Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten [1 ed.] 9783428417698, 9783428017690

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Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten [1 ed.]
 9783428417698, 9783428017690

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 4

Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten Von Richard Bärwinkel

Duncker & Humblot · Berlin

RICHARD

BÄRWINKEL

Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäueer ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtelehrern der deutschen Universitäten

Band 4

Z u r Struktur der Garantie Verhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten

Von

Dr. Richard Bärwinkel

D U N C K E R

& H U M B L O T

/

B E R L I N

Aufgenommen von Professor Dr. Eberhard Schmidhäuser, Hamburg

Alle Rechte vorbehalten © 1968 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1968 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany

Meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis Α. Problemstellung und Terminologie I. Die Problemstellung I I . Die Terminologie

13 13 15

B. Das Verständnis des Straftatbestandes als gemeinsamer Regelung des Begehungsdelikts und des unechten Unterlassungsdelikts

16

I. Die Begriffe des Auslegungs- u n d des Kodifikationstatbestandes

16

I I . Der Stand der heutigen Lehre u n d Rechtsprechung zum V e r hältnis von Kodifikationstatbestand u n d unechter Unterlassung . .

19

1. Die Lehre, die annimmt, das unechte Unterlassungsdelikt sei i m kodifizierten Begehungstatbestand mitgeregelt

22

2. Die Lehre von den ungeschriebenen Tatbeständen der unechten Unterlassung

24

a) Das Kausalitätsargument

24

b) Das Argument von der Zusätzlichkeit der Garantenstellung

25

c) Das „normlogische" Argument

26

d) Zusammenfassung u n d weitere Stellungnahme

29

I I I . Die komplexe N a t u r der Kodifikationstatbestände

30

1. Die Bedeutung des Begriffs „Verhalten" beim Verständnis der komplexen N a t u r der Kodifikationstatbestände

31

a) Handlung u n d Unterlassung i n der W i r k l i c h k e i t (Welt der äußeren Erscheinungen)

31

b) Handlung u n d Unterlassung i m Bereich der Möglichkeit . .

35

c) Handlung u n d Unterlassung i m Bereich der Werte

41

d) Zusammenfassung

48

2. Die gesetzgeberischen Möglichkeiten bei der Beschreibung der Tatbestände von Handlung u n d Unterlassung

48

3. Die N a t u r der kodifizierten Tatbestände i m Hinblick auf die unechten Unterlassungsdelikte

52

I V . Die Methodik der Rechtsfindung i n den unbestimmten Rechtsbegriffen der Verhaltensmerkmale

53

nsverzeichnis C. Die rechtliche Struktur der Garantieverhältnisse

57

I. Die bisherige Behandlung des Problems

58

1. Die Sammelgruppenlehre

58

2. Die Lehren, die von einem obersten Grundsatz der materiellen Rechtswidrigkeit ausgehen

61

3. Die Lehre v o m Tätertyp

68

4. Die Lehre von der sozialen Nähe

72

5. Die Garantenlehre

77

6. Die Lehre von den bestimmten Vorrechten Pflichten

entsprechenden 85

7. Die Lehre v o m T a t b i l d

88

I I . Ergebnis u n d Hinweis f ü r die weitere Untersuchung I I I . Die Garantieverhältnisse der unechten Unterlassungsdelikte einem wertteleologischen Unrechtssystem

90 in 91

1. Die sozialethische Grundlage des Unrechts

92

2. Das Gemeinwohl

96

3. Das Gemeinwohlelement „Rechtsgut"

99

4. Das Gemeinwohlelement „sozial-funktionelle Stellung" u n d die dazugehörige „soziale Rolle" 104 5. Die Beziehungen von Rechtsgut u n d sozialer Rolle i m Garantieverhältnis 114 6. Die objektiven Bewertungsmerkmale Garantie Verhältnis

des Gemeinwohls

im 118

7. Die Beziehungen von Rechtsgut, sozialer Rolle u n d objektiven Bewertungsmerkmalen i m Garantieverhältnis unter methodischen Aspekten 125 8. Anhang: Die pflichtenspezialisierende Bedeutung des Rollenbegriffs i m Garantieverhältnis 128 D. Die Abschichtung einzelner Garantie Verhältnisse voneinander

134

I. Garantieverhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten . . 134 1. Die Leibes- und Lebensfürsorge a) Das Garantie Verhältnis aus der Ehe

134 134

b) Das Garantie Verhältnis aus „enger Lebensgemeinschaft" . . 137 c) Das Garantieverhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung 139

nsverzeichnis

9

2. Die Vermögensfürsorge

146

a) Das Garantieverhältnis aus der Ehe

146

b) Das Garantieverhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung 149 3. Die Verhinderung strafbarer Handlungen des Ehegatten a) Das Garantie Verhältnis aus der Ehe

153 154

b) Das Garantieverhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung 159 I I . Die Beziehungen zwischen Verwandten

163

1. Die Trennung der Garantie Verhältnisse aus Verwandtschaft, aus enger Lebensgemeinschaft, aus dem räumlichen sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung u n d aus dem persönlichen sozialen Herrschaftsbereich der Eltern über ihre minderjährigen Kinder 163 2. Die Systematisierung der Garantieverhältnisse aus V e r w a n d t schaftsbeziehungen 166 a) Garantieverhältnisse aus der Rolle der Eltern gegenüber ihren K i n d e r n 167 b) Garantieverhältnisse schaftsbeziehungen

aus

sonstigen

engeren

Verwandt170

c) Die weiten, f ü r die unechten Unterlassungsdelikte irrelevanten Verwandtschaftsbeziehungen 174 I I I . Garantieverhältnisse aus Verlobung u n d Garantieverhältnisse aus enger Lebensgemeinschaft 176 I V . Ergebnis

183

Literaturverzeichnis

185

Abkürzungsverzeichnis AlStRL ARSP A.T. BayrObLG BGB BGH(BGHSt) BGH(GS)

Allgemeine Strafrechtslehre Archiv f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie Allgemeiner T e i l Bayerisches Oberstes Landesgericht Bürgerliches Gesetzbuch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Strafsachen Entscheidungen des Großen Senats des Bundesgerichtshofs i n Strafsachen

BGHZ B.T. DAR Diss. DJ DR DStR E 1962 EGBGB

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Zivilsachen Besonderer T e i l Deutsches Autorecht Dissertation Deutsche Justiz Deutsches Recht Deutsches Strafrecht E n t w u r f eines Strafgesetzbuches 1962 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch

FamRZ GA GewO GG GS HannRpfl. HESt HRR I.K.V. JR

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Abkürzungsverzeichnis MoKrimpsych MschrKrim NdsRpfl. NJW OGH(OGHSt) RG(RGSt) RGZ Rspr. StGB StPO Stub. VRS ZAkDR ZPO

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11

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Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind solche des Strafgesetzbuches.

Α. Problemstellung und Terminologie I. Die Problemstellung A u f die Kardinalfrage der unechten Unterlassungdelikte, welche Qualitäten die Handlungspflicht aufweisen muß, um die volle Haftung für den strafrechtlichen Erfolg zu begründen 1 , haben Rechtsprechung und Wissenschaft zumeist Antworten zu geben versucht, die ganz überwiegend auf die dogmatische Einordnung der Rechtspflicht zum Handeln und die Aufstellung inhaltlicher Kriterien hinausliefen. A u f welchem Wege man zu den ganz konkreten Kriterien gelangt ist, w i r d i n den seltensten Fällen ausgeführt. Die Frage nach den Wertungszusammenhängen, deren Beantwortung allein auch die immer wieder auftauchende Frage nach dem Warum und Wieso der gefundenen Kriterien klärt, ist bisher offen geblieben. Jedenfalls ist man bisher über unverbindliche Andeutungen nicht hinausgekommen. Dem Struktur- und Methodenproblem bei der inhaltlichen Ermittlung praktikabler Wertungsmaßstäbe soll die folgende Untersuchung gewidmet sein. Damit hebt sie sich deutlich ab von methodologischen Überlegungen unter gesetzgeberischen Aspekten, die durch die Arbeiten zum Entw u r f eines neuen Strafgesetzbuches angeregt wurden. Sie w i r d also die Frage, ob die unechten Unterlassungsdelikte nur i m Besonderen Teil 2 eines Strafgesetzbuches oder nur i m Allgemeinen Teil 3 oder gar i n beiden 4 geregelt werden können, nicht zu ihrem zentralen Gegenstand machen. Das Methodenproblem der unechten Unterlassungsdelikte stellt sich dem Gesetzgeber demnach unter ganz anderen Aspekten dar als das hier interessierende Problem. Hier geht es darum, die Methode zu erforschen, die es ermöglicht, die vorgegebene Rechtsmaterie der Garantieverhältnisse inhaltlich zu erschließen. Diese Methode w i r d von den Wertstrukturen, die den Rechtsstoff durchziehen, bestimmt, d. h. die Ermittlung der konkreten inhaltlichen ι Wie sie ähnlich Vogt, ZStW 63, S. 394 einmal formuliert hat. 2 Grünwald, ZStW 70, S. 424 ff.; A r m i n Kaufmann, JuS 1961, S. 175; Busch, v. Weber-Festschrift, S. 203 ff.; vgl. auch bereits zu Dohna, DStR 1939, S. 147; Schaff stein, Gleispach-Festschrift, S. 110, 114. * Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 178 ff., 189; Meyer-Bahlburg, MschrKrim 1965, S. 251 f. 4 Androulakis, S. 223 ff., 227 ff. (230); Rudolphi, S. 57 ff. (64 f.).

14

Α. Problemstellung u n d Terminologie

Kriterien hängt von den Zusammenhängen der einzelnen Wertungssachverhalte innerhalb der zu erschließenden Materie der Garantieverhältnisse ab. Bevor jedoch diese Problematik untersucht wird, muß zuerst noch ein anderer, vorgelagerter Problembereich durchleuchtet werden. Für das Strafrecht w i r d unter dem Zwang des nulla-poena-sine-legeSatzes i n Art. 103 Abs. 2 GG nur die rechtliche Materie relevant, die irgendwie 5 von einer gesetzlichen Regelung erfaßt wird. Daher ist das Strafgesetzbuch daraufhin zu untersuchen, ob und i n welchem Umfang es die unechten Unterlassungsdelikte auch i n den Tatbeständen, die herkömmlicherweise als Begehungstatbestände bezeichnet werden, m i t geregelt hat. Die Erörterung dieser Problematik w i r d sich dabei nicht mit der Aufzählung der hinreichend bekannten Argumente der Auslegung für eine Mitregelung der unechten Unterlassungsdelikte befassen (ζ. B. der Gesetzgeber unseres StGB habe die unechte Unterlassung als Form der Begehung aufgefaßt; er habe nicht jede Unterlassung, sondern nur die eines besonders zur Erfolgsabwendung Verpflichteten unter Strafe gestellt, da das Sozialleben empfindlich gestört werde, wenn jeder seinen Platz verließe, um zu helfen; schon die i n der Statuierung von Erfolgsabwendungspflichten liegende größere Beschränkung der Handlungsfreiheit erfordere eine Begrenzung des Kreises der Personen, die verpflichtet werden sollten; usw.). Die Arbeit w i r d vielmehr die prinzipielle Frage untersuchen, inwieweit überhaupt Handlung und Unterlassung i n einem gemeinsamen Tatbestand geregelt werden können, n i m m t doch eine neuere Lehre an, die Tatbestände der unechten Unterlassungdelikte seien wegen der Wesensverschiedenheit von Handlung und Unterlassung ungeschrieben, und w i r d doch allenthalben angeführt, die herkömmliche und herrschende Lehre arbeite bei den unechten Unterlassungsdelikten m i t einem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der Garantenstellung. Sollten diese Behauptungen, die davon ausgehen, daß die Mehrzahl der gesetzlichen Tatbestände ausschließlich Begehungstatbestände seien, zutreffen, so wäre eine Ermittlung von Garantieverhältnissen bei den unechten Unterlassungsdelikten durch Gesetzesauslegung unmöglich, da eben keine Gesetzesbestimmungen existierten. Somit ergeben sich für die Arbeit zwei Problemkreise: Zuerst geht es um die Aufschlüsselung des geltenden Strafgesetzes zum Zwecke der Feststellung, ob und i n welchem Umfang seine Tatbestände jeweils auch eine Regelung der unechten Unterlassungsdelikte enthalten können (unter B). — Sodann ist die Methodik der Ermittlung konkreter β Welche Bestimmtheitsanforderungen des A r t . 103 I I G G i m Hinblick auf die unechten Unterlassungen an die Straftatbestände i m einzelnen zu richten sind, interessiert i m Rahmen dieser Arbeit nicht.

I I . Die Terminologie

15

Kriterien zur inhaltlichen Festlegung der Garantieverhältnisse anhand der Wertstrukturen, die diese durchziehen, aufzuzeigen (siehe unter C). I I . Die Terminologie I n Literatur und Rechtsprechung sind bisher für die bei den unechten Unterlassungsdelikten erforderlichen besonderen Pflichtenbindungen unterschiedliche Bezeichnungen verwendet worden. Man spricht von Rechtspflicht zum Handeln, Erfolgsabwendungspflicht, Garantenpflicht, Garantenstellung, Garantie Verhältnis. Seit dem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs i n Bd. 16, S. 155, scheint sich mehr und mehr die Unterscheidung von „Garantenstellung" und „Garantenpflicht" entsprechend dem Vordringen der „Spaltungstheorie" durchzusetzen, wobei unter Garantenstellung die Summe aller tatbestandlichen Voraussetzungen gemeint ist, aus deren Vorliegen sich die Garantenpflicht zur Erfolgsabwendung ergibt. Die vorliegende Arbeit folgt dieser Theorie ebenfalls, benutzt jedoch statt des Terminus Garantenstellung den Ausdruck Garantieverhältnis, weil er am besten auf die Struktur der zu erforschenden Rechtsposition des Unterlassenden hinweist 6 . Bei der Darlegung der Ansichten anderer Autoren und der Rechtsprechung werden die dort verwendeten Bezeichnungen benutzt.

β Vgl. die Begründung unten S. 125. — Der Terminus „Garantieverhältnis" ist w o h l zum ersten M a l von A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 285 statt des Begriffs „Garantenstellung" verwendet worden.

Β. Das Verständnis des Straftatbestandes als gemeinsamer Regelung des Begehungsdelikts und des unechten Unterlassungsdelikts U m den konturenlosen Stand der Meinungen über die Anwendbarkeit der gesetzlichen Straftatbestände auf die unechten Unterlassungen i n den Griff zu bekommen und um gleichzeitig die Tragweite der Auseinandersetzung richtig abschätzen zu können, muß zunächst eine allgemeine Bemerkung zum Begriff des Tatbestandes vorausgeschickt werden. Dabei ist es nicht die Aufgabe dieser Arbeit, sich i n dem „Dschungel der modernen Tatbestandslehre" 1 zu verlieren, sondern es soll nur eine einfache Unterschiedlichkeit i n der Bedeutung des Begriffs „Tatbestand" herausgearbeitet werden, die den Schlüssel zur Erschließung des Streitstandes abgibt. I. Die Begriffe des Auslegungsund des Kodifikationstatbestandes A l l e Modulationen des Tatbestandsbegriffs haben primär die Funktion, strafrechtlich relevantes Unrechtsgeschehen typisierend zu beschreiben 2 . Dies ist ihr gemeinsamer Kern. Ein auf diesen Kerngehalt reduzierter Begriff des Tatbestandes hat sachlich gegenüber den anderen Tatbestandsbegriffen eine durchaus selbständige Bedeutung, da er i m Gegensatz zu jenen, die noch m i t zusätzlichen Funktionen belastet sind 3 , nur diese Grundfunktion der Unrechtsbeschreibung hat. Er ist ein „überpositiv-rechtlicher" Begriff des gesamten Straf rechts 4, der jeweils hinter der entsprechenden Gesetzesbestimmung steht und dessen Erfassung Ziel einer jeden Auslegung ist. Dieser Tatbestand kann bei der Herausarbeitung der Verbrechenstypen i m einzelnen von der Rechtswissenschaft grundsätzlich unbeschränkt genau beschrieben werden. Er soll deshalb hier „Auslegungstatbestand" genannt werden. Von diesem Tatbestandsbegriff ist derjenige zu trennen, m i t dem man die i m Wortlaut eines Gesetzesparagraphen ausgedrückte Straf1 Schaff stein, ZStW 72, S. 369. Wenn man von der Annahme eines Schuldtatbestandes absieht. 3 Vgl. ζ. B. allein die fünf Tatbestandsbegriffe, die Engisch i n MezgerFestschrift, S. 129 ff. zusammengestellt hat. 4 Vgl. Schweikert, S. 30 f. u n d 144; Sauer, A l S t R L , S. 65 A n m . 20. 2

I. Auslegungs- u n d Kodifikationstatbestand

17

bestimmung meint 5 . Dieser Tatbestand der kodifizierten Gesetzesbestimmung ist — anders als der Auslegungstatbestand — allen Beschränkungen der Gesetzestechnik unterworfen. Er soll hier als „Kodifikationstatbestand" bezeichnet werden 6 . Selbstverständlich ist der Kodifikationstatbestand auslegungsbedürftig, da er als Gesetzesbestimmung Grundlage für die Ermittlung des Gesetzessinnes ist. Insofern berührt er sich mit dem Ziel der Auslegung, nämlich dem „Auslegungstatbestand". Trotzdem gewinnt die Unterscheidung zwischen „Auslegungstatbestand" und „Kodifikationstatbestand" Bedeutung: Der Rechtsanwendende muß sich unter Umständen je nach der Materie, die der Kodifikationstatbestand regelt, unterschiedlicher Auslegungsmethoden bedienen. Das ist eine Folge davon, daß der Gesetzgeber bei der Regelung verschiedenartiger Materien unterschiedlichen Beschränkungen unterworfen ist, die rein äußerlich durch den bloßen Gesetzeswortlaut nicht erkennbar werden. Die Verschiedenheit von Begehungs- und unechtem Unterlassungsdelikt bietet hierfür ein Beispiel, wobei es genügt, zwei längst bekannte Grundsätze hervorzuheben, die unbestritten 7 i n folgendem bestehen: 1. Die Anforderungen an den Menschen, eine bestimmte Handlung zur Abwendung eines Erfolges vorzunehmen, bedeuten eine weit größere Beschränkung seiner Handlungsfreiheit als die Aufforderung, eine bestimmte, den Erfolg herbeiführende Handlung zu unterlassen 8 . Der Mensch darf tausend andere Dinge tun, nur nicht die eine oder die wenigen Handlungen vornehmen, die den poenalisierten Erfolg herbeiführen. Umgekehrt w i r d er gezwungen, eine oder die wenigen i n Betracht kommenden Handlungen zur Erfolgsabwendung vorzunehmen, und dafür darf er tausend andere Dinge, die er t u n könnte, nicht oder nur dann tun, wenn sie die Erfolgsabwendungshandlung nicht hindern 9 . δ Vgl. Roxin, Täterschaft, S. 461. 6 Der sprachlich schönere Ausdruck „gesetzlicher Tatbestand" w a r zu vermeiden, da m i t i h m i n §59 StGB u n d i n der Lehre ein anderer T a t bestandsbegriff bezeichnet w i r d . 7 Bestritten ist dagegen z.B., ob die Unterlassung i n Wahrheit eine A r t Handlung, „getarnte A k t i v i t ä t " , ist (wie Nagler, GS 111, S. 19 behauptet) oder ob Unterlassungsdelikte gegen ein Gebot oder Verbot oder durch ein Gebot gegen ein Verbot verstoßen (siehe A r m . Kaufmann, Dogmatik, S. 256 ff. u n d Normentheorie, S. 103 ff. einerseits u n d Androulakis, S. 149 ff. andererseits; vgl. auch Maurach , Α. T., S. 492 f.) oder ob die Unterlassung kausal für den eingetretenen Erfolg ist (vgl. A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 59 ff. ; dagegen Androulakis, S. 83 ff.). Diese Fragen sollen hier nicht ber ü h r t werden. « Bereits Kissin, S. 93 f.; Redslob, S. 67 f. 9 Vgl. die plastischen Ausführungen bei Schmidhäuser, J Z 1955, S. 435. 2 Bärwinkel

18

Β . Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

2. M i t dieser Erkenntnis i n engem Zusammenhang steht der Grundsatz, daß nicht jeder und auch nicht alle, die die Möglichkeit dazu haben, verpflichtet sein können, einen schädlichen Erfolg abzuwenden. I n Betracht kommen vielmehr nur ganz bestimmte Personen oder Personengruppen, die durch ihre Stellung i n der Rechtsgemeinschaft dazu berufen sind (die sog. „Garanten" oder ζ. B. i n §§ 330 c, 138 StGB Verpflichteten). A u f der anderen Seite kann jedem verboten werden, einen bestimmten rechtsgutverletzenden Erfolg durch eine Handlung herbeizuführen. Diese sozialen und für die Unrechtsbewertung bedeutsamen, t y p i schen Unterschiede von Handlungs- und Unterlassungsdelikten bedingen notwendigerweise auch verschiedene Auslegungstatbestände, da ja „der" Tatbestand seiner Kernbedeutung nach die Beschreibung typischer Unrechtssachverhalte ist. Anderes gilt für die Kodifikationstatbestände. Der Gesetzgeber kann bei den Begehungsdelikten den Täterkreis relativ leicht umschreiben, während dies bei den unechten Unterlassungsdelikten sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist. Das bedeutet, daß er hinsichtlich der Bestimmtheit des Wortlautes bei den Unterlassungsdelikten größere Abstriche machen muß als bei den Begehungsdelikten. Wenn der Gesetzgeber — gewisse Gemeinsamkeiten zwischen Handlung und Unterlassung ausnutzend — für das Handlungsdelikt und das entsprechende unechte Unterlassungsdelikt einen gemeinsamen Wortlaut wählt, so muß der Rechtsanwendende das gleiche Tatbestandsmerkmal, ζ. B. „töten", bei dem Begehungsdelikt (auch methodisch) anders auslegen, da es ein bestimmtes Merkmal ist, als bei dem entsprechenden unechten Unterlassungsdelikt, w e i l das Merkmal dort ein unbestimmter Rechtsbegriff ist. Dieses Beispiel — das i n seinen Einzelheiten i m folgenden untersucht werden w i r d 1 0 — verdeutlicht, daß die Fassung der Kodifikationstatbestände nicht notwendig die Unrechtsstruktur eines Sachverhalts i n ihrem Feingehalt zum Ausdruck bringt, da sie von den Faktoren der Gesetzestechnik abhängt. Den materiellrechtlichen Unterschieden tragen notwendig vielmehr erst die Auslegungstatbestände Rechnung. Daraus folgt, daß die Fassung des Kodifikationstatbestandes nichts Abschließendes über den Auslegungstatbestand aussagt und umgekehrt nicht zwingend von dem Auslegungstatbestand auf den Kodifikationstatbestand geschlossen werden kann 1 1 . Die Nichtbeachtung der Unterschiedlichkeit zwischen Kodifikationsund Auslegungstatbestand hat die Problematik um den systematischen Standort und die Erfassung der Garantenstellung verdunkelt. 10 Vgl. unten I I I . 11 I m Ergebnis ebenso Roxin, Täterschaft, S. 426.

I I . Lehre u n d Rechtsprechung

19

II. Der Stand der heutigen Lehre und Rechtsprechung zum Verhältnis von Kodifikationstatbestand und unechter Unterlassung Zunächst hat die Nichtunterscheidung von Auslegungs- und Kodifikationstatbestand zu einer Fülle inhaltlich falscher Zitate und Ungenauigkeiten geführt, aufgrund derer der Eindruck entsteht, als gäbe es eine herrschende Lehre, die m i t einem „ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal" der Garantenstellung arbeitet. Das ist jedoch nicht der Fall. So zitiert Maurach i n seinem Lehrbuch 1 Nagler, Mezger, Gallas u n d den Bundesgerichtshof als Vertreter einer solchen Meinung. Nagler hat jedoch i n seinen Abhandlungen m i t keinem W o r t von einem ungeschriebenen T a t bestandsmerkmal der Garantenstellung gesprochen u n d meinte so etwas auch nicht der Sache nach 2 . Gallas spricht an der zitierten Stelle 3 von einer extensiven Auslegung der Begehungstatbestände, während Mezger 4 , die Auffassung des Bundesgerichtshofs 5 teilend, meint, daß die „strafrechtlich bedeutsame Rechtspflicht, die unterlassene Handlung vorzunehmen, zum gesetzlichen Tatbestand des § 59 I StGB gehört". Ebenso zitiert Schröder i n der 9. Auflage seines Kommentars 6 fälschlich Engisch 7 u n d Lange 8 , die beide die Rechtspflicht zum Handeln zum Tatbestand der unechten U n t e r lassungsdelikte rechnen, aber nicht von einem „ungeschriebenen" M e r k m a l reden. Auch der Große Senat des Bundesgerichtshofs spricht i n seiner bekannten Entscheidung zur Garantenstellung 9 nicht von einem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal, w i e Schröder i n der 13. Auflage a n g i b t 1 0 . U n d wenn Welzel 1 1 behauptet, die herrschende Tatbestandslösung „ h ä l t die Garantenstellung für ein zusätzliches, ungeschriebenes M e r k m a l des Begehungstatbestandes", so stimmt das ebensowenig. Schröder u n d Maurach, die Hauptvertreter der Lehre v o m ungeschriebenen M e r k m a l der Garantenstellung, gehen ausdrücklich davon aus, daß die Garantenstellungen ungeschriebene Merkmale der Tatbestände der unechten Unterlassungsdelikte seien 1 2 . — Diese Liste falscher Zitate könnte beliebig verlängert werden. 1

A. T., S. 509. 2 Weder i n GS 111, S . ö l f f . noch i n L K I , S.34f. — A u f S. 58 i n GS 111 sagt er: „Das Gesetz selbst aber zeigt uns das Zwischenglied, das die Passivität m i t der positiven Handlung i n Verbindung setzt." U n d w i e er das v e r standen wissen w i l l , sagt er auf S. 61 : „Diese (den engen W o r t l a u t des Gesetzes sprengende, aber) sinngemäße Gleichstellung der Unterlassung m i t der A k t i v i t ä t bedeutet nicht sowohl eine Tatbestandserweiterung als v i e l mehr eine Tatbestandsberichtigung i m Wege zweckorientierter, ausgedehnter Textdeutung." Vgl. auch die Ausführung auf S. 69 a.a.O. 3 ZStW 67, S. 26 A n m . 56 a — vgl. auch dort A n m . 47 auf S. 20. 4 N J W 1953, S. 5 (bei Maurach fälschlich als S. 3 zitiert). 5 Bd. 3, S. 82 (89) = N J W 1952, S. 1104. β Schönke/Schröder, Vorb. V I 1 vor § 1. 7 Mezger-Festschrift, S. 158. β JZ 1956, S. 76. » BGHSt 16, S. 158. μ Schönke/Schröder, 100 vor § 1. 11 Lb., S. 204. « Schönke/Schröder, 100 vor § 1 ; Maurach, A. T., S. 509. 2*

20

Β . Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

Dadurch, daß die einzelnen Autoren nicht kennzeichnen, ob wann sie vom Begriff des kodifizierten Tatbestandes zu dem Auslegungstatbestandes übergehen, entstehen Unklarheiten i n einzelnen Ausführungen, die Widersprüche wären, wenn jedesmal ein und derselbe Tatbestandsbegriff zugrunde gelegt wäre.

und des den nur

Die Untersuchimg w i r d an dieser Stelle die verschiedenen Auffassungen i n eine übersichtliche Gruppierung bringen, die dann als Grundlage f ü r eine kritische Beleuchtung dieser Ansichten (unten unter 1. u n d 2.) dient. Zusammengestellt werden n u r die Meinungen, die die Garantenstellung (oder auch die Garantenpflicht) irgendwie zur Tatbestandsmäßigkeit zählen 1 3 .

a) Zunächst sind die Meinungen der herkömmlichen Lehre anzuführen, die von der Anwendbarkeit der gesetzlichen Begehung staibestände ausgeht. Da ist zunächst die Gruppe, die davon ausgeht, daß die unechte Unterlassung einen kodifizierten Begehungstatbesiand verwirklicht, die sodann das Gleichwertigkeitserfordernis von Tun und Unterlassen betont, um zuletzt zu der Feststellung zu gelangen, daß die Garantenstellung zum Tatbestand der Unterlassung gehört 1 4 . Ähnlich geht die Gruppe vor, die i m letzten Stadium (also nach Hervorhebung des Gleichwertigkeitserfordernisses) behauptet, die Garantenstellung sei ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der unechten Unterlassungsdelikte 15 . Hierher war auch bis vor kurzem Welzel zu zählen, der davon ausging, daß die Begehungstatbestände ihrem Sinne nach auch die Nichtabwendung des Erfolges umfaßten, und ein paar Seiten weiter die Neuartigkeit der Unterlassungstatbestände hervorhob 1 6 . Dann gibt es die Gruppe, die sich nicht abschließend äußert, sondern die Begehungstatbestände für anwendbar hält und nachher nur noch generell von der Tatbestandsmäßigkeit der Garantenstellung (bzw. -pflicht) spricht 17 . Die Garantenstellung samt der Garantenpflicht rechnen heute n u r noch Baumann, Lb., S. 223 ff., Schmitt, J Z 1959, S. 432 ff. u n d Böhm, Jus 1961, S. 181 zur Rechtswidrigkeit. 14 Börker i n JR 1956, S,87ff.; Boldt, ZStW 68, S. 335 ff. — Entweder zwei Tatbestandsbegriffe oder Widerspruch. is Schröder i n Schönke/Schröder, 86 u n d 100 v o r § 1 ; — Maurach , A.T., 507 ff. V o m „ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal" spricht auch Eb. Schmidt, Leitsätze, S. 151. — Auch hier liegt die gleiche Widersprüchlichkeit vor. iß Welzel, Lb., 7. Aufl., S. 183 u n d 186 — zu Recht kritisiert von Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 180 A n m . 6. — Seit der 9. Aufl. hat Welzel die Widersprüchlichkeit seiner Auffassung behoben, S. 187. 17 Kohlrausch/Lange, System. Vorbem. I I Β I I 1, 3 vor § 1 i n Verbindung m i t Anm. V I zu §59; — Vogt, ZStW 63, S. 384, 391 u n d 411.

I I . Lehre u n d Rechtsprechung

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Schließlich ist die Gruppe zu erwähnen, die die gesetzlichen Begehung statbestände für direkt anwendbar hält, und zwar durch Auslegung 1 8 . b) N u r vom Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts ohne Bezugnahme auf den Begehungstatbestand spricht B G H (GS) in Bd. 16, S. 158 ff. 1». c) Weit radikaler stellt eine neuere Lehre die Eigenständigkeit der Unterlassungstatbestände heraus, indem sie behauptet, diese seien ungeschrieben. Außer A r m i n Kaufmann 2 0 , Hardwig 2 1 , Grünwald 2 2 und neuestens Welzel 2 3 ist hier auch noch Fuhrmann 2 4 zu nennen, der — soweit ersichtlich — als einziger davon spricht, daß die Garantenstellung ein ungeschriebenes Merkmal des Begehungstatbestandes sei, dieser aber dadurch zu einem anderen Tatbestand werde. Außer diesen konkret Stellung nehmenden Gruppen zu a) bis c) gibt es noch eine Reihe von Äußerungen, die sich — w e i l sie das Problem nur am Rande berühren — darauf beschränken, zu sagen, daß die Garantenstellung (bzw. -pflicht) zur Tatbestandsmäßigkeit schlechthin gehöre 25 . Diese Ubersicht bestätigt, was aufgrund der Fülle der falschen Zitate bereits vermutet wurde: Es sind nur wenige Autoren, die von einem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der Garantenstellung sprechen. Zum anderen ergibt sich, daß bei einigen das „Gleichwertigkeitserfordernis" die Zauberformel ist, die von dem konsequenten Zu-EndeDenken des Gedankens, daß die Begehungstatbestände anwendbar ι» Engisch i n J Z 1962, S. 192; Gallas, ZStW 67, S. 26 A n m . 56 a; H. Mayer, Lb., S. 112 ff.; Nagler, GS 111, S. 51 ff. u n d L K I, S.34f.; Androulakis, S. 308 spricht n u r von Subsumtion. 19 Ebenso trennen Schwarz!Dreher, Β I I 2 a u n d D I v o r § 1. 20 Dogmatik, S. 280 ff., 308. U n k l a r bleibt aber dann die Äußerung auf S. 265: „ . . . w i r d man davon auszugehen haben, daß der Gesetzgeber die u n echten Unterlassungen m i t einbeziehen wollte." 21 Zurechnung, S. 159 u n d 199. — A u f S. 156 w i r d dagegen davon gesprochen, daß sich die Erfolgsabwendungsdelikte unschwer i n die Begehungsdelikte einordnen lassen. 22 ZStW 70, S. 412 ff. 23 Lb., S. 200 ff. 24 G A 1962, S. 172 — wenig überzeugend, da er ausschließlich auf die Zusätzlichkeit des Merkmals „Garantenstellung" abstellt. — Siehe dazu unten S. 22 f., 25. 25 Mezger, N J W 1953, S. 5; Lange, JZ 1956, S. 76 u n d J Z 1953, S.409; Frankel, Leitsätze, S. 154 ff.; Baldus, Niederschriften Bd. 12, S. 99; Kielwein, G A 1955, S. 227 ff.; Furtner, N J W 1961, S. 1196; Heinitz, JR 1959, S.286; Busch, Mezger-Festschrift, S. 178; Schaff stein, OLG Celle-Festschrift, S. 198ff.; Roxin, Offene Tatbestände, S. 12ff.; A r t h u r Kaufmann, J Z 1963, S. 505; Lang-Hinrichsen, ZStW 73, S. 228 f.

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Β . Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

seien, abhält 2 6 . A m Ende ist nämlich nur noch vom Unterlassungstatbestand die Rede. Darüber hinaus läßt die Ubersicht erkennen, daß eine Mehrzahl der Autoren den Ansatz, daß von den Begehungstatbeständen auszugehen sei, teilt. Nur insofern kann man bei der Problematik von einer herrschenden Lehre sprechen. Was es m i t dieser Lehre wirklich auf sich hat, soll i m folgenden erörtert werden. 1. Die Lehre, die annimmt, das unechte Unterlassungsdelikt im kodifizierten Begehungstatbestand mitgeregelt

sei

Nach übereinstimmender Lehre und Rechtsprechung besteht der größte Teil der gesetzlichen Strafbestimmungen aus reinen Begehungstatbeständen — ausgenommen die Tatbestände echter Unterlassungsdelikte (ζ. B. der §§ 330 c und 138) und einiger gesetzlich ausdrücklich geregelter unechter Unterlassungsdelikte (ζ. B. der §§ 121, 170 c, 170 d, 221, 223 b, 315 I, 347 I, 354, 355 I, 357 StGB) 2 7 . Die große Masse der unechten Unterlassungsdelikte ist nach der zuvor skizzierten herkömmlichen und noch überwiegenden Meinung durch die kodifizierten Begehungstatbestände — wenn auch unvollständig — mitgeregelt 2 8 . Aufgrund dieser Gesetzesinterpretation meint man nun, die kodifizierten Begehungstatbestände auf die unechten Unterlassungsdelikte anzuwenden. I n Wirklichkeit wendet jedoch die bisherige Lehre zwar den Kodifikationstatbestand, ζ. B. § 212, für eine Tötung durch Unterlassen an, aber nicht einen Begehungstatbestand, wie sie fälschlich behauptet. Sie versteht nämlich i n diesem Fall das „Töten" nicht als „Herbeiführung des Todeserfolges" (Tun), sondern als „Nichtabwendung des Todeserfolges". I n diesem Verständniswandel innerhalb des Begriffes „töten" liegt der Schritt vom Begehungs- zum Unterlassungsdelikt und damit vom Auslegungstatbestand der Begehung zum Auslegungstatbestand der Unterlassung 29 . Erst bei oder nach 30 Vollziehung dieses Schrittes w i r d auch für die bisherige Lehre das Merkmal der Garantenstellung bedeutsam. Daraus 26 Vgl. die auf S. 20 A n m . 14—16 Genannten. 27 A r m . Kaufmann, Dogmatik, S. 277 u n d i n JuS 1961, S. 174; Welzel, Lb., S. 195 f.; Schönke/Schröder, 79 v o r §1, sehen auch i n letzteren echte U n t e r lassungsdelikte. 28 Grundlegend Nagler, GS 111, S. 16, 18 ff. u n d i n L K I , A n h a n g 2 Β I 1, S. 34. — Maurach , Α. T., S. 493; Kohlrausch/Lange, System. Vorbem. I I Β I I 1, 3 vor § 1 ; H. Mayer, Lb., S. 113 ff.; Baumann, Lb., S. 220 f.; Gallas, Z S t W 67, 26 A n m . 56 a; Schönke/Schröder, 86 vor § 1; — vgl. dazu Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 179 f. 29 Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 179 spricht von einer „ U m f o r m u n g " . Diese Terminologie ist v o m hier vertretenen Standpunkt aus bedenklich, da sie den Eindruck erweckt, als werde der Begehungstatbestand umgeformt. 30 Ob „bei" oder „nach" richtig ist, w i r d später entschieden werden — siehe unten S. 111.

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ergibt sich, daß die Garantenstellung nicht zusätzliches Merkmal (im Sinne einer quantitativen Vermehrung) des Begehungstatbestandes ist. Aus dem Tun „töten" w i r d dadurch, daß der Täter i n einem Garantieverhältnis (Mutter-Kind) steht, noch nicht ein „Töten durch Unterlassen", sondern es bleibt eine Begehung bei zugleich vorhandener Garantenstellung, wobei es auf letztere dann nicht ankommt. Das haben auch alle Vertreter der bisherigen Lehre der Sache nach nicht verkannt; denn keiner von ihnen hat von einem zusätzlichen ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal „Garantenstellung" des Begehungstatbestandes gesprochen 31 , was man eigentlich hätte t u n müssen, wenn man mit der These, daß die unechte Unterlassung unter den Begehungstatbestand fiele, ernst gemacht hätte. Sachlich hat man also durchaus der Eigenständigkeit der Unterlassung Rechnung getragen — nur hat man unter falschem Etikett gearbeitet, weil man i r r i g glaubte, die Kodifikationstatbestände ausschließlich als Begehungstatbestände begreifen zu müssen. Die neuere Lehre von den ungeschriebenen Unterlassungstatbeständen t r i f f t also m i t ihrer K r i t i k 3 2 eigentlich gar nicht die überkommene Lehre, wenn sie dieser vorwirft, sie arbeite m i t einem zusätzlichen, ungeschriebenen Merkmal, durch dessen Hinzufügen zu dem Begehungstatbestand i n Wahrheit ein anderer Tatbestand entstünde, denn die bisherige Lehre hat immer erst die Begehungstatbestände „umgeformt", d. h. i n Wirklichkeit die Kodifikationstatbestände als Unterlassungstatbestände verstanden, ehe sie sich auf die Garantenstellung berief. So unterschiebt A r m i n Kaufmann z. B. Nagler ein „neuartiges", „anderes konstruktives M i t t e l " zur Lösung des Problems, nämlich die Einführung eines besonderen zusätzlichen Tatbestandsmerkmals 33 . Hiervon ist jedoch i n Naglers Abhandlung, wie oben 34 bereits erwähnt, kein Wort zu finden — mit gutem Grund, denn das bloße Hinzufügen der Merkmale einer Garantenstellung zum Begehungstatbestand macht diesen — wie oben 35 ausgeführt — noch nicht zum Tatbestand eines Unterlassungsdelikts. Damit verliert natürlich die Kaufmannsche Beweisführung, die auf das Hinzukommen der Garantenstellung abstellt 3 6 , ihre Bedeutung als Widerlegung der Naglerschen Ansicht. Die si Außer Fuhrmann, G A 1962, S. 172 — der aber dann auch von neuen andersartigen Tatbeständen spricht. 32 Grünwald, ZStW 70, S. 413; Diss. S. 45 f. u n d 56 f.; A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 251 ff. 33 Dogmatik, S. 249 f. 34 S. 19. 35 Siehe auch unten S. 25. 36 Dogmatik, S. 253 ff. — A u f sie w i r d i m einzelnen unten noch eingegangen werden. — Ä h n l i c h w i e Kaufmann argumentiert Grünwald, ZStW 70, S. 413; Diss. S. 45 f. u n d 56 f.

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Argumentation der neuen Lehre t r i f f t also gar nicht die überkommene Lehre, weil diese nicht das tut, was sie vorgibt zu tun. Sie wendet nämlich die kodifizierten Tatbestände als Unterlassungstatbestände, nicht aber kodifizierte Begehungstatbestände an. Daß die neuere Lehre diesen „Etikettenschwindel" nicht durchschaut hat, liegt daran, daß sie — wie gleich zu zeigen sein w i r d — ebenfalls nicht unterscheidet zwischen den Kodifikationstatbeständen und den Auslegungstatbeständen. 2. Die Lehre von den ungeschriebenen Tatbeständen der unechten Unterlassung Grünwald, A r m i n Kaufmann (Welzel) und Hardwig sind der A u f fassung, daß die Tatbestände des Strafgesetzbuches, so wie sie gefaßt sind, auf die unechten Unterlassungsdelikte keine Anwendung finden könnten. Bei der Bestrafung von unechten Unterlassungen würden andere Tatbestände angewendet, die ungeschrieben seien. Diese Meinung w i r d i n dreifacher Weise begründet. a) Das Kausalitätsargument Grünwald beruft sich auf das Fehlen der Kausalität bei der Unterlassung 37 und folgert daraus: „Die gesetzlichen Tatbestände sind auf Handlungen zugeschnitten, sie sind so gefaßt, daß sie durch Unterlassungen nicht erfüllt werden können. Wer es unterläßt, einen anderen vom Tode zu retten, kann einen Tatbestand, der die Verursachung eines Todeserfolges betrifft, nicht erfüllen 3 8 ." Es ist hier nicht nötig, auf die viel erörterte Frage nach der Kausalität der Unterlassung einzugehen 39 . Selbst wenn man davon ausgeht, die Unterlassung könne für den eingetretenen Erfolg nicht kausal sein, selbst dann ist die Schlußfolgerung Grünwalds nicht zwingend. Die kodifizierten Tatbestände lassen sich nämlich so auslegen, daß die dort angeführten „Tätigkeits"worte sowohl Handlungen als auch Unterlassungen umfassen, d. h. daß sie menschliches Verhalten (als Oberbegriff von Tun und Unterlassen) beschreiben. Dann fällt unter das Verhalten „töten" i n § 212 sowohl die „Herbeiführung des Todes (durch Handlung)" als auch die „Nichtabwendung des Todes" 40 , unabhängig von der Kausalitätsfrage. Der Nachweis, daß eine solche 37 Diss. S. 10, dort auch A n m . 4. 38 ZStW 70, S. 412, Diss. S. 44. Vgl. z.B. Radbruch, Handlungsbegriff, S. 132; Traeger, Unterlassungsdelikte, S. 13 ff., A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 57 ff. einerseits — Engisch, Kausalität, S. 31, Androulakis, S. 78 ff. und 83 ff., E. A. Wolff , Kausalität, S. 36 ff. andererseits. 40 Vgl. auch A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 261 Anm. 109 a. 39

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Auslegung der gesetzlichen Straftatbestände prinzipiell möglich ist, w i r d unten geführt werden. b) Das Argument von der Zusätzlichkeit der Garantenstellung A r m i n Kaufmann bedient sich, um die Selbständigkeit der Tatbestände der unechten Unterlassungsdelikte nachzuweisen, folgender Beweisführung: Er bildet zunächst einen Tatbestand aus den Merkmalen α plus b plus c, wobei c für den Oberbegriff der Kausalität steht und i n c\ = Begehungskausalität und C2 = Unterlassungskausalität unterteilt werden kann. Für den Unterlassungstatbestand kommt ein Merkmal g für die Garantenstellung bzw. -pflicht hinzu. Damit führt er folgenden Beweis: „Ein und derselbe Tatbestand kann nicht gleichzeitig einerseits schon beim Vorliegen der Merkmale α plus b plus ci und andererseits erst beim Gegebensein der Voraussetzungen α plus b plus Co plus g erfüllt sein; die Merkmale α plus b plus C2 plus g bilden einen anderen Tatbestand als die Voraussetzungen α plus b plus ci. Mögen auch α und b den beiden Tatbeständen gemeinsam sein, mögen sich auch ci und C2 unter den Oberbegriff c bringen lassen, — das Zufügen der weiteren Voraussetzung g (Garantenstellung) i m Falle C2 (kausale Unterlassung) beweist, daß es sich um verschiedene Tatbestände handeln muß. Hieran ändern auch die Identität des Strafrahmens und die Gleichwertigkeit unter axiologischen Gesichtspunkten nichts 41 ." Bei dieser „Mathematik" übersieht Kaufmann, daß schon mathematisch ei nicht gleich C2 sein kann, wohl aber C2 plus g gleich ci. Dies ist — juristisch gesehen — umso einsichtiger, wenn man — wie Kaufmann wahlweise zuläßt —, für c statt den Oberbegriff der Kausalität den des Verhaltens und dann für ci die Begehung und für C2 die Unterlassung setzt 42 , g ist also nicht zwingend ein bloß zusätzliches Merkmal, durch das α plus b plus ci, d. h. also der Begehungstatbestand, vermehrt würde. Diese Annahme ist falsch, da der Begehungstatbestand durch das bloße Hinzukommen der Garantenstellung i n seinem Charakter als Begehungstatbestand nicht verändert wird. Da die Unterlassungstatbestände sich von den Begehungstatbeständen eben nicht nur durch die Zusätzlichkeit des Merkmals „Garantenstellung" unterscheiden 43 , kann demzufolge ihre Eigenständigkeit nicht dadurch nachgewiesen werden, daß man nur auf die Zusätzlichkeit dieses Merkmals abstellt 44 . 41 Dogmatik, S. 253 ff. (254). — Hervorhebung dort. Dogmatik, S. 254 A n m . 1. 43 Siehe oben S. 22 f. 44 Wenn Kaufmann i n JuS 1961, S. 175 i m Ergebnis der hier vertretenen

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Β. Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

Die weitere Folgerung, die Kaufmann und Grünwald, der ähnlich argumentiert 4 5 , aus dieser so „bewiesenen" Andersartigkeit ziehen, nämlich daß die Tatbestände der unechten Unterlassungsdelikte ungeschrieben seien 40 , ist nicht zwingend, denn hier w i r d wieder nicht zwischen dem Auslegungstatbestand und dem Kodifikationstatbestand unterschieden.. Die Auslegungstatbestände von Handlung und Unterlassung müssen verschieden sein wegen der Verschiedenheit der ihnen zugrunde liegenden sozialen und rechtlichen Phänomene. I m Gesetz, i m kodifizierten Tatbestand, können jedoch beide Auslegungstatbestände zusammengefaßt und einer einheitlichen Hechtsfolge unterworfen sein, weil die beiden verschiedenartigen menschlichen Verhaltensweisen als Unrecht angesehen werden 4 7 . Weil diese Gleichstellung innerhalb der gesetzlichen Regelung möglich ist, ist der Schluß auf das Ungeschriebensein bei der unechten Unterlassung solange voreilig, als nicht die gesetzlichen Tatbestände eingehend daraufh i n untersucht sind. c) Das „normlogische" Argument Als drittes Argument für die These von den ungeschriebenen, w e i l eigenständigen Tatbeständen der unechten Unterlassungsdelikte w i r d von A r m i n Kaufmann ein „normlogisches" angeführt 4 8 . Danach teilen sich die Normen je nach ihrem Sollensinhalt, d. h. nach dem, was sie verlangen, i n Gebote und Verbote. So „fordert das Gebot die V e r w i r k lichung einer Handlung" und „untersagt das Verbot die Durchführung einer Handlung". Daher ist „das ,Verbot 4 , eine Handlung zu unterlassen", „ i n Wahrheit ein Gebot, die betreffende Handlung vorzunehmen". Daraus folgert Kaufmann, daß sich das Handlungsverbot nicht auf die unechte Unterlassung beziehen kann, und kommt zu dem Resultat: „Wenn das Verbot sich nicht auf das Unterlassen der Erfolgsabwendung seitens des Garanten erstreckt, dann kann diese Unterlassung auch nicht den Verbotstatbestand erfüllen! Und wiederum w i r d deutlich, daß die Unterlassung des Garanten einem anderen Tatbestand unterfällt, nämlich — dem Gebotstatbestand 49 ." Auffassung zu sein scheint (in Dogmatik, S. 255, 261, ist das durchaus zweifelhaft), dann darf er auf jeden F a l l die falsche These nicht zur G r u n d lage seiner Beweisführung machen. « ZStW 70, S. 413. 46 Kaufmann, Dogmatik, S. 261, 282, 304; Grünwald, w i e Anm. 45. 47 Vgl. auch Androulakis, S. 174 f., der Kaufmann v o r w i r f t , er habe die der Zweiheit (Tun u n d Unterlassen) notwendig innewohnende Verschiedenheit m i t der der Gleichheit entgegengesetzten Verschiedenheit verwechselt. 48 Dogmatik, S. 256 ff. u n d 3 ff.; Normentheorie, S. 103 ff. 4» Dogmatik, S. 258 — Hervorhebung dort.

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Die Existenz der den Gesetzesvorschriften zugrunde liegenden Gebots» und Verbotsnormen w i r d wohl überwiegend anerkannt 5 0 . Die Bestimmungen beider Normarten — weitgehend eine Sache der Defin i t i o n 5 1 — nach ihrem Soll-Gegenstand 52 ist überzeugend, da sie dem unmittelbaren Normerlebnis am ehesten gerecht wird. Denn zunächst erfassen w i r die Norm immer erst einmal als Gebundensein i n ihrer Verpflichtungswirkung, d. h. w i r erkennen das Gebot an der Pflicht, etwas zu tun, und das Verbot an der Pflicht, etwas nicht zu tun. Ein Unterlassen unter die Verbotsnorm zu bringen, setzt dagegen immer erst einen gleichbewertenden Denkprozeß voraus: Die Mutter, die ihr K i n d nicht nährt, könnte es genauso durch eine Handlung umbringen. Also tötet sie — also Verstoß gegen eine Verbotsnorm. Damit ist aber bereits das unmittelbare Erlebnis der Verpflichtung durch einen rationalen Denkprozeß verfälscht. Das unmittelbare Normerlebnis der Mutter ist: Ernähre dein Kind, damit es nicht stirbt. Nicht aber: Töte dein K i n d nicht, indem du es nicht nährst 5 3 . Es erscheint daher richtig, zu sagen, die unechte Unterlassung fällt unter eine Gebotsnorm. Diese Annahme hat aber wiederum nicht notwendig zur Konsequenz, daß die unechte Unterlassung unter einen anderen kodifizierten Tatbestand fällt als die entsprechende Handlung. Auch der Kodifikationstatbestand dient zwar der Beschreibung der Normmaterie 5 4 , aber nicht i n der Weise, daß er gemäß der Bestimmungsfunktion der Norm dem Gesetzesunterworfenen (der dann zugleich der Normadressat wäre) sagt, was er zu t u n und zu lassen habe 55 . Er schildert vielmehr die Verletzung einer Normverpflichtung als Voraussetzung einer daran geknüpften Rechtsfolge, die ein anderer — nämlich der Richter — verwirklichen soll. Soweit also die ganze Gesetzesbestimmung einen Befehl enthält, ist dieser m i t dem ursprünglichen Normbefehl nicht identisch. So richtet er sich auch nicht wie jener an den ursprünglichen Normadressaten, sondern an die staatlichen Organe 56 . Der gesetzliche Tatbestand bringt demgemäß den Sollensinhalt, also so Binding , Normen I , S. 28 ff.; M . E. Mayer , A . T . , S. 37 ff.; Maurach, A. T., S. 175 ff.; Kaufmann, Normentheorie, S. 103 ff.; Gallas, ZStW 67, S. 10; H. Mayer, Lb., S. 59 A n m . 25. 51 Siehe z. B. Androulakis, S. 150 ff. — Wenig einleuchtend ist dort die Bestimmung einer Erfolgsnorm, die als Erfolgsverbot „ u n t e r dem Druck der Umstände des Seinlassens" das Gebot „ a b w i r f t " . 52 Ebenso schon Engisch i n MschrKrimpsych 1933, S. 239 f. 53 Wenig überzeugend Baumann, Lb., S. 226, der v o n U m f o r m u n g des V e r bots i n ein Gebot spricht. — Ä h n l i c h Busch, v. Weber-Festschrift, S. 194. 54 W e i l er typische Unrechtssachverhalte — Verstöße gegen Normbefehle — beschreibt. 55 N u r dann wäre Kaufmanns Schlußfolgerung zwingend. 56 Schmidhäuser, Von den zwei Rechtsordnungen, S. 10 ff., 14, 18.

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Β . Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

das, worin sich Gebote und Verbote unterscheiden, schon von seiner Struktur her gar nicht zum Ausdruck 5 7 . Wohl aber sagt er etwas über das aus, was beiden Normgattungen gemeinsam ist: I n seiner Verknüpfung m i t der Strafe als Rechtsfolge liegt die Bewertung der Verletzung der Normverpflichtung als strafrechtliches Unrecht. Diese Bewertung beruht auf den i n den Normen erfaßten und ihnen zugrunde liegenden Werten, die durch die rechtliche Regelung zu Rechtsgütern erhoben werden. Den sich jeweils entsprechenden Geboten und Verboten liegen aber dieselben (Erfolgs-)Werte, m. a. W. die gleichen Rechtsgüter zugrunde. So schützt das Verbot zu töten genauso das Leben eines Menschen wie das Gebot, den Tod dieses Menschen abzuwenden. Daraus folgt, daß der ein Rechtsgut schützende Tatbestand i n der Fassung des Gesetzes ein Verbot und ein Gebot erfassen kann, weil er nur das Gemeinsame und nicht auch das Trennende beider Normgattungen herausstellt. Damit ist nachgewiesen, daß auch dieses Argument Kaufmanns nicht zu dem Schluß zwingt, daß der eigene Gebotstatb estand des unechten Unterlassungsdelikts nicht geschrieben stünde 58 . Das „normlogische" Argument stütz lediglich die These von der Andersartigkeit der Unterlassung. Ähnliche Einwände bestehen gegen Hardwigs Argumentation. Nach i h m liegt den Begehungsdelikten die allgemeine Rechtspflicht zugrunde, bestimmte Rechtsgüter nicht zu verletzen (sog. Vermeidepflicht), und den Unterlassungsdelikten die jeweils für den Einzelfall nachzuweisende Rechtspflicht, ein Rechtsgut zu erhalten (sog. Erhaltungspflicht). Beide Pflichten seien nicht miteinander identisch, insbesondere sei die Erhaltungspflicht nicht aus der Vermeidepflicht ableitbar 5 9 . Die Vermeidepflicht sei allgemeine Voraussetzung des entsprechenden Straftatbestandes, da jede Verletzung dieser Pflicht i n der Regel den Straftatbestand erfülle, während die Erfolgsabwendungspflicht dagegen nicht die allgemeine Voraussetzung eines Tatbestandes, sondern zusätzlich festzustellen sei, weil nicht jeder, der den Erfolg nicht abgewendet habe, den Tatbestand erfüllt habe 60 . Dar57 Genauso übrigens der Auslegungstatbestand. 58 So sagt Kaufmann auch (m. E. widersprüchlich zu seiner i m T e x t v o r getragenen Ansicht) auf S. 4 seiner „ D o g m a t i k " : „ I m Einzelfall mag nach der sprachlichen Fassung der N o r m zweifelhaft sein, ob ein Handeln oder ein Unterlassen verlangt w i r d . So ist es bei § 142 StGB eine Frage der — v o r nehmlich teleologischen — Auslegung, ob die Forderung eines Handelns oder eines Unterlassens oder auch beider zugrunde liegt." Hervorhebung v o m Verf. — U n d auf S. 265 geht auch er davon aus, daß der Gesetzgeber die unechten Unterlassungsdelikte habe mitregeln wollen. 59 Zurechnung, S. 139. 60 S. 155 f.

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aus folgert Hardwig, daß die Tatbestände der Begehungsdelikte und der entsprechenden Unterlassungsdelikte nicht identisch seien. Zwar würde der Tatbestand der unechten Unterlassung als i m gesetzlichen Tatbestand m i t enthalten angesehen (bei gleicher Unrechtsqualität), aber genau gesehen, sei das nicht der Fall 6 1 . Der Schluß von der Nichtidentität von Vermeidepflicht und Erfolgsabwendungspflicht — die auch hier gar nicht geleugnet w i r d — auf die Nichtidentität der diese Pflichten enthaltenden Auslegungstatbestände ist zwar richtig, sagt aber nichts darüber aus, ob der Kodifikationstatbestand nicht doch Verschiedenes, nämlich neben dem Auslegungstatbestand der Begehung auch den der Unterlassung enthält. Die Behauptung, das sei nicht der Fall, w i r d nicht erhärtet, weder bei Hardwig 6 2 , der sich auf Tesar 63 beruft, noch bei M. E. Mayer 6 4 , auf den sich Tesar stützt d) Zusammenfassung und weitere Stellungnahme Dadurch, daß auch die neuere Lehre nicht von der Unterscheidbarkeit der Begriffe „Auslegungstatbestand" und „Kodifikationstatbestand" ausgeht, sondern unter „dem" Tatbestand zunächst nur den kodifizierten Begehungstatbestand versteht, zieht sie aus ihren Argumenten für die Eigenständigkeit der Auslegungstatbestände der Unterlassung die zu weit gehende und damit nicht zwingende Schlußfolgerung auf das Ungeschriebensein der Tatbestände der unechten Unterlassungsdelikte. Dies ist umso weniger überzeugend, als Kaufmann wie Grünwald gleichzeitig ausdrücklich Zusammenhänge zwischen Unterlassungs- und Begehungstatbeständen zugestehen. So ist nach ihrer These z. B. Ausgangspunkt für die Bestrafung einer unechten Unterlassung immer die Pönalisierung einer Rechtsgutsverletzung i n einem Handlungstatbestand. Die zugrunde liegenden Werturteile sind nach ihrer A u f fassung bei beiden Tatbeständen gleich 65 . Außerdem fragt man sich unwillkürlich, welchen Nutzen es hat, die unechten Unterlassungsdelikte tatbestandlich von den kodifizierten Tatbeständen des StGB 61 S. 159 u n d S. 199, dort unter Berufung auf Tesar, Überwindung des Naturrechts, S. 172. 62 Z u dieser Behauptung erscheint es widersprüchlich, w e n n Hardwig an anderer Stelle (S. 156) davon spricht, daß sich die Erfolgsabwendungsdelikte unschwer i n die Begehungsdelikte einordnen lassen. 63 Überwindung des Naturrechts, S. 172. 64 Lb., S. 189 f. 65 Grünwald, ZStW 70, S. 413; Kaufmann, Dogmatik, S. 284, 260. — Dazu treffend Busch, v. Weber-Festschrift, S. 195 f.

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Β. Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

zu trennen, um i m selben Augenblick das sog. „Gleichstellungsproblem", also das Erfordernis der Gleichwertigkeit m i t dem „entsprechenden" Begehungsdelikt, herauszustellen. Die „ontologischen" Unterschiede zwischen Handlung und Unterlassen zwingen dazu nicht; denn ihnen tragen die Auslegungstatbestände Rechnung.

I I I . Die komplexe Natur der Kodifikationstatbestände Die Untersuchung hat schon angedeutet, welcher Standpunkt hier eingenommen werden soll: Der kodifizierte Tatbestand w i r d nicht nur von vornherein als Beschreibung eines Begehungsdelikts, sondern auch zugleich als Beschreibung des unechten Unterlassungsdeliktes aufgefaßt. Er ist also Ausdrucksform sowohl einer Begehungs- als auch der entsprechenden Unterlassungstat. Oder anders ausgedrückt: Der i m Gesetz kodifizierte Tatbestand enthält die beiden Auslegungstatbestände der Begehung und der unechten Unterlassung. Er ist komplexer Natur. A m konkreten Beispiel gesagt: „Töten" drückt nicht nur eine Begehung, die „Herbeiführung des Todeserfolges", aus, sondern auch die „Nichtabwendung des Todeserfolges", oder „Sache beschädigt" bedeutet neben der Begehung zugleich „die Beschädigung einer Sache nicht verhindert" usw. Nun könnte aber ein und dasselbe „Tätigkeit"-wort eines kodifizierten Tatbestandes nicht zugleich die Herbeiführung und die Nichtabwendung eines Erfolges bedeuten, wenn Handlung und Unterlassung i n einem Oberbegriff nicht zu vereinigende, kontradiktorische 1 Begriffe wären. Eine Auslegung, die ein und demselben Wort zwei Begriffe zuordnet, die nicht nur unvereinbar nebeneinanderstehen, sondern sich als kontradiktorisch auch gegenseitig ausschließen, w e i l einer die Verneinung des anderen ist, wäre keine Auslegung mehr, sondern ein juristischer Trick 2 . Indes ist es nicht so sicher, daß Handlung und Unterlassung kontradiktorische Begriffe sind, w i r d doch immer wieder behauptet, daß sie i n dem Begriff des „Verhaltens" einen gemeinsamen Oberbegriff hätten 3 . Unterstellt man, es gäbe diesen Oberbegriff, so 1 „Kontradiktorisch" bedeutet widersprüchlich i n der Weise, daß die Behauptung über einen Gegenstand die Verneinung des anderen ist — Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 358. Vgl. auch die Definition bei Hardwig, Zurechnung, S. 103. Danach sind Begriffe k o n t r a d i k torisch, bei denen innerhalb einer bestimmten Gebietskategorie (hier der Rechtskategorie) sowohl das Vorliegen des einen Begriffs (Handlung) den anderen (Unterlassung) ausschließt als auch umgekehrt das Nichtvorhandensein des einen (Handlung) den anderen (Unterlassung) gegeben sein läßt. 2 Vgl. dazu Sax, Nottarp-Festschrift, S. 144; Analogieverbot, S. 120 ff. 3 Das ist gerade i n neuerer Zeit wieder eindringlich betont worden. — Hardwig, Zurechnung, S. 100 ff. ; A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 81 ff. u n d

I I I . Die komplexe N a t u r der Kodifikationstatbestände

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könnte den „Tätigkeits"-wörtern der gesetzlichen Tatbestände tatsächlich jeweils nur ein Begriff zugeordnet werden, sie würden i m Sinne menschlichen Verhaltens interpretiert. „Töten" wäre also nicht bloß Tätigkeit, sondern beschriebe menschliches Verhalten i n seiner rechtlichen Beziehung zum Eintritt eines Todeserfolges, damit aber auch ein Unterlassen. Hier stellte sich aber nun sofort die Frage, warum dann die kodifizierten Tatbestände nicht einfach als „Verhaltens"tatbestände, die mit den „Verhaltens"-tatbeständen der Auslegung identisch sind, aufgefaßt würden, sondern als komplexe Tatbestände, jeweils bestehend aus den zwei Auslegungstatbeständen des Begehungs- und des Unterlassungsdelikts. Zu dieser Auffassung zwingen das Verhältnis von Handlung und Unterlassen i m Verhaltensbegriff (im folgenden zu 1.) und das Wesen der Auslegungstatbestände der Handlungs- und Unterlassungsdelikte i m Verhältnis zu den gesetzgeberischen Möglichkeiten (unten 2.). Dabei geht es vor allem darum, die begriffslogische Möglichkeit dieser These und ihre Reichweite darzulegen. 1. Die Bedeutung des Begriffs „Verhalten" beim Verständnis der komplexen Natur der Kodifikationstatbestände a) Handlung und Unterlassung i n der Wirklichkeit (Welt der äußeren Erscheinungen) Radbruch hat seinerzeit dargelegt, daß Handlung und Unterlassung sich wie α und non-a gegenüberstehen 4. Während sich die Handlung durch die drei Merkmale „Wille, Tat und Kausalität zwischen beiden" auszeichne, fehle es bei der Unterlassung an der Tat 5 und der Kausalität zwischen Tat und Willen 6 , ja auch ein Unterlassungswille sei für die Unterlassung nicht wesentlich 7 . Diese Erkenntnisse Radbruchs sind, wie immer man sich dazu geäußert hat, nicht widerlegt worden. Daß die Unterlassung nur als Nichtvornahme einer Handlung, als „Fehlen eines Energieeinsatzes", als „etwas nicht t u n " — also als Fehlen der „Tat" begriffen werden kann, ist inzwischen Allgemeingut von Lehre und Rechtsprechung geworden 8 . die dort S. 85 A n m . 234 angeführte L i t e r a t u r ; Androulakis, S. 41 ff. — Früher schon Felix Kaufmann, L o g i k u n d Rechtswissenschaft, S. 63 ff. 4 Handlungsbegriff, S. 131 ff. 5 S. 137 f. β S. 132. 7 S. 132 ff. β Vgl. A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 25 f. u n d die dort Anm. 6—9 angegebene Literatur.

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Β. Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

Ebenso bestätigen die neuesten Ausführungen A r m i n Kaufmanns 9 , daß ein Entschluß, nicht zu handeln, i m Sinne eines Verwirklichungswillens nicht wesentlich für eine vorsätzliche Unterlassung sein kann. Das ergibt sich ganz unabhängig von Kaufmanns dogmatischen Prämissen bezüglich Finalität und Unterlassungskausalität schon daraus, daß die Rechtsordnung bei Eintritt der tatbestandsmäßigen Situation vom Verpflichteten die Vornahme einer Erfolgsabwendungshandlung, und das bedeutet, die Fassung des dazu nötigen Handlungsentschlusses, verlangt 1 0 . Der Schwankende, der nicht weiß, ob er eingreifen soll oder nicht, obwohl er die Situation und die Möglichkeit der A b wehr kennt, ist wegen vorsätzlicher Unterlassung zu bestrafen, weil er nicht den gebotenen Handlungsentschluß aufgebracht hat 1 1 . Mag i n manchen Fällen beim Unterlassenden auch das psychische Phänomen eines Willens, nichts zu tun, auftauchen (ζ. B. i m Niederkämpfen eines etwa vorhandenen Rettungsimpulses), konstitutiv kann dieser Unterlassungswille für die Strafbarkeit als vorsätzliche Unterlassung nicht sein, wie die eben genannten Fälle zeigen. Er ist vielmehr ein Phänomen der Willensbildung, auf die es, wie sonst auch, nicht ankommt. Erst deren Resultat — das Vorhandensein oder das Fehlen eines tatmächtigen Verwirklichungswillens 12 — ist maßgeblich 13 . Den Beweis hierfür erbringt der Fall, wo der Verpflichtete zunächst einen Entschluß, nichts zu tun, faßt, sich dann aber doch zu einem Erfolgsabwendungsentschluß durchringt, die Rettungshandlung vornimmt und demzufolge nicht bestraft wird. Hier ist der zunächst vorhandene Wille zur Unterlassung nur ein negativ wirkender Faktor eines psychischen Prozesses, der dann doch zu einem positiven Resultat, zur Fassung des Verwirklichungsentschlusses, führt — womit eine strafbare Unterlassung entfällt. Auch die Ansichten, die eine Kausalität der Unterlassung bejahen — sei es zwischen Wille und Unterlassung, sei es zwischen Unterlassung und Erfolg — haben Radbruch nicht widerlegen können, denn eine Kausalität i m naturwissenschaftlichen Sinn, wie sie bei den » Dogmatik, S. 66 ff., 73 ff., 87, 126 f.; v.Weber-Festschrift, S. 224 ff. 10 Kaufmann, v.Weber-Festschrift, S. 266, 230; ebenso Schaff stein, O L G Celle-Festschrift, S. 202 Anm. 67 a. E. 11 M a n braucht also noch nicht an Kaufmanns arg theoretische Fälle zu denken, i n denen der Verpflichtete die tatbestandsmäßige Situation erkennt u n d überhaupt nicht an die Vornahme einer Abwehrhandlung denkt. — Vgl. v.Weber-Festschrift, S.209, Dogmatik, S. 116f. 12 Daß n u r dieser Verwirklichungswille bedeutsam ist, folgt daraus, daß das Recht n u r an die nach außen i n Erscheinung tretende Selbstverwirklichung des Menschen anknüpft u n d innere Tatsachen n u r soweit berücksichtigt, wie sie m i t dem objektiven Geschehen i n Beziehung stehen (vgl. Sax, Nottarp-Festschrift, S. 142 Anm. 26). 13 Treffend A r m i n Kaufmann, v. Weber-Festschrift, S. 221 f.

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meisten Begehungsdelikten vorliegt, hat bei den Unterlassungsdelikten keiner nachweisen können, sondern alle Autoren haben zusätzliche logische, erkenntnistheoretische, rechtliche und soziologische Kriterien i n den Kausalitätsbegriff aufgenommen und damit i m Grunde bereits die Welt des Seins, der Wirklichkeit, verlassen 14 . Mag man sich nun darüber streiten, ob statt des naturwissenschaftlichen, mechanischen Kausalbegriffs nicht jene anderen maßgeblich zu sein hätten — diese Frage soll hier nicht verfolgt werden —, jedenfalls ist die Kausalität nicht nur eine Denkkategorie, sondern auch eine Seinskategorie. „Die Vorstellung eines Kausalzusammenhanges, der lediglich i n einer logischen Verknüpfung von Gegebenheiten besteht, ohne daß dieser Verknüpfung Gegenständliches entsprechen soll, ist nicht die Vorstellung des Daseins, sondern die des Nichtdaseins von Kausalität" 1 5 . Radbruch schloß damals aus dieser Tatsache, daß die Unterlassung i n den drei Merkmalen Wille, Tat und Kausalität jeweils die Negation der Handlung ist, daß sich Handlung und Unterlassung als kontradiktorische Begriffe, unvereinbar i n einem Oberbegriff, gegenüberstünden 16 . Dieser Schluß ist häufig kritisiert worden. Zunächst wäre nämlich zu überlegen, ob sich die menschliche Existenz nicht i n noch anderen Erscheinungsformen verwirklicht als i n den drei genannten und ihrer Negation. Hier wäre etwa an das begriffliche Denken, Wachträumen, Phantasieren zu denken. Unter dem übergeordneten Begriff der „menschlichen Seinsverwirklichung" hätte dann der Handlungsbegriff nicht mehr nur seine bloße Kontradiktion 14 So bedeutet nach Engisch, Kausalität, S. 31, etwas verursachen „ m i t zeitlich nachfolgenden Erscheinungen" (zu denen er auch die Nichtveränderungen zählt) „ i n Gesetzmäßigkeitsbeziehungen stehen". — Eb. Schmidt, A r z t i m Strafrecht, S. 88, sieht i n der Kausalität „die logisch-erkenntnistheoretische Verbindung zweier Gegebenheiten". —> Hardwig, Zurechnung, S. 152, 156, spricht von einem „ n o r m a t i v - f i n a l e n Kausalitätsbegriff", den er von einem naturwissenschaftlichen ausdrücklich abhebt. — A.Böhm, Diss., S. 25 f. u n d E. A. Wolff, Kausalität, S. 36 ff. haben soziologische Merkmale i n den Kausalitätsbegriff eingeschleust. F ü r Wolff ist neben der sozialen, i m Wesen des Menschen begründeten „Abhängigkeit" noch die Freiheit der Entscheidung, des Ergreifens einer Möglichkeit (also ein erkenntinistheoretisches Moment) kausalitätsbegründend (a.a.O., S. 54 ff.) ; damit begibt sich Wolff aus dem Bereich der Realität i n den der Möglichkeit (dazu unter b). Ä h n l i c h w i e Wolff i n bezug auf das Freiheitsmoment Androulakis, S. 78 ff., 83 ff. 15 Bockelmann, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 450 f. (vgl. dort die weiteren Ausführungen). Dieser Satz g i l t auch, wenn m a n w i e Wolff (vgl. A n m . 14) auf die Möglichkeit einer Unterlassung (statt einer Handlung) abstellt, denn diese ist eben Möglichkeit, nie Wirklichkeit. 16 Vgl. den berühmten Satz Radbruchs, Handlungsbegriff, S. 140: „So aber lassen sich, so w a h r m a n nicht Position u n d Negation, a u n d non-a, unter einen Oberbegriff bringen kann, auch Handlung u n d Unterlassung nicht unter einen solchen zusammenbringen, er nenne sich n u n Handlung i. w. S., menschliches Verhalten oder w i e i m m e r sonst!"

3 Bärwinkel

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Β . Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

Nicht-Handlung, sondern die positiven Konträrbegriffe „Denken", „Wachträumen" usw. neben sich. Jedoch knüpft das Recht als Gemeinschaftsregelung zunächst nur an die äußerlich i n Erscheinung tretende Selbstverwirklichung des Menschen an, und an innermenschliche nur soweit, als sie sich auf die äußeren Geschehnisse bezieht 17 . I n diesem äußeren Bereich spielen also die genannten Konträrbegriffe für das Recht keine Rolle. Aber selbst i n diesem äußeren Bereich menschlicher Lebensvollzüge würde sich immer noch eine Kontrarietät der Begriffe ergeben, wenn man an menschliche Reflexbewegungen oder an die Körperruhe wegen effektiver Unmöglichkeit der Vornahme einer Handlung denkt; denn eine Reflexbewegung ist zwar kausal, aber genausowenig willensgetragen wie es eine Unterlassung sein muß. Jedoch hat das Recht auch m i t diesen Geschehnissen nichts zu tun, denn es setzt bei allen äußeren Daseinsverwirklichungen immer die innere freiheitliche Selbstbestimmung des Menschen voraus 18 . Damit bleibt es also zunächst bei Radbruchs Feststellung: I n der Welt der äußeren menschlichen Ereignisse sind i m rechtlich relevanten Bereich Handlung und Unterlassung kontradiktorische Begriffe, die unvereinbar einander ausschließen. Gegen diese Feststellung w i r d jedoch — wie bereits angedeutet — immer wieder m i t dem Hinweis angegangen, daß es i n dem „Verhalten" einen gemeinsamen Oberbegriff von Handlung und Unterlassung gäbe. So hat i n neuerer Zeit Hardwig 1 9 ausgeführt, daß „die Möglichkeit der vom Recht erwarteten Handlung" der „gemeinsame Bezugspunkt von Handlung und Unterlassung" sei. Die Möglichkeit einer Handlung werde durch ihre Vornahme bewiesen, und von einer Unterlassung könne man ebenfalls nur sprechen, wenn eine Handlung möglich gewesen sei. Beide seien „rechtlich qualifizierbare Verhaltensweisen", der Begriff des Verhaltens sei damit der gesuchte Oberbegriff. Radbruchs Abstraktionsverfahren enthalte einen folgenschweren Fehler, weil es neben den kontradiktorischen Merkmalen nicht das positive Merkmal der Möglichkeit einer Handlung, das i n Handlung und Unterlassung enthalten sei, berücksichtige. — Ganz ähnlich hat A r m i n Kaufmann 2 0 ausgeführt, daß das positive Moment der Unterlassung, nämlich die „Handlungsfähigkeit", auch i n der Handlung enthalten sei, denn schlagender könne ein Mensch nicht beweisen, daß 17 Das Gesagte beruht auf der Darlegung v o n Sax, Nottarp-Festschrift, S. 142 A n m . 26. « Vgl. z. B. Jescheck, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 152. i» Zurechnung, S. 105. 2 o Dogmatik, S. 83 ff.

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i h m eine bestimmte Handlung möglich sei, als dadurch, daß er eben diese Handlung vornehme. Wie man diese Gemeinsamkeit i n einem Oberbegriff benenne, ob „Handlung i m weiteren Sinne" oder „Verhalten", sei lediglich noch eine Frage der Terminologie 2 1 . — Damit nehmen beide Autoren gegen einen Einwand Radbruchs 22 Stellung, die Möglichkeit sei ein Merkmal der Unterlassung, aber nicht eines, das sie m i t der Handlung gemeinsam hätte, denn Merkmal des Handlungsbegriffs sei nicht die Möglichkeit konkreter Handlungen — sie sei vielmehr lediglich die Vorstufe von Handlungen 2 3 . Was es mit dieser Gemeinsamkeit des Merkmals „Möglichkeit der Vornahme einer Handlung" bei Handlung und Unterlassung auf sich hat, w i r d i m folgenden Abschnitt (unter b) erörtert werden. Zunächst sei jedoch noch ein letzter Einwand aus anderer Richtung gegen Radbruchs Unvereinbarkeitsthese angeführt. Mezger u. a. 2 4 weisen darauf hin, daß Handlung und Unterlassung beide wertbezogen seien, also beide gemeinsame positive Merkmale aufwiesen, indem ihnen beiden die Verletzung gleicher Werte zugrunde liege. Hierzu w i r d unten (unter c) Stellung genommen. b) Handlung und Unterlassung i m Bereich der Möglichkeit Der Mensch ist ein Wesen, dem die Möglichkeit der Stellungnahme, d. h. der A n t w o r t (im Gegensatz zur bloßen Reaktion) auf die i h n umgebende Situation 2 5 , i n der er sich entscheiden muß 2 6 , gegben ist 2 7 . Die Realisierung dieser Möglichkeit bedeutet, daß der Mensch unter Einsatz von Energie die Situation seinen Zwecken gemäß verändert (handelt) oder daß er sie seinen Zwecken gemäß nicht verändert, also keine Energie einsetzt, die i n Frage stehende Handlung nicht vornimmt (unterläßt) 28 . Ein gemeinsamer Bezugspunkt von Handlung und Unterlassung i m Oberbegriff „Verhalten" ist demnach die Möglichkeit der Stellungnahme. 21 Dogmatik, S. 85. 22 Handlungsbegriff, S. 141. 23 Genau das betonen heute wieder Gallas, Z S t W 67, S. 11 A n m . 33 u n d Jescheck, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 149 gegen A r m i n Kaufmann m i t A r g u menten v o m Boden der finalen Handlungslehre. 24 Lb., S. 102 f.; ebenso Wolter, ARSP 1934/35, S.501; Sauer, Frank-Festgabe I , S. 207. Ä h n l i c h jetzt Hardwig, Zurechnung, S. 105, w e n n er die rechtliche Qualifikation als gemeinsames Element von H a n d l u n g u n d U n t e r lassung ansieht. 25 Jaspers, Philosophie I I , S. 202. 26 Jaspers, Geistige Situation, S. 19 ff. 27 Gehlen, Der Mensch, S. 33; Hartmann, Kleinere Schriften I , S. 282 ff.; Lersch, Aufbau, S. 409; Androulakis, S. 52. 28 A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 86; Androulakis, S. 55. *

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Β . Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

Diese Möglichkeit ist eine solche des Handelns und Unterlassens, eine disjunktive Möglichkeit i m Sinne Nicolai Hartmanns, denn solange die Stellungnahme des Menschen nicht realisiert, also „bloß" möglich ist, können „die sonst nie vereinigten kontradiktorischen Gegenglieder A und non-A zusammenstehen" 29 . Solange die A n t w o r t noch nicht gegeben ist, sind eben Handlung und Unterlassung beide noch möglich, können beide noch i n dem „Bloß-möglich-Sein" die Stellungnahme bilden, mögliches Verhalten sein — ja sie müssen immer zusammen möglich sein, denn wenn A möglich ist, muß auch immer non-A möglich sein 30 . I n der Wirklichkeit dagegen kann nur entweder die Handlung oder die Unterlassung bestehen, da sich beide ja als kontradiktorisch i n diesem Bereich gegenseitig ausschließen. D.h., w i r d i n Wirklichkeit Stellung genommen, so verschwindet m i t Vornahme der Handlung die Möglichkeit der Unterlassung und umgekehrt. M i t dem Ubergang zum Wirklichsein „verschwindet also die Koexistenz der beiden Möglichkeiten und m i t ihr zugleich die Disjunktivität und das ,Bloß-möglich-Sein' 3 1 ." Von dieser „disjunktiven" oder „Doppel"-Möglichkeit ist das einfache, „indifferente" Möglichsein, die „Möglichkeit schlechthin" zu unterscheiden, die sich m i t der Wirklichkeit verträgt, „die i m W i r k lichsein und Notwendigsein immer schon erfüllt sein muß; denn was nicht möglich ist, kann eben nicht wirklich sein". Dieses Möglichsein ist nicht Doppelmöglichkeit, d. h. der Möglichkeit von A ist nicht anzusehen, ob non-A möglich ist oder nicht. Sie verhält sich gegenüber dem Möglichsein von non-A indifferent. Das bedeutet: Die Möglichkeit einer Handlung, die sich i n deren Vornahme realisiert, durch deren Vollzug „schlagend bewiesen" wird, besagt nichts darüber, ob auch die Unterlassung möglich war. Diese A r t von Möglichkeit bietet also keine Gemeinsamkeit von Handlung und Unterlassung. Das kann m i t Hilfe der (rechtlich irrelevanten) Konträrbegriffe „Reflexbewegung" und „Körperruhe aus der Unmöglichkeit, eine Handlung vorzunehmen" verdeutlicht werden. Einer menschlichen Körperbewegung können w i r äußerlich nicht ansehen, ob sie i m seelisch-psychischen Bereich „freiwillig", d. h. also eine Handlung ist oder nicht. Der Schluß, daß diese Bewegung, w e i l sie wirklich geschehen ist, auch möglich gewesen sein muß — hier geht es also um die indifferente Möglichkeit —, h i l f t uns nicht weiter, er erweitert unseren Blick über den Teil der äußeren Bedingungen, die 29 N. Hartmann, Möglichkeit u n d Wirklichkeit, S. 46. so Dies u n d das Folgende i m Anschluß an N. Hartmann, a.a.O. i Hartmann, Möglichkeit u n d Wirklichkeit, S. 46 u n d 115.

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w i r überschauen können, nicht hinaus 32 . W i r können m i t dem Schluß auf diese indifferente Möglichkeit nicht erkennen, ob diese Bewegung eine Handlung oder eine bloße Reflexbewegung war; diese Möglichkeit besagt eben nur, daß diese Bewegung möglich war — mehr nicht, und über die Unterlassung sagt sie schon gar nichts aus 33 . Genauso ist es bei der Körperruhe. Der Schluß von der wirklichen Körperruhe auf ihre (indifferente) Möglichkeit besagt nur, daß die Körperruhe möglich gewesen sein muß — über die (freiwillige) Unterlassung sagt er nichts aus. Ist also die (indifferente) Möglichkeit eines wirklichen Ereignisses nur auf dieses Ereignis selbst bezogen, so können diese Ereignisse keinen gemeinsamen Bezugspunkt i n derselben indifferenten Möglichkeit haben. Hardwigs und Kaufmanns Bezugspunkt der Handlungsmöglichkeit, die durch die Handlung „schlagend bewiesen" werde, ist also falsch, w e i l i n dieser Formulierung die indifferente Möglichkeit angesprochen wird. Würden beide diesen Möglichkeitsbegriff konsequent verwenden, könnten sie z. B. nicht, wie eben ausgeführt, die Reflexbewegung von der Handlung und die zwangsweise Körperruhe von der Unterlassung trennen. Da ihnen diese Konsequenz aber nicht gut unterstellt werden kann, steht zu vermuten, daß sie die beiden Möglichkeitsbegriffe verwechselt haben 34 . Damit w i r d aber ihre Beweisführung für die Gemeinschaftlichkeit von Handlung und Unterlassung i n der Möglichkeit hinfällig, denn diese Gemeinschaftlichkeit ist i n der disjunktiven Doppelmöglichkeit — wie ausgeführt — eine andere. Sie besteht nämlich nur i n der Möglichkeitssphäre und verschwindet i n der Wirklichkeit. Das bedeutet: Die Gemeinsamkeit i n der Möglichkeit w i r k t sich in der Realität nicht aus. 32 Der Mensch überschaut stets n u r einen T e i l der Bedingungen u n d ihrer (indifferenten) Möglichkeiten — Hartmann, Möglichkeit u n d W i r k l i c h k e i t , S. 49. 33 Daß keine Unterlassung vorliegt, erkennen w i r nicht an der Möglichkeit, die W i r k l i c h k e i t wurde, sondern an dem realen Wirklichkeitsmoment der Bewegung, des Energieeinsatzes, der bei der Unterlassung i n der W i r k lichkeit fehlt. 3 * So Androulakis, S. 110 ff. gegen A r m i n Kaufmann. — Daß diese i m Zusammenhang m i t der Unterlassung falsche Reduktion des Handlungsbegriffes auf die Handlungsfähigkeit i n der Sphäre der Möglichkeit den Handlungsbegriff, vor allem die Finalität, zerstört, hat Jescheck, Eb. SchmidtFestschrift, S. 149 betont. A u f der anderen Seite verkennt m a n m i t dieser falschen Bezugnahme die Realität der Unterlassung, die i n i h r e r Negation i m Wirklichkeitsbereich auf der d i s j u n k t i v e n Doppelmöglichkeit des Andershandeln-Könnens beruht — vgl. dazu neuestens E. A . Wolff, Kausalität, S. 46, A n m . 26. — Fehl geht allerdings der E i n w a n d E. A . Wolffs gegen Kaufmann, die H a n d l u n g sei ein Akt, während die „Handlungsfähigkeit" eine Eigenschaft sei, u n d deshalb könne sie schon kein gemeinsamer Oberbegriff sein; denn Kaufmann w i l l i n seinem Begriff der Handlungsfähigkeit das Verhältnis von Möglichkeit u n d W i r k l i c h k e i t erfassen — das ergibt sich schon daraus, daß er es i n das terminologische Belieben stellt, ob m a n n u n von Handlungsfähigkeit oder Verhalten spreche (Dogmatik, S. 84 f.).

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Β. Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

D i e G e m e i n s a m k e i t v o n H a n d l u n g u n d U n t e r l a s s i m g i m B e r e i c h der M ö g l i c h k e i t l i e g t also l e d i g l i c h i n d e r d i s j u n k t i v e n M ö g l i c h k e i t . D a s h a t z u r Folge, daß d e r B e g r i f f des V e r h a l t e n s , s o w e i t er g e b i l d e t w u r d e , u m eine G e m e i n s a m k e i t v o n H a n d l u n g u n d U n t e r l a s s u n g i n d e r M ö g l i c h k e i t herauszustellen, m i t dieser G e m e i n s c h a f t l i c h k e i t i n d e r S p h ä r e des „ B l o ß - m ö g l i c h - S e i n s " z u H a u s e ist, also i n d e r Sphäre, d i e als „ S e i n s z u s t a n d " n e b e n d e r W i r k l i c h k e i t e x i s t i e r t , ohne i n diese übergehen zu können35. M i t Vollziehung der Stellungnahme verhält sich d e r Mensch n i c h t m e h r i m S i n n e e i n e r H a n d l u n g u n d U n t e r l a s s u n g umfassenden S t e l l u n g n a h m e , s o n d e r n e r h a n d e l t oder u n t e r l ä ß t . Das V e r h a l t e n als d i s j u n k t i v e M ö g l i c h k e i t s f o r m d e r S t e l l u n g n a h m e v e r s c h w i n d e t i n d e r R e a l i t ä t — es e x i s t i e r t i n d e r W i r k l i c h k e i t n u r noch e i n H a n d e l n oder U n t e r l a s s e n , aber n i c h t m e h r e i n V e r h a l t e n als Ganzes. D a m i t ist d i e B e d e u t u n g des B e g r i f f s „ V e r h a l t e n " i m Recht, das sich w e s e n t l i c h m i t d e r W i r k l i c h k e i t s s p h ä r e beschäftigt, e i n e recht b e s c h r ä n k t e 3 6 — aber deshalb n i c h t e t w a u n w i c h t i g e , w i e sich g l e i c h zeigen w i r d . Zunächst sei hier noch darauf hingewiesen, daß die geschilderte Eigenart die Schwierigkeit einer Definition des Verhaltensbegriffs m i t sich bringt, da man i n einer solchen die beiden Sphären von Möglichkeit u n d W i r k l i c h keit m i t unmittelbarer Anschaulichkeit nicht zusammen beschreiben kann. Die Aufnahme der „Möglichkeit" verdrängt die „ W i r k l i c h k e i t " i n der Defin i t i o n u n d umgekehrt. Verhalten ist aber eben nicht n u r mögliche, sondern auch vollzogene Stellungnahme 3 7 . Da es der Arbeit n u r auf die Herausarbeitung der „Doppelmöglichkeit" i m Verhaltensbegriff u n d nicht auf dessen weitere (erkenntnistheoretische) Beschreibung ankommt, sei hier auf eine eigene Definition verzichtet u n d bis zu späterer K l ä r u n g auf die Definition M. L . M ü l l e r s 3 8 hingewiesen: Verhalten ist die „Ausübung der Freiheit, eine bestimmte Handlung vorzunehmen". Dieser Definition w i r d der Eigenart des Verhaltensbegriffs am ehesten, aber auch n u r dann gerecht, w e n n m a n i n das W o r t „Freiheit" den Hinweis auf die disjunktive Doppelmöglichkeit, die Voraussetzung der Freiheit der W a h l ist, hineinlegt 3 9 . 35 N. Hartmann, Möglichkeit u n d Wirklichkeit, S. 47. Vgl. auch A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 85. 37 Androulakis, S. 48 f. f ü h r t aus, daß der Verhaltensbegriff i n abstracto k o n j u n k t i v sei: menschliches Verhalten setze sich aus H a n d l u n g und U n t e r lassung zusammen. Dagegen sei er i n concreto d i s j u n k t i v : ein bestimmter Mensch könne entweder etwas t u n oder etwas unterlassen. 38 Bedeutung des Kausalzusammenhanges, S. 28 A n m . 10. 39 Die Definition von Hegler, ZStW 36, S. 24 A n m . 11 u n d die v o n A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 85 sind unbefriedigend; Kaufmanns Definition deshalb, w e i l er unter „ F ä h i g k e i t " die Handlungsfähigkeit u n d nicht die Freiheit der W a h l versteht. — Auch die Definition E. A . Wolffs, Handlungsbegriff, S. 16, 22 ff., 24 k o m m t über die Müllers nicht hinaus. Seine Behauptung, sein Begriff der Handlung als „Gestaltung der W i r k l i c h k e i t durch Ergreifen einer Möglichkeit" umfasse auch die Unterlassung, w i r d dem V e r hältnis der d i s j u n k t i v e n Möglichkeit zur W i r k l i c h k e i t nicht gerecht, denn 36

I I I . Die komplexe N a t u r der Kodifikationstatbestände

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A u f das Moment des „Bloß-möglich-Seins" i m Verhaltensbegriff weist schon unsere Sprache hin. Denn w i r sagen nie: Er hat sich verhalten; sondern immer: Er hat gehandelt oder (irgend etwas 40 ) unterlassen. Man kann höchstens sagen: Er hat sich so (etwa „handelnd") oder so („unterlassend") verhalten. Dann aber benutzen w i r das Wort „verhalten" synonym für „handeln" oder „unterlassen" und täten besser, statt von „sich handelnd oder unterlassend verhalten" gleich von „handeln" oder „unterlassen" zu sprechen. Dagegen ist es sinnvoll, zu fragen: W i r d w i r d er sich verhalten oder wie hat er sich verhalten? Denn i n dieser Frage liegt der Bezug auf die disjunktive Möglichkeit der Stellungnahme. W i r fragen nämlich — jetzt auf die Person bezogen —, ab der Betreffende diese disjunktive Möglichkeit der Wahl i n seiner Stellungnahme, also die „Freiheit des Könnens 41 , haben w i r d oder gehabt hat. Damit ist eigentlich schon die juristische Arbeitsweise m i t dem so charakterisierten Verhaltensbegriff analysiert. Einerseit ist die disj u n k t i v e Eigenschaft des Verhaltensbegriffs i n der Realität — und nicht etwa nur seine Abstraktionshöhe 42 — der Grund, weshalb w i r die Prüfung eines Strafrechtsfalls nicht m i t der Frage beginnen, ob ein Verhalten vorliegt, sondern damit, ob eine Handlung oder eine Unterlassung gegeben ist, denn der Strafrechts-„Fall" ist schon ein Stück Wirklichkeitsgeschehen. Andererseits können w i r auf das die Gemeinsamkeit stiftende Moment von Handlung und Unterlassung i m Verhaltensbegriff nicht verzichten bei der Prüfung der Frage, ob bei einem Unterlassungsdelikt jemand die Möglichkeit der Erfolgsabwendung, also einer Handlung, gehabt hat, bzw. umgekehrt bei der Prüfung, ob eine A k t i o n eine bloße Reflexbewegung oder eine Handlung gewesen ist. Während die menschliche Erkenntnis oft und gerade i n diesen Zweifelsfällen nur einen Teil der Bedingungen überschaut, während w i r also nicht wissen, ob die vermutete Unterlassung bzw. Handlung auch möglich (i. S. der indifferenten Möglichkeit) (gewesen) und (dann) wirklich (geworden) ist, können w i r immer die disjunktive Möglichkeit von Handlung und Unterlassung erkennen 4 3 . Das h i l f t uns i n diesen Fällen weiter. Die Erkenntnis der Doppelmöglichkeit setzt uns i n den Stand, die „Freiheitlichkeit" einer das Ergreifen einer Möglichkeit ist bereits ein A k t der Wirklichkeit, der eben die Möglichkeit der anderen verdrängt. 40 Die Notwendigkeit dieses „irgendetwas" folgt aus der T r a n s i t i v i t ä t (Nichtvornahme einer Handlung — etwas nicht tun) des Unterlassungsbegriffs, die aber hier nicht näher erläutert werden soll. 41 Androulakis, S. 113. 42 w i e etwa Hardwig, Zurechnung, S. 106 meint. Vgl. auch Schönke/Schröder, 80 vor § 1. 43 N. Hartmann, Möglichkeit u n d Wirklichkeit, S. 49.

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Β. Begehungs- und Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

realen Verhaltensweise nachzuprüfen, denn die „ F r e i w i l l i g k e i t " können w i r nur dadurch erkennen, daß w i r fragen, ob der Mensch die andere mögliche Verhaltensweise, deren reale Erscheinungsformen sich nicht gezeigt haben, hätte wählen können. Auch bei der Gesetzesanwendung kann man diese beiden Eigenschaften des Verhaltensbegriffs, nämlich i n der Realität i n Handlung und Unterlassung auseinanderzufallen und i n der Sphäre des Bloßmöglich-Seins die Möglichkeiten von Handlung und Unterlassung zusammenzufassen, nutzbar machen. W i l l man das gemeinschaftliche Moment von Handlung und Unterlassung, also das Verhalten als Ganzes i m Gesetz verankert sehen, so ist das nur möglich, wenn man das Gesetz i n seiner bloßen A n wendungsmöglichJceit sieht, denn die Gesetzesanwendung selbst bedeutet einen Vorgang i n der Wirklichkeit, und i n dieser existiert der Begriff Verhalten nicht i n seinem gemeinschaftsstiftenden Element. Indes ist es uns nicht verwehrt, das Gesetz i n seiner bloßen A n wendungsmöglichkeit zu betrachten. Der Strafgesetzgeber sucht i n einer Vorausschau die Möglichkeiten zukünftiger menschlicher Verhaltensweisen, die Unrecht darstellen, zu erfassen, indem er sie t y p i siert und einer — auch als Strafdrohung i n die Z u k u n f t weisenden — Rechtsfolge u n t e r w i r f t 4 4 . Das Gesetz ist also eine i n der Vergangenheit getroffene und i n der Gegenwart existierende Regelung zukünftiger Geschehnisse; dabei eine Regelung, deren Anwendung f ü r die Z u k u n f t schon gegenwärtig bestimmt und verbindlich ist. M i t dieser Beziehung zur Zukunft wurzelt das Gesetz (bezüglich seiner A n w e n dung) gegenwärtig i m Bereich des Bloß-möglich-Seins. Daraus folgt, daß das Gesetz, i n seiner Anwendungsmöglichkeit verstanden, vorausschauend menschliche Verhaltensweisen i n dem Begriff „Verhalten" zusammenfassen kann. „Töten" kann demnach i n einer Vorausschau die mögliche Stellungnahme eines Menschen und damit ein Verhalten zu einem eingetretenen Todeserfolg bezeichnen. Anders sofort, wenn w i r das Gesetz auf einen konkreten F a l l anwenden. Subsumieren w i r ein wirkliches Geschehen unter die i n Frage kommende Gesetzesbestimmung, so wissen w i r bereits, ob dieses Wirklichkeitsgeschehen eine Handlung oder eine Unterlassung ist. Bei der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit untersuchen w i r , ob sich die Merkmale der konkreten Handlung oder die (davon verschiedenen) der Unterlassung m i t den i m Gesetz geschilderten Merkmalen decken. 44

Vgl. die Analyse des Verfahrens bei Sax, Analogieverbot, S. 145 f. unter

Berufung auf N. Hartmann. — Ebenso Heller, S. 94, 97.

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W i r suchen also die wirklichkeitsverschiedenen Merkmale von Handlung oder Unterlassung i m Gesetz wieder auf. Wenn das Gesetz zur Anwendung überhaupt brauchbar sein soll, so muß es diese Merkmale alle enthalten. Ob und wieweit es sie enthält, ermitteln w i r durch Auslegung. Das bedeutet: Bei der tatsächlichen Anwendung des Gesetzes ist m i t dem Begriff des „Verhaltens" als einheitlichem Oberbegriff nichts anzufangen. Das hindert uns aber trotzdem nicht, das Gesetz so zu interpretieren, daß auch dem gemeinschaftlichen Moment von Handlung und Unterlassung i m Oberbegriff Verhalten Rechnung getragen wird, u m die begrifflich logische Voraussetzung für den sodann durch Auslegung zu erbringenden Nachweis zu schaffen, daß die Unterlassungstatbestände nicht ungeschrieben, sondern — schlechtestenfalls unbestimmt — geschrieben sind, daß der Gesetzgeber auch diese „bloß" mögliche Verhaltensweise kodifiziert hat. Die kodifizierten Tatbestände des StGB kann man deshalb einheitlich als Verhaltensbeschreibung i n ihrer AnwendungsmöglichJceit begreifen, muß sie aber anläßlich der konkreten Gesetzesanwendung, also bei Subsumtion und Auslegung, i n ihrer komplexen Natur — die Auslegungstatbestände der Handlung und der Unterlassung enthaltend — sehen. c) Handlung und Unterlassung i m Bereich der Werte Hat die Untersuchung zur Handlungsmöglichkeit ergeben, daß Handlung und Unterlassung tatsächlich eine Gemeinsamkeit i m Oberbegriff Verhalten haben, daß aber diese Gemeinsamkeit wesentlich lockerer ist, als die Gegner Radbruchs annahmen, so ist jetzt zu untersuchen, wie es m i t dem zweiten Einwand von der Gemeinsamkeit der Bewertung von Handlung und Unterlassung steht. Alles menschliche Verhalten bezieht sich zweckhaft auf Dinge und Zustände unserer Umwelt, w e i l w i r ihnen einen Wert zumessen, sie als „ w e r t v o l l " empfinden. W i r erfahren danach die „Werte" immer n u r i n wertvollen Sachverhalten, zu deren Verwirklichung w i r uns aufgerufen fühlen 4 5 . „ N u r scheinbar sehen w i r Werte gelöst von den Materien, denen sie zukommen. Der Sache nach handelt es sich dabei immer nur u m eine — für die Zwecke des Denkens über Werte bereitgestellte — Abstraktion einer ganzen Reihe von Sachverhalten, die uns m i t einem bestimmten Wert verbunden erscheinen 46 ." Rein ge« Hartmann , Ethik, S. 151. 46

Schmidhäuser,

Gesinnungsmerkmale,

S. 39, 151 unter

Hinweis

auf

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danklich läßt sich also das „ G u t " (das Wertobjekt, der Wertträger), dem der Wert zugeschrieben wird, von dem Wert selbst, d. h. von der „Auszeichnung i n positiver oder negativer Hinsicht", die die Wertbegriffe aussprechen 47 , trennen. Werte selbst sind also „ideelle Bedeutungseinheiten", „Begriffsinhalte", die „ i n vielfachen Wertungen als dasselbe aufzuweisen" sind 4 8 . Aus der Fülle dessen, was w i r i m einzelnen als Wert erfahren können 4 9 , hat für das Strafrecht lediglich das Gute, das ethische Wertgebiet der Sittlichkeit, Bedeutung 50 . Dieser Satz g i l t auch, wenn man als erstes sieht, daß sich das Strafrecht nicht m i t dem Guten, sondern m i t dem Bösen, Wertwidrigen beschäftigt, denn die Werte der Ethik sind gekennzeichnet durch den „Dualismus von Wert und Unwert", ohne den sie ihre Bedeutung verlieren würden 5 1 . Das „Gute" taucht nun i n der menschlichen Handlung (Unterlassung) gleich zweimal, d. h. i n zweierlei Bewertung auf. Wenn w i r eine Handlung (eine Unterlassung) „gut" nennen, so meinen w i r einmal, daß sie i n ihrem Bewirken (bzw. Nichtbewirken) gut sei, w e i l sie eben Gutes — einen guten Endsachverhalt — herbeiführe (eintreten lasse). Zum anderen nennen w i r eine Gutes bewirkende Handlung (Unterlassung) auch deshalb gut, w e i l sie aus der entsprechenden Gesinnung, Gutes zu t u n (eintreten zu lassen), vollzogen wird. Diese die Handlung (Unterlassung) begleitende Gesinnung macht erst den eigentlichen sittlichen Wert der Handlung (Unterlassung) aus bzw. den eigentlichen sittlichen Unwert, wenn die auf ein Schlechtes gerichtete Handlung (Unterlassung) von dem entsprechenden „sittlichverwerflichen geistigen Verhalten", der unsittlichen Gesinnung, getragen w i r d 5 2 . Sittliche Werte sind auf den Güterwerten fundiert, einerlei ob es sich bei letzteren u m einfache Dinge oder komplexe Sachverhalte Welzel, Naturalismus, S. 55, A r t h u r Kaufmann, J Z 1956, S. 355 A n m . 30. — Ebenso Henkel, Rechtsphilosophie, S. 246 f. — Α. M. Hartmann, Ethik, S. 154 ff. 47 Kraft, S. 17. 48 K r a f t , S. 11. 49 Vgl. dazu Kraft, S. 13 ff. 50 Vgl. dazu i m einzelnen Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 36 ff., 161. si Rickert, S. 640; Hartmann, E t h i k , S. 251; Kraushaar, G A 1965, S . U . 52 Vgl. zum ganzen Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 169 ff., 82 f. u n d 40 f., der hier die Erkenntnisse der Kantischen E t h i k (Legalität u n d Moralität) u n d der materialen Wertethik Hartmanns (intendierter Wert u n d Intentionswert) f ü r das Strafrecht fruchtbar gemacht hat (nämlich i n der Herausarbeitung eines Schuldbegriffs, dem ein eigener Unwertsachverhalt zugrunde liegt).

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handelt; denn: „Was hätte der Ehrliche wohl vor dem Diebe moralisch voraus, wenn die Dinge, um deren Entwendbarkeit es sich handelt, nicht irgendwie wertvoll wären 5 3 ?" Die Ehrlichkeit als sittlicher Wert — genauer: die von ehrlicher Gesinnung getragene Handlung (Unterlassung) — setzt also notwendig den Sachwert der Güter schon voraus. So sind zwar auch die einfachsten Dingwerte sittlich relevant, aber deshalb sind diese Dinge für sich noch längst nicht Sachverhalte (Wertträger) sittlicher Werte. „Denn solche Dingwerte liegen ja nicht nur dem sittlich wertvollen Sachverhalt (Beschenkung des Bedürftigen), sondern auch dem sittlich wertwidrigen zugrunde (Diebstahl) 54 ." Der sittliche Wert selbst hat also durchaus immer seinen eigenen Sachverhalt, nämlich das seinerseits auf den Dingwert bezogene äußerliche und innere (geistige) Verhalten eines Menschen 55 . Damit ergeben sich für einen Vergleich von Handlung und Unterlassung i n ihrer Wertstruktur drei Anknüpfungspunkte: Der fundierende Ding-(un)wert (ihm entspricht der strafrechtliche Begriff „Erfolgsunwert"), der jeweils i n der Handlung oder Unterlassung selbst liegende Unwert, wie er strafrechtlich i n dem Begriff des „ A k t - " oder „Handlungsunwertes" oder des „personalen Unrechts" 5 6 erfaßt wird, und der die Handlung und die Unterlassung begleitende „Gesinnungs-(un)wert 5 7 ". I n ein und derselben Situation sind Handlung und Unterlassung hinsichtlich des einen auf dem Spiele stehenden Objekts i n ihrer Werthaftigkeit genau entgegengesetzt. Würde die Handlung das Objekt retten, wäre sie wertvoll, und die Unterlassung hätte Erfolgsunwert. Umgekehrt besäße die Unterlassung Erfolgswert und die Handlung Erfolgsunwert, wenn die Handlung das Objekt verletzen würde. Die Kontradiktion von Handlung und Unterlassung i n der Wirklichkeit w i r k t sich also durchaus i m Bereich der Werte aus, und das kann auch gar nicht anders sein, nachdem festgestellt wurde, daß w i r die Werte nur i n den ihnen zugrunde liegenden (Wirklichkeits-)Sachverhalten erfahren. Indes kann der strafrechtliche Erfolgsunwert für Handlung und Unterlassung doch gemeinsamer Anknüpfungspunkt sein, wenn man nämlich an die Verletzung des einheitlich m i t den 53 Hartmann, Ethik, S. 251 f. 54 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 41. 55 Schmidhäuser, a.a.O. 56 Vgl. zum Handlungsunwert etwa Welzel, Lb., S. 1 ff., 58 f. ; Maurach, A . T . , S. 190 f.; Krauß, ZStW 76, S. 31 ff. 57 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 169 nennt i h n „ A k t u n w e r t " . Dieser Terminus soll jedoch der Bewertung der Finalität der Handlung v o r behalten bleiben, also ganz i. S. der h. L. verwendet werden.

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verschiedenen Objekten (ζ. B. mehreren einzelnen Menschenleben) auftauchenden Rechtsguts (das menschliche Leben) 58 denkt. Dann kann ζ. B. i n zwei verschiedenen Situationen i n zwei konkreten Verhaltensobjekten (jeweils das Leben eines bestimmten Menschen) doch jeweils dasselbe Rechtsgut („Leben") tangiert werden. Genauso wie dann i n zwei Situationen zwei Tötungshandlungen den gemeinsamen Erfolgsunwert (Verletzung des Rechtsguts „Leben") haben, so kann auch einmal eine Unterlassung denselben Unwert haben wie i n der anderen Situation die Begehung, wenn nämlich einmal das Leben nicht gerettet und das andere M a l das Leben aktiv vernichtet wird. I n diesem Sinne haben also Handlung und Unterlassung durch die Abstraktion, die i m Begriffe „Rechtsgut" liegt, durchaus denselben Erfolgsunwert. Ganz ähnlich kann auch der gleiche Gesinnungsunwert Handlung und Unterlassung zugrunde liegen, indem nämlich beide von der gleichen unrechtlichen Gesinnung getragen werden, die sich über den vom Rechtsgut ausgehenden Wertanruf (Retten! bzw. Nicht aktiv verletzen!) hinwegsetzt. Handlung u n d Unterlassung haben also i m Bereich der Wertung durchaus gemeinsame Anknüpfungspunkte. Sie liegen demnach nicht n u r auf v e r schiedenen Ebenen, w i e Sax m e i n t * 9 ; Sax übersieht, daß j a auch die H a n d l u n g i m Recht gewertet w i r d u n d nicht n u r die Unterlassung.

Diese beiden gemeinsamen Wertungsgesichtspunkte von Handlung und Unterlassung reichen jedoch für die rechtliche Bewertung der unechten Unterlassung — wie oben bereits angeführt — ganz offensichtlich nicht aus®0: W i r sind nicht bereit, jeden, der die Möglichkeit hat, einen bestimmten strafrechtlich relevanten Erfolg abzuwenden, bei Vorliegen einer bösen Gesinnung auch zu bestrafen. Wenn alle Dorfbewohner wußten, daß A den X töten wollte, und A den X dann tatsächlich auch getötet hat, so liegt allen Unterlassungen der Bewohner, die den A an der Tat hätten hindern können, der gleiche Erfolgsunwert zugrunde wie der Tat des A, und doch bewerten w i r keine (oder doch n u r ganz wenige, etwa die der Polizeibeamten) der vielen Unterlassungen als strafwürdiges Unrecht, selbst wenn sie von noch so bösartiger, unsittlicher Gesinnung getragen wären. Damit gewinnt der dritte Wertungsgesichtspunkt, Handlung und Unterlassung i n ihrem eigenen Wert- bzw. Unwertsein — dem Verhaltensunwert beider — zu untersuchen, entscheidende Bedeutung. 58 Z u m Verhältnis von Rechtsgut u n d Rechtsobjekt bzw. Verhaltensobjekt siehe unten S. 103 f. 9 » Nottarp-Festschrift, S. 142 f. Anm. 26; Analogieverbot, S. 121 ff. «ο Siehe oben S. 18; ebenso entschieden Welzel, Lb., S. 1 ff., 58 f.; i m selben Sinne auch die Abwägung bei Maurach, A. T., S. 191.

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Das, was die Handlung als solche, also unabhängig von der sie begleitenden Gesinnung „gut" („schlecht") macht, ist ihre Zweckhaftigkeit, ihr Ausgerichtetsein auf die Verwirklichung eines guten (bösen) Zieles (Zwecks). Diese „Finalität" der Handlung, die i n der besonderen, von dem steuernden Willen zusammengestellten Konstellation von Kausalfaktoren besteht, macht zusammen mit der Kausalwirkung hauptsächlich den „Handlungsunwert", den „ A k t u n w e r t " der Handlung aus e o a . Der dem Handlungsunwert zugrunde liegende Wertungssachverhalt besteht also i n Erscheinungen der äußeren Wirklichkeit, die bei der Unterlassung gerade nicht vorliegen, wie oben 61 aufgezeigt wurde. Handlung und Unterlassung haben also i n ihrem jeweiligen „Verhaltensunwert" keine gemeinsamen Berührungspunkte, da die Sachverhalte, die i n dem Handlungs- oder Unterlassungsunwert erfaßt werden, sich i n der Wirklichkeit kontradiktorisch ausschließen und w i r die Werte nur i m Wirklichkeitsgeschehen erfassen können 6 2 . Allenfalls könnte man noch daran denken, auf die Möglichkeit von Handlung und Unterlassung zurückzugreifen, wobei sogleich daran zu erinnern ist, daß nur die gemeinsame disjunktive Doppelmöglichkeit von Handlung und Unterlassung i n Frage kommt, denn die einfache, indifferente Möglichkeit bietet von vornherein keine Gemeinsamkeiten von Handlung und Unterlassung und scheidet deshalb als Wertungssachverhalt aus 63 . Die disjunktive Doppelmöglichkeit von Handlung oder Unterlassung existiert aber nur i n der Sphäre des „Bloß-möglich-Seins" und verschwindet i n der Wirklichkeit; damit müßte sich eine Wertung, die sie zur Grundlage nehmen würde, von vornherein schon abfinden. Unüberwindbar ist aber die Tatsache, daß diese Möglichkeit als Doppelmöglichkeit ja Gegensätzliches i n sich enthält. W i l l eine Wertung, die die Doppelmöglichkeit als Grundlage nimmt, sich demzufolge nicht selbst aufheben, muß sie die Doppelmöglichkeit i n Relation zu einem Dritten setzen, und das kann nur sein die Freiheitlichkeit der Entscheidung zur Handlung oder Unterlassung, der ja die Doppelmöglichkeit zugrunde liegt, oder der Gutswert, der eben möglicherweise verletzt oder gewahrt werden kann. Damit aber wäre man wieder beim Erfolgs(un)-wert oder aber bezüglich der Freiheitlichkeit bei einem Phänomen gelandet, das i m Rahmen des Rechts selbstverständliche Grundvoraussetzung jeder menschlichen Verhaltensweise ist und demzufolge nicht Gegenstand einer nochmaligen besonderen rechtlichen Bewertung sein kann. eoa Maurach, A. T., S. 151 ff.; Welze!, Lb., S. 1 ff. (2), 58 f.

« Unter I I I 1 a. 62 S. 41 f. es Dieses Phänomen macht auch letztlich Hardwigs „normativ-finalen" Kausalitätsbegriff, unter dem er eine „objektive Steuerbarkeit" versteht, untauglich — vgl. Zurechnung, S. 152, 156.

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I n ihrem „Verhaltensunwert", wie er hier bestimmt wird, stehen also Handlung und Unterlassung unvereinbar nebeneinander. U m das auch terminologisch sachgerechter zum Ausdruck zu bringen, w i r d hier vorgeschlagen, statt — wie bisher i n der Literatur — vom Handlungsunwert der Unterlassung vom „Unterlassungsunwert" zu sprechen. Daß die Phänomene so liegen, wie sie hier geschildert sind, bestätigt bereits ein Blick i n die Literatur zum Handlungsunwert. U m nur zwei gegensätzliche Standpunkte zu skizzieren 64 : Die personale Unrechtslehre, wie sie Welzel von seinem Standpunkt der finalen Handlungslehre her vertritt, zählt zu den Voraussetzungen des Handlungsunwerts (Aktunwert, personales Unrecht) 65 bei den einfachen vorsätzlichen Begehungsdelikten als Kernstück die Handlung m i t dem Vorsatz 66 , zu der bei verschiedenen vorsätzlichen Begehungsdelikten noch „subjektiv-täterschaftliche Handlungsmomente" (die subjektiven Unrechtselemente) 67 und, soweit die vorsätzlichen Begehungsdelikte Sonderdelikte sind, die besondere Pflichtenstellung hinzukommen 6 8 . Bei den fahrlässigen Delikten zählt die Außerachtlassung der i m Verkehr erforderlichen Sorgfalt zum Handlungsunwert 6 9 und bei der unechten Unterlassung die Garantenstellung 70 . Es bietet sich also je nach der Deliktsgruppe ein völlig anderes B i l d der dem Handlungsunwert zugrunde liegenden Sachverhalte. (Dies umso mehr, als auch Welzel zutreffend einen Vorsatz, wie er bei den Begehungsdelikten vorausgesetzt wird, als konstitutiv für die Unterlassungsdelikte leugnet 71 .) Ein zunächst einheitlicheres B i l d scheint die objektiv personale Unrechtslehre Maihofers zu bieten, wenn sie bei allen Delikten den Verhaltensunwert darin begründet sieht, daß der Täter seiner sozialen Pflichtenstellung zuwidergehandelt hat 7 2 . Aber bei näherem Zusehen unterscheidet auch Maihof er zwischen „objektiven Sorgfaltspflichten" zur „Erfolgsvermeidung" und solchen zur „Erfolgsabwendung" 7 3 . Dam i t trägt auch er, ohne dies allerdings auszuführen, dem grundlegenden Unterschied der beiden Pflichtenarten Rechnung 74 , der sich aus den sozialen Zusammenhängen des Gemeinschaftslebens ergibt. Die 64 Vgl. zum ganzen Krauß, ZStW 76, S. 31 ff. 65 Vgl. Welzel, Lb., S. 1 ff., 58 ff. 66 Welzel, Lb., S. 58 ff. 67 Welzel, Lb., S. 74 ff. 68 Welzel, Lb., S. 58 f., 60 f. 69 Welzel, Lb., S. 59, 126 ff. 70 Welzel, Lb., S. 200 ff. i n Verbindung m i t S. 61, 58 f. 71 Welzel, Lb., S. 194. 72 Unrechtsvorwurf, S. 156ff.; vgl. auch S. 147 ff., 154. 73 Unrechtsvorwurf, S. 157. 74 Vgl. auch Hardwig, Zurechnung, S. 139.

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Erfolgsabwendungspflicht der unechten Unterlassungsdelikte w i r d — u m hier bereits den Grundgedanken anzudeuten, der unten eingehend dargelegt w i r d 7 5 — entscheidend von dem funktionalen (arbeitsteiligen) Aspekt menschlichen Zusammenlebens geprägt; ihre Erfüllung bedeutet A n t e i l des einzelnen an der Gesamtleistung, während die Erfolgsvermeidungspflichten der Begehungsdelikte jedem (oder einigen) generell obliegen; sie haben nichts m i t der Rolle des einzelnen als dynamischem Moment der funktionellen Stellung innerhalb der Gemeinschaft zu tun. (Daß m i r verboten ist, jemanden zu töten, berührt nicht meine Aufgaben innerhalb einer Gemeinschaft.) Damit w i r d der Sachverhalt deutlich, der bei den unechten Unterlassungsdelikten den Unwert trägt: Es sind nicht nur die negierenden Umstände der Nichthandlung, Nichtkausalität und des Nichtverwirklichenwollens, sondern auch positive Merkmale, die die Situation, i n der der Täter handeln soll, beschreiben. Dabei handelt es sich u m Merkmale, die das Verhältnis des Täters zum gefährdeten Objekt bestimmen, und zwar sowohl bei den unechten als auch bei den echten Unterlassungsdelikten 76 . Diese Merkmale der „Garantenstellung" sind indes nicht nur bei den Unterlassungsdelikten, sondern auch bei den Begehungsdelikten bedeutsam, w i e z. B. i n § 266 und den Amtsdelikten. Sie sind also nicht etwa Merkmale, die typisch nur immer m i t der Unterlassung einhergehen müßten. Sie sind also nicht etwa ein positives Wesenselement der Unterlassung, das diese von der Begehung abhebt. Indes w i r f t die Tatsache, daß sie bei jeder strafrechtlich relevanten Unterlassung immer vorliegen müssen, während sie n u r bei einigen Begehungsdelikten vorzuliegen brauchen, ein bezeichnendes Licht auf die Verschiedenheit von Handlung und Unterlassung als solchen auch in der Bewertung. Gerade weil die Unterlassung als solche i n allen Wesensmerkmalen i m Bereich der Wirklichkeit die Negation der Handlung ist, knüpfen w i r immer an die persönlichen Merkmale der Garantenstellung an, denn die (arbeitsteilige) Struktur unseres Gemeinschaftslebens zwingt uns dazu, den uferlosen Auswirkungen des Unterlassungsbegriffs entgegenzutreten, damit es nicht empfindlich gestört werde. Die persönlichen Merkmale der Garantenstellung i m Unwertsachverhalt der Unterlassung sind also von außen aus den Erfordernissen des Soziallebens 75 Z u C I I I 4. Das weitere positive M e r k m a l der Unterlassung, nämlich der eingetretene Erfolg, ist oben bei der Erörterung des Erfolgsunwerts behandelt. Das dritte ist die Freiheitlichkeit der Unterlassung, der die Doppelmöglichkeit des Auch-anders-handeln-Könnens zugrunde liegt. Sie ist Grundlage jeder rechtlich relevanten Verhaltensweise u n d damit auch nicht typisch f ü r den Unterlassungsunwert. — Vgl. zu den positiven Merkmalen der Unterlassung Bockelmann, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 451.

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herangetragene Momente, die unmittelbar m i t dem Wesen der Unterlassung nichts zu t u n haben. Damit bleibt es dabei: Eine gemeinsame Bewertung von Handlung und Unterlassung ergibt sich nur hinsichtlich des Erfolgsunwertes und des Gesinnungsunwertes. Diese Gemeinsamkeit hat aber nur beschränkte strafrechtliche Bedeutung, denn Erfolgs- und Gesinnungsunwert führen nicht zur abschließenden strafrechtlichen Bewertung. Entscheidend ist vielmehr erst der Unterlassungsunwert, der m i t dem Handlungsunwert jedoch keine Gemeinsamkeit hat; die Wertungssachverhalte von Handlung und Unterlassung als solchen sind unüberbrückbar gegensätzlich 77 und damit auch i n einer Bewertung nicht zu vereinigen. d) Zusammenfassung Handlung und Unterlassung schließen sich i n der Wirklichkeit gegenseitig kontradiktorisch aus. Wie alle kontradiktorischen Begriffe haben sie i m Bereich des Möglich-Seins eine Gemeinsamkeit i n der disj u n k t i v e n Doppelmöglichkeit („wenn a möglich ist, muß auch non-a möglich sein"), die aber bei der Verwirklichung i n der Realität verschwindet, i m Gegensatz zur einfachen, indifferenten Möglichkeit, die i n die Realität m i t eingeht. Diese Gemeinsamkeit i n der disjunktiven Doppelmöglichkeit eröffnet für das Gesetz die Chance, Handlung und Unterlassung beide in einem Merkmal, nämlich dem Verhaltensbegriff, zu erfassen, soweit das Gesetz sich nur i n der Sphäre des Bloß-möglich-Seins bewegt. Dies t u t es insofern, als es ja immer eine Regelung i m Hinblick auf zukünftige (d. h. eben mögliche) Ereignisse ist. Bei der Anwendung i m konkreten Einzelfall auf ein Stück Wirklichkeitsgeschehen können dagegen die Verhaltensmerkmale nur als Handlungs- oder als Unterlassungsmerkmale verstanden werden. Die Gemeinsamkeit von Erfolgs- und Gesinnungsunwert i m Bereich der Werte erleichtert die Zusammenfassung von Handlung und Unterlassung i n Verhaltensmerkmalen. Dagegen bewirkt die Kontradiktion der beiden Erscheinungen i n der Wirklichkeit auch eine Unvereinbarkeit i m Handlungs- bzw. Unterlassungsunwert. 2. Die gesetzgeberischen Möglichkeiten bei der Beschreibung der Tatbestände von Handlung und Unterlassung Durch die geschilderte Eigenart des Verhaltensbegriffs w i r d das Verständnis der gesetzlichen Tatbestände erheblich kompliziert, da 77 i n dieser Richtung die Bemerkung E. A. Wolffs, Anm. 12.

Kausalität, S. 36

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sie zur Folge hat, daß man die gesetzlichen Tatbestände einheitlich n u r als Verhaltenstatbestände i n ihrer Anwendungsmöglichkeit begreifen kann, während sie bei der konkreten Gesetzesanwendung jeweils i n die Auslegungstatbestände von Handlung und von Unterlassung zerfallen. Damit entsteht die Frage, ob man nicht auf den schwierigen Verhaltensbegriff überhaupt verzichten könnte, indem das Gesetz wirkliches Handlungsgeschehen und wirkliches Unterlassungsgeschehen i n gesonderten Tatbeständen beschriebe. Diese Frage hat eigentlich n u r de lege ferenda volles Gewicht, denn das geltende Strafgesetzbuch enthält n u r i n wenigen Bestimmungen Unterlassungstatbestände neben den entsprechenden Begehungstatbeständen. Aber sie hat auch f ü r das gegenwärtige Gesetz Bedeutung, denn sollte sie v e r neint werden, so wären w i r unter diesem Zwange eher bereit, die gegenwärtigen Gesetzesbestimmungen jeweils auch als Unterlassungstatbestände zu begreifen.

Hier sieht sich die gesetzgeberische Technik der Tatbestandsbeschreibung vor unterschiedlichen Schwierigkeiten. Die strafrechtlich geschützten Rechtsgüter, die i n den Auslegungstatbeständen von Handlung und Unterlassung gleich sind, können i n den Kodifikationstatbeständen relativ leicht i n Worte gefaßt werden. Das gleiche gilt für die A r t der Rechtsgutst; erletzung und den Kreis der i n Frage kommenden Personen i n den Begehungstatbeständen. Da niemand den Erfolg herbeiführen darf und jede Handlung, die darauf gerichtet ist, verboten werden kann 7 8 , genügt es i n der Regel, die Person allgemein mit dem Wörtchen „ w e r " und die Handlung durch ihre Zweckrichtung auf den Erfolg („tötet", „Sache beschädigt") zu bezeichnen. Welche Handlungen i m einzelnen vorgenommen werden, ob „töten" durch einen Messerstich, einen Gewehrschuß oder durch Erdrosseln begangen wird, darauf kommt es nicht an. Bei den Unterlassungstatbeständen liegt es i n bezug auf die vorzunehmende Handlung ähnlich. Wie der drohende Erfolg abzuwenden ist, interessiert bei der Tatbestandsbildung nicht. Wenn das K i n d gestorben ist, so ist es gleichgültig, ob deshalb, weil die Mutter es unterlassen hat, i h m Brei zu geben oder es aus dem Wasser zu ziehen 79 . Es kommt vielmehr darauf an, i m Tatbestand festzulegen, welche Personen für die Abwendung welchen Erfolges einzustehen haben. Die Mutter hat nicht den Tod eines jeden Menschen, sondern nur den ihres Kindes abzuwenden. A u f der anderen Seite hat aber nicht nur die Mutter die Pflicht, das K i n d vor dem Tode zu bewahren, 78 Siehe oben S. 18. 79 So gesehen, gibt weder der Begehungstatbestand an, was einer nicht t u n soll, noch der Unterlassungstatbestand, was einer t u n soll. Die berühmten Sätze M . E. Mayers, Lb., S. 190 sind also sehr ungenau. 4 Bärwinkel

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sondern auch u. U. das Kindermädchen, der Lehrer, die Geschwister usw. Es liegt auf der Hand, daß es eine unendliche Fülle von Beziehungen aller Individuen einer Rechtsgemeinschaft zu den i m Strafgesetz geschützen Rechtsgütern, von denen ja auch jedes einzelne i m Leben i n den mannigfachsten Objekten repräsentiert w i r d 8 0 , gibt. Hier nun die erheblichen Beziehungen, die eine strafrechtliche Erfolgsabwendungspflicht begründen, herauszugreifen und i m Besonderen Teil des Strafgesetzes typisierend zu beschreiben, erscheint selbst bei einer Sammelgruppenbildung unmöglich, da es von Gruppe zu Gruppe immer wieder Untergruppen und Fälle geben wird, die nicht unter den i m Gesetz beschriebenen Typ einer Garantenstellung passen und doch strafwürdig sind oder andererseits vom Gesetz erfaßt würden, aber nicht strafwürdig sind 8 1 . Zudem kommt hinzu, daß sich unsere Anschauungen über die Dringlichkeit sozialethischer Pflichten, die nach heute allgemeiner Meinung Maßstab für deren Eigenart als Rechtspflicht ist 8 2 , m i t dem Wandel unserer Gesellschaft ändern 83 . Eine gesetzliche Festlegung von Garantenpositionen, sei es i m Allgemeinen oder Besonderen Teil eines Strafgesetzbuches, würde die Rechtsentwicklung auf diesem besonders stark fluktuierenden Gebiet stagnieren lassen 84 . Grünwald ist freilich anderer Meinung. Er hält die Kodifikation von Garantenstellungen i m Besonderen Teil eines Strafgesetzbuchs f ü r möglich 85 . A l s Beispiel bringt er folgenden § X — Nichtabwendung eines Todeserfolges I. Wer es unterläßt, den Tod eines Menschen abzuwenden, steht demjenigen gleich, der den Tod eines Menschen verursacht, wenn er 1. m i t i h m i m I. Grade verwandt oder sein Ehegatte ist, 2. mit i h m durch enge Lebensgemeinschaft verbunden ist, 80 So repräsentiert jeder nicht herrenlose Gegenstand das i n § 242 geschützte Rechtsgut „Eigentum", jedes einzelne Gericht bei jeder einzelnen Verhandlung die i n §§ 153 ff. geschützte „Rechtspflege" usw. 81 Vgl. die eingehenden Ausführungen von Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 182 ff., 186 f.; Schaff stein, O L G Celle-Festschrift, S. 190; Rudolphi, S. 86. Ebenso Welzel, Lb., S.202f.; Eb. Schmidt, Niederschriften Bd. 2, S.269f. 8 « Maurach, Α. T., S. 511. 83 Vgl. den guten Überblick über solche Wandlungen bei Frede, Diss., S. 122—135. Dort auch L i t e r a t u r u n d Beispiele aus der Rechtsprechung hierzu. 84 Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 186 f.; Frede, Diss., S. 145 f. es ZtSW 70, S. 426.

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3. die Obhut für i h n übernommen hat, 4. gemeinsam m i t i h m an einer m i t Gefahren Unternehmung beteiligt ist,

verbundenen

5. durch eine gefährliche Handlung die nahe Wahrscheinlichkeit des Todeseintritts herbeigeführt hat. Bei genauerer Betrachtung enthält dieser Gesetzesvorschlag 86 erhebliche Lücken, die i n der Eigenart der Materie ihre Ursache haben. Ziff. 1 ist z. B. zu weit für die Fälle, i n denen Ehegatten seit Jahren getrennt leben 87 . Ziff. 2 enthält eine Generalklausel über die Garantenstellung aus konkreter Lebensgemeinschaft, die teilweise zu weit, teilweise sicherlich zu eng ist. Man versuche nur einmal die schillernde Gruppe der „Hausgemeinschaft", die ja nicht immer eine „Lebensgemeinschaft" sein muß, oder eine Betriebsgemeinschaft hier unterzubringen. Der vom Bundesgerichtshof entschiedene F a l l 8 8 einer „Fernlastfahrergemeinschaft" wäre unter diese Ziffer kaum zu subsumieren. Ziff. 5 erfaßt die wichtigsten Fälle der Garantenstellung aus Uberwachung einer Gefahrenquelle nur zum geringen Teil, nämlich nur dann, wenn die Gefahrenquelle durch eine gefährliche Handlung geschaffen wird. Es fehlen ganz generell die Garantenstellungen aus Beruf 8 9 und sozialem Herrschaftsbereich 90 . Diese wenigen Punkte der K r i t i k zeigen, daß eine Regelung der Garantengebotstatbestände i m Besonderen Teil dem Schicksal der Lückenhaftigkeit oder generalklauselartigen Formulierung nicht entgehen kann 9 1 . Der Gesetzgeber kann nicht — und damit ist die oben 92 gestellte Frage beantwortet — unrechtmäßiges Unterlassungsgeschehen i n ge86 ZStW 70, S. 431. 87 Kritisch auch Androulakis, S. 230. 88 N J W 1959, S. 1979. 8» Hier seien n u r die Prototypen A r z t — vgl. B G H 7, S. 211 ff. (Behandlungsübernahmepflicht des Bereitschaftsarztes; daher entfällt die Ziff. 3 des Vorschlages von Grünwald) —, Feuerwehrmann, Polizeibeamter u n d der berühmte Weichenwächter genannt. 90 U n d zwar des räumlichen, persönlichen u n d sachlichen Herrschaftsbereichs — vgl. i m einzelnen unten S. 140 ff. u n d dort A n m . 28. 91 Treffend Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 183. Wenn Busch, v. Weber-Festschrift, S. 204 f., zugunsten der Gegenmeinung anführt, die Garantenstellungen hätten n u r bei den wichtigsten Delikten Bedeutung, so nennt er doch bei genauerem Zusehen fast alle Tatbestandsgruppen des Besonderen Teils (sogar noch teilweise über Nagler, GS 111, S. 56, den er f ü r seine A n sicht zitiert, hinausgehend [beim Meineid]). Außerdem gibt es Garantenstellungen, die fast alle Deliktstypen des StGB betreffen, z. B. die Garantenstellung von Eltern, die die Straftaten ihrer minderjährigen K i n d e r zu verhüten haben (vgl. den Hinweis bei Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 182 A n m . 10). 9 * S. 49. 4*

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Β . Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

sonderten Straftatbeständen beschreiben. I h m bleibt sinnvoll nur der Rückzug i n die Generalklausel bzw. den unbestimmten Rechtsbegriff 93 . M i t der Schaffung einer besonderen Gesetzesvorschrift, wie sie etwa der Entwurf 1962 i n seinem § 13 vorsieht, würde man n u n zwar den formellen Anforderungen des nulla-poena-sine-lege-Satzes (Art. 103 Abs. 2 GG) eher nachkommen als beim bisherigen Gesetzeszustand, da das Gesetz nun schwarz auf weiß sagen würde (was bisher schon alle wußten), daß die unechte Unterlassung bestraft werde. Aber die Entwicklung und inhaltliche Ausformung der Garantenpositionen bliebe weiterhin Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen. Durch eine solche generalklauselartige besondere Gesetzesvorschrift i m Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches entsteht n u n aber die Gefahr, daß uns der von Grünwald 9 4 und A r m i n Kaufmann 9 5 dafür geschärfte Blick, daß die Garantensteilungen ganz spezifisch nur i m Hinblick auf die jeweils verschieden gelagerten Tatbestandsgruppen des Besonderen Teils entwickelt werden können, verschleiert würde. Somit bietet sich als Lösung die Bildung von unbestimmten, wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen jeweils i n den Tatbeständen des Besonderen Teils an. Diese Begriffe gestatten i m Wege der Konkretisierung, d . h . durch Auslegung, die Präzisierung der Garantenstellungen i m Hinblick auf die Besonderheiten des jeweiligen Tatbestandes. Da nach wie vor die allgemeine Rechtsüberzeugung besteht, daß die unechten Unterlassungsdelikte strafbar seien, kommt man notwendig zu dem Ergebnis: Die Handlungsmerkmale i n den einzelnen kodifizierten Tatbeständen dürfen nicht ausschließlich als Begehungsmerkmale, sondern müssen auch als Unterlassungsmerkmale (Merkmale der Nichtabwendung des Erfolgs) verstanden werden. Sie sind — wie oben schon angeführt — „Verhaltens"-merkmale. Damit erweist sich der Verhaltensbegriff bei der Beschreibung des Begehungs- und Unterlassungsunrechts aus gesetzestechnischen Gründen als notwendig, und die Komplikation i m Verständnis der Kodifikationstatbestände muß hingenommen werden. 3. Die Natur der kodifizierten Tatbestände im Hinblick auf die unechten Unterlassungsdelikte Die unüberwindlichen Schwierigkeiten, die der Gesetzgeber bei der Unrechtsbeschreibung der unechten Unterlassungsdelikte i m Gegenw Dafür plädiert auch Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 187; vgl. auch Henkel, Recht u n d I n d i v i d u a l i t ä t , S. 26 ff., 41 f.; Androulakis, S. 223 ff., 227 f., 229, 231. 94 Z S t W 70, S. 424 f. »5 Dogmatik, S. 287 ff.; JuS 1961, S. 176; vgl. auch schon Schaff stein, Gleispach-Festschrift, S. 110; Dahm, ZStW 59, S. 137, 157 ff.

IV. Rechtsfindung innerhalb der Verhaltensmerkmale

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satz zu der bei den Begehungsdelikten hat, k a n n er also dadurch u m gehen, daß er an den Verhaltensbegriff anknüpft. A b e r damit sind n u r Schwierigkeiten aus der W e l t geschafft, die m i t der Gesetzestechnik zusammenhängen, aber nicht die, die generell bei der Bestimmung des Unrechts der unechten Unterlassungsdelikte bestehen. Diese tauchen bei der Gesetzesanwendung, also bei der Auslegung, wieder auf. D i e das Verhalten kennzeichnenden Tatbestandsmerkmale lassen sich, w e n n es u m das „ T u n " geht, relativ leicht auslegen, dagegen entstehen die oben geschilderten Schwierigkeiten, w e n n es u m die Erfassung der strafbaren Nichtabwendung des Erfolges geht. M . a. W.: Bei der Interpretation der Kodifikationstatbestandselemente „ t ö t e t " , „ w e g n i m m t " , der Freiheit „beraubt", „Sache beschädigt" usw. als V e r haltensmerkmale erweist sich, daß sie als Tätigkeitsmerkmale wesentlich — wenn auch nicht i m m e r 9 6 — bestimmter das Unrecht beschreiben (da sie eben „ r i c h t i g " jede Handlung eines jeden Menschen als Unrecht qualifizieren), als sie das als Unterlassungsmerkmale tun, da sie i m Zusammenhang m i t dem qualifikationslosen „ w e r " zunächst rein äußerlich nicht angeben, welcher Mensch f ü r die Nichtabwendung welchen Erfolgs einzustehen hat. Das Verhaltensmerkmal des kodifizierten Tatbestandes ist also i m Hinblick auf den zu ermittelnden Auslegungstatbestand der unechten Unterlassung ein unbestimmter Rechtsbegriff 9 7 . D a m i t sind Lehre und Rechtsprechung gezwungen, das Verhaltensmerkmal des kodifizierten Tatbestandes bei der Gesetzesanwendung i m Bereich der Unterlassungsdelikte begrifflich auf seine eigentliche rechtliche Bedeutung festzulegen.

I V . Die Methodik der Rechtsfindung in den unbestimmten Rechtsbegriffen der Verhaltensmerkmale Wie die Wertausfüllung i n den unbestimmten Rechtsbegriffen der Verhaltensmerkmale i m Rahmen des Auslegungstatbestandes der u n echten Unterlassungsdelikte zu erfolgen hat, ist die Frage, die i n den zweiten Problembereich der Untersuchung hineinführt. Während an dieser Stelle die generelle methodische Seite dieser Frage erörtert w i r d , soll später 1 die E r m i t t l u n g der Garantenstellungen i n concreto aufgezeigt werden. 96

Z. B. nicht i m Begehungstatbestand der §§ 240 u n d 253.

η Welzel, Lb., S. 79; Roxin, Offene Tatbestände, S. 172 f. und Henkel,

MschrKrim 1961, S. 178 wollen deshalb die Unterlassungstatbestände „offen" bezeichnen. ι Vgl. unter C I I I .

als

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Β . Begehungs- u n d Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

Zwei Problemkreise ergeben sich bei näherer Befassung m i t wertausfüllender Betrachtung. Einmal ist generell das Gebiet abzustecken, i n dem sich die geforderten Wertungen auffinden lassen, und zum anderen ist die Methode der Wertausfüllung näher zu umreißen. M i t der Aufstellung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe verweist der Gesetzgeber den Hechtsanwendenden auf die Suche nach Wertmaßstäben außerhalb des Gesetzes. Da das Gesetz als Teil der Rechtsordnung mit dieser zusammen i n der Sozialordnung wurzelt 2 , ergibt sich gleichsam von selbst, daß der Hinweis auf die dem Gesetz vorgegebene sozialethische Pflichtenordnung abzielt, soweit sie für die Rechtsordnung relevant zu werden vermag 3 . Die Orientierung des Rechtsanwendenden hat i n diesem Bereich in zwei Richtungen zu gehen: Einmal hat er die sozialen Verhaltensweisen und Bezüge, wie sie i n ihrem faktischen Bestand dem allgemeinen Rechtsbewußtsein beispielhaft Ausdruck verleihen 4 , zu erforschen. Zum anderen hat er die für die Gesellschaft gültigen objektiven Werte, zu deren V e r w i r k lichung i m Hinblick auf den obersten Rechtswert 5 die unbestimmten Rechtsbegriffe auffordern, zu ermitteln 6 . M. a. W.: Dem Rechtsanwendenden obliegt nicht nur die Feststellung der objektivierten sozialen Sinnbezüge, sondern er muß auch die richtigen, für die Gesellschaft wertvollen ermitteln 7 . Außerdem hat sich der Rechtsanwendende um die Methode der Wertausfüllung zu bemühen. Der wertausfüllungsbedürftige Rechtsbegriff enthält keine Norm, unter die man unmittelbar subsumieren könnte 8 . Das wichtigste methodische Mittel, diese Normen, d. h. die i n Frage kommenden sozialethischen Wertungsmaßstäbe zu finden, ist daher zunächst die Fallvergleichung 9 . „Das ausschlaggebende Beurteilungsmaterial liefern die Einzelfallgegebenheiten" 10 , und zwar zunächst solcher Fälle, deren rechtliche Bewertung zweifelsfrei, all2 Vgl. zum Verhältnis von Recht u n d Sozialordnung näher unten S. 98 f., 110 f., 131 f. A n m . 7, w o aus konkretem Anlaß entscheidende Berührungspunkte erörtert werden. A n dieser Stelle mag der generelle Hinweis genügen. 3 Vgl. Henkel, Recht u n d I n d i v i d u a l i t ä t , S. 35 f., 64; M s c h r K r i m 1961, S. 187; Larenz, Methodenlehre, S. 219; Engisch, Einführung, S. 124 f.; Heller, S. 92. 4 U n t e n „soziale Sinnobjektivationen" bzw. „objektivierte Sinnbezüge" genannt. 5 Siehe unten S. 94 f. 6 Vgl. hierzu i n etwas anderer Darstellung Larenz Methodenlehre, S. 219. 7 I m einzelnen dazu unten C. I I I . β Larenz, Methodenlehre, S. 218; Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 187; Recht u n d Individualität, S. 35; ähnlich Engisch, Einführung, S. 125 f. 9 Larenz, Methodenlehre, S. 220; Engisch, Einführung, S. 126. 10 Henkel, Recht u n d Individualität, S. 29.

I V . Rechtsfindung innerhalb der Verhaltensmerkmale

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gemein überzeugend ist. (Die Mutter läßt i h r K i n d verhungern — Totschlag durch Unterlassen.) A n diese Fälle reihen sich andere „ähnliche" Fälle an, und es bildet sich gleichsam wie i n einem K r i s t a l l i sationsprozeß ein Ordnungsgefüge von „typischen" Fallgruppen heraus 11 . Die Konkretisierung wertausfüllungsbedürf tiger Begriffe durch Fallvergleichung hat damit Ähnlichkeit m i t der exemplifikativen Auslegung 1 2 , ohne aber m i t dieser identisch zu sein, denn die exemplifikative Auslegung kehrt oft zu einer definitorischen zurück, während bei der Konkretisierung die „typischen" Fälle an die Stelle der unmöglichen Definition des wertausfüllungsbedürftigen Begriffs treten 1 3 . Eine weitergehende Generalisierung der typischen Fälle kann dementsprechend nicht definitorisch erfolgen, sondern muß sich auf anderer Ebene bewegen, nämlich, wie sogleich ausgeführt w i r d 1 4 , auf der strukturellen Ebene. M i t der Herausarbeitung „typischer" Fallgruppen i m Wege der Konkretisierung der Verhaltensmerkmale haben sich Rechtsprechung und herrschende Sammelgruppenlehre die Mittelstellung, die der „Typus" i n der Abstraktionshöhe zwischen Allgemeinbegriff und I n dividualbegriff einnimmt, zunutze gemacht 15 . Damit erfüllen sie durchaus die neuerdings von Rudolphi 1 6 i m Anschluß an Nagler 1 7 wieder hervorgehobene Forderung nach einer „Abstraktion mittleren Grades", die einerseits die notwendige Generalisierung der gefundenen Wertungen aufweist und zum anderen konkret genug ist, u m den relevanten Verschiedenheiten der Einzelfälle Rechnung zu tragen. Die Unsicherheiten, die die Sammelgruppenlehre immer noch bei der Be11

Henkel, Recht u n d Individualität, S.44. Worauf Engisch, Einführung, S. 126, hinweist. 13 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 218 f. A n m . 2. — Diese Unmöglichkeit einer Definition hängt damit zusammen, daß w i r Werte n u r i n Sachverhalten erfahren können, somit wertausfüllungsbedürftige Begriffe n u r m i t Wertungssachverhalten ausgefüllt werden können. Dem Rechtswert, auf den sich der unbestimmte Rechtsbegriff bezieht, gehören die u n t e r schiedlichsten Wertungssachverhalte i m Rahmen dieses Rechtsbegriffs zu. Diese Fülle ist aber definitorisch k a u m zu erfassen. 14 Vgl. auch bereits oben, S. 13 f. 15 Vgl. dazu Engisch, Konkretisierung, S. 237 ff., insbesondere S. 259 ff., 261: „ I s t der Begriff das Ergebnis einer begrifflichen, die I n d i v i d u a l i t ä t das Ergebnis einer anschaulichen Abstraktion, so ist der Typus das Ergebnis einer »komparativ-anschaulichen' Abstraktion. Diese teilt m i t der begrifflichen Abstraktion das Herausheben gemeinsamer Momente aus einer V i e l zahl gleichartiger oder ähnlicher Einzelerscheinungen, aber sie dringt doch nicht zu einem allgemeinen Begriff vor, sondern zu einem »Ganzen v o n anschaulichen Zügen 4 , das zwar keinem echten, aber doch einem »fingierten Individualobjekt', dem ,Typenobjekt 4 , zugeschrieben w i r d . " « S. 37, 88 f. " GS 111, S. 42. 12

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Β . Begehungs- und Unterlassungsdelikt i m Straftatbestand

urteilung von Fällen unechter Unterlassungsdelikte aufweist, haben denn auch andere Ursachen. Das eine Manko r ü h r t daher, daß die Sammelgruppenlehre ihre Fallgruppenbildung unter falschen Wertungsgesichtspunkten vorgenommen hat. Statt die Erfolgsabwendungspflichten materiell i m Hinblick auf die Verantwortlichkeit bestimmter Personen f ü r die zu schützenden Rechtsgüter zu typisieren, hat man sie unter dem formalen, v ö l l i g sinnfremden rechtsquellentechnischen Gesichtspunkt geordnet 18 . Daß man damit keine sicheren Bestimmungskriterien gewinnen kann, liegt schon vom methodischen Ansatz her auf der Hand 1 9 . Der zweite Mangel der Sammelgruppenlehre besteht darin, daß sie bisher versäumt hat, die von i h r zusammengestellten typischen Fallgruppen auf ihre gemeinsame Wertstruktur h i n zu untersuchen, m. a. W. festzustellen, aus welchen Wertungssachverhalten sich die Garantenstellungen — unabhängig von den konkreten inhaltlichen Wertungen — regelmäßig zusammensetzen. Erst die Erkenntnis des Verhältnisses sozialer Lebenssachverhalte, w i e es innerhalb einer jeden Garantenstellung wiederkehrt, ermöglicht die präzise Einsetzung gefundener inhaltlicher K r i t e r i e n und oft sogar noch die Erschließung neuer K r i t e r i e n 2 0 .

is Hier hat die falsche Auffassung v o m nulla-poena-sine-lege-Dogma verhängnisvoll gewirkt. 19 Vgl. die treffenden Ausführungen bei Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 185, 189. 20 Insofern ist die von Rudolphi i m Anschluß an Roxin, Täterschaft, S. 19 ff., auch für die unechten Unterlassungsdelikte aufgestellte Forderung nach Erfassung von Seinsstruktur und sozialen Sinnbezügen der Erscheinungen des Lebens (S. 31, 43, 45 u n d öfters) als Grundlage einer an sie zu knüpfenden Wertung (siehe schon oben S. 13 f.) durchaus berechtigt.

C. Die rechtliche Struktur der Garantieverhältnisse Die Struktur der Garantieverhältnisse ist bisher nicht ausdrücklich Gegenstand der Erörterimg gewesen. I m Vordergrund stand bisher die Suche nach inhaltlich tauglichen Kriterien, m i t denen man die Garantieverhältnisse zu bestimmen hoffte. H i n und wieder wurden i n diesem Rahmen — oft unbewußt — auch einige methodische A n deutungen gemacht, etwa wenn man sich Gedanken über das Verhältnis einzelner entwickelter Kriterien zueinander machte. Man hat also i m wesentlichen zwischen dem methodischen Aspekt der Bestimmung der Garantieverhältnisse, d. h. der Frage, wie (an welcher Stelle einer Prüfung) die gefundenen Kriterien einzusetzen sind, und der inhaltlichen Tauglichkeit dieser Kriterien zur Bestimmung nicht getrennt. Erst i n neuerer Zeit ist den methodischen Gedankengängen etwas breiterer Raum gegeben worden 1 . Jedoch ist es m i t den methodischen Überlegungen allein nicht getan; denn sie setzen i m Grunde schon die Frage nach der Struktur der Garantieverhältnisse voraus, da jede Materie entsprechend ihrer Struktur die i h r gemäße Methode zu ihrer Erforschung verlangt. Dieses Verhältnis von Struktur der Materie und Methode läßt natürlich auch andererseits den Rückschluß von der bisher mehr oder weniger unreflektiert eingeschlagenen Methode auf die Materie zu. Deshalb sollen i m folgenden die bisherigen Abhandlungen zu den unechten Unterlassungsdelikten daraufhin untersucht werden, welche Methodenvorschläge zur Bestimmung der Garantieverhältnisse gemacht worden sind, u m so vielleicht Anhaltspunkte zur Darlegung der Unrechtsstruktur der Garantieverhältnisse zu gewinnen. Die methodische Prüfung kann man nicht von dem Inhalt der entwickelten Kriterien trennen. Schon z. B. die inhaltliche Weite oder Enge eines Kriteriums bedingt eine methodisch andersartige Verwendung; so sind z. B. die weiten Kriterien i n vielen Untersuchungen nur Maßstäbe für die Entwicklung engerer spezieller Kriterien, und m i t Hilfe beider werden dann die Garantenstellungen bestimmt. Außerdem kann die inhaltliche Untauglichkeit eines Kriteriums ι Vgl. etwa die Darstellung von A r m i n Kaufmann, Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 179, 188 ff.; Androulakis, S. 100 f.

Dogmatik, S. 282ff.; S. 234 ff.; Rudolphi,

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieverhältnisse

methodisch i n eine Sackgasse führen, und umgekehrt kann eine falsche Methode ein inhaltlich an sich taugliches K r i t e r i u m unfruchtbar werden lassen, z. B. indem sie es verabsolutiert (wie das teilweise bei der Gar antenlehre der Fall war). Inhaltliche und methodische Überprüfung der bisherigen Lehren müssen daher i m folgenden Hand i n Hand gehen. I. Die bisherige Behandlung des Problems 1. Die

Sammelgruppenlehre

Die Rechtsprechung 1 und die Mehrzahl der Wissenschaftler sind seit jeher bis heute Anhänger der „Sammelgruppenlehre" 2 . Entsprechend der oben dargelegten sich zwangsläufig ergebenden methodologischen Entwicklung 3 hat man eine Anzahl von Gruppen strafbarer unechter Unterlassungsdelikte zusammengestellt. Man fand zu einer Dreiteilung der Handlungspflichten, nämlich solcher aus Gesetz, Vertrag und vorangegangenem Tun 4 . Die Enge dieses positivistischen Ansatzes führte jedoch bald zu den bekannten überspitzten Rechtspflichtskonstruktionen. So wurde z. B. der „vielstrapazierte § 1353 BGB"® zur Grundlage einer nahezu umfassenden, von der Kuppelei bis zur Tötung reichenden Deliktshinderungspflicht des einen Ehegatten gegenüber dem anderen erklärt 6 . Oder: M i t §§ 1601, 1705, 1707 B G B begründete man die Rechtspflicht der Großmutter, das Leben eines unehelichen Kindes ihrer Tochter zu schützen?. Aus § 1356 B G B sollten Eheleute verpflichtet sein, die Unzucht ihres Dienstmädchens zu verhindern 8 , u n d eine Ehefrau sollte aus der gleichen V o r schrift die Pflicht zum Einschreiten gegen strafbare Handlungen eines Mieters treffen 9 . 1

Vgl. die Zusammenstellung der Rechtsprechung bei Schönke/Schröder, 102 ff. vor § 1. 2 Der von Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 190 i n diesem Zusammenhang geprägte Terminus der „Sammelgruppenlehre" charakterisiert diese Lehre sehr anschaulich. 3 Vgl. oben Β I V . 4 Traeger, S. 79 ff.; Mezger, Lb., S. 138 ff.; v. Hippel I I , S. 161 ff.; Beling, Grundzüge, S. 38 ff. — Manchmal wurde auch n u r eine Zweiteilung vorgenommen, so ζ. B. bei v. Liszt-Schmidt, S. 190 f. ; Frank, S. 17 ff. ; Μ . E. Mayer, S. 191 ff. 5 Maurach, Α. T., S. 513 f. β Z . B . : R G 22, S.332; 48, S. 196; 58, S. 97, 226; 52, S.204; 74, S.285; R G i n DR 43, S. 234; teilweise auch noch die neuere Rechtsprechung: B G H N J W 1953, S. 591; N J W 1951, S.204; B G H 6, S.322; O L G Schleswig N J W 1954, S.285; O L G Bremen N J W 1957, S. 73. 7 R G 39, S. 397 ; 64, S. 316. 8 R G G A 53 (1906), S. 164 f. 9 R G J W 1939, S. 1576.

I. Die bisherige Behandlung des Problems

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Aus diesem Grunde wurde diese Einteilung seit den 30er Jahren u m die Fälle „enger Lebensgemeinschaft" bzw. „spezieller Treueverhältnisse" usw. erweitert 1 0 , die seither als vierte Gruppe den ursprünglichen angehängt werden 1 1 . Seit diese zunächst unter rein rechtsquellentechnischen Gesichtspunkten vorgenommene Dreiteilung um diese vierte Gruppe sozialethisch begründeter Pflichtenstellungen erweitert worden ist, ist innerhalb dieser Lehre eine Wende eingetreten. Es beginnt die Ansicht vorzudringen, daß i m Grunde andere, nämlich materielle Gesichtspunkte je nach der inhaltlichen Verschiedenartigkeit der Pflichtenstellung Grund zu einer Fallgruppenbildung sein müssen 12 . I n dieser Hinsicht sind i n letzter Zeit einige neue Einteilungen vorgenommen worden. Grundlegend hat zunächst A r m i n Kaufmann die Garantenstellungen i n zwei große Gruppen eingeteilt: Einmal besteht die Garantenstellung i n einer Schutzposition unmittelbar gegenüber einem Rechtsgut, zum anderen i n der Überwachung einer Gefahrenquelle, „gleichgültig, welchen konkreten Rechtsgütern i m einzelnen aus dieser Quelle Gefahren drohen" 1 3 . M i t der ersten Gruppe verknüpft Kaufmann den Gedanken der „Rundumverteidigung" des konkreten Rechtsguts gegen alle A n griffe und Gefahren verschiedenster A r t ; hier erwähnt er die Garantenstellungen, die i n einem Rechtssatz oder durch die tatsächliche A u f nahme vertraglicher Pflichten begründet sind. Bei der zweiten Gruppe führt Kaufmann aus, daß sich die „Schutzfunktion des Garanten auf eine einzige Angriffsrichtung, auf diejenige, die aus der einzudämmenden Gefahrenquelle dem Rechtsgut droht", beschränke. I n dieser Weise stelle sich die Schutzaufgabe zumeist i n den Fällen der Ingerenz und für die Gefahren i m sozialen Herrschaftsbereich und bei Vertrauensverhältnissen 14 . Dieser obersten Aufteilung von „Rundumverteidigung" und „Spezialverteidigung" auf je eine der beiden Gruppen widmet Henkel 1 5 speziellere Betrachtungen. Er führt aus, daß bei der ersten Gruppe „der rechtsgutsmäßige Schutzbereich sowohl i n sachlicher Hinsicht als auch m i t Bezug auf den oder die Schutzbefohlenen enger oder weiter sein" kann, wie z. B. die Pflichtenstellung der Eltern, des Kindermädchens, des Arztes, des Lehrers (alle nur i m persönlichen Bereich) oder die 10 Grundlegend RGSt 66, S.71ff.; 69, S. 321 ff. 11 Z . B . bei Baumann, Lb., S. 226 ff.; Welzel, Lb., S. 206 ff.; Maurach, A. T., S. 513 ff.; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I I Β I I 3 vor §1. ι 2 So neuerdings nachdrücklich Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 191. 13 Dogmatik, S. 283. 14 Dogmatik, S. 283 f. is MschrKrim, 1961, S. 190.

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieverhältnisse

aus Hausgemeinschaft, Betriebsgemeinschaft, Gefahrengemeinschaft (die den persönlichen und den Vermögensbereich betreffen) zeigen. Henkel betont, daß gerade bei den letzteren „sorgfältig zu prüfen ist, ob ein rechtlich wünschenswerter oder anerkannter Gemeinschaftszweck besteht", d. h., daß die an einer solchen Gemeinschaft Beteiligten nicht zur Abwehr aller Gefahren, die den Mitbeteiligten betreffen, verpflichtet sein können. Hinsichtlich der zweiten Gruppe führt er in Parallele zur „Rundumverteidigung" aus, „daß diese A r t Garantenstellung zu einem ,Rundumschutz' gegenüber der Bedrohung aus der Gefahrenquelle verpflichtet." Die Fälle der Garantenstellung aus sozialem Herrschaftsbereich gliedert er aus und bildet m i t ihnen eine neue Sammelgruppe 16 . Diese beiden obersten Einteilungsprinzipien haben i n neuerer Zeit auch Schröder u n d Meyer-Bahlburg zum Ausgangspunkt einer Neugliederung der Sammelgruppen genommen 1 7 . Androulakis benutzt sie zur Obereinteilung seiner Fälle sozialer Nähe 1 8 .

Aber die Sammelgruppenlehre hat sich neuerdings nicht nur i n ihren inhaltlichen Kriterien verändert, sondern sie hat auch, seit sie den formalen Ausgangspunkt einer rechtsquellentechnischen A u f gliederung der Garantieverhältnisse verließ, methodische Überlegungen angestellt. Solange sie die Rechtspflichten zum Handeln n u r unter dem Gesichtspunkt der rechtsquellenmäßigen Legitimation betrachtete, genügte für die Strafbarkeit der Unterlassung die bloße Existenz einer gesetzlichen Erfolgsabwendungspflicht auf irgendeinem Rechtsgebiet. I n dem Augenblick, i n dem man gegenüber dieser formalistischen Begründung teleologisch auf die inhaltliche Bedeutung der Rechtspflicht abstellte, mußte man zu einem ersten Schritt einer stufenweisen Folge axiologischer Erwägungen gelangen, um die Rechtspflichten inhaltlich festzulegen. Mezgers klassische Formulierung lautete damals: „Erforderlich zur Haftung für den Erfolg ist eine Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung, die den erweislichen Sinn hat, eine strafrechtliche Haftung für den Erfolg begründen zu wollen 1 9 ." Danach war das bloße Auffinden und Anwenden einer x-beliebigen Rechtspflicht zum Handeln, die vielleicht irgendwo auf ganz anderem Rechtsgebiet i n ganz anderem Zusammenhang konstituiert war, nicht ausreichend, sondern i n einem zweiten A k t sollte nunmehr auch die strafrechtliche Relevanz dieser Pflicht geprüft werden 2 0 . 16 MschrKrim, 1961, S. 190 f. Vgl. dazu i m einzelnen Schönke/Schröder, 102 ff. vor § 1 u n d MeyerBahlburg, Diss., S. 65 ff. 18 Siehe unten zu 4. !» Lb., S. 140. 20 Mezger, Lb., S. 140 ff. bringt allerdings keinen Hinweis, w i e die Frage zu lösen sei.

I. Die bisherige Behandlung des Problems

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Wenn A r m i n Kaufmann i n neuerer Zeit ausführt, man müsse die Existenz eines Gebotes, das die Abwendung einer Rechtsgutsverletzung zum Inhalt habe, feststellen und sodann prüfen, ob die Verletzung dieses Gebotes „an Unrechtsgehalt und i m Maße des Schuldvorwurfes und damit i n der Strafwürdigkeit dem Begehungsdelikt... wenigstens annähernd gleiche" (hier erst sei der Sitz des eigentlichen Gleichstellungsproblems) 21 , so bezieht er verfahrensmäßig die Position Mezgers, ohne über sie hinauszuführen. Aber selbst die Verteidigung dieser Position ist, wie Kaufmann zurecht ausführt, auch heute noch notwendig, denn die Frage der Rechtspflicht und das Problem ihrer strafrechtlichen Relevanz 22 werden „noch immer i n die Feststellung gekleidet, es bestehe eine ,Erfolgsabwendungspflicht* — oder nicht" 2 3 . Wie sehr sich dabei der Blick für die eigentliche strafrechtliche Problematik, nämlich die Strafwürdigkeit der Pflichtverletzung, verkürzt, zeigt ein Urteil, i n dem der Bundesgerichtshof 24 Beihilfe eines Arbeitnehmers zum Diebstahl wegen Verletzung seiner dienstvertraglichen Pflicht, einen Diebstahl anzuzeigen, annimmt, ohne auch nur m i t einem Wort zu erwägen, ob diese rein zivilrechtliche Nebenpflicht strafrechtlich relevant werden kann. Solange aber weder Mezger noch Kaufmann Kriterien angeben, nach denen sich die zur Frage der Rechtspflichtenbegfründungf hinzutretende Aufgabe der Bestimmung der strafrechtlichen Relevanz („Gleichwertigkeitsproblem") lösen läßt, bzw. solange sie nicht sagen, wie sich die bisher bekannten Kriterien auf die beiden Problemkreise verteilen, solange ist diese stufenweise Folge axiologischer Erwägungen praktisch unergiebig. 2. Die Lehren, die von einem obersten Grundsatz der materiellen Rechtswidrigkeit ausgehen Die Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit war es vor allem, die früher bei den unechten Unterlassungsdelikten auf den außerhalb des formalgesetzlichen Strafrechtsbereichs gelegenen Bereich der materiellen Rechtswidrigkeit hinwies, die sie m i t Hilfe sozialer und sozialethischer Kriterien zu beschreiben versuchte. Insbesondere haben Sauer 1 und Kissin versucht, i h r oberstes Prinzip der materiellen Rechtswidrigkeit für die Kennzeichnung der Rechts21 Dogmatik, S. 284 ff.; JuS 1961, S. 176 f. — I h m folgend Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 178 f. 22 A r m i n Kaufmann nennt es das Gleichwertigkeitsproblem. 23 Dogmatik, S. 285. 24 Bd. 5, S. 190. — V o n A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 286 u n d JuS 1961, S. 177 zurecht kritisiert. 1 A u f die Lehre Sauers soll hier nicht näher eingegangen werden (vgl.

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieverhältnisse

pflichten bei den unechten Unterlassungsdelikten fruchtbar zu machen. So mißt Kissin die wesensverschiedenen Verbots- und Gebotsnormen an dem von Sauer entwickelten „juristischen Grundgesetz", wonach eine Norm nur dann rechtens ist, wenn „nach ihrer generellen Tendenz aus i h r mehr Nutzen als Schaden für die staatliche Gemeinschaft erwächst" 2 . I n der Androhung von Strafe, führt Kissin aus, liege aber schon eine nachteilige Folge der Strafrechtsnorm, da sie einen Eingriff i n die für das Staatswohl wertvolle Handlungsfreiheit des einzelnen bedeute 3 . Diese Beschränkung der Handlungsfreiheit sei nun bei der Gebotsnorm unverhältnismäßig viel größer als bei einer Verbotsnorm 4 . Der Schaden, den eine Gebotsnorm anrichte, müsse demnach durch einen größeren Nutzen wettgemacht werden, m. a. W., der Schaden, den das Gebot verhüte, müsse entweder größer sein als der, den die Einschränkung der Handlungsfreiheit darstelle, oder aber die Einschränkung der Handlungsfreiheit dürfe i m konkreten Fall nicht stärker sein als bei der gewöhnlichen Verbotsverletzung 5 . Gegen diese Ansicht Kissins hat man geltend gemacht, daß der Maßstab, m i t dem er die strafrechtliche Erfolgsabwendungspflicht bestimme, viel zu weit sei, so daß der Richter i h n für die Entscheidung eines konkreten Falles nicht gebrauchen könne. Außerdem sei der Grundsatz in der Praxis nicht ernstlich anwendbar, da sich die Bestrafung einer Unterlassung i n so mannigfacher Weise als nützlich und schädlich für die Gesellschaft auswirke (dem Nutzen der Gebotsbefolgung und der Strafwirkung stünden soziale Schäden, z. B. Vergrößerung der Strafanstalten, Unterstützung der Familie des Inhaftierten, Folgen an der Arbeitsstätte usw. gegenüber), daß der Richter unmöglich alle diese konkreten Umstände berücksichtigen könne. Er wäre damit hoffnungslos überfordert 6 . Diese K r i t i k ist jedoch nur teilweise berechtigt, w e i l sie gar nicht die ganze Lehre Kissins erfaßt. Kissin stützt sich nämlich bei der Beurteilung der Strafwürdigkeit konkreter Unterlassungsfälle nicht ausschließlich auf sein „juristisches Grundgesetz", sondern führt eine ganze Reihe spezieller Kriterien an 7 . Einmal nennt er generell UmGrdl. d. StR., S. 457 ff.; GS 114, S. 289 ff.), da Sauer sich später weitgehend der Sammelgruppenlehre genähert hat — A l S t R L , S. 91 ff. Die meisten seiner K r i t e r i e n haben auch Kissin u. a. benutzt. 2 S. 82 ff. (84). 3 S. 82 f. 4 S. 93; vgl. oben S. 17. 5 S. 99. — Kissin stützt sich hier auf die heute wieder modern anmutenden Gedanken Redslobs, S. 64 ff. β Vgl. die harte K r i t i k Schaff steins i n Gleispach-Festschrift, S. 93; Böhm, Diss., S. 93; Drost, GS 109, S. 28; Wrede, S. 83. 7 Vgl. die Andeutung auf S. 100 a.a.O.

I. Die bisherige Behandlung des Problems

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stände, bei deren Vorliegen der i m Gebot liegende Nachteil stärkerer Freiheitsbeschränkung ausgeglichen wird, nämlich die „HochWertigkeit des verletzten Rechtsguts", die „gefahrbegründende Vortat" und die „rechtlich soziale Stellung" 8 . Zum anderen beläßt er es bei dieser bloßen Gruppierung nicht, sondern gibt — und das hebt i h n entscheidend von den Vertretern der Sammelgruppenlehre ab — eine Fülle von allgemeingültigen Kriterien zur Bestimmung der Rechtspflichten, die wesentlich spezieller als sein oberstes Rechtswidrigkeitsprinzip sind. So stellt er z. B. darauf ab, daß die Gesellschaft darauf vertraue, daß der einzelne seine i h m von der Rechtsordnung übertragenen Pflichten erfülle. Die Gesellschaft richte sich i n ihrer eigenen Tätigkeit darauf ein und unterlasse es deshalb, ihre Mitglieder vor den entstehenden Gefahren durch alle möglichen Vorkehrungen und Vermehrung der sozialen Einrichtungen zu schützen 9 . Für dieses Vertrauenskriterium, das immerhin schon wesentlich konkreter ist als der Satz vom „mehr Schaden als Nutzen", gibt er noch speziellere Anhaltspunkte, z. B. die Aufstellung und Ausrichtung des Organisationsplanes des Staates 10 oder die Tatsache, daß dem einzelnen die „Beherrschung eines Komplexes von subjektiven Rechten" — hier fällt das Stichwort vom „Herrschaftsbereich" — zugestanden w i r d i n der Erwartung, daß er die entsprechenden Handlungen zum Schutze fremder Rechtsgüter vornehme 1 1 ; sodann die typische Zugehörigkeit der Handlung zum sozialen Wirkungskreis des Verpflichteten, z. B. zur Berufsausübung (Arzt) 1 2 oder zur Tätigkeit innerhalb des Familienkreises 13 — auf die Ausübung von Tätigkeiten, die ganz aus dem Rahmen der normalen Beschäftigung fallen, vertraue die Gesellschaft nicht 1 4 . A n weiteren speziellen Kriterien nennt er die Hilfswürdigkeit des Opfers 16 und das Verhältnis von abzuwendendem Schaden und dem Nachteil, den der Verpflichtete durch seine Bemühungen erleidet 16 . Methodisch benutzt Kissin das „juristische Grundgesetz" als obersten Wertmaßstab, an dem er alle Kriterien (einschließlich des vorangegangenen gefahrbegründenden Tuns 1 7 und der vertraglichen 18 Rechts8

S. 98 ff., 101 ff., 107 ff. 9 S. 107 f., ausführlich an Beispielen S. 110—113. 10 S. 114. 11 S. 116. 12 S. 113. 1 3 S. 112. 14 S. 117. is S. 116. 16 S. 115, 116. 17 S. 102 ff. « S. 117.

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pflicht) mißt und ausrichtet. — Ebenso benutzt er aber auch das K r i t e r i u m des „Vertrauens" der Gesellschaft auf die Pflichterfüllung i n gleicher Weise als Wertmesser der einzelnen Kriterien und Rechtspflichtgruppen und nicht etwa als spezielles K r i t e r i u m zur Entscheidung eines konkreten Falles 19 . Damit hat Kissin zum ersten Male einzelne materielle Kriterien der Rechtspflichten zum Handeln i n ein Verhältnis zu einem obersten Rechtsgrundsatz gesetzt 20 . Diese Methode kann nur erfolgreich sein, wenn die beiden oberen Wertmaßstäbe und die Einzelkriterien auch ihrem Inhalt nach tauglich für eine Rechtspflichtenbestimmung sind. Die oben zitierte K r i t i k , die das „juristische Grundgesetz" vom „mehr Nutzen als Schaden für die staatliche Gemeinschaft" als untauglich für die Bestimmung der Rechtspflicht zum Handeln bezeichnet, w i r d der methodischen Verwendung dieses Kriteriums durch Kissin nicht gerecht. Kissin verfolgt nämlich i m Einzelfall und bei der Uberprüfung seiner Einzelkriterien gar nicht die konkreten nützlichen und schädlichen Auswirkungen, sondern er sieht i m Grunde i n dem „ j u r i s t i schen Grundgesetz" eher die Umschreibung eines generellen Sachverhalts der Rechtswerthaftigkeit, die allen Einzelkriterien zukommen muß. I h m kommt es also genau genommen gar nicht so sehr auf den Inhalt des Wertungssachverhalts des „juristischen Grundgesetzes" (dem mehr Nutzen als Schaden i n seinen Einzelheiten) an als vielmehr überhaupt auf die Darstellung eines obersten Rechtswertes als Maßstab. Insofern ist es gar nicht so entscheidend, daß Kissin als obersten Wertungsgrundsatz die (inhaltlich anfechtbare) Schaden-Nutzen-Relation als obersten Wertmesser ansah, statt andere Wertungssachverhalte zu nennen 21 . Fragwürdiger ist dagegen der zweite Wertmesser, den Kissin zwischen das „juristische Grundgesetz" und die Einzelkriterien schaltet. Das Vertrauen der Gesellschaft generell darauf, daß der einzelne seine i h m von der Rechtsordnung übertragenen Pflichten erfülle, ist i m Grunde nichts anderes als die notwendig m i t der Innehabung einer sozialen Stellung verbundene Erwartung, daß sich der einzelne dieser Stellung gemäß verhalte. Wenn es gelingt, diese Stellung i n ihrer Typizität aus ihrer sozialen Gegebenheit heraus zu beschreiben, verliert der Begriff des Vertrauens jede selbständige Bedeutung 22 . i« S. 108 f., 112 f., 116 f. 20 Vgl. Kissin, S. 100 u n d auch S. 70. 21 E t w a das „kompossible M a x i m u m der Interessenbefriedigung" (Mezger, Lb., S. 204) oder „das rechte M i t t e l zum rechten Zweck", „der Regelung des sozialen Gemeinschaftslebens" [zu Dohna, Rechtswidrigkeit, S. 49 ff., 54) usw. 22 Vgl. auch die K r i t i k Ν agier s, GS 111, S. 68. — W e n n er allerdings davon spricht, daß die E r w a r t u n g lediglich die zufällige Begleiterscheinung

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Kissin selbst bestätigt i m Grunde diese Ansicht, wenn er das sehr wichtige K r i t e r i u m der „typischen Zugehörigkeit der Handlung zum sozialen Wirkungskreis des Verpflichteten" mit der Begründung einführt, die Gesellschaft vertraue nicht auf die Ausübung von Tätigkeiten, die außerhalb der normalen Beschäftigung stehen. Diese typische Zugehörigkeit einer Handlung zum sozialen Wirkungskreis, ein Kriterium, auf das später noch genauer eingegangen w i r d 2 3 , ist damit allein entscheidend. Während man eine solche Position objektiv beschreiben kann, stößt eine Beschreibung des Vertrauensbegriffs, der ja hier letztlich die Gefühlseinstellung einer Personenmehrheit enthalten soll, auf erhebliche Schwierigkeiten. A u f den Maßstab des Vertrauens kann und sollte man daher verzichten. Die erste konkrete Gruppierung von Rechtspflichten anhand der Kriterien „HochWertigkeit des verletzten Rechtsguts", „gefahrbegründende Vortat" und „rechtlich soziale Stellung" ist methodisch und vom Inhalt der Kriterien her nicht unbedenklich. Kissin sagt z. B. nicht, was er unter „hochwertigem Rechtsgut" versteht. Einmal kann m i t der „Hochwertigkeit" ausgedrückt werden, daß bei der Verletzung ein erheblicher konkreter Schaden angerichtet worden ist, zum anderen, daß ein schon i n abstracto bedeutungsvolles Rechtsgut beeinträchtigt worden ist (unabhängig vom konkreten Schaden) 24 . I m letzteren abstrakten Sinn ist das K r i t e r i u m untauglich, denn dadurch, daß das Strafrecht bestimmte Sozialgüter i n seine Rechtsschutzsphäre aufgenommen hat, sind diese alle unter strafrechtlichen Aspekten schon prinzipiell hochwertig. Versteht man unter dem K r i t e r i u m dagegen die Höhe des konkreten Schadens (man spräche dann freilich statt von Hochwertigkeit des Rechtsguts besser von Hochwertigkeit des Rechtsgutsobjekts 25 , dann spielt dieses Merkmal bei der Begründung einer Garantenpflicht i n manchen Fällen eine Rolle, z.B.: Ehegatten sind einander aus dem Eheverhältnis zum Schutz von Leib und Leben des anderen verpflichtet; dagegen ist es fraglich, ob jeder auch für das Vermögen und Eigentum des anderen zu sorgen hat; für „jeden Groschen" sicherlich nicht, vielleicht aber doch für die „existent i e l l wichtigen Güter" 2 6 des anderen. einer objektiv bestehenden A b Wehrpflicht sei, so geht er m i t dieser F o r m u lierung zu weit, denn die E r w a r t u n g ist gewiß nicht rein zufällig m i t der Garantenstellung verknüpft. 23 Siehe unten zu I I I 4. 24 Vgl. etwa die Zusammenfassung beider Gesichtspunkte bei Sauer, GS 114, S. 300 f. 25 Z u r Unterscheidung v o n Rechtsgut u n d Rechtsgutsobjekt unten S. 103 f. 2® E i n K r i t e r i u m Schmidhäusers aus seiner Vorlesung — siehe zu diesem F a l l unten S. 119 f. 5 Bärwinkel

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Methodisch ist das Nebeneinanderstellen der drei Gruppen bedenklich. Die Begehung einer „gefahrbegründenden Vortat" begründet eine „rechtlich soziale Stellung". Deshalb müßte das erste K r i t e r i u m ein Unterfall des zweiten sein. Die „HochWertigkeit des verletzten Rechtsgutes" (in der tauglichen konkreten Bedeutung) ist ein Moment, das die rechtlich soziale Stellung m i t charakterisiert. Was z. B. ein Eheverhältnis an Pflichten m i t sich bringt, kann man erst ermessen, wenn man weiß, welche einzelnen Güter i n dem Verhältnis welche Rolle spielen. So müßte eine strukturgerechte Anordnung der Merkmale die „rechtlich soziale Stellung" an die Spitze stellen, die „gefahrbegründende Vortat" als Unterfall einordnen und die „Hochwertigkeit des Rechtsguts (-Objekts)" als ein K r i t e r i u m der „rechtlich sozialen Stellung" bezeichnen. Daß — wie das Beispiel der „Hochwertigkeit des Rechtsguts" zeigt — ein K r i t e r i u m i n seiner abstrakten Bedeutung untauglich für die Bestimmung einer Garantenstellung ist, aber i n seiner konkreten Bedeutung geeignet ist und dann auch strukturell erfaßt und methodisch an die richtige Stelle gesetzt werden kann, läßt sich auch an dem K r i t e r i u m des „Organisationsplanes des Staates" zeigen. Versteht man darunter wie Kissin 2 7 das allgemeine soziale Ordnungsgefüge, nach dem sich die Gesellschaft (der Staat) „ i m Vertrauen auf die durchgängige Erfüllung der ,sittlichen Pflicht'" 2 8 einrichtet, so ist der Organisationsplan nur als die Summe der Reaktionen auf die stellungsgemäßen Handlungen der einzelnen zu verstehen. Da, wo der Staat nicht reagiert, w i r d die Verantwortung dem einzelnen (Unterlassenden) zugeschoben. Typisch dafür ist die Äußerung Kissins: „Rechnete der Staat nicht damit, daß Ärzte, die bei Unfällen zugegen sind, zur erforderlichen Hilfeleistung bereit sind, so würde er z. B. beamtete Ärzte an belebten Straßenecken aufstellen und i n Eisenbahnzügen mitfahren lassen, m i t dem Auftrag, bei etwa vorkommenden Unglücksfällen den Verunglückten ärztlichen Beistand zu leisten 2 9 ." Noch prinzipieller drückt diesen Gedankengang W. Landsberg aus: „ W i r können davon ausgehen, daß i m sozialen Leben gegen alle Gefahren Vorkehrungen getroffen sind — sei es, daß gewisse Personen, eben die Garanten, zur Überwachung dieser Gefahren verpflichtet sind oder daß durch technische Maßnahmen ein Schutz hiergegen geschaffen wurde 3 0 ." Dieses „Prinzip" ist eine ebenso kühne wie falsche 27 S. 114; ebenso schon Kohler, Studien I , S. 48 u n d 54. 28 Kissin, S. 114. 29 S. 113. 3° Diss., S. 88 — Wenig später schränkt Landsberg diese Behauptung selbst erheblich ein.

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Behauptung. Die Gesellschaft rechnet durchaus m i t Gefahren, deren Realisierung sie hinnimmt, ohne jemanden dafür verantwortlich zu machen — wie allein schon die Fälle der „Gefährdungshaftung", die Schäden aus „höherer Gewalt" oder unter strafrechtlichen Aspekten die sozial adäquaten Fälle des „erlaubten Risikos" beweisen. Ähnlich steht es mit Kissins Theorie: Oft w i r d der Staat für die nötigen Einrichtungen gesorgt haben, und trotzdem w i r d auch der Unterlassende verantwortlich gemacht, wenn beide versagen 31 . Z u m anderen: Wenn jemand eine Verpflichtung zur Abwendung eines Erfolges hat, so besagt das noch lange nicht, daß ein anderer dann von der gleichen Pflicht befreit wäre. Umgekehrt werden ebensooft keine Vorkehrungen getroffen, und es w i r d trotzdem niemand als Garant haftbar gemacht 32 . Tauglich w i r d dieses K r i t e r i u m des staatlichen Organisationsplanes erst, wenn man es konkret als Summe der staatlichen Gesetze, Verordnungen, Satzungen und Dienstvorschriften auffaßt, i n denen i m einzelnen für ganz bestimmte Beamte oder Gruppen von Beamten und Bediensteten Pflichten statuiert werden. Dann ist es ein spezielles K r i t e r i u m zur Kennzeichnung einer rechtlich sozialen Stellung. Zusammenfassend 33 läßt sich sagen: Kissins Lehre macht den ersten methodischen Schritt einer inhaltlichen Spezialisierung der Rechtspflichten zum Handeln, indem sie alle entwickelten Kriterien an einem obersten Wertungsgrundsatz mißt. Den weiteren methodischen Schritt, die gefundenen Kriterien auch untereinander i n ein Verhältnis zu setzen — wie es an den beiden Beispielen etwa verdeutlicht wurde —, läßt diese Lehre jedoch vermissen. Damit w i r d eine S t r u k t u r der Garantenstellungen, wie sie hier als bestimmte Konstellation von Wertungssachverhalten verstanden wird, nicht herausgearbeitet. Das liegt vermutlich am Stand der Dogmatik der Unterlassungsdelikte Anfang der 30er Jahre, die nicht die Unterscheidung zwischen Garantenstellung und Garantenpflicht kannte, sondern nur von einer Rechtspflicht zum Handeln sprach.

31 Wenn jemand m i t dem A u t o gegen einen Laternenpfahl stößt u n d nicht für die Beseitigung des schräg stehenden Pfahles sorgt, sondern weiterfährt, so ist er genauso strafbar, w e n n etwas passiert, w i e der danebenstehende Polizist, der nichts tut. 32

Z. B. i n den vielen Fällen vertraglicher keine Garantenstellung eintritt.

Pflichtverletzung,

i n denen

33 Die K r i t e r i e n von der „ H i l f s w ü r d i g k e i t des Opfers" u n d dem „Verhältnis von abzuwendendem Schaden u n d Nachteil des Verpflichteten" sind Z u m u t barkeitskriterien.

5*

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3. Die Lehre vom Tätertyp Die Lehre vom Tätertyp versuchte i n den 30er Jahren hauptsächlich Schaffstein 1 für die Unterlassungsdelikte fruchtbar zu machen 2 . Nach i h m sind die beiden entscheidenden Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die Nichtabwendung eines Erfolges einmal „die Pflichtwidrigkeit der Unterlassung" und zum anderen, „daß der Unterlassende nach gesundem Volksempfinden als Täter (bzw. Teilnehmer) des betreffenden Delikts erscheint, für das er verantwortlich gemacht w i r d " 3 . Zum Problem der „Pflichtwidrigkeit" führt er aus, daß i m Grundsatz die Verletzung einer gesetzlichen und einer sittlichen Pflicht einander gleichstünden, daß aber der „Maßstab für Pflicht und Pflichtverletzung nicht irgendein individueller" sei und sich „nicht aus einer beliebigen Moral, etwa der christlichen oder der aufklärerischen", ergebe, sondern „vielmehr allein aus der völkischen Sittenordnung und den i h r eingegliederten konkreten Ordnungen" 4 . „ I n t u i t i v e und unbewußte Interessenabwägung durch das gesunde Volksempfinden" ist das Prinzip, das hier zum Zuge kommt 5 , wobei aber — und das ist ein bemerkenswerter Ansatz — das „gesunde Volksempfinden" noch „der Konkretisierung durch ein Zurückgehen auf die innere Ordnung gerade der Gemeinschaft" bedarf, „aus der sich i m fraglichen Einzelfall die Handlungspflicht ergibt" 6 . Nun ist aber, wie Schaff stein ausführt, nicht jedes pflichtwidrige Verhalten strafwürdig. Zur Pflichtwidrigkeit der Unterlassung muß daher noch als selbständiges K r i t e r i u m der Strafwürdigkeit hinzukommen, daß der „pflichtwidrig Unterlassende als ,Täter' des Delikts erscheinen muß" 7 . Dabei betont Schaff stein, daß es nicht einen „abstrakten" Typ des „Täters" gebe, sondern n u r jeweils die konkreten des Mörders, Diebes, Brandstifters usw. Die Frage nach dem Täter des Unterlassungsdelikts sei daher vornehmlich eine solche des Besonderen Teils, und „nur unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß i n Wahrheit das Problem der unechten Unterlassungsdelikte an dieser Stelle i n den Besonderen Teil einmündet" 8 , nennt er zur Veranschau1 Gleispach-Festschrift, S. 70 ff. u n d D J 1936, S. 767 ff.; i m folgenden w i r d n u r nach dem grundlegenden Beitrag i n der Gleispach-Festschrift zitiert. 2 Ähnliche Gedanken hat Dahm geäußert i n Z S t W 59, S. 143 ff. u n d ZStW 57, S. 293. 3 S. 95. 4 Gleispach-Festschrift, S. 96. δ S. 99. 6 S. 97. 7 S. 102 ff. 8 S. 110.

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lichung des Tätertyps eine Reihe genereller „tätertypisierender U m stände". Zunächst „die konkrete A r t und Stärke der vom Unterlassenden verletzten Pflicht", die durch die „besonders enge Beziehung des Unterlassenden zu dem verletzten Schutzwert" bestimmt w i r d 9 . Sodann „die verbrecherische Gesinnung und damit i m Zusammenhang die Motive, welche die Tat auslösten" — „die Intensität des verbrecherischen Willens". Dieses K r i t e r i u m soll i n den Fällen besonders bedeutsam werden, i n denen ein besonderes Pflichtverhältnis des Unterlassenden zum „Schutzwert" nicht besteht. „Als Täter erscheint dann bei zahlreichen Delikten der Unterlassende, von dem nach seiner Gesinnung ebensowohl die Nichtabwendung des Erfolges als auch seine Herbeiführung durch aktives Tun hätte erwartet werden können, und bei dem die Unterlassung gewissermaßen nur als ein zufälliges, durch die jeweiligen Umstände bestimmtes M i t t e l zur Äußerung des verbrecherischen Willens anzusehen ist, welches unter anderen Umständen ebensogut durch ein anderes M i t t e l hätte ersetzt werden können 1 0 ." Schließlich nennt er noch als allgemein tätersymptomatisches K r i t e r i u m „die eigene Vorhandlung des Unterlassenden", die ebenfalls nach „gesundem Volksempfinden" eine erhöhte Pflicht zur Beseitigung der hervorgerufenen Gefahren auslöse 11 . Bei den Ausführungen Schaff steins leuchtet zunächst nicht ein, daß die „besonders enge Beziehung des Unterlassenden zu dem verletzten Schutzwert" lediglich ein Strafwürdigkeitskriterium sein soll, obwohl doch hier offensichtlich bereits die Pflichtenstellung des Täters angesprochen w i r d 1 2 . Die falsche Einordnung dieses Kriteriums, das nämlich schon i n den Problembereich der Pflichtwidrigkeit gehört (eine Verkennung der Struktur der Garantenstellung), hat zur Folge, daß Schaffstein methodisch nicht zu einer differenzierteren Reihenfolge axiologischer Erwägungen gelangt als z.B. Mezger 13 . I m Endeffekt weitet er nämlich lediglich den Bereich der Rechtspflichten auf den gesamten Bereich sittlicher Pflichten aus, um ihn dann durch die der Strafwürdigkeit zugeordneten Merkmale wieder einzuschränken. Dabei bringt die Lehre Schaffsteins i n ihren Begriffen (auf die „völkische Sittenordnung" bezogene Pflichtwidrigkeit, konkrete Ordnung innerhalb der Gemeinschaft, Strafwürdigkeit) durchaus die Voraussetzungen zu einer differenzierteren Reihenfolge von Wertüberlegungen m i t sich, » S. 107 u n d 110 f. 10 Gleispach-Festschrift, S. 107, 110 u n d 111 f. — Dieses K r i t e r i u m des verbrecherischen Willens greift später Niethammer, Z S t W 57, S. 451 ff. auf. 11 S. 110 u n d 112 ff. 12 Vgl. bereits die gleiche K r i t i k bei Härtung, S. 37; Maurach, DStR 1936, S. 123 f. 13 Siehe oben S. 60.

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nämlich dann, wenn man das Merkmal der „konkreten Ordnung innerhalb der Gemeinschaft" richtig dem Pflichtwidrigkeitsbereich zuordnet. Dann kann man dieses K r i t e r i u m an dem obersten Wertungsprinzip der „völkischen Sittenordnung" messen und erhält so eine bereits spezialisierte sozialethische Pflicht, die nun ihrerseits wieder m i t den eigentlichen Strafwürdigkeitskriterien zu bewerten wäre. Freilich bedürfte es dann einer genauen Kennzeichnung dessen, was unter den „ i n diese Gemeinschaft eingegliederten konkreten Ordnungen" zu verstehen sei. Eine solche inhaltliche Bestimmung dieses Kriteriums gibt Schaff stein jedoch nicht. Ähnliche Bedenken bestehen gegen die Einordnung des Kriteriums „eigene Vorhandlung des Unterlassenden" als „tätersymptomatisches" Straf Würdigkeitskriterium, denn das vorangegangene gefährdende Tun begründet erst eine Stellung innerhalb der Gemeinschaft, aus der die sozialethischen Pflichten entspringen, so daß auch dieses Merkmal bereits zum „PflichtWidrigkeitsbereich" gehört. So bleibt als letztes der angeführten Straf Würdigkeitsmerkmale nur noch „die Intensität des verbrecherischen Willens" übrig. Gegen dieses Merkmal, das auch Dahm 1 4 und Niethammer 1 5 verwenden, hat Drost 1 6 den Einwand erhoben, daß der Täter damit ganz unabhängig von den objektiven Momenten seines Verhaltens ausschließlich wegen seiner Gesinnung bzw. seiner Motivierung bestraft werde. Damit werde „das Tatbestandsstrafrecht i n ein Chaos aufgelöst". Die Ergebnisse, zu denen diese Ansicht, wenn sie konsequent bleibt, gelangt, geben Drost recht. So w i l l Niethammer 1 7 z. B. einen Bettler, der beim Verlassen eines Dorfes am Dorfrand sieht, wie ein Funken aus einer Maschine auf einen Strohhaufen fliegt, von dem aus später der Brand auf Gebäude übergreift, wegen Brandstiftung bestrafen, wenn er etwa aus „Rache", w e i l er i m Dorf nichts bekommen hat, unterlassen hat, die kleine züngelnde Flamme zu zertreten; ist er dagegen nur gleichgültig gewesen, so soll nur § 330 c Anwendung finden. Heute würde niemand den Bettler aus den §§ 306 ff. bestrafen, und Niethammer dürfte der einzige 18 gewesen sein, der eine solch weitgehende Bestrafung befürwortete. Selbst Schaffstein, gegen den sich die K r i t i k Drosts richtete, 14 ZStW 59, S. 158 f. ι» ZStW 57, 451 ff. 16 GS 109, S. 46. 17 ZStW 57, S. 451 ff. (456). is Außer dem Reichsgericht i n der vereinzelt gebliebenen Entscheidung, Bd. 71, S. 187.

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sieht i n diesem Fall nur eine nach § 330 c zu ahndende Pflichtverletzung 1 9 , obwohl er konsequenterweise letzten Endes zu dem Ergebnis Niethammers hätte kommen müssen, aber Schaffstein wendet sein K r i t e r i u m der verbrecherischen Gesinnung am konkreten Fall nicht so selbständig an, wie er es i n der abstrakten Formulierung zu t u n vorgibt 2 0 . So stellt er i n allen Beispielfällen, die er bringt, immer zuerst darauf ab, ob ein besonderes Pflichtenverhältnis besteht oder nicht 2 1 . Daß er damit der richtigen Forderung Drosts, die Gesinnung dürfe nur für die Strafzumessung Bedeutung haben 22 , zumindest i m Ergebnis wieder recht nahe kommt, liegt auf der Hand. Drost kritisiert jedoch auch noch die A r t , wie Schaff stein das K r i terium der verbrecherischen Gesinnung verwendet; so wenn Schaffstein sagt, Täter eines Unterlassungsdelikts sei der, von dem nach seiner Gesinnung auch die Herbeiführung des Erfolgs durch aktives T u n hätte erwartet werden können. Drost wendet ein, der Unterlassende solle für das bestraft werden, was er gewollt habe, und nicht für das, was er unter anderen Umständen i n einer anderen Situation vielleicht gewollt haben würde 2 3 . Aber auch hier t r i f f t Drost nicht den wahren K e r n der Schaffsteinschen Ausführungen, denn Schaffstein w i l l gar nicht auf ein psychologisches Wahrscheinlichkeitsurteil abstellen, sondern bringt lediglich — hier i m subjektiven Bereich — die Forderung der Gleichwertigkeit von Handlung und Unterlassen ins Spiel 2 4 , ohne allerdings taugliche Kriterien für einen solchen Vergleich zu nennen. Damit erweist sich auch das letzte der Strafwürdigkeitskriterien Schaffsteins als untauglich. Zusammenfassend läßt sich also feststellen: Weil Schaffstein nicht sagt, wie die „engeren konkreten Ordnungen innerhalb der Gemeinschaft" zu bestimmen sind, und weil er keine tauglichen Kriterien für die Bestimmung der Strafwürdigkeit von Verletzungen sittlicher Pflichten angibt, gelangt er letzten Endes trotz der Möglichkeiten, die seine Lehre i m strukturellen, methodischen Bereich eröffnet, nicht i» Gleispach-Festschrift, S. 113. 20 Gleispach-Festschrift, S. 111. 21 Gleispach-Festschrift, S. 105 f., 110 f., 112 f. — Daher ist a u d i die K r i t i k Böhms, Diss., S. 92 unbegründet, denn Schaff stein b r i n g t nirgends, weder i n der Gleispach-Festschrift noch i n D J 1936, S. 768, den Fall, daß nicht feuerwehrverpflichtete Bauern Brandstiftergehilfen seien, w e n n sie das Haus des Nachbarn nicht löschten, u m diesem die Versicherungssumme zuzuschanzen. 22 GS 109, S. 46. 2» GS 109, S. 46. 24 I n Gleispach-Festschrift, S. 106, spricht er von der „Gleichstellung des Unterlassenden m i t dem a k t i v handelnden Täter". — Insofern verteidigt Franta , Diss., S. 75, die Argumentation Schaffsteins zurecht. — Vgl. z.B. auch schon Höpfner, ZStW 36, S. 119.

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über Mezgers allgemeingehaltene Forderung nach der Spezialisierung einer Rechtspflicht hinaus. 4. Die Lehre von der sozialen Nähe I n neuester Zeit hat Androulakis versucht, die Garantenstellung durch das besondere K r i t e r i u m der „sozialen Nähe" 1 zu kennzeichnen. Nach i h m ist „das gemeinsame Charakteristikum aller einer Handlung ontologisch vergleichbaren Unterlassungen... darin zu finden, daß der Unterlasser sich i n einer gewissen Nähe zum Gefahrenherd oder zum Träger des geschützten Rechtsgutes befindet". Unter der Nähe versteht er daher nicht eine räumliche, metrische, sondern eine „innere, soziale, mitmenschliche Nähe", die schon vor der Entstehung der Gefahr vorhanden sein muß und die er als „schon-vorher da-neben-sein" beschreibt 2 . Dazu gibt er noch besondere Erläuterungen. Das „Schonvorher da-sein" fuße auf einer „ i m Alssein liegenden Entsprechung auf-einander bezogener und darum untereinander zusammenhängender Dinge oder Personen" 3 . Diese Entsprechung soll als „EinanderZugehörigkeit" verstanden werden, womit die Begegnungen der Bürger als Mitbürger untereinander aus dem Nähebegriff ausgeschaltet werden sollen. Das Wort „daneben" i n der Formel soll darauf hindeuten, daß der Unterlassende „neben der später wirksam gewordenen kausalen Linie, neben der Gefahr" stehen muß 4 . Diese abstrakt formulierte „soziale Nähe" zergliedert Androulakis wieder i n spezielle Untergruppen des „Nahseins", die er ebenso unanschaulich und abstrakt beschreibt. Danach kann das Nahsein i n dem Sinne „eines totalen, ,schon vorher Da-seins', d. h. eines immer und überall ,schon vorher Daneben-seins'" 5 , ferner eines „konkreten, Räumlich 4 begrenzten ,schon vorher Danebenseins4, d. h. neben dem Beschädigten bzw. Verletzten i n seiner aktuellen (d. h. durch die Gefahr aktualisierten) Eigenschaft als Träger des gefährdeten Rechtsgutes" 8 , und schließlich „eines nur mittelbaren ,schon vorher Daneben-seins', d.h. durch seine (des Verletzten bzw. Geschädigten) Eigenschaft als Träger des gefährdeten Rechtsgutes" 7 , bestehen. ι Das K r i t e r i u m der „Nähe" benutzt bereits Frede, Diss., S. 143 f., ohne es jedoch inhaltlich näher zu beschreiben. 2 S. 159, 205 ff. 3 S. 206. Androulakis zitiert hier Maihof er, V o m Sinn menschlicher O r d nung, S. 64, der sich wiederum auf Heidegger bezieht. 4 S. 208 — Hervorhebung dort. 5 Als Beispiele nennt er das Eltern-Kind-Verhältnis, das Eheverhältnis, den Vormund. 6 Z u diesen Fällen eines „zweckdienlichen Füreinanderdaseins" rechnet er die Geschäftsverhältnisse des „berechnenden Verkehrs". 7 Garderobenfrau, Parkplatzwächter — vgl. zu den Zitaten S. 209—211.

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Dieselbe Unterteilung bringt Androulakis für die Stellung des Unterlassenden zum Verletzer 8 und führt anschließend aus, daß der mittelbaren Nähe zum Verletzten bzw. Verletzer die unmittelbare Nähe zu den Dingen entspreche, die der feste Bezugspunkt der Unechtheit der Unterlassung sei 9 . M i t all dem hat er jedoch — wie er selbst angibt 1 0 — noch nichts über die strafwürdige Garantenpflichtverletzung ausgesagt. Diese eigentliche Frage nach der Strafwürdigkeit der unechten Unterlassung, also nach dem unechten Unterlassungsdelikt, sei eine „Differenzierungsfrage". Diese Frage könne nicht generell beantwortet werden; vielmehr sei hierfür „das jeweils vorherrschende weltanschauliche, politische, i m allgemeinen soziale K l i m a " entscheidend, aus dem sich „objektive Bewertungsmomente" entnehmen ließen. Als solche führt er den Grad der Blutsverwandtschaft, die „Befindlichkeit des Opfers i m »Herrschaftsbereich' des Unterlassers", die Monopolstellung zur Erfolgsabwendung und den „Grad der Konkretisierung der durch vorangegangenes Tun des Unterlassers herbeigeführten Gefahr" 1 1 , ferner die Hochwertigkeit des Rechtsgutes 12 an. Diese Momente sollen „erst i m Rahmen einer vorhandenen Nähe", also erst „zur Wertdifferenzierung zwischen bereits begründeten ,Garantenstellungen'", dienen 13 . Gegen die Lehre Androulakis' bestehen Bedenken. Das Garantieverhältnis läßt sich nur aus dem Sinn der Beziehungen bestimmen, die den einzelnen m i t den Mitmenschen und Dingen verbinden. Sie sind derartig vielfältig, daß es sinnlos ist, dafür einen Oberbegriff der „sozialen Nähe" zu bilden, da er notwendig nur eine leere Begriffshülse sein kann. Praktische Fälle sind damit nicht, auch nicht i n Teilschritten, zu lösen. So ist i n dem Grünwaldschen Fall, i n dem der Neffe weder seine Tante pflegt noch deren Blumen gießt 1 4 , mit Hilfe des Kriteriums „soziale Nähe" gar nicht einzusehen, warum denn der Neffe für die Tante da ist, aber normalerweise nicht „neben" den der Dürre ausgesetzten Blumen der Tante existieren soll 1 5 , oder warum der Vater für sein minderjähriges K i n d „immer da und zugleich daneben" ist, während das bei dem Vetter, dem Nachbarn, dem Amtsvorgesetzten nicht der Fall sein soll. Die einzige Begründung, die Androulakis gibt, ist letzten Endes die: Das geht sie nichts an 1 6 . β S. 211 f. « S. 212. 10 S. 219 f. 11 S. 220 f. 12 S. 236. 13 S. 221. 14 Z u diesem F a l l unten, S. 126 ff. is Androulakis, S. 209, 222. 16 S. 208.

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Eine andere Unklarheit ergibt sich, wenn er die „Einander-Zugehörigkeit" der sozialen Nähe demonstriert: sie liege dann vor, wenn „der Vater seinem Kind, der Arzt seinem Patienten, . . . dem Bürger der für seine Sicherheit zuständige Polizist" gegenüberstehe. Eine konkrete Beziehung dieser A r t (i. S. eines „mein, dein, sein") zwischen Polizist und Bürger oder etwa zwischen einem Bereitschaftsarzt 17 und einem Kranken, der sonst zu einem anderen Arzt geht, existiert normalerweise gar nicht. Polizist und Bereitschaftsarzt haben gemäß ihrer Aufgabe auch wildfremde Bürger, m i t denen sie sonst nie etwas zu tun haben (eben nicht „ihre Bürger"), zu schützen. Diese Pflicht ergibt sich aus ihrer sozialen Stellung, die sie eingenommen haben; der Begriff der Nähe verdeutlicht hier nichts. Auch die Unterteilung der Nähearten gibt hier keine inhaltliche Konkretisierung des Begriffs. Schon die Tatsache, daß Androulakis bei der Konkretisierung seines Oberbegriffs auf die von der Sammelgruppenlehre unter Führung der Rechtsprechung entwickelten Garantengruppen zurückgreift und seine Kriterien an Fällen und Fallgruppen erprobt, die bereits zuvor ohne seine Kriterien entschieden worden sind 1 8 , also schon die Tatsache, daß er i m Grunde die Methode der Sammelgruppenlehre befolgt, zeigt, daß er m i t der „sozialen Nähe" nur an die Stelle des wertausfüllungsbedürftigen Verhaltensbegriffs des Gesetzes einen anderen wertausfüllungsbedürftigen Begriff setzt. Gewonnen ist damit nichts. Methodisch ist Androulakis zu einer weitergehenden Differenzierung gelangt. Er prüft zunächst, ob eine Unterlassung unecht ist. Das K r i t e r i u m soll die „soziale Nähe" sein 19 . Sodann ist festzustellen, ob die unechte Unterlassung auch ein unechtes UnterlassungsdeZikt, d. h. ob sie auch strafwürdig und strafbar ist. Diese Frage ist seiner Meinung nach eine Differenzierungsfrage, für deren Entscheidung die „objektiven Bewertungsmomente" des jeweils „vorherrschenden weltanschaulichen, i m allgemeinen sozialen Klimas" maßgebend sein sollen 20 . Aus welchem Bereich innerhalb dieses „Klimas" diese Bewertungsmomente genommen werden sollen, wie sie selbst zu bestimmen sind und i n welchem Verhältnis sie zu der unbestimmten „sozialen Nähe" stehen, sagt Androulakis nicht. So ist es nicht erstaunlich, daß er eine Reihe bereits bekannter Kriterien, mit deren Aufzählung er sich begnügt (Grad der Blutsverwandtschaft, Herrschaftsbereich, Monopolstellung, Grad der Konkretisierung der Gefahr aus vorangegangenem Tun, Hochwertigkeit des Rechtsgutes), alle als 17 is i» 20

B G H 7, S. 211. S. 207. S. 158 ff., 205 ff. S. 219 ff.

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„objektive Bewertungsmomente" der Strafwürdigkeit ansieht, obwohl einige ganz sicher bereits Kriterien der zugrunde liegenden besonderen Pflichtenstellung sind, wie z. B. der Grad der Blutsverwandtschaft, der Herrschaftsbereich. Für eine von der Pflichtenstellung zu trennende Strafwürdigkeit verlieren sie damit an Bedeutung. Ferner nimmt es auch nicht wunder, daß mit dem Verfahren, das er zur Lösung eines Einzelfalles angibt 2 1 , praktisch nichts anzufangen ist. So führt er aus, es müsse erstens bei jedem Rechtsgut des Besonderen Teils „die Ausdehnung der Sphäre des Nahseins ermittelt werden", m. a. W. es müsse „ausfindig gemacht werden, welche ,Garantiefälle 4 beim jeweiligen Rechtsgut überhaupt i n Frage kommen". Sodann müsse man „eine Abstufung der verschiedenen in Frage kommenden Garanten je nach dem Grade ihrer Nähe vorzunehmen versuchen". Man fragt sich, wie das möglich sein soll, wenn bereits der Begriff der sozialen Nähe überhaupt nur eine leere Begriffshülse ist. Die Ausführungen Androulakis zu diesem zweiten Punkt des Verfahrens helfen denn auch nicht weiter. So gibt er folgende „ E r k l ä r u n g " 2 2 : „ F ü r die Graduierung der Nähe soll vor allem folgende Erkenntnis maßgebend sein: Der ein totales ,Da-sein' Verkörpernde ist nicht immer (wie es etwa eindeutig bei den Delikten gegen das Leben u n d die körperliche Unversehrtheit der F a l l ist) auch der Nächste. I n vielen Fällen k o m m t es mehr auf das konkrete ,Daneben-sein' an, auf die E r m i t t l u n g des jeweiligen ,Du'. Dies ist etwa insbesondere bei den Vermögensdelikten der Fall. Als Faktoren der Konkretheit des ,Danebenseins' sind hier die Monopolstellung u n d die Befindlichkeit i m Herrschaftsbereich' (des Unterlassers) von Bedeutung."

Es erfolgt also lediglich der Hinweis auf zwei längst bekannte Kriterien. Wie aber soll man i n den anderen Fällen, wo diese beiden nicht zutreffen, das „jeweilige D u " ermitteln? Drittens führt Androulakis aus, müsse man „die genaue soziale Werthaftigkeit des jeweiligen Rechtsgutes bestimmen" und anschließend mit den durch die Erfüllung der zwei ersteren Aufgaben gewonnenen Ergebnissen i n Zusammenhang bringen. Wie dieser Zusammenhang aussehen soll, ist nicht vorstellbar, denn mehr als ein paar, zudem noch recht anfechtbare Allgemeinplätze gibt Androulakis als Erläuterung nicht 2 3 , und die bisher bekannten Kriterien (die „objektiven Bewertungsmomente") sind bei Punkt zwei alle verwendet. Damit scheitert Androulakis i n ähnlicher Weise wie seinerzeit Schaffstein. Es gelingt i h m nicht, die soziale Stellung des einzelnen « S. 234. 22 S. 235. 23 S. 236.

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gehaltvoll zu kennzeichnen. Aus diesem Grunde ordnet er Merkmale, die bereits die „soziale Nähe" konkretisieren, fälschlich zu den „objektiven Bewertungsmomenten" der Strafwürdigkeit und muß deshalb auf der dritten Stufe seiner Wertungsabfolge scheitern. Wesentlich anschaulichere Formulierungen für die sachlich gleichen Phänomene hat Vogt gefunden 24 . Er sieht i n den „Situationen von besonderer sozialer Verbundenheit" die Quellen, „denen die relevanten Handlungspflichten entspringen" 2 5 . I n diese „engere soziale Ordnung" ist ein jeder hineingestellt. M i t diesem Begriff w i l l Vogt nicht nur das Verhältnis von spezieller Ordnung zur Gesamtordnung ausdrücken, sondern mit i h m verknüpft er auch die Vorstellung einer engeren Bindung des einzelnen, die mit einer Pflichtensteigerung einhergeht, die „wertmäßig über das Maß derjenigen Verantwortung hinausgeht, die (normalerweise) ein Rechtsgenosse für den anderen trägt". Während letztere sich grundsätzlich darin erschöpft, „positive Störungen der Friedensordnung zu unterlassen", ist der i n „enger sozialer Ordnung" Stehende „jederzeit i m Rahmen des Möglichen und entsprechend dem sozialen Zuschnitt der i n Rede stehenden Gemeinschaft zur tätigen Abwehr aller Gefahren verpflichtet". „Sein Unterlassen aktiver Erfolgsabwendung bedeutet für die Gemeinschaft dasselbe wie ein aktiver Eingriff i n ihre Friedensordnung", denn die sozialen Ordnungen „stellen die ursprünglichsten und wesentlichsten Bestandteile unseres Gemeinschaftlebens dar" 2 6 . Aber auch Vogt gelangt über den allgemeinen Hinweis auf jene „engeren sozialen Ordnungen" nicht hinaus. Seine Bemerkung, die Existenz einer Rechtspflicht zum Handeln hinge vom „sozialen Zuschnitt der i n Rede stehenden Gemeinschaft" ab, wiederholt sachlich nur Schaffsteins Abstellen auf die „innere Ordnung gerade der Gemeinschaft", „aus der sich i m fraglichen Einzelfall die Handlungspflicht ergibt" 2 7 . Wie man diese innere Ordnung ermittelt, sagt auch Vogt nicht. Statt dessen begnügt er sich m i t einer beispielhaften Aufzählung der von der Sammelgruppenlehre entwickelten Garantengruppen 2 8 . 24 ZStW 63, S. 399 ff., auf die sich denn auch Androulakis, S. 207, zur Verdeutlichung seiner abstrakten Formulierungen bezieht. 2 5 Beispiele sind: Ehe, Familie, nahe blutmäßige Abstammung, Hausgemeinschaft oder ähnliche enge Lebensgemeinschaft, Stand (Beruf) u n d wirtschaftliches Vertrauensverhältnis, vgl. ZStW 63, S. 399, u n d schließlich auch die Ingerenz, S. 402 ff. 26 ZStW 63, S. 399 f. — Der weiteren Unterscheidung zwischen dauerhaften u n d vorübergehenden engeren Ordnungen m i ß t Vogt hinsichtlich der Strafwürdigkeit der Pflichtverletzungen keine Bedeutung zu, S. 400 ff. 2 7 Siehe oben S. 68. 2 ® Siehe oben S. 58 f.

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5. Die Garantenlehre Bereits Binding hat die Ausdrücke „Garant", „Garantieübernahrne" i m Zusammenhang m i t der Gefahrenabwehr benutzt 1 . Zwar hat er diese Gedanken i n die Kausalbetrachtung seiner Interferenztheorie eingeschleust, aber wichtig ist, daß er — wie später Nagler — die Tatsache, daß „der später Unterlassende... nicht nur sich selbst, sondern Dritten versprochen (hat), seine Aufmerksamkeit und seine K r a f t an die Bekämpfung bestimmter Gefahren zu setzen", und daß er durch dieses Versprechen „das berechtigte Erwarten auf das Leisten der zugesagten Hülfe erzeugt" 2 , zum alleinigen K r i t e r i u m der strafrechtlichen Haftung des Unterlassenden macht 3 . Zwar erscheint der Garantengedanke bei Binding enger als bei Nagler, da Binding i h n an das „Versprechen" knüpft 4 , aber wahrscheinlich hat Binding dieses K r i t e r i u m gar nicht so eng auf ein wörtliches Versprechen begrenzen wollen, denn er hat bezeichnenderweise zur näheren Begründung der „Garantenhaftung" auf das „berechtigte Erwarten" der Gesellschaft zurückgegriffen, also letzten Endes auch — genau wie später Kissin — auf das Vertrauen der Gesellschaft (des Staates, der Rechtsordnung) auf die Pflichterfüllung abgestellt 5 . Auch Kohler hatte bereits eine der Sache nach ganz ähnliche Formulierung gefunden, indem er darauf abstellte, ob der Unterlassende von der Sozialordnung „auf den Posten gestellt" worden und damit bestimmt sei, „als Mitglied des socialen Mechanismus i n die Gestaltung der Dinge einzugreifen". Kohler führt aus, daß „die Frage der Unterlassungsdelikte immer nur nach dem betreffenden historischen Kulturstande beantwortet" werden könne, wobei i m einzelnen alles von den „Bedürfnissen der Gemeinschaft", den „Aufgaben des Ganzen wie des einzelnen" abhänge 6 . Zu diesem Prinzip der strafbaren Unterlassung gibt Kohler noch einige nähere Anhaltspunkte. So stellt er bei konkreter Fallbetrachtung darauf ab, ob „das System gesellschaftlicher Fürsorge seinen K a l k ü l " auf die Hilfe des Unterlassenden aufbaue 7 und ob die Gesell1 Normen I I 1, u. a. S. 559, 571, 576, 582, 590 f. 2 Normen I I 1, S. 571. 3 Wobei der D r i t t e auch der Staat oder die Gemeinde sein könne — S. 571. 4 So rügt Mezger, Lb., S. 135, daß Binding nicht alle Fälle erfassen könne. 5 Daß Binding „Versprechen" nicht i n dem engen Sinn einer wörtlichen Zusicherung verstanden wissen wollte, geht auch daraus hervor, daß er sich gegen Kohlers Formulierung „ v o n der Gesellschaft auf den Posten gestellt sein" als zu eng wendet. M i t seiner Wendung w o l l t e er also auch diese Fälle erfassen — Normen I I 1, S. 559, Anm. 29. — Z u Kohler sogleich. 6 Studien I , S. 47. ι Studien I, S. 48 u n d 54.

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schaft auf die Hilfeleistung so fest vertraue, daß sie darauf ihre „socialen Bildungen" errichte. Neben dieser „erwarteten" Hilfe führt er noch die „zufällige" an, die der Gesellschaft zwar auch sehr w i l l kommen sei, deren Unterlassung aber nicht „causai" sei (nach heutiger Auffassung würde man wohl sagen müssen: deren Unterlassung aber nicht bestraft wird). „Denn nicht jede accessorische Hülfe ist ein Ausfluß des gesellschaftlichen Organismus: es gibt neben den wesentlichen funktionellen auch beihelfende und fördernde Faktoren 8 ." Die Garantenlehre Naglers stellt i m Vergleich zu diesen Lehren weder terminologisch noch sachlich-inhaltlich eine Neuerung dar 9 . So klingen seine Formulierungen nach den soeben zitierten Wendungen Kohlers und Bindings durchaus vertraut, wenn er z. B. anführt, die Gesetzgebung mache „die Gleichstellung der Passivität m i t der positiven Tätigkeit von einem besonderen Pflichtenverhältnis abhängig, vermöge dessen der Täter zur Abwendung des tatbestandlichen Erfolges durch Parierung der entgegengesetzt wirkenden Kräfte berufen oder bestellt" worden sei 10 . „Hemmungsfunktionen" hätten „vor allem die Personen, deren besondere Aufgabe" es sei, „drohende Gefahren abzuwehren". Der Garant sei „Schutzinstanz", durch die die Gewißheit geboten werde, daß es nicht „zu unerwünschten Störungen der v ö l k i schen Friedensordnung" komme 1 1 . Darin liege die besondere Rechtsstellung des Garanten, i n die dieser nur durch die „Volksgemeinschaft" (bzw. die Rechtsordnung) berufen werden könne. N u r eine Rechtspflicht m i t gerade dieser „Garantiefunktion" könne eine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen 12 . Aber Nagler stellt auch noch auf speziellere Umstände ab. I m Einzelfall, meint er, könnten die Rechtspflichten ihrem Inhalt und Umfang nach durchaus verschieden sein. So könnten je nach Sachlage alle möglichen Gefahren oder nur bestimmte Gruppen von Gefahren abzuwehren sein, und die Dauer der Verpflichtung variiere ebenso wie das „Maß der aufzuwendenden Abwehrtätigkeit", und schließlich sei die Proportionalität zwischen den Opfern des Garanten und dem abzuwendenden Schaden zu beachten. — I n all dieser Fülle von kon8 Vgl. zum ganzen Studien I , S. 48 f. Jene bloß „accessorische Hülfe", die aber „eine sehr empfehlenswerthe Beigabe zum Schutz der Gesellschaftsinteressen" ist, ist z. B. die Freundeshilfe oder die allgemeine mitmenschliche Hilfe, deren Verletzung nicht strafbar (nach Kohler, a.a.O., nicht „causal") ist. 9 W o h l aber dogmatisch-systematisch insoweit, als er das Pflichtenproblem i n die Tatbestandsmäßigkeit — getrennt v o m Problem der Kausalität — verlagert. GS 111, S. 59 — Hervorhebung dort. 11 GS 111, S. 60 — hier w i r d auch Kohlers K r i t e r i u m zitiert. 12 GS 111, S. 61 u n d 65.

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kreten „Lebenszusammenhängen", die nicht durch eine „gleichmäßig verbindliche Formel" geregelt werden könne, müsse letzten Endes die sozialethische Würdigung die Einzelentscheidung tragen. Naglers K r i t i k e r 1 3 werfen seiner Lehre vor, sie sei eine Tautologie. Als Quintessenz der Lehre könne man den tautologischen Satz prägen: Garant ist, wer dafür einzustehen hat, daß ein bestimmter Erfolg nicht eintritt; für den Erfolg haftet, wer für den Nichteintritt des Erfolges einzustehen hat. Zwar gibt Nagler durch eine mißverständliche Formulierung der Garantenposition als eines besonderen Pflichtverhältnisses „eigener A r t , kraft dessen der einzelne zu dem drohenden Erfolg i n Verbindung gesetzt und zu dessen Verhinderung rechtlich angehalten w i r d " 1 4 , Anlaß zu dieser K r i t i k 1 5 ; denn i n dieser Deutung wäre der Begriff nicht mehr als ein anderer Ausdruck für „soziale Nähe", „engere soziale Ordnung", „rechtlich soziale Stellung" usw. und würde dann auch vielleicht zu tautologischen Erwägungen führen 1 6 — wie die anderen Kriterien übrigens auch 17 . Möglicherweise könnte jedoch Nagler seine Formel anders angewandt wissen haben wollen, nämlich als zusätzlichen inhaltlichen Wertmesser für eine bereits begründete besondere Pflichtenstellung. Dafür spricht seine Formulierung: „Nicht jede besondere Rechtspflicht zum Handeln reicht dazu aus, strafrechtlich verantwortlich zu machen, sondern nur diejenige, welche dem Verpflichteten eindeutig zugleich die festumrissene und inhaltlich genau begrenzte Rechtsstellung eines Garanten zuweist. Daher bedarf es noch einer exakten Auslese unter den Handlungspflichten .. . 1 8 ." M i t einer solchen Anwendung hätte er tatsächlich eine ähnliche Konkretisierung erreicht, wie etwa Kissin, wenn dieser auf die typische Zugehörigkeit der Rechtspflicht zum sozialen Wirkungskreis abstellt, oder Schaffstein, der „die innere Ordnung gerade der Gemeinschaft, aus der sich i m fraglichen Einzelfall die Handlungspflicht ergibt", maßgeblich sein läßt, oder Vogt, der formuliert, daß der i n „enger sozialer Ordnung" Stehende „jederzeit i m Rahmen des Möglichen und entsprechend dem sozialen Zuschnitt der i n Rede stehenden Gemeinschaft zur tätigen Abwehr aller 13 Dahm, ZStW 59, S. 139; Vogt, ZStW 63, S.394; Androulakis, S. 182 f. 14 L K I, S. 35 — zwielichtig auch die Formulierungen auf S. 61 und 62 i n GS 111. is So beruft sich Androulakis, S. 182 auf diesen Satz. 16 Der Gefahr ist Nagler selbst nie auch n u r i n irgendeiner F o r m erlegen. 1 7 Die anderen Lehren sind trotz ihrer K r i t i k an Nagler i n Wahrheit keinen Schritt weitergekommen. — So treffend Maurach, A. T., S. 509; Böhm, Diss., S. 92 A n m . 474. is GS 111, S. 65 — Hervorhebung v o m Verf. — Doldi, Diss., S. 37 f. (zitiert nach Androulakis, S. 183) scheint auch Nagler so verstanden zu haben.

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Gefahren verpflichtet" sei. Die Garantenformel Naglers würde dann auch eben auf einen solchen speziellen Zuschnitt, der sich zwar hier nicht auf die innere Gesetzmäßigkeit einer Gemeinschaft, sondern auf den Gedanken der Schutzinstanz bezieht, abstellen 19 . So i n etwa w i r d Nagler sein K r i t e r i u m eigentlich auch gebraucht haben wollen. Aber dann taucht vom Inhalt der Garantenformel ein Bedenken auf: Läßt sich überhaupt der Gedanke der Schutzinstanz von der speziellen, nach der inneren Gesetzmäßigkeit der Gemeinschaft bestimmten Rechtspflicht abheben? Das ist bei der Begriffsbestimmung, die Nagler seiner Formel gegeben hat, zu verneinen, denn eines haben eine solche Rechtspflicht und die Garantenpflicht sicherlich gemeinsam: den Schutz des Rechtsguts, denn dieser ist Grundgedanke bereits einer jeden Rechtspflicht, da sie sonst gar nicht bestünde. Die Umschreibung des Garantenbegriffs durch Nagler stellt also nur Gemeinsamkeiten heraus. Das ist der Grund, warum Nagler die von i h m geforderte „exakte Auslese unter den Handlungspflichten" nicht vornehmen kann und letzten Endes methodisch und bei der inhaltlichen Auswahl seiner Kriterien wieder bei der Einteilung der Sammelgruppen landet. Die Termini „Garant" und „Garantenpflicht" sind seit Nagler i n der Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung allenthalben gebräuchlich geworden, wenn sie auch als Kriterien nicht die zentrale Bedeutung erlangt haben, die ihnen Nagler zugedacht hatte, w e i l die h. L. und Rechtsprechung nach wie vor die Fallgruppenbildung gegenüber der Herausarbeitung eines durchgängigen einheitlichen K r i t e riums bevorzugt. Erst i n neuester Zeit hat Rudolphi innerhalb der Sammelgruppenlehre einen deutlichen Akzent auf den Garantengedanken gelegt. Er sieht i n dem Unterlassenden dann einen Garanten, wenn dieser als „Zentralgestalt des zu der Rechtsgutsverletzung hindrängenden Geschehens" erscheint 20 . Damit ist nun der Garantenbegriff aber nicht inhaltlich präzisiert, sondern Rudolphi sieht i n i h m nur den formalen gesetzlichen und vorrechtlichen Wertungsmaßstab, nach dem die einzelnen Garantenstellungen anhand noch zu findender konkreter K r i terien zu entwickeln sind 2 1 . 19 Damit wäre die Garantenformel sicherlich ein echtes K r i t e r i u m u n d nicht n u r ein „ B i l d " , w i e Dahm (ZStW 59, S. 138 A n m . 11) u n d H. Mayer (Lb., S. 119 u n d dort A n m . 36) meinen; denn genauso w i e Binding den Garantiegedanken i n seine Kausalbetrachtung eingeschleust hat — u n d da b i l l i g t Dahm i h m die Eigenschaft eines K r i t e r i u m s zu —, w i r d er hier i n methodisch gleicher Weise i n die Untersuchung über den Charakter einer bereits vorher bestehenden Rechtspflicht einbezogen. Dahms u n d H. Mayers K r i t i k ginge dann sicher fehl. 20 S. 99 i m Anschluß an Roxin, Täterschaft, S. 25 ff. « S. 100.

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Für die ersten Schritte einer solchen Konkretisierung nimmt Rudolp h i die Lehre Kaufmanns als Grundlage einer weiteren Unterteilung i n primäre und sekundäre Garantenstellungen 22 . Kennzeichen der primären Garantenstellungen ist, daß sie überall dort bestehen, wo aufgrund der individuellen oder sozialen Gegebenheiten einzelne oder alle unfähig sind, sich zu schützen. Bei den Garantenstellungen zum Schutze einzelner Rechtsgüter liegt die Unfähigkeit bei einzelnen Personen (den entsprechenden Rechtsgutsträgern), während bei den Garantenstellungen aus Überwachung einer Gefahrenquelle alle sich vor der bestehenden Gefahr nicht schützen können. Diese primären Garantenstellungen sind i n ihrer Existenz und ihrer Funktion allein von den sie bedingenden sozialen Verhältnissen abhängig, nicht aber von dem Verhalten der einzelnen Garanten. I m Gegensatz dazu werden die sekundären Garantenstellungen i n ihrer Existenz und Tragweite vom Verhalten des Garanten bestimmt, das i n einer Störung des sozialen Gleichgewichts der Kräfte besteht, und zwar durch Ausschaltung einer bestehenden Schutzinstanz oder Hervorrufung neuer Gefahren, zu deren Abwehr die ursprüngliche Schutzinstanz nicht mehr i n der Lage ist 2 3 . Diese Unterschiede zwischen primären und sekundären Garantenstellungen hätten denn auch, so meint Rudolphi, zur Folge, daß die Fragestellung nach den jeweils zugrunde liegenden Wertvorstellungeri i n verschiedenen Richtungen gehe. Bei den primären Garantenstellungen sei das Maß der Schutzlosigkeit des bedrohten Rechtsguts entscheidend, während bei den sekundären Garantenstellungen die A r t der Störung der sozialen Schutzordnung sowie die A r t des störenden Verhaltens maßgebliche Wertungsfaktoren seien. Auch Rudolphi schlägt einen neuartigen Ablauf axiologischer Erwägungen vor 2 4 . Als erstes seien „ m i t Hilfe einer sinnerfassenden Betrachtungsweise" die verschiedenen sozialen Erscheinungsformen der Garantenstellungen i n ihren Grundtypen zu ermitteln (gemeint sind die primären und sekundären Garantenstellungen). Sodann seien „jeweils für die verschiedenen Typen der Garantenstellungen diejenigen gesetzlichen Wert Vorstellungen und Ordnungsprinzipien festzulegen, die darüber entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen i n den ihnen zugehörigen Fällen der Unterlassende als die Zentralgestalt des zu dem Unrechtserfolg hinstrebenden Geschehens erscheint". I n einem dritten Wertungsakt sollen schließlich mit Hilfe

22 s. 106 ff.

23 S. 108 f.

24 s . 100 f. 6 Bärwinkel

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der gefundenen Wertmaßstäbe „die einzelnen sozialen Erscheinungsformen des unechten Unterlassens" gewertet werden. I n der Lehre Rudolphis ist zunächst die Definition des Garantenbegriffs nicht einleuchtend. Es ist schwer nachzuvollziehen, von einem Nicht-Handelnden zu sagen, er sei „die Zentralgestalt des zu der Rechtsgutsverletzung hindrängenden Geschehens". Außerdem bedeutet diese Definition eine noch durchaus ungeklärte und zweifelhafte Identifizierung des Garanten m i t der Täterschaft des Unterlassenden 25 und belastet so die Bemühungen um eine Bestimmung der Garantieverhältnisse unnötig. Schließlich ist m i t dieser Beschreibung nichts gewonnen, da sie den Begriff des Garanten nicht weiter konkretisiert. Weitere Bedenken bestehen gegen Rudolphis Unterscheidung i n primäre und sekundäre Garantenstellungen. Maß und A r t der Schutzlosigkeit des Angegriffenen können wohl die Abwehrpflicht i n ihrem Inhalt beeinflussen, aber als Kriterien zur Begründung der Garantenstellungen sind sie prinzipiell untauglich. Den Beweis für diese Untauglichkeit liefern gerade die Standardfallgruppen. Eltern haben die Schutzpflicht gegenüber ihren Kindern, Pfleger gegenüber ihren Schutzbefohlenen usw. ganz unabhängig davon, ob die Anvertrauten i n der Verletzungssituation schutzlos sind oder nicht. Man wende nicht ein, daß die tatsächliche Verletzung ja gerade die Schutzlosigkeit beweise, oder umgekehrt, daß bei vorhandenem Schutz die Verletzung nicht eintrete, denn diese Auffassung würde den Versuchsfällen und Gefährdungsdelikten nicht gerecht. Wenn der Vater zuschaut, wie sein achtzehnjähriger Sohn von einem Räuber angefallen wird, der Sohn den Räuber aber schließlich nach hartem Kampf doch i n die Flucht schlägt, so hat sich erwiesen, daß der Junge genügend Selbstschutz besaß, und trotzdem macht sich der Vater unter Umständen wegen Totschlagsversuchs durch Unterlassen strafbar. Gleiches gilt für alle Gefährdungsdelikte, wo die bloße Gefährdung als Erfolg ausreicht, die Schutzinstanz also gar nicht bis zur Verletzungskonsequenz auf die Probe gestellt wird. Aber selbst wenn man von der Schutzlosigkeit als Maßstab einmal ausginge, dann ist die Unterscheidung dieses Kriteriums von dem der sekundären Garantenstellungen, nämlich „ A r t der Störung der sozialen Schutzordnung" nicht zu trennen, wenn man bei diesem letzten Kriter i u m noch einmal von „dem diese Störung auslösenden vorangegangenen Verhalten des Unterlassenden" absieht, wie Rudolphi es tut. Dann ist nämlich das Abstellen auf die Schutzlosigkeit des angegriffenen 25 Vgl. Rudolphi,

S. 39 ff., 42.

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Rechtsguts bzw. auf die „Störung der sozialen Schutzordnung" nur die unterschiedliche Umschreibung ein und desselben Phänomens, das bei primären und sekundären Garantenstellungen gleich liegt. Es kommt lediglich darauf an, (unter Umständen auch wertend) festzustellen, ob ein Rechtsgut verletzt bzw. gefährdet ist oder nicht, denn nur darin kann ja noch die A r t der Störung der sozialen Schutzordnung bestehen, wenn man, wie gefordert, von dem störenden Verhalten absieht; und auch das K r i t e r i u m „Schutzlosigkeit" meint nur dasselbe, denn es ist nur die Konkretisierung, die angibt, w o r i n jene „Störung" besteht. Diese Unterscheidung Rudolphis ist daher nur eine Scheinunterscheidung. Auch die zweite Wertung, die Rudolphi bei den sekundären Garantenstellungen vornehmen w i l l , nämlich die Bewertung des die Störung auslösenden vorangegangenen Verhaltens, vermag die sekundären nicht von den primären Garantengruppen abzuheben, wenn Rudolphi mit ihr über die Fälle der eigentlichen Ingerenz hinaus auch noch die Fälle der vertraglichen Gewährsübernahme und der Amtsübernahme erfassen w i l l 2 6 , denn dann bedeutet das „die Störung auslösende vorangegangene Verhalten" nur, daß jemand überhaupt zuvor eine Gefahrenabwehrposition eingenommen hat, und damit ist der Unterschied zu den Fällen der primären Garantenstellungen (z. B. nach Rudolphi aus Überwachung der Gefahrenquellen) verschwunden. Das K r i t e r i u m „die A r t des störenden vorangegangenen Verhaltens" verträgt keine Verallgemeinerung. Es muß daher auf die Sonderfälle der Ingerenz beschränkt bleiben, wenn es tauglich für eine differenzierende Wertung sein soll. Für eine Obereinteilung i n primäre und sekundäre Garantenstellungen ist es auf jeden Fall ungeeignet. Damit w i r d die gesamte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Garantenstellungen bedeutungslos. Diese falsche inhaltliche Unterscheidung Rudolphis w i r k t sich auch auf die Tauglichkeit seines Wertungsverfahrens aus. Da sie nicht aufrechtzuerhalten ist, kann die Ermittlung von Garantenstellungen i n ihren Grundtypen nur bis zu der Grundunterscheidung A r m i n Kaufmanns i n Garantenstellungen aus Überwachung einer Gefahrenquelle und gegenüber einem Rechtsgut gehen. I n dem Beispiel der Garantenstellungen kraft Herrschaft über einen bestimmten sozialen Bereich, das er zur Veranschaulichung seiner Arbeitsweise bringt 2 7 , geht Rudolphi denn auch m i t keinem Wort auf die Kaufmannschen oder seine 26 S. 111. 27 S. 100 f. 6·

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eigenen Grundtypen ein. Er führt lediglich den Leitgedanken an, daß hier Gefahren von einem fremden Herrschaftsbereich ausgingen, gegenüber denen das Opfer hilflos sei, w e i l es nicht i n die fremde Sphäre eingreifen dürfe. Das sind aber keine Charakteristika dieser Fälle, wie Rudolphi meint. Wenn ein Polizist eine schlecht beleuchtete Straßenbaustelle untersucht und wegen des fehlenden Lichts i n eine Grube stürzt, so hat der Bauführer eine Garantenstellung aus Überwachung einer Gefahrenquelle, obwohl der Beamte i n den fremden Herrschaftsbereich eindringen durfte, ja mußte. Die Rechtsordnung gibt i m Recht auf Notwehr, auf Nothilfe, i n der Geschäftsführung ohne Auftrag, i n den Amtsrechten usw. eine Fülle von Eingriffsmöglichkeiten. Außerdem zeigt der Fall, i n dem ein Bauarbeiter der Firma noch einmal abends i n der Dunkelheit zur Baustelle geht, um noch Lampen anzubringen, und dabei i n die Grube stürzt, daß die Gefahren nicht immer aus einer fremden Herrschaftssphäre herrühren. Unter welchen Gesichtspunkten i m zweiten Schritt des Wertungsverfahrens die gesetzlichen Wertvorstellungen und Ordnungsprinzipien, die darüber entscheiden sollen, ob der Unterlassende „als Zentralgestalt des zu dem Unrechtserfolg hinstrebenden Geschehens erscheint", zu bestimmen sind, sagt Rudolphi nicht. Damit hängt die Wertung auch i m letzten Stadium, i n dem die einzelnen sozialen Erscheinungsformen des unechten Unterlassens zu werten sind, i n der Luft. So nimmt es nicht wunder, daß i n seinem Beispiel der Herrschaft über einen bestimmten sozialen Bereich bei der zweiten Wertung der Hinweis auf die Pflichtenbindung eines jeden Herrschaftsrechts nicht unmittelbar aus den „Charakteristika" der Leitgedanken folgt, sondern eine selbständig gefundene Maxime ist, und daß i m letzten Wertungsakt diese Maxime wieder entsprechend den „sozialen Erscheinungsformen der hierher zu zählenden Unterlassungsfälle" variiert und differenziert wird, also verschiedene Ausprägungen erfährt, „je nachdem ob eine bewegliche Sache, ein Tier oder ein Industriebetrieb die zu überwachende Gefahrenquelle bildet". Damit ist man i m Grunde wieder bei der Methode der Sammelgruppenlehre gelandet 28 — es werden „Typen" gebildet, i n die die einzelnen Fälle aufgenommen werden, ohne daß die gefundenen Wertungsgrundsätze und Einzelwertungen i n ihren strukturellen Zusammenhängen erfaßt und damit vom Zufall des Aufgefundenwerdens befreit werden.

28 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, w e n n Rudolphi am Ende des Abschnitts (S. 101) schreibt, daß die theoretisch getrennten drei Arbeitsgänge bei der Untersuchung eines konkreten Falles „ i n mannigfacher Weise miteinander verschlungen u n d verzahnt" seien.

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6. Die Lehre von den bestimmten Vorrechten entsprechenden Pflichten I n neuerer Zeit hat Böhm erstmals versucht, die soziale Stellung des zur Erfolgsabwendung Verpflichteten näher zu beschreiben und nicht nur beispielhaft nach der Methode der Sammelgruppenlehre zu verdeutlichen. Ausgehend vom Vertrauensgrundsatz teilt er zunächst die Fälle strafbarer Unterlassungen i n zwei Gruppen ein: einmal die, i n denen die strafrechtlich geschützten Rechtsgüter unmittelbar durch eigenes vorangegangenes Verhalten gefährdet werden, und zum anderen die, i n denen Rechtsgüter mittelbar dadurch gefährdet werden, „daß sich die Allgemeinheit oder einzelne auf die Behütung des Rechtsgutes durch den zu diesem Zweck besonders Berechtigten oder freiwillig Verpflichteten verlassen" 1 . Zu diesen beiden Gruppen gibt er nähere Erläuterungen 2 . Die Pflicht zur Abwendung der Gefahr aus vorangegangenem Tun w i r d vom Vertrauen der Allgemeinheit darauf, „daß derjenige, der durch sein Verhalten eine Gefahr geschaffen hat, den Eintritt eines Schadens verhindert", getragen. Dabei leitet Böhm die Rechtspflichtqualität dieser Pflicht aus der dem einzelnen „von der Rechtsgemeinschaft gegebenen Möglichkeit und Erlaubnis, seine Persönlichkeit frei zu entfalten" (Art. 2 GG), ab*. Bei der zweiten Gruppe erhebt Böhm einen Gedanken, den bereits Kissin hatte 4 , zu einem obersten Prinzip. Danach sind bestimmte Personen dann zur Erfolgsabwendung strafrechtlich verpflichtet, wenn und soweit ihnen die Rechtsordnung besondere Vorrechte eingeräumt hat. Die hier i n Betracht kommenden Pflichten müssen den gewährten Rechten entsprechen 5 , weil — und das ist wieder der innere Grund dieser „Rechte-und-Pflichten-Verknüpfung" — „die Gesellschaft i m Vertrauen auf das Funktionieren der Träger dieser Rechte auf gewisse Sicherungen... verzichtet" 6 . Außerdem müssen die Pflichten für die vom Unterlassenden eingenommene Stellung typisch sein 7 . Das bedeutet, daß sie nur gegenüber demjenigen bestehen, demgegenüber der Verpflichtete besondere Rechte hat. So folgen beispielsweise aus ι Diss., S. 95. 2 Z . T . bei der Erörterung verschiedener Fallgruppen. Wahrscheinlich sollen sie aber trotzdem Allgemeingültigkeit haben. 3 Diss., S. 83. 4 Siehe oben S. 63. 5 Vgl. Diss., S. 71 (Beamte), S. 68 (Wohnungsinhaber), S. 64 (Eltern), zusammenfassend S. 74. « S. 74. 7 S. 55.

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den Hechten des einen Ehegatten gegenüber dem anderen nicht Pflichten gegenüber der Allgemeinheit, also z. B. nicht die Pflicht, den anderen Ehegatten von Straftaten abzuhalten 8 , oder aus dem Versicherungsvertrag folgt nicht die i n den §§ 306 ff. statuierte, der A l l gemeinheit gegenüber bestehende Pflicht zur Brandbekämpfung. Dieses Kriterium, nach dem man die strafrechtliche Relevanz einer Pflicht zum Handeln daran erkennen können soll, daß dem Unterlassenden dieser Pflicht entsprechende besondere Rechte gewährt worden sind, ist zunächst bestechend, denn es erinnert an das gängige alte Wort: Wer Rechte hat, hat auch Pflichten. Jedoch beim näheren Zusehen erweist sich der Schein als trügerisch. Das Verhältnis von Rechten und Pflichten existiert auf zweierlei Art. Einmal i n der Weise, daß der Pflicht des einen ein Recht des anderen entspricht. Beide decken sich hier ganz genau; nur soweit wie die Rechte des anderen gehen, reicht die Pflicht beim einen (und umgekehrt), und es ist nur eine Frage des Standpunkts, ob man i n diesem einheitlichen Verhältnis das Recht oder die Pflicht hervorhebt. Anders ist es jedoch bei der Rechten-und-Pflichten-Beziehung, die Böhm anspricht. Hier existieren zunächst Pflichten, die jemandem aufgrund seiner sozialen Stellung, die er innerhalb einer Gesellschaft übernommen hat, treffen. Und erst weil jemand eine solche soziale Stellung innehat, werden i h m zur Wahrnehmung der damit spezifisch verbundenen Pflichten bestimmte (Vor)Rechte gewährt. Das Primäre sind also die der Gesellschaft gegenüber obliegenden Pflichten; die Rechte sind erst sekundär, abgestimmt auf Ziele und Zwecke der zu erfüllenden Aufgaben 8 0 . So haben z. B. Polizeibeamte nicht eine unbeschränkte Machtfülle, sondern nur gemäß ihren Aufgaben wohldosierte Rechte. So dürfen sie nur unter ganz bestimmten einschränkenden Voraussetzungen Zwang anwenden, Wohnungen und Personen durchsuchen, Festnahmen und Verhaftungen vornehmen, von ihrer Waffe Gebrauch machen usw. Ganz generell sind ihre Rechte zur Vornahme aller hoheitlichen Anordnungen in Umfang und Inhalt auf das Notwendigste zur Erfüllung ihrer Pflicht, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, beschränkt. Schon an diesem einen, aber typischen Beispiel ist das Grund-Folge-Verhältnis von Pflicht und Recht ganz offensichtlich. Die Umkehrung dieser Beziehung bei Böhm ist falsch, und seine Darstellung ist widersprüchlich, wenn er z. B. i n einem ersten Satz sagt: „Jeder Beamte i m strafrechtlichen Sinn, . . . , ist der β Diss., S. 95, 58 f. 8a Bollnow, S. 32 f.

I. Die bisherige Behandlung des Problems

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Allgemeinheit gegenüber zur ordentlichen Durchführung und Erfüllung seiner Dienste verpflichtet", und i m zweiten: „Die Allgemeinheit, . . . , hat diese Beamten zu gewissen Zwecken eingesetzt, m i t Vollmachten und Rechten ausgestattet und — . . . — m i t einer größeren Machtfülle versehen, als sie der gewöhnliche Bürger besitzt", u m dann i m dritten Satz auszuführen: „Das (die Machtfülle) ist der Rechtsgrund, der i n der Person des Beamten eine Rechtspflicht zur ordentlichen Erfüllung seiner Dienste begründet 9 ." Hier w i r d das i n den ersten zwei Sätzen richtig angedeutete Grund-Folge-Verhältnis von Pflicht und Recht i m dritten Satz widersprüchlich umgekehrt. Bei diesem zweiten (Grund-Folge)Verhältnis von Pflichten und Rechten entsprechen die gewährten Rechte aber nun keineswegs immer den primären, trotzdem zu erfüllenden Pflichten. Deshalb ist das K r i t e r i u m Böhms i n einer Reihe von Fällen nicht tauglich, und zwar nicht nur i n den Fällen des vorangegangenen Tuns und der freiwilligen Gefahrenübernahme, die Böhm selbst schon ausklammert 1 0 , sondern auch i n dem Rest, den er für dieses K r i t e r i u m vorbehält. So gewährt unsere Rechtsordnung dem Vater nicht ein einziges Recht i n bezug auf sein uneheliches K i n d 1 1 , sondern verpflichtet i h n lediglich zur Unterhaltszahlung, und trotzdem sieht Böhm i n i h m i n Übereinstimmung m i t der Rechtsprechung und der überwiegenden Lehre 1 2 einen Garanten für Leib und Leben des Kindes 1 3 . Auch viele Garantenpflichten aus Beamten- und ähnlichen Berufen sind nicht an besonderen Vorrechten zu erkennen. Welche Vorrechte genießen etwa Feuerwehrleute, Weichenwärter oder Bereitschaftsärzte? Etwa daß die Feuerwehrmänner mit Blaulicht schneller durch die Straßen fahren dürfen, oder daß nur die Weichenwärter die Bahngleise betreten dürfen, oder daß die Bereitschaftsärzte zur Nachtzeit Geld verdienen? Diese Fälle zeigen, daß an den Rechten die Pflichten nicht notwendig erkennbar werden 1 4 . Böhm könnte überhaupt die ganze Gruppe der 9 Diss., S. 70 f. 10 Eigenartig allerdings der Hinweis, Diss., S. 83, daß sich die Rechtspflicht aus vorangegangenem T u n aus der dem Täter „ v o n der Rechtsgemeinschaft gegebenen Möglichkeit und Erlaubnis, seine Persönlichkeit frei zu entfalten" herleite, denn dieses Recht des A r t . 2 GG ist bestimmt kein spezielles Vorrecht, sondern ein Recht jedes Menschen. n Wie auch Böhm, Diss., S. 62, selbst sieht. 12 RGSt 66, S. 71; Kohlrausch-Lange, System. Vorbem. I I Β I I 3 e v o r § 1 ; Schönke/Schröder, 109 vor § 1 ; Geilen, FamRZ 1961, S. 152; Nagler i n L K I, S. 39; dagegen Baumann, Lb., S. 234; Maurach, A. T., S. 516; unentschieden Welzel, Lb., S. 207. 13 Diss., S. 62 f. 1 4 So ist es auch mehr als zweifelhaft, w e n n Böhm, Diss., S. 74, i n dem F a l l RGSt 71, 193 die Vorrechte einer Erbhofbäuerin i n den Lasten, die der Allgemeinheit auferlegt sind, nämlich hohe Steuern u n d überhöhte

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieerhältnisse

Garantenpflichten aus Beruf i n sein System nur einbauen, wenn er sie zur Gruppe der „ f r e i w i l l i g übernommenen Gefahrenabwehr" zählte. Aber dieses K r i t e r i u m würde, wenn man es über den ursprünglich begrenzten Kreis der Abrede hinaus auf diese Weise ausdehnte, völlig seine Konturen verlieren und besagte letzten Endes nicht mehr, als daß jemand überhaupt i n irgendeine soziale Stellung m i t ihren entsprechenden Gefahrenabwehrpflichten eingetreten sei 15 . A u f der anderen Seite gibt es sicher eine große Zahl von besonderen Rechten, denen keine Garantenpflichten entsprechen. So macht z. B. das Recht der Nothilfe nicht für die strafbare Handlung des A n greifers haftbar, wenn der Dritte nicht eingreift 1 6 . Aber auch da, wo jemandem die besonderen Vorrechte genommen werden, hört die Garantenpflicht nicht auf; wenn z. B. die Kinder der Aufsicht und Pflege der Eltern entzogen sind, so haben die Eltern trotzdem eine Garantenpflicht zur Abwendung aller möglichen Gefahren für Leib, Leben usw. ihrer Kinder 1 7 , oder: Der unter Polizeiaufsicht stehende Wohnungsinhaber macht sich strafbar, wenn er Abtreibungen i n seiner Wohnung, von denen die Polizei nichts weiß, zuläßt 1 8 . M i t all dem soll aber nicht bestritten werden, daß dieses Kriterium, beschränkt auf bestimmte Fälle, so wie Kissin 1 9 diesen Gedanken verwenden wollte, eventuell ein brauchbares Indiz für die Bestimmung einer Garantenstellung sein kann. 7. Die

Lehre

vom

Tatbild

Hellmuth Mayer geht davon aus, daß sich — bei den „tatbildmäßigen Verbrechen" 1 — der Inhalt der Tätigkeitsbeschreibung zunächst aus dem „natürlichen Lebenssprachgebrauch" ergibt, „der auch m i t Ausdrücken wie ,töten' ein immerhin noch bestimmtes Vorstellungsbild verbindet". Die Tatbestandsbeschreibungen verweisen auf eine „historisch vorgestellte Kasuistik, ohne feste Begriffe zu geben". Lebensmittelpreise zu zahlen, sieht. — Oder: Welche „Vorrechte" hat eigentlich der Beifahrer eines Fernlastzuges (Böhm, Diss., S. 73), der w i e alle über Deutschlands Landstraßen fahren darf? So z. B. wenn M a n n u n d F r a u K i n d e r bekommen u n d damit E l t e r n werden. 16 Vgl. z. B. auch die von Böhm, Diss., S. 66, selbst angeführten Fälle des Zeugnisverweigerungsrechts (§ 52 StPO) u n d der Vergünstigungen i n den §§ 52 u n d 54, 263 Abs. 5, 257, 193 StGB usw. Wie Böhm selbst annimmt, Diss., S. 63 f. 18 Hier ist Böhm, Diss., S. 95, anscheinend anderer Meinung. 19 Siehe oben S. 63. 1 So bezeichnet H. Mayer solche, bei denen n u r der Erfolg u n d nicht auch die Tätigkeit i m Tatbestand beschrieben w i r d — Lb., S. 145 ff.

I. Die bisherige Behandlung des Problems

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Diese „Vorstellungsbilder" umfassen auch von vornherein die Fälle des unechten Unterlassungsdeliktes 2 . Als Kriterium, das die Zugehörigkeit der strafbaren Unterlassungen zu den „Vorstellungsbildern" bestimmt, nennt Mayer den „materiellen Rechtsgedanken der Betätigung gleichwertiger Verbrechensenergie" 3 . Gegen ihn hat Welzel 4 den Vorwurf einer „radikalen Subjektivierung der Unterlassungsdelikte" erhoben, und W. Landsberg 5 führt gegen dieses K r i t e r i u m täterpsychologisch ins Feld, daß es sowohl vorsätzliche Begehungsdelikte gebe, die durch Willensschwäche gekennzeichnet seien (z. B. bei der Nötigung bzw. Erpressung zu Straftaten), als auch Unterlassungen unter „Willensanstrengung", die nicht wie Begehungsdelikte geahndet würden, nämlich wenn ζ. Β. A den X gedankenverloren über die Straße gehen sehe, ihn vor einem heransausenden Auto warnen wolle, aber i m letzten Moment i n X den verhaßten Nachbarn erkenne und trotz erheblicher Skrupel schweige. Diese K r i t i k Welzels und Landsbergs t r i f f t aber H. Mayers K r i t e r i u m nicht in seinem eigentlichen Gehalt, denn Mayer wendet es gar nicht so subjektivistisch an, wie es zunächst den Anschein hat, sondern er objektiviert und normativiert es6. So sagt er z. B.: „Es könnte allerdings sein, daß die Kindsmutter, welche ihr K i n d durch Nahrungsverweigerung tötet, der Arzt, der die Operation abbricht, daß der Streckenwärter, der vorsätzlich das Hindernis auf den Schienen liegen läßt, so verhärtet wären, daß sie den i n jedem natürlich empfindenden Menschen auftauchenden Willensimpuls zu helfen gar nicht unterdrücken müßten. Doch eine solche Einstellung ist ja gerade erst recht als aktive Auflehnung gegen den Allgemein willen zu bewerten 7 ." Und an anderer Stelle sagt er, „daß eine Untätigkeit nur dann der Tätigkeit gleichgestellt werden kann, wenn sie willensmäßig der Tätigkeit gleichsteht, wenn also ein rechtlicher Mensch einer Willensanstrengung bedürfte, um dort untätig zu bleiben, wo es selbstverständlich ist, tätig zu werden" 8 . Damit stellt H. Mayer i m Einzelfall gar nicht auf die konkrete Täterpsyche ab, sondern er mißt diese an dem objektiven Maßstab des Willensverhaltens eines rechtlich denkenden Durchschnittsbürgers i n der konkreten Fallsituation. Es stellt sich dann aber sofort die Frage: 2 Lb., S. 148, 114 u n d 85. 3 Lb., S. 113. 4 Lb., 4. Aufl., S. 161. 5 Diss., S. 6 Anm. 4. 6 Richtig erkannt von A r m i n Kaufmann, 7 Lb., S. 113. 8 Lb., S. 151.

Dogmatik, S. 269 f.

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C. Die rechtliche Struktur der Garantieerhältnisse

Was bedeutet denn rechtlich denken? Bedeutet „rechtlich" i n diesem Zusammenhang soviel wie sittlich oder „sittlich i m sozialethischen Sinne"? Dann müßte H. Mayer in Landsbergs Fall den A aus § 212 bestrafen. Oder bedeutet „rechtlich" soviel wie „der Rechtsordnung Genüge tun", einer „Rechtspflicht" i m eigentlichen Sinne, die ja nach allgemeiner Meinung heute nicht i n jeder sozialethischen Pflicht, sondern nur i n einer jeweils besonderen sozialethischen Pflicht besteht, nachzukommen? H. Mayer gibt darauf keine Antwort.

II. Ergebnis und Hinweis für die weitere Untersuchung Aus der kritischen Übersicht hat sich andeutungsweise eine Konstellation engerer und weiterer Kriterien zur Bestimmung der Garantieverhältnisse herausgeschält, die jedoch noch eine ganze Reihe Fragen aufwirft. Als erste sind der eine oder die mehreren obersten Wertungsgrundsätze zu nennen, an denen alle anderen Kriterien gemessen werden (z. B. die Methode Kissins). Hier erhebt sich die Frage nach einem überzeugenden obersten Wertmaßstab. Die folgenden Kriterien stehen dann ihrerseits, wie die K r i t i k an den Lehren Kissins, Schaffsteins und Androulakis' zeigt, nicht wahllos nebeneinander, sondern i n einem bestimmten Verhältnis zueinander. Es lassen sich nach den Formulierungen Schaffsteins und Androulakis* die Bereiche der „Pflichtwidrigkeit" und der „Strafwürdigkeit" („objektive Bewertungsmomente") trennen. I m ersten Bereich dürfte als struktureller, pflichtenspezialisierender Gesichtpunkt „die innere Ordnung" (Schaffstein) bzw. „der soziale Zuschnitt" (Vogt) der Gemeinschaft, aus der die Handlungspflicht entspringt, entscheidend sein. Wie diese innere Ordnung festgestellt werden kann, ist bisher eine offene Frage geblieben. Ferner ist darauf zu achten, daß alle Kriterien m i t sozialethischem Gehalt i n den Pflichtwidrigkeitsbereich gehören, und umgekehrt, daß alle anderen i n Betracht kommenden Kriterien nur dem „Strafwürdigkeits"bereich zugeordnet werden (vgl. die K r i t i k an den Lehren Schaffsteins und Androulakis'). Für den „Strafwürdigkeits"bereich bleibt weiterhin die Frage offen, woher die dorthin gehörenden Kriterien kommen und nach welchen Maßstäben sie gefunden werden müssen. Diesen strukturellen Fragen i m folgenden Kernstück der Arbeit nachzugehen, lohnt sich umso mehr, als sich auf dem methodischen Gebiet auch erste Anzeichen einer Konvergenz zwischen der Sammelgruppenlehre und den Theorien feststellen lassen, die von einheitlichen Kriterien für alle Garantieverhältnisse ausgehen. So bemühen sich

I I I . Garantieerhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

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heute z. B. Anhänger der Sammelgruppenlehre, einheitliche oberste Einteilungsgesichtspunkte aufzuzeigen (Armin Kaufmann, Henkel, Schröder, Meyer-Bahlburg, Rudolphi), die auch Anhänger der anderen Lehren übernehmen (Androulakis). Zum anderen betonen Verfechter der Sammelgruppentheorie (Henkel 1 , Mezger 2 , Maurach 3 ) genauso wie die Anhänger einheitlicher Kriterien (Kissin, Schaffstein, Nagler, Vogt), daß die Pflicht zum Handeln persönlich und sachlich spezialisiert sein muß, m. a. W., daß sie durch Merkmale aus der Sonderstellung des einzelnen innerhalb der Gemeinschaft profiliert wird. I I I . Die Garantieverhältnisse der unechten Unterlassungsdelikte in einem wertteleologischen Unrechtssystem Es liegt auf der Hand, daß Wesen und Bestimmung der Garantieverhältnisse von dem, was man unter „Unrecht" versteht, abhängen. Hier soll nun nicht der gesamte Streitstand um die verschiedenen Unrechtsauffassungen i n seiner ganzen Problemfülle ausgebreitet werden 1 . Eine solch prinzipielle Erörterung wäre gar nicht wünschenswert, da sie nur vom speziellen Ziel der Arbeit ablenkte, demzufolge es nur darauf ankommt, darzulegen, wie sich die Garantieverhältnisse als besondere Merkmale der Unterlassungsdelikte i n einem Unrechtssystem spezialisieren lassen — eine Problematik, die i n dem Ringen um die richtige Grundkonzeption einer Unrechtslehre an sich keine Rolle spielt. So stehen denn auch die dort schon seit geraumer Zeit aufgetauchten Fragen i m Brennpunkt des Interesses, während die unrechtsdogmatischen und strukturellen Aspekte des vorliegenden Problems nicht behandelt wurden. Die Untersuchung w i r d sich daher darauf beschränken, die hier für richtig gehaltene, nämlich eine wertteleologische Unrechtsauffassung lediglich insoweit darzulegen, als es für die gestellte Aufgabe erforderlich ist. Prinzipielle Ausführungen werden also i n der gebotenen Kürze und auch nur dann gemacht, wenn es zum Verständnis des Ganzen notwendig ist. Entsprechend den oben geschilderten methodologischen Aspekten, die der Verhaltensbegriff als unbestimmter Rechtsbegriff bietet 2 , stellt sich hier die Frage nach dem materiellen Unrechtsgehalt einer unechten Unterlassungstat. Man stimmt heute weitgehend darin überein, ι M s c h r K r i m 1961, S. 190. 2 Lb., S. 140 ff. 3 A. T., S. 511 f. 1 Vgl. aus der neueren Zeit z. B. Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 138 ff.; Maurach, A. T., S. 127 f., 248 ff.; Kraushaar, G A 1965, S. I f f . ; u n d die jeweils a.a.O. angegebene umfangreiche Literatur. 2 Vgl. Β I V .

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C. Die rechtliche Struktur der Garantieerhältnisse

daß das Wesen des Unrechts i n einem sozialethisch verwerflichen Verhalten bestehe3 oder, wie es Schmidhäuser vom Standpunkt seiner wertteleologischen Unrechtslehre ausdrückt, i n einem „sozialethischwertwidrigen Willensverhalten" 4 . Diese Eigenschaft eines Verhaltens, nämlich sozialethisch unwerthaft zu sein, bedarf der näheren Erläuterung. Dabei kann auf die oben 5 dargelegten Grundsätze der Wertlehre verwiesen werden, während hier einige Grundbegriffe der Sozialethik erläutert werden müssen, um die Zusammenhänge, i n denen die Garantieverhältnisse i n einem wertteleologischen Unrechtssystem stehen, deutlich zu machen. 1. Die sozialethische Grundlage

des Unrechts

Die „Sozialethik" 1 unterscheidet sich von der „Individualethik" nicht etwa durch die unterschiedlichen Pflichtinhalte i n dem Sinne, daß die der ersteren „dem Menschen als Sozialwesen, also gegenüber dem M i t menschen", oblägen 2 , während die der letzteren als „individuell-persönliche Lebensaufgaben" der „individuellen Selbstvervollkommnung" dienten, denn viele sittliche Werte des ethischen Bereichs, der i n weitem Umfang nicht Grundlage des Strafrechts ist, sind i n ihren Pflichtenansprüchen ebenfalls auf den Mitmenschen bezogen, wie z. B. die Nächsten- und Fernstenliebe, Wahrhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Treue, Vertrauen, schenkende Tugend, persönliche Liebe 3 . — Auch die Meinung, die auf die „Autonomie der Sittlichkeit" abstellt, von der sie die dem einzelnen gegenüber offenbar heteronome, „gesellschaftliche Moral" abhebt 4 , also die Meinung, die „nach dem verschiedenen Forum, vor dem hier jeweils gewertet w i r d " , differenziert, erfaßt „letztlich doch nur eine Unterscheidung dialektischer Momente eines einheitlichen Ganzen", denn die „gesellschaftliche Moral" vermag als objektiver Geist nur fortzubestehen, wenn sie von dem Wertbewußtsein des einzelnen übernommen und getragen wird, womit 3 Vgl. Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 161 ff. u n d die dort (S. 161 A n m . 18) angegebene umfangreiche L i t e r a t u r ; Henkel, Rechtsphilosophie, S. 144ff.; Otto, S. 18. 4 Gesinnungsmerkmale, S. 168, 178. 5 S. 41 ff. 1

Die Ausführungen dieses Absatzes beruhen auf den Darlegungen Schmid häusers, Gesinnungsmerkmale, S. 162 ff., von denen hier n u r die Ergebnisse (unter teilweiser Übernahme wörtlicher Formulierungen) gebracht werden. — Vgl. zum ganzen auch Henkel, Rechtsphilosophie, S. 128 ff.; A r t h u r Kaufmann, Recht u n d Sittlichkeit, S. 10 ff., 18 ff. 2 So Welzel, Gierke-Festschrift, S. 292. 3 Bei Hartmann, E t h i k , S. 499 ff., 484 ff. u. a. aufgeführt. 4 Gallas, Mezger-Festschrift, S. 316.

I I I . Garantieerhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

sich aber die zunächst bestehende „Autorität wandelt".

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i n Autonomie

ver-

Demgegenüber charakterisiert eine sich verbreitende Auffassung 5 den (straf)rechtlich relevanten Bereich der „Sozialethik" durch die „ P r i m i t i v i t ä t " und die damit gegebene „Dringlichkeit" „niederer" Werte, die diesen Bereich ausmachen sollen. Sie stellt auf die Erfahrungstatsache ab, „daß, wo immer Menschen ein dem Naturzustand überlegenes Leben aufzubauen und zu erhalten bemüht sind, ein gewisser Grundstock von elementaren Forderungen sich wie von selbst Achtung verschafft" 6 . Diese Werte sind jedem unmittelbar selbst einsichtig, sie sind „relativ allgemeingültig" 7 , und damit erscheint „die Frage, ob man gerade eine solche Pflicht neben Pflichten anderer A r t nun zu erfüllen habe, der persönlichen Gewissensentscheidung mit einer weitgehenden Generalisierbarkeit vorweggenommen" 8 . Vieles mag hier i m einzelnen richtig beobachtet sein, und man könnte vielleicht auch unter ethischen Gesichtspunkten den Bereich der Sozialethik derartig „quantitativ" formal nach der Werthöhe bestimmen — wenn die Sozialethik aber als Grundlage des Strafrechts dienen soll, bleibt diese Abgrenzung unbefriedigend. Da sie rein formal vorgenommen wird, führt sie auch i m Strafrecht zu einer ganzen Reihe formaler Begriffsbestimmungen, ohne daß deren innere Notwendigkeit, ihre sachliche Berechtigung, die i n ihrer Wertbezogenheit liegt, nachgewiesen w i r d und werden kann. So w i r d etwa das „eigentliche" Unrecht bereits in seinem Bestand an Geboten und Verboten (also nicht etwa nur nach der A r t des Angriffs auf ein Rechtsgut) danach bestimmt, ob es i n den einzelnen Tatbeständen des Gesetzes erfaßt ist 9 . Zwar w i r d auch hier nach wie vor die sozialethische Grundlage des Rechts gesehen, das Recht selbst w i r d aber unabhängig von ihr bestimmt. U m es bildhaft auszudrücken: Alles, was unter der Schablone des Gesetzes an Sozialethik sichtbar wird, gehört zum Recht bzw. Unrecht. Oder es kommt zu Definitionen wie: Ein Gut ist dann Rechtsgut, wenn es vom Gesetz unter Androhung von Rechtsfolgen geschützt wird. Sozialethische Pflichten sind dann Rechtspflichten, wenn das Gesetz i m Falle ihrer Verletzung eine Rechtsfolge (Strafe) androht 1 0 . 5

Die auch Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. Litt, S. 291 — Hervorhebung v o m Verf. — Z u Pflichten gehören etwa einige der 10 Gebote. — Vgl. Ethik, S. 605 f. 7 Laun, S. 60 ff. (79). 8 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 165; vgl. philosophie, S. 133 f. 9 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 166 ff. Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 167. 6

164 ff., vertritt. diesen grundlegenden dazu auch Hartmann, auch Henkel,

Rechts-

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C. Die rechtliche Struktur der Garantieerhältnisse

Die Frage, warum denn das Gesetz eine sozialethische Pflicht „anerkenne", indem es sie mit einer Rechtsfolge verknüpft, die Frage also nach der Berechtigung der Verbindung einer solchen Sanktion m i t einer sozialethischen Pflicht, w i r d gar nicht gestellt, und sie könnte auch bei der formalen Sicht der Dinge gar nicht beantwortet werden. A u f die Beantwortung dieser Frage ist man aber bei der Ermittlung der Garantieverhältnisse der unechten Unterlassungsdelikte gerade angewiesen, denn der Gesetzgeber hat, wie oben bei den methodologischen Untersuchungen aufgezeigt, für die Bestimmung der Garantieverhältnisse auf den außergesetzlichen Bereich der Sozialethik hingewiesen. I n diesem außergesetzlichen Bereich gilt es, die Rechtspflicht von der „bloß" sittlichen, rein sozialethischen Pflicht zu trennen. Das Formalkriterium der tatbestandlichen Schilderung versagt hier. Die bisherige formale Betrachtung kann den Unterschied zwischen rechtlicher und sittlicher Pflicht nicht verifizieren, und so ist sie denn auch über die fruchtlose Behauptung, daß eine sittliche Erfolgsabwendungspflicht nicht genüge, es müsse immer eine rechtliche sein 11 , nicht hinausgekommen. Wenn man neuerdings vorsichtig von einer „rechtlich verfestigten" Pflicht spricht 12 , so bedeutet das auch keine Abweichung von diesem Formalismus, denn mit diesem Terminus soll nur dargelegt werden, daß eine Erfolgsabwendungspflicht irgendwo sonst (nur nicht i m maßgeblichen Tatbestand des Strafgesetzes, wo man sie ja sucht) gesetzlich bzw. rechtlich (durch ständige Rechtsprechung) sanktioniert ist. Allerdings kann diese aufgelockerte formale Betrachtungsweise für eine materielle Auffassung einen fruchtbaren Beitrag beisteuern, indem die H i n weise auf anderweitige gesetzliche Regelungen die Evidenz des zu fällenden Werturteils vergrößern können 1 3 .

Der Bereich der Sozialethik, der die Grundlage des Strafrechts abgeben soll, muß also anders bestimmt werden. Ausgangspunkt kann hier eine Definition der Sozialethik von Utz 1 4 sein: „Das Sozialethische ist also immer dort gegeben, wo zwischen zwei oder mehreren Menschen eine übergeordnete Einheit begriffen wird, i n welcher nicht mehr dieser oder jener i n seiner gesonderten Beziehung zum eigenen Ziel, sondern vielmehr beide zusammen als Ganzes erfaßt werden. M i t anderen Worten: wo immer die Frage nach einem Gemeinwohl auftaucht, da ist Sozialethik." Dieser Gemeinwohlaspekt deutet auf das, was letztlich auch das Wesen des Rechts überhaupt n Baumann, Lb., S. 226; Maurach, A. T., S. 511; Schönke/Schröder, 101 vor §1; RG 64, S. 275. 12 Geilen, FamRZ 1961, S. 152; Schönke/Schröder, 108 vor § 1 ; Welzel, Lb., S. 206. 13 Dazu unten, S. 132. 14 Sozialethik I, S. 86 f.

I I I . Garantieerhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

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bestimmt und das w i r den (wertvollen) Endzweck des Rechts nennen können: den Zustand herzustellen und zu erhalten, der für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen i n einer Gemeinschaft wichtig ist 1 5 . Von dem i n diesem Endzweck enthaltenen obersten Rechtswert 16 her gesehen, kann demnach nur der Teil einer Sozialethik rechtlich relevant sein, i n dem die Menschen auf die Beachtung der sittlichen Werte bzw. die Erfüllung der daraus resultierenden Pflichten für ein gedeihliches Gemeinschaftsleben angewiesen sind 1 7 . Recht und Sozialethik beruhen also beide auf dem Gemeinwohl, das sie zum Ziel und Gegenstand haben, aber m i t dem Unterschied, daß das Recht nur die für das Gemeinwohl bedeutsameren Sozialphänomene erfaßt. Insofern kann man hier wieder die Formel vom „sozialethischen M i n i m u m " als Gehalt des Rechts anführen, jetzt aber nicht formal, sondern materiell m i t einem ganz spezifischen Sinn, nämlich unter dem Wertaspekt des Gemeinwohls stehend. Für das Strafrecht gilt indes noch Besonderes. Weil die Strafe das schwerste aller staatlichen Zwangsmittel ist, darf sie nur ultima ratio aller staatlichen Machtausübung sein, d. h. sie darf nur dort eingesetzt werden, wo die üblichen Zwangsmittel des Z i v i l - bzw. öffentlichen Rechts nicht mehr ausreichen. N u r dann ist sie rechtswerthaft (also ein Rechtsinstitut), weil sie nämlich nur dann dem obersten Rechtswert des gedeihlichen Zusammenlebens dient. Das Strafrecht ist also sekundärer Natur 1 8 . Daraus folgt, daß es nur an qualifizierte Formen des Unrechts anknüpft, die für die Gemeinschaft besonders unerträglich sind. I m Hinblick auf den obersten Rechtswert des Gemeinwohls bedeutet das: Strafrechtlich relevantes Unrecht besteht überall dort, wo sozialethische Pflichten verletzt werden, deren Erfüllung für ein gedeihliches Gemeinschaftsleben unbedingt notwendig i m Sinne einer besonderen Dringlichkeit ist 1 9 . is Kraushaar, G A 1965, S. 13, unter Hinweis auf Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, S. 721. 16 Eine Gleichsetzung von rechtlichem Endzweck u n d oberstem Rechts w e r t (so Kraushaar, G A 1965, S. 13 f.) ist gar nicht nötig. — Henkel, Rechtsphilosophie, S. 355 f., sieht diesen Zweck als außerhalb des Rechts liegend u n d das Recht n u r als M i t t e l dieses Zweckes an, nennt i h n aber zugleich den „umfassenden Grundwert für alle rechtliche Regelung" (ebenso S. 372, 377 f.). 17 Dieser Gedanke k l i n g t auch bei Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 162, an, w i r d dort aber nicht weiter verfolgt. — Vgl. auch Schmidhäuser, Von den zwei Rechtsordnungen, S. 19 f. ι» Maurach, A. T., S. 20 ff.; Schmidhäuser, V o m Sinn der Strafe, S, 61, 65 f.; H. Mayer, Lb., S. 33. 19 Dieses unter strafrechtlichen Aspekten erforderliche Abstellen auf die Notwendigkeit fehlt bei Kraushaar, G A 1965, S. 13 ff. u n d Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, S. 720.

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieerhältnisse

Damit findet auch die oben gestellte Frage, warum das Gesetz an die Verletzung einer solchen Pflicht als Hechtsfolge die Strafe knüpft, ihre Beantwortung: Eben weil hier bereits vor aller gesetzlichen Regelung eine rechtswerthafte Sozialpflicht, kurz eine Rechtspflicht, gegeben ist, deren Beachtung wegen ihrer besonderen Bedeutung für das Gemeinschaftsleben durch die Androhung einer Strafsanktion gesichert werden muß. Das vom allgemeinen Unrecht noch einmal als besonders schwerwiegend abgehobene, strafrechtlich relevante Unrecht ist das, was man allgemein als Verbrechen i m materiellen Sinn bezeichnet, nämlich die besonders schwere, unerträgliche Friedensstörung des Gemeinschaftslebens 20 . Wenn i m folgenden von Unrecht und Rechtspflicht gesprochen w i r d , so ist damit immer strafrechtlich relevantes, also qualifiziertes Unrecht gemeint, ohne daß die umständliche Kennzeichnung „strafrechtlich relevant" immer mitverwendet w i r d .

Freilich ist es nun m i t dieser generellen Unrechtsbestimmung noch nicht getan. Soll m i t der Erkenntnis praktisch gearbeitet werden, so gilt es als erstes, den Begriff des Gemeinwohls (gedeihlichen Zusammenlebens) aufzuschlüsseln, und zwar für die Zwecke der Untersuchung soweit, daß das ganz konkrete Verfahren der Ermittlung von Garantieverhältnissen bei den unechten Unterlassungsdelikten sichtbar gemacht werden kann. 2. Das Gemeinwohl Entsprechend der soeben genannten Zielsetzung kann es nicht die Aufgabe sein, i n Einzelheiten die verschiedenen Auffassungen über das Wesen des obersten Rechtswertes und die unterschiedlichen Gemeinwohltheorien darzulegen. So ging z. B. Stammler von einer i m wesentlichen formalen Deutung des obersten Rechts wertes aus als eines lediglich „formalen Gesichtspunktes allgemeingültiger Erwägung" 1 . Radbruch sah das oberste „Leitziel" zwar materiell, aber nicht als Einheit, sondern zergliedert i n drei oberste Werte, den Persönlichkeitswert, den K o l l e k t i v w e r t u n d den Werkwert, von denen jeweils n u r einer unter Verletzung bzw. Zurücksetzung der anderen zum obersten Richtwert festgesetzt werden könne 2 . Andere Auffassungen begriffen das oberste Leitziel nicht ideal, sondern empirisch-utilitaristisch als 20 Vgl. zum materiellen Verbrechensbegriff Schmidhäuser, V o m Sinn der Strafe, S. 62, Gesinnungsmerkmale, S. 151 ff.; Maurach, A. T., S. 1171; v. Liszt-Schmidt, S. 176 f. ; Baumann, Lb., S. 78. 1 S. 551 ff. 2 Rechtsphilosophie, S. 146 ff.

I I I . Garantieerhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

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Interessenbefriedigung, z. B. v. Jhering 3 . Das Gemeinwohl wurde einmal individualistisch als „Summe des Wohls aller Einzelnen", zum anderen u n i versalistisch, losgelöst vom Wohlergehen des Individuums konzipiert 4 .

Hier interessiert vielmehr, von einer kurz anzudeutenden Grundposition her darzutun, wie denn i m Bereich der strafrechtlichen unechten Unterlassungsdelikte der Gemeinwohlwert konkretisiert, d. h. i m Einzelfall verwirklicht wird. Das Gemeinwohl umfaßt die ökonomisch-materiellen, technischen, geistigen, sittlichen, künstlerischen, nationalen und internationalen Voraussetzungen und Beziehungen 5 , also alle i n einem weiteren Sinne kulturellen Bedingungen 6 , die die Gesamtheit und ihre Individuen benötigen, u m sich zu dem entfalten zu können, was sie an Entwicklungsmöglichkeit i n sich tragen. Das Gemeinwohl bedeutet als „ideelles Ziel" bzw. als oberster Rechtswert des rechtlichen Endzweckes für jedes Mitglied einer Gesellschaft die Aufgabe, i n seinen zwischenmenschlichen Verhältnissen jeweils das „Sozialgerechte" 7 oder „Sozialangemessene"8 zu tun. Einzelwohl und Gesamtwohl durchdringen einander; sie sind wechselseitig bedingt 9 . Der einzelne kann das Wohl, das er i n seiner Privatsphäre für sich zu erlangen sucht, nur unter dem Schutz des Gemeinwohls der Sozialordnung schaffen. Andererseits baut sich das Gesamtwohl i n seiner Eigenständigkeit — man denke nur an die ungeheure Fülle sozialer Einrichtungen, i n denen sie sich manifestiert — erst aus den Leistungen der einzelnen M i t glieder der Gesellschaft auf, deren positiver Beitrag nur auf der Grundlage von Eigenwohl möglich ist 1 0 . M i t alledem ist nun aber noch keineswegs das Gemeinwohl i n seiner „konkreten" Gestalt irgendwie erkennbar. Das konkrete Gemeinwohl einer bestimmten Gesellschaft „erwächst vielmehr erst aus konkreten Entscheidungen, die zwar, um ,sozialrichtig' zu sein, auf den wesenhaften Grundlagen beruhen müssen, die jedoch nach Maßgabe der geschichtlichen Verhältnisse und Wertanschauungen der jeweiligen 3

S. 156 ff. Vgl. zum ganzen die Ubersicht bei Henkel, Rechtsphilosophie, S. 366 ff. 5 Henkel, Rechtsphilosophie, S. 372 ff. β Messner, Gemeinwohl, S. 28; Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 17; Behrendt, S. 21 ff. 7 Utz, Sozialethik I , S. 177 ff. 8 Henkel, Rechtsphilosophie, S. 373. » Henkel, Rechtsphilosophie, S. 373 f. io Henkel, Rechtsphilosophie, S. 374. — Sieht m a n die Dinge so, so ist es n u r noch eine weltanschauliche, allerdings i n der Praxis oft sehr gewichtige Frage der Akzentuierung, ob man die Vorrangstellung des Gemeinwohls (Utz, Sozialethik, S. 145 f.) oder des Einzelwohls (Messner , Gemeinwohl, S. 40) betont. 4

7 Bärwinkel

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Sozietät zu treffen sind" 1 1 . M. a. W.: I n dem ständigen dynamischen Prozeß der Verwirklichung des Gemeinwohls müssen die fortlaufend neuen Fragen auf der Grundlage der bereits gefällten Entscheidungen getroffen werden, die ihrerseits bereits zu gewissen Strukturbildungen und Formierungen innerhalb der Gesellschaft geführt haben. Das sozialethisch-rechtliche Verständnis, m i t dem man an die Wertentscheidung einer sich (immer wieder) neu stellenden Frage wie der nach dem Vorliegen von Garantieverhältnissen herangeht, hängt also ganz wesentlich von der Erkenntnis der generellen gesellschaftlichen Struktur und deren konkreten Ausgestaltungen ab. Man w i r d also u m eine soziologisch-beschreibende Betrachtung der Phänomene als Grundlage eines dann zu fällenden rechtlichen Werturteils gar nicht herumkommen 1 2 , denn das Recht ist, wie die anderen Normenordnungen (der Sitte, Ethik, Sozialethik, Religion) auch, Teil der „Sozialordnung", deren seinsmäßige Grundlage die faktisch „gelebte Ordnung" bildet 1 3 . Damit t r i t t die Soziologie auf den Plan, und es gilt, ehe i n den folgenden Abschnitten die speziellen Fragen erörtert werden, u m des besseren Verständnisses w i l l e n einige Worte zum Verhältnis von (Rechts-)Soziologie und Recht zu sagen. Das Recht gründet i n der faktisch „gelebten Ordnung", „es lebt i n sozialen Zuständen und Prozessen, ohne die es nirgends ist" 1 4 . Damit teilt es seinen seinsmäßigen Gegenstand m i t der Soziologie, die empirisch die Gesetzmäßigkeiten sozialer Geschehensabläufe zu beschreiben sucht. „Gegenüber den Einseitigkeiten idealistischen Rechtsdenkens", das „auf unverrückbar Gültiges, auf Unverletzlichkeit und Heiligkeit des Rechts gerichtet i s t " 1 5 und ständig u m die Werttrias Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit des Rechts kreist, bringt die Rechtssoziologie nüchtern und ernüchternd die andere Seite des Rechts zur Geltung, indem sie die Verflochtenheit des Rechts i n gesellschaftliche Zusammenhänge, seine Gebundenheit an gesellschaftliche Strukturen und Formierungen aufzeigt und damit den Bereich sichtbar macht, den der Mensch bei aller willkürlichen und ideellen Ausgestaltung der Rechtsordnung als vorgegeben hinnehmen muß, soll das Recht als Regelung des Gemeinschaftslebens brauchbar sein 16 . Die Aufgabe, n Henkel, Rechtsphilosophie, S. 375. 12 Die Heranziehung einiger soziologischer Grunderkenntnisse zur Lösung des Garantenproblems soll denn auch neben den methodologischen u n d dogmatischen Aspekten der Hauptbeitrag dieser A r b e i t sein. ι» Henkel, Rechtsphilosophie, S. 21 ff., 27 f. 1 4 Fechner, Rechtsphilosophie, S. 292. is Fechner, Rechtsphilosophie, S. 268; vgl. dort überhaupt das K a p i t e l über „Rechtsphilosophie als Soziologie u n d als Metaphysik des Rechts", S. 265 ff. 16 Fechner, i n : Soziologie u n d Leben, S. 113.

. Garantieverhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

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die die Soziologie i m Dienste des Hechts zu erfüllen hat, ohne ihre Möglichkeiten zu überschreiten, hat Fechner i n einigen eindrucksvollen Sätzen umrissen: „Indem die Soziologie feststellt, was sachbedingt ist, umgrenzt sie zugleich den Kreis dessen, was der Wertentscheidung des Menschen anheimgegeben ist. Indem die Soziologie zeigt, wo der Mensch i n der Gebundenheit steht, zeigt sie zugleich, wo er i n die Entscheidung gestellt ist. Indem sie zeigt, w o der Mensch i n sachgegebenen Ordnungen ruht, zeigt sie zugleich, wo die Ordnung noch einmal neu auf den Menschen gestellt ist, wo der Mensch wollen muß, wenn er sich nicht unnötigerweise den Sachen ausliefern w i l l 1 7 . " Und weiter: „ . . . steht die Grundfrage des Rechts nach absoluten (ethischen) Bindungen oder nach der Möglichkeit der Willkürsetzung für diesen verengten Rahmen nach wie vor offen. Das Wagnis wertorientierter Entscheidung w i r d dem Menschen nicht abgenommen 18 ." Zur Vorbereitung und zur Begründung solcher Entscheidungen vermag die Soziologie Wesentliches beizutragen. I n dieser Funktion ist sie selbstverständlich keine wertneutrale Wissenschaft, sondern sie beschreibt und deutet die Wirklichkeit i m Hinblick auf die Werte, die dieser Wirklichkeit ihren Stempel (nämlich i n den unten zu beschreibenden Sinnobjektivationen) aufgedrückt haben 19 . So formt sie ihre Begriffe auch durchaus unter normativen Aspekten (wie am Begriff der „sozialen Rolle" unten deutlich wird). 3. Das Gemeinwohlelement

„Rechtsgut"

Die Erhaltung und Herstellung des gedeihlichen Zusammenlebens als eines idealen, nie voll erreichbaren Endzustandes 1 ist ein dynamischer Prozeß, der jedoch auch statische Momente (eben i n der Erhaltung des Erreichten) aufweist 2 . I m einzelnen gesehen besteht dieser Prozeß i n der Erhaltung und Förderung der verschiedenen hierzu notwendigen Güter, wobei „Güter" sowohl einfache Dinge wie komplizierte Sachverhalte (etwa die saubere Amtsführung durch die staatlichen Organe, die Wahrheitsfindung der Rechtsprechung) sein können. Von den Gütern her betrachtet bedeutet dies: Sie sind einmal i n ihrer Existenz Teil dieses Zustandes des Gemeinwohls (statisches Moment), denn sie werden bereits inhaltlich sozial geprägt: Was z.B. „Eigen17

I n : Soziologie u n d Leben, S. 116. a.a.O., S. 123. — Ganz i n diesem Sinne sind w o h l auch die Ausführungen Henkels, Rechtsphilosophie, S. 382 ff. zu verstehen. 19 Vgl. auch Fechner, i n : Soziologie u n d Leben, S. 117. ι Henkel, Rechtsphilosophie, S. 372; Utz, Sozialethik I, S. 159. 2 Vgl. zum statischen u n d dynamischen Gemeinwohlbegriff, Messner, Gemeinwohl, S. 38f.; s. auch Utz, Sozialethik I , S. 159 f. 7*

Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieerhältnisse

t u m " ist und bedeutet, kann nur anhand der sozialen Wirklichkeit innerhalb einer Gesellschaft festgestellt werden 3 . Zum anderen sind sie M i t t e l zum Zweck i n dem dynamischen Prozeß von ständigen Interessenkollisionen und -ausgleichen. Es kommt ihnen also nicht nur ein „Eigen"-Wert — sei es für den einzelnen und damit mittelbar für die Gemeinschaft, sei es unmittelbar für die Gemeinschaft — zu, sondern auch ein „Mittel"-Wert für die Gemeinschaft. Die Beziehung vom „Eigen"- zum „Mittel"-Wert ergibt sich aus dem Verhältnis von Zweck und Wert 4 . Zwar liegt es i n der Natur des Zweckes, daß sein Inhalt wertvoll ist, wenigstens für den, der i h n verfolgt 5 , aber der Wert selbst ist doch auch bereits hier vorausgesetzt®. Das Auseinanderhalten beider Begriffe ist umso mehr geboten, als angesichts der Relativität der Werte auf die Wertsubjekte der Zweck, den der eine seinem Verhalten setzt, für den anderen (etwa die Gemeinschaft) durchaus unwerthaft sein kann. Das, was als M i t t e l zur Erreichung eines Zweckes tauglich ist, also i n einem Kausalverlauf als Ursache m i t W i r k u n g einen bestimmten Sachverhalt zu verwirklichen hilft, hat Wert als Mittel 7 . Dieser „Mittel"-Wert ist nicht nur formal als Wert des bloßen Wirkens i n einem Kausalprozeß zu verstehen, sondern auch inhaltlich i m Hinblick auf den zu erreichenden Endsachverhalt, denn die Auszeichnung als M i t t e l erfährt ein Gegenstand erst i m Hinblick auf den Endwert des bezweckten Gutes. Vom „Mittel"-Wert eines Gegenstandes ist dessen „Eigen"-Wert zu unterscheiden, den er für sich schon unabhängig von seinem Mittelsein hat. Beide können durchaus miteinander i n Konkurrenz treten. So kann eine Operation durchaus schmerzhaft und darin unwerthaft sein, aber als M i t t e l zum Zwecke der Heilung ist sie wertvoll. I m Normalfall liegen „Eigen"- und „Mittel"-Wert eines Gutes für den einzelnen oder für die Gemeinschaft zusammen vor, w e i l die Substanz eines Gutes selbst für die Herstellung des Endzustandes wertvoll ist. So hat eine Fensterscheibe i n ihrer Substanz für einen Hausbesitzer einen Wert, eben den „Eigen"-Wert, für den Mieter als Mittel, einen Wohnraum abgeschlossen, hell und w a r m zu halten, 3 Vgl. dazu Fechner, Rechtsphilosophie, S. 271 ff. — A r t . 14 Abs. 2 G G : Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der A l l g e meinheit dienen. 4 Vgl. dazu Kraushaar, G A 1965, S. 18 f., aber m i t anderer Begründung als sie i m T e x t folgt. 5 „Es ist unmöglich, sich etwas als Zweck vorzunehmen, ohne daß m a n d a r i n ein Wertvolles erblickte", Hartmann, E t h i k , S. 128. β Hartmann, Ethik, S. 42 f., 128; ähnlich Henkel, Rechtsphilosophie, S. 237. ? Kraft, S. 145 ff.

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einen „Mittel"-Wert, und für die Gemeinschaft verkörpert sie i n ihrem „Eigen"-(Sach-)Wert und i n ihrem „ M i t t e l " - W e r t das Rechtsgut „Eigentum", weil sie i n ihrer Substanz und i n ihrer Funktion der Verwirklichung des Endzustandes des Gemeinwohls dient. W i r f t nun jemand die Scheibe ein, u m den dahinter i m Raum liegenden Mieter vor dem Erstickungstode zu retten, so treten eine ganze Reihe Wertveränderungen auf, wenn die Situation wieder an dem obersten Rechtswert des Gemeinwohls gemessen wird. Das Leben des Mieters ist für diesen ein Gut und für die Gemeinschaft ein Rechtsgut, denn die Existenz eines Menschen ist schlechthin die Voraussetzung für ein Zusammenleben. Die Scheibe des Hausbesitzers hat jetzt für die Gemeinschaft unter dem Wertaspekt des Gemeinwohls einen ausgesprochenen „Mittel"-Unwert, da der Zustand, den sie zu verwirklichen hilft, nämlich den Wohnraum abzuschließen, i m H i n blick auf das bedrohte Leben des Mieters unerwünscht ist. Unerwünscht ist dieser Zustand deshalb, w e i l unter der Rechtswertbetrachtung des gedeihlichen Zusammenlebens gewisse Rechtsgüter als höherwertig angesehen werden und dementsprechend gegenüber anderen eine Vorzugsstellung genießen 8 . Das Leben eines Menschen ist wertvoller etwa als Sachobjekte. Abstrakt formuliert läßt sich demnach sagen: Die i m Hinblick auf den obersten Rechtswert unterschiedliche Werteinschätzung der Güter begründet eine Rangordnung, die immer wieder dadurch aufrechterhalten und verwirklicht wird, daß der „ M i t t e l " - U n w e r t eines niederwertigen Gutes, i n den sich der „Mittel"-Wert i n der konkreten Situation verwandelt hat, beseitigt wird. Dagegen verlangt die Rechtsordnung die Beseitigung des „Eigen"(Sach-) Wertes des niedrigeren Gutes i m Prinzip nicht. Kann der Retter noch rechtzeitig das Fenster öffnen, so darf er es nicht einwerfen. Insoweit bleiben also auch die niederwertigen Güter noch rechtlich geschützt. Freilich ist dieser Schutz dadurch relativiert, daß unter Umständen die Beseitigung des „Mittel"-Unwerts auch zur Zerstörung des „Eigen"-Werts führen muß. Auch die i m gebildeten Fall vorgenommene Handlung hat sich in ihrer normalen Werthaftigkeit verändert. Das Einwerfen der Scheibe, das normalerweise als M i t t e l zur Zerstörung der Scheibe unwerthaft ist, w i r d ein wertvoller Sachverhalt i m Hinblick auf den erstrebten und vom Gemeinwohl bestimmten Endzustand: Erhaltung des Lebens des Mieters. Für die Rechtsgüter läßt sich somit zusammenfassend sagen: Durch ihren Eigenwert und ihren Mittel(un)wert für die Gemeinschaft i m 8 Entsprechend der geschichtlich gewachsenen Wertordnung innerhalb einer Gemeinschaft — vgl. dazu Henkel, Hechtsphilosophie, S. 248 ff. (252 f.) ; Kraft, S. 239 ff.

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Hinblick auf das gedeihliche Zusammenleben haben die Güter i n unterschiedlicher Weise an dem obersten Rechtswert des Gemeinwohls teil. I n dieser Teilhabe sind sie Rechtsgüter, wenn und soweit sie notwendig 9 für die Erreichung des Endzwecks des Rechts, nämlich des gedeihlichen Zusammenlebens der Menschen innerhalb einer Gemeinschaft, sind und damit der Wahrung des obersten Rechtswerts, der i n diesem gedeihlichen Zusammenleben liegt, dienen. Der Schutz der Rechtsgüter ist also i m Hinblick auf den obersten Rechtswert relativiert, oder anders ausgedrückt, der Schutz der Rechtsgüter ist der nähere Rechtszweck, er ist aber nur M i t t e l zur Erreichung des Endzwecks 10 . Güter sind also nicht etwa nur Rechtsgüter, weil sie rechtlich geschützt sind, sondern w e i l sie dem Endzweck des Rechts dienen. Der rechtliche Schutz ist m i t anderen Worten erst die Folge ihrer Rechtsgutseigenschaft, die durch ihre Mittelfunktion und ihre Existenz als Teil des Ganzen begründet wird. Diese Bezogenheit der Rechtsgüter auf den obersten Rechtswert, die hier an dem Beispiel von „Eigen"-Wert und „Mittel"-(Un)wert der Güter dargelegt worden ist und die noch i n einer ganzen Reihe anderer Beziehungen aufzudecken wäre, war hier gegenüber der bisher einseitigen Betonung des Rechtsgüterschutzes des Strafrechts i n der L i t e r a t u r 1 1 herauszustellen, um zu verdeutlichen, warum es bei den Unterlassungsdelikten nicht einfach u m den Schutz der Rechtsgüter schlechthin gehen muß 1 2 ; das wäre nur dann der Fall, wenn generell lediglich das Rechtsgut Anfang und Ende jeder Rechtsbetrachtung wäre. Erst die als Prinzip erkannte Relativität der Rechtsgüter auf den Gemeinwohlwert legitimiert bei den unechten Unterlassungsdelikten zu der Frage und Suche nach besonderen Garantieverhältnissen als weiterer Relativierung für einen i. S. des obersten Rechtswertes wohlverstandenen Schutz der Rechtsgüter. Letztlich erklärt z. B. auch erst diese Relativität, w a r u m der Gesetzgeber i n den Straftatbeständen des Besonderen Teils befugt ist, n u r besondere Angriffsarten gegen ein Rechtsgut (etwa Diebstahl, Raub, Sachbeschädigung, Unterschlagung gegenüber dem „Eigentum") unter Strafe zu stellen, u n d nicht etwa schlicht jede Verletzung eines Rechtsgutes. E i n Rechtsgut ist eben unter Gemeinwohlaspekten nicht vor jedem A n g r i f f zu schützen — es ist nicht absolut schutzwürdig. 9

I n dem oben, S. 95 gemeinten Sinn. 10 Kraushaar, G A 1965, S. 16. 11 Vgl. etwa Maurach, A. T., S. 179; Baumann, Lb., S. 8 ff., 121 ff.; Schönke/ Schröder, 21 vor § 1 ; Welzel, Lb., S. 1 ff. (der v o m Schutz der Rechtswerte spricht). 12 Auch Kraushaar, G A 1965, S. 16 f. spricht von einer solchen Relativität, betont aber zu einseitig nur eine solche i n den Rechtfertigungssituationen.

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Die Gründe dafür, daß i m Hinblick auf das Gemeinwohl bei den unechten Unterlassungsdelikten der strafrechtliche Schutz der Hechtsgüter erst bei Vorliegen eines Garantieverhältnisses wirksam wird, sind i m nächsten Abschnitt darzulegen. Zuvor soll jedoch noch u m des besseren Verständnisses willen der Rechtsgutsbegriff abschließend umrissen werden 1 3 . Den wohl umfassendsten Katalog der Güter der sozialen Wertwelt, die auf die beschriebene Weise Rechtsgüter sind, gibt das Strafgesetzbuch i n den Tatbeständen seines Besonderen Teils. Es erhebt sich hier die Frage, wieso der Rechtsgutsbegriff Dreh- und Angelpunkt 1 4 der strafgesetzlichen Tatbestandsbildung, -auslegung und Rechtsfortbildung ist, während doch oben festgestellt wurde, daß das strafrechtliche Unrecht i n erster Linie einen Verstoß gegen sittliche Werte bedeutet 1 5 . Hier gilt es, sich an das zu erinnern, was oben 16 gesagt wurde: Das Gut ist gedanklich als Wertobjekt vom Wert zu trennen. Erfahren („schauen") können w i r die Werte jedoch nur i n den Gütern und sittlichen Sachverhalten. Die sittlichen Werte sind auf den Güterwerten fundiert. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich notwendig, wie das Strafgesetzbuch sozial-ethisch unwerthaftes Verhalten i n seinem Kernbestand (also von der A r t des Angriffs einmal abgesehen) schildern muß: als Verletzung von Gütern, die dem Endzweck des Rechts, dem gedeihlichen Zusammenleben der Menschen innerhalb einer Gemeinschaft, dienen. Der Begriff des Rechtsgutes w i r d nun i n der Rechtswissenschaft i n einem verallgemeinerten Sinn verwendet 1 7 . Es ist eine bekannte Tatsache, daß vielen Objekten und Sachverhalten (vor allem der gleichen Gattung) i n der Gemeinschaft der gleiche Wert zugesprochen wird, z. B. hat jede physische Existenz eines Menschen den gleichen Wert als Leben, jede der vielen tausend Sachen, m i t denen w i r i n Berührung kommen, den gleichen Wert als Eigentum, jedes bestimmt geartete Verhältnis eines Menschen zu einem anderen den gleichen Wert der Freundschaft usw. Diese Gleichheit vieler einzelner Güter unter jeweils besonderen Wertaspekten bringt uns dazu, den Gutsbegriff losgelöst vom sachlichen Substrat vergeistigend zu verall!» Allerdings ohne auf die unterschiedlichen Auffassungen i n der L i t e r a t u r i m einzelnen einzugehen. — Vgl. dazu Μaurach, Α. T., S. 180 ff. (182, 187); Welzel, Lb., S. 2 ff., 58 f., 130 f.; Baumann, Lb., S. 121 ff.; Mezger-Blei, Stub., S. 113 ff.; Schönke/Schröder, 21 vor § 1. Bei aller Relativität auf den obersten Rechtswert! is Siehe oben S. 42. ie S. 41 ff. " Vgl. die i n Anm. 13 Genannten.

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gemeinern. Unser abstrahierendes Denkvermögen läßt uns das Gut der Freundschaft, das Gut der Treue, das Gut des menschlichen Lebens, das Gut des Eigentums schlechthin „erleben" 1 8 . I n diesem Sinne müssen w i r auch den Rechtsgutsbegriff i m Strafrecht verstehen, nicht zuletzt deshalb, w e i l das Gesetz i n seinen Tatbeständen ebenfalls das Unrechtsgeschehen typisierend verallgemeinert. Rechtsgut ist i n diesem Sinne also nie das einzelne, für die Erhaltung des Rechtswerts bedeutsame Objekt, z. B. das einzelne Menschenleben, das i m konkreten Fall angegriffen wird, oder die einzelne Sache, die entwendet wird. Diese konkreten Güter sind „Verhaltensobjekte" 1 9 , während Rechtsgüter immer das Leben, das Eigentum schlechthin sind. Dabei sei daran erinnert, daß w i r i n jedem konkreten Fall i n jedem konkreten angegriffenen Verhaltensobjekt das Rechtsgut zugleich mit verletzt sehen. Es besteht also zwischen Rechtsgut und Verhaltensobjekt nicht etwa eine A r t SubsumtionsVerhältnis, denn jene Verallgemeinerung ist keine Abstraktion i. d. Sinne, daß von konkreten Merkmalen abgesehen wird. Diese begriffliche Trennung von „Verhaltensobjekt" (Rechtsgutsobjekt) und Rechtsgut ist für die Bestimmung der Garantieverhältnisse der unechten Unterlassungsdelikte insofern von Bedeutung, als es bei einigen Garantieverhältnissen auf die Hochwertigkeit des Verhaltensobjekts — und nicht des Rechtsguts — ankommt 2 0 . 4. Das Gemeinwohlelement „sozial-funktionelle und die dazugehörige „soziale Rolle"

Stellung"

Die Haupterkenntnis des vorigen Abschnitts bildete die als Prinzip erkannte Relativität der Rechtsgüter auf den obersten Rechtswert. Erst sie ermöglicht überhaupt die Frage nach weiteren Voraussetzungen, unter denen die Rechtsgüter geschützt werden. Welche das bei den unechten Unterlassungsdelikten sind und wie sie i m konkreten Fall ermittelt werden können, darüber kann eine soziologische Beschreibung der Phänomene gesellschaftlichen Zusammenlebens einigen A u f schluß geben. Betrachtet man das Verhalten der Menschen i n den Straßen und öffentlichen Verkehrsmitteln, i n Geschäften, Wohnungen und Beiß Siehe oben S. 41 f. i® Maurach, A. T., S. 182, Baumann, Lb., S. 121 f., sprechen von „ H a n d lungsobjekten". Schmidhäuser nennt sie „Rechtsgutsobjekte". 20 Siehe bereits oben S. 65 u n d auch unten z. B. S. 128, 146. — Vgl. auch ihre Bedeutung bei dem Verhältnis von Handlung u n d Unterlassung i m Bereich der Werte — S. 43 f.

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trieben, auf öffentlichen und privaten Veranstaltungen, wie sie einander grüßen, Gespräche miteinander führen, wie sie gekleidet sind und wie sich Männer gegenüber Frauen, Nachgeordnete gegenüber Vorgesetzten benehmen, welche kulturellen und sozialen Anstalten sie sich einrichten, welche Behausungen sie bauen, welche Arbeitsgeräte sie sich schaffen, wie sie ihre Freizeit verbringen — immer w i r d man feststellen, daß sich trotz aller individuellen Verschiedenheiten die Verhaltensweisen und Einrichtungen jeweils i m Grundsätzlichen gleichen. Alle diese Sitten und Gebräuche findet der einzelne bereits vor und benutzt sie w i l l i g „als Ausdruck, als selbstverständliches Verhaltensschema" 1 für das, was er i n einer bestimmten Situation gerade bezweckt. Sie sind „objektivierte Sinnbezüge", die den menschlichen Verkehr von der immer wieder aufs neue notwendig werdenden Suche nach gemeinsamen Ausdrucksformen dessen, was gerade gewollt und gemeint wird, entlastet. Solche „Sinnobjektivationen" durchziehen das gesamte menschliche Miteinandersein. Ob es sich um Ehe und Familie oder das Berufsleben, um die schulische Erziehung oder die Religion, um die Freizeitbeschäftigung oder sonstige Interessen, um die Zugehörigkeit zu einem Volk und einem Staat 2 usw. handelt, überall werden die Menschen „von diesen objektivierten Sinnfeldern angesprochen und zu bestimmten, schon i m voraus definierten Handlungsfiguren angeleitet", deren Sinn jeder einzelne für sich als gültig bzw. verpflichtend anerkennt, ohne daß er glaubt, sie wesentlich beeinflussen zu können, aber auch ohne ihre Einhaltung als Zwang zu empfinden. „Objektivierte Sinnbezüge" 3 gestalten also i m wesentlichen das menschliche Zusammenleben i n all seinen Beziehungen und Formen. Sie bedeuten i n ihrem Rationalisierungseffekt eine Qualität 4 des Soziallebens (des zwischenmenschlichen Handelns), indem nämlich „eine schier ins Unendliche gehende Summe von Zeit- und Energieeinheiten persönlich-individuellen Aufwands" für die Suche nach Verständigungsformen eingespart wird. Damit Hand i n Hand geht eine zweite Qualität, nämlich die Entlastungsleistung, die Hilfe des Sozialen für den einzelnen, ohne die 1 Dies u n d das folgende beruht i m Wesentlichen auf den Darlegungen von Wössner, S. 380 ff. 2 Vgl. die Fülle der standardisierten Verhaltensmuster, die Wössner, S. 382 ff. aus diesen Bereichen aufzählt. 3 Henkel nennt sie „Institutionen". Seine Ausführungen hierzu i n Rechtsphilosophie, S. 261 ff. gehen sachlich i n genau die gleiche Richtung w i e der Text, der jedoch bewußt mehr der phänomenologisch-beschreibenden M e thode von Wössner u n d Lersch folgt, u m die „deskriptive" Grundlage der zu fällenden Werturteile zu betonen. 4 Z u den „Qualitäten" des sozialen Phänomens vgl. Wössner, S. 388 ff.

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er nicht existieren könnte; denn was könnte der Mensch heute von den Dingen des täglichen Lebens, wie Nahrungsmitteln, Kleidung, Wohnung, Verkehrsmitteln, ganz zu schweigen von anderen Dingen, die w i r als selbstverständlich hinnehmen, wie Schulen, Theater, Bücher, Fernsehen, Rundfunk, Krankenhäuser usw., selbst, allein auf sich gestellt, herstellen 5 ? Nur durch eine „ A r b e i t s t e i l u n g 6 bzw. Kooperation 7 , bei der jeder die i h m zukommenden (d. h. zugeteilten oder freiw i l l i g übernommenen) Aufgaben erfüllt und gleichzeitig von den Ergebnissen der Aufgabenerfüllung der anderen profitiert, können die Menschen i n einer der Gegenwart angemessenen Weise sich selbst verwirklichen. Damit ist der Kern einer dritten Qualität des Soziallebens berührt, die man die „kollektive Qualität" nennen kann. Die Kollektivierung oder „Vergruppung" des Soziallebens bedeutet demnach nicht die bloße Summierung menschlicher Individuen bzw. menschlicher Handlungen, sondern ein Zusammenwirken, Zusammenfühlen, Zusammendenken i m Sinne einer Wechselwirkung, gegenseitigen Beeinflussung und Ergänzung zur Erreichung gemeinsamer Zwecke 8 . Die „Sinnobjektivationen", die das Sozialleben ausbildet, sind der äußere, „sinnfällige" Ausdruck dieser Kollektivierung; denn man kann leicht feststellen, daß die „objektiven Sinnbezüge" einander entsprechend den jeweiligen Kollektivierungsformen ergänzen. (Man vergleiche bloß die einzelnen Berufsbilder heute i m Zuge zunehmender Spezialisierung oder allgemein die standardisierten Antwortreaktionen i n Sitten und Gebräuchen.) Kollektivierung und deren Sozialisierung, d. h. ihre Ausgestaltung i n objektiven Sinnbezügen, sind die „Wesenspfeiler der menschlichen Vergesellschaftung" 9 . Eine letzte Grundqualität des Soziallebens, die die vorigen i n gewisser Weise noch einmal zusammenfaßt, w i r d gerade für das Recht bedeutsam, nämlich die normative Qualität. Kollektivierung und „soziale Sinnobjektivationen" verlangen vom einzelnen ein standardisiertes Verhalten, eine Anpassung an ein Verhaltensmuster — an eine Norm 1 0 . M i t dieser Norm konformes Verhalten zieht eine Belohnung nach sich, Nichtübereinstimmung hat eine Sanktion zur Folge. 5 Vgl. Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 14 f. β Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 14. ι Wössner, S. 392, 423 ff. — Dieser Begriff ist i m Sinne einer „ F u n k t i o n s teilung" weiter zu verstehen als der zu enge Begriff der Arbeitsteilung. β Die aber letzten Endes i m m e r dem einzelnen zugute kommen sollen — vgl. dazu Wössner, S. 393. 9 Wössner, S. 393. 10 Siehe dazu auch Henkel, Hechtsphilosophie, S. 265 f.

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Die Herausstellung dieser Qualitäten menschlichen Zusammenlebens ermöglicht es, die Grundstrukturen der menschlichen Gesellschaft leichter verständlich aufzuzeigen. Unter Struktur w i r d dabei hier „der gefügehafte Aufbau eines Gebildes, i n dem jeder der unterscheidbaren Teile seinen unvertauschbaren Stellenwert und seine spezielle Funktion besitzt", verstanden 11 . Gilt es die Gebilde des Soziallebens, die i m Zuge zwischenmenschlichen Handelns entstehen und die hauptsächlich durch Kollektivierung und Sinnobjektivation gekennzeichnet sind, m i t einem Namen zu versehen, so bieten sich hierfür i n erster Linie die Bezeichnungen „soziales Feld" und „Gruppe" an. Beide termini dienen i n der Soziologie recht unterschiedlichen Begriffsbestimmungen 12 . Für die vorliegende Darstellung sei u m der Anschaulichkeit w i l l e n nicht der aus der Physik stammende Feldbegriff 1 3 , sondern der Ausdruck „Gruppe" gewählt. Aus der Fülle der Gruppendefinitionen und Gruppenarten 14 ist hier nur die Minimalbestimmung i m obigen Sinne interessant: Eine Gruppe ist das Miteinander einer Mehrzahl aufeinander bezogener und voneinander abhängiger Menschen (Kollektivierung) i n einer sinnbestimmten Einheit (Objektivation) 1 5 . Eine solche Gruppe ist jede soziale Konfiguration i n ihrer konkreten Gestalt, sei sie „öffentlich" oder privater Natur, dauernd oder nur vorübergehend, oberflächlich oder tiefergehend; also z. B. Ehe und Familie, Betriebe, Vereine, Schulen, Freundschaften, Expeditionen, Reisegesellschaften, Wirtschaftsverbände, Tanzparties, Volk und Staat. Von der sinnbestimmten Einheit, m. a. W. der „überindividuellen Aufgabe" der Gruppe her gesehen, gewinnt diese ihre Struktur, denn dadurch w i r d jedem Teil des Ganzen, m. a. W. jedem Individuum der Gruppe sachlich eine bestimmte Teilfunktion zugeordnet. Jenes durch die Aufgabe (den Sinn) sachlich vorgegebene Beziehungsgefüge von Teilfunktionen, das äußerlich erkennbar und als i m Typ beständiges erfaßbar ist i n jenen objektiven Sinnbezügen standardisierter Verhaltensmuster, ist die Struktur der Gruppe. n Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 155 — dort auch: „Die S t r u k t u r ist es, die einem Gebilde den Charakter der Ganzheit verleiht u n d es mehr u n d etwas anderes sein läßt als die Summe seiner Teile." 12 Vgl. z.B. die unterschiedliche Verwendung des Feldbegriffs bei Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 16 ff., der i h n zur Bezeichnung übergeordneter Sozialbereiche gebraucht, während Wössner, S. 401 f. m i t i h m auch die einzelnen sozialen Konfigurationen meint. ι 3 Vgl. zu i h m eingehend Wössner, S. 395 ff. 14 Vgl. dazu ausführlich Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 32. is Grundlagen dieser Definition waren die Definition der „Gruppe" bei Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 33, u n d die Definition des sozialen Feldes bei Wössner, S. 395.

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Durch die sachliche Teilfunktion w i r d die Stellung des einzelnen i m Beziehungsgefüge des Gruppenganzen unverwechselbar festgelegt. I n der Soziologie werden für diese Stellung die Begriffe „Status", „Position" und „Holle" gebraucht. M i t allen drei Begriffen werden lediglich unter verschiedenen Aspekten unterschiedliche Merkmale ein und derselben Stellung akzentuiert 1 6 . „Position" meint die funktionelle Stellung eines Individuums innerhalb einer Gruppe (in Zukunft w i r d sie hier sozial-funktionelle Stellung genannt). Die „Rolle", die jemand gemäß seiner Position spielt, bezeichnet deren dynamischen Aspekt; sie bedeutet die A r t und Weise, wie jemand den Anforderungen seiner Position gerecht w i r d ; m. a. W.: die Rolle ist die Summe, das Bündel der Verhaltensweisen, die zu einer sozial-funktionellen Stellung i n ihrer Bedeutung bezüglich des Ganzen und seines Gesamtziels hinzugehören. Der Rollenbegriff ist objektiv zu verstehen, d. h. er umfaßt Verhaltensweisen, die sich i n standardisierten Verhaltensmustern objektivieren. „Status" betrifft die rangmäßige Einordnung und Wertschätzung, die eine Position i m Vergleich zu anderen innerhalb einer Gruppe oder eines Gruppenplurals erfährt. Das Verhältnis zwischen sozial-funktioneller Stellung und Rolle kann man etwa folgendermaßen kennzeichnen: Die sozial-funktionelle Stellung, die der einzelne innehat, w i r d durch den ihr zukommenden Teil der Gemeinschaftsaufgabe bestimmt. Welche Verhaltensweisen i m einzelnen der Inhaber dieser Stellung wahrnehmen muß, sagt die Rolle mit ihren typisierten Verhaltensmustern. Der Rollenbegriff dient damit der inhaltlichen Präzisierung der sozial-funktionellen Stellung. Er ist der Schlüssel zur Erfassung der sozial-funktionellen Stellung, und an i h n soll deshalb i m folgenden vornehmlich angeknüpft werden. Wenn also i n Z u k u n f t von der sozialen Rolle gesprochen w i r d , so ist damit i m m e r zugleich die sozial-funktionelle Stellung gemeint, ohne daß dies fortlaufend erwähnt w i r d .

Dadurch, daß die Rolle die Teilfunktion des einzelnen erfaßt, die er i m Hinblick auf die Erfüllung der Gruppenaufgabe hat, w i r d die Rolle weitgehend objektiv bestimmt. Die Beziehung zwischen Rolle und Gruppe gestattet noch eine weitere Präzisierung der Rolle. Aus dem sozialen Beziehungsgefüge innerhalb jeder Gruppe ergibt sich, daß jeder Rolle eine Gegen- oder Komplementärrolle entspricht 17 . Man kann z. B. nicht Vater und Mutter ohne Kind, Lehrer ohne Schüler, Gatte ohne Gattin, Arzt oder Anwalt ohne Klienten, Freund ohne ie Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 158 ff. — Vgl. zum ganzen auch Wössner, S. 549 ff. m i t umfangreicher Literatur. Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 163; Wössner, S. 360 ff., Maihof er, V o m Sinn menschlicher Ordnung, S. 49 f.

I I I . Garantie Verhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

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einen anderen sein. Die Betrachtung der Komplementärrolle kann also unter Umständen noch genauer Aufschluß darüber geben, welche Verhaltensweisen i m einzelnen zu einer Rolle gehören. (Gerade weil das kleine K i n d i m einzelnen ganz spezifische Bedürfnisse entwickelt, umfaßt die Rolle der Mutter entsprechende spezielle Verhaltensweisen.) Für eine wertteleologische Unrechtsbetrachtung, die auf den obersten Rechtswert des gedeihlichen Zusammenlebens ausgerichtet ist, erhebt sich nun die Frage, ob die „soziale Rolle" der Begriff ist, der für die Bestimmung der Garantieverhältnisse der unechten Unterlassungsdelikte bedeutsam werden kann. Die erste Voraussetzung, die der Rollenbegriff i n diesem Zusammenhang erfüllen muß, nämlich normative Qualität zu besitzen 18 , läßt sich aus dem Gefüge sozialer Zusammenhänge verdeutlichen. Einer Rolle entsprechen i n der Regel mehrere Gegenrollen. So entsprechen der Rolle des Kaufmanns die Komplementärrollen der K u n den und der Lieferanten; ein Lehrer spielt nicht nur die Rolle gegenüber seinen Schülern, sondern auch gegenüber deren Eltern, seinen Kollegen und seinen Vorgesetzten. A u f der anderen Seite ist jeder Mensch immer Inhaber einer Mehr- bzw. Vielzahl von Rollen. Jemand ist z. B. Vater, Gatte, Maschinenschlosser, Parteifunktionär, Mitglied eines Sportvereins, Nachbar, Radiohörer usw. Die Konfliktsituationen i n diesem Plural von Rollen und Komplementärrollen lassen dem einzelnen zum Bewußtsein kommen, daß die Rolle nicht nur ein „ F u n k tionsschema", sondern auch ein „Ordnungsschema" ist: der normative Charakter der Rolle w i r d sichtbar 19 . Je vielfältiger die Zahl der Rollen und je größer die Zahl der dazugehörigen Komplementärrollen ist, desto höher ist der Integrationsgrad einer Gesellschaft, desto größer ist auch die Entlastungsfunktion des Gemeinschaftslebens für das konstitutionsschwache Individuum, und desto mehr ist auch der einzelne darauf angewiesen, daß die anderen ihre Rollen einhalten. Die normative Qualität der Rolle garantiert diese notwendige Stabilisierung 2 0 . „Soziale Rollen haben also Forderungscharakter. Sie sind objektive Verhaltensvorschriften, mit denen sich der einzelne als Inhaber einer Position i n Ausübung der damit verbundenen Funktion konfrontiert sieht und i n denen Wesentliches gefordert, manches verboten und einiges erlaubt w i r d 2 1 . " Die Rolle w i r d i m Wege geistigbegrifflicher Sinnobjektivation als „Normenbündel" aufgefaßt. 18

Vgl. bereits die kurze Andeutung oben S. 106. Dazu eingehend Wössner, S. 560 ff. ; Henkel, Rechtsphilosophie, S. 84. 20 Wössner, S. 242, 563. 21 Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 166. 19

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K a n n also eine Unrechtsbetrachtung an diese normative Qualität anknüpfen, so ist andererseits zu beachten, daß das Recht die Sozialrolle nicht nur als Anknüpfungspunkt nimmt, sondern sie auch selbst von sich aus mitgestaltet, indem nämlich die von i h m ausdrücklich gesetzten Normen m i t ihren begrifflich scharf fixierten Inhalten ihrerseits auch wieder i n das Sozialbewußtsein eindringen, beachtet werden und damit als Teil der Sozialrolle existieren. Dieser letzte Satz bedarf n u n gewiß, wenn er nicht bloße Behauptung bleiben soll, noch näherer Erläuterung: Recht u n d Sozialethik konvergieren zwar weitgehend i m Hinblick auf den Wert des Gemeinwohls, ist doch i n dieser Sicht das Recht lediglich ein Ausschnitt der Sozialethik, aber es darf doch andererseits auch nicht übersehen werden, daß sie divergieren, u n d zwar deshalb, w e i l die Gesellschaft beide Bereiche unterschiedlich behandelt. A m augenfälligsten unterscheiden sich die Rechtsnormen von den „ n u r " sozialethischen dadurch, daß die Gesellschaft eigens einen Machtapparat zur Erzwingung u n d Einhaltung jener organisiert 2 2 . Gerichte als Spruchinstanzen entscheiden darüber, ob ein Verhalten sozialethischen Normen entspricht, gesetzgeberische Instanzen zeichnen solche Sozialanforderungen i n Gesetzen auf. „Rationale Durchplanung der Verhaltensanforderungen" u n d „ p l a n mäßige Entfaltung der Reaktionen bei Normverstößen", das bedeutet V o r ankündigung u n d Vorausberechenbarkeit der Folgen sozialen Verhaltens, spielen hier eine wesentliche Rolle. Durch die Spezialbehandlung erscheint i n einem Ausleseprozeß das Recht als eine weitgehend verselbständigte Normenordnung 2 3 . Es gründet sich nach wie vor auf die Sozialethik, beeinflußt aber seinerseits nachhaltig die soziale Wertordnung, indem es m i t seiner genauen inhaltlichen Umreißung der Normen vorhandene Sozialwertungen unterstützt u n d stabilisiert u n d anderen, bisher unsicheren, zur Anerkennung v e r h i l f t oder wieder andere zurückdrängt 2 4 . I n diesem Sinne kann man das Verhältnis von sozialer Wertordnung u n d Rechtsordnung als ein „gegenseitiges Tragen u n d Getragensein" 2 5 bezeichnen. — Dabei sei aber noch einmal klargestellt: Der Ausleseprozeß (die Spezialbehandlung) ist nach der hier vorgetragenen Auffassung nicht K r i t e r i u m des Rechts, das dieses von der Sozialethik abhebt 2 6 , sondern lediglich die Folge des bereits zwischen Recht u n d Sozialethik darin bestehenden Unterschieds, daß das Recht (in diesem Zusammenhang jedenfalls das Straf recht) i m Gegensatz zur 22 Vgl. Rehfeldt, S. 14ff.; zum ganzen Henkel, Rechtsphilosophie, S. 152 f., dort auch die folgenden Zitate. 23 „Recht" erscheint i n diesem Differenzierungsprozeß als „die Gesamtheit der vor den Gerichten spruchbedürftigen Verhaltensnormen" (Henkel, Rechtsphilosophie, S. 153); vgl. auch König, i n : Fischer-Lexikon, S. 236. 24 Schmidhäuser, V o n den zwei Rechtsordnungen, S. 17; Henkel, Rechtsphilosophie, S. 255 f. u n d 259 f. 25 Henkel, Rechtsphilosophie, S. 147. Schmidhäuser, V o n den zwei Rechtsordnungen, S. 25 spricht von einer „unmittelbaren u n d notwendigen Wechselbeziehung". 26 Wie z. B. Henkel, Rehfeldt u n d König annehmen, siehe oben A n m . 22 u. 23. — M i t diesem F o r m a l k r i t e r i u m k a n n m a n sich nicht begnügen, denn es erhebt sich sofort die Frage nach dem „ w a r u m " der Spezialbehandlung u n d hier könnte wiederum n u r m i t dem Hinweis auf den obersten Rechtswert geantwortet werden.

I I I . Garantieerhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

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Sozialethik nur die für das Gemeinwohl notwendigen Normen erfaßt 2 7 . — Damit dürfte begründet sein, w a r u m eine Rechtsnorm als Sozialnorm zum „Normenbündel" einer „sozialen Rolle" gehören kann.

Die Bedeutung des Rollenbegriffs für das Unrecht der Unterlassungsdelikte liegt auf der Hand. Wenn sich das Sozialleben mit seinen geschilderten Qualitäten so abspielt, daß jeder seine Rollen m i t den abgegrenzten Bereichen geforderter Verhaltensweisen einhalten muß, weil sonst das menschliche Zusammenleben gestört würde, dann muß das Recht diesem Gefüge von sozial-funktionellen Stellungen und Rollenkonstellationen Rechnung tragen. Es kann i n seinen Geboten nur rollengemäßes (im Sinne von zur Rolle gehörigem), nicht aber rollenfremdes Verhalten verlangen. Das heißt für die unechten Unterlassungsdelikte: Es kann nur derjenige wegen der Nichtabwendung eines Erfolges bestraft werden, zu dessen Rolle die Abwendung gehörte. I n diesem „sozial-funktionellen Prinzip", das das Unrecht der Unterlassungsdelikte durchzieht, findet also der oft geäußerte Satz, daß nicht jeder und auch nicht alle, die die Möglichkeit dazu haben, rechtlich verpflichtet sein können, einen schädlichen Erfolg abzuwenden 28 , seine eigentliche soziologische, axiologische und unter Gemeinwohlaspekten rechtliche Begründung. Auch die oben 29 offengelassene Frage, ob das gesetzliche Verhaltensmerkmal (z. B. „töten") nur von vornherein unter Berücksichtigung eines Garantieverhältnisses als Unterlassungsmerkmal verstanden werden kann, oder ob man es zunächst als Unterlassungsmerkmal interpretiert und sodann durch das Erfordernis eines Garantieverhältnisses einschränkt, w i r d hier beantwortet. Von einer Unterlassung kann man rechtlich nur reden, wenn eine soziale Rolle eine Handlung gebietet. Das bedeutet: Das Verhaltensmerkmal i n einem Tatbestand kann überhaupt nur bei vorhandenem Garantieverhältnis als Unterlassungsmerkmal verstanden werden. Die soziale Rolle ist damit ein Strukturelement des Garantieverhältnisses, m. a. W. sie ist ein Wertungssachverhalt i m Garantieverhältnis. — Da der Begriff der sozialen Rolle normativ zu verstehen ist, gehören innerhalb der Garantieverhältnisse zu seinem Sachverhalt alle Merkmale, die einen sozialethischen Gehalt haben, d. h. eine einzelne sozialethische Pflicht innerhalb der Rolle begründen. Unter dem Aspekt des obersten Rechtswertes kann die soziale Rolle weiter präzisiert werden. Für das Strafrecht sind nur solche Rollen 27 Ganz i m Sinne der hier vorgetragenen Meinung Schmidhäuser, zwei Rechtsordnungen, S. 19 f. i n Verbindung m i t S. 25. 28 Siehe oben S. 18. 29 s. 22.

V o n den

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relevant, deren Verwirklichung für das gedeihliche Zusammenleben (das Sozialleben) notwendig ist. Daher scheiden verschiedene Rollentypen aus dem Rechtsbereich aus. Das sind zunächst die Rollen derjenigen Gruppen, deren „Sinnorientierung" bzw. „Aufgabe" oder „Zweckverfolgung" nicht für das Gemeinschaftsleben notwendig etwa i n dem Sinne sind, daß sie grundlegende, wichtige Bedürfnisse und Interessen des einzelnen, die dann die meisten auch haben, befriedigen. Hierzu zählen etwa Freundschafts- und Nachbarschaftsverhältnisse 30 oder, um einige Beispiele zu geben, i n denen eine Garantenstellung abgelehnt wurde: Zechgemeinschaften, Liebesverhältnisse, zufällige Gefahrengemeinschaften 31 . Aber auch innerhalb von Gruppen, deren Aufgabenerfüllung und „Sinn" wichtig für die ganze Gemeinschaft sind, wie etwa Familien, Schulen, Betriebe, religiöse Gemeinschaften, Sportvereine usw., gibt es Rollen unterschiedlicher rechtlicher Relevanz. Es sind die gruppennotwendigen von den gruppenmögiichen Rollen zu unterscheiden 32 . Die Erfahrung lehrt, daß es i n manchen Gruppen nicht nur von der A u f gabe her gesehen sachlich funktionsnotwendige Rollen gibt, sondern auch solche, die m i t der Teilfunktion nichts unmittelbar zu tun haben, sondern sich vielmehr aus der Gruppensituation ergeben und ermöglicht werden. Dazu gehören etwa die Rolle des Nesthäkchens oder des Lieblings, die ein K i n d innerhalb der Familie einnimmt, die des Pantoffelhelden i n der Ehe, des Prügelknaben oder Sündenbocks, dem die Fehler der gesamten Gruppe angelastet werden, des Strebers i n der Schule, des Angebers, des Opponenten und Unruhestifters i n einem Betrieb 3 3 , des Spitzels und Denunzianten i m Konzentrationslager, des Aschenbrödels, Märtyrers, Spaßmachers usw. 3 4 . A l l e diese Rollen besitzen von der Sinnverwirklichung der Gruppe her keinen und damit auch keinen sozialen und rechtlichen Forderungscharakter, sondern 30 Vgl. Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 162; Wössner, S. 401 f. D a m i t ist nicht gesagt, daß sie nicht f ü r den einzelnen Menschen wertvolle Hilfe bedeuten u n d auch dem Gemeinschaftsleben zustatten kommen k ö n nen, aber unentbehrlich sind sie nicht. — Vgl. z.B. auch die oben S.78 zitierten Äußerungen Kohlers. si Schönke/Schröder, 108 vor § 1. 32 Lersch, Der Mensch als soziales Wesen, S. 164, auch zum folgenden. — Die dritte Kategorie der Wnnschrollen, die Lersch, S. 165, aufführt, ist sozialpsychologisch interessant. F ü r die hiesige Untersuchung mag sie zu den gruppenmöglichen Rollen geschlagen werden. 33 Dagegen ist z. B. die Rolle der Opposition i m Parlament eine s t r u k t u r notwendige. 34 Vgl. auch das anschauliche Beispiel bei Newcomb, S. 471: „ B e i einer Cocktailparty steht es e i n e m . . . frei, die Rollen des Clowns, des Diskussionsteilnehmers, des wohlwollenden Zuhörers u n d selbst die Rolle eines einsiedlerischen Trinkers zu übernehmen, n u r der Gastgeber hat eine k l a r vorgeschriebene Rolle."

I I I . Garantieerhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

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allenfalls, wie Lersch 35 es anschaulich formuliert, einen „ Auf ford erungscharakter" : Der einzelne fühlt sich durch die Gruppensituation angeregt (vielleicht w i r d er auch von den anderen dazu gedrängt), eine Rolle dieser A r t zu realisieren. — Von diesen beiden Rollengruppen kommen nur die Rollen mit Forderungscharakter, also die gruppennotwendigen oder strukturbedingten, für das Strafrecht i n Betracht, da nur sie notwendig für ein gedeihliches Zusammenleben sind. I m Hinblick auf die Anwendung des obersten Rechtswertes als Wertmaßstab gewinnt noch eine andere Unterscheidung von Rollen Bedeutung. Es gibt Rollen innerhalb einer Einzelgruppe und Rollen, die der Mensch innerhalb der Gesamtgesellschaft spielt. Bei den EinzelgruppenroHen findet unter Rechtswertaspekten eine doppelte Wertung verschiedener Wertungssachverhalte statt. Einmal w i r d die Einzelgruppe, deren Element die Rolle ist, an ihrer Aufgabe bewertet, d. h. es w i r d gefragt, ob diese Gruppe nach ihrem Sinn und Zweck notwendig für ein gedeihliches Zusammenleben ist. Damit w i r d ein Teil der Gruppen — wie oben bereits geschildert 36 — und der entsprechenden Rollen als rechtlich irrelevant ausgeschieden. Zum anderen werden die durch die Aufgabenstellung der betreffenden notwendigen Gruppe bereits fixierten Rollen wiederum unter dem Rechtswertaspekt daraufhin untersucht, ob sie strukturell notwendig oder nur gruppenmöglich sind, m. a. W. ob sie zur Erfüllung der Gruppenaufgabe notwendig sind oder nicht. Anders liegt es bei Rollen innerhalb der Gesamtgesellschaft. A u f gabe der gesamten Gesellschaft ist, das Gemeinwohl zu verwirklichen. Das ist der Sachverhalt, der unmittelbar selbst den obersten Rechtswert trägt. Die Rolle innerhalb der Gesamtgesellschaft w i r d also bereits i n ihrem Inhalt von der Aufgabe, das Gemeinwohl zu verwirklichen, also vom obersten Rechtswert selbst unmittelbar festgelegt. Damit ist auch zugleich über die strukturelle Notwendigkeit der Rolle innerhalb der Gesamtgemeinschaft für das gemeine Wohl entschieden. Es findet also bei der Rollenauswahl für die Garantieverhältnisse nur ein Wertungsakt statt. Deshalb ist ihre Erfassung schwieriger. Beispiele sind etwa die Berufsrollen i n ihren außerbetrieblichen W i r k u n gen oder, wenn man an Beispiele aus dem Bereich der Unterlassungsdelikte denkt, die Rolle eines Gefahrenbegründers aus vorangegangen nem Tun oder des Überwachers einer Gefahrenquelle oder des Inhabers eines sozialen Herrschaftsbereichs. Wenn hier von der Rolle des Gefahrenbegründers etc. gesprochen w i r d , so ist damit ein anderer Sachverhalt gemeint als er m i t der Garantenstellung 35 Der Mensch als soziales Wesen, S. 165. 3β S. 111 f. 8 Bärwinkel

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aus vorangegangenem gefährdenden T u n usw. bezeichnet w i r d . Die Rolle ist n u r ein Teil des gesamten Garantieverhältnisses, u n d zwar der, der die sozialethischen Pflichten zum I n h a l t hat. Den Gefahrenbegründer t r i f f t innerhalb der Gesamtgesellschaft aus dem Prinzip einer (objektiv zu begreifenden) Verantwortlichkeit des Menschen f ü r seine Handlungen die sozialethische Pflicht, Gefahren, die daraus f ü r wertvolle Gemeinschaftsobjekte (m. a. W. Rechtsgutsobjekte) entstehen, zu beseitigen. Z u dieser zunächst n u r sozialethischen Pflicht der Rolle müssen noch weitere M e r k male hinzukommen, die die sozialethische Pflicht des Gefahrenbegründers zur Hinderung des Erfolges als besonders dringlich erscheinen lassen. Erst dann existiert ein Garantieverhältnis aus vorangegangenem gefährdenden Tun, das dem bisherigen Begriff Garantenstellung entspricht. — Das w i r d i m folgenden noch dargelegt werden.

Damit ist der Begriff der Rolle i n einer phänomenologisch-werthaften Betrachtungsweise selbständig für sich, unabhängig vom Rechtsgutsbegriff, fixiert. Was eine sozial-funktionelle Stellung unter rechtlich-normativen Aspekten i n ihrer Rolle an Verhaltensweisen zum Inhalt hat, läßt sich phänomenologisch anhand der ausgebildeten Sinnobjektivationen, die aus den standardisierten Verhaltensmustern von Sitten und Gebräuchen, aus festgefügten sozialen Institutionen und schließlich aus fixierten rechtlichen Sollenssätzen bestehen, i n werthafter Betrachtung beschreiben. Strafrechtlich relevant werden innerhalb der Garantieverhältnisse unter dem Aspekt des obersten Rechtswertes nur strukturell notwendige Rollen solcher Gruppen, die i n ihrer Sinnhaftigkeit bzw. Zweckbezogenheit für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen notwendig sind. 5. Die Beziehungen von Rechtsgut und sozialer Rolle im Garantieverhältnis Zu den Aufgaben einer Gruppe kann es gehören, auch bestimmte Rechtsgutsobjekte 1 zu schützen. So gehört es zu den Aufgaben einer Familie, Leib, Leben, Freiheit und Sachgüter der Familienangehörigen zu schützen. Welche Funktionen dabei das einzelne Gruppenmitglied zu übernehmen hat, besagt seine Rolle. Diese Funktionen können unterschiedlich sein. So hat z. B. i n einer Betriebsgemeinschaft der Arbeitgeber für Leben und Gesundheit des Arbeitnehmers i m Betrieb zu sorgen, während der Arbeitnehmer für die Sachen des Arbeitgebers i m Betriebe zu sorgen hat. Das bedeutet, daß die sozialethische Pflicht der durch die Gemeinschaftsaufgabe bestimmten konkreten Rolle auch den Schutz bestimmter Rechtsgutsobjekte zum Gegenstand hat 2 . Generalisierend i m Hin1 Vgl. zu den Begriffen Rechtsgutsobjekt u n d Rechtsgut oben S. 103 f. 2 Daß zum „Norm"gegenstand noch weitere Momente gehören, interessiert

I I I . Garantieverhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

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blick auf alle gleichartigen Rollen i n allen gleichartigen Gruppen kann man sagen, daß die sozialethische Pflicht i n diesen Rollen, und damit i n der einen „typischen" Rolle, die für alle anderen steht, den Schutz eines Rechtsgutes zum Gegenstand hat 3 . Das strafrechtlich geschützte Rechtsgut ist damit der zweite Wertungssachverhalt i m Garantieverhältnis. Seine Beziehung zur Rolle gewinnt das Rechtsgut dadurch, daß sein Schutz zur Funktion der Rolle innerhalb der Gruppenaufgabe gehört. Das bedeutet, daß der einzelne zum Schutz eines Rechtsguts nur dann verpflichtet ist, wenn dies zu seiner Rolle gehört, m. a. W.: die sozialethische Pflicht, die den einzelnen trifft, ist unter dem „sozialfunktionellen Prinzip" des Unrechts der Unterlassungsdelikte keine allgemein-sozialethische, sondern eine bereits durch die Rolle spezialisierte sozialethische Pflicht. Für die unechten Unterlassungsdelikte folgt daraus: Es entsteht innerhalb eines Tatbestandes des Besonderen Teils dann von vornherein kein Garantieverhältnis, wenn der Schutz des tatbestandlich erfaßten Rechtsguts nicht zur sozialen Rolle des Betreffenden gehört. Als Beispiele zur Veranschaulichung mögen zunächst zwei Gerichtsentscheidungen dienen, i n denen jeweils ein Ehegatte wegen Brandstiftung durch Unterlassen nach § 306 verurteilt wurde, w e i l er tatenlos zusah, wie das Haus seines Ehegatten niederbrannte 4 . Zur Begründung berief sich die Rechtsprechung i n beiden Fällen auf die eheliche Vermögensfürsorgepflicht der Ehegatten untereinander. Es ist jedoch fraglich, ob diese Begründung haltbar ist. I n § 306 Ziff. 2, 3 werden bestimmte Räumlichkeiten deshalb geschützt, weil durch ihren Brand Menschenleben gefährdet werden können. Das i n dieser Vorschrift geschützte Rechtsgut ist i n erster Linie das menschliche Leben, was sich schon daraus ergibt, daß auch der Eigentümer, der sein eigenes Haus anzündet, strafbar ist, solange das Haus noch zur Wohnung von Menschen dient 5 , w e i l nämlich das Gesetz auch das Leben anderer Menschen schützen w i l l , die sich noch i n dem Haus aufhalten könnten 6. Diese Ausgestaltung der Bestimmung als abstraktes Gefährdungsdelikt bedeutet, daß i n diesem Falle Träger des Rechtsguts „Leben" nicht der einzelne, zufällig i m Hause Befindhier nicht; vgl. dazu Kraushaar, G A 1965, S. 19; Kaufmann, Normentheorie, S. 102 ff. 3 Vgl. den gleichen Vorgang der Verallgemeinerung beim Rechtsgutsbegriff oben S. 103 f. 4 R G 64, S. 278; O H G 3, S.4. δ Allg. Meinung, vgl. R G 60, S. 137; Maurach, Β . T., S.499; Schönke/Schröder, 2 zu § 306. β Welzel, Lb. (8. Aufl.), S. 388. *

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liehe ist, sondern die Allgemeinheit. Zwar darf der Eigentümer als einziger Bewohner seines Hauses dieses als Wohnhaus aufgeben, indem er es anzündet 7 , und diese Dispositionsbefugnis über das Eigentum deutet daraufhin, daß i n § 306 neben dem menschlichen Leben sekundär auch das Eigentum vor Brandstiftung durch Dritte geschützt w i r d (ausdrücklich w i r d fremdes Eigentum i n § 308 1. Altern, geschützt), aber die Qualifikation erhält die Brandstiftung i n § 306 erst durch die abstrakte Gefährdung menschlichen Lebens. Die Anwendung dieser Grundsätze auf die Brandstiftung durch Unterlassen bedeutet für das Garantieverhältnis der Ehegatten zueinander folgendes: Zündet ein Dritter das Haus der Ehefrau an und w i l l diese das Haus i m Zeitpunkt des In-Brand-Setzens auch nicht als Wohnhaus aufgeben 8 , so w i r d i m Hinblick auf § 306 Ziff. 2, 3 das Rechtsgut „Menschenleben" angegriffen, dessen Träger die Allgemeinheit ist (es kommt bei jedem Brand generell auch die Lebensgefährdung anderer als bloß der Ehegatten i n Betracht) 9 . Z u r Aufgabe der Ehegemeinschaft gehört es aber nicht, beliebig andere Menschenleben zu retten, sondern die soziale Rolle des Ehegatten hat aufgabengemäß von vornherein nur die sozialethische Pflicht zum Inhalt, das Leben des anderen Ehegatten zu schützen. Das bedeutet, daß i m Rahmen des § 306 Ziff. 2 und 3 ein Garantieverhältnis aus der sozialen Rolle des Unterlassenden als Ehegatten und dem dort geschützten Rechtsgut „Menschenleben" nicht entstehen kann. Käme i m vorliegenden F a l l die Frau i n den Flammen um, so wäre der M a n n nicht wegen Brandstiftung durch Unterlassen, sondern wegen Tötung durch Unterlassen strafbar; denn i n dem Tatbestand des §212 ist Träger des Rechtsguts „Leben" jeder einzelne, also auch die Ehefrau. Die soziale Rolle des Ehemannes gebietet es, das Leben seiner Frau zu schützen. Daher ist i n diesem F a l l das Garantieverhältnis innerhalb des § 212 entstanden.

Die zitierte Reichsgerichtsentscheidung gibt i n ihrer (ebenfalls fehlgehenden) Begründung noch ein Beispiel dafür, daß ein Garantieverhältnis nur entsteht, wenn eine soziale Rolle gerade den Schutz eines tatbestandlichen Rechtsguts zum Gegenstand hat. Das Reichsgericht beruft sich für die Bestrafung aus § 306 darauf, daß die Rechtspflicht des Ehegatten sich auch aus dem abgeschlossenen Versicherungsvertrag ergebe. Die Gruppenaufgabe der Vertragschließenden bringt jedoch für die Rollen innerhalb dieser Gruppe allenfalls nur die sozialethische Pflicht m i t sich, i m Rahmen des Vertrages die Güter des anderen zu schützen, hier also für den Mann, die Versicherung vor 7 B G H 16, S. 395 ff. gegen R G 60, S. 136. β I m F a l l der Aufgabe entfällt, wie eben ausgeführt, § 306 Ziff. 2, 3 sowieso. 9 Vgl.Böhm, Diss. S. 60 f.

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Schaden zu bewahren. Das menschliche Leben, wie es i n § 306 als Rechtsgut der Allgemeinheit erfaßt ist, zu schützen, gehört nicht zur Rolle eines Vertragspartners 10 . Es wäre also, wenn die übrigen Voraussetzungen vorgelegen hätten, allenfalls ein Versicherungsbetrug nach § 265 i n Frage gekommen 11 . Weitere Beispiele dafür, daß es schon i m Prinzip darauf ankommt, ob eine soziale Rolle den Schutz eines Rechtsguts zum Gegenstand hat oder nicht, bieten die Gruppen Krimineller. I n diesen Fällen muß differenziert werden 1 2 . Es hängt von dem Sinn, der Aufgabenstellung einer Bande Krimineller ab, ob die Rollen innerhalb einer Gangstergruppe sozialethische Pflichten zum Schutze eines Rechtsguts zum Inhalt haben oder nicht. Sind i n einer Räuberbande die Kumpane auf Leben und Tod verschworen, besteht also eine Gruppe m i t den Aspekten und Aufgaben einer engen Lebensgemeinschaft, so w i r d man keine Bedenken haben können, z. B. i n dem Fall eine sozialethische Pflicht zur Abwendung des Todeserfolges anzunehmen, wo bei einem Autounfall einer der Genossen zu verbluten droht. I n diesem Zusammenhang ist es interessant zu bemerken, daß i n dem u n t e n 1 3 eingehend besprochenen B G H - F a l l , JR 1955, S. 105 die h e r u m vagabundierenden Verlobten i m m e r h i n einen Raubversuch, einen Betrugsversuch u n d wahrscheinlich einen schweren Diebstahl begangen hatten u n d daß der Verlobte eine längere Freiheitsstrafe bereits verbüßt hatte. — Es ist also, w i e die Behandlung dieses Falles durch den Bundesgerichtshof zeigt, durchaus nicht abwegig, bei einer Gruppe K r i m i n e l l e r die Aspekte einer engen Lebensgemeinschaft für die Frage nach dem Vorliegen eines Garantieverhältnisses heranzuziehen.

Anders liegt die Situation, wenn z. B. zwei Diebe, die sich sonst nur gelegentlich i n der Kneipe treffen, über ein Trümmerfeld gehen, um Altmetall zu stehlen, und der eine von beiden i n ein Loch stürzt und sich verletzt. Aus dieser nur gelegentlichen Vergruppung mit der Aufgabe des Stehlens erwächst für den anderen nicht die Rolle, dem Abgestürzten zu helfen, da der Sinn dieser Diebstahlsgemeinschaft nicht auf den Schutz von Leib und Leben des Genossen ausgerichtet ist. Unberührt bleibt freilich die Hilfspflicht nach § 330 c. io Ebenso Böhm, Diss., S. 82 f. u So die treffende Entscheidung des B G H i n N J W 1951, S. 204 f., w o allerdings n u r die §§ 263, 265 erörtert werden u n d demzufolge § 306 nicht ausdrücklich abgelehnt w i r d . 12 Wenn dagegen Geilen, w i e sich aus dem T e x t i n FamRZ 1961, S. 153 ergibt, generell die Annahme einer „Garantenstellung des Gangsters gegenüber seinem von einer »Liquidation 4 bedrohten Mitgangster" f ü r unhaltbar hält, so beruht diese Ansicht i n ihrer Verallgemeinerung vielleicht unbewußt auf dem Dogma von der Recht- u n d Friedlosigkeit k r i m i n e l l e r bzw. u n s i t t licher Menschen, eine Auffassung, von der Rechtsprechung u n d Lehre m i t Recht mehr u n d mehr abrücken (z. B. beim Dirnenbetrug). 13 S. 177 f., 181 f.

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieerhältnisse

Diese Beispiele mögen vorerst 1 4 genügen, um darzulegen, daß und wie die beiden Wertungssachverhalte Hechtsgut und Rolle i m Garantieverhältnis i n einer pflichtenspezialisierenden Beziehung zusammenstehen müssen: Wenn i n der Ausfächerung von Verhaltensforderungen einer Rolle gemäß ihrer Teilfunktion innerhalb einer Gruppe auch eine Norm erscheint, die befiehlt, das i n Frage stehende tatbestandlich erfaßte Rechtsgut zu schützen, sind die ersten beiden Voraussetzungen für die Entstehung eines Garantieverhältnisses gegeben. 6. Die objektiven

Bewertungsmerkmale im Garantieverhältnis

des Gemeinwohls

I m Abschnitt 3 wurde das Rechtsgut als Konkretisierung des obersten Rechtswertes des Gemeinwohls dargelegt. Unter 4. wurde die soziale Rolle ebenfalls als ein Element aufgezeigt, das das gedeihliche Zusammenleben begründet, wobei der Begriff der Rolle unter den Aspekten des obersten Rechtswertes noch weiter präzisiert wurde. I m vorigen Abschnitt wurde erläutert, wie als Auswirkung dieser am obersten Rechtswert orientierten Betrachtung aus der Beziehung von Rolle und Rechtsgut eine bereits spezialisierte sozialethische Pflicht hervorgeht. Zugleich haben die Fälle des vorangegangenen gefährdenden Tuns, des Uberwachers einer Gefahrenquelle und des Inhabers eines sozialen Herrschaftsbereichs 1 deutlich werden lassen, daß die Existenz einer spezialisierten sozialethischen Pflicht nicht für eine Bestrafung wegen unechten Unterlassens ausreicht. Bis zu diesem Stadium der Arbeit ist die rechtswerthafte Betrachtung i n den Dienst einer Püichtenspezialisierung gestellt worden. Jetzt erhebt sich die Frage nach der Dringlichkeit bzw. nach der Notwendigkeit der spezialisierten sozialethischen Pflichten für ein gedeihliches Zusammenleben. Das bedeutet, daß nach besonderen Kriterien gesucht werden muß, die ebenfalls als Konkretisierung des Gemeinwohls zu den sozialethischen Pflichten hinzutreten müssen. Als Merkmale, die eine Eigenschaft der sozialethischen Pflichten, nämlich ihre Rechtswerthaftigkeit, begründen, haben sie selbst für sich genommen keinen sozialethischen Gehalt, sondern sie stellen nur den Wertungssachverhalt dar, der die Notwendigkeit der Pflicht für ein gedeihliches Zusammenleben verkörpert. Diese „objektiven Bewertungsmerkmale des Gemeinwohls", wie sie hier genannt werden sollen, bilden daher den dritten Wertungssachverhalt i m Garantieverhältnis. Da sie Eigenschaftsmerkmale der Vgl. weitere Fälle unten S. 153 ff., 174 ff., 176 ff. ι S. 113 f.

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sozialen Pflichten sind, liegt es nahe, sie i n der Nähe der Wertungssachverhalte zu suchen, die die spezialisierten sozialethischen Pflichten begründen. I n der Tat bietet die durch die Sinnorientierung der Gruppe entstandene Situation i n jeder Gruppe solche Merkmale. Sie sind von Gruppe zu Gruppe verschieden. Wenn auch i n manchen Gruppen die gleichen Merkmale auftauchen können (etwa die Hochwertigkeit des Rechtsgutsobjekts), so ist doch immer bei jeder Gruppe das Merkmal erneut aus der Situation gerade der besonderen Gruppe heraus zu finden. Eine Übertragung desselben Merkmals ohne eingehende Beachtung der Gruppensituation und -aufgabe würde die Bewertung der sozialethischen Pflicht als Rechtspflicht verzerren. Z u den objektiven Bewertungsmerkmalen gehören Kriterien verschiedenster A r t . Sie hier aufzuzählen, wäre sinnlos, da sie nur aus der jeweiligen Gruppensituation heraus zu begreifen sind. Andeutungsweise seien nur einige genannt, die i n mehreren Gruppensituationen vorkommen können, etwa die Hochwertigkeit der Rechtsgutsobjekte 2 , der Grad der Konkretisierung der Gefahr (bei vorangegangenem gefährdendem Tun), die Monopolstellung einer Sozialrolle. I m folgenden soll an einigen Fällen aufgezeigt werden, wie und welche Momente i n concreto aufgefunden werden können 3 . Ein Ehemann schaut zu, wie ein Hausierer seiner Frau an der Wohnungstür ein „Strahlengerät" verkauft und sie damit u m 20.— D M betrügt. Ist der Ehemann wegen Beihilfe zum Betrug durch Unterlassen zu bestrafen? — Der Sinn der Ehe liegt darin, daß zwei Menschen miteinander leben und ein ganzes Leben lang füreinander sorgen. Dazu gehört sicherlich auch die Sorge für das Vermögen des Ehepartners und damit die entsprechende sozialethische Pflicht des Ehemanns, seine Frau vor Ausgabe dieser 20.— D M zu bewahren. Die Pflicht der Rolle hat damit durchaus das Rechtsgut Vermögen des § 263 zum Gegenstand. Es fragt sich jedoch, ob diese Pflicht eine Rechtspflicht ist. I n der Ehe handelt es sich um die Gemeinschaft zweier erwachsener Menschen, die ihr Miteinandersein i n weitgehender Eigenverantwortlichkeit gestalten. Dementsprechend w i r d man sagen müssen, daß die sozialethische Pflicht zur Vermögensfürsorge nur dann dringlich wird, wenn die existentiell wichtigen 4 Vermögensgüter des anderen Ehegatten, mit denen der Rechtsgutsbegriff „Vermögen" des § 263 verknüpft ist, auf dem Spiele stehen. Erst dieses objektive Merkmal der existentiellen Wichtigkeit der Vermögensgüter « Nicht des Rechtsguts! 3 Vgl. i m übrigen die Fülle der Beispiele unten i m Abschnitt D. 4 Was hier wichtig ist, hängt jeweils von der Vermögenslage des einzelnen Ehepartners ab.

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieerhältnisse

für den Ehepartner macht die sozialethische Pflicht der Ehegattenrolle zur Rechtspflicht. Da die 20.— D M sicherlich nicht zu diesem Güterkreis zählen, w i r d i n diesem Fall das Garantieverhältnis des Ehemanns zu den Gütern seiner Frau nicht berührt. Es fehlt der Wertungssachverhalt eines „objektiven Bewertungsmerkmals". Ein weiteres Beispiel stammt von A r m i n Kaufmann: „Wenn morgen ein Gesetz allen Postbeamten ausdrücklich auferlegen würde, während ihrer Dienstzeit stets jede Gefahr für Leib und Leben eines Bürgers abzuwenden, so wäre damit zwar ein gesetzliches Erfolgsabwendungsgebot statuiert; keineswegs aber würde bereits aus dieser Normierung des Gebots folgen, daß der unterlassende Postbeamte aus dem Strafrahmen des § 212 StGB zu strafen wäre. Denn eine spezielle Garantenposition des Postbeamten gegenüber dem verletzten Rechtsgut und die Strafwürdigkeit i. S. des Begehungsdelikts wäre zu verneinen 5 ." Hier läßt sich aber nicht derart prinzipiell argumentieren. Sicherlich wäre nun durch das Gesetz i n der gruppennotwendigen Sozialrolle, die die Postbeamten i m Dienst einnähmen, eine Norm zur Erhaltung der Rechtsgüter Leib und Leben statuiert. Aber ob i m Einzelfall die konkrete Pflicht, das Leben eines besonderen Menschen zu schützen, eine Rechtspflicht i n dem Sinne ist, daß ihre Beachtung für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen notwendig ist, hängt von dem weiteren objektiven Bewertungsmerkmal ab, das sich für diesen F a l l aus dem Zusammenhang, i n dem die Norm m i t anderen Normen i m gesamten Organisationsplan des Staates steht, ergibt. Sollten die Postbediensteten während der Dienstzeit polizeiliche Aufgaben an Stelle der Polizei oder als eine A r t Hilfspolizei, um diese zu entlasten, ausüben 6 , so ist die Beachtung der Einzelpflicht notwendig, und der Bedienstete, der ihr nicht nachkommt, kann aus § 212 strafbar sein. Anders, wenn die Norm mehr als zusätzlicher, zwar wünschenswerter, aber nicht unbedingt notwendiger Schutz der Bürger gedacht ist, den der einzelne Postbedienstete nebenher anläßlich seiner Dienstverrichtung bewirkt 7 . Wenn dabei die Norm dann für die Aufstellung des Organisationsplanes nicht ausschlaggebend ist, weil ihre Statuierung zwar ganz nützlich und sinnvoll ist, man sie aber andererseits bei der Normierung entsprechender Pflichten anderer Beamten (etwa der 5 JuS 1961, S. 177; ebenso schon i n Dogmatik, S.285; zustimmend Böhm, JuS 1961, S. 181. ® Der Briefträger macht Streifendienst! — Diese Konsequenz i m Tatsächlichen ist absonderlich; das liegt aber daran, daß der F a l l Kaufmanns an sich schon grotesk erfunden ist. — Daß allerdings die Post u . U . auch Aufgaben nichtpostalischer A r t übernimmt, haben die Ereignisse u m die Berliner Mauer gezeigt, wo die Post die Passierscheinausgabe übernahm. 7 Etwa der Briefträger hat mitzuteilen, daß irgendwo i m W i n t e r nicht gestreut ist, usw.

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Polizeibeamten) nicht m i t einkalkuliert, dann ist sie auch für ein gedeihliches Zusammenleben nicht notwendig und ihre Verletzung führt nicht zur Strafbarkeit. Das objektive Bewertungsmerkmal, m i t dem man i n diesem Fall zu entscheiden hat, ob ein Garantieverhältnis der Beamten zum Leben der Bürger besteht oder nicht, ist also hier der Zusammenhang von Normen i n einem Organisationsplan, den der Staat für alle Bediensteten (einschließlich der Polizei) aufstellt. I n Garantieverhältnissen, deren Sozialrollen aus Vertragsabschlüssen entstanden sind 8 , w i r d man, soweit sie die Erhaltung von Objekten betreffen, die als Eigentum (§§ 242, 246, 249, 303) bzw. als Vermögen (§§ 263, 266, 253) geschützt sind, objektive Bewertungsmerkmale nach Gesichtspunkten finden, die die Rechtsprechung für § 266 entwickelt hat. Entsprechend der Gruppenaufgabe, die durch den I n halt des Vertrages bestimmt wird, könnte man aus der Gruppensituation die objektiven Merkmale, daß die entstandene sozialethische 9 Pflicht Hauptpflicht (statt eben nur bloße Nebenpflicht) ist und daß zwischen den Partnern über die bloße Vertragsbeziehung hinaus ein Treueverhältnis 1 0 i m Hinblick auf die Einhaltung des Vertrages besteht, heranziehen für die Bewertung der sozialethischen Pflicht als Rechtspflicht. Von diesen Vertragsbeziehungen sind die Fälle zu unterscheiden, i n denen die Abwehr von Gefahren für Sachen und Personen Gegenstand von Vereinbarungen sind. Man kann hier von der „ f r e i w i l l i g übernommenen Gefahrenabwehr" sprechen oder, wie es i n der Literatur geschieht, von der „Garantenstellung kraft Übernahme" 1 1 . Das Versprechen gegenüber einem anderen, ihn vor einer bestimmten Gefahr, z. B. für Leib und Leben, zu schützen, begründet eine Gruppe zwischen Versprechendem und Versprechensempfänger m i t der entsprechenden sozialethischen Pflicht in der Rolle des Versprechenden. Diese Pflicht reicht jedoch für sich allein nicht aus. Wenn ein Wanderer i m einsamen Wald einen Verunglückten liegen sieht und i h m Hilfe zu holen verspricht, sind wir, obwohl durch das Versprechen eine entsprechende sozialethische Pflicht entstanden ist, nach allgemeiner Uberzeugung nicht bereit, ihn nach § 212 zu bestrafen, wenn er es unterläßt, Hilfe zu holen 1 2 . Es muß ein objektives Bewertungs8 Es w i r d hier also nicht auf die zivilrechtliche Wirksamkeit des Vertrages abgestellt, sondern auf die tatsächlichen Rollen, die der Vertragsabschluß begründet, solange die Beteiligten von dessen Wirksamkeit ausgehen. 9 Daß diese Pflicht zivilrechtlich eine Vertrags- u n d damit unter diesem Aspekt eine Rechtspflicht ist, interessiert hier nicht. 10 Also kein Vertrauensverhältnis. 11 Z. B. Stree, H. Mayer-Festschrift, S. 146 ff. ι 2 Allenfalls käme aus ganz anderen Gesichtspunkten § 330 c zur A n wendung.

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieerhältnisse

merkmal aus der Gruppenbeziehung, die m i t dem Versprechen gegenüber dem anderen entstanden ist, hinzukommen, um die sozialethische Pflicht als so dringlich erscheinen zu lassen, daß ihre Erfüllung notwendig für ein gedeihliches Zusammenleben ist. Stree hat hier den tragenden Grundgedanken entwickelt 1 3 . Er betont zu Recht, daß nicht die Schaffung einer Vertrauenslage dieses K r i terium sein kann 1 4 , denn auch wenn i m Beispielfall der Verunglückte auf die Zusage des Wanderers vertraut, w i r d die Pflichtensituation nicht verändert 1 5 . Entscheidend ist vielmehr, daß ein anderer, dem gegenüber das Versprechen abgegeben worden ist, als Rechtsgutsträger selbst rechtsgutsgefährdend handelt oder als Schutzpflichtiger Schutzmaßnahmen unterläßt 1 6 . So w i r d die Pflicht des Wanderers, Hilfe zu holen, dringlich, wenn der Verunglückte einen später vorbeikommenden Spaziergänger von einer Hilfeleistung m i t dem Hinweis abhält, der Wanderer habe bereits zugesagt, Hilfe zu holen 1 7 . M i t dem gleichen K r i t e r i u m läßt sich auch folgender Fall i n seinen zwei Varianten zufriedenstellend lösen: Eltern gehen für mehrere Stunden fort und lassen i h r kleines K i n d allein zu Hause liegen. Unterwegs treffen sie zufällig eine Nachbarin und bitten sie, nach dem K i n d zu schauen. M i t der Zusage der Nachbarin entsteht für diese eine ihrer Rolle als Aufpasserin entsprechende sozialethische Pflicht, das K i n d vor Gefahren zu schützen. Da die Eltern aber auch ohne diese Zusage fortgegangen sind und auch weiterhin fortgeblieben wären, fehlt es an dem objektiven Bewertungsmerkmal, das die sozialethische Pflicht zur Rechtspflicht macht (es sei denn, die Eltern hätten ihr Fortbleiben aufgrund der Zusage entgegen ihrer ursprünglichen Absicht verlängert. Dann allerdings t r i f f t die Nachbarin für die verlängerte Zeit eine Rechtspflicht). Zwischen der Nachbarin und dem Leben des Kindes ist kein Garantieverhältnis entstanden 18 . Anders jedoch, wenn die Eltern vorher m i t der Nachbarin verabreden, daß sie ab und zu nach dem K i n d schaut, und nur deshalb fortgehen bzw. 13 H. Mayer-Festschrift, S. 154 ff. (158). 14 H. Mayer-Festschrift, S. 154. is Vgl. bereits oben, S. 64. iß Vgl. Stree, S. 158, der jedoch noch andere Fälle i n seine Formulierung m i t hineinnimmt. Dazu sogleich unten. — Ä h n l i c h Blei, H. Mayer-Festschrift, S. 122, der jedoch das K r i t e r i u m i n den Vertrauensgrundsatz einbettet. — Den Begriff des Vertrauens versteht Blei (H. Mayer-Festschrift, S. 140 f.) ähnlich abstrakt w i e Kissin (siehe oben S. 64), so daß die gleichen E i n w e n dungen, die oben gegen i h n vorgebracht wurden, auch hier gelten. 17 Freilich w i r d m a n i n diesem F a l l sehr genau zu prüfen haben, ob der Wanderer m i t seiner Hilfeziisage, die er dann nicht einhält, nicht bereits ein Begehungsdelikt verübt. is I m Ergebnis ebenso Stree, H. Mayer-Festschrift, S. 159.

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keinen „babysitter" bestellen, feier w i r d die sozialethische Pflicht der Nachbarin, das K i n d vor Lebensgefahr zu schützen, zur Rechtspflicht durch das objektive Bewertungsmerkmal, das darin liegt, daß die Eltern aufgrund des Versprechens unterlassen, für anderweitige Schutzmaßnahmen zu sorgen 19 . Ist dagegen der Versprechensempfänger weder zum Schutz verpflichtet noch selbst Rechtsgutsträger, sondern lediglich zum Schutze eines Rechtsgutsobjektes bereit, so w i r d die sozialethische Pflicht des Versprechenden nicht dadurch zur Rechtspflicht, daß der Schutzbereite seine Bereitschaft aufgibt 2 0 . Das kann an folgendem, zunächst nach der allgemeinen Rechtsüberzeugung zu entscheidenden Fall verdeutlicht werden. Wenn zwei Passanten sehen, w i e ein Schwimmer A n stalten trifft, ein gefährliches Gewässer zu durchschwimmen, und nun verabreden, daß einer von ihnen aufpassen soll, während der andere nach Hause geht, so t r i f f t den Zurückbleibenden keine Rechtspflicht nach § 212, sondern er ist allenfalls nach § 330 c verpflichtet, wenn nun etwas geschieht. Anders liegt der Fall, wenn ein Unglück bereits eingetreten ist und alle Umstehenden bereits nach § 330 c zur Hilfe verpflichtet sind. Denjenigen, der Hilfe zu holen verspricht, t r i f f t nicht n u r eine sozialethische Pflicht, sondern eine Rechtspflicht, wenn die anderen deshalb nichts tun, w e i l er schon losgegangen ist. — Der tiefere Grund der rechtlichen Irrelevanz des Merkmals, daß ein bloß Schutz bereiter Schutzmaßnahmen unterläßt, liegt i m sozial-funktionellen Prinzip der Rechts- und Sozialordnung: Die sozialethische Pflicht des Versprechenden w i r d hier nicht dringlich, ihre Erfüllung nicht notwendig für das Gemeinschaftsleben, da die bloße Hilfsabrede zwischen zwei Personen, die beide keinen näheren K o n t a k t 2 1 zum gefährdeten Rechtsgutsobjekt haben, die funktionelle Aufgabenverteilung innerhalb der Sozialordnung nicht m i t Notwendigkeit für das gedeihliche Zusammenleben abzuändern vermag. Nach diesen Grundsätzen kann auch die Frage der Kuppelei i n dem Fall, in dem der Ehemann einen Detektiv zur Überwachung der Tugend seiner Frau dingt 2 2 , gelöst werden. Blei meint, i n diesem Fall könne für den Detektiv, der die Überwachung unterläßt, zunächst eine Garantenpflicht sowohl bejaht als auch verneint werden, w e i l der Ehemann es unterlassen habe, eine zuverlässigere Person zu engagieren. I m Endeffekt neigt Blei zu einer Verneinung, da es sich hier u m eine „willkürliche exzentrische Schutzvorkehrung" handle, die unterlassen werde 2 3 . Ein Garantieverhältnis ist hier jedoch 19

I m Ergebnis ebenso Blei, H. Mayer-Festschrift, S. 122. Anders freilich Stree, H. Mayer-Festschrift, S. 155. 21 Wobei also noch nicht einmal die i n § 330 c genannten Umstände vorliegen. 22 Vgl. den Fall bei Blei i n H. Mayer-Festschrift, S. 125 f. 23 a.a.O., S. 134 f. 20

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C. Die rechtliche Struktur der Garantieerhältnisse

prinzipiell zu verneinen, denn der Ehemann als Versprechensempfänger ist weder Rechtsgutsträger noch Schutzverpflichteter der Tugend seiner Frau 2 4 .

Das objektive Bewertungsmerkmal, daß jemand als Schutzpflichtiger Schutzmaßnahmen unterläßt bzw. als Rechtsgutsträger rechtsgutsgefährdend handelt, w e i l ein anderer sich zur Gefahrenabwendung bereiterklärt, gewinnt nur speziell i n dieser durch das Versprechen begründeten Gruppe Bedeutung. Als allgemeines K r i t e r i u m auch für andere Garantieverhältnisse ist es untauglich 2 5 . So gilt es z. B. nicht i n den Garantieverhältnissen aus vorangegangenem gefährdenden Tun. Wenn X i m Schwimmbad einen kleinen Jungen ins Wasser stößt und nicht rettet, so ist er wegen Totschlags durch Unterlassen aus dem Gesichtspunkt des vorangegangenen gefährdenden Tuns strafbar. Ob die Eltern i m Schwimmbad sich darum kümmerten, wo der Kleine gerade herumlief, oder nicht, ist dabei bedeutungslos. Anders, wenn zwischen X und den Eltern eine Vergruppung durch das Versprechen des X , auf den Kleinen aufzupassen, eingetreten ist. Dann gewinnt das objektive Bewertungsmerkmal der Unterlassung von Schutzmaßnahmen eines Verpflichteten Bedeutung. — Daß dieses objektive Bewertungsmaterial für das vorangegangene Tun nicht gelten kann, ergibt sich auch schon aus der oben 26 angedeuteten Tatsache, daß der Gefahrenbegründer seine Rolle innerhalb der Gruppe der gesamten Gesellschaft spielt i m Gegensatz zum Versprechenden. Innerhalb der Gesamtgesellschaft kommt aber diesem Merkmal keine rechtspflichtbegründende Bedeutung zu 2 7 . Aus diesen Gründen ist es nicht sachgerecht, wenn Stree die Fälle der Übernahme einer Schutzpflicht i n die Nähe der Fälle aus vorangegangenem Tun rückt 2 8 . Die Unterlassung einer Schutzmaßnahme als Gefährdung eines Rechtsgutsobjekts anzusehen — und auf diese A n nahme stützt sich Stree 29 —, ist eine gewagte Konstruktion 3 0 , denn ein Rechtsgutsobjekt kann ohne Schutzmaßnahme trotzdem ungefährdet sein. Damit dürfte an einigen Fällen die Bedeutung der „objektiven Bewertungsmerkmale" aufgezeigt sein. Diese Merkmale müssen i n jedem Garantieverhältnis vorliegen, selbst dort, wo eine Garantenpflicht auf der Hand liegt, wie z.B. i n dem „Paradefall", daß eine Mutter i h r 24 Vgl. i m einzelnen unten S. 154 ff. (157 ff.). 25 Siehe oben S. 88. 2β S. 113. 27 S. 66 f. 28 H. Mayer-Festschrift, S. 155 ff. 29 H. Mayer-Festschrift, S. 157, 158. so So m i t Recht Blei, H. Mayer-Festschrift, S. 137.

I I I . Garantieerhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

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K i n d nicht ernährt. Hier ist die Hoch Wertigkeit des Rechtsgutsobjekts „Leben des Kindes" das entscheidende objektive Bewertungsmerkmal. Daß dieses M e r k m a l i n dem Garantieverhältnis zwischen M u t t e r und K i n d eine Rolle spielt, m e r k t man schon daran, daß m a n z. B. ein Garantieverhältnis zwischen der M u t t e r u n d dem Spielzeug des Kindes i m Regelfall verneinen würde. 7. Die Beziehungen von Rechtsgut, sozialer Rolle und objektiven Bewertungsmerkmalen im Garantieverhältnis unter methodischen Aspekten

Die Lokalisierung der Garantieverhältnisse i n einem materiellen Unrechtssystem i m Wege fortlaufender Konkretisierung der Allgemeinbegriffe hat die Struktur der Garantieverhältnisse deutlich gemacht. Drei Wertungssachverhalte — die sozial-funktionelle Stellung mit der dazugehörigen sozialen Rolle, das geschützte Rechtsgut und die objektiven Bewertungsmerkmale — stehen in einem sozialen, sozialethischen und rechtlichen Verhältnis zueinander und bilden i n dieser Konstellation die Grundlage für eine stufenweise Wertung bis zur letzten rechtlichen Wertentscheidung über das Vorliegen eines Garantieverhältnisses. Diese Struktur besteht bei allen Garantieverhältnissen und weist jedem der gefundenen konkreten Kriterien seinen bestimmten Platz innerhalb des Bewertungsverfahrens zu, unabhängig davon, welchen Inhalt die besonderen Kriterien haben. Wegen dieser Struktur der Garantenposition w i r d hier der Terminus „Garantieverhältnis" verwendet. Der Ausdruck „Verhältnis" weist auf das hin, worauf es ankommt, nämlich daß eine Beziehung zwischen der sozialen Rolle des Unterlassenden und dem zu schützenden Rechtsgut bestehen muß. Das Wort Garant charakterisiert dabei den Schutzzweck dieses Verhältnisses. Aus dieser Struktur ergibt sich zwangsläufig die Methode, wie ein Garantieverhältnis i n einem konkreten Fall, i n dem jemand für ein Schadensereignis wegen eines Unterlassungsdelikts zur Verantwortung gezogen werden soll, zu ermitteln ist. Ausgehend von dem Verhaltensmerkmal eines kodifizierten Tatbestandes des besonderen Teils des Strafgesetzbuchs muß zunächst das Rechtsgut nach Inhalt und Umfang i n einer teleologisch-wertenden Betrachtung, die am obersten Rechtswert ausgerichtet ist, genau bestimmt werden. Das ist bei den Unterlassungsdelikten u m so nötiger, weil es hier nicht nur u m die Prüfung geht, ob ein tatsächlich angegriffenes Sachverhaltsobjekt das fragliche Rechtsgut verkörpert, sondern w e i l darüber hinaus noch das Rechtsgut in die differenzierte Relation zur sozialen Rolle zu setzen ist.

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieerhältnisse

Sodann ist die soziale Rolle (oder die mehreren Rollen) des betreffenden Unterlassungstäters, die ihn mit dem Rechtsgut i n Berührung bringt (bzw. bringen), zu untersuchen. Der Kreis der hier i n Frage kommenden Rollen ist relativ einfach zu beschränken, sehen w i r doch den einzelnen Menschen von vornherein zumeist als Inhaber von Rollen 1 und haben dementsprechend einen Blick dafür, welche Rollen des Täters die einzelne gesuchte sozialethische Norm zum Inhalt haben könnten. Unter diesen Rollen ist inhaltlich unter Rechtswertaspekten eine erste Auswahl zu treffen, indem darauf abgestellt wird, ob die Gruppe, i n der die einzelne Rolle eine Teilfunktion bedeutet, nach ihrer Aufgabenstellung bzw. Sinnorientierung notwendig für ein gedeihliches Zusammenleben innerhalb der Gesellschaft ist. Ist das der Fall, so ist weiter zu prüfen, ob die betreffende Rolle eine gruppennotwendige (strukturbedingte) ist, denn nur solche Rollen kommen unter Rechtswertgesichtspunkten i n Frage. Eine jede der dann noch übrigbleibenden Rollen des Täters gilt es nun inhaltlich i n werthafter Betrachtung zu beschreiben, und zwar so, daß aufgezeigt wird, ob unter den mehreren sozialethischen Normen der Rolle auch eine solche auftaucht, die den Schutz des verletzten Rechtsguts zum Gegenstand hat. Diese Aufgabe der „Ausfächerung" des Bündels von sozialethischen Pflichten innerhalb einer Rolle ist anhand der Sinnorientierung der Gruppe zu lösen; die Sinnorientierung (Aufgabe der Gruppe) entscheidet darüber, welche Rollenanforderungen m i t einer Rolle i m einzelnen verknüpft sind. Ist auf diese Weise die entsprechende sozialethische Pflicht ermittelt, so ist zu prüfen, ob sie eine Rechtspflicht ist, m. a. W., ob sie dem obersten Rechtswert der Notwendigkeit für ein gedeihliches Zusammenleben dient. Maßstäbe hierfür sind außerhalb der Rollenposition gelegene, aber unter Rechtswertaspekten innerhalb der Gruppe aus deren Sinngebung folgende objektive Bewertungsmerkmale. Liegt unter diesen Voraussetzungen eine Rechtspflicht vor, so besteht ein Garantieverhältnis zwischen dem Unterlassenden und dem geschützten Rechtsgut, und das Nichteingreifen des Unterlassungstäters ist insoweit strafbar. Diese Methodik soll i m einzelnen noch einmal geschlossen an dem Fall dargelegt werden, den Grünwald als „groteskes Beispiel" dafür erwähnt, daß die einzelnen Garantieverhältnisse — hier geht es u m die „enge Lebensgemeinschaft" — sinnvoll nur bestimmten Delikten zugeordnet werden können: „So wie derjenige wegen ,Tötung durch 1 Als Vater, als Ehemann, als Angestellter, als Vereinsmitglied, als Zeitungsleser usw. — Maihof er, Recht u n d Sein, S. 118 ff.; V o m Sinn menschlicher Ordnung, S. 50. — Vgl. auch Wössner, S. 549 ff. (552).

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Unterlassen' bestraft wird, der die kranke Tante, mit der er zusammenwohnt, sterben läßt, w i r d nun derjenige wegen Sachbeschädigung durch Unterlassen' strafbar, der es unterläßt, den Kanarienvorgel der Tante zu füttern oder ihre Blumen zu gießen 2 ." Sicherlich hat Grünwald recht, wenn er sagt, die Garantenstellung aus „enger Lebensgemeinschaft" passe nicht zu jedem Delikt, aber deshalb ist der Fall i n bezug auf die Sachbeschädigung durch Unterlassen noch nicht prinzipiell „grotesk". Einmal ganz abgesehen davon, daß der Begriff „enge Lebensgemeinschaft" einer genaueren Präzisierung bedarf 3 : „Die" enge Lebensgemeinschaft, von der Rechtsprechung und Lehre offenbar ausgehen 4 , gibt es gar nicht, sondern i n der sozialen Wirklichkeit existieren nur verschiedene enge Lebensgemeinschaften m i t einem jeweils besonderen Sinngehalt. Das ist, nachdem das (hier unproblematische) verletzte Rechtsgut festgestellt ist, als erstes bei der Entscheidung des Falles zu berücksichtigen: Wohnten Tante und Neffe nur deshalb zusammen, damit lediglich die Tante ihre nötige Pflege habe, so ist die Aufgabenstellung (Sinn) dieser Gruppe rechtswerthaft, denn die Tante ist existentiell auf die Pflege ihrer Person angewiesen 5 . Der Neffe ist strafbar, wenn er entgegen den Pflichten seiner Rolle die Tante sterben läßt. Daß er i n dieser Gemeinschaft nebenher, weil es die Gruppensituation zuläßt, auch noch gelegentlich den Vogel füttert und die Blumen gießt, ist nur die Übernahme einer gruppenmöglichen Rolle. Von der Aufgabe dieser Gemeinschaft w i r d das nicht gefordert. Das bedeutet: Der Schutz von Vogel und Blumen gehört nicht zur strukturnotwendigen Rolle. Das in § 303 vor Beschädigung geschützte Rechtsgut des Eigentums w i r d in dieser Rolle des Neffen nicht berührt. Daher entsteht für diesen Fall mangels rechtswerthafter Rolle kein Garantieverhältnis i m Rahmen des § 303. Also ist der Neffe nicht strafbar, wenn Vogel und Blumen eingehen. Anders liegt der Fall, wenn der Neffe deshalb i n der Wohnung der Tante aufgenommen wurde, weil er die Tante pflegen und den Haushalt führen sollte, etwa w e i l keine Haushälterin da war. (Bei alledem braucht man noch nicht notwendig an eine vertragliche Abmachung 2

ZStW 70, S. 424 (dort auch A n m . 25). — Der F a l l ist deshalb w ö r t l i c h wiedergegeben, w e i l es auf die genaue Übereinstimmung von dem dort u n d dem hier erörterten Sachverhalt ankommt, denn die geringste Nuancierung k a n n die Hechtslage sofort ändern, so daß m a n i n der Diskussion aneinander vorbeireden würde. » Geilen, FamRZ 1964, S. 390 links. 4 Welzel, Lb., S. 210 — dort L i t e r a t u r ; Böhm, JuS 1961, S. 180, Anm. 15. δ Die weite verwandtschaftliche Beziehung von Tante zu Neffe hat i n dieser Gruppe keine rechtliche Bedeutung — näher dazu unten D I I 2 c.

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantie Verhältnisse

i m Sinne des Zivilrechts zu denken.) Der Sinn dieser Gruppe kann unter Rechtswertaspekten als wertvoll anzusehen sein, wenn die kranke Tante existentiell auf Pflege und Führung des Haushalts angewiesen ist. I n einer solchen Gruppe gehören — i m Gegensatz zur vorigen Variante — Vogel und Blumenpflege zur übernommenen gruppennotwendigen Rolle. Damit t r i f f t den Neffen die sozialethische Pflicht, Vogel und Blumen zu pflegen, und es fragt sich, welche objektiven Bewertungsmerkmale aus der Gruppenbeziehung zwischen Tante und Neffe diese sozialethische Pflicht so dringlich machen, daß sie zur Rechtspflicht wird. Hier kann man an die existentielle Wichtigkeit der Verhaltensobjekte für die Tante anknüpfen. Die Haushaltsführung umfaßt als notwendig nicht nur die Erhaltung der für den Haushalt unbedingt nötigen Dinge, wie Geschirr, Möbel, Teppiche und dergleichen, sondern auch i n gewissem Umfang Dinge, die das Leben i n der Wohnung für die kranke Tante angenehm gestalten. Vielleicht könnte man dann sagen, daß die Pflege des Kanarienvogels und die Erhaltung des generellen Bestandes der Blumen zur dringlichen sozialethischen Pflicht und daher zur Rechtspflicht des Neffen gehören. (Es wäre also keine Rechtspflichtverletzung, wenn er nur einzelne Blumen verdorren ließe.) Falls die übrigen Voraussetzungen des § 303 (insbesondere der Vorsatz 6 ) vorliegen, ist der Neffe wegen Sachbeschädigung zu bestrafen, falls er Vogel und den gesamten Blumenbestand eingehen läßt 7 , genauso wie er wegen fahrlässiger Tötung der Tante zu bestrafen ist, wenn er sie nicht pflegt. Damit dürfte aufgezeigt sein, welche immer am obersten Rechtswert orientierten Wertungsakte von der Rechtsgutsbestimmung über die pflichtenspezialisierende Rollenauswahl bis zur Bestimmung der objektiven Bewertungsmerkmale aus der Gruppensituation vorzunehmen sind. 8. Anhang:

Die pflichtenspezialisierende Bedeutung Rollenbegriffs im Garantieverhältnis

des

Die Erörterung der Fälle i n den bisherigen Abschnitten — es wurden bewußt umstrittene oder bisher nicht behandelte Fälle untersucht — hat deutlich gemacht, zu welchen Differenzierungen man gelangt, hat 6

Der jedoch bei den Unterlassungsdelikten keine Elemente eines V e r w i r k lichungswillens i n sich zu tragen braucht, vgl. oben S. 32. 7 Diese Möglichkeit übersieht Böhm, JuS 1961, S. 180, w e i l auch er i n seiner K r i t i k gegen die Annahme einer Garantenstellung aus enger Lebensgemeinschaft von dem Begriff „der" engen Lebensgemeinschaft schlechthin ausgeht. V o n dieser Position k o m m t er n u r zur Strafbarkeit wegen einer Tötung der Tante durch Unterlassen unter der besonderen Voraussetzung der „ f r e i w i l l i g e n Pflichtenübernahme". F ü r eine eventuelle Sachbeschädigung unterstellt er weitere konkrete Sachverhaltsmomente: Die Tante verreist u n d

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man erst einmal die Struktur des Garantieverhältnisses, die drei Wertungssachverhalte Rechtsgut, Rolle und objektive Bewertungsmerkmale i n ihren Beziehungen zueinander, erkannt. Jeder dieser drei Wertungssachverhalte ist konstitutiv für das Garantieverhältnis. Hier soll noch einmal die tragende Bedeutung der Rolle für die Pflichtenspezialisierung i m Garantieverhältnis hervorgehoben werden. a) Das einzelne Gruppenmitglied ist nur für den Bereich seiner Teilfunktion, die es zur Lösung der Gruppenaufgabe übernommen hat, verantwortlich, m. a. W. es hat nur den Verpflichtungen seiner Rolle nachzukommen. Für die Verpflichtungen der anderen innerhalb derselben Gruppe ist es wegen des tragenden Grundprinzips der Arbeitsteilung i m Sozialleben (das „sozialfunktionelle Prinzip") nicht verantwortlich. Das bedeutet, daß von der gesamten Gruppenaufgabe her nicht unmittelbar auf die Verpflichtungen des einzelnen geschlossen werden kann. Entscheidender Anknüpfungspunkt einer Pflichtenspezialisierung ist daher die Rolle und nicht die Gruppe. Zur Verdeutlichung mögen folgende Beispiele dienen: Die Aufgabe eines größeren Handwerksbetriebs und der i n i h m zur Gruppe vereinigten Personen ist die Herstellung von Gütern gegen Gewährung von Verdienst. Welche Pflichten der i m Betrieb tätige X gegenüber dem ebenfalls dort tätigen Y und dessen dort befindlichem Eigentum hat, läßt sich aus der Güterproduktion nicht herleiten. Erst wenn w i r wissen, daß X Arbeitgeber und Y Arbeitnehmer ist, können w i r sagen, daß X den Y vor Betriebsunfällen zu schützen hat. Und erst wenn man weiß, welche Arbeitnehmerrolle der Y innehat, ob er bloßer Hilfsarbeiter, Vorarbeiter, Werkmeister oder gar Betriebsleiter ist, läßt sich feststellen, ob und wieweit er seinerseits den Arbeitgeber X und dessen Vermögen vor Schaden zu bewahren hat 1 . Wenn man i n Grünwalds Fall annimmt, daß der Neffe nur für die kranke Tante zu sorgen hat und ansonsten ein Dienstmädchen den Haushalt versieht, so bleibt die Gesamtaufgabe der Gruppe die gleiche, wie wenn nur Tante und Neffe allein da wären. Wenn das Dienstmädchen den Kanarienvogel und alle Blumen eingehen läßt, so ist der Neffe dafür nicht verantwortlich, ebenso wie das Dienstmädchen nicht die Verantwortung dafür trägt, daß der Neffe die Tante sterben läßt. überläßt dem Neffen den Vogel. D a m i t w i r d aber die Gruppenaufgabe u n d damit die Holle des Neffen, also der gesamte Fall, umgemünzt. Es dreht sich dann nicht mehr u m die enge Lebensgemeinschaft, sondern u m die Aufgabe der übernommenen Gefahrenabwehr. ι Vgl. die oben S. 121 angedeuteten Fallgruppen u n d die oben S. 61 zitierte Entscheidung des B G H Bd. 5, S. 187 ff. (190). 9 Bärwinkel

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieerhältnisse

Damit erweist sich erneut, daß nicht die Gruppe als solche, sondern die Holle, die der einzelne i n der Gruppe spielt, entscheidend für die Pflichtenspezialisierung ist. b) Das Gefüge zwischenmenschlicher Beziehungen einer Gruppe, das von ihrem Sinn bzw. ihrer Aufgabe her bestimmt ist, w i r d i n concreto von einer ganzen Reihe Merkmale sozialethischen und nichtsozialethischen Gehalts gekennzeichnet. Die soziale Rolle als Summe der sozialethischen Pflichten, die den Inhaber einer sozial-funktionellen Stellung innerhalb einer Gruppe bezüglich der Gruppenaufgabe treffen, erfaßt von den Gruppenmerkmalen alle, aber auch nur solche, die sozialethischen Gehalt haben. Für eine wertteleologische Unrechtsbetrachtung, die sich auf der Grundlage der Sozialethik an der Struktur des Soziallebens zu orientieren hat, ist daher primär die soziale Rolle und nicht die Gruppe Anknüpfungspunkt. Diese normative Konzeption des Rollenbegriffs ermöglicht die Trennung sozialethischer Kriterien von bloß faktischen Merkmalen innerhalb der Gruppensituation. Das „Normenbündel" der gruppennotwendigen Rolle kann von den bloß gruppenmöglichen Rollen (z.B. Pantoffelheld, Nesthäkchen 2 ), die i n bezug auf die Aufgabe und den Sinn der Gruppe keinen Forderungscharakter haben, sondern durch die Gruppensituation lediglich ermöglicht werden, unterschieden werden. Hat man m i t Hilfe des Begriffs der gruppennotwendigen sozialen Rolle die Trennung von sozialethischen und faktischen Kriterien vollzogen und hat man somit eine bereits spezialisierte sozialethische Pflicht des einzelnen ermittelt, so ist damit die Voraussetzung für eine noch weiter gestufte Wertungsabfolge gegeben, die n u n auch methodisch der allgemeinen Rechtüberzeugung, daß die Verletzung einer bloßen sozialethischen Pflicht nicht strafbar ist, gerecht werden kann. Man kann jetzt nämlich unter den übrigen faktischen Kriterien innerhalb der Gruppe diejenigen heraussuchen, die Bewertungsmerkmale für die Dringlichkeit der ermittelten sozialethischen Pflicht sind. Auch diese Merkmale sind spezieller Art, w e i l sie an der Gruppenaufgabe orientiert sind. Dadurch daß man i m Garantieverhältnis zuerst eine Pflichtenspezialisierung mit Hilfe der sozialethischen Kriterien der Rolle erreichen kann, u m sodann die Dringlichkeit dieser Pflicht anhand faktischer Kriterien innerhalb der Gruppe zu prüfen, ist man i n der Lage, die inhaltlich gefundenen Kriterien auch richtig zu placieren. Bei der Argumentation am Einzelfall w i r d dann vermieden, daß beachtliche objektive Bewertungsmerkmale als unbrauchbar dargelegt werden, 2 Siehe oben S. 112 f.

I I I . Garantieverhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

131

w e i l sie keinen sozialethischen Gehalt haben 3 , und daß andererseits sozialethische Pflichten als Garantenpflichten ausgegeben werden, obw o h l sie ohne objektive Bewertungsmerkmale nicht gewichtig sind, indem man irrtümlich die Dringlichkeit einer sozialethischen Pflicht m i t einem sozialethischen statt m i t einem faktischen Merkmal nachzuweisen sucht. Diesem letzten I r r t u m ist z. B . Androulakis unterlegen, w e n n er z. B. den Grad der Blutsverwandtschaft als bloßes „objektives Bewertungsmoment" ansieht 4 . Das k a n n m a n an folgendem Beispiel verdeutlichen: Die zwei Junggesellen X u n d Y leben seit Jahren i n einem Haus zusammen. X berät den Y schon seit langem i n Vermögensdingen. Wenn X eines Tages sieht, w i e Y v o n einem Händler an der Haustür u m D M 20.— betrogen w i r d , so t r i f f t i h n aufgrund der Lebensgemeinschaft zwischen beiden die sozialethische Pflicht, einzugreifen u n d den Y v o r diesem Schaden zu bewahren. Wenn m a n den F a l l so bildet, daß X u n d Y Vater u n d erwachsener Sohn sind, so ändert das nichts daran, daß auch hier nur eine sozialethische Pflicht des Vaters besteht. — Erst die existentielle Wichtigkeit des V e r mögensobjekts f ü r Y w ü r d e i n beiden Fällen die sozialethische Pflicht des Y zur Rechtspflicht werden lassen. Das Vater-erwachsener-Sohn-Verhältnis begründet keinen Unterschied zwischen beiden Fällen, obwohl es den nahesten Grad der Blutsverwandschaft darstellt 6 .

c) Die Pflichtenspezialisierung durch den Rollenbegriff w i r d aber nicht nur dadurch erreicht, daß die Rolle die Teilfunktion des einzelnen i m Hinblick auf die Gruppenaufgabe bedeutet. Die Rolle ist nämlich i n ihrem sozialethischen Gehalt nicht nur unter dem Pflichtaspekt als Normenbündel zu sehen, sondern — wie oben ausgeführt® — auch als Summe sozialer Sinnobjektivationen bzw. standardisierter Verhaltensmuster, deren sich der Rolleninhaber zur Erfüllung seiner Pflichten bedient. Diese phänomenologisch beschreibbaren objektivierten Sinnbezüge innerhalb der Rolle sind allgemein wertvolle Sachverhalte, die die Grundlage für die Objektivität der zu fällenden Werturteile bilden. Es besteht die Möglichkeit, dem konkreten Werturteil, das der Pflichtenstatuierung zugrunde liegt, durch Aufzeigen und Beschreiben der standardisierten (weil allgemein als wertvoll anerkannten) Verhaltensmuster einer Rolle die notwendige Objektivität der Wertung zu geben 7 . 3 Vgl. die Beispiele unten S. 135 ff., 179 ff. 4 Vgl. bereits oben S. 74 f. δ Auch die K o m b i n a t i o n verschiedener sozialethischer Pflichten ist i n ähnlicher Weise fruchtlos. Vgl. dazu unten S. 164. β S. 108. 7 Freilich bedeutet das nicht, daß m a n damit einfach n u r die Sozialordnung i n Einzelbeziehungen darzulegen brauche u n d an i h r die W e r t u n gen w i e i n einem aufgeklappten Buch ablesen könne, denn trotz aller Abhängigkeit des Menschen von sozialen Zusammenhängen bleibt f ü r i h n 9*

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C. Die rechtliche S t r u k t u r der Garantieerhältnisse

Die Frage ist, welche der sozialen Sinnobjektivationen zur Begründung der konkreten Werturteile hinsichtlich eines Garantieverhältnisses heranzuziehen sind und i n welcher Reihenfolge dies zu geschehen hat 8 . Die Eigenständigkeit des Rechts bei aller Gründung i n der sozialen Wertordnung, m. a. W. die Selbständigkeit des Rechts innerhalb des wechselseitigen Verhältnisses von Recht und Sozialordnung zueinander·, hat zur Folge, daß i n erster Linie die Objektivation einer Sozialnorm i n der ausdrücklichen Formulierung eines Rechtssatzes (sei es durch den Gesetzgeber, sei es durch die Rechtsprechung) maßgeblich ist. Wenn nämlich die Sozietät eine sozialethische Norm der oben geschilderten Spezialbehandlung u n t e r w i r f t 1 0 , dann ist das ein (wohl das schwerwiegendste) Indiz für die Allgemeingültigkeit der dieser Norm zugrunde liegenden Wertung. — Dasselbe gilt für die „objektiven Bewertungsmerkmale", die über die Rechtswerthaftigkeit der aus der Norm entstehenden konkreten Pflicht entscheiden: Sind sie bereits aus Gesetzen und Urteilen zu entnehmen, so spricht auch das stark für die Allgemeingültigkeit ihrer Wertungsgrundlagen 11 . Die Objektivität der Wertungen kann aber auch durch die Sinnbezüge festgefügter sozialer Institutionen belegt werden. Die Sozialvorstellungen vom Familienleben, etwa das Prinzip der Einehe, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die partnerschaftliche i m Gegensatz zur früheren patriarchalischen Familienauffassung, Kindererziehung (Züchtigungsrecht der Eltern), familiengerechter Lohn, weitgehende Zulassung von Konventionalscheidungen, die trotz dieser Säkularisierung immer noch religiöse Weihe der Ehe, die Gleichwertigkeit von M i t g i f t und Berufsausbildung der Frau, „Zweikindersystem" und „Dreikindersystem" usw. 1 2 , das alles gibt i n seinen Eini m m e r noch ein freier Raum, w o er zur Entscheidung aufgerufen ist. W e r t urteile sind keine Tatsachenbeschreibungen, sondern Aufforderungen, i n bestimmter Weise gegenüber einem Gegenstand Stellung zu nehmen. A l s objektive Werturteile haben sie normativen Charakter, geben sie f ü r jederm a n n eine Richtschnur f ü r das Verhalten gegenüber dem als w e r t v o l l ausgezeichneten Gegenstand (Sachverhalt) — vgl. Kraft, S. 199, 208. 8 Vgl. zu dieser Reihenfolge Zippelius, Wesen des Rechts, S. 97 f. 9 Siehe oben S. 110 f. 10 Z. B. durch Einrichtung besonderer Spruchinstanzen; vgl. S. 110. 11 Vgl. hierzu das oben S. 94 zur Lehre von der „rechtlich verfestigten" Pflicht Gesagte. — U m Mißverständnisse zu vermeiden: Diese A r t der Objektivation ist lediglich ein Indiz f ü r die Allgemeingültigkeit einer k o n kreten Rechtswertung, ein Indiz f ü r das K r i t e r i u m der Rechtswerthaftigkeit. Die „gesetzliche" O b j e k t i v a t i o n selbst ist noch nicht Kriterium, ebensowenig die „richterliche Objektivation". 12 Vgl. dazu etwa Wössner, S.382; Dölle, S. 16ff.; Gernhuber, S. I f f . (alle m i t reicher Literatur).

I I I . Garantieerhältnisse i m wertteleologischen Unrechtssystem

133

zelheiten eine recht gut fundierte objektive Grundlage für konkrete Wertentscheidungen. Schließlich manifestieren auch Sitten und Gebräuche die intersubjektive Gemeinsamkeit von Wertvorstellungen. So liegt z. B. dem Brauch, verkehrsregelnden Polizisten zu Weihnachten Geschenke zu überreichen 13 , die generelle Wertvorstellung zugrunde, daß man dies t u n dürfe. Die regelmäßigen äußeren Umstände, nämlich daß die Wahrnehmung der Pflicht der Verkehrsregelung sich ohne jeden näheren Kontakt zu den Verkehrsteilnehmern abspielt und der Schenkende i n der Regel auch für den Polizeibeamten anonym bleibt, deuten darauf hin, daß hier nicht ein Geschenk „ f ü r " eine Amtshandlung gegeben wird, daß also dieser Brauch nicht den Bestechungsunwert des § 331 i n sich trägt. Damit erweist sich die soziale Rolle als der Begriff, i n dem sich die sozialen Lebensbezüge und rechtliche Wertbetrachtung treffen. Dadurch, daß i n der sozialen Rolle die gegenseitige Abhängigkeit und Bezogenheit von Recht und Sozialordnung i n Erscheinung t r i t t , w i r d eine Pflichtenspezialisierung erreicht, die i n ihrer Wertobjektivität durch die Standardisierung faktisch gelebter Verhaltensmuster gesichert wird.

13

S. 27.

Vgl. dieses Beispiel bei Schmidhäuser,

V o n den zwei Rechtsordnungen,

D. Die Abschichtung einzelner Garantieverhältnisse voneinander I m vorliegenden Abschnitt soll i n größerem Zusammenhang aufgezeigt werden, was die aufgrund der strukturellen Erkenntnisse gewonnene Methode zur Bestimmung der Garantieverhältnisse zu leisten vermag. Selbstverständlich kann dabei nicht das ganze Gebiet der Garantieverhältnisse durchstreift werden. Es soll vielmehr lediglich der Bereich der Garantieverhältnisse, die auf ehelichen und verwandtschaftlichen Beziehungen beruhen, durchleuchtet werden, w e i l gerade hier besonders stark Rechtsprechung und Lehre Garantieverhältnisse miteinander verflechten, die gar nichts miteinander zu tun haben. Dadurch w i r d eine erhebliche Unsicherheit i n die Argumentation hineingetragen, die auch und gerade zum großen Teil darauf beruht, daß die inhaltlich gewonnenen Kriterien i n ihrer faktischen bzw. sozialethischen Bedeutung nicht richtig erkannt und deshalb zum Teil verworfen werden, w e i l man nicht die Struktur der Garantieverhältnisse vor Augen hat. Des weiteren w i r d deutlich werden, daß es durch die Anknüpfung an die soziale Rolle innerhalb einer Gruppe gelingt, aus der Gruppensituation heraus eine ganze Reihe neuer objektiver Bewertungsmerkmale für die zu erörternden Garantieverhältnisse zu entdecken. Wenn die folgende Darstellung i n ihrer Obereinteilung äußerlich nach Rollengesichtspunkten gegliedert w i r d (ähnlich, w i e Rechtsprechimg u n d herrschende Lehre nach Garantengruppen einteilen), so geschieht das aus Zweckmäßigkeitsgründen. Dogmatisch exakt müßte eine Gruppierung der Garantieverhältnisse v o n den einzelnen Tatbeständen des Besonderen Teils ausgehen. Diese letztere Einteilung entsprechend den angegriffenen Rechtsgütern erweist sich f ü r die Gliederung i n die Unterabschnitte als zweckmäßig.

I. Garantieverhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten 1. Die Leibes-

und Leb ens für sorg e

a) Das Garantieverhältnis aus der Ehe Das Garantieverhältnis der Leibes- und Lebensfürsorge der Ehegatten untereinander ist i n der Praxis hauptsächlich bei Selbstmordfällen aufgetaucht und w i r d dort weitgehend von der Problematik überspielt, die Teilnahme am straflosen Selbstmord von der straf-

I. Garantie Verhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

135

baren Tötung durch Unterlassen abzugrenzen 1 . I m allgemeinen w i r d dieses Garantieverhältnis i n der Rechtsprechung unter Hinweis auf § 1353 BGB als selbstverständlich bejaht und dementsprechend nur kurz erwähnt 2 . Die ausführlichste, wenn auch immer noch knappe Beschreibung dieses Garantieverhältnisses gibt B G H 2, S. 153 f., wonach die Rechtspflicht der Ehegatten, einander i n Lebensgefahr nach Kräften zu schützen, mindestens solange bestehe, „wie kein Teil das Recht zum Getrenntleben hat und beide Teile . . . i n Hausgemeinschaft leben". Diese Anregung, die umfassende Rechtspflicht aus § 1353 durch ein „faktisches Merkmal" einzuschränken, ist i n der Literatur aufgegriffen worden. So w i r d betont, daß die Rechtspflicht zur Leibes- und Lebensfürsorge entfalle, wenn die Ehe „tief zerrüttet" sei 3 oder wenn die Eheleute sich „tatsächlich getrennt" hätten 4 . Die Berufung auf B G H 6, S.323 u n d 7, S. 270 zur Begründung dieser Einschränkung ist zweifelhaft B G H 6, S.323 erörterte nicht einen F a l l der Leibes- oder Lebensfürsorge, sondern die Frage, ob ein Ehegatte strafrechtlich verpflichtet ist, den anderen von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten; das w a r aber schon deshalb ein ganz anderes Garantieverhältnis, w e i l nicht das Rechtsgut Leib oder Leben (im Verhaltensobjekt Ehegatte) auf dem Spiel stand, sondern das Rechtsgut Rechtspflege (Meineidsdelikt). B G H 7, S. 270 betraf nicht die Begründung der Rechtspflicht als solche, sondern n u r deren inhaltliche Reichweite u n d die Zumutbarkeitsfrage«

Gegen diese Einschränkung durch faktische Merkmale hat man geltend gemacht, daß die Verletzung der Garantenpflicht angesichts einer Lebensgefahr für den Ehegatten i n der Regel immer darauf beruhe, daß die Ehe bereits tief zerrüttet sei und daher bei solcher Einschränkung der Rechtspflicht zum Handeln der strafrechtliche Schutz genau da aufhöre, wo er erst zu beginnen habe®. Gegen das Entfallen der Rechtspflicht bei „tatsächlicher Trennung" wendet Geilen ein, „damit wäre praktisch die gesetzlich fest umrissene und nur unter bestimmten Voraussetzungen aufhebbare 7 Verpflichtung des § 1353 BGB durch den nur noch faktischen Gesichtspunkt der tatsächlichen ι Diese Problematik bleibt hier außer Betracht. — Dazu umfassend Gallas i n J Z 1960, S. 649 ff., 686 ff., m i t reicher L i t e r a t u r i n A n m . 14 u n d 16. 2 Vgl. R G 71, S. 189; R G H R R 1933, Nr. 1624; O L G Oldenburg i n D A R 1957, S. 301. 3 Maurach, A. T., S. 516; ähnliche Erwägungen bei Dreher, M D R 1952, S. 712. 4 Kohlrausch/Lange, Vorbem. I I Β I I 3 e v o r § 1 ; Welzel, Lb. (8. Aufl.), S. 189 (anders die 10. Aufl., S. 206 f., 210 f.). 5 Vgl. die Einzeldarlegung dieser Entscheidung bei Geilen, FamRZ 1961, S. 149. β Geilen i n FamRZ 1961, S. 149; FamRZ 1964, S. 390. 7 Vgl. § 1353 I I BGB.

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

Lebensgemeinschaft ersetzt". Die Verpflichtungskraft der Ehe werde „gerade i n kriminalpolitisch bedenklicher Weise relativiert" 8 , und es sei „schwer einzusehen, warum man ausgerechnet auf einer solchen Äußerlichkeit Straf Sanktionen wie die des § 211 StGB aufbauen soll" 9 . Gegen den letzten Einwand hat Androulakis geltend gemacht, Geilen sehe i n seiner K r i t i k zu einseitig nur das faktische Moment, wenn er meine, bei einer zerrütteten Ehe bleibe nur ein räumliches Nebeneinanderleben übrig. Selbst besonders starke Ehezerwürfnisse vermöchten nicht die eheliche Lebensgemeinschaft als Aktualität der Ehe aufzuheben. Dies sei erst dann der Fall, wenn sie gleichzeitig zur tatsächlichen Trennung geführt hätten 1 0 . Für Androulakis ist das tatsächliche Zusammenleben ein Merkmal der „bedingten" sozialen Nähe („Schon-vorher-daneben-Sein"), d.h. einer sozialen Nähe, die nur i n ihrem Fortbestehen, i n ihrer Aktualität relevant w i r d 1 1 . Da Androulakis, wie oben 12 ausgeführt, die „soziale Nähe" nicht als „räumlich metrische", sondern als „innere, soziale mitmenschliche" Nähe auffaßt, läßt sich aus seinen Ausführungen der Schluß ziehen, daß er den m i t sozialethischem Gehalt konzipierten Nähebegriff durch ein faktisches Merkmal bedingt ansieht. Bringt man den Streitstand unter strukturellen Aspekten auf eine Kurzformel, so kann man i n etwa sagen: Geilen bestreitet die rechtliche Relevanz des „bloß" faktischen Merkmals einer tatsächlichen Lebensgemeinschaft, während Androulakis die rechtliche Bedeutung desselben faktischen Merkmals heranzieht, es aber als Voraussetzung einer sozialethischen Pflicht ansieht. Die Lösung dieser Problematik ergibt sich, wenn man sich die hier ermittelte Struktur der Garantieverhältnisse vor Augen hält. Durch den rechtlichen Eheschluß entstehen die sozialethischen Eheverpflichtungen, wie sie etwa m i t zivilrechtlicher Relevanz durch § 1353 BGB statuiert sind. Solange die Ehe rechtlich besteht 13 , hat die soziale Rolle des Ehepartners die sozialethische Verpflichtung zum Gegenstand, den Ehegatten i n jedem Falle vor Gefahren für Leib und Leben zu schützen. A n dieser sozialethischen Pflicht können faktische Merkmale nichts ändern. Es ist also für den Bestand der sozialethischen Pflicht β FamRZ 1961, S. 149. — Ebenso jetzt Welzel, Lb., S.206f.; Schönke/Schröder, 110 v o r § 1 u n d früher bereits Böhm, Diss., S. 61 f. » FamRZ 1964, S. 390. S. 210 f. u S. 210 f. « S. 72. is Ausnahmen i n § 1353 I I BGB, der als Indiz für die nähere Ausgestaltung der sozialen Rolle angesehen w i r d .

I. Garantie erhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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gleichgültig, ob die Ehegatten zusammen oder getrennt leben, ob die Ehe zerrüttet ist oder nicht. Die sozialethischen Verpflichtungen aus der Ehe können also nicht durch faktische Momente überspielt werden 1 4 , sie sind auch nicht durch faktische Momente bedingt 1 5 . Damit sind diese faktischen Merkmale jedoch noch nicht gänzlich irrelevant. Sie gewinnen als „objektive Bewertungsmerkmale" Bedeutung bei der Frage nach der Dringlichkeit (der Rechtswerthaftigkeit) der sozialethischen Pflicht der Ehegattenrolle. Als solche müssen sie i n der Gruppensituation der Ehe, m. a. W. aus dem Wesen der Ehe begründet werden. Hält man sich vor Augen, daß die Ehe die Gemeinschaft zweier erwachsener, i n ihrer Persönlichkeit selbständiger Menschen ist, die sich i n ihrem eigenen Schutz nur aufeinander verlassen, solange sie i n solchen tatsächlichen Verhältnissen leben, i n denen sie einander vertrauen können, so erkennt man die Relevanz der beiden Merkmale „Nichtzerrüttung" der Ehe und „tatsächliches Zusammenleben". Jedes dieser Merkmale begründet für sich den Rechtscharakter der sozialethischen Pflicht. Ist die Ehe intakt und erfährt der Ehemann i n Berlin, daß seine Frau i n München ermordet werden soll, so ist er zur Abwehr dieser Gefahr trotz tatsächlicher Trennung verpflichtet 16 . Ist die Ehe zerrüttet und leben die Partner aber immer noch tatsächlich miteinander (z. B. gemeinsamer Haushalt), so besteht auch hier die Rechtspflicht. Nicht dagegen, wenn sie i n einer geteilten Wohnung nur noch räumlich nebeneinanderleben und keiner mehr m i t dem anderen rechnet 17 . Obwohl damit das Garantieverhältnis des einen Ehegatten zum Schutz von Leib und Leben des Partners ausreichend fixiert ist, werden i n diesem Zusammenhang — wie oben bereits angedeutet 18 — von Rechtsprechung und Literatur auch die Begriffe der „Hausgemeinschaft" und der „engen Lebensgemeinschaft" erwähnt. Was es m i t diesen Überlegungen wirklich auf sich hat, w i r d i m folgenden untersucht. b) Das Garantie Verhältnis aus „enger Lebensgemeinschaft" Wenn man i n dem oben erörterten „Tanten-Kanarienvogel"-Fall von den Verwandtschaftsbeziehungen absähe, so würde, wie bereits oben 14 Insoweit w i r d also dem berechtigten Anliegen Geilens Rechnimg getragen. is Androulakis begeht hier wieder den oben, S. 131 schon gerügten Fehler der falschen Lokalisierung i n i h r e m I n h a l t an sich richtiger Kriterien. « D a m i t entfallen auch die Bedenken Geilens, FamRZ 1964, S. 390, daß die Garantenhaftung schon bei jeder w i l l k ü r l i c h e n Aufhebung der Hausgemeinschaft entfällt. 17 Insofern ist Geilen, FamRZ 1961, S. 148 zu widersprechen. ι» S. 135.

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

schon erwähnt, die rechtliche Würdigung des Falles nicht anders ausfallen 1 9 . Das deutet darauf hin, daß es Fälle gibt, i n denen eine bestimmt geartete enge Lebensgemeinschaft auch bereits für sich schon geeignet ist, eine Garantenpflicht zu begründen, ohne daß es auf irgendwelche verwandtschaftliche Beziehungen ankommt 2 0 . Es fragt sich, wie sich denn eine solche „enge Lebensgemeinschaft", die doch offenbar sozialethischen Gehalt hat, zu dem faktischen Merkmal „ t a t sächliches Zusammenleben" i m Garantieverhältnis aus der Ehegattenrolle verhält. Hier gewinnt Androulakis* Gedanke, daß es bei manchen A r t e n der sozialen Nähe auf das Fortbestehen bzw. die A k t u a l i t ä t der Stellung des Betreffenden ankomme 21 , Bedeutung. Das „tatsächliche Zusammenleben" innerhalb der Ehe ist nichts anderes als die faktische Verwirklichung von Sinn und Zweck dieser Gruppe, i n der zwei erwachsene, also selbständige Menschen ständig miteinander leben. Diese Selbständigkeit der Partner innerhalb der Ehe macht es erforderlich, bei der Bewertung der sozialethischen ehelichen Pflichten als Rechtspflichten auf das faktische objektive Bewertungsmerkmal des „tatsächlichen Zusammenlebens" abzustellen 22 . Auch bei einer anderen konkreten engen Lebensgemeinschaft müssen Sinn und Aufgabe und die daraus folgenden sozialethischen Pflichten tatsächlich verwirklicht werden. Da aber die Ziele solcher Gemeinschaften oft andere und viel speziellere als die der Ehe sind, bestehen andersartige Gruppensituationen, die auch andere objektive Bewertungsmerkmale zur Verfügung stellen. So läßt sich sowohl bei der Ehe als auch bei den sonstigen engen Lebensgemeinschaften der sozialethische Gehalt, der durch Sinn und Aufgabe jeweils bestimmt wird, von der faktischen Verwirklichung trennen 2 3 . I m Rahmen dieser faktischen Verwirklichung werden aber entsprechend der unterschiedlichen sinnbestimmten Gruppensituation innerhalb der Ehe und innerhalb der anderen engen Lebensgemeinschaften unterschiedliche objektive Bewertungsmerkmale relevant. i» S. 127 A n m . 5. 20 So auch Schröder i n JR 1964, S. 227. — Vgl. i m übrigen zur K r i t i k der dort geäußerten Ansicht unten S. 164. 21 Siehe oben S. 136. 22 Vgl. die Begründung oben S. 137. 23 M a n täte deshalb gut daran, bei der Begründung sozialethischer Pflichten i m Garantieverhältnis nicht von „effektiver" Lebensgemeinschaft zu sprechen (wie etwa Schröder i n JR 1964, S. 227 dies tut), denn das deutet auf den faktischen Bereich hin, der f ü r die Begründung sozialethischer Pflichten irrelevant ist.

I. Garantie erhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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Freilich bleibt auch die Ehe bei Hervorhebung aller Unterschiede eine enge Lebensgemeinschaft, nur ist sie i m Gegensatz zu anderen engen Lebensgemeinschaften (ausgenommen vielleicht die Familie) die umfassendste. Daraus erklärt sich, daß neben dem Garantieverhältnis aus ehelicher Lebensgemeinschaft nicht etwa noch eines allgemein aus dem Gesichtspunkt der engen Lebensgemeinschaft relevant wird. Eheleute sind also nur aus ihrer Ehegattenrolle heraus zum Schutz von Leib und Leben des Partners verpflichtet, ohne daß irgendwie noch der Begriff der engen Lebensgemeinschaft herangezogen werden müßte. c) Das Garantieverhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung Der i n Literatur und Rechtsprechung verwendete Begriff „Hausgemeinschaft" 24 , der bei der Frage der Leibes- und Lebensfürsorgepflicht der Ehegatten angesprochen wird, ist schillernd und nicht recht faßbar. Er läßt nicht die einzelnen Kriterien deutlich werden, auf die es entscheidend ankommt. So kann unter Hausgemeinschaft ein bloß räumliches Beieinanderleben verstanden werden, aber auch eine enge Lebensgemeinschaft oder ein Nachbarschaftsverhältnis, ein Untermietverhältnis, eine Angehörigenbeziehung oder der soziale Herrschaftsbereich, für den jemand verantwortlich ist. A l l e diese Einzelsachverhalte, die unter Hausgemeinschaft kursieren können, gewinnen unterschiedlichste Bedeutung, bezeichnen sie doch entweder bereits soziale Rollen oder sind objektive Bewertungsmerkmale, die ihrerseits wieder i n Verbindung m i t verschiedenen Rollen unterschiedlich bedeutsam werden. Den unscharfen Begriff 2 5 „Hausgemeinschaft" sollte man daher besser vermeiden 2 6 und dafür lieber die Einzelkriterien, auf die es ankommt, nennen: So zeigt gerade das Beispiel der Leibesund Lebensfürsorgepflicht der Ehegatten, daß es nicht auf die „Hausgemeinschaft", sondern auf das tatsächliche Zusammenleben und die Nichtzerrüttung der Ehe ankommt. Der Begriff „Hausgemeinschaft" verdeckt, daß bei der Frage der Leibes- und Lebensfürsorgepflicht der Ehegatten noch ein ganz anderer Gesichtspunkt hineinspielt, der m i t dem gekennzeichneten Garantieverhältnis der Ehegatten untereinander gar nichts zu t u n hat, nämlich das Garantieverhältnis aus sozialem Herrschaftsbereich 27 , und zwar aus dem räumlichen 26 Herrschaftsbereich der Wohnung. 24 Vgl. zu diesem Begriff bereits früher Dahm, ZStW 59, S. 171 f. (befürwortend). 25 Generell gegen die unscharfe Begriffsbildung Geilen, FamRZ 1964, S. 390. 2β Maurach, A. T., S. 515, befürwortet dagegen diesen Begriff. 27 Darauf hat Geilen, FamRZ 1961, S. 149 aufmerksam gemacht; vgl. bereits Böhm, Diss., S. 69.

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

Mannigfache Gesetzesbestimmungen bringen zum Ausdruck, daß die Sozialordnung dem einzelnen i n der Wohnung einen Bereich zur Entfaltung seiner Persönlichkeit i n Eigenverantwortung zugewiesen hat. A r t . 13 Abs. 1 GG statuiert die Unverletzlichkeit der Wohnung, und nur i n ganz besonderen Situationen und zumeist auch nur aufgrund richterlicher Ermächtigung dürfen staatliche Organe gegen den W i l l e n des Berechtigten die Wohnung betreten (Art. 13 Abs. 2 und 3 GG i n Verbindung m i t §§ 102 ff. StPO). Das StGB schützt i n § 123 das Hausrecht des Wohnungsinhabers, indem es den Aufenthalt i n den Räumen gegen seinen Willen für strafbar erklärt; i n § 243 I 2, 3, 7 StGB w i r d der Diebstahl aus umschlossenen Räumen besonders schwer bestraft; ebenso ist das In-Brand-Setzen der Wohnung i n § 306 Ziff. 2 strafbar. Schließlich liegt der ganzen Fülle der Wohnungsgesetze vom Wohnraumbewirtschaftungsgesetz über die Mietgesetze bis zum Wohngeldgesetz der Gedanke der Sicherung der Wohnung für die Existenz des einzelnen zugrunde. A n diesen Rechten und Sicherungen des Wohnungsinhabers kann man aber nun nicht — wie bereits oben 29 gegen Böhm ausgeführt wurde — entsprechende Pflichten ablesen; diese Rechte deuten vielmehr nur auf die Wichtigkeit der Rolle des Wohnungsinhabers i m Sozialleben hin, und man könnte allenfalls sagen, daß durch die Gewährung der Rechte generell ermöglicht wird, dem einzelnen den räumlich sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung zur Eigenverantwortlichkeit zu überlassen. Welche Pflichten sich i m einzelnen daraus für den Wohnungsinhaber ergeben, darüber kann nur die nähere Betrachtung seiner Rolle Aufschluß geben. Daß der Wohnungsinhaber hier als Inhaber eines „räumlichen sozialen Herrschaftsbereichs" gekennzeichnet wird, bedeutet einen erheblichen Fortschritt i n der Präzisierung dieser Rolle. Der Begriff des sozialen Herrschaftsbereichs, der früher von einigen Autoren als K r i t e r i u m einer Garantenstellung abgelehnt wurde 3 0 , hat sich i m Laufe der Zeit mehr und mehr durchgesetzt, und zwar i n den verschiedensten Formulierungen und Zusamenenhängen, allerdings ohne daß sein Grundgehalt exakt erfaßt worden wäre 3 1 . 28 Daneben gibt es noch den persönlichen (Verhältnis v o n E l t e r n zu K i n dern, Kindermädchen zu K l e i n k i n d , Erzieher zu Zögling, Aufseher zu Gefangenem etc. — nicht dagegen der Ehegatten zueinander, da hier eine Gemeinschaft Gleichgeordneter besteht, bei der — wenigstens der Idee nach — keiner den anderen beherrscht) u n d den sachlichen (Überwachung einer Gefahrenquelle) sozialen Herrschaftsbereich. 2» S. 86 ff. 30 Ablehnend z . B . Mezger, Lb., S. 143; Sauer, A l S t R L , S. 93; V.Hippel, II, S. 164f.; Höpfner, Z S t W 36, S. 124f.; Wrede, Diss., S. 119 ff. 31 Aldosser, S. 105 ff., 111 f. („faktische Herrschaft"); Traeger, S. 108f. u n d i n GS 92, S. 301 f. („Herrschaftsbereich"); Maurach, DStR 1936, S. 115 f.; Dahm,

I. Garantie erhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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Wenn hier vom räumlichen (im Gegensatz zum persönlichen und sachlichen 32 ) Herrschaftsbereich gesprochen wird, so w i r d damit gleich zweimal der Begriff des Raumes berührt. Diesen Begriff gilt es i m folgenden — wenn auch nur skizzenhaft — i n seinen Merkmalen und seiner Bedeutung für das Recht 33 zu verdeutlichen 34 . Rechtlich erhebliches Geschehen ist stets auf den handelnden Menschen bezogen. Daraus folgt, daß für das Recht nur der Lebensraum des Menschen als „der Raum" i n Betracht kommt 3 5 . Innerhalb dieses einen durch die Natur des Menschen begrenzten Gesamtraumes „hat es das Recht m i t einzelnen Räumen, Gebieten Zonen, Erstreckungen und Orten zu t u n " 3 6 , also m i t konkret begrenzten Räumen, die unseren alltäglichen, natürlichen Vorstellungen von Räumen entsprechen 37 . Die einzelnen Räume wie auch der Gattungsbegriff „Raum" lassen sich durch weitere Merkmale charakterisieren. Der Raum, wie w i r i h n i m Recht und i m Alltagsleben annehmen, ist Sichtraum — d.h. ein Raum, den w i r m i t den Augen erfassen 38 —, „ i n dem w i r nicht nur Gesehenes, sondern auch Geräusche, Gerüche, Wärme usw. unterbringen" 3 9 . Dieser Raum ist für uns kein absolut leerer Raum — i n i h m könnten w i r gar nicht existieren —, sondern immer erfüllt m i t irgendwelchen Objekten oder verknüpft m i t irgendwelchen Gedanken, Bedeutungs- und Sinngehalten. So kennen w i r in diesem Sinne GeZStW 59, S. 174; Kissin, S. 116 („Beherrschung eines Komplexes subjektiver Rechte"); Bockelmann, Niederschriften Bd. 12, S. 100, 477 („Monopolstellung"); Welzel, Lb., S. 209 („Zustandshaftung f ü r einen besonderen Herrschaftsbereich"); Schönke/Schröder, 124 ff. (128, 135) v o r § 1 ; Böhm, Diss., S. 67 ff. („Wohnungsinhaber"); W. Landsberg, Diss., S. 42 ff. („Herrschaftsbereich"); vgl. aus der Rechtsprechung z.B. R G 14, S.363 („Hauseigentümer"); 69, S. 321; 72, S.374; 73, S.390; 74, S.311; B G H 3, S.21; i n N J W 1954, S. 847 (alle „Haushaltungsvorstand") ; B G H 6, S.323 f.; i n N J W 1953, S. 591 („Herrschaftsbereich"); B G H 19, S. 167 („Hausgemeinschaft"); B a y r O b L G i n M D R 1952, S. 312 („Hausrecht"). 32 Siehe oben A n m . 28 auf S. 140. 33 Die Auffassungen der Mathematik, Physik, Geographie, Biologie, Physiologie, Philosophie, A r c h i t e k t u r u n d Malerei, überhaupt der Kunst, der Wirtschaft usw. v o m Raum bleiben dabei außer Betracht. Lediglich der soziologische Raumbegriff ist v o n Interesse. 34 Das Folgende beruht auf den Darlegungen Engischs, V o m Weltbild, S. 44 ff. (Kapitel: Der Raum i m Recht). — Vgl. die dort angeführte umfangreiche Literatur. 35 Der eine, unbegrenzte, leere, dreidimensionale Raum (etwa i. S. der klassischen Physik), i n dem sich alles Naturgeschehen abspielt, interessiert das Recht nicht — Engisch, V o m Weltbild, S. 45 ff. 36 Engisch, V o m Weltbild, S. 47. 37 Engisch, V o m Weltbild, S. 47 A n m . 94. 38 i m Gegensatz z u m Schallraum, Geruchsraum, Tastraum usw. 39 Engisch, V o m Weltbild, S. 51.

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

fahrenzonen, Naturschutzgebiete, Staatsgebiete, B e t r i e b e , W e r k s t ä t t e n usw. D i e Dinge, die den R a u m erfüllen, die menschlichen Beziehungen, die sich i n i h m abspielen, d i e A r t u n d Weise, w i e d e r Mensch d e n R a u m z u seiner S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g „ g e b r a u c h t " , a l l das k a n n d e n e i n z e l n e n R a u m c h a r a k t e r i s i e r e n , w e n n es auch n i c h t selbst z u i h m gehört40. D a m i t ist z u g l e i c h d i e U n t e r s c h e i d u n g gegeben z w i s c h e n d e m , w a s das R ä u m l i c h e a m R a u m ausmacht u n d „ d e n j e n i g e n B e g e b e n h e i t e n , d i e a m R ä u m l i c h e n t e i l h a b e n " 4 1 — w i e z. B . d i e m e n s c h l i c h e n H a n d l u n g e n , d i e n u r i m R a u m e x i s t e n t sein k ö n n e n , o h n e selbst R a u m z u sein. A n diesen U n t e r s c h i e d h a t n u n eine B e g r i f f s b e s t i m m u n g „ r ä u m l i c h sozialer H e r r s c h a f t s b e r e i c h " a n z u k n ü p f e n . „ B e r e i c h " m e i n t n u r d i e T e i l h a b e menschlicher V e r h a l t e n s w e i s e a m R a u m — deshalb k a n n es auch d e n sachlichen u n d p e r s ö n l i c h e n H e r r s c h a f t s b e r e i c h geben, b e i H a n d l u n g e n , d i e sich eben a u f Sachen u n d P e r s o n e n beziehen. „ R ä u m l i c h " m e i n t dagegen d e n w i r k l i c h v o r h a n d e n e n , k o n k r e t a b g e g r e n z t e n R a u m , i n d e m sich d i e H a n d l u n g e n abspielen. I n diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant auf eine Diskussion u m den „Herrschaftsbereich" bei den unechten Unterlassungsdelikten z w i schen Welzel u n d Bockelmann einzugehen^. Wenn Bockelmann i n dem F a l l von „Herrschaftsbereich" spricht, i n dem der Autofahrer auf einsamer Straße als einziger dem v o n i h m Angefahrenen helfen kann, so m e i n t er hier den „Bereich", d. h. die räumliche Teilhabe aller menschlichen Handlungen. Welzel, der i h m entgegenhält, daß der Herrschaftsbereich bereits vorher bestehen müsse, meint dagegen „räumlich", d. h. den eigentlichen abgegrenzten Raum, in dem sich die Handlung abspielt Das hier Vorgetragene ergibt, daß Welzel gegenüber Bockelmann recht hat, denn ein Herrschaftsbereich i m Sinne des Handlungs„bereichs" gehört zu jeder menschlichen Verhaltensweise, k a n n also nicht besonderer Anknüpfungspunkt f ü r die H e r vorhebimg strafbarer Unterlassungen sein. I n einem Fall, i n dem der Ehemann wegen Körperverletzung durch U n t e r lassen verurteilt worden ist, w e i l der H u n d der Ehefrau jemanden gebissen hatte, hat das O L G B r e m e n 4 3 ganz ähnlich die Teilhabe der Handlungen am Raum, also den Handlungs„bereich", verwechselt m i t dem Raum an sich. Es f ü h r t aus, daß m a n den Herrschaftsbereich der Ehegatten, der sich an sich auf die eheliche Wohnung beschränke, noch auf die Straße unmittelbar vor der ehelichen Wohnung ausdehnen könne. D a r i n liegt aber nicht n u r eine quantitative Erweiterung des begrenzten Raumes der ehelichen W o h nung, sondern ein qualitativer Umschlag i n den „Bereich" ehelicher (d. h. den Ehegatten treffender) Handlungen, die sich nunmehr i m unbegrenzten Raum vollziehen, also nicht mehr an einen konkreten Raum gebunden sind. (Wo 40 Engisch, V o m Weltbild, S. 51 ff. (S. 55 f.). « Engisch, V o m Weltbild, S. 56. 42 Niederschriften, Bd. 12, S. 100. 43 N J W 1957, S. 72 f.

I. Garantieerhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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sollte auch i n dem F a l l der eheliche „Herrschaftsbereich" enden? A m nächsten Laternenpfahl? A n der nächsten Straßenecke, w o der H u n d j a auch jemanden hätte beißen können? Schließlich wäre von F a l l zu F a l l die ganze Stadt zum „ehelichen Herrschaftsbereich" der betreffenden Eheleute erklärt worden.) Haftung n u r aus dem Gesichtspunkt der ehelichen Lebensgemeinschaft ohne Verknüpfung irgendwelcher Raumvorstellungen wäre hier, wenn auch wertungsmäßig falsch, so doch wenigstens i m Ansatz richtig gewesen 44 .

Des weiteren ist i m Begriff „sozialer Herrschaftsbereich" der Begriff „Herrschaft" zu erläutern. Herrschaft bedeutet, daß jemand die Macht hat, Geschehnisse zu bestimmen und zu lenken 4 5 . Herrschafts-„bereich" bedeutet demnach die notwendige Teilhabe der Herrschaft am Raum, d . h . die Lenkung und Bestimmung von Geschehnissen muß sich i m (zunächst einmal unbegrenzten) Raum vollziehen. „Räumlicher" H e r r schaftsbereich bedeutet darüberhinaus, daß sich die Herrschaft auf einen konkreten, abgegrenzten Raum erstreckt, innerhalb dessen jemand bestimmen kann. Schließlich ist noch das M e r k m a l „sozial" i m vorgeschlagenen Begriff zu verdeutlichen. Genau w i e bei der sozialen Rolle „sozial" die intersubjektive Gemeinsamkeit, die Allgemeingültigkeit der standardisierten Verhaltensmuster meint und damit zur Normierung führt, bedeutet sozial bezüglich des räumlichen Herrschaftsbereichs, daß die Sozialordnung einem (oder mehreren) Menschen einen konkreten Raum zur Herrschaftsausübung zuweist 4e. Der Mitinhaber einer Wohnung, der Teilhaber eines Betriebes usw. sind Inhaber einer (geteilten) Herrschaftsgewalt und werden i n dieser Rolle von ihren Mitmenschen und der Gemeinschaft angesprochen, auch wenn sie diese Herrschaftsgewalt faktisch gar nicht ausüben. Die Rollenverantwortung w i r d ihnen nicht abgenommen. Auch der Pantoffelheld ist und bleibt i n diesem Sinne Hausherr 4 7 . Die normative Qualität der Rolle kann und 44 Der wahre tragende G r u n d der Entscheidung w a r sowieso weder das vorangegangene gefährdende T u n noch die Stellung des Ehemannes als Haushaltungsvorstand noch der eheliche Herrschaftsbereich w i e das O L G meint, sondern eine Tierhalterhaftung (ebenso Schönke/Schröder, 124 vor §1). E i n typisches Beispiel, w i e durch unscharfe Begriffsbildung eine i m Ergebnis vielleicht richtige Entscheidung falsch begründet w i r d u n d w i e die Summierung von verschwommenen „Garantenstellungen" die Begründung nicht verbessert. 45 Bockelmann, Niederschriften Bd. 12, S. 100, versucht das M e r k m a l der Herrschaft m i t dem Begriff der Monopolstellung zu erfassen. Das ist aber nicht ganz zutreffend. Die Monopolstellung setzt zwar auch die Herrschaft voraus, aber die eines Einzigen, während der Herrschaftsbegriff von der Anzahl der Herrschenden unabhängig ist. 46 U n d zwar i m Interesse der Sozialordnung. 47 Die bloß gruppenmögliche Rolle des Pantoffelhelden i n der Ehe bzw. Familie hat nichts m i t der innerhalb der Gesamtgruppe der Gemeinschaft bestehenden strukturnotwendigen Rolle des Wohnungsinhabers (Hausherrn) zu tun.

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

darf durch das Faktische nicht überspielt werden, da sonst, wenn sich jeder faktisch den Verpflichtungen seiner sozial-funktionellen Stellung entziehen könnte, das Sozialleben empfindlich gestört würde. Die Wohnung als „räumlich sozialen Herrschaftsbereich" zu kennzeichnen, bedeutet, daß hier von der Sozialordnung — und, wie oben 48 aufgezeigt, auch von der Rechtsordnung — dem einzelnen (oder mehreren) ein Raum zur Herrschaftsausübung in Eigenverantwortlichkeit zugewiesen ist. Wer das ist, läßt sich i m einzelnen ziemlich leicht feststellen. Bei einem Ehepaar sind es Mann und Frau entsprechend der heutigen Auffassung der Gleichberechtigung von Mann und Frau 4 9 . Bei einer Familie sind es zumeist die Eltern, es können aber auch die Kinder sein, wenn sie ihrerseits die Eltern i n ihre Wohnung aufnehmen. Entscheidende Bedeutung kommt der Bestimmung der Pflichten zu. Wenn die Gemeinschaft sich weitgehend einer Eingriffsmöglichkeit i n die Wohnungssphäre des einzelnen enthält, so ist sie ihrerseits hinsichtlich des Schutzes anderer (als des Wohnungsinhabers) darauf angewiesen, daß der Wohnungsinhaber i n seiner Wohnung den sozialen Frieden wahrt, d. h. die Sozialgüter (die für die Gemeinschaft wertvollen Güter) schützt. Es ist also die soziale (arbeitsteilige) Funktion des einzelnen, also hier die soziale Rolle des Wohnungsinhabers (Beherrschers des räumlichen sozialen Herrschaftsbereichs „Wohnung"), die maßgeblich ist 5 0 . Diese Rolle hat zunächst die sozialethischen Pflichten zum Inhalt, alle Rechtsgüter (das sind die wichtigen Sozialgüter) i n der Wohnung zu schützen. Die Frage ist nur, ob und wieweit solche Pflichten zu Rechtspflichten werden, d.h. welches die objektiven Bewertungsmerkmale sind, die diese sozialethischen Pflichten für die Gemeinschaft besonders wichtig machen. Diese Merkmale ergeben sich aus der Untersuchung, welche besonderen elementaren Sinnbezügen die Sozialordnung m i t dem Raum „Wohnung" verknüpft sieht, durch die er charakterisiert w i r d 5 1 . Den bedeutungsvollsten Hinweis gibt das StGB selbst, nämlich durch die Bestimmungen des § 243 I 2, 3 und 7 und des § 306 Ziff. 2 5 2 . Die dort niedergelegten Diebstahlsqualifikationen und Brandstiftungsvoraus« s. 140. 49 So Schönke/Schröder, 135 vor § 1. so Das ist der richtige K e r n i n Böhms Ausführung hierzu — Diss., S. 67 ff. A n besondere Vorrechte braucht aber deshalb nicht angeknüpft zu werden, si Vgl. die generellen Ausführungen oben S. 141 f. 52 Dagegen nicht durch § 123, denn dieser schützt die räumliche Herrschaft selbst, also das Hausrecht, bezeichnet also nicht die inhaltliche Tragweite dieser Herrschaft — vgl. zum Rechtsgut des § 123 Schönke/Schröder, 1 zu §123.

I. Garantie erhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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Setzungen beruhen darauf, daß bei ihrer Verwirklichung das Gebäude bzw. der umschlossene Raum, zu denen ja auch die Wohnung zählt, i n ihrer Schutzfunktion für Menschen und Sachen beeinträchtigt werden. Selbstverständlich berührt § 243 i n Abs. 1 Ziff. 2, 3 und 7 n u r einen T e i l dieser Schutzfunktion: Da er n u r die i m Raum befindlichen Sachen v o r der Wegnahme durch D r i t t e schützt, weist er i n erster L i n i e auf die F u n k t i o n des Raumes, Unbefugte abzuhalten, hin* 3 . § 306 Ziff. 2 t r i f f t dagegen eindeutig den Raum i n seiner Schutzfunktion f ü r den Menschen.

So umreißt das Strafgesetz selbst schon sehr deutlich den elementaren Sinn und Zweck des Raumes „Wohnung", den ihm die Sozialordnung gibt: Menschen und Sachen physischen Schutz zu gewähren. Der Wohnungsinhaber als Beherrscher eines solchen Raumes hat damit rechtlich vor allem seine Herrschaft i m Sinne dieser Funktion auszuüben, d. h. er hat die Geschehnisse so zu lenken, daß die Rechtsgutsobjekte in ihrer physischen Existenz nicht verletzt oder zerstört werden. Das Erfordernis der physischen Existenz der Rechtsgutsobjekte ist das objektive Bewertungsmerkmal, das die Sozialpflicht des Wohnungsinhabers zur Rechtspflicht werden läßt. Das bedeutet, daß das Garantieverhältnis aus Beherrschung des sozialen Herrschaftsbereichs „Wohnung" nur in bestimmten kodifizierten Tatbeständen relevant wird, nämlich i n denen, wo es darum geht, Rechtsgüter m i t physischen Objekten bzw. solche, die durch einen physischen Angriff auf das Objekt verletzt werden können 54 , zu schützen. Damit ist das Garantie Verhältnis aus „Herrschaft über den räumlichen sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung" m i t seinen ihm eigenen Kriterien bestimmt und kann scharf von den beiden anderen Garantieverhältnissen aus enger Lebensgemeinschaft und aus der Ehe abgegrenzt werden. Das Garantieverhältnis aus Ehebeziehungen kann neben dem aus sozialem Herrschaftsbereich bestehen, wenn der Ehegatte zugleich Wohnungsinhaber ist. Als Wohnungsinhaber — also nicht in seiner Ehegattenrolle — hat der eine Ehepartner die Pflicht, den anderen, genau wie jede beliebige dritte Person, vor Angriffen auf dessen Leib und Leben innerhalb der Wohnung zu bewahren. Für die Selbstmord53 I m m e r h i n findet sich bereits i m Zusammenhang m i t § 243 die Begriffsbestimmung des Gebäudes, daß „das Bauwerk dazu bestimmt u n d geeignet war, zum Schutz von Tieren oder Sachen zu dienen" (RG 49, S. 52). Ebenso Schönke/Schröder, 9 zu § 243. Vgl. auch die treffenden Ausführungen des O L G Hamburg, i n N J W 1962, S. 1453 ff. (Telefonzelle). Dagegen stellt B G H 1, S. 164 mehr auf die A b w e h r Unbefugter ab, i n Bd. 6, S. 107 f. dagