder Babil genannt, die durch diesen letzteren Namen allein noch an das alte Babylon erinnert. Das sind die Trümmermassen der sogenannten hängenden Gärten, deren unendlich kostspielige Anlage auf den nicht ganz geheilten Wahnsinn Nabuchodonosors deuten.“44 Helmut Lieblang hat in einem ausführlichen Artikel45 dargelegt, dass dieser Text fast wortgetreu aus dem seinerzeit bekannten und mehrfach wieder aufgelegten Werk „Assyrien und Babylonien nach den neuesten Entdeckungen“ von Franz Kaulen46 abgeschrieben worden ist. Eine ganz wesentliche Rolle in Karl Mays Werken nimmt der „Turm zu Babel“ ein. Dabei handelt es sich aber nicht um die weitestgehend verschwundene tatsächliche Marduk-Zikkurrat Etemenanki, sondern um Birs Nimrud, die Nabu-Zikkurrat Euriminanki von Borsippa. Zu Mays Zeiten gab es zwar bereits seit längerem eine diesbezügliche Vermutung, aber die von ihm benutzten Quellen sprachen beim Birs Nimrud immer noch vom Babylonischen Turm, daher ist Mays Irrtum erklärlich und verzeihlich. Zudem war zu jener Zeit angenommen worden, dass sich Babylon wie eine Art Megacity von Kisch bis Borsippa erstrecken würde. May hat seine Protagonisten gleich zweimal an dieser Stelle Abenteuer erleben lassen47, in seinen „Geographischen Predigten“ eine Abhandlung dazu verfasst48 und in seinen letzten Lebensjahren sein Drama „Babel und Bibel“ ebenfalls an diesen Ort verlegt. Eine erstmalige Erwähnung im Orientzyklus findet Birs Nimrud in „Von Bagdad nach Stambul“: „… und eilten dann weiter, dem Birs Nimrud, dem babylonischen Turm zu, der dritthalb Wegstunden im Südwesten von Hilla liegt. Da diese Stadt ungefähr die Mitte des noch vorhandenen Ruinenfeldes einnimmt, so kann man sich eine Vorstellung von der ungeheuren Ausdehnung des alten Babel machen. Die Sonne neigte sich dem Horizonte zu, als wir neben der Ruine Ibrahim Cholil den Birs Nimrud aufsteigen sahen, umgeben von Sumpf- und Wüstenland. Die Ruine des Turms mag heute eine Höhe von höchstens fünfzig Meter haben, und auf ihr sieht man einen vereinzelten Pfeilerschaft, der etwas über zehn Meter hoch die Umgebung beherrscht. Er ist der einzige 44

Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen II: 164–167. Lieblang 2010: 107–110. 46 Kaulen 1891: 77–81. 47 Karl May, Von Bagdad nach Stambul, Kapitel „Die Todeskarawane“; Im Reiche des silbernen Löwen II, Kapitel „Beim Turm von Babel“ und „Wieder im Turm“. 48 Karl May, Geographische Predigten: 294b–295a. 45

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noch aufrechtstehende Rest der „Mutter der Städte“, wie Babel genannt wurde, doch auch bereits durch einen tiefen Riss in der Mitte gespalten …“49 Helmut Lieblang hat auch hier den Nachweis führen können, woher Karl Mays Informationen stammten, nämlich aus dem Reisebericht „Der Orient“ von Amand von Schweiger-Lerchenfeld.50 Hier wurde zwar nicht einfach abgeschrieben, aber die Details verraten deutlich die Quelle. Auch die beschriebene Route ist mit Hilfe einer Schweiger-Lerchenfelds Reisebericht beigegebenen Landkarte entstanden.51 Doch Karl Mays Beschreibung geht weiter: „Das hervorragendste Gebäude Babels aber war der Baalsturm, von welchem uns die Bibel 1. Mos. 11 berichtet. Die heilige Schrift gibt keine genaue Höhe an; sie sagt nur: „dessen Spitze bis an den Himmel reicht“. Die Talmudisten behaupten, der Turm sei 70 Meilen hoch gewesen; nach orientalischen Traditionen war er 10000 Klafter, nach anderen Überlieferungen 25000 Fuß hoch, und es soll eine Million Menschen zwölf Jahre lange daran gearbeitet haben. Das ist natürlich übertrieben. Die Wahrheit ist, dass sich allerdings mitten aus dem großen Tempel des Baal ein Turm erhoben hat, dessen Basis ungefähr tausend Schritte im Umfange hatte, während seine Höhe 6–800 Fuß betrug. Er bestand aus acht übereinander stehenden Abteilungen, von denen immer die höhere eine kleinere Grundfläche hatte, als diejenige, von welcher sie getragen wurde. Durch einen achtmal um den Turm führenden Stiegengang gelangte man auf die Höhe des Bauwerkes. Jede einzelne Abteilung enthielt große, gewölbte Hallen, Säle und Gemächer, deren Bildsäulen, Tische, Sessel, Gefäße und andere Gerätschaften von massivem Golde waren. Im untersten Stockwerke stand die Bildsäule des Baal, die tausend babylonische Talente wog, also einen Wert von mehreren Millionen Taler besaß. Das oberste Stockwerk trug ein Observatorium, auf dem die Astronomen und Sterndeuter ihre Beobachtungen machten. Xerxes beraubte den Turm aller Schätze, welche nach Diodorus 6300 Talente in Gold betragen haben sollen.“52 Auch diesen belehrenden Abschnitt hat Karl May unverständlicherweise in seinem späteren Buch „Im Reiche des silbernen Löwen II“ fast wortwörtlich wiederverwendet und damit sich selbst kopiert. Die Informationen stammen nach Recherchen von Rudi Schweikert wiederum aus Mays Lexika, insbesondere aus dem „Pierer“, aber auch aus dem „Ersch-Gruber“.53 Schweikert und Lieblang54 weisen darauf hin, dass May in diesem späteren Werk seine Reiseroute von Bagdad zum Birs Nimrud eng an die Reisebeschreibung „Reisen im Orient“ von Heinrich Petermann anlehnt,55 49

Karl May, Von Bagdad nach Stambul: 313. Schweiger-Lerchenfeld 1882: 365‒367. 51 Lieblang 2010: 121, Abb. 5. 52 Karl May, Von Bagdad nach Stambul: 315‒316. 53 Schweikert 2000: 243–245. 54 Schweikert 2010: 85, Anm. 33; Lieblang 2010: 121, Anm. 63. 55 Petermann 1865: 68‒69. 50

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währenddessen für „Von Bagdad nach Stambul“ die Berichte von James Claudius Rich, einem der frühesten Ausgräber in Mesopotamien, als Vorlage der Reiseroute gedient haben.56 Auch die Lektüre der Zeitschrift „Globus“ mag ihm geholfen haben, sollte aber nicht überschätzt werden.57 Bleibt noch ein wichtiger Ausgrabungsort: Baalbek. Dies ist eine der wenigen Stätten der vorderasiatischen Archäologie, die Karl May in seine Reiseerzählungen aufgenommen und die er auf seiner späteren tatsächlichen Orientreise kurz besucht hat.58 Rudi Schweikert hat sich auch dieses archäologischen Fundortes angenommen.59 In „Von Bagdad nach Stambul“ sind Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef am Birs Nimrud an der Pest erkrankt und nur knapp mit dem Leben davongekommen. Danach geht die Reise über Bagdad und Damaskus nach Baalbek, wobei bestimmte Einzelheiten der Reise aus einem Reisebericht von Joseph Russegger60 entlehnt sind. Doch die Beschreibung von Baalbek hat eine andere Quelle: „Gleich beim Eintritt in das Trümmerfeld erblickten wir seitwärts einen Steinbruch, in welchem ein Kalksteinblock von riesenhafter Größe lag. Er hatte gegen dreißig Ellen Länge, sieben Ellen Breite und eine gleiche Dicke. Solche Blöcke bildeten das Material zu den Riesenbauten von Baalbek. Ein einziger von ihnen hat ein Gewicht von sicher dreißigtausend Zentnern. Wie konnte bei der Art der damaligen mechanischen und technischen Hilfsmittel solche Massen dirigiert und bewältigt werden? Das ist ein Rätsel. Die hiesigen Tempelbauten waren einst dem Baal oder Moloch geweiht; diejenigen, deren Überreste heut noch vorhanden sind, haben ohne allen Zweifel einen römischen Ursprung. Man weiß ja, dass Antonius Pius dem Sonnengotte Zeus hier einen Tempel errichtet habe, der ein Weltwunder gewesen sei. Es scheint, als seien in dem größeren der beiden Tempel die syrischen Götter, in dem kleineren aber nur Baal-Jupiter verehrt worden. Um diesen Tempel zu errichten, haute man zunächst ein Fundament, welches um fünfzehn Ellen die Erde überragte; darauf kamen drei Schichten jener Riesenblöcke, deren Gewicht soeben angegeben wurde, und dann erst auf ihnen ruhten die kolossalen Säulen, welche die mächtigen Architrave trugen. Die sechs übrig gebliebenen Säulen des einstigen Sonnentempels haben eine Höhe von siebzig Fuß und am Piedestal einen Durchmesser von sechs Fuß. Der kleine Tempel war achthundert Fuß lang und vierhundert Fuß breit und zählte vierzig Säulen. Auch die Stadt Baalbek an und für sich war im Altertum bedeutend, da sie auf dem Wege von Palmyra nach Sidon lag.“61

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Rich 1818 und 1836/37; Kandolf 1991: 201. Insbesondere ein Artikel im 2. Band berichtet über Babylon, Birs Nimrud, Ninive und Khorsabad, siehe Globus 1862: 230–235. 58 Klussmeiner / Plaul 2007: 425‒426. 59 Schweikert 2009: 70–78. 60 Russegger 1843. 61 Karl May, Von Bagdad nach Stambul: 407. 57

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Es sind Amand von Schweiger-Lerchenfeld und Friedrich Heinzelmann,62 deren Berichte dieser Beschreibung von Baalbek zu Grunde liegen. Neben den historischen Beschreibungen hat Karl May auch hin und wieder Handlungen seiner Reiseerzählungen anderen Berichten entlehnt. So spielt ein Teil der Geschichte am Birs Nimrud in von Karl May erdachten Räumen im vermeintlichen „Turm zu Babel“, in welchem eine Schmugglerbande geraubte Schätze hortet und Menschen gefangen hält und in denen Spuren von Stachelschweinen gefunden werden.63 Dieses Sujet könnte er einem Bericht von James Claudius Rich entnommen haben,64 der von Hohlräumen im Tell Babil spricht, in welchen er antike Gegenstände, Inschriften und Sarkophage vorfindet und in denen Stachelschweine gelebt hätten. – Austen Henry Layard hatte in seinem Reisebericht erwähnt, dass in der Nähe von Kalat Schergat zuweilen Löwen gesichtet worden seien.65 Aus dieser kurzen Bemerkung hat Karl May eine Löwenjagd gemacht, die sich unweit von Kalat Schergat zuträgt.66 – Ein Hinweis von Joseph Russegger zu Baalbek, „Von Interesse sind auch die vielen und großen unterirdischen Gewölbe in der Akropolis zu Baalbek. Sie ziehen sich weit in das Fundament hinein …“,67 hat Karl May offensichtlich dazu animiert, Kara Ben Nemsi in den dunklen Gängen Baalbeks einer großen Gefahr auszusetzen, die dieser natürlich letztendlich meistert.68 Diese genannten Beispiele sind zwar für sich genommen unbedeutend, sie zeigen aber, dass Karl May bei der offenbar aufmerksamen Lektüre seiner erworbenen Bücher viele Ideen gekommen sind, die er dann umgesetzt hat. Die Orientreise Die hohen Auflagen von Karl Mays Büchern in den 1890er Jahren spiegeln das Fernweh der Deutschen, die dabei waren, als „zu spät gekommene Nation“ – die Reichseinigung war erst 1871 – doch noch eine Kolonialmacht zu werden, und die Reise von Kaiser Wilhelm II. 1898 ins Heilige Land führte zu einer großen Orientbegeisterung hierzulande. Diese wurde in prächtigen Gedenkbänden dokumentiert, die reißenden Absatz fanden.69 Zu diesem Zeitpunkt, als Karl May endlich zu Geld gekommen und berühmt geworden war, wurden in der Presse die ersten Stimmen laut, dass er die beschriebenen Reisen keineswegs unternommen habe, sondern alles erdacht sei. Um seinen Kritikern zu entfliehen, ihnen andererseits das Gegenteil zu beweisen und seinen Ruf zu retten, machte er 1899–1900 eine öffentlich groß ange62

Schweiger-Lerchenfeld 1882: 523‒524; Heinzelmann 1854: 183; Schweikert 2009: 73–75. Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen, Bd. I: 587–588; Bd. II: 63, 239, 261, 314. 64 Rich 1818: 28–32. Dieses Buch findet sich jedoch nicht in Karl Mays Bibliothek; es ist daher unsicher, ob er es gekannt hat. 65 Layard 1975: 252. Der letzte frei lebende Löwe im Irak wurde 1918 abgeschossen. 66 Karl May, Durch Wüste und Harem: 388‒389. 67 Russegger 1843: 710; Lieblang / Kosciuszko 2016: 53–58. Vielleicht auch Ritter 1854: 232; ob Karl May dieses Buch gekannt und benutzt hat, bleibt aber unklar. 68 Karl May, Von Bagdad nach Stambul: 422–433. 69 Klussmeier / Plaul 2007: 364. 63

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kündigte, sechszehnmonatige Reise durch den Vorderen Orient bis nach Indonesien, die ihn erstmals mit der Wirklichkeit dieser Länder konfrontierte. Gleichwohl nutzte er die Reise, um von seinen Aufenthaltsorten ungezählte Postkarten an deutsche Verlage, Zeitungen und Privatpersonen zu schicken, die teilweise dazu dienten, seinen Status als weltreisenden Abenteurer aufrecht zu erhalten. Sie enthielten Nachrichten wie die, dass er vorhabe, seinen in Wirklichkeit nur imaginären Freund Hadschi Halef Omar aufzusuchen: „… will ich über Mekka zu meinem Hadschi Halef und mit ihm durch Persien nach Indien. Sie sehen, dass meine Bücher nicht in meiner Studierstube entstehen, wie hie und da ein kluger Mann sich ausgesprochen hat.“70 oder die Behauptung, er habe auf der Insel Ceylon (heute Sri Lanka) eine Goldader entdeckt.71 Auf dieser Reise machte er gleich zu Anfang Station in Kairo, wo er von dem damals noch unbekannten Max von Oppenheim, der an der deutschen Botschaft arbeitete, zu einem langen Gespräch unter vier Augen eingeladen wurde – ein halbes Jahr, bevor Oppenheim den Tell Halaf entdeckte. Beide Personen waren offenbar voneinander beeindruckt, denn Karl May hatte viele Fragen an den polyglotten und umtriebigen Orientkenner Oppenheim und erwarb zwei Bücher von ihm.72 Oppenheim wird für Karl May vermutlich etwas von seinem Protagonisten Kara Ben Nemsi gehabt haben. Umgekehrt erinnerte sich auch Oppenheim noch 37 Jahre später in seinen Memoiren an Karl May: „Im Jahre 1899 besuchte mich in Kairo Karl May, der bekannte fruchtbare Schriftsteller, dessen Romane zu den verbreitetsten deutschen Büchern gehören und von unserer reiferen Jugend geradezu verschlungen wurden. Sie spielen in erster Linie unter den Indianern Nordamerikas, sind aber auch Erzählungen, in denen das Leben der Beduinen und Kurden in Vorderasien beschrieben wird. Natürlich fällt ihm, Karl May, die heldenhafte Rolle zu. Seine Phantasie war zweifellos ganz hervorragend, und manche seiner Bücher sind tatsächlich packend geschrieben. Das Amüsanteste ist, dass er selbst niemals in den Ländern, in denen seine Romane spielen, gewesen ist. Was den Orient angeht, ist er nie in das Innere vorgedrungen, wo wirklich Beduinen und Kurden leben. Dagegen hat er eifrig die vorhandene Literatur gelesen und aus ihr alles Nötige herausgesogen. Auch meine Arbeiten kannte er. Er liess sich von mir möglichst viel über die Sitten und Gebräuche, die Stämme und ihre Zusammensetzungen usw., vor allem der Beduinen, erzählen, was ich gerne tat, da er ein interessanter Mann war: groß, teutonisch aussehend, mit blondem Vollbart. Gerade

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Kramer 2011: 157. Wollschläger 1989: 82‒83. 72 Oppenheim 1899/1900. Wie zahlreiche Anmerkungen und Anstreichungen im Text zeigen, hat Karl May diese Bücher nach seiner Rückkehr aus dem Orient aufmerksam gelesen. 71

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mit den Schammar, die ich 1892 besucht hatte, hat er sich dann in seinen Romanen besonders beschäftigt.“73 Der weitere Verlauf seiner langen Reise – über Palästina, Libanon, Syrien, Jemen und Ceylon bis nach Sumatra – führte bei Karl May, der, bewaffnet mit Tropenhelm und Baedeker-Reiseführer, nie die üblichen Touristenpfade verließ74 und kaum einen der von ihm in seinen Büchern beschriebenen Orte aufsuchte,75 zu einem Kulturschock und einer persönlichen Krise. Daraus resultierte nach seiner Rückkehr der Versuch eines literarischen Neuanfangs, bei dem seine Werke einen eher allegorischen Charakter erhielten, was sich bereits bei „Im Reiche des silbernen Löwen III“ bemerkbar macht. May hat seine Orientreise in dem Buch „Und Friede auf Erden“ verarbeitet und darin ausdrücklich für kulturelle Toleranz und Völkerverständigung geworben. Damit und mit seinem immer wieder laut geäußerten Pazifismus eckte er im Kolonialzeitalter und einer zunehmend militaristischen, hurrapatriotischen Atmosphäre nach Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstandes an. – Neuerdings ist Karl Mays Reise, augenzwinkernd mit einigen Elementen einer „Heldenreise“ versehen, romanhaft von Philipp Schwenke beschrieben worden.76 Der Alte Orient ließ Karl May auch nach dieser Fahrt nicht los. Während seiner Orientreise hatten die Ausgrabungen in Babylon unter der Leitung von Robert Koldewey begonnen, 1903 begann die Ausgrabung in Assur durch Walter Andrae. Dass sich Karl May für die nach und nach publizierten vorläufigen Berichte der Ergebnisse dieser und weiterer Expeditionen im Vorderen Orient und Ägypten interessiert hat, ist sicher. So arbeitete er von 1904 bis 1906 an seinem einzigen Drama „Babel und Bibel“, dessen Bühnenhandlung er vor dem Turm zu Babel beginnen lässt und er bei der Beschreibung eines Tores zum Turm offenbar ein Bild von Victor Place als Vorlage benutzte, das bei Franz Kaulen77 abgebildet ist: „Die Handlung vollzieht sich auf dem Platz vor dem babylonischen Turme. In diesem Turme sind die in Mesopotamien ausgegrabenen Altertümer und Kostbarkeiten aufgestapelt, welche den berühmten „Schatz der Ān’allāh“ bilden, nach dessen Besitz die andern Völker von jeher gestrebt haben und noch heute streben. Er wird von den Ān’allāh auf das Schärfste bewacht. Kein Fremder darf den Turm betreten. Das Tor des letzteren ist so groß, daß es mit den beiden flankierenden Kolossalfiguren den ganzen Hintergrund der Bühne füllt. Seine Gewände sind aus Steinblöcken zusammengesetzt, deren Oberflächen babylonische Götterbilder zeigen. Die flankierenden Figuren stellen geflügelte Löwen mit Menschenköpfen dar, Sinnbilder des Kriegsgot-

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Schmidt 2003: 17. Sein offenbar recht umfangreiches Reisetagebuch ist später zu größten Teilen von seiner Witwe vernichtet worden, siehe Wollschläger 1990: 369. 75 Klussmeier / Plaul 2007: 363–432. 76 Schwenke 2018. 77 Place 1867: Pl. 21; Kaulen 1891: Abb. 36; Schweikert 2010: 91, Abb. 8. 74

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tes Nergal. Die Haar- und Barttracht dieser Köpfe ist die alte babylonischassyrische.“78 Das Drama stand unter dem Einfluss einer gleichnamigen Schrift des Assyriologen Friedrich Delitzsch.79 Dieser hatte 1902 mit seiner These, dass die Bibel nur mit den Erkenntnissen der modernen Archäologie richtig verstanden werde könne, den sogenannten „Babel-Bibel-Streit“ zwischen Wissenschaft und Kirche ausgelöst.80 Delitzsch hielt dazu in Deutschland eine Reihe von Vorträgen. Am 31.1.1903 besuchten Karl May und seine spätere Frau Klara Plöhn einen seiner Vorträge mit dem Titel „Die babylonischen Ausgrabungen und ihre Bedeutung für das Alte Testament“. Dazu notierte Klara Plöhn in ihr Tagebuch: „Der Vortrag war uns besonders interessant dadurch, daß er wie ein Referat aus Karls Büchern klang. Wie oft bringt Karl die blumige Weise des Orients. Er zieht dieselben Schlüsse daraus in Bezug auf die Bibel … Karl will sich Delitzschs Werk kaufen und selbst diese alten Sprachen studieren. Er wittert da Schätze. Was der gute Mann alles erforschen möchte, um die Menschheit glücklich zu machen …“81 Mays Drama „Babel und Bibel“ hatte aber entgegen seinen Erwartungen nicht den gewünschten Erfolg82 und ist bis heute kaum jemals aufgeführt worden. Damit erlitt es ein ähnliches Schicksal wie 1908 die Aufführung der historischen Pantomime „Sardanapal“ von Paul Taglioni (1865) in Berlin. Dazu hatte Kaiser Wilhelm II. höchstpersönlich Friedrich Delitzsch die „wissenschaftliche Oberaufsicht“ übertragen und von Walter Andrae Bühnenbilder anhand seiner Ausgrabungsbefunde gefordert. Bei der Uraufführung betrachtete sich Wilhelm als fürstlicher Gastgeber und lud viele Archäologen aus dem In- und Ausland ein. Für das Stück selbst konnte sich aber außer dem Kaiser niemand begeistern…83 Epilog Karl May ist häufig vorgeworfen worden, dass sein Bild des Orients mit der Wirklichkeit nichts gemein gehabt hätte. Das hat er in der Tat auf seiner einzigen tatsächlichen Reise am eigenen Leibe erfahren müssen. Dass aber auch andere, die den Orient besser kannten bzw. hätten kennen müssen, die dortigen Verhältnisse ebenfalls vollkommen falsch einschätzten, zeigte sich wenige Jahre nach Karl Mays Tod im Ersten Weltkrieg, als deutsche Archäologen, die jahrelang friedlich im Nahen Osten gearbeitet hatten, als Orientkenner militärisch eingesetzt und in verschiedene Verbände eingegliedert wurden. Theodor Wiegand leitete das Deutsch-Türkische

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Karl May, Babel und Bibel. Arabische Fantasia in zwei Akten: 8; Schweikert 2010: 90. Haas 1985: 82; Wohlgschaft 1991. 80 Zu diesem Thema kuratierte Lutz Martin 2019 eine Ausstellung im Vorderasiatischen Museum. 81 Wohlgschaft 1991: 4. 82 Wollschläger 1990: 111–113; Sämmer 2010. 83 Andrae 1988: 180–183. Ausführlich dazu Freydank 2011. 79

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Denkmalschutzkommando,84 Walter Andrae, der Ausgräber von Assur, sowie Friedrich Sarre dienten als Offiziere im deutschen Orient-Korps auf der Seite der Türken im Stabe des Generalfeldmarschalls Colmar von der Goltz-Pascha und unter General von Falkenhayn;85 Andraes ehemalige Assur-Mitarbeiter Conrad Preusser, Walter Bachmann und Hans Lührs wurden Mitglieder der „Expedition Klein“ im Irak und Persien;86 Fritz Lücke87, Paul Maresch und Ernst Herzfeld waren ebenso im Orient an der Front wie die Kollegen aus Babylon Friedrich Wetzel und Oskar Reuther.88 Julius Jordan diente in Mossul89 und in Tiflis,90 Max von Oppenheim bemühte sich, die Einheimischen zum Dschihad gegen Großbritannien, Frankreich und Russland aufzuwiegeln.91 Andere Orientkenner wie Wilhelm Waßmuß92 und Werner Otto von Hentig93 versuchten im Iran und Afghanistan, die Vormachtstellung der Briten zu unterwandern.94 Der Einsatz dieser Wissenschaftler bei teilweise dilettantischen Unternehmungen und aberwitzigen militärischen Aktivitäten, die mitunter doch sehr an die Abenteuer von Karl May erinnern, war zum Scheitern verurteilt, und das militärische Engagement Deutschlands im Ersten Weltkrieg im Orient95 wurde von Friedrich Rosen, dem Leiter des Orientreferats im Auswärtigen Amt, 1959 in seinen Memoiren mit den Worten beschrieben: „Wie Voltaire als der Vater der Französischen Revolution angesehen wird, so konnte man Karl May als den Vater unserer Orientpolitik dieser Zeit betrachten. Was an Kenntnissen des Orients existierte, ging jedenfalls über diese wohl einzige Quelle kaum hinaus“.96 Betrachtet man heute, hundert Jahre später, die Weltpolitik, beschleicht einen der Verdacht, dass sich daran nicht viel geändert hat.

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Wiegand 1919 und 1985: 167–277. Andrae 1988: 226‒227, 233‒234, 236‒237; Sarre 1919: 192. 86 Veltzke 2014: 28. 81. 87 Sarre 1919: 195. 88 Andrae 1952: 238. 89 Sarre 1919: 193. 90 Andrae 1988: 236. 91 Kreutzer 2012. 92 Gröttrup 2013. 93 Hentig 2009. 94 Neumann 2014: 67. 95 Zusammenfassend siehe Wiegand 1985 und Neulen 1991. 96 Rosen 1959: 54‒55. 85

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Zitierte Bücher von Karl May Karl Mays Werke sind bereits zu seinen Lebzeiten und danach vielfachen Änderungen unterworfen worden. Aus literaturhistorischen Gründen wird hier nach der Urfassung der Buchausgabe zitiert.97 1) Geographische Predigten, in: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg-, Hütten- und Maschinenarbeiter, 1. Jahrgang, 1875/76. 2) Durch Wüste und Harem (Karl May’s gesammelte Werke, Band 1), Fehsenfeld, Freiburg im Br. (1892) [späterer Titel: Durch die Wüste]. 3) Von Bagdad nach Stambul (Karl May’s gesammelte Werke, Band 3), Fehsenfeld, Freiburg im Br. (1892). 4) Im Reiche des silbernen Löwen II (Karl May’s gesammelte Werke, Band 27), Fehsenfeld, Freiburg im Br. (1898) [späterer Titel: Bei den Trümmern von Babylon]. 5) Im Reiche des silbernen Löwen III (Karl May’s gesammelte Werke, Band 28), Fehsenfeld, Freiburg im Br. (1902) [späterer Titel: Im Reiche des silbernen Löwen]. 6) Und Frieden auf Erden (Karl May’s gesammelte Werke, Band 30), Fehsenfeld, Freiburg im Br. (1904) [Erstfassung 1901 unter dem Titel „Ex in terra pax“]. 7) Babel und Bibel (in: Karl May’s gesammelte Werke, Band 49) Fehsenfeld, Freiburg im Br. (1906) [Erstfassung des Sammelbandes unter dem Titel „Himmelsgedanken“, späterer Titel „Lichte Höhen“]. Altorientalische Bibliothek von Karl May (Auswahl)98 1) Fachbücher und Reiseberichte Bezold 1903 Carl Bezold, Ninive und Babylon. Monographien zur Weltgeschichte XVIII, 2. Auflage, Bielefeld / Leipzig. Billerbeck 1900 Adolf Billerbeck, Der Festungsbau im Alten Orient, Leipzig. Budge 1908 Ernest Alfred Wallis Budge, A Guide to the Babylonian and Assyrian Antiquities, 2. Auflage, London. Busch 1868 (bearbeitet von) Moritz Busch, Abriß der Urgeschichte des Orients bis zu den medischen Kriegen. Nach den neuesten Forschungen und vorzüglich nach Lenormant’s Manuel

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Internet: https://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/primlit/reise/gr/ [Zugriff am 24.08.2019]. 98 Manche Bücher hat Karl May sich erst zugelegt, als seine Werke bereits geschrieben waren. Sie sind daher in dem hier diskutierten Zusammenhang irrelevant, zeigen aber zumindest, dass ihn das Thema weiter beschäftigt hat, wie ja auch sein Theaterstück „Babel und Bibel“ beweist. Für die Bereitstellung der Daten sowie für einige hilfreiche Hinweise danke ich sehr herzlich Hans Grunert, Kurator i. R. des Karl-May-Museums in Radebeul. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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d’histoire ancienne de l’Orient, Band 1: Ägypter. Israeliten. Assyrer; Band 2: Babylonier. Meder und Perser. Phönizier. Karthager; Band 3: Araber. Inder, Leipzig. Caspari 1859 Carl Paul Caspari, Grammatik der arabischen Sprache für akademische Vorlesungen, 2. Auflage, Leipzig. Delitzsch 1896 Friedrich Delitzsch, Assyrisches Handwörterbuch, Leipzig. Delitzsch 1902 Friedrich Delitzsch, Babel und Bibel. Ein Vortrag, Leipzig. Delitzsch 1903 Friedrich Delitzsch, Zweiter Vortrag über Babel und Bibel, Stuttgart. Eulenburg 1901–05 Olga von Eulenburg, Von Asdod nach Ninive im Jahre 711 v. Chr., 3 Bde., Leipzig 1901/ 04/05. Globus 1862 ohne Autor, Die Ruinen von Babylon und Ninive, in: Karl Andree (Hrsg.), Globus. Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, Band 2 Nr. 20, Hildburghausen, 225–235.99 Grotefend 1856 Georg Friedrich Grotefend, Erläuterungen zweier Ausschreiben des Königes Nebukadnezar in einfacher babylonischer Keilschrift mit einigen Zugaben, in: Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Sechster Band von den Jahren 1853–1855, Göttingen, 65–106. Haehnelt 1880 Wilhelm Haehnelt, Der Turmbau zu Babel, Sammlung von Vorträgen für das deutsche Volk. 2.9, Heidelberg. Hammurabi 1903 Die Gesetze Hammurabis Königs von Babylon um 2250 v. Chr.; Der Alte Orient. Gemeinverständliche Darstellungen, 3. Auflage, Leipzig. Haupt / Donner 1883 Paul Haupt / Otto Donner, Die akkadische Sprache. Über die Verwandtschaft des SumerischAkkadischen mit den ural-altaischen Sprachen, Berlin. Heinzelmann 1854 Friedrich Heinzelmann, Reisen in den Ländern der asiatischen Türkei und des Kaukasus, Leipzig.

99 Internet: https://www.digi-hub.de/viewer/image/DE-11-001796190/9/#topDocAnchor [Zugriff am 24.08.2019].

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Hilprecht 1903 Hermann Vollrat Hilprecht, Die Ausgrabungen der Universität von Pennsylvania im BēlTempel zu Nippur, Leipzig. Hilprecht 1904 Hermann Vollrat Hilprecht, Die Ausgrabungen in Assyrien und Babylonien, 1. Teil. Bis zum Auftreten De Sarzecs, Leipzig. Hitzig 1871 Ferdinand Hitzig, Sprache und Sprachen Assyriens, Leipzig. Hommel 1883 Fritz Hommel, Die vorsemitischen Kulturen in Ägypten und Babylonien; Die semitischen Völker und Sprachen als erster Versuch einer Encyclopädie der semitischen Sprach- und Alterthums-Wissenschaft. II.1, Leipzig. Hommel 1885 Fritz Hommel, Geschichte Babyloniens und Assyriens; Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen. II.2, Berlin. Jeremias 1903 Alfred Jeremias, Hölle und Paradies bei den Babyloniern, Leipzig. Jeremias 1904 Alfred Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des alten Orients, Leipzig. Jeremias 1905 Alfred Jeremias, Babylonisches im Neuen Testament, Leipzig. Kaulen 1891 Franz Kaulen, Assyrien und Babylonien nach den neuesten Entdeckungen, Freiburg i. Br. Kiepert 1883 Heinrich Kiepert, Zur Karte der Ruinenfelder von Babylon, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Band 18/1, 1–26. Kittel 1903 Rudolf Kittel, Die babylonischen Ausgrabungen und die biblische Urgeschichte, vierte Auflage, Leipzig. Layard 1854 Austen Henry Layard, Niniveh und seine Ueberreste. Nebst einem Anhang: Die ägyptischen Alterthümer in Nimrud und das Jahr der Zerstörung Niniveh’s, Leipzig. Lincke 1894 Arthur Alexander Lincke, Assyrien und Ninive in Geschichte und Sage der Mittelmeervölker (nach 607/06), Berlin.

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Niebuhr 1896 Carl Niebuhr, Die Chronologie der Geschichte Israels, Ägyptens, Babyloniens und Assyriens von 2000–700 v. Chr., Leipzig. Nolde 1895 Eduard Baron von Nolde, Reise nach Innerarabien, Kurdistan und Armenien 1892, Braunschweig. Oppenheim 1899/1900 Max von Oppenheim, Vom Mittelmeer zum Persischen Golf, durch den Ḥaurān, die Syrische Wüste und Mesopotamien, 2 Bde., Berlin. Peiser 1896 Felix Ernst Peiser, Skizze der babylonischen Gesellschaft; Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft, 3, Berlin. Petermann 1865 Julius Heinrich Petermann, Reisen im Orient, 2 Bde., zweite Auflage, Leipzig. Polaschegg 2007 Andrea Polaschegg, Durch die Wüste ins Reich des silbernen Löwen. Kara Ben Nemsi reitet durch den deutschen Orientalismus, in: Sabine Beneke / Johannes Zeilinger (Hrsg.), Karl May. Imaginäre Reisen. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin, 115– 136. Rich 1836/37 Claudius James Rich, Reise nach Kurdistan und dem alten Ninive, 2 Bde., Stuttgart. Rost 1897 Paul Rost, Untersuchungen zur altorientalischen Geschichte; Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft, 2, Berlin. Russegger 1843 Joseph Russegger, Reisen in Europa, Asien und Afrika, mit besonderer Rücksicht auf die naturwissenschaftlichen Verhältnisse der betreffenden Länder, unternommen in den Jahren 1835 bis 1841, 1. Band, 2. Teil, Stuttgart. Schmidt 2003 Hartmut Schmidt, „Will ganz für mich, ganz allein bleiben …“. Karl Mays Begegnung mit Max von Oppenheim in Kairo, in: Karl-May-Haus Information Nr. 16 vom 25.2.2003, Hohenstein-Ernstthal, 15–21. Schrader 1892 Eberhard Schrader, Keilinschriftliche Bibliothek. Sammlung von assyrischen und babylonischen Texten in Umschrift und Übersetzung, Band III, 2. Hälfte. Historische Texte des neubabylonischen Reichs, Berlin. Schweiger-Lerchenfeld 1882 Amand von Schweiger-Lerchenfeld, Der Orient, Wien / Pest / Leipzig.

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Slatin 1896 Rudolf Carl Slatin Pascha, Feuer und Schwert im Sudan, Leipzig 1896. Streck 1900 Maximilian Streck, Die alte Landschaft Babylonien, I. und II. Teil, Leiden. Tiele 1886 Cornelis Petrus Tiele, Von den ältesten Zeiten bis zum Tode Sargons II., Gotha. Tiele 1888 Cornelis Petrus Tiele, Von der Thronbesteigung Sinacheribs bis zur Eroberung Babels durch Cyrus, Gotha. Winckler 1900 Hugo Winckler, Die politische Entwicklung Babyloniens und Assyriens, Leipzig. Winckler 1902 Hugo Winckler, Die babylonische Kultur in ihren Beziehungen zur unsrigen, 2. Auflage, Leipzig. Zimmern 1903 Heinrich Zimmern, Biblische und babylonische Urgeschichte; Der Alte Orient. Gemeinverständliche Darstellungen. 2.3, 3. Auflage, Leipzig. 2) Nachschlagewerke Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und herausgegeben von J. S. Ersch und J. G. Gruber (1818– 1889), Leipzig. Brockhaus Conversations-Lexikon. Allgemeine Realencyclopädie in sechzehn Bänden (1882– 1887), Leipzig. Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, 1. Ausgabe (1824– 1856), Altenburg. Meyers Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 5. Auflage (1893–1899), Leipzig / Wien. Pierers Konversationslexikon mit Universalsprachenlexikon nach Prof. Joseph Kürschners System, 7. Auflage mit Supplementbänden (1888–1893), Stuttgart. 3) Kartenmaterial Graef 1870 (bearbeitet von A. u. C. Graef, Schrift von Kratz jun. u. G. Haubold, Terrain v. L. Kraatz), Vorderasien, umfassend Klein-Asien, Syrien, Arabien, Iran und Turan, Balutschistan, Afghanistan, die Länder am Euphrat und Tigris und die Kaukasusländer, M. 1:8.000.000, Weimar. Kiepert 1883 Heinrich Kiepert, Begleitworte zur Karte der Ruinenfelder von Babylon, Separatdruck aus der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. 1883, Heft 1: 1–26.

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Bibliografie Andrae 1952 Walter Andrae, Babylon: Die versunkene Weltstadt und ihr Ausgräber Robert Koldewey, Berlin. Andrae 1988 Walter Andrae, Lebenserinnerungen eines Ausgräbers, 2. Auflage, Stuttgart. Austilat 1992 Andreas Austilat, Durch die Wüste. Zum 150. Geburtstag von Karl May, in: Weltspiegel. Sonntagsbeilage des Tagesspiegels, 23. Februar 1992 / Nr. 14 122: 1. Campbell 1999 Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt. Freydank 2011 Ruth Freydank, „Sardanapal“ oder: „Das Theater ist auch eine Meiner Waffen.“ Geschichte einer Festaufführung im Königlichen Opernhaus, in: Mitteilungen der Deutschen OrientGesellschaft 143, 141–167. Grayson 1991 A. Kirk Grayson, Assyrian Rulers of the Early First Millennium BC, I (1114–859 BC). The Royal Inscriptions of Mesopotamia, Assyrian Periods, Vol. 2, Toronto / Buffalo / London. Gröttrup 2013 Hendrik Gröttrup, Wilhelm Wassmuss, der deutsche Lawrence, Berlin. Haas 1985 Volkert Haas, Die junge Wissenschaft Assyriologie in der Schönen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Wolfgang Schuller (Hrsg.), Antike in der Moderne, Konstanz, 71–104. Hentig 2009 Werner Otto von Hentig, Von Kabul nach Shanghai, Lengwil. Kandolf 1991 Franz Kandolf, Kara Ben Nemsi auf den Spuren Layards, in: Sudhoff / Vollmer 1991: 195– 201 [Neudruck aus Karl-May-Jahrbuch 1922: 197–207]. Klussmeier / Plaul 2007 Gerhard Klussmeier / Hainer Plaul, Karl May und seine Zeit. Bilder, Dokumente, Texte, 2. Auflage, Bamberg. Knoll 2004 Kordelia Knoll, Die Erwerbung der assyrischen Reliefs – »eine der werthvollsten, die seit langer Zeit von hier aus gemacht worden ist«, in: Skulpturensammlung im Albertinum Dresden (Hrsg.), Könige am Tigris. Assyrische Palastreliefs in Dresden, Mainz am Rhein. Kramer 2011 Thomas Kramer, Karl May. Ein biographisches Porträt, Freiburg i. Br. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Kreutzer 2012 Stefan M. Kreutzer, Dschihad für den deutschen Kaiser. Max von Oppenheim und die Neuordnung des Orients (1914–1918), Graz. Layard 1975 Austen Henry Layard, Auf der Suche nach Ninive, München [1. Auflage Leipzig 1854; Nachdruck der Ausgabe von 1965]. Lieblang 2010 Helmut Lieblang, Beim Turm von Babel. Karl Mays babylonische Abenteuer, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 2010: 95–136. Lieblang / Kosciuszko 2016 Helmut Lieblang / Bernhard Kosciuszko, Geografisches Lexikon zu Karl May. Band 2: Asien – Ozeanien, 2 Bde., Husum. Maier 2018 Katharina Maier, Moderne Helden: Welten retten mit Old Shatterhand, Superman, Gandalf, Mr. Spock und Sherlock Holmes, Bamberg / Radebeul. Neulen 1991 Hans Werner Neulen, Feldgrau in Jerusalem. Das Levantekorps des kaiserlichen Deutschland, München. Neumann 2014 Hans Neumann, Die Orientalische Frage im 19. Jahrhundert und ihre Folgen. Orientforscher im Dienst von Diplomatie und Spionage, in: Mitteilungen des Deutschen ArchäologenVerbandes e. V., Jahrgang 45, Heft 2, 60–72. Ozoróczy 1991 Amand von Ozoróczy, Karl May und sein Orient, in: Sudhoff / Vollmer 1991, 53–63. Pedde 2015 Friedhelm Pedde, Karl May und der Alte Orient, in: Alter Orient aktuell 13, 21–24. Place 1867 Victor Place, Ninive et L’Assyrie, Band 3, Paris. Polaschegg / Weichenhan 2017 Andrea Polaschegg / Michael Weichenhan (Hrsg.), Berlin – Babylon. Eine deutsche Faszination, Berlin. Rich 1818 Claudius James Rich, Memoir on the Ruins of Babylon, London. Ritter 1854 Carl Ritter, Die Erdkunde von Asien. Band VIII, 2. Abtheilung. Die Sinai-Halbinsel, Palästina und Syrien, Dritter Abschnitt. Syrien, Berlin.

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Rosen 1959 Friedrich Rosen, Aus einem diplomatischen Wanderleben, Band 3, Wiesbaden. Sämmer 2010 Wolfgang Sämmer, Karl Mays Drama ›Babel und Bibel‹ in der zeitgenössischen Presse. Eine Dokumentation, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 2010, 137–183. Sarre 1919 Friedrich Sarre, Kunstwissenschaftliche Arbeit während des Weltkrieges in Mesopotamien, Ost-Anatolien, Persien und Afghanistan, in: Paul Clemen (Hrsg.), Kunstschutz im Kriege. Berichte über den Zustand der Kunstdenkmäler auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen und über die deutschen und österreichischen Massnahmen zu ihrer Erhaltung, Rettung, Erforschung. Zweiter Band: Die Kriegsschauplätze in Italien, im Osten und Südosten, Leipzig, 191–203. Schweikert 2000 Rudi Schweikert, Babylon aus dem Lexikon, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 2000, 232–251. Schweikert 2007 Rudi Schweikert, „Pierer“-Naschereien. Übernahmen aus dem Lexikon in Karl Mays „Durch die Wüste“, „Durchs wilde Kurdistan“ und „Von Bagdad nach Stambul“. Sonderheft der Karl May-Gesellschaft 137. Schweikert 2009 Rudi Schweikert, Mekka, Damaskus, Baalbek. Schilderungen Karl Mays und ihre Quellen. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 140/2009. Schweikert 2010 Rudi Schweikert, Der Keilschriftentzifferer Kara Ben Nemsi. Karl May bedient sich bei Georg Friedrich Grotefend und Franz Kaulen. Weiteres zu Mays Vorlagen für seine BabylonSchilderungen, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 2010, 73–93. Schwenke 2018 Philipp Schwenke, Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste, Köln. Sudhoff 1987 Dieter Sudhoff, Geographische Predigten, in: Ueding / Tschapke 1987: 574‒575. Sudhoff / Vollmer 1991 Dieter Sudhoff / Hartmut Vollmer (Hrsg.), Karl Mays Orientzyklus, Paderborn. Twain 1984 Mark Twain, Die Arglosen im Ausland, Berlin / Weimar. Ueding / Tschapke 1987 Gert Ueding / Reinhard Tschapke, Karl-May-Handbuch, Stuttgart.

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Veltzke 2014 Veit Veltzke, Unter Wüstensöhnen. Die deutsche Expedition Klein im Ersten Weltkrieg, Berlin. Wiegand 1919 Theodor Wiegand, Denkmalschutz und kunstwissenschaftliche Arbeit während des Weltkrieges in Syrien, Palästina und Westarabien, in: Paul Clemen (Hrsg.), Kunstschutz im Kriege. Berichte über den Zustand der Kunstdenkmäler auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen und über die deutschen und österreichischen Maßnahmen zu ihrer Erhaltung, Rettung und Erforschung. Zweiter Band: Die Kriegsschauplätze in Italien, im Osten und Südosten, Leipzig, 174–190. Wiegand 1985 Theodor Wiegand, Halbmond im letzten Viertel. Archäologische Reiseberichte, 2. Auflage, Mainz am Rhein. Wiegmann 1987 Hermann Wiegmann, C.I.1. Der Orientzyklus, in: Ueding / Tschapke 1987: 177–205. Wohlgschaft 1991 Hermann Wohlgschaft, Der Einfluss des Assyriologen Friedrich Delitzsch auf Karl Mays „Babel und Bibel“ und sein Spätwerk überhaupt, in: Mitteilungen der Karl May-Gesellschaft 89, 4–12. Wollschläger 1990 Hans Wollschläger, Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Interpretation zu Persönlichkeit und Werk. Kritik, Dresden.

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„Immerhin mögen die Assyrer als die treuesten Verwahrer dieses ursprünglichen Motives gelten“ 1 Gottfried Semper und die Assyrer. Eine Annäherung Ellen Rehm / Wien Mit Gottfried Semper verbindet man zunächst historistische Architektur. Als Vertreter der Neo-Renaissance2 sind für ihn Bauten wie die Oper in Dresden, die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich und seine Wiener Museumsbauten typisch. Seine Hingabe zur Antike zeigt sich in seinen Ausstattungen wie im Dresdner Japanischen Palais3; nicht nur dort ist der Dekor stark an der römischen Wandmalerei orientiert. Auf den ersten Blick ist keine Verbindung mit dem Alten Orient fassbar. Biografisches Zunächst ein paar Worte zu Sempers Leben4. Geboren 1803 in Hamburg als Sohn eines wohlhabenden Wollfabrikanten, immatrikulierte er sich nach dem Abitur in Göttingen für Mathematik, hörte aber auch bei dem Altphilologen Arnold Ludwig Hermann Heeren (1760–1824) und dem Altphilologen und ‚Archäologen‘ Karl Otfried Müller (1767–1840)5. Sein Berufsziel war Artillerieoffizier, die entsprechende Prüfung legte er erfolgreich ab. Das Göttinger Studium hingegen gab er nach zwei Jahren auf, um in München bei Friedrich von Gärtner (1791–1847) Architektur zu studieren. Ein Duell zwang ihn, das Land zu verlassen und er setzte 1826 seine Ausbildung bei Franz Christian Gau (1790–1853) in Paris fort. Hier lernte er Jakob Ignaz Hittorff (1792–1867) kennen, der nach seinen Funden an einem Tempel in Selinunt die antike Polychromie erforschte und 1830 mit dem Aufsatz De l’architecture polychrôme chez les Grecs, ou restitution complète du temple d’Empédocles dans l’acropolis de Sélinunte6 eine Diskussion über die Farbigkeit der antiken Baudenkmäler in Gang setzte. Das war für Semper der Anstoß, sich mit diesem Thema ebenfalls ausführlicher zu beschäftigen, was ihn letztendlich zu den vorgriechischen Kulturen, zu den Ägyptern und Assyrern, führte. Zuvor aber reiste er drei Jahren durch Italien und Griechenland. Ziel waren die antiken Stätten wie Pompeji und Athen auf der Suche nach Resten von antiker Bemalung7; in Aegina half er Friedrich 1

Sempers Vergleichende Baulehre. 10. Kapitel. Assyrisch-Babylonische Baukunst, ungedruckt, siehe Herrmann 1981: 197. Semper in Bezug auf die ursprüngliche Wandgestaltung durch Stoff hinsichtlich seiner Bekleidungstheorie, siehe hier S. 545. Mein Dank für die Durchsicht meines Manuskripts geht an Johannes Bauer. 2 Ziesemer 1999: 95. 3 Ziesemer 1999: 71–86, Abb. 22–33; Nerdinger / Oechslin 2003: 144–149. 4 Staatliche Kunstsammlungen 1980; Nerdinger / Oechslin 2003; auch im Folgenden. 5 Nickau 1989: 35. 6 Annali dell’Instituto di correspondenza archeologica 2: 263–284. 7 Moeller 2003. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Thiersch (1784–1860) bei den Ausgrabungen des Aphaia-Tempels. Im Jahr 1834 wurde er dann auf Gaus Empfehlung Professor für Architektur an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste in Dresden und unter anderem Mitglied im dortigen Verein der sächsischen Alterthumsfreunde. Bekannte Bauten wie das Hoftheater, die Gemäldegalerie, die Synagoge sowie die Villa Rosa entstanden und prägten die Stadt. Als im Mai 1849 die Revolution in Dresden ausbrach, war der Republikaner Semper8 zusammen mit Richard Wagner (1813–1883) auf der Seite der Aufständischen. Semper war als Architekt besorgt über die „höchst fehlerhafte Konstruktion“ der Barrikaden, trat dem Verteidigungskomitee bei und veranlasste, dass die Barrikaden in solcher Qualität erbaut wurden, dass sie nicht zu erstürmen, nur zu umgehen waren9. Als der Aufstand nach sechs Tagen niedergeschlagen wurde, musste er fliehen, da er steckbrieflich gesucht wurde10. Seine Frau und seine sechs Kinder ließ er zurück; er sollte sie erst Jahre später in England wiedersehen. Er wurde wie Wagner aus dem sächsischen Staatsdienst entlassen11. Semper reiste zunächst nach Karlsruhe, wo sich die revolutionäre Regierung Badens bis zum Einmarsch der preußischen Truppen im benachbarten Rastatt bis Juli 1849 halten konnte. Von dort ging er rechtzeitig im Juni 1849 nach Paris und wurde von seinem ehemaligen Lehrer Gau aufgenommen. Aber im Exil war es trotz Hilfe seiner Freunde schwierig, adäquate Arbeit zu bekommen. Wie viele ehemalige Revolutionäre erwog er schweren Herzens, nach Amerika auszuwandern12, denn eine Rückkehr nach Dresden war trotz der von seiner Frau forcierten Vorstöße beim sächsischen König nicht möglich. Die Abreise wurde geplant, und Semper schon als Passagier am Bord, als ihn aus London ein Brief von dem ihm persönlich nicht bekannten Deutschen Emil Braun (1809–1856), dem mit der Engländerin Anne Thomson verheirateten Sekretär des Istituto di Correspondenza Archeologica (später Deutsches Archäologisches Institut) in Rom, erreichte13. Dieser war ein umtriebiger Mensch mit vielseitigen Interessen, der über weitreichende Kontakte verfügte14. Obwohl kein konkretes Arbeitsangebot seitens Braun vorlag, fuhr Semper in der 8

Staatliche Kunstsammlungen 1980: 53–56; Nerdinger / Oechslin 2003: 24–25. Herrmann 1978: 10. 10 Staatliche Kunstsammlungen 1980: 67, Nr. 157. 11 Staatliche Kunstsammlungen 1980: 67–68, Nr. 158. 12 Herrmann 1978: 27–31. 13 Zu Braun siehe Weidmann 2014: 4–6 und vor allem Schmidt / Schmidt 2010. Braun, der als Leiter des Instituts in Rom von 1840 bis 1856 agierte, machte Semper mit dem Gesundheitsreformer Edwin Chadwick (1800–1890) bekannt. Dessen bauliche Projekte sollte Semper umsetzen. Es handelte sich um Anlagen von großen nationalen Friedhöfen. Ihre Notwendigkeit war durch die Cholera-Epidemie deutlich geworden, die größere Hygiene bei den Bestattungen verlangte. Dieses Unternehmen scheiterte aber aus politischen Gründen. Die rückgängigen Cholera-Fälle ließen den Druck auf diese Umstrukturierung sinken. Zu Chadwick siehe Weidmann 2014: 7–14. 14 Der in Gotha geborene und in Leipzig promovierte Braun stellte unter anderem auch Galvanoplastiken und Gipsabgüsse her; so gab man bei ihm 1000(!) Abgüsse für den Crystal Palace in Sydenham in Auftrag: Schmidt / Schmidt 2010: 7 bzw. 68. Zudem arbeitete er erfolgreich als Kunstagent für den Sammler Bernhard August von Lindenau in Altenburg, war aber auch als homöopathischer Arzt tätig, siehe Fastenrath Vinattieri 2004. 9

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Hoffnung nach England15, dort eine passende Anstellung zu bekommen – auch im Hinblick auf seine Frau, die nicht nach Amerika wollte. Aber sein Aufenthalt in London glich dem in Paris. Er fand Unterstützung, es gab immer neue Pläne für eine Stelle, die aber alle scheiterten. Erst ein Treffen mit Henry Cole (1802–1882) im Dezember 1850 sollte sich auf die Dauer als hilfreich erweisen. Cole war der Initiator der ersten Weltausstellung 1851, Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations, die auf einer Idee der Royal Society of Arts gründete. Für diesen Plan konnte Cole den Prinzen Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, den Gemahl der Königin Victoria, gewinnen, der sich mit Elan dieses Projektes annahm. Die Ausstellung fand 1851 im Crystal Palace im Hyde Park in London statt. Nur wenig später war Cole der Gründungsdirektor des South Kensington Museum, des heutigen Victoria & Albert Museum. Cole war eine einflussreiche Persönlichkeit, so geht auf ihn auch die Convention for Promoting Universally Reproductions of Works of Art for the Benefit of Museums of All Countries zurück, die auf der Weltausstellung 1867 in Paris unterzeichnet wurde und die eine internationale Zusammenarbeit in Kunst und Kunsthandwerk beschwor16. Als Semper nach London kam, war der Bau des Crystal Palace im Gange, der von Cole persönlich beaufsichtigt wurde. Semper forcierte den Kontakt zu Cole mit dem Ergebnis, dass dieser ihm wirklich zu einer Anstellung bei der Ausstellung verhalf: Semper entwarf für kleinere Länder, die kein eigenes Personal vor Ort hatten, die Stände17. Diese Tätigkeit und seine fast täglichen Besuche der Ausstellung18 schärften seinen Geist bezüglich seiner Kunstauffassung19 zu Beginn der Industrialisierung – Stillosigkeit moderner Produkte versus naturnahe Stilsicherheit primitiver Völker – und beeinflussten seine späteren Schriften20 und seine Theorienbildung21. Ebenso wollte er seine Gedanken der Allgemeinheit nahebringen und schrieb für die 15 Für Sempers Zeiten in England siehe Herrmann 1978; Reising 1978; Hildebrand 2003; Weidmann 2014. 16 Lending 2014: 199−201; Lending 2017: 21–24. Ihr Ziel war die Produktion und den Austausch von Kopien, Galvano-Plastiken und Fotografien zu fördern. In jedem Land sollte sich eine Kommission finden, die eine Liste von altehrwürdigen und repräsentativen historischen Monumenten zusammenstellte, die für diesen Austausch geeignet wären. So sollte es an unterschiedlichen Orten den Besuchern möglich sein, die gleichen Stücke betrachten zu können. Der Vertrag wurde von den Monarchen beziehungsweise deren Stellvertretern der Länder Großbritannien & Irland, Preußen, Hessen, Sachsen, Frankreich, Belgien, Russland, Schweden & Norwegen, Italien, Österreich sowie Dänemark unterzeichnet. 17 Siehe Ziesemer 1999: 159–160; Laudel 2003: 275–278. Vgl. auch Mallgrave 2002. 18 Moravánszky 2018: 93. 19 Semper 1852b. 20 Herrmann 1978: 52. 21 Die bei Semper 1851a bzw. 1851b: 55 vorgestellte Theorie der Architektur mit seinen vier Elementen fußt auf einer auf der Ausstellung 1851 präsentierten karibischen Bambushütte (Semper 1863: 276 [Abb.]): „Er (der Herd) ist das erste und wichtigste, das moralische Element der Baukunst. Um ihn gruppiren sich drei andere Elemente, gleichsam die schützenden Negationen, die Abwehrer der dem Feuer des Herdes feindlichen drei Naturelemente; nämlich das Dach, die Umfriedigung und der Erdaufwurf)“.

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deutsche Ausgabe der Illustrated London News einen Bericht über diese Ausstellung22. Nach langen Jahren der Unsicherheit verschaffte ihm Cole 1852 eine Festanstellung – im neu gegründeten Department of Practical Art der School of Design23. Semper konnte endlich seine Familie nachkommen lassen. Anfang 1854 erhielt er zudem den Auftrag für die Ausstattung des Mixed Fabrics Court24 im neu errichteten Crystal Palace in Sydenham25, einer der kommerziellen Courts dieses ‚Freizeitparks‘. Die neu an die Bahn angeschlossene Anlage im Süden von London bestand aus einem parkartigen, mit Wasserspielen bestückten großen Außenbereich, der verschiedene Themenbereiche, wie zum Beispiel Extinct Animals mit in die Landschaft gesetzten, frei modellierten Plastiken ausgestorbener Tiere26, aufwies. Im Inneren befanden sich Verkaufsabteilungen, aber ebenso Nachbauten von Gebäuden verschiedener vergangener europäischer und außereuropäischer Kulturen, die die Highlights des Crystal Palace darstellten27 und die Besucher eine Art Grand Tour erleben ließen28. Dazu gehörte der Nineveh Court oder Assyrian Court mit Gipsabgüssen nach den gerade entdeckten neuassyrischen Reliefs, die sich vor allem in London im British Museum, aber auch im Louvre von Paris befanden und noch befinden29. Durch die Vermittlung seines Freundes aus Dresdner Tagen, Richard Wagner, bekam Semper 1854 das Angebot, eine Professur der Baukunst am neu einzurichtenden Züricher Polytechnikum anzunehmen30. Nach einigem Zögern sagte er zu, da er in England – auch wegen der Sprachschwierigkeiten, seines fehlenden Bekanntheitsgrads sowie der Ablehnung durch die dortigen Architekten – keine ihm angemessene Zukunft sah. Gerade jetzt tat sich aber in England eine Chance auf, denn Prinz Albert wollte ein neues Museum (Kensington Museum) bauen und schlug Semper als Architekten vor!31 Dieser schickte daraufhin Entwürfe, die aber als zu kostspielig in der Umsetzung angesehen wurden. Das Department of Practical Art vermisste ihn als Lehrer mit seiner aus Zentraleuropa mitgebrachten neuen Unter22

May 1979. Siehe auch Herrmann 1981: 101–104, Nrn. 94–96. Herrmann 1978: 71. 24 Herrmann 1978: 81; Ziesemer 1999: 160–161; Plan und Aufriss: Nerdinger / Oechslin 2003: 285–287, Nr. 71. 25 Piggott 2004: Gesamtplan der Anlage S. 140–141; Grundriss der Halle: Nichols / Tuner 2017: 5, Abb. 1.3. 26 Piggott 2004: 158–164. Benjamin Waterhouse Hawkins (1807–1894) entwarf diese Figuren aus Steinen, Eisen und Beton nach den Entwürfen des Naturforschers Richard Owen (1804– 1892). Sie sind heute noch im Crystal Palace Park erhalten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden sie restauriert. 27 Zur Marginalität der Verkaufsshops vgl. Herrmann 1978: 83: “Many a day will spend in the building without knowing … that there are shops or exhibitors at all” (zeitgenössischer Bericht). 28 Vgl. auch Lending 2015: 9. 29 Siehe zusammenfassend: Rehm 2018: 10–15; zur Rekonstruktion des Pavillons mit seiner Innenausstattung: Rehm im Druck. 30 Herrmann 1978: 87; Kröger 2015: 12–15. 31 Ob die beiden sich je begegnet sind, ist unbekannt; wenn, dann erst wenige Tage, bevor Semper nach Zürich gehen sollte: Weidmann 2014: 26. 23

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richtsstruktur in Form des Ateliersystems32 schmerzlich, weswegen Cole versuchte, ihn zurückzuholen. Semper verhandelte, war sich unschlüssig33 und hielt bis 1857 Kontakt mit Cole34. Letztendlich sagte er London ab und blieb seit 1855 in der Schweiz35, wo er unter anderem das Gebäude für die Eidgenössische Technische Hochschule entwarf, das 1864 fertiggestellt wurde36. Im Jahr 1871 zog er wegen der Arbeit an den dortigen Museumsbauten nach Wien, 1877 nach Italien, wo er in Rom 1879 starb. Dort ist er auch begraben. Semper und der Alte Orient Schon vor der Flucht aus Dresden 1849 und dem Kontakt mit den Originalen im Louvre beschäftigte sich Semper mit dem Alten Orient. Kenntnis bekam er im Jahr 1848 durch den Artikel Das assyrische Museum im Louvre zu Paris in den Ephemeriden für das Baufach, der Beilage zur Allgemeinen Bauzeitung37. Der Bericht beschreibt nach einer geschichtlichen Einführung, die vor allem auf Bibelerzählungen beruht, alle in Paris ausgestellten Denkmäler ausführlich im Detail. Hierbei wird schon der später so wichtige Bezug zur griechischen Kunst hergestellt: „In demselben Saal bemerkt man ein Basrelief, das drei Krieger vorstellt, von denen die beiden ersten Pferde von vortrefflicher Stellung und Zeichnung führen. Man ist anfänglich erstaunt über die Aehnlichkeit dieser Pferde mit denen in den griechischen Skulpturen der archäischen Epoche“38. Über den Löwen des Sechslockigen Helden aus Khorsabad ist zu lesen: „Der Schmerz und Krümmungen des Thieres sind mit bewunderungswerter Kraft dargestellt. Wir fürchten es nicht zu behaupten, daß die Löwenmäuler am Pantheon nicht kräftiger ausgedrückt oder besser ausgeführt sind als die von Khorsabad“ – auch wenn Kritik an der Komposition geübt wird: „Dennoch muß man gestehen, daß der allgemeine Anblick dieser Figuren wegen der unglücklichen Stellung der Beine im Profil zu einem ganz von vorn dargestellten Körper widerwärtig ist“39. Dass Semper diesen Artikel nicht nur las, sondern sich in Folge damit beschäftigte, belegt ein Manuskript für einen Vortrag über die altorientalische Baukunst von 184840 im Semper-Archiv41. Er beschaffte sich auch weitere Literatur dazu, wie aus

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Zur Struktur vgl. zum Beispiel Herrmann 1978: 73. Herrmann 1978: 91–92. 34 Maurer 2003: 309. 35 Hauser 2003. Für Sempers Schweizer Jahre siehe Kröger 2015. 36 Staatliche Kunstsammlungen 1980: 79–81. 37 Ephemeriden 1848: 265–278; vgl. Herrmann 1978: 25. 38 Ephemeriden 1848: 270. 39 Ephemeriden 1848: 271. 40 20-Ms-32: „Vorles [gestrichen] Vortrag. d. 11 Nov 1848. Häuserbau (Palastbau) bei den Babyloniern, Assyriern und Persern“. 41 Semper-Archiv im Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Insgesamt handelt es sich um etwa 35 Skizzen, meist Durchpausen von Plänen, Grundrissen, Aufrissen sowie von Reliefs nach Layard, Botta etc. sowie wenige eigene Zeichnungen (siehe hier Abb. 2, 3, 6). Hinzu kommen Manuskripte. 33

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seiner Korrespondenz hervorgeht. So schrieb er auf seiner Flucht von Karlsruhe aus an seinen Bruder, mit Bitte um Weitergabe an seine Frau in Dresden, sie möge ihm doch Unterlagen zukommen lassen, damit er wie versprochen, diese in einem Buch publiziere. Neben verschiedenen Heften nennt er auch „Mehrere Zeichnungen … sie sind für die Holzschnitte vorbereitet. Ein Theil dieser Zeichnungen (die Durchpausen aus dem Werk von Ninive) liegen in meinem Bücherschrank in einem der Schiebpulte“42. Gemeint mit dem Buch über Ninive ist entweder Monument de Ninive von Paul-Émile Botta oder The Monuments of Nineveh von Austen Henry Layard, die beide 1849 erschienen43 sind. Semper nahm Bezug auf beide Werke44: Layard wird später von ihm zitiert45 und Kopien aus beiden Büchern existieren im SemperArchiv. Als Beispiel soll Sempers Zeichnung des Sechslockigen Helden aus Khorsabad nach der Vorlage von Botta, Taf. 47, dienen (Abb. 1), die in den Maßen (Höhe 48 cm) genau der veröffentlichten Abbildung entspricht, also eine „Durchpause“ ist. Da Botta bekanntermaßen den Fundort für Ninive hielt und dementsprechend sein Buch betitelte, könnte die Zeichnung, die den Vermerk „1849“ trägt, zu dem oben erwähnten Brief passen. Mit dem im Brief genannten, zu schreibenden Buch ist die Lehre der Gebäude gemeint, für das er bereits 1843 einen Vertrag um 1500 Gulden mit dem Herausgeber Eduard Vieweg (1797–1869)46 abgeschlossen hatte. Semper stellte dieses Buch allerdings nie fertig47. Mitten in seinem Kapitel für den „Häuserbau bei den Babyloniern, Assyrern, Medern und Persern“ bricht er zunächst das Manuskript ab48. Neben der Tatsache, dass er Geld „durch leidge Brodarbeiten“ verdienen musste, war ein weiterer Grund, dass er mit der neuen Kenntnis über die vorderasiatischen Kulturen das Manuskript umarbeiten musste49. Später schickte er seinem Verleger 380 eng beschriebene Seiten über die Wohnbauten in Mesopotamien, China, Indien und Ägypten, ohne das Werk aber je zu vollenden. Neben dem Zugang zu den nun erschienenen Publikationen über die Ausgrabungen der assyrischen Paläste war es Semper zudem in Paris möglich, die Stücke zu besichtigen, die im 1847 eröffneten Musée Assyrien zu bewundern waren. Von einer Löwenfigur mit Öse, einem der ersten gefundenen Objekte in Khorsabad, und einem

Mein Dank für eine Bestandsliste geht an Muriel Pérez. Für weitere Abbildungen siehe auch Chestnova 2018. 42 Herrmann 1978: 12. 43 Frühere Zeichnungen von Botta finden sich meines Wissens sonst nur in den Lettres de M. Botta sur ses découvertes à Ninive I–V, publiziert im Journal asiatique 4. Serie (1843/44): Band 2, 61–72, 201–214; Band 3, 91–103, 424–435; Band 4, 301–314. Da Semper aber vom „Werk von Ninive“ spricht, wird wohl eine Monografie gemeint sein. 44 Semper 1851a bzw. 1851b: 10: „Nicht minder wichtig für unser Interesse sind die bekannten assyrischen Entdeckungen, deren Resultate jetzt in zwei schönen Werken dem Publicum vorliegen und in den beiden Hauptstädten Europas sogar zum Theil in Wirklichkeit vor Augen gestellt sind.“ 45 Semper 1860: 226. 46 Siehe zu dem Verleger und seinem Verhältnis zu Semper auch Herrmann 1976. 47 Siehe auch Hvattum 2017: 4. 48 Herrmann 1978: 19. 49 Herrmann 1978: 25. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Lamassu fertigte er sogar Zeichnungen an (Abb. 2–3). Die Figur des kauernden Löwen – heute auch als Gewicht50 gedeutet, in der Literatur aber meist als Türstrickhalter51 bezeichnet, weil sie im Torbereich gefunden wurde – hatte eine besondere Bedeutung für Semper52. Für ihn unterstützte sie seine Bekleidungstheorie (siehe S. 547), die besagt, dass Stoffe grundsätzlich, nicht nur als Wandverkleidung, einst eine sehr wichtige Position einnahmen: „Die schönen Bronzelöwen, die Meisterstücke Assyrischer Plastik, die man links und rechts in den Ecken der Portale zu Chorsabad in den Fußböden eingediebelt fand, hatten ohne Zweifel die Bestimmung, die Vorhänge53 daran zu befestigen, die den Eingang schützen sollten“54. Semper sah im Louvre nicht nur die öffentlich zugänglichen Objekte, sondern konnte sich zudem durch die Vermittlung von Charles Blanc55 ebenso die Funde im Depot anschauen56. Es ist anzunehmen, dass Semper sich in seiner Londoner Zeit zwischen 1850 und 1855 eingehend mit den Reliefs im British Museum beschäftigte, auch wenn meines Wissens dazu keine Unterlagen existieren57. Immerhin wurden 1851 ein langer und 1852 ein kurzer Artikel vom ihm über Polychromie in englischen Fachzeitschriften publiziert, bei denen auch die Assyrer erwähnt wurden (siehe unten). Ebenso kann man davon ausgehen, dass er sich als einer der Gestalter des in Sydenham neu eröffneten Crystal Palace den dort vorhandenen Nineveh Court angeschaut hatte. Gerade dieser wird ihn in Hinblick auf die bemalten Gipse sicher besonders interessiert haben.

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Diese Interpretation bei Braun-Holzinger 1984: 112 zu Nr. 384. Orthmann 1975: 297–298 geht davon aus, dass der Löwe mit einem Dübel an der Unterseite befestigt gewesen und oberhalb ein Ring in die Mauer eingelassen war, dass man einen Strick daran befestigen konnte. 52 Vgl. Sempers Manuskript zum idealen Museum. Dort erwähnt er auch assyrische und babylonische Objekte, aber ohne genaue Bestimmung. Nur die Löwenfigur wird präzisiert; “The beautiful Lion[sic] with the ring on the neck …”: Noever 2007: Manuskriptseiten 62, 122, 140, 160a, 161, 166, 170, 183 bzw. 182 (Löwenfigur). 53 Semper 1860: 279 geht von folgender Prämisse aus: „Dazu kommen die Portieren oder Thürvorhänge, welche in dem klassischen Alterthume sehr ausgedehnte Anwendung finden mussten, da sich in dem Innern der Häuser sehr wenige Spuren von früheren eigentlichen Thürverschlüssen aus Holz oder Metall zeigen“. 54 Herrmann 1981: 198 (= Vergleichende Baulehre). Semper irrt allerdings bzgl. der Anzahl, es wurde nur ein Löwe gefunden, auch wenn die Fundsituation auf eine parallele Anlage schließen lässt (Botta / Flandin 1850: 45). 55 Herrmann 1978: 25 Anm. 91 bezeichnet Blanc als Direktor. Generaldirektor der Staatlichen Museen war im fraglichen Zeitraum (1850–1852) allerdings Alfred Émilien O‘Hara, Comte de Nieuwerkerke; Abteilungsleiter für die Antiken war Adrien de Longpérier, der auch die Sammlungsführer veröffentlichte: Notice des Monuments Assyriens (Auflagen 1849, 1852, 1854). Charles Blanc hingegen war Direktor der Abteilung für Schöne Künste im Pariser Innenministerium 1848 bis 1852 und von 1870 bis 1873. 56 Herrmann 1978: 25; Laudel 2007: 15. 57 Hvattum 2017: 6 kann sich sogar vorstellen, dass Semper vor Ort war, als die Lamassu angeliefert wurden. 51

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Letztendlich lassen sich drei Themen benennen, an denen Semper hinsichtlich der Assyrer für seine theoretischen Untersuchungen interessiert war: Polychromie, Kunsthandwerk sowie Stil. Polychromie Nachdem man bereits in der Renaissance eine Diskussion um disegno (Zeichnung) und colore (Farbe) geführt hatte, war im 18. Jahrhundert die Frage durch Johann Joachim Winckelmann (1717−1768) zugunsten der Zeichnung und „farbbereinigten“ Form entschieden worden. Zu seiner Zeit war die Vorstellung einer farbigen Plastik nicht mehr möglich. Als man zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr Reste von farbigen Architekturelementen fand, nahm die Diskussion einen erneuten Aufschwung58. Neben den bereits erwähnten Schriften von Hittorff ist auch Franz Kugler (1808–1851) zu nennen. Er geht 1836 aufgrund der gefundenen Farbspuren davon aus, dass die antiken Gebäude und Skulpturen zumindest in Teilen bemalt waren. Kugler schlägt einen Kompromiss, die „Mittelstrasse“, vor: soviel Bemalung wie nötig (um wichtige Elemente zu betonen) – ansonsten so wenig Bemalung wie möglich59. Semper, der als Architekturprofessor und Denkmalpfleger in Dresden die Neuaufstellung der Antikensammlung zu gestalten hatte und damit in direktem Kontakt mit antiken Monumenten stand60, war sein Kontrahent61. Seine Polychromie-Vorstellungen aus den Jahren 1851/52 basierten auf dem Leitsatz „Ueberall, wo Leben ist, dort ist auch lebendige Farbe“62 und auf Kontinuität: “Much light may doubtless be thrown upon the subject of Greek polychromy by the investigations of the monuments, the paintings, and the miniatures of the first ages of the Christian era, especially in those countries which were at one time the seats of ancient civilization; and it is with great interest that we look forward to the publication of the Mosque of Santa Sophia, and other edifices of late antiquity, which have been promised to us. But what have most assisted in the investigation of ancient polychromy are the 58

Koch / Höcker / Neudecker 2001. Kugler 1836: 62–66, 75: „So finden wir denn in der Architektur, sowie in der Sculptur der Griechen, deren Vereinigung an den grossen Tempelanlagen stets ein grosses Gesammtwerk erscheinen liess, das Gesetz der reinen, einfachen Form allerdings als das eigentliche und bestimmende festgehalten; wir finden aber zugleich, dass in beiden die Farbe hinzutritt, wo die Form zur vollkommenen Darstellung des Zweckes nicht hinreicht; dass sie vornehmlich dort abgewandt ist, wo das leichtere Verständnis des Ganzen eine Sonderung und schärfere Bezeichnung der Theile wünschenwerth macht, und dass sie endlich, ihrer Natur gemäss, mannigfaltig zur weiteren Ausschmückung benutzt wird. Diese Ansicht, die auf gleiche Weise von historischen Zeugnissen wie von den inneren, in der Kunst liegenden Gründen unterstützt wird, dürfte den streitigen Meiningen über Polychromie eine richtige Mittelstrasse bezeichnet haben“. 60 Staatliche Kunstsammlungen 1980: 102. 61 Semper 1851a bzw. 1851b. In diesem Buch greift er Kugler persönlich an, der sich gegen ihn gestellt hatte. Zu seiner Position innerhalb der Debatte vgl. Ziesemer 1999: 52–56; Oechslin 2003: 93–94; Neubauer 2007. 62 Semper 1851a bzw. 1851b: 15. 59

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discoveries in Assyria, and the better acquaintance with the monuments of Persepolis and of Egypt; which latter now appear more closely connected with the works of other nations. The monuments of Athens have also been the object of new and scrupulous research, which has led to the discovery of important principles both in form and colour, the result of which will form another valuable addition to the works of the Dilettanti Society”63. Demzufolge musste es seiner Meinung nach auch in der Antike diese Farbigkeit gegeben haben: „Denken wir uns die Antike vielfarbig, so tritt sie in die Verwandtschaft der orientalischen Kunst und des Mittelalters. Die monochrome Antike würde ein Phänomen sein, das aller geschichtlichen Herleitung entbehrte“64. Dafür stand er auch ein, als farbige Gipse im Greek Court im Crystal Palace in der Presse angegriffen wurden65. Semper setzte sich 1860 in seinem Buch Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik sehr intensiv mit den Materialien der farbigen assyrischen Ziegel auseinander: „Untersuchungen der ninivitischen Glasurfarben, glaube ich, fehlen noch; dagegen haben Dr. Percy und Sir Henry De la Bèche, die Vorsteher des Museums für praktische Geologie zu London, die babylonischen Ziegelglasuren sorgsam analysirt“66. Semper war an der Zusammensetzung der Farben interessiert; so hatte er zuvor auf seinen Reisen nach Italien und Griechenland Farbproben genommen, die sein Bruder, ein Chemiker, analysierte67. In Bezug auf den assyrischen Wanddekor schreibt er: „Nach Layard sind die Malereien der Wände zu Nimrud mit starken schwarzen Umrissen umzogen und durchwirkt; der Grund ist blau oder gelb“68. Die kräftigen Farben bestätigten Sempers Ansicht, dass es in der Antike „keine gebrochenen Halbtöne der Farbe“ gab69. 63

Semper 1851c: 233. Ein Jahr später werden die Resümees nochmal publiziert, vgl. Semper 1852a: 112, Nr. 1: “1. The custom of painting edifices was general among ancient nations; and it was intimately united, and almost identical, with the use of stucco”. 113, Nr. 8: “… Recent researches on the monuments of Assyria and Egypt have shown that the forms of Doric architecture were derived from Egypt, while those of Ionia came from Assyria, or at least from some Asiatic country of common origin. It may, therefore, be presumed that the different modes of music and of Greek polychromy were derived from the same sources. The Doric style in music and in polychromy was Egyptian, as the Ionic was Asiatic …”. 64 Semper 1884: 251 mit Anm. *. Siehe auch Semper 1851: 65: „Bei so allgemeiner Verbreitung des Täfelns, Bekleidens und buntfarbigen teppichartigen Ausschmückens der Wände müsste es Wunder nehmen, wenn die Griechen, deren Kunst auf den Traditionen anderer Völker fußte, nicht auch hierin wenigstens einen großen Theil des Herkömmlichen beibehalten hätten“. 65 Semper 1854; siehe auch hier Anm. 71. 66 Semper 1860: 356. Vgl. Semper 1863: 156–159 zu Fayencen im Allgemeinen. 67 Neubauer 2007: 213. 68 Semper 1851a bzw. 1851b: 61. Dafür, dass damalige Beobachtungen nicht der Fantasie entsprachen, vgl. Semper 1860: 360: „Ausserdem will Herr Flandin an allen nicht anders bemalten Theilen der Basreliefs von Chorsabad einen ockergelben Grund gefunden haben, so dass also die Inkarnate der Figuren, die Gewänder und der Grund gleichförmig gelb angestrichen gewesen wären“ mit Gebhard et al. 2009: 339: “By visual examination of the objects …. traces of pigments or remains of a prime coat were found … the area … has a pale brownishwhite layer that can be attributed to a rime coat or colour”. Auch bei dem Dresdner Relief © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Trotz zahlreicher Belege hielt – und hält auch immer noch – die Diskussion über die allgemeine Polychromie an. Obwohl sie bewiesen war, stellte ihre Umsetzung für die ästhetisch anders geprägten Wissenschaftler und Kunstfreunde vor allem bezüglich der Skulptur ein großes Problem dar. Auch die Abgüsse im oben erwähnten Greek Court waren weiß70 – bis auf Teile des Parthenon-Frieses, am dem verschiedene Farbmöglichkeit gezeigt wurden, was heftige Anti-Reaktionen hervorrief – und blieb damit bei bekannten Sehgewohnheiten71. Die Farbigkeit überließ man den ‚barbarischen‘ Kulturen wie den Ägyptern und Altorientalen. Die PolychromieDiskussion bezüglich der Klassischen Antike war weiterhin offen, so fragte der Direktor der Dresdener Antikensammlung noch 1884 provokativ: „Sollen wir unsere Statuen bemalen?“72. Wenn man die Farbigkeit an Gipsabgüssen versuchsweise umsetzte, wie bei dem oben erwähnten Greek Court, wurden diese Proben oft vernichtend bewertet, so ebenso von Friedrich Koepp (1860–1944) zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Einen gewaltigen Unterschied zwischen unseren Abgüssen und dem ursprünglichen Aussehen der Originale bedingt aber das Fehlen der Farben … (Arthur) Milchhöfer (1852–1903, Vorgänger von Koepp an der Universität Münster) hatte bei einigen Abgüssen unserer Sammlung den Versuch gewagt, die einstige Polychromie, wie er sie sich dachte, herzustellen. Der Versuch ist mißlungen und mußte, nach der Art des Abgußmaterials und nach dem Maß unserer Kenntnis, mißlingen: den schlimmsten Beweisstücken dieses Mißlingens ist auf der Galerie ein möglichst unschädlicher Platz zugewiesen worden, während einigen Stücken mit minder anstößiger Polychromie eine Stelle in der Sammlung gegönnt wurde. Wir entnehmen zahlreichen Spuren … die Gewißheit, daß Polychromie in der griechischen Bildkunst … eine sehr große Bedeutung hatte … Aber wir müssen uns hüten, das für das eine Denkmal durch Spuren Bewiesene auf ein anderes zu übertragen … und wir müssen bedenken, daß der Weg von Beobachtung erhaltener Spuren bis zur Herstellung der ursprünglichen Farbwirkung zum mindesten die gleichen Gefahren

wurden beigefarbene Farbreste auf den Hintergründen festgestellt: Thiemann 2009: 74 mit Anm. 189. 69 Semper 1884: 236. 70 Leith 2005: 71–73, 82–84 (Abb.). 71 Scharf, der den Führer zu diesem Bereich schrieb, vermerkte lakonisch in seinem Katalogteil: “The frieze has been coloured in different ways to show the various options that are entertained respecting the Polychromy of the ancients” (Scharf 1854: 93). Verantwortlich für die Gestaltung war Owen Jones (vgl. hier Anm. 140), der drei verschiedene Farbvorschläge umsetzte (Piggott 2008: 93). Diese Poychromie-Versuche lösten weitreichende Diskussionen aus (Piggott 2008: 93 bzw. Callis 2008: 186); Jones sah sich im gleichen Jahr zu einer Erklärung in Buchform genötigt: An Apology for the Colouring of the Greek Court in the Crystal Palace, mit Beiträgen von George Henry Lewes zur Historical Evidence und von W. Watkins Lloyd zur Material Evidence (Untersuchung der Elgin Marbles) sowie einem Essay von Semper zur Polychromie (siehe Semper 1954). Zur späteren Aufnahme der antiken Farbigkeit in der englischen ‚Gesellschaft‘ siehe das Gemälde von Lawrence Alma-Tadema (1836– 1912) Phidias and the Parthenon Frieze (1867 gemalt, aber erst 1884 öffentlich ausgestellt): Callis 2008: 188. 72 Staatliche Kunstsammlungen 1980: 102. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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und Fehlermöglichkeiten in sich schließt wie Ergänzungen verstümmelter plastischer Formen …“73. Ohne an dieser Stelle auf dieses weite Feld, das heute immer noch in der Diskussion steht74, im Detail einzugehen, soll gezeigt werden, mit welchen Informationen man nach der Entdeckung der assyrischen Paläste in Europa konfrontiert war. So schrieb Layard 1849: “There is every reason to believe from analogy with similar remains in Egypt, and from the practice of most ancient nations, that the bas-reliefs and sculptures in Assyrian edifices were painted. The colors have been restored, in the plate, from traces of paint still found on the walls of Nimroud and Khorsabad, and from a comparison with Egyptian monuments”; er erstellte eine farbige Rekonstruktion des Palastinneren75 und setzte sie später beim Crystal Palace um. In der Publikation von Botta und Flandin finden sich auf zahlreichen Tafeln Farbspuren eingezeichnet, die damals noch am Original vorhanden waren76; sie wurden ebenfalls im Text beschrieben. Ebenso wie die Reliefs im Alten Ägypten war auch die altorientalische Kunst farbig. Noch immer tut man sich in der Vorderasiatischen Archäologie – aus Scheu vor dem Original77 – mit der Farbigkeit schwer78, wenngleich die oben erwähnte farbige Rekonstruktionszeichnung von Layard immer wieder reproduziert wird79. Diesbezüglich ist Semper geradezu aktuell: „In Betreff der Polychromie des assyrischen Basreliefs herrschen Meinungsverschiedenheiten und Zweifel, die schwerlich jemals ganz beseitigt werden können. Meiner Ueberzeugung nach mu ss ten die Alabastertafeln wie ihre Vorbilder die ausgespannten Teppiche … in reicher Farbenpracht dem allgemeinen Charakter der asiatischen Baukunst entsprechen, deren polychromer Reichthum von den klassischen Schriftstellern gerade vorzugsweise und wiederholt gerühmt und hervorgehoben wird“80. Parallel zu Layards Zeichnung gab es im 19. Jahrhundert einige farbige Rekonstruktionen an Gipsabgüssen81. In der Regel 73

Koepp 1915: 16‒17. Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur (München 2003). Vgl. für diverse Ausstellungen, deren Rezeption sowie weitere Forschungen von 2004 bis 2015 mit web-links: https://de.wikipedia.org/wiki/Bunte_Götter_–_Die_Farbigkeit_antiker_Skulptur [Zugriff am 24.08.2019]. 75 Layard 1849: 1 und Taf. 2. Siehe dort auch verschiedene farbige Motive, die auf Ziegeln und Putz gefunden wurden (Taf. 84, 86, 87). Siehe auch hier Anm. 79. 76 Botta / Flandin 1849: Taf. 12, 14, 45, 53, 62, 63, 65, 71, 74, 75, 76, 110, 111, 113, 114 und Abbildungen von farbigen Ziegeln Taf. 135, 136, 166 sowie für die Beschreibungen in Botta / Flandin 1850. 77 In anderen Bereichen wie Wandmalerei oder Ausstattung von assyrischen Palästen ist man in der Rekonstruktion offener, sobald es aber um eine Veränderung eines Originals geht, bleibt man in der Regel sehr zurückhaltend, obwohl diese einem Gesamteindruck förderlich wäre. 78 Zur Farbigkeit in der Rundplastik vgl. Nunn / Jändl / Gebhard 2015. 79 Siehe Anm. 75; zur ausführlichen Besprechung des Original-Aquarells, das sich heute im Victoria & Albert Museum in London befindet, siehe Cohen / Kangas 2017: 53–60. 80 Semper 1860: 359–360. Im Folgenden weitere Ausführungen zur Farbigkeit der Reliefs. 81 Rehm 2018: 296 Abb. 39, 424–425 Abb. 103–105. Unter anderem befanden sich zwei bemalte Lamassu in einem Anbau der Glyptothek in München, den Leo von Klenze, ebenfalls 74

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wird ebenso wie für die Klassische Antike nur eine partielle Bemalung vorgeschlagen, die aber mit den Wandmalereien zu sehr kontrastiert haben würde, wie Seidl zu Recht herausstellte82. Inzwischen zeigen zwar naturwissenschaftliche Untersuchungen an neuassyrischen Reliefs, dass, wie von Layard etc. angenommen, die ganze Fläche bemalt war83, aber bei modernen digitalen Umsetzungen werden, wenn überhaupt, nur die bei den Ausgrabungen nachgewiesenen punktuellen Farben (schwarz, rot, blau) wiedergegeben84. Der von Seidl bemängelte Kontrast ist auf einer animierten 3D-Rekonstruktion von 2014 sehr deutlich zu erkennen85. Auch hier ist noch die Vorstellung der ‚reinen‘ Unbemaltheit ausschlaggebend, bedingt durch den heutigen Zustand der Objekte, verbunden mit dem Wissen um die historische Winckelmannsche Vorstellung, gepaart mit der Ablehnung von ‚buntem Kitsch‘ und der Verpflichtung der wissenschaftlichen Genauigkeit. Hier gilt in der Anwendung letztendlich immer noch Kuglers „Mittelstraße“. Kunsthandwerk und Ornamentik Auch wenn Semper die griechische Architektur – wie das Alphabet – auf das Phönizische zurückführen möchte und in ihr einen orientalischen Ursprung sieht86, liegt sein Schwerpunkt bei der Beschäftigung mit der vorderasiatischen Kultur bei seinen theoretischen Überlegungen auf der Formgenese. An dieser Stelle soll nicht ausführlich auf Sempers Werke eingegangen87, sondern nur versucht werden, einen kurzen Überblick über seine Vorstellung zu Mesopotamien zu geben. Das ist nicht leicht: So handelt es sich bei seiner – nie gedruckten – Abhandlung Assyrisch-babylonische Baukunst, dem 10. Kapitel seiner Vergleichenden Baulehre 88, um eine Kombination aus Beschreibung und Interpretation der Funde und Befunde, aus Berichten antiker Schriftsteller und aus der Bibel, gemischt mit theoretischen Erklärungen der Bedürfnisse und dem Versuch, ein Muster zu bilden. Aus den wenigen bekannten Elementen versuchte er anhand von Vergleichen Zusammenhänge zu bilden, wie denjenigen, dass bei den Assyrern der Grundstock für die allgemeine Wandgestaltung liegt. Mit der Herstellung von dickeren und dichteren Stoffen, den Teppichen, waren GeVerfechter der Polychromie, entworfen hatte (Rehm 2018: 229–231 bzw. Neubauer 2007: 213). Vgl. auch die Kolorierung eines Reliefs von Franz von Stuck: Rehm 2018: 428, Abb. 110. 82 Seidl 2003–2005: 600. 83 Gebhard et al. 2009; Thiemann 2009; Verri / Collins / Ambers / Sweek / Simpson 2009; Sou 2015; Thavapalan 2020: 392–396. Zur blauen Farbe auf den Reliefs siehe Thavapalan / Stenger / Snow 2015: 204–210; Thavapalan 2020: 403–412. 84 Serba 2018; Niebel 2018: 150. 85 Paley 2010: 219, 221, 224–225; https://www.metmuseum.org/metmedia/video/collections /ancient-near-eastern-art/northwest-palace-nimrud [Zugriff am 24.08.2019]. Hersteller: Learning sites http://www.learningsites.com/index.php [Zugriff am 24.08.2019]. Zu diesem Thema siehe jetzt auch Thavapalan 2020: 381–387. 86 Semper 1851a bzw. 1851b: 86–88. 87 Siehe eine Zusammenstellung seiner wichtigsten Werke: Staatliche Kunstsammlungen 1980: 340–431; für seine Manuskripte: Herrmann 1981. 88 Herrmann 1981: 191–204 (von Semper unpubliziertes Manuskript). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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webe geschaffen, die – zwischen Stützpfeilern aufgehängt –, eine (fast starre) Wand bilden konnten. Damit kommt den Assyrern in Sempers Denken eine außerordentlich wichtige Funktion in der Baukunde zu, die sich in seiner ausgiebigen Beschäftigung mit dieser Kultur widerspiegelt. Aus diesem Ansatz entwickelte er später seine Bekleidungstheorie (siehe unten). Ebenso legt er seine Vorstellungen über die mesopotamische Architektur in dem Buch Die vier Elemente der Baukunst89 vor. Aus heutiger Sicht halten viele der Ausführungen nicht stand, waren begründet auf der dünnen Materialbasis und falschen Voraussetzungen. So erklärte er die Ziegelarchitektur folgendermaßen: Die äußere Hülle sei als „Bekleidung“ primär, weswegen man für die (innere) Wand, den sekundären Teil, mit ungebrannten Ziegeln einen Werkstoff wählte, der preiswert war90. Dabei berücksichtigte er allerdings nicht die Rohstoff-Verhältnisse der Gebiete, obwohl er sich dieser bewusst war91. Ebenso dachte er wie seine Zeitgenossen, dass analog zu den persischen auch die assyrischen Paläste Säulen aufweisen müssten92. Nicht anders sieht es für die Abschnitte in Sempers ersten Band über den Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik aus93. In diesem Werk, das den Textilien gewidmet ist, ist es besonders die Bekleidungstheorie94, anhand derer er die Verwendung von Formen generiert, mit der er den Ursprung der Architektur erklären wollte. Es geht um das Verhältnis von Kern und Hülle, von Ornament und Struktur. Die „Bekleidung der Wände“95 ist das Wesentliche: „Das scheinbar Sekundäre, die dünne Oberfläche gemalten Stucks, ist das Primäre“96. Die Hülle hat den Vorrang vor der Konstruktion, so dass zum Beispiel eine Mauer zum textilen Derivat wird, oder umgekehrt gesagt, aus dem ursprünglichen Textilbehang (Teppich) entsteht die immer noch mit textilem Dekor verzierte Wand (wie zum Beispiel die figürlich verzierten assyrischen Reliefs) – ohne ihren originären Charakter zu verlieren. 89

Semper 1851: bes. 78–86. Herrmann 1981: 198–199 (= Vergleichende Baulehre). 91 „Das Land ist holzarm und auch an Hausteinen gebricht es zum Theil. Dagegen bietet der feste Lehmboden überall, wo man ihn aufbricht, fertiges Material zum Bauen“, vgl. Herrmann 1981: 199–200. 92 Semper 1851: 84–85; Herrmann 1981: 201–202. Vgl. Rehm im Druck. So kam es auch zu dem Entwurf des Nineveh Court im Crystal Palace, der Kopien assyrischer Reliefs mit Säulen aus Persepolis verbindet; siehe zum Beispiel die Abb. bei Piggott 2004, 110. Das Thema wurde diskutiert, Loftus (1857: 181–182) hingegen spricht sich gegen Säulen und für ein Gewölbe aus. 93 Semper 1860: 337–392. 94 Siehe zusammenfassend Laudel 2007; Moravánszky 2018: 221–227; Chestnova 2018: 121. 95 Semper sieht die Bemalung als die ‚Bekleidung‘ eines Gebäudes an: „Die Alten bemalten nicht nur das Innere ihrer Tempel auf das reichste, sondern selbst das Äussere war reicht bedeckt und der edelste weisse Marmor wurde mit lebhaften Farben bekleidet“ (Brief an seinen Bruder 1832, siehe Tournikiotis 2005: 32). Auch sprachwissenschaftlich verbindet er „Wand“ mit „Gewand“: “The Germans, in the word wand (of the same root with gewand, which means texture) recal still more directly the ancient origin and type of a wall” (Semper 1854: 48). 96 Semper 1860: 263. 90

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Die höchste Form erreicht diesbezüglich die griechische Architektur, aber hier verwandelte sich bereits die tatsächliche Bekleidung, also die Oberfläche der Wand, in eine symbolische. So gesehen ist die äußere Form, das Kleid des Hauses, zunächst Schutz, dann auch Ausdruck für Kulturgebiet, Status etc. Jetzt wird der Wandteppich von der gemusterten Textilie zu Holz, Stuck, Stein oder Metall97, unterliegt aber den gleichen Gestaltungsprinzipien. Das scheint sich für Semper in den pompejanischen Wandmalereien zu bestätigen, „deren Motiv eben nichts weiter als die Nachahmung solcher mit Draperieen und Scherwänden ausgestatteter Stoen und Hallen ist“98 und dementsprechend stellt er sich die ursprünglichen altorientalischen Wände vor: „Man muss sich diese Räume denken als solche die ursprünglich, d. h. nach alter chaldäischer Mode und Tradition, mit Stuck, glasirten Ziegeln, mit Holzgetäfel oder sonst wie bekleidet sind. Dieser Bekleidung entspricht der ihr typisch angehörige, der Weberei und der Tapetenstickerei entlehnte Figuren- und Farbenschmuck; bei festlichen Einzügen, zum Beispiel bei der siegreichen Rückkehr des Monarchen nach einem Eroberungskriege, werden die väterlichen Hallen, durch die der Zug führt, nach ältester und noch bestehender Weise … mit Teppichen, zum Theil mit Gemälden, die die Stelle der Teppiche vertreten und zugleich die jüngsten Thaten des Helden vergegenwärtigen, umstellt“99. Aufgrund der Bedeutung der Textilien im Allgemeinen widmet sich Semper ihnen ausführlich, auch denen aus dem Alten Orient. Dabei wird Grundsätzliches zum Kulturgebiet erörtert, so die Erforschung wie Lage der Fundorte, getätigte Ausgrabungen, entdeckte Funde etc. Wichtig für ihn sind auch einzelne Techniken wie die Stickerei100, angeregt durch die zahlreichen Detail-Abbildungen bei Layard101. Oft aber verliert sich Semper in Kleinigkeiten, die er wiederum mit solchen aus anderen Kulturen verwebt; ebenfalls lässt er auch anderen assoziativen Gedanken seinen Lauf. So wird in § 65 Mesopotamien102 als Land der großen Teppichkunst vorgestellt und auf verschiedene Herstellungstechniken eingegangen, die Semper anhand der Reliefdarstellungen zu erkennen meinte. Nach einem „Exkurs über das Tapezierwesen der Alten“ (§ 66) folgen die § 67–72: „Chaldäa“, „Assyrien“, „Das

97

Herrmann 1981: 197 (= Vergleichende Baulehre). Semper 1860: 283. 99 Semper 1860: 345. 100 Zum Beispiel Semper 1860: 85 (Kreuzstich bei den Assyrern), 275–276 (bzgl. der Verbindung mit der griechischen Welt: „Schon Böttiger erkannte der orientalischen Gewandstickerei ganz den Einfluss auf hellenische Bildung zu, den sie wirklich hatte, er erklärt ‚die Stickerei in den Gewändern, so wie sie Homer schon bei den Phrygiern kennt[‘], für älter als fast alle übrigen Zeichnereien und Bildnereien in Griechenland. Er sieht mit dem Auge des Gelehrten lange vor der Zeit der Wiederaufdeckung Ninives die babylonisch-assyrischen Stickereien mit ihren Thierkämpfen, Wunderthieren und Arabesken gerade so, wie sie jetzt auf den Prachtgewändern der Könige und Grossen Assyriens uns allen deutlich vor Augen stehen“). Das Thema ist aber auch an zahlreichen anderen Stellen in seiner Publikation zu finden; vgl. auch hier Anm. 103. Für eine Zeichnung assyrischer Stickerei von Semper nach Layard siehe Chestnova 2018: 120 Abb. unten. 101 Layard 1849: Taf. 6, 8, 9, 43–52 (Ausschnitte mit Gewandverzierungen). 102 Semper 1860: 267–276. 98

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neue Babylon des Nebukadnezar“, „Das medische Reich. Ekbatana“, „Susa. Persien“, „Phönikien und Judäa“103, wobei Assyrien aufgrund der guten Quellenlage den Hauptteil einnimmt. Für den heutigen Leser wirkt der Text sehr allgemein, zudem außerordentlich fantasievoll, mitunter extrem sprunghaft und mit vielen falschen Rückschlüssen. Man sollte aber bedenken, dass nur wenige Informationen vorlagen und dass Semper diese in seine Theorien einpassen wollte, was zwangsläufig zu Irrtümern führen musste104. Dennoch ist man manchmal positiv überrascht, welche Details für erwähnenswert gehalten wurden: „Man fand häufig nahe den Eingängen unter diesem Fussboden kleine mit Platten verdeckte Vertiefungen, welche thönerne Götzenbilder enthielten“105. Wie oben schon deutlich wurde, interessierte sich Semper nicht ausschließlich für die Assyrer als Volk des Alten Orients, auch wenn aufgrund seiner Theoriebildung das Hauptmerkmal darauf lag. Andere zeittypische, mit Mesopotamien verbundene Themen durften in seinen Ausführungen nicht fehlen: Der „Turm zu Babel“ und die „Hängenden Gärten der Semiramis“. Für beide Bauwerke entwarf er farbige Rekonstruktionen106. Auch in Sempers zweitem Band von 1863 über den Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, in dem es um eine Klassifizierung weiterer Handwerksgattungen geht – Keramik (Töpferei), Tektonik (Zimmerei), Stereotomie (Steinkonstruktion), Metallotechnik (Metallarbeiten) –, werden zahlreiche Beispiel von assyrischer Herkunft genannt und abgebildet. Sie werden in Bezug zum Kunsthandwerk anderer Epochen gesetzt und ihr Verhältnis bewertet. So wird

103

Semper 1860: 323–337, 337–392, 392–394, 394–395, 395–396, 396–405. Seine Dringlichkeit, alles auf das Textile zurückzuführen, führt manchmal zu kuriosen Überlegungen wie dieser: „Die Charaktere der Keilschrift sogar können möglicherweise aus der Stickerei herzuleiten seyn. Würde man für Faden und Nadel eine bequemere Schriftart erfinden können?“, vgl. Herrmann 1981: 198 (= Vergleichende Baulehre). 105 Semper 1860: 343. 106 Die Zikkurrat wird im Text behandelt, vgl. Herrmann 1981: 195 (= Vergleichende Baulehre); Semper 1860: 355: „Der Tempel hatte sieben Stockwerke übereinander, jedes mit einer Planetenfarbe: nämlich schwarz, orange, roth, goldfarben, weiss, blau und grünlich silbern, entsprechend den Gestirnen Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur und Mond. Die Farbe war einem jeden einzelnen Ziegel eingebrannt, aber das Stockwerk des Merkur hatte durch starkes anhaltendes Feuer das für diesen Planeten emblematische Schlackenblau erhalten“. Siehe die Farbgebung für Ekbatana nach Beschreibung von Herodot, vgl. Semper 1860: 394: „Die Zinnen der ersten Umfassungsmauer sind weiss, die der zweiten schwarz, die der dritten purpurn, die der vierten blau, die der fünften orangegelb, die beiden letzten endlich sind silbern und golden“; diese Farbabfolge setzte Semper in einer Zeichnung auf Basis der Rekonstruktion von Place für Khorsabad um und kolorierte sie. Zwei Blätter dazu befinden sich im Semper-Archiv (Anm. 41) (Nrn. 20-7-6-1/2). Die Gärten der Semiramis beschrieb er ebenfalls nach alten Schriftstellern (Semper 1884: 368). Für seine Rekonstruktion siehe Nerdinger / Oechslin 2003: 311 bzw. Semper-Archiv Nr. 20-7-7 („undatiert [1849]“). Zu den Gärten und ihre Verortung in Babylon siehe Streck 2019. 104

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zum Beispiel darauf hingewiesen, dass es Omphalos-Schalen schon im Assyrischen gab etc.107 Stilgeschichte Wie oben bereits zitiert, sah man nach der Entdeckung der Reliefs in Ninive, Nimrud und Khorsabad die assyrische Kunst als Vorläuferin der griechischen Kunst an. Das begründet das große Interesse – neben der Entdeckung von ‚Zeitzeugen‘ aus den biblischen Geschichten – der Klassischen Archäologie an diesen Werken. Die Objekte galten nicht unbedingt als kunstvoll, bildeten aber ein Glied in der Entstehungsgeschichte der Kunst, die man besonders im 19. Jahrhundert bestrebt war, zu verstehen und der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Das erklärt die große Anzahl an Gipsabgüssen in universitären, aber auch musealen Sammlungen108. Wissenschaftler, Studierende, Kunstfreunde und Laien sollten durch eine didaktische Aufstellung die Entwicklung leicht erfassen können und so ganzheitlich gebildet werden. Vor diesem Hintergrund sind die Wertungen zu verstehen, die sich auch bei Semper wiederfinden. Grundsätzlich finden die menschlichen Darstellungen nicht einen solchen Anklang wie die der Tiere109. Semper zieht den Vergleich zur ägyptischen Kunst, die er als starre „Schriftenzeichen“110 ansieht: „Durch technisches und stilistisches Herkommen, (freilich auch durch die Steifheit einer das ganze babylonisch-assyrische Civilisationssystem beherrschenden Rangordnung und despotischer Hofetikette) zeigt sich diese Kunst hier gefesselt, aber nicht zur Mumie einbalsamirt und so gänzlich versteinert wie in Aegypten, wo sie wohl berechneten, und unabänderlichen hieratischen Satzungen gehorchen musste. Daher ist jene zwar gleichsam wie mit einem unsichtbaren Kanevas umstrickt und in ihrer freien Entwicklung äusserlich gehemmt, vom Stickrahmen beengt, aber bei alledem das Naturwahre erstrebend und nach Freiheit ringend; diese dagegen ist nicht durch materiellen äusseren sondern durch geistigen inneren Zwang gebunden und hält sich freiwillig innerhalb derjenigen Schranken, die sie in technischem Sinne längst überwand“111. Fazit Semper war nicht nur ein großer Architekt, sondern auch ein für das 19. Jahrhundert prägender Kunsttheoretiker. Er beschäftigte sich neben der „hohen“ Kunst der Ar107

Semper 1863: 22. In dem Abschnitt über Möbel durfte selbstverständlich nicht die Szene mit Assurbanipal in der Weinlaube fehlen; sie diente als Beleg für prunkvolle Möbel, Semper 1863: 272–273. Siehe zu dem Motiv hier Anm. 155. 108 Rehm 2018: 127–246. 109 Rehm 2018: 19–23. 110 Siehe Semper 1851a bzw. 1851b: 60: „Die Haltung der (assyrischen) Figuren ist steif, aber nicht zu bloßen Schriftzeichen (wie die ägyptische Kunst) erstarrt, sondern nur gefesselt“. 111 Semper 1860: 358–359. Anders sah es Jones 1854: Chapter III, 2–4 (siehe zur Person hier Anm. 140), der schreibt, “Assyrian sculpture seems to be a development of the Egyptian, but, instead of being carried forward, descending the scale of perfection” und überhaupt diese Kultur extrem negativ bewertet. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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chitektur ebenfalls mit Kunsthandwerk112, Bühnenbildern113 und Ausstattungen von Ausstellungen114 sowie in seinen Schriften mit den Auswirkungen der Industrialisierung auf das Kunsthandwerk115, die er hautnah in seiner Londoner Zeit erlebte. Seine Ausführungen zur Antike sind an vielen Stellen gewürdigt worden, ebenso in Hinblick auf seine Äußerung zum Alten Orient und Ägypten116, da er sich ausführlich mit den Assyrern, Babyloniern, Persern etc. in seinen Publikationen Die vier Elemente der Baukunst (1851)117 und Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik (1860/1863) beschäftigte. Er nahm die Relikte wie selbstverständlich auf und band sie in seine Stilkunde sowie in seine theoretischen Überlegungen ein. Er führte sie als Belege an, hielt die assyrische Kultur für fundamental, wie ein Auszug aus einem Brief an seinen Verleger Vieweg von 1850 zeigt: „Sollten einzelne Griechische Sätze und Wörter in den Anmerkungen Ihnen überflüssig erscheinen, so habe ich nichts dawider, wenn Sie es weglassen. Aber die Details über die Assyrische Baukunst muss ich in Schutz nehmen; ich begründe darauf ein Argument gegen die sogenannten Constructeurs …“118. Er hatte sich zwar schon zu Dresdener Zeiten für die Assyrer interessiert, aber sein Aufenthalt in England, in dem die neuen Entdeckungen im British Museum ausgestellt sowie durch die Illustrated London News119 und nicht zuletzt durch den Nineveh Court in der breiten Allgemeinheit präsent waren – im Gegensatz zu Frankreich, wo sie außer im Louvre eher in teuren „Coffee-table-books“ zu finden waren –, wird seinen Blick auf diese Relikte verstärkt haben. So spiegeln seine Arbeiten den damaligen Zeitgeist der gebildeten Bevölkerung wider – für diese waren die Assyrer in der Gesellschaft angekommen120.

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Ausführlich: von Orelli-Messerli 2010. Siehe Anm. 121. 114 Neben der Beteiligung an den Ausstellungen in London 1851 und 1854 war er zudem bei der Weltausstellung 1855 in Paris als Angestellter des Department of Science and Art für die britische Abteilung zuständig: Nerdinger / Oechslin 2003: 292–293 Nr. 74. 115 Staatliche Kunstsammlungen 1980: XXV–XXIX; vgl. auch Semper 1852b sowie seine Ausführungen in der deutschen Beilage der Illustrated London News anlässlich der Weltausstellung 1851 (abgedruckt bei May 1980: 62–66). 116 Vgl. zum Beispiel Georgiadis 2005; Cohen / Kangas 2010: 29–30; Cohen / Kangas 2017: 23–24. 117 Man beachte, dass das Buch im selben Satz im gleichen Jahr unter dem Titel Über Polychromie und ihren Ursprung. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde erschien, siehe Ziesemer 2003: 134, Anm. 45. Zuletzt zusammenfassend Moravánszky 2018: 93–131. 118 Herrmann 1976: 226. Vgl. einen weiteren Brief aus demselben Jahr: „Was ich über die Assyrische Baukunst sage, so wie auch der Abschnitt über Ägypten enthält Ansichten die nothwendig Einfluss auf die neuere Kunstgeschichte üben müssen, wenn sie in das grössere Publikum gelangen“, Herrmann 1976: 228. 119 Bohrer 2003: 132–142. Semper blieb auch noch nach dem Verlassen von England Abonnent der Illustrated London News, wie man daran sehen kann, dass die Zeitschrift in seinen späteren Werken immer wieder zitiert wird, vgl. auch Hvattum 2017: 6. 120 Siehe zusammenfassend Malley 2012. 113

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In Sempers Baukunst und seinen Interieurs sowie in seinen Entwürfen121 und Ausführungen sind hingegen so gut wie keine Anleihen an die altorientalische Kunst zu finden. Die bislang einzige mir bekannte Ausnahme im Hinblick auf Assyrien bildet der Taktstock aus Elfenbein für Richard Wagner122, den Mathilde Wesendonck (1828– 1902), Muse von Wagner, im Jahr 1858 bei Semper in Auftrag gegeben hatte. Die erhaltene Zeichnung (Abb. 4)123 zeigt eine Handhabe mit assyrischem Sparrenmuster124, das in Palmetten endet. Der Zeigestab war mit einem skandinavischen Rankenmuster versehen, schloss aber auch mit einer Palmette ab. Assyrische Palmettenbäume waren Semper durch die Arbeit von Layard bekannt, er bildet einen solchen mit einem Sparrenmuster verzierten Stamm als „Assyrisches Pflanzengeschlinge“ in seinem Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik von 1860 ab125 und verband ihn dort schon inhaltlich mit dem skandinavischen Rankenmuster, das er anscheinend als relevanter betrachtete126. Er sah eine Verbindung in der „gleichsam urweltlichen Geltung und Bedeutung des bindenden und verknüpfenden Momentes“. 121

Vgl. Semper-Archiv (vgl. Anm. 41): Neben eigenen Zeichnungen (vgl. Abb. 2–3) sind es vor allem Kopien aus dem Werken von Layard, Place und Botta (vgl. Abb. 1), aber auch Entwürfe für Bühnendekorationen (Fröhlich 1974: 218, Nrn. 222-1-2/222-1-3), die er ebenso mit ägyptischen Motiven ausführte (Fröhlich 1974: 217, Nrn. 220-1-13 bzw. Herrmann 1978: 23 [Ausführung in Paris]). 122 Von Orelli-Messerli 2010: 293–296. Der Taktstock wurde aufgrund seines Gewichts vermutlich nur einmal, am Tag der feierlichen Überreichung (31.03.1858), benutzt (OrelliMesserli 2010: 295). 123 Er gilt als verschollen (von Orelli-Messerli 2010: 406 Anm. 740 mit einer Äußerung von Gottfried Wagner [geb. 1947], der ihn [diesen oder einen anderen Elfenbein-Taktstock(?)] noch gesehen hat). Es existiert nur die Entwurfszeichnung. Kröger 2015: 105 sieht diesen Taktstock als „Phantom“ an und führt einen anders gestalteten Taktstock aus Elfenbein im Reuter-Wagner-Museum in Eisenach auf. Dieser hat eine glatte Oberfläche und ist mit Metallverzierungen in der Mitte und an den Enden gefasst. Das eine Ende verzieren eingelegte Steine. Aber ein Brief von Mathilde Wesendonck an den Kunstschreiner Johann Heinrich Sieber belegt eine Schnitzarbeit in Elfenbein (auch im weiteren: von Orelli-Messerli 2010: 293). Siebers Erinnerungen bestätigen das: „Ein Taktstock in Elfenbein geschnitzt nach einer allegorischen Zeichnung des Professor Semper, bestimmt für den Zukunftsmusiker und Tanzmeister Richard Wagner, Geschenk der Familie Wesendonck … hatte ich befriedigt ausgeführt.“ Allerdings schreibt Wesendonck in dem oben zitierten Brief „Die Steine kann ich Ihnen in wenigen Wochen bringen“. Diese passen wiederum nicht zu Sempers Entwurf. Semper erwähnt den Taktstock in einem Brief an Wesendonck aus Paris vom 3. März 1860 zusammen mit silbernem Gerät, das er von einem Verehrer geschenkt bekam: „Ich habe nun den Taktstock und dieses Silberwerk“ (Kapp 1915: 285). 124 Vielleicht angeregt durch ein Sparrenmuster auf einem ebenfalls langen schmalen Gegenstand, einer Schwertscheide, auf einer bemalten Kachel aus Nimrud: Layard 1853: Taf. 55,6. 125 Semper 1860: 80, 82–83: Kopie nach Layard 1849: Taf. 7A. Siehe auch Jones 1856: Taf. XX:12. 126 Semper in einem Brief an Wesendonck bezüglich des Entwurfes erwähnt nur dieses Muster: „… jedoch halte ich das Motiv, nämlich die Idee des Runenstabs für bezeichnend und für das Beste …“ (Kröger 2015: 122). © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Eine Adaption aus dem Achämenidischen ist bei den gusseisernen Säulen im Südflügel des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich (Abb. 5) festzustellen, die Semper um 1864 entwarf127. Die schlanken Kompositsäulen erinnern an pompejanische Vorbilder, aber die Basen sind leicht veränderte Kopien nach den Glockenbasen aus Persepolis128. Die Säulen aus Persepolis waren schon früh bekannt und publiziert, so von Carsten Niebuhr im Jahr 1778129. Sie sind ebenso bei Emilie Flandin & Pascale Coste in deren Voyage en Perse130 von 1851 abgebildet wie in der im selben Jahr erschienen Abhandlung zur Architektur Assyriens und Persiens von James Fergusson131, der zusammen mit Layard den Nineveh Court entwarf132. In Folge davon druckte Layard die Abbildungen auch in seinem Buch ab, das er zur Eröffnung des Crystal Palace in Sydenham über den Nineveh Court schrieb133. Die beiden zuletzt genannten Bände waren Semper sicherlich allein aus seiner Verbundenheit mit dem Crystal Palace geläufig, er wird die Autoren persönlich gekannt haben. So verwundert es nicht, dass zwei etwas anders gestaltete Säulen in seinem Werk Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik von 1863 zu finden sind134. Die zeitliche Nähe des 1863 erschienenen Buches mit dem im folgenden Jahr (1864) entstandenen Entwurf ist augenfällig. Sempers intensive Beschäftigung mit den Säulen wird durch eine Skizze belegt, die sich im SemperArchiv befindet und Säulen mit wiederum anderen Kapitellen zeigt (Abb. 6). Semper sah in den persischen Säulen die „lapidarischen Nachkommen der babylonischassyrischen bronzebekleideten Holzsäulen“135. Somit setzte er – für ihn folgerichtig – die Basis in Metall um. In Sempers Unterlagen fanden sich des weiteren Hinweise auf einen Entwurf für eine Vase mit Untersatz aus den Jahren 1849/50 für die Manufacture nationale de Sèvres, allerdings ohne eine zugehörige Zeichnung136. Von Orelli-Messerli ordnete in ihrem Band über Sempers Entwürfe zur dekorativen Kunst diesem Objekt ein nicht näher bezeichnetes, nicht datiertes Blatt zu, das ein Fragment eines Tellers zeigt: Die Fahne ist mit einem Volutenmotiv wie ein Netz überzogen, den Spiegel bedeckt ein Stechzirkelmotiv, das jeweils in der Mitte mit einem Punkt verziert ist. Bei genauer Prüfung stellte sich jedoch heraus, dass es sich dabei nicht um einen Entwurf, sondern um eine Durchpause einer fragmentarischen phönizischen Schale aus Nimrud handelt, die bei Layard in seinem zweiten Band der Monuments of

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Von Orelli-Messerli 2010: 326–329, bes. 328, Nr. 60.2.4.2. Schmidt 1953: 67, 95 etc., siehe auch Fig. 50 (Apadana-Säulenbasen); Herzfeld 1941: Taf. LVIII (Krefter). 129 Niebuhr 1778: Taf. XXV. 130 Flandin / Coste 1851–54: Taf. 92, 93, 168bis. 131 Fergusson 1851: 159–169. 132 Piggott 2004: 109. 133 Layard 1854: 49. 134 Semper 1863: 399. 135 Semper 1863: 399. 136 Von Orelli-Messerli 2010: 180–181. 128

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Nineveh abgebildet ist137. Daher ist ein Zusammenhang mit der Sèvres-Vase nicht gegeben. Die Gitter der Oberlichter der Türen am Westportal des von Semper entworfenen Eidgenössischen Polytechnikums, die ein assyrisches Palmettenmuster aufweisen, gehen wiederum gar nicht auf ihn zurück, wie das Schuppenmuster im Entwurf von 1864 zeigt138. Das „assyrische“ Muster setzte die ausführende Gießerei wohl aus Kostengründen ein, da es in ihrem Repertoire vorhanden war. Es fand auch an den anderen Türen wie zum Beispiel am Südportal Verwendung139. Dabei handelt es sich um ein Motiv, das bei Owen Jones, dem ‚chief designer‘140 beider Versionen des Crystal Palace (1851 [Hyde Park] / 1854 [Sydendam]), in seiner Grammar of Ornament nach einer Grundlage von Layard abgebildet ist141. Das ‚Muster‘-Buch erschien 1856 gleichzeitig auf Englisch, Deutsch sowie Französisch und erfuhr eine außerordentliche Verbreitung142. Dass die altorientalische Kunst kaum Eingang in Sempers Entwürfe fand, liegt darin begründet, dass er bei seinen Reisen nach Italien und Griechenland in den Jahren 1830 bis 1833 zur Ansicht kam, dass die universelle Anwendbarkeit der italienischen Renaissance die Grundlage für seine künftigen Arbeiten sei, was er auch in konsequenter Weise sein Leben lang verfolgte143. Umso interessanter ist es, zu sehen, dass doch in ganz geringem Maß altorientalische Spuren zu finden sind! Dass Semper sich auch noch in seinen Züricher Jahren für assyrische Reliefs interessierte, ist anzunehmen. Dass er ihnen dort im Original und in Abgüssen begegnete, steht außer Frage. Zum einen war er Mitglied der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich144, die sukzessiv seit 1863 Originalreliefs vom Züricher Kaufmann Julius Weber-Locher (1838–1906) geschenkt bekam145. Dieser war von 1860 bis 1868 in Bagdad tätig. Im Jahr 1897 gingen die Reliefs als Geschenke an die Universität146. Des Weiteren war Semper Mitglied der Züricher Kunstgesellschaft147, die 137

Layard 1852: Taf. 62. Von Orelli-Messerli 2010: 314. 139 Von Orelli-Messerli 2010: 324. 140 Eine Aufgabe, die Semper für sich erhofft hatte: Hildebrand 2003: 263; Laudel 2003: 275. Semper und Jones kannten sich schon aus Griechenland (Reising 1976: 50 Anm. 2; Crinson 1996: 32; Cohen / Kangas 2017: 59), waren aber in Londoner Zeiten Konkurrenten (Herrmann 1978: 83, 86). Vgl. aber auch Semper 1851a bzw. 1851b: 9: „Erst durch das schöne Werk des Herrn Owen Jones über die Alhambra scheint die Polychromie bei dem englischen Publicum Anklang gefunden zu haben“. Es geht darum, dass der Polychromie-Gedanke erst spät in England Einzug hält, dann aber in geradezu übertriebener Weise aufgenommen wird. Zur Jones und seiner Rolle für den Crystal Palace siehe Leith 2005: 45–49; Piggott 2008: 79– 84. 141 Jones 1856: Taf. XXXI, Nr. 11. 142 Leith 2005: 45. 143 Staatliche Kunstsammlungen 1980: 17. 144 Kröger 2015: 107. 145 Kinkel 1871: 5−6; Englund 2003: 130 (L-33–34). 146 Mango / Marzahn / Uehlinger 2008: 38. Anders bei Asher-Greve / Selz 1980: 5, die davon ausgehen, dass die Reliefs 1914 der Universität als Dauerleihgabe überlassen wurden. 147 Kröger 2015: 108. 138

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wiederum Gipsabgüsse sammelte, nachweisbar auch von assyrischen Reliefs, die zwischen 1856 und 1871 erworben wurden, wie aus den beiden publizierten Verzeichnissen hervorgeht148. Das Verzeichnis von 1871 wurde von dem Klassischen Philologen – und seit 1866 Professor für Klassische Archäologie –, Gottfried Kinkel (1815–1882), verfasst149, der wiederum Semper als sehr engagierter Revolutionär150 und Leidensgenosse aus seinem Exil in London bekannt war151. Damit zeigt sich neben der institutionellen auch eine persönliche Verbindung von Semper zu der Abguss-Sammlung. Die Gipse der Kunstgesellschaft gingen 1857 teilweise in die Sammlungen des Archäologischen Museums der Universität beziehungsweise des Polytechnikums über152 und wurden ab 1865 im Antikensaal des Polytechnikums nach Sempers Dekorationsprinzip aufgestellt153. Dazu gehörte auch eine Kopie der Szene mit Assurbanipal in der Weinlaube154, ein Motiv, das in Sempers Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik von 1863 abgebildet ist und wahrscheinlich auf eine Zeichnung dieser Kopie zurückgeht155. Im Besitz der Eidgenössischen Technischen Hochschule waren zudem zwei weitere Abgüsse nach assyrischem Vorbild; Hinweise auf sie finden sich erst seit 1914156. Ob sie schon im 19. Jahrhundert angeschafft wurden, ist unklar157.

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Rehm 2018: 86–87. Kinkel 1871. 150 Siehe Ennen 1977. Kinkel nahm am badischen Aufstand teil, geriet in Gefangenschaft und wurde zu lebenslänglicher Festungshaft verurteilt, konnte aber mit Hilfe eines Freundes entkommen. 151 Kröger 2015: 23. 152 Kinkels Publikation von 1871 heißt Die Gypsabgüsse der archäologischen Sammlung im Gebäude des Polytechnikums in Zürich. Im Katalog (S. X–XVIII) werden die Besitzer aber differenziert (vgl. S. VII): Universität Zürich (U. Z.), Eigentum des eidgenössischen Polytechnikums (E. P.), Zürcher Künstlergesellschaft (Z. K. G.). 153 „Inzwischen wurde nach Professor Semper’s Entwurf die schöne Säulenhalle vollendet und nach desselben Anordnung und Zeichnung die Eintheilung durch Vorhänge und Schirmwände vorgenommen”. (Kinkel 1871: IV). 154 Kinkel 1871: 4−5, Nr. 203. 155 Semper 1863: 272–273 (dort unverständlicherweise als „Holzschnitt“ bezeichnet; es handelt sich eindeutig um eine Zeichnung). Siehe auch hier Anm. 107. Die Szene wurde m. W. zuerst von Rawlinson 1871: 493 publiziert. Dass in Sempers Buch, wie sonst bei seinen Abbildungen von assyrischen Sujets, keine Durchpause vorliegt, ist daran zu erkennen, dass Details wie zum Beispiel das Gefäß in der Hand des Königs fehlen und Proportionen leicht verschoben sind. Somit scheint es sich um eine Zeichnung von Semper zu handeln. Entweder nach dem Original – allerdings kam das Relief erst 1856 nach London, ein Jahr nachdem Semper nach Zürich gegangen war – oder nach jener Kopie in Zürich. 156 „Ornamentale(n) & architektonische(n) Gypsabgüsse(n)“ wurden von Semper 1855 für das Eidgenössische Polytechnikum erworben: Maurer 2003: 309. 157 Rehm 2018: 86–88. 149

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Reising 1976 Gert Reising, Kunst, Industrie und Gesellschaft. Gottfried Semper in England, in: Gottfried Semper und die Mitte des 19. Jahrhunderts. Symposium vom 2. bis 6. Dezember veranstaltet durch das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der Eidgenössischen Technischen Universität Zürich. Geschichte und Theorie der Architektur. Eidgenössische Technische Hochschule Zürich 18, Basel / Stuttgart, 49–66. Scharf 1854 George Scharf, The Greek Court Erected in the Crystal Palace, London. Schmidt 1953 Erich Friedrich Schmidt, Persepolis I. Structures, Reliefs, Inscriptions. Oriental Institute Publications 68, Chicago. Schmidt / Schmidt 2010 Helga Schmidt / Paul Gerhard Schmidt, Emil Braun, „ein Mann der edelsten Begabung von Herz und Geist“. Archäologe, Kunstagent, Fabrikant und homöopathischer Arzt, Altenburg. Seidl 2003–05 Ursula Seidl, Polychromie, in: Dietz Otto Edzard / Michael P. Streck (Hrsg.), Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 10, Berlin / New York, 599–600. Semper 1851a Gottfried Semper, Über Polychromie und ihren Ursprung. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde, Braunschweig = 1851b. Dasselbe Buch erschien im gleichen Jahr mit unterschiedlichen Titeln, vgl. Ziesemer 2003: 134, Anm. 45. Semper 1851b Gottfried Semper, Die vier Elemente der Baukunst, Braunschweig = Semper 1851a, siehe dort. Semper 1851c Gottfried Semper, On the Study of Polychromy and its Revival, in: The Museum of Classical Antiquities 1, 228–246. Semper 1852a Gottfried Semper, On the Study of Polychromy, in: Journal of Design and Manufacture 6, 112–113. Semper 1852b Gottfried Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühles, bei dem Schlusse der Londoner Industrie-Ausstellung, Braunschweig. Semper 1854 Gottfried Semper, On the Origin of Polychromy in Architecture, in: Owen Jones, An Apology for the Colouring of the Greek Court in the Crystal Palace, London, 45–52. Semper1860 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1). Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Frankfurt am Main. Semper 1863 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 2). Keramik, Tek© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Ziesemer 1999 John Ziesemer, Studien zu Gottfried Sempers dekorativen Arbeiten am Außenbau und Interieur. Ein Beitrag zur Kunst des Historismus, Weimar. Ziesemer 2003 John Ziesemer, Gottfried Sempers Bedeutung für die Wahrnehmung von Architekturpolychromie im 19. Jahrhundert, in: ICOMOS 39, 128–134, DOI: https://doi.org/10.11588/ih.2003.0.20983.

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 1

Sempers Durchpause aus Bottas Monuments de Ninive (© gta Archiv / ETH Zürich, Gottfried Semper. Nr. 20-7-2-9, „Krieger mit Löwe“ (Louvre AO 19861), Zeichnung nach Botta, mit Vermerk „1849“).

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 2

Sempers Zeichnung des Türstrickhalters im Louvre (© gta Archiv / ETH Zürich, Gottfried Semper. Nr. 20-7-1-1, „Löwenförmiges assyrisches Gewicht“ (Louvre AO 20116), Paris 1849, 1 Blatt 196x125, Blei, montiert).

Abb. 3

Sempers Zeichnung eines Lamassu im Louvre (© gta Archiv / ETH Zürich, Gottfried Semper. Nr. 20-7-1-2, „Assyrischer Bulle mit Menschenkopf“ (Louvre AO 19859), Paris 1849, 1 Blatt 199x278, montiert).

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 4

Sempers Zeichnung zum Taktstock für Richard Wagner, 1858 (nach von Orelli-Messerli 2010: 294 (56.1)).

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Abb. 5

Sempers Zeichnung des unteren Teils einer Stütze aus Gusseisen für Südflügel des Polytechnikums Zürich, um 1864 (nach von Orelli-Messerli 2010: 328 (60.2.4.2)).

© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 6

Sempers Zeichnung von zwei Säulen aus Persepolis (© gta Archiv / ETH Zürich, Gottfried Semper. Nr. 20-7-4-5, „Säulen aus Persepolis“, nach Archiv-Datenbank von 1850).

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Zwischen Abenteurertum, Politik und Wissenschaft Max von Oppenheim (1860‒1946) Gabriele Teichmann / Köln Wie konnte aus dem Erben einer prominenten, überaus erfolgreichen Bankiersfamilie ein Abenteurer, politischer Aktivist und Wissenschaftler werden? Antworten finden wir in Oppenheims Biographie, die verschiedene Stadien seiner persönlichen Entwicklung und wechselnde Schwerpunkte seines Denkens und Handelns aufzeigt. Gleichzeitig verweisen diese Antworten auf den Zeitgeist des wilhelminischen Kaiserreichs und die engen Verbindungen zwischen Abenteurertum, Politik und Wissenschaft. Max von Oppenheims innere Verabschiedung von der Bankkarriere vollzog sich bereits als Jugendlicher, ausgelöst durch die Lektüre von „1001 Nacht“. Kaum weniger Einfluss übten die überaus populären Berichte von Reisenden aus, die unbekannte Gebiete Afrikas erforscht hatten. Früh formulierte er daher gegenüber seinen Eltern den Wunsch, Forschungsreisender im Orient zu werden.1 Reisen als Abenteuer Der Forschungsreisende war eine typische Erscheinung des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, die in vielfältigen Ausprägungen existierte. Es gab Universalgelehrte wie Alexander von Humboldt oder Heinrich Barth, daneben Abenteurer, die sich zuweilen zum Wissenschaftler weiterentwickelten wie Gerhard Rohlfs, Reisende, die neben ihren Forschungen geheimdienstliche Aufträge erfüllten wie Thomas Edward Lawrence und Gertrude Bell sowie rücksichtlose Imperialisten wie Carl Peters oder Henry Morton Stanley. Im Zeitalter des Kolonialismus und wachsender Konkurrenz der Nationalstaaten dienten Forschungsreisende mitunter als wertvolle Informationslieferanten für ihre Heimatländer. Sie gehörten beispielsweise zu den Ersten, die verlässliche Karten von entlegenen Weltgegenden erstellten und damit koloniale Durchdringung erleichterten. Max von Oppenheims erste eigenständige Exkursion in die islamische Welt im Jahr 1886 folgte dem Schema der Abenteuerreise. In seinen Lebenserinnerungen schildert er den Aufenthalt in Marokko als Wirklichkeit gewordenen Roman, in dem der Held Extremsituationen sucht und sich in Gefahr bewährt. Noch geht es ihm in erster Linie um sich selbst und erst in zweiter Linie um Land und Leute. Rein oberflächlich ist Oppenheims Interesse an der islamischen Welt jedoch nicht, denn bereits vor der Marokko-Reise hat er begonnen, Arabisch zu lernen und orientalische Textilien zu sammeln.

1

Ausführlich zu Max von Oppenheims Biographie s. Teichmann 2001: 10‒105. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Gabriele Teichmann

Abb. 1

Egon Josef Kossuth, Max von Oppenheim, Öl auf Leinwand, 1927.

Politisierung der Interessen Im Verlauf der 1880er Jahren mischten sich vermehrt politische Themen in seine Abenteuerlust. Dies lag sozusagen in der Luft, denn in Deutschland grassierte das Kolonialfieber, das sich in öffentlichen Forderungen nach überseeischer Expansion äußerte. Die Motive waren vielschichtig: Zugang zu Rohstoffen, Aufbau neuer Absatzmärkte, die Möglichkeit, den Bevölkerungsüberschuss abzufedern, Prestigestreben im internationalen Machtkonzert und die Missionierung der „Heiden“, all das spielte eine Rolle.2 Politisch kamen diese Bestrebungen zunächst jedoch nicht zum Durchbruch, da der allmächtige Reichskanzler Bismarck die Kolonialbewegung ablehnte. 2

Gründer 2008: 21‒24. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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In Max von Oppenheims Familie hingegen gab es dafür gleich zwei prominente Unterstützer. Der eine war der Bankier Adolph von Hansemann, der mit der Disconto-Gesellschaft die zweitgrößte Bank des Deutschen Reichs anführte. Durch die 1860 geschlossene Ehe mit Ottilie von Kusserow, deren Mutter eine geborene Oppenheim war, wurde er zu Max‘ angeheiratetem Onkel. Hansemann verfügte über enge Beziehungen zu Bismarck. Dessen Auftrag an den Bankier, eine kolonialpolitische Studie anzufertigen, signalisierte 1880 einen Sinneswandel des Kanzlers und damit einen Richtungswechsel der deutschen Außenpolitik. Schon 1884 erwarb das Reich in Westafrika seine erste Kolonie. Hansemann stand vor allem für die wirtschaftlichen Interessen und Erwartungen, die sich mit dem Erwerb von Kolonien verbanden. Folgerichtig gehörte die Disconto-Gesellschaft zu den Gründern mehrerer kolonialer Unternehmungen, bei deren Finanzierung die Kölner Verwandten vom Bankhaus Sal. Oppenheim häufig mit von der Partie waren.

Abb. 2

Max von Oppenheims Gegenspieler, der britische Archäologe und Geheimagent Thomas Edward Lawrence (1888‒1935).

Das zweite Familienmitglied, das sich einer aktiven deutschen Kolonialpolitik verschrieb, war Max von Oppenheims Onkel Heinrich von Kusserow, der Bruder Ottilie von Hansemanns. Seit 1860 Angehöriger des preußischen diplomatischen Dienstes, war er nach einem kurzen Interim als Reichstagsabgeordneter seit 1874 in der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amts tätig. In dieser Zeit ge© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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wann ihn sein Schwager Adolph von Hansemann für die Kolonialbewegung, für die sich der Diplomat seitdem vehement einsetzte. Folgerichtig wurde er 1885 zum Leiter des neu gebildeten Kolonialreferats im Auswärtigen Amt ernannt; es war der Höhepunkt seiner Karriere.

Abb. 3

Heinrich von Kusserow (1836‒1900), Diplomat und Kolonialpolitiker. Gemälde von Unbekannt.

Der Rechtsreferendar Max von Oppenheim war in diesen Jahren gern gesehener Gast im Berliner Hause Kusserow. Für den Forschungsreisenden in spe bot sich ein überaus attraktives Kommunikationsforum, denn mit Gerhard Rohlfs, Georg Schweinfurth und Gustav Nachtigal gingen dort einige der bekanntesten deutschen „Afrikaforscher“ ein und aus. Nachtigal war vor allem durch seine Sahara-Reisen und seine Forschungen zur islamischen Kultur Nordafrikas berühmt geworden. Anders als der 1885 verstorbene Nachtigal gehörte Georg Schweinfurth zu den uneingeschränkten Befürwortern einer kolonialen Expansionspolitik. Als Forscher konzentrierte er seine breit angelegten Arbeiten auf Ägypten und den Südsudan. Zu Gerhard Rohlfs, einem Vorbild seit Jugendjahren, baute Max von Oppenheim eine besonders vertrauensvolle Beziehung auf. Rohlfs hatte nach abenteuerlichen Jahren, die er teilweise in der Fremdenlegion verbrachte, mit seinen Expeditionen in Nordafrika und der Sahara Aufsehen erregt; seine fesselnden Reisebeschreibungen wurden zu nationalen Bestsellern. Mit seiner ganzen Autorität verwandte sich © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Rohlfs, der sich in seiner Jugend selbst gegen die Erwartungen seiner Familie durchgesetzt hatte, bei Max’ Eltern dafür, ihn seinen eigenen Weg gehen zu lassen. Das Einvernehmen, das sich schließlich zwischen den Oppenheim-Generationen einstellte, war auch sein Verdienst. Streben nach der Diplomatenkarriere Der Weg, der Max von Oppenheim nach seinem Assessorexamen vorschwebte, war in erster Linie von politisch-gesellschaftlichen Ambitionen geprägt. 1887 stellte er ein Aufnahmegesuch in den Diplomatischen Dienst mit dem Ziel, an eine Vertretung im Nahen Osten abgeordnet zu werden. Möglicherweise diente ihm Heinrich von Kusserow als Vorbild. Oppenheims Antrag wurde indes mit fadenscheinigen Argumenten abgelehnt. Der wahre, ihm vorenthaltene Grund war die jüdische Abkunft seines Vaters, der erst vor seiner Eheschließung zum Christentum konvertiert war. Oppenheim wird kaum mit dieser Zurücksetzung gerechnet haben, waren doch sein Onkel und weitere Mitarbeiter im Amt jüdischer Abstammung. Hatte die Assimilation den Juden nicht einen Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung aufgezeigt? Der Umgang mit Max von Oppenheim verweist daher auf eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas: Zum traditionellen religiösen Antisemitismus kam eine neue Strömung hinzu, die sich vor allem aus rassistischem Gedankengut speiste. Forschung und Kolonialpolitik Nachdem 1892 auch ein zweiter Antrag auf Aufnahme in diplomatische Dienste gescheitert war, besann sich Oppenheim auf seine Forscherneigungen. Sein Vater erklärte sich bereit, eine groß angelegte Forschungsreise zu finanzieren, die im Herbst 1892 mit einem mehrmonatigen Aufenthalt in Kairo begann. Im Sommer darauf durchquerte Oppenheim von Damaskus aus Syrien und Nordmesopotamien. Nach kurzem Aufenthalt in Indien endete die Reise in Deutsch-Ostafrika, das seit 1891 deutsche Kolonie war. Die Reise veränderte Oppenheim. Den Abenteurer der Marokko-Reise von 1886 ließ er hinter sich, um stattdessen zuzuhören, hinzusehen, sich mit Einheimischen auszutauschen, „in den Geist des Islam ein[zu]dringen“.3 Diese Offenheit war weit von der gängigen Einstellung der Europäer entfernt. Oppenheim bewegte sich vielmehr in der Tradition von Forschern, denen interkultureller Dialog am Herzen lag, allen voran Heinrich Barth, aber auch Gustav Nachtigal und Gerhard Rohlfs. Oppenheim machte zahlreiche Aufzeichnungen, die später Grundlage des zweibändigen Werks „Vom Mittelmeer zum Persischen Golf“ wurden.4 Es umfasst eine Fülle von Beobachtungen zu unterschiedlichsten Fachgebieten von der Ethnologie bis hin zur Botanik. Internationale Anerkennung für die aufwendig gestalteten

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Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv (RWWA), Nachlass Max von Oppenheim, NL MvO-1/4: 28. 4 Oppenheim 1899 und 1900. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Bücher ließ nicht lange auf sich warten und besiegelte den Anspruch des Autors, ernstzunehmender Forscher zu sein. Die Reise gab aber auch Oppenheims patriotischem Ehrgeiz Raum, was besonders in der abschließenden afrikanischen Etappe deutlich zutage tritt. Nach einem Treffen mit dem Gouverneur von Deutsch-Ostafrika besuchte Max eine Kaffeeplantage, um dort Ideen für deutsche Investitionen zu sammeln, und erwarb in einer heute befremdlich erscheinenden Transaktion von einem Stammeshäuptling rund 15.000 Hektar Land zum Spottpreis. Nach Deutschland zurückgekehrt, machte Max von Oppenheim „Propaganda für die Kolonie“.5 Ergebnis war die Gründung der Rheinischen Handeï-Plantagen-Gesellschaft unter der Federführung des Bankhauses Oppenheim. Sein Interesse an kolonialpolitischen Themen blieb bestehen, nachdem er sich 1894 in Berlin niedergelassen hatte. Paul Kayser, der 1890 Heinrich von Kusserow als Leiter der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt gefolgt war, beeinflusste ihn besonders stark. Wahrscheinlich war er es, der Oppenheim für einen Expeditionsplan in die zentralafrikanischen Reiche Bornu und Bagirmi begeisterte. Diese spielten eine Rolle im „Wettlauf um Afrika“, der seit der britischen Besetzung Ägyptens im Jahr 1882 zwischen Großbritannien, Frankreich und Deutschland entbrannt war. Oppenheim schwebte vor, die Erforschung bisher unbekannter Volksstämme und Oasen mit wirtschaftlichen Interessen des Deutschen Reiches zu verbinden. Erneut war sein Vater bereit, die Finanzierung zu übernehmen. Die Reise wurde jedoch in letzter Minute abgesagt, da inzwischen ein sudanesischer Warlord die Gebiete erobert hatte. Die Episode zeigt, dass Oppenheim in dieser Lebensphase keineswegs auf die arabische Welt Vorderasiens als Forschungsgebiet festgelegt war und politische und wissenschaftliche Ziele sich durchaus die Waage hielten. Kairo: auf internationaler politischer Bühne Im dritten Anlauf gelang es Max von Oppenheim dank der Fürsprache des befreundeten Diplomaten Paul Graf von Hatzfeldt und Paul Kaysers endlich, in die Dienste des Auswärtigen Amtes übernommen zu werden. Es war allerdings längst nicht das, was sich Oppenheim vorgestellt hatte, denn ihn erwartete lediglich der zweitrangige konsularische Dienst. 13 Jahre, von 1896 bis 1909, wirkte er am deutschen Generalkonsulat in Kairo. Seine Arbeitsbedingungen – von der unspezifischen Funktionsbeschreibung bis hin zur jährlich einzuholenden Verlängerung – machten jedoch deutlich, dass man ihn im Auswärtigen Dienst nicht wirklich wollte. Der ehrgeizige Oppenheim ignorierte die Zurücksetzung geflissentlich, zumal er Spielraum für sich entdeckte. In Ägypten, das seit 1882 von Großbritannien besetzt war, aber weiterhin formal zum Osmanischen Reich gehörte, stießen die Interessen der europäischen Großmächte besonders hart aufeinander. Oppenheim sah es daher als seine Mission, die Stimmung im Lande zu sondieren und daraus Erkenntnisse für die deutsche Politik zu gewinnen. Auch die insgesamt 467 Berichte, die er an den Reichskanzler richtete, dienten diesem Zweck, verbunden mit der Annahme, die eigene Stellung schließlich aufgewertet zu sehen. Die Hoffnung war vergeblich. Zu 5

RWWA, NL-MvO 1/4: 78. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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seiner wachsenden persönlichen Frustration gesellte sich zunehmender Druck der britischen Besatzungsbehörden, denen der umtriebige und unkonventionelle Oppenheim suspekt war. Resigniert verließ er 1909 Kairo, um ein Jahr später offiziell aus staatlichen Diensten auszuscheiden.

Abb. 4

Max von Oppenheim (3. v. li.) als Mitarbeiter am deutschen Generalkonsulat in Kairo, 1906. Re. neben ihm Generalkonsul Johann Heinrich Graf von Bernstorff.

Die Bagdadbahn Von Anfang an hatte Max von Oppenheim geplant, die Tätigkeit am Konsulat mit gelegentlichen Forschungsreisen zu verbinden. Nichts charakterisiert diese Verbindung von Wissenschaft und Politik besser als seine Reise von 1899. Ein Jahr zuvor hatte Abdul Hamid II., der Sultan des Osmanischen Reiches, Deutschland die Konzession für den Bau einer Bahnverbindung von Anatolien nach Bagdad erteilt. Das Vorhaben war politisch hochkontrovers, da es von den Briten als Element wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einflusses Deutschlands im Nahen Osten angesehen wurde, den das Empire als Bedrohung empfand. Für die Finanzierung des Projekts verpflichtete die Reichsregierung die Deutsche Bank, die den landeskundlich versierten Oppenheim für die Mitarbeit an der Trassenfindung der Bahnlinie gewann.6

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Heimsoth 2008: 355, 358. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 5

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Zug der Bagdadbahn nördlich des Tell Halaf an der Brücke über den Chabur.

Oppenheim nutzte seine Reise von 1899 wie geplant auch zu eigenen Studien und stieß dabei am Tell Halaf in Nordsyrien zufällig auf antike Steinskulpturen. Obwohl er ahnte, dass er etwas Außerordentliches entdeckt hatte, ließ er die Funde wieder mit Sand bedecken, da er keine Grabungsgenehmigung besaß. Vorerst steckte er seine ganze Energie in Ideen für das Bagdadbahn-Projekt. Das väterliche Bankhaus in Köln hatte als Gründer und Finanzier großer Infrastrukturvorhaben jahrzehntelang Erfahrungen darin sammeln können, wie diese sich auf die Gesamtentwicklung einer Region auswirkten. Vielleicht war es dieser geschulte Blick, der Oppenheim über das Potenzial der Bagdadbahn nachdenken ließ. Auf eigene Kosten begab er sich 1902 und 1904 jeweils für mehrere Monate in die USA, um dort Vergleichsuntersuchungen anzustellen. Seine Überlegungen hielt er in einer umfangreichen Studie fest, in der er eine Vielfalt von Entwicklungsmöglichkeiten für Wirtschaft und Gesellschaft sowie Ansatzpunkte für deutsche Einflussnahme aufzeigte.7 Die Deutsche Bank, welche zumindest anfangs die finanziellen Mittel bereitstellen sollte, winkte jedoch ab. So blieb es bei der Theorie. Geburt eines Archäologen 1909 ließ Oppenheim die Welt politischer Intrigen hinter sich, um sich als Archäologe neu zu erfinden. Im gleichen Jahr hatte ihn nicht nur eine Anfrage der Regierung in Konstantinopel hinsichtlich seiner Grabungspläne am Tell Halaf erreicht, sondern auch ein Appell elf deutscher Orientwissenschaftler, die angesichts des wachsenden internationalen Interesses an der Fundstätte darauf drängten, diese für die deutsche Archäologie zu sichern. Der Aufruf zeigt, dass die Archäologie alles andere als fern von der Politik agierte, sondern vielmehr längst Teil des „politische[n] Schachspiel[s]“8 unter den euro7 8

Oppenheim 1904. Trümpler 2008: 15. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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päischen Nationen im Kampf um die prestigeträchtigsten Ausgrabungsplätze geworden war. Grabungsprojekte vermittelten nationalen Glanz, mit dem sich machtpolitisches Handeln veredeln ließ. Zusätzlichen Anschub erhielt die Archäologie in Deutschland durch das weit verbreitete Empfinden eines Nachholbedarfs im Vergleich zu Großbritannien und Frankreich, deren Antikensammlungen man neidvoll betrachtete, das Selbstverständnis als Kulturnation und die Archäologie-Begeisterung Kaiser Wilhelms II., die sich auch finanziell niederschlug.9 Die von 1911 bis 1913 währende erste Grabungskampagne auf dem Tell Halaf zählt zu den erfülltesten Jahren in Oppenheims Leben. Er, der wie viele Ausgräber keine archäologische Ausbildung vorweisen konnte, sicherte den Erfolg der Grabung durch Heranziehung hochqualifizierter Fachleute, eine ausgefeilte Organisation und Geschick in der Führung von Menschen. Wie kein anderer Archäologe sollte er logistisch von der Bagdadbahn profitieren. Der Abtransport der Fundstücke im Jahr 1929 war vergleichsweise einfach, da die Bahnlinie in Sichtweite der Grabung verlief.10 Primat der Politik im Krieg Das Bündnis zwischen dem Deutschen Reich und dem Osmanischen Reich vom August 1914 machte Max von Oppenheim als Kenner der arabischen Welt wieder interessant für das Auswärtige Amt. Mit seiner Reaktivierung verknüpfte er eine doppelte Absicht: als Sachverständiger Einfluss auf die deutsche Kriegsstrategie im Nahen Osten zu nehmen und endlich persönliche Anerkennung zu ernten. Viel ist über Oppenheims Rolle im Jahr 1914 spekuliert worden. Als Autor der „Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“11 wurde er als strategischer Mastermind,12 ja als „Abu Jihad“ 13 interpretiert. Die neuere Forschung hat dieses Bild widerlegt. Die Denkschrift hatte nie den Rang eines strategischen Gesamtkonzepts, sondern war lediglich zusammenfassende Übersicht über die zahlreichen Ideen, die damals kursierten.14 Oppenheims Denkschrift kann ferner nicht den Ausschlag für den „Heiligen Krieg“ des Osmanischen Reiches gegen Engländer, Franzosen und Russen gegeben haben, da der Autor sie nachweislich erst nach der Ausrufung des Dschihad durch Sultan Mehmed V. am 14. November 1914 fertigstellte.15 Die Umsetzung der Aufwiegelungsstrategie, die durch die anfangs von Oppenheim geführte „Nachrichtenstelle für den Orient“ und so genannte Nachrichtensäle im Osmanischen Reich erfolgen sollte, geriet zudem dilettantisch und versandete bald. Der deutschen Politik fehlte es sowohl an einem schlüssigen Gesamtkonzept 9

Trümpler 2008: 15‒17 und Altekamp 2008: 580. Heimsoth 2008: 364. 11 RWWA, NL-MvO 42; Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA), Berlin, R 20938. 12 Vgl. beispielsweise McKale 1998. 13 Schwanitz 2004: 7. 14 Kröger 2001: 126. 15 Hanisch 2014: 13‒17. 10

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als auch an einer klaren Organisationsstruktur. Letztendlich wird man Oppenheims Wirken im Krieg vor allem als Aktionismus einstufen müssen.16

Abb. 6

Propagandamaterial. Propagandamaterial wie dieses mit einer polemischen Darstellung der britischen Indienpolitik lag in deutschen Nachrichtensälen im Osmanischen Reich aus.

Auf der Seite der Gegner nutzten die Briten die gleichen Methoden von Sabotage und Aufwiegelung, die Oppenheim in seiner Denkschrift empfohlen hatte. Viel schneller als die Deutschen kamen sie jedoch von der Theorie zum praktischen Handeln, wie die Sprengstoffangriffe auf die strategisch wichtige Hedjazbahn zeigen, die Beduinen unter der Führung von Thomas Edward Lawrence durchführten. Das Empire konnte letzten Endes von zahlreichen Faktoren profierten, nicht zuletzt seiner Erfahrung in nachhaltiger Agentenführung und der erheblich besseren finanziellen Ausstattung.17

16 17

Kröger 2008: 455‒461. Kröger 2008: 456‒461. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

Zwischen Abenteurertum, Politik und Wissenschaft

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Die deutsche Niederlage von 1918 zählt zu den großen Zäsuren in Max von Oppenheims Leben, denn das Ende des Kaiserreichs traf den Kern seines Selbstverständnisses. Für die erste Republik der deutschen Geschichte empfand er weder Sympathie noch eine aus der Vernunft geborene Toleranz. Erschwerend kam hinzu, dass die deutsche Archäologie als Kriegsfolge fast ein Jahrzehnt lang des Zugangs zu ihren Grabungsstätten im Nahen Osten beraubt war. Da eine Rückkehr in den Staatsdienst für Oppenheim nicht in Frage kam, zog er sich auf ein Gelehrtenleben zurück, das er der Aufarbeitung seiner Forschungen widmete und mit der ihm eigenen Kreativität und Energie gestaltete. Max von Oppenheims Leben macht deutlich, wie eng Archäologie und Politik im wilhelminischen Kaiserreich verknüpft waren. Gemeinsamer Nenner war der Wettstreit der Nationen um Macht, Einfluss und Prestige, in dem der Patriot Oppenheim seine Rolle suchte und fand. Während reines Abenteurertum nur eine kurze Phase seiner Jugend umspannt, bildeten politisch motivierte Ziele und Aktionen das Grundgerüst seines Lebens bis 1918. Oppenheim scheiterte jedoch weitgehend mit diesen Ambitionen, sowohl persönlich als auch sachlich. Anders sieht es mit Oppenheims wissenschaftlichen Leistungen aus. Als Beduinenforscher, als Archäologe, als Kenner der islamischen Welt und Brückenbauer zwischen den Kulturen hat er Bleibendes geschaffen. Bildnachweis Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln, Bestand Sal. Oppenheim: 3 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin: 6 Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, Köln: 1, 4, 5 Gemeinfreie Datenbanken: 2

Bibliografie Altekamp 2008 Stefan Altekamp, Germanità. Archäologische Kolonialfantasien, in: Charlotte Trümpler (Hrsg.), Das Große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860‒1940), Köln, 580‒585. Gründer 2008 Horst Gründer, Geschichte des Kolonialismus, in: Charlotte Trümpler (Hrsg.), Das Große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860‒1940), Köln, 21‒27. Hanisch 2014 Marc Hanisch, Max Freiherr von Oppenheim und die Revolutionierung der islamischen Welt als anti-imperiale Befreiung von oben, in: Wilfried Loth / Marc Hanisch (Hrsg.), Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients, München, 13‒38.

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Heimsoth 2008 Axel Heimsoth, Die Bagdadbahn und die Archäologie. Wirtschaftliche und wissenschaftliche Planungen im Osmanischen Reich, in: Charlotte Trümpler (Hrsg.), Das Große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860‒1940), Köln, 354‒369 Kröger 2001 Martin Kröger, Mit Eifer ein Fremder, in: Gabriele Teichmann / Gisela Völger (Hrsg.), Faszination Orient. Max von Oppenheim: Forscher, Sammler, Diplomat, Köln, 106‒139. Kröger 2008 Martin Kröger, Archäologen im Krieg: Bell, Lawrence, Musil, Oppenheim, Frobenius, in: Charlotte Trümpler (Hrsg.), Das Große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860‒1940), Köln, 448‒461. McKale 1998 Donald M. McKale, Germany and Great Britain in the Middle East in the Era of World War I, Kent. Oppenheim 1899 Max Freiherr von Oppenheim, Vom Mittelmeer zum Persischen Golf. Bd. 1, Berlin. Oppenheim 1900 Max Freiherr von Oppenheim, Vom Mittelmeer zum Persischen Golf. Bd. 2, Berlin. Oppenheim 1904 Max Freiherr von Oppenheim, Zur Entwickelung des Bagdadbahngebietes und insbesondere Syriens und Mesopotamiens unter Nutzanwendung amerikanischer Erfahrungen, Berlin. Schwanitz 2004 Wolfgang G. Schwanitz, The German Middle Eastern Policy. 1871‒1945, in: Wolfgang G. Schwanitz (Hrsg.), Germany and the Middle East 1871‒1945, Princeton, 1‒23. Teichmann 2001 Gabriele Teichmann, Grenzgänger zwischen Orient und Okzident. Max von Oppenheim 1860‒1914, in: Gabriele Teichmann / Gisela Völger (Hrsg.), Faszination Orient. Max von Oppenheim: Forscher, Sammler, Diplomat, Köln, 10‒105. Trümpler 2008 Charlotte Trümpler, Das Große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus, in: Charlotte Trümpler (Hrsg.), Das Große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860‒1940), Köln, 14‒19.

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Charles Sester Die Tragik eines deutschen Patrioten im Vorderen Orient Ralf-B. Wartke / Berlin Der deutsche Straßenbau-Ingenieur in türkischen Diensten, Karl Sester,1 konnte kaum ahnen, dass er mit seiner Entdeckung eines bisher gänzlich unbekannten monumentalen Grabtumulus mit Kultterrassen auf dem entlegenen Berg Nemrud Dagh den Beginn der deutschen Feldforschungen in den Gebieten des Alten Orients markiert hatte. Sester, über dessen Lebenslauf kaum etwas bekannt ist,2 war beseelt von der Idee, im Auftrage der deutschen Gelehrtenwelt ‒ vornehmlich für das Berliner Museum ‒ nützlich zu sein und ihm, und nur ihm, bekannte archäologische Fundstellen zur Kenntnis zu geben bzw. bei deren Untersuchung mitzuwirken. Sein Kapital war nicht Geld – Sester befand sich ständig in finanziellen Nöten ‒, sondern ausgeprägte Landes- und Sprachkenntnisse sowie sein spezielles Wissen von Fundplätzen, die er bei seinen berufsbedingten Reisen entdeckt hatte.

Abb. 1

Karl Sester (© Gemeinfrei)

1

Karl Sester, der sich auch Charles Sester nannte, stammte aus Aschaffenburg, seine Lebensdaten sind weitgehend unbekannt, nachweisbar ist er von ca. 1875‒1893. Er hielt sich in der 2. Hälfte des 19. Jhs. in Kleinasien / Kurdistan / Nord-Syrien und Mesopotamien auf. 2 Siehe einzelne Details bei Dörner 1987: 11‒39. Danach hätte Sester zunächst als Koch bei englischen Vermessungsspezialisten gearbeitet und sich dabei Kenntnisse über Straßenbau und Vermessung angeeignet. In der 1870er Jahren hatte er sich wohl selbst zum Ingenieur befördert. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Da Sesters kulturgeschichtliches Wissen recht bescheiden war, unterliefen ihm manche Irrtümer. In archäologischer Hinsicht wollte er jedoch ernst genommen werden und erwartete für seine „Nützlichkeit“ zugunsten Deutschlands, Berlins und des „lieben Museums“ Anerkennung und eine angemessene Entschädigung. Sester und die Entdeckungen auf dem Nemrud Dagh In seinen Briefen an Alexander Conze, Direktor der Antikensammlung der Berliner Königlichen Museen, berichtete Sester von der Entdeckung eines einzigartigen, bisher gänzlich unbekannten monumentalen Grabtumulus auf dem Gipfel des Nemrud Dagh. Der Ingenieur empfahl sich als jemand, der bereits archäologische Erfahrungen besaß; in Briefen an Conze vom 18. Februar aus Kairo und 22. Juli 1882 aus Alexandrette gab er an, „9 Monate mit Herrn Schmitt3 bei den Ausgrabungen in Ninive thätig gewesen zu sein“. In einem zweiten Schreiben behauptete Sester, dass er, „die Ausgrabungen von Ninive mit demselben geleitet habe“.4 Sein Plan, gemeinsam mit Smith den Nemrud Dagh aufzusuchen, war mit dem plötzlichen Tod Smiths in Aleppo 1876 hinfällig geworden. Bis Sesters spektakuläre Mitteilung endlich die richtigen akademischen und musealen Kreise in Berlin erreichte, sollten noch Jahre vergehen. Erst nachdem alle Zweifel und das Misstrauen, das Sesters Berichte ausgelöst hatten, überwunden waren, wurde die Angelegenheit ernst genommen und systematisch überprüft. Wer wollte schon ernsthaft glauben, dass in den Bergen ein unbekanntes monumentales Grabmal mit „Reliefplatten …alles mit Keilschrift bedeckt…“5 existierte? Eine zügig ausgesandte erste Nemrud Dagh-Expedition 1882 unter der Leitung von Otto Puchstein und Führung Sesters konnte den Wahrheitsgehalt der Berichte bestätigen. Mit der zweiten Expedition 1883, die die Aufgabe der wissenschaftlichen Dokumentation der gesamten Anlage, der Reihen monumentaler Sitzfiguren von Gottheiten, der Reliefstelen mit den iranischen und griechischen Ahnen des verstorbenen Königs Antiochos I. von Kommagene (69 ̶ ca. 36 v. Chr.) glänzend löste, stand der deutschen Wissenschaft das neue Forschungsmaterial zur Verfügung. Auch wenn sich keine Keilschriften auf dem Nemrud Dagh fanden, war das anfängliche Misstrauen dem unbekannten deutschen Ingenieur gegenüber unberechtigt, seine Leistung als Entdecker somit unbestritten.

3

George Smith (1849‒1876), englischer Archäologe, machte Ausgrabungen, u. a. in Ninive, und ist als erster Übersetzer des Gilgamesch-Epos bekannt geworden. 4 DAIArchiv, Nachlass Conze, Kasten 2. Sesters Angaben zu Ninive sind geschönt, seine Aussage, neun Monate archäologisch als Ausgräber die britischen Untersuchungen begleitet zu haben, lässt sich nach der Quellenlage nicht bestätigen: Smith traf bei seiner ersten Reise 1873 am 2. März zu einem Kurzaufenthalt in Ninive ein, begann nach einer Reise durch Babylonien mit Ausgrabungen vom 3. April (bis 4. Mai) in Mossul / Ninive (Smith 1875: 45, 86‒103). Ab Januar 1874 war Smith nicht mehr als ca. 3 Monate in Ninive (Smith 1875: 135‒ 152). Sester wird in Smiths Publikation gar nicht erwähnt, sein Name taucht auch im Index nicht auf. 5 Brief Puchstein an Conze vom 6. März 1882 aus Kairo in: DAIArchiv, Nachlass Conze. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Sester und die „Entdeckung“ von Sendschirli6 Die bereits erwähnte zweite Nemrud Dagh-Expedition startete am 9. Mai 1883 vom Hafen Alexandrette in das Landesinnere. Am Etappenort Saktsche Gözü (alte Schreibweise für Sakçegözü) wurde eine kleine Exkursion zu einem benachbarten Hügel entsandt, auf dem nach Hinweisen von Anwohnern Reliefsteine offen zu Tage stehend zu finden sein würden. Otto Puchstein und Felix von Luschan sowie ein Diener ritten am 18. Mai 1883 zu der angezeigten Stelle namens Sendschirli (alte Schreibweise für Zincirli) und fanden zahlreiche altertümliche Reliefblöcke in situ.

Abb. 2

Südliches Burgtor mit Reliefplatten in situ, 18. Mai 1883 (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Fotoarchiv)

Obwohl die Erkundung bereits nach kurzer Zeit wegen schlechter Wetterbedingungen abgebrochen werden musste, waren beide Forscher davon überzeugt, die vielversprechende antike Fundstätte als erste entdeckt und fotografiert zu haben. Doch wie sich später herausstellte, hatte der türkische Archäologe Osman Hamdi Bey7 nur wenige Tage zuvor, Anfang Mai 1883, auf dem Weg zum Nemrud Dagh8 bereits Sendschirli besucht.9 Dort habe er eine mit Reliefs geschmückte Mauerecke freilegen lassen, wie im Reisetagebuch nachzulesen ist. Ob Hamdi Bey dort tatsächlich graben ließ und in welchem Umfang, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Frische 6

Zur Entdeckung und Untersuchung des Nemrud Dagh sowie zu deren Vor- und Nachgeschichte siehe Wartke 2019 (in Vorbereitung). 7 Osman Hamdi Bey (1842–1910), türkischer Archäologe (Ausgrabungen in Sidon / Libanon) und Gründer des ersten archäologischen Museums in Konstantinopel sowie dessen Direktor. 8 Gegen alle Absprachen, gemeinsam zum Nemrud Dagh zu reisen, eilte Hamdi Bey in einer eigenen türkischen Expedition der deutschen Reisegruppe einige Tage voraus, um in einem nicht erklärten Wettkampf den ersten Platz bei der Dokumentation der Denkmäler den Vorrang zu erringen. 9 Eldem 2010: 51‒52, 81. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Spuren einer Ausgrabung – etwa Erdbewegungen und Abraum – wären von Puchstein und Luschan sicher bemerkt worden, trafen sie doch nur wenige Tage später vor Ort ein. Auch in ihren Berichten finden sich keine Hinweise auf eine freigelegte Mauerecke. Gleichwohl käme Hamdi Bey als erstem offiziellen Besucher die Ehre zuteil, Entdecker des Fundplatzes Sendschirli mit seinen archäologischen Denkmälern zu sein. Erste Informationen über offen sichtbare Reliefs lagen Sester jedoch schon 1882 vor, als er mit Puchstein zum Nemrud Dagh gereist war. Ein Indiz dafür, dass die Steinplatten also mindestens ein Jahr, wenn nicht länger, frei zugänglich waren. Warum sind die beiden Reisegefährten also nicht schon 1882 dieser Spur gefolgt?

Abb. 3

Otto Puchstein in Sendschirli, 18. Mai 1883 (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Vorderasiatisches Museum, Fotoarchiv)

Das Verhältnis zwischen Puchstein und Sester im Umgang miteinander war während ihrer gemeinsamen Reise mehr als gespannt, was sich auch auf konstruktive Entscheidungen auswirkte. Erschwerend kam für Puchstein hinzu, dass Sester aufgrund seiner Sprachkenntnisse mit der lokalen Bevölkerung kommunizieren konnte, während er selbst weder Türkisch noch Kurdisch beherrschte. In einem längeren Brief an Conze hatte Sester gleich dreimal Bezug zu den Informationen über die Existenz interessanter Steine genommen:10 „Als wir 4 Stunden von Islahiya weg waren und da in einem Dorfe übernachteten erzählte man mir, daß eine Stunde von da am Fusse des Gebirges Altar Güner Steine gefunden worden sind. Ich ersuchte Herrn 10

Conze war Adressat von Briefen der beiden Reisenden, die sich bei ihm wechselseitig über das Missverhältnis der Zusammenarbeit während der Expedition beschwerten. Hier Brief Sesters an Conze vom 22. Juli aus Alexandrette in: DAIArchiv, Nachlass Conze. Der Brief ist hinsichtlich Orthographie und Interpunktion in eine lesbare Form gebracht worden, da Sester recht eigenwillig schreibt. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Puchstein, sich diese Steine doch anzusehen. Ebenderselbe that es nicht (auf der Rückreise erfuhr ich, daß diese Steine aus weissem Marmor11 sein sollten und gerade solche … hätte genau wie die in Sactge Kossy [gemeint ist das Löwenjagdrelief aus Saktsche Gözü] ). Das Dorf liegt zwischen Sactge Kossy und Islahiya und heißt Sengerly Koy. Es sollen im ganzen 11 Stück sein. Angekommen in Sactge Kossy ersuchte ich sowie Herr Professor Winsek [der als Gast streckenweise Mitreisende Prof. Wünsch] dann Herrn Doktor Puchstein, daß derselbe die Steine kaufen möchte indem die Amerikaner in Aintab diese haben wollten. Herr Puchstein erlaubte sich zu erwidern, daß diese Steine Nichts seien und fürs Berliner Museum nicht brauchbar wären…“ und weiter „Ich ersuche Sie, geehrtester Herr Conze, nicht zu säumen, wenn es Ihnen um diese Steine zu thun ist [die drei Platten der Löwenjagd in Saktsche Gözü] und schnell jemanden dorthin zu schicken sowie auch die in dem Dorfe Sengerly nicht zu vergessen …“ und kurz vor Briefende: „Ich erlaube mir, Ihnen hiermit zum Schluß noch diese nochmals zu wiederholen: Im Dorfe Sengerly 5 Stunden von Islahiya 11 Stück im weissen Marmor…“. Rückblickend lässt sich also feststellen, dass ein kurzer Abstecher vom Reiseweg schon 1882 zur offiziellen Entdeckung von Sendschirli geführt hätte, wenn Puchstein die eingeholten Auskünfte positiv bewertet oder Sester sich mit seinem Wissen von der Existenz der „Steine“ bei Sendschirli hätte durchsetzen können. Sester und die „Umgebung von Mossul“ / Hatra Im April 1889 informierte Sester Adolf Erman, Direktor der Ägyptischen Abteilung der Berliner Museen, die die vorderasiatischen Denkmäler bis 1899 mitbetreute, über „Altertümer aus den Gegenden von Mosoul“, wo er „prachtvolle Statuen und Inschriften“ an Stellen gefunden habe, die bisher noch nicht bekannt und untersucht worden seien. Die von ihm selbst gemachten Funde hätte er vor Ort wieder vergraben müssen. Sester, der sich stellungslos in Konstantinopel aufhielt, versicherte, dass seine Funde „älter, schöner und werthvoller“ seien als die früher von ihm zu Kiachta gefundenen. Er erklärte, dass dieselben völlig unversehrt seien und Ausgrabungen an diesen Orten „Gegenstände von unschätzbarem Werth“ zu Tage bringen würden. Er könne beschwören, dass „diese Gegenstände weit höheres Interesse haben als die von Nimruth Dach bei Kiachta“. Da nur er(!) die Gegend und die Plätze kenne, an denen er die Statuen und Inschriften gefunden hätte und nicht mitnehmen konnte, schlug Sester vor, diese im Auftrag des 1887 gegründeten OrientComités (OC) auszugraben. Insbesondere müsse man den Franzosen zuvorkommen, die ebenfalls in der Gegend recherchierten. Sesters Vorstellung von einem Kontrakt, mit Erlaubnis der Berliner Institutionen die Ausgrabungen selber durchführen zu können und mit einer angemessenen 11

Die Materialangabe befremdet. Die Oberfläche der Basaltreliefs, die möglicherweise Jahre frei standen, war hellgrau. Die Identifizierung der Steine ist nach den Beschreibungen hingegen nicht zweifelhaft: Ortsname, Entfernung, Anzahl der Reliefs sind eindeutig mit der Situation vor Ort in Übereinstimmung zu bringen. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Finanzausstattung versehen zu werden, waren wegen der genannten Kosten völlig indiskutabel: – Tausend Mark Hinreise – Tausend für die Rückreise – Viertausend für die Ausgrabung und den Transport bis Bagdad.12 In einem weiteren Brief bat er eindringlich, baldmöglichst zu handeln, um die Ruinenstätte nicht an die Franzosen13 zu verlieren. Was hatte Sester nun entdeckt? „Statuen, große und kleine, weißer und schwarzer Marmor ‒ 3 Meter hoch, 4‒5 Meter Länge mit prachtvoll gearbeiteten Keilinschriften, Männer und Frauen, verschiedenes anderes von Werth“. Sester „will Hunger und alle Strapazen aushalten wenn [er] nur weiß, daß diese schönen Gegenstände in deutsche Hände gekommen sind und nicht anderwärts ... [Sie werden] in ganz Deutschland Staunen erregen über die prachtvollen Gegenstände, die [er] übermitteln werde, manches noch nie gesehene und vielleicht einzig in seiner Art und auch viel älter und besser als Nimruth Dagh.“14 Obwohl die neuen Informationen Sesters, in denen wiederum von Keilschriften die Rede war, bei den Berliner Museen, der Akademie der Wissenschaften und dem OC Interesse auslösten, fehlte in Berlin offenbar die Einsicht in die Notwendigkeit schnellen Handelns. Hier hätte es eines Mannes wie Conze bedurft, dem es gelungen war, die Friesfragmente des großen Pergamonaltares vor den Kalkbrennöfen zu bewahren. Auch das Projekt Nemrud Dagh war maßgeblich durch Conze mitgesteuert worden, indem er die erheblichen Mittel zur Absicherung der Exkursion sichern konnte. Da alle Entscheidungsträger aus dem Vorstand des OC im Sommerurlaub waren, wartete Sester in Konstantinopel vergeblich auf den baldigen Start zur Reise „in die Gegend von Mosoul“. Das Projekt stagnierte erneut.15 Endlich kam die ersehnte Nachricht, dass „ein Herr aus Berlin“ als Begleiter geschickt würde. Der spät eingetroffene, als Sesters Begleitung in Aussicht genommene, „Herr“ war Robert Koldewey. Nach einiger Zeit hieß es jedoch, seitens des OC würde nun der Spezialist für orientalische Sprachen, Julius Euting, als Begleiter Sesters auf die Reise geschickt werden.16 Mit Datum vom 17. Dezember 1889 – acht Monate nach dem ersten Brief an Erman – erging ein Aufruf zur Zeichnung von Beiträgen für die Finanzierung des 12

Brief vom 15. April 1889 aus Konstantinopel an Erman in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. Gustave Charles Ernest de Sarzec (1832‒1901); französischer Diplomat mit archäologischen Interessen; zunächst Vizekonsul in Ägypten, seit 1875 Vizekonsul in Basra; wurde durch seine Ausgrabungen in Tello(h) / Südmesopotamien als Archäologe bekannt. 14 Brief von Sester an Erman vom 7. Mai 1889 aus Pera / Konstantinopel in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. 15 Der Stellvertreter des Vorsitzenden des OC, Reiss, beschrieb die Situation der ständigen Verschiebungen Sester gegenüber damit, dass „Berlin wie ausgestorben ist“. Brief an Sester vom 23. September 1889 in: SMB-ZA, III/OC II.72. Er hoffe daher, dass Kaufmann „mit fester Hand das Steuer des OC ergreife“. Brief Reiss an Kaufmann vom 26. August 1889 in: SMB-ZA, III/OC II.2.72. 16 Die Rekognoszierung des Fundplatzes durch Sester und Euting lag im ausdrücklichen Interesse des OC. Brief von Luschan an Euting vom 12. November 1889 in: SMB-ZA, III/OC II.2.52.2. 13

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Vorhabens. Darin hieß es: „… Ersuchen um Zeichnung von Beiträgen für ein archäologisches Unternehmen … Es handelt sich um die Erforschung einer antiken Ruinenstätte, die nach allem, was wir über sie von vertrauenswürdiger Seite gehört haben, sowohl für die Wissenschaft als auch für die Königlichen Sammlungen von der größten Wichtigkeit sein dürfte. Zunächst müßte in diesem Fall eine Recognoszierung von fachmännischer Seite stattfinden und zwar baldigst, da die Gefahr vorliegt, daß uns von nichtdeutscher Seite zuvorgekommen wird. … zur Ausführung bedürfen wir einer Summe von 5000 Mk. ca. … und bitten die Realisierung unseres Vorhabens gütigst zu fördern…“17 Während die Reisemittel durch die positive Reaktion auf diesen Werbebrief schnell abgesichert waren, hatte Sester das monatelange fruchtlose Warten in Konstantinopel als großes Unrecht erlebt. Weitgehend mittellos und erkrankt, hatte er inzwischen allen Mut verloren. Um sich finanziell über Wasser zu halten, sah er sich sogar gezwungen, Teile seines persönlichen Besitzes zu verkaufen: „Ich lebe sehr zurückgezogen, gehe nirgendwo hin, erlaube mir auch nicht das geringste extra. Bin kein Trinker, gehe nicht ins Wirtshaus und bei allen möglichen Einschränkungen ist nicht möglich, billiger als wie mit 250 Franken … auch nur einigermassen vegetiren zu können … gewiß welche Ausgaben hat man noch dazu hier in diesem Neste, wo man in einem Tage bei jedem Ausgang wieder die Stiefel muß wichsen lassen da man vor Kot dieselben nicht ansehen kann und auch für die geringste Kleinigkeit das Zehnfache bezahlen muß als an anderen europäischen Städten. Für ein armseliges Beefsteak ohne alle Zuthaten allein 7 Piaster, mir gingen die Haare zu Berge als ich meine Rechnung verlangte. Ausgezogen haben sie mich, das griechische Gesindel und es ist mir Angst und Bange wenn noch die Abreise sich lange hinziehen thut“.18 Diese Situation schien Sester nur durchzuhalten, weil er laut eigenem Bekunden „... einen sehr großen Patriotismus für Deutschland [habe]“,19 der einzig den Interessen des Königlichen Museums in Berlin diene. Und wie ging es nun weiter? Ungeschickte Verhandlungs- und Informationspolitik führten dazu, dass Hamdi Bey, nachdem er von den Reiseabsichten erfahren hatte, sich verärgert und distanziert zeigte, da er über die Forschungsabsichten des OC in der Gegend von Mossul nicht offiziell informiert worden war.20 Mitentscheidend für die Blockade der Reise von türkischer Seite war auch eine aktuelle (falsche!) Zeitungsmeldung, die Hamdi Bey sicher gelesen hatte: „… M. Euting, professeur á l’Université de Strasbourg a été chargé par le ministère de l’instruction pu-

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SMB-ZA, III/OC IV.1: Die ersten sechs Zeichner von Beiträgen sind in dem Aufruf bereits mit zusammen 900 Mark gelistet: Prof. Dr. v. Kaufmann, Comm.-Rath J. Simon, J. Simon, Prof. Sachau, Dr. Reiss. 18 Brief Sester an Reiss vom 16. September 1889 aus Pera / Konstantinopel in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. 19 Brief Sester an Kaufmann vom 25. Juli 1889 aus Pera in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. 20 Sester berichtete Kaufmann über seine Unterredungen mit Hamdi Bey, die sehr unfreundlich verlaufen seien. Briefe aus Pera vom 14. Oktober und 31. Dezember 1889 sowie vom 16. Januar 1890 in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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blique d’opérer des fouilles dans les ruines de Babylone“.21 Dies wären illegale Ausgrabungen gewesen! Hamdi Bey blieb keine andere Wahl, als darauf hinzuweisen, „daß erst eine ministerielle Bewilligung für die geplante Exkursion SesterEuting nöthig wäre“. 22 Bei dieser Lage der Dinge, der fehlenden Unterstützung durch die türkischen Behörden und dem Vorrang der Ausgrabungen in Sendschirli blieb letztlich nur der Verzicht bzw. die Aufgabe der Pläne. Obwohl der Name des Ortes, an dem Sester die geschilderten Beobachtungen gemacht hatte und seine eigenen Ausgrabungsfunde wieder vergraben musste, in den Korrespondenzen nicht ausdrücklich genannt wird, war unzweifelhaft die parthische Stadt Hatra (el Hadr) gemeint. Neben den eindrucksvollen oberirdisch anstehenden Architekturen, vielfach mit aramäischen Inschriften (keine Keilschrift) versehen, hatte der reiche Skulpturenschmuck seine Wirkung auf Sester kaum verfehlt. Dies schlug sich in den überschwänglichen Beschreibungen im Vergleich zu den Funden auf dem Nemrud Dagh nieder. Mit der Formulierung zur Lage des Fundortes in der Umgebung von Mossul wollte Sester vermeiden, dass seine Entdeckung allgemein bekannt wurde, denn die Ruinenstadt Hatra lag isoliert mitten in der Wüste, etwa 100 km südwestlich von Mossul, war sogar für die osmanischen Behörden weitgehend unzugänglich und blieb der Wissenschaft folglich lange Zeit so gut wie unbekannt. Als Entdecker der Wüstenstadt Hatra gelten der britische Generalkonsul in Bagdad John Ross und Captain Lynch, die sich 1836 und 1837 jeweils nur kurz in den Ruinen aufgehalten hatten und wegen feindlichen Verhaltens der Araber den Ort plötzlich verlassen mussten.23 Nur wenig später sollte William Ainsworth in Begleitung von Austen Henry Layard und Hormuzd Rassam Hatra besuchen, Ankunft 22. April, Abreise 23. April 1840. Von diesem Kurzbesuch liegt eine erste Beschreibung der Ruinen vor.24 Der Dornröschenschlaf Hatras von dem letzten Besuch 1840 bis zu den kurzen Architekturaufnahmen durch die Deutsche Orient-Gesellschaft in den Jahren 1906 (7./8. Mai, 27. September) und 1907 (7./8. Mai) 25 wurde offenbar nur kurz durch Sesters (inoffizielle) private Ausgrabungen unterbrochen. Wie auch andernorts sah sich Sester als Gegenspieler der Franzosen (und Engländer) und als archäologischen Agenten für Deutschland. In einem Brief an Kaufmann rühmt er sich, in Istanbul mit Intrigen die Reise französischer Abgesandter in das Gebiet um Mossul erschwert zu

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Moniteur Oriental, 6. Januar 1890. Luschan hatte seinem Schreiben an Kaufman einen Zeitungsauschnitt beigelegt. Brief vom 11. Januar 1890 aus Konstantinopel in: SMB-ZA, III/OC II.2.52.3. 22 Brief von Luschan an Kaufmann vom 13. Januar 1890 in: SMB-ZA, III/OC II.2.52.3. 23 Ross 1839: 443‒470. 24 Ainsworth 1842: 147‒170. 25 Andrae 1908 und 1912. Wie Andrae berichtete, wurde die unlängst (kurz vor 1908) in Hatra aktive französische Expedition durch die feindliche Haltung der Araber nach wenigen Tagen Aufenthalt vertrieben; Andrae 1908: Vorwort. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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haben, wobei er bis in den Sultanspalast Einfluss auf die Aktivitäten der Franzosen genommen habe.26 Mit dem Scheitern der Mission hat die deutsche Archäologie eine erste große Chance verpasst, 1889/90 in Mesopotamien mit einem bedeutenden Forschungsvorhaben Fuß zu fassen und in Abstimmung mit der osmanischen Antikenverwaltung die Ruinenstätte Hatra systematisch zu untersuchen. Sester und Ras al-Ain 1899 gilt als das Jahr der spektakulären Wiederentdeckung der aramäischen Residenzstadt Guzana (modern Tell Halaf) durch Max von Oppenheim. In der Nähe von Ras al-Ain gelegen, hatte er auf der Anhöhe eine Versuchsgrabung durchgeführt und zwar an der Stelle, wo Jahre zuvor bei der Aushebung einer Grabgrube merkwürdige Skulpturen freigelegt worden waren. Aus abergläubiger Scheu war die Grube wieder zugeschüttet und der Verstorbene an anderer Stelle beigesetzt worden.27 Aus einem Brief Sesters an Conze aus dem Jahr 188228 wird allerdings ersichtlich, dass erheblich früher Informationen über die Entdeckung auf dem Tell Halaf sowie über Ausgrabungen und Funden existierten, die Oppenheim nicht bekannt waren. Sester sah auch in diesem Falle seine Aufgabe darin, als Agent für das deutsche Museum – gesteigert „für das liebe deutsche Museum“ – zu wirken und mit aktuellen Informationen über die Aktivitäten von Vertretern anderer Staaten zu informieren. In Wiranschehir wurde „uns mitgeteilt, daß in Ras ell Ein man Statuen und vielerlei Steine gefunden hat. Die türkische Regierung hats aber wieder zumachen lassen. Konsul Henderson will diesen Winter dort weitere Nachgrabungen machen lassen. Bitte sehen Sie, daß Sie demselben zuvorkommen.“ Ein halbes Jahr später sah sich Sester gezwungen, Conze noch einmal an die Funde vom Tell Halaf zu erinnern, in der Hoffnung, dass er Initiative ergreifen möge: „Bitte nicht zu vergessen, die schon einmal erwähnten Antiken, die man entdeckt hat in Ras el Ain zwischen Ourfa und Der sor. Nach deren Beschreibungen eines türkischen Officirs, der hier ist, sind dieselbe in der Art wie die in Saktschekössü, Assyrische. Ich hatte Ihnen schon einmal darüber geschrieben. Bitte den Wink zu benutzen und dem Engländer zuvorzukommen.“29 Wieder war Sester offenbar aktuell und sachlich richtig informiert. Es war ihm jedoch nicht gelungen, in Berlin Interesse an der Untersuchung der offenbar hochinteressanten Fundstelle zu wecken und womöglich eigene Schritte einzuleiten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das schnelle Handeln der Engländer, so 26

Brief Sester an Kaufmann vom 12. Juni 1889 aus Pera / Konstantinopel: „Wenn ich Ihnen hier alles aufzählen würde möchten Sie es gewiß unglaublich finden.“ in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. 27 Ausführliche Schilderung seines Besuchs am Tell Halaf gibt Max von Oppenheim selbst: Oppenheim 200: 176‒182. 28 Brief Sester an Conze vom 22. Juli 1882 in: DAIArchiv, Nachlass Conze; genannt wird der nahe gelegene Ort Ras al-Ain („Quellkopf“ des Chabur), gemeint sind die Funde auf dem unmittelbar benachbarten Tell Halaf. 29 Brief Sester an Conze vom 22. Februar 1883 in: DAIArchiv, Nachlass Conze. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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ergab die Auswertung der Unterlagen im British Museum einen detaillierten Bericht über die Fundumstände.30 Hormuzd Rassam, Direktor der Ausgrabungen des Britischen Museums in Mesopotamien, hatte während seines Aufenthaltes in Der ez-Zor gehört, dass einige bedeutende Antiken in der Nähe von Ras al-Ain gefunden worden seien. Er sandte unverzüglich einen Agenten dorthin, die Angelegenheit zu prüfen. Dieser musste umgehend mit Ausgrabungen begonnen haben, denn schon im Mai stoppte der Kaimakam von Ras al-Ain die Arbeit und beschlagnahmte einen Kopf aus schwarzem Basalt, den der Agent gefunden hatte. Rassam, der nicht persönlich vor Ort war, schilderte in seinem Bericht über die Aktivitäten auf dem Tell Halaf etwas ganz ähnliches. Zu den Entdeckungen aus den englischen Ausgrabungen gehörten Skulpturen und Reliefs mit Jagdszenen, Darstellungen von Antilopen, Pferden, bewaffneten Männern, Stieren und anderen Figuren. Die örtlichen Behörden hätten jedoch die Arbeiter weggeschickt und die Funde beschlagnahmt. Einzig das Relieffragment eines Bogenschützen ist aus diesen ersten Ausgrabungen in das British Museum gelangt. Rassams Bemühungen um Erlaubnis für abschließende Arbeiten blieben erfolglos, die Fundstelle bis zu ihrer Wiederentdeckung 1899 unberührt. Sester und Van Sesters persönliche Situation in Pera / Konstantinopel war und blieb prekär. Mitte Januar 1890 schrieb er „Ohne meine Schuld bin ich in eine solche verzweiflungsvolle Lage gekommen, daß mir der Todt lieber wäre als noch länger fortzuleben.“31 Nachdem sich seine Hoffnungen zerschlagen hatten, mit einer deutschen Expedition zu den nur ihm bekannten Fundstellen zu reisen, neuen Lebensinhalt und dadurch ein festes Einkommen zu finden, bemühte er sich um eine Anstellung bei der türkischen Regierung. Im März 1890 wurde Sester durch gütige Vermittlung seiner Excellenz Baron von Radowitz32 die Stelle als Ober-Ingenieur des Vilajet Mosoul angeboten, die er augenblicklich annahm. Er sah sofort Möglichkeiten, auf seinen damit verbundenen, beruflich notwendigen Reisen wieder als treuer Agent des OC nützlich werden zu können.33 Im September 1890 endlich am neuen Einsatzort Van (Ost-Anatolien) angekommen, berichtete Sester sofort an Kaufmann „Hier kann ich Ihnen von ungeheurem Nutzen werden, denn es gibt hier noch sehr viel Unbekanntes obschon die Engländer hier eine Ausgrabung vornahmen so hat es hier noch verschiedene Plätze unberührt aus der Zeit Ninive und sehr viele Inschriften [Keilschrift].“ Und wenig später urteilte er, dass hier „ungeheuer viel mehr zu finden [sei] als wie in Mosoul“ und er „weiß auch jetzt einen Platz hart am See, wo noch verschiedene große und 30

Reade 1983: 97‒100, Taf. XVI b. Reade stützt sich auf die Akten des British Museum (P 2651, 3012, 3338, 3476, 5206) sowie auf den Brief Rassams an Layard vom 14. Juni 1882; 15 Jahre nach der Entdeckung und ersten Ausgrabungen beschrieb Rassam die Situation in Rassam 1897: 313). 31 Brief Sesters an Kaufmann vom 16. Januar 1890 aus Pera in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. 32 Joseph Maria von Radowitz, deutscher Botschafter in Istanbul, Amtszeit 1882‒1892. 33 Brief Sester an Kaufmann vom 17. April 1890 aus Pera in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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kleine Gräber sind, wovon noch sehr viele ungeöffnet sind und verschiedene auch noch sich unter der Erde sich befinden mögen.“34 Ganz unbestritten hatte Sester das Potential für umfassende Forschungen in der Region, in der systematische Untersuchungen noch nicht stattgefunden hatten, erkannt. Und dass die Zeit wieder drängte, bewiesen die ersten Einzelfunde, die bereits Europa erreicht hatten.35 Zur Dokumentation seiner Fundplätze durch Kopien und Fotografien erbat er vom OC die Zusendung eines fotografischen Apparates nebst Zubehör und um Abklatschpapier. Schon wenige Tage nach seiner Ankunft in Van konnte er dem OC mitteilen, dass er „bis heute 11 Plätze mit Keilinschriften gesehen habe, wovon bloß 4 von dem Engländer abgenommen wurden.“36 Aus Sesters Berichten an das OC geht hervor, dass er ständig neue Inschriften entdeckte, aber mangels Abklatschpapier und fotografischem Apparat diese nicht dokumentieren könne.37 Das zum Abklatschen notwendige und nahezu in jedem Brief an das OC dringend erbetene Spezialpapier war zwar nach dem Eintreffen Sesters in Van im September 1890 bestellt worden, kam aber erst sehr spät zum Einsatz, und dies nur begrenzt. Die erste Sendung war beim Transport verloren gegangen. Auch bei den Nachlieferungen erwies sich die Menge als nicht ausreichend für die mitunter sehr großen Inschriften.38

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Briefe Sester an Kaufmann vom 10. und 22. September 1890 aus Van in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. 35 Auch das Vorderasiatische Museum kaufte 1886 eine Gruppe von „armenischen Altertümern“ an, die 1880/81 bei „Schatzgräber-Aktionen“ auf Toprakkale bei Van entdeckt wurden. Weitere Ausgrabungen fanden 1884 und 1889/90 statt. Zu den Aktivitäten Sesters in Van und der Forschungsgeschichte in und um Van siehe Wartke 1990: 8. und Wartke 1993: 11‒25. 36 Sester an Kaufmann vom 22. September 1890 aus Van in: SMB-ZA, III/OC II2.84. 37 In seinem Brief vom 25. Februar 1891 an Kaufmann listete Sester 42 Keilschriften auf, die er gefunden habe, aber aus Papiermangel nicht abklatschen konnte. SMB-ZA, III/OC II.2.84. 38 Die Ersatzlieferung von Abklatschpapier stand erst ab Mitte Mai zur Verfügung, reichte aber für die Abnahme der vielen Felsinschriften nicht aus: Die Felsinschrift von Zimzim Dagh hatte eine Höhe von 3 ½ Meter, die Breite betrug 2 Meter! Hierzu Briefe Sesters an Kaufmann aus Van vom 10. September (Anforderung wegen sehr vieler Keilschriften) und 3. Dezember 1890 (noch nicht angekommen), 24. März 1891 (bis heute nicht erhalten), 13. Mai an Erman (das angezeigte Abklatschpapier fehle), 2. Juni (mit Schreiben vom 12. Mai richtig erhalten, wird nicht reichen), 23. Juni an die Herren des OC (unbedingt mehr Papier nothwendig), 1. Dezember 1891 („kleines Paketchen … erhalten … die Lagen sind so schrecklich klein“) in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Abb. 4

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Brief von Sester an Conze, 22. September 1890, Seiten 4, 1, 2 und 3 (© Staatliche Museen zu Berlin ‒ Zentralarchiv, III/OC II.2.84)

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Welche und wie viele Felsinschriften Sester abgeklatscht hatte, ist unbekannt. Leider war es auch mit dem fotografischen Apparat schlecht bestellt. Dieser traf zwar nach langer Wartezeit ein, kam aber nie zum Einsatz vor Ort, da beim Transport sowohl Zubehör als auch die notwendigen Chemikalien Schaden genommen hatten und Ersatz nicht zu beschaffen war.39 Besorgt informierte Sester Kaufmann über die Aktivitäten örtlicher Raubgräber: „Vor einigen Monaten hatte man hier auf dem Platz, wo früher die Engländer eine Tempel-Ausgrabung vornahmen auf dem sogenannten Berge Toprak kale ½ Stunde von hier, heimliche Grabungen gemacht und verschiedene Vasen und auch ein kleines Wägelchen aus Bronze mit vier Rädern … gefunden. Die Domenikaner haben 3 Räder gekauft, der russische Consul das andere. Ich weiß noch drei Plätze, wo noch nicht gegraben wurde, einen in dortiger Nähe und zwei 1 Stunde von hier, im Interesse des deutschen Museums einige Versuchsgrabungen vornehmen um zu wissen, ob da eine größere Ausgrabung sich lohnen möchte. … Der russische und Englische Consul, aber auch die hiesigen Domenikaner, machen mir in dieser Beziehung große Concurrenz. Vor 12 Tagen wurden mir drei große schöne Vasen offerirt um den Preis von 3 Pfund türkisch. Ich hatte nicht gleich das Geld und so hatte der englische Consul dieselben um 5 Pfund gekauft und zwei Tage darauf wieder dieselben Vasen einer durchreisenden Engländerin, die aus Indien über Persien durchkam, um die Summe von 15 Pfund wieder verkauft … So geht’s mit allem. Die kaufen mir alles weg hier … Vorgestern wurden mir 4 … Schüsselchen angeboten um 4 Medjidi. Ich ging zu den Domenikanern um das Geld dazu bis zum Ende des Monats zu leihen. Anstatt mirs zu geben kauften dieselben die Vasen um 4 ½ Medjidi. So geht’s mir mit allen zu findenden Sachen … ich verliere die schönsten Sachen fürs deutsche Museum.“40 Sesters Aufenthalt in Van fiel in eine Zeit, als die bisher weitgehend unbeachtete Bergregion um den Van-See erstmals in den Focus der Wissenschaft geriet. Über die materielle Kultur Urartus, im 1. Jahrtausend v. Chr. ein ernstzunehmender Nachbarn Assyriens, war zu dieser Zeit wenig bekannt. Obwohl Sester sich mit festem Dienstsitz in Van aufhielt, das OC auf archäologische Ruinen im Stadtgebiet aufmerksam gemacht, zahlreiche Keilinschriften aufgespürt und Abklatschte angefertigt sowie eigene Schürfungen in Aussicht gestellt hatte, zeigte Berlin kein ernsthaftes Interesse. Ob er seinen Plan, Abklatsche für eine Sendung nach Berlin zu sammeln, transportfertig zu machen und an die Kaiserliche Botschaft nach Konstantinopel und weiter an das OC nach Berlin zu schicken, umsetzen konnte, ließ sich nicht ermitteln. 39

Zum Beispiel Briefe Sesters an Kaufmann vom 17. April (Bitte um fotografischen TrockenApparat) und 3. Dezember 1890 („Apparat bis heute noch nicht angekommen“), vom 25. Februar 1891 („kann mit dem photographischen Apparat ohne das nothwendige Zubehör nichts machen“), Brief an Erman vom 13. Mai („Kiste mit Apparat beim Zoll geöffnet und konstatirt, daß von den Chemikalien einige Fläschchen total gebrochen waren und von den 5 Paquets Trockengelatine 3 aufgeschnitten sich vorfanden“), und vom 16. September 1891 an Kaufmann („konnte bis heute noch nichts mit diesem Apparat unternehmen“) in: SMBZA, III/OC II.2.84. 40 Brief Sester an Kaufmann vom 4. November 1890 aus Van in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Im Oktober 1891 tauchte mit Waldemar Belck41 ein zweiter Deutscher für mehrere Tage in Van auf, der wie Sester Keilinschriften kopierte (abzeichnete) und einige Fotos machte.42 Jahre später setzte Belck seine Erkundigungen fort, dieses Mal kam er in Begleitung Lehmann-Haupts. Ob sie mit Karl Sester, der dort in fester Anstellung war, zusammengetroffen sind, ließ sich nicht in Erfahrung bringen. Möglicherweise ging es Sester zu diesem Zeitpunkt bereits so schlecht, dass er sich weitgehend zurückgezogen hatte. Während sich Sesters Bemühungen kaum auszahlten, hatte Belcks materielle Ausbeute – neben zahlreichen Abklatschen auch wertvolle Funde – in Berlin weitreichende Folgen: Indem Rudolf Virchow den Autodidakten Belck und den Keilschriftspezialisten Carl Friedrich Lehmann-Haupt43 zusammengeführt hatte, gingen beide mit ihren Forschungen zu Urartu und den urartäischen Keilschriften als Pioniere der Urartu-Forschung in die Wissenschaftsgeschichte ein. Obwohl Sester früher als Belck Inschriften „im Interesse des Museums“ entdeckt und zum Teil abgeklatscht hatte,44 blieben seine Erkundungen folgenlos. Als Quellen für Studien zu Entzifferung der uartäischen Inschriften gelten heute daher die Kopien von Schulz (1829), Layard (1850), des englisches Konsuls Taylor (1862), Belck (1891 abgezeichnet, z. T. sehr gute Kopien von gestörten Texten) und Belck / LehmannHaupt (1898/99, Abklatsche und Fotos). In den frühen Publikationen und jüngsten Inschriften-Corpora finden sich keine Hinweise auf Sesters aufwendige Mühen um die Kopien urartäischer Keilschriften.45

41 Karl Eugen Waldemar Belck (1862‒1932), deutscher Chemiker und Amateurarchäologe; Studienreisen in Vorderasien (1891; 1889/99 zusammen mit C.F. Lehmann-Haupt in Armenien; 1901; 1904); gilt als Entdecker der zweisprachigen (urartäisch-assyrisch) Kel-i-schin-Stele in 2981 m Höhe auf dem Pass zwischen Uschnaviyeh / Iran und Rowanduz / Irak; beschäftigte sich mit Archäologie und Keilschrift. 42 Brief Sester an das OC vom 14. Oktober 1891: SMB-ZA, III/OC II.2.84. 43 Carl Friedrich Lehmann (seit 1906 Lehmann-Haupt; 1861‒1938); 1902 zum außerordentlichen Professor ernannt, Vorlesungen v. a. zu Themen aus seinen Forschungen zu den (urartäischen) Keilschriften; seit 1913 zu Themen aus seinen Forschungen zu den (urartäischen) Keilschriften; seit 1913 Privatdozent an der Berliner Universität; 1898/99 ausgedehnte Forschungsreise mit Waldemar Belck nach Armenien. 44 Mehrfach hatte Sester u a. die große Inschrift an den Felsnischen des unweit Vans befindlichen Zimzim Dagh, Meher Kapisi erwähnt: „… werde mit der sehr großen am Zimzim dagh in enen Felsen eingehauenen ½ Stunde von den Gärten Vans den Anfang machen, Dieselbe steht einläufig 3 ½ Meter in der Höhe und 2 Meter in der Breite, unten hin sehr stark verblaßt und zerschlagen, aber oben in sehr schönen guten Zustand, …“ – „ich habe die Inschrift ,sehr groß am Simzen Dach abgenommen“ – (Inschrift) „… 92 Zeilen vom Zimzen Dack“. Briefe Sester an das OC vom 2. Juni, 3. September und 14. Oktober 1891 aus Van in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. Es handelt sich um die Inschrift bei Salvini 2008a: 125‒129, Salvini 2008b: Taf. 68 (A3 (1) ausführlich veröffentlichte Inschrift (94 Zeilen lang). 45 Lehmann-Haupt 1928 und 1936; Salvini 2008a und 2008b.

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Auf ganzer Linie gescheitert In seinem ständigen Bestreben, die deutschen archäologischen Unternehmungen zu unterstützen, blieb Sester eine tragische Figur in der Wirkungslosigkeit seiner „Arbeit“. Dass seinen Bemühungen der Erfolg versagt blieb, ist rückblickend umso bedauerlicher, da bis zur Jahrhundertwende der Wunsch der wissenschaftlichen Institutionen und auch des deutschen Kaisers stark zugenommen hatte, ‒ mit Blick auf England und Frankreich ‒, deren Vorsprung bei den Ausgrabungen im Vorderen Orient aufzuholen und gezielt eigene Forschungen zu den altorientalischen Hochkulturen vorzunehmen. Erklärtes Ziel war der wissenschaftliche Zuwachs an historischen Erkenntnissen (Akademie der Wissenschaften) und der Zuwachs an Denkmälern aus den altorientalischen Hochkulturen (Berliner Museen). Es sei hier die These gewagt, dass Sester ein Jahrzehnt später in Berlin vielleicht mehr Aufmerksamkeit gefunden hätte, die von ihm vorgeschlagenen archäologischen Fundplätze stärker in die Überlegungen zur Auswahl geeigneter Ausgrabungsplätze hinsichtlich der Stärkung der deutschen Altertumswissenschaften einzubeziehen und somit im internationalen wissenschaftlichen Wettbewerb aufzuholen.46 Obwohl Sester seine Dienste und sein Spezialwissen seinem Vaterland und den Museen beständig zur Verfügung stellen wollte, war es ihm ohne akademische Ausbildung oder finanzielle Unabhängigkeit beinahe unmöglich, Gehör zu finden: „Ich habe fast sieben Jahre stets im Interesse für das deutsche Museum gearbeitet und so lange ich in Diensten war stets auch ohne jede Entschädigung viel geleistet und hoffe auch noch in Zukunft ebenfalls auf eine oder andere Art nützlich werden zu können“.47 Seine intellektuellen Defizite dürften auch den schwierigen Kontakt zu Vertretern der Wissenschaft und manches Fehlurteil bei der Beschreibung seiner Entdeckungen erklären. Sein kunsthistorisches Wissen war mehr als lückenhaft, in seinen Briefen sind Orthographie und Interpunktion mitunter so eigenwillig, dass der Text unverständlich wird. Dessen ungeachtet, sah sich Sester in ständiger Bereitschaft, um mit deutschen Wissenschaftlern die von ihm entdeckten archäologischen Denkmäler zu erforschen und Funde für Berlin zu bergen, oder zumindest zu dokumentieren und zugunsten der Berliner Museen auszuwerten, ganz so, wie bei den Entdeckungen auf dem Nemrud Dagh. Der lange Zeit praktizierte Verzicht auf eine feste Anstellung brachte ihn immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten; auf die ständigen Betteleien um Geld (wahlweise als Bezahlung für seine „Arbeit zu Gunsten Deutschlands“, als Kleinigkeit oder Zuschuss bzw. Entschädigung oder Darlehen bezeichnet) wurde in der Heimat mit Zurückhaltung reagiert. Und wenn endlich ein ernsthaftes Interesse in Berlin vorlag („Gegend um Mosul“/Hatra), Sesters Informationen ernst genommen wurden, kam außer der Expedition zum Nemrud Dagh 1883 keine Prospektionsreise zu Stande. Die nicht ausreichende Ausrüstung (Abklatschpapier, Fotoapparat) und fehlende Ankaufsmittel für Altertümer verhinderten die „Ermittlungen“ Sesters in und um Van. 46

Die Gründung der Deutschen Orient-Gesellschaft 1898, die Gründung einer Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen 1899 und der Beginn der großen Ausgrabungen (1899 in Babylon und 1904 in Assur) waren die Ergebnisse dieser Wissenschaftspolitik. 47 Brief Sester an Kaufmann vom 16. Januar 1890 aus Pera in: SMB-ZA, III/OC II.2.84. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Die Tragik Sesters liegt auch darin begründet, dass er einerseits mit seinen Informationen Deutschland Vorteile bei der Erschließung unbekannter Fundplätze bzw. bisher unbekannter Denkmäler verschaffen wollte, andererseits aber aus unterschiedlichen Gründen eine wissenschaftliche Verwertung seiner Entdeckungen nicht zustande kam. So wird der Name Sester auch zukünftig mit den verpassten Möglichkeiten zu archäologischen Unternehmungen verbunden bleiben. Sester hatte zwar das ihm Mögliche an Vorleistungen geboten, die weiterführenden Entscheidungen und Handlungen konnte er jedoch nicht beeinflussen. Nicht zum eigenen Vorteil, eher selbstlos und zeitweise nahezu mittellos in kläglichen Umständen lebend, glaubte er viele Jahre, der guten Sache zu dienen und in patriotischem Sinne für Deutschland und Berlin zu arbeiten. Dabei blieb er stets Idealist, der sich trotz seines Scheiterns im Einzelfall als deutscher Patriot sah und als Agent Deutschlands Vorteile im Wettbewerb mit den Großmächten Frankreich und England, die für ihre Länder und Museen in Kleinasien und Mesopotamien tätig waren, sichern wollte. Die bislang weitgehend unbekannten biographischen Daten Karl Sesters konnten zumindest für die Zeitspanne von nahezu 20 Jahren (ca. 1875 bis 1893)48 skizziert werden, die ihn in der Rolle eines „Agenten“ in Vorderasien für Deutschland zeigen. Unbestritten ist, dass er in den 1870er Jahren als Chefingenieur des Vilayets Diarbakir (osmanischen Verwaltungsbezirk) infolge des letzten türkisch-russischen Krieges seine Stellung verloren hatte und zumeist mittellos war. In dieser Situation begann er, sein Wissen über archäologische Orte zu vermarkten in der Hoffnung, für seine speziellen Informationen über ausgrabungswürdige Orte angemessen entschädigt zu werden. So wie Sester als deutscher Ingenieur unvermittelt, scheinbar ohne Vergangenheit auftaucht, verlieren sich nach Jahren des Reisens und der Korrespondenz mit Vertretern der deutschen Wissenschaft seine Spuren plötzlich wieder. Nicht die geringste Nachricht ab 1893 ist bisher nachweisbar. Sester muss daher ab 1893 als verschollen gelten, seine Lebensdaten bleiben bis auf weiteres offen. Obwohl heute fast vergessen, sollte Sester zu Recht als Entdecker des Nemrud Dagh gewürdigt werden. Als Entdecker weiterer bedeutender archäologischer Fundplätze (Hatra), als Beinahe-Entdecker (Sendschirli) und aktueller Berichterstatter (Ras el-Ain, Van) hätte er es verdient, in der Wissenschaftsgeschichte des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts genannt zu werden.

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Lehmann-Haupt 1920: 43 berichtet, dass er und Belck im Rahmen ihrer Urartu-Forschungen Sester um topographische Untersuchungen zum Kešiš-Göl gebeten hätten. Im Bericht von Januar 1893 erfolgte die Antwort, Sester wäre noch in Van. Als jedoch Belck und Lehmann-Haupt 1898 selbst in Van weilten, ist von Kontakten nicht mehr die Rede; eine Erklärung dafür wäre, dass sich Sester nicht mehr als Ingenieur en chef in Van aufhielt. © 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)

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Ralf-B. Wartke

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© 2020, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-108-3 (Buch) / ISBN 978-3-96327-109-0 (E-Book)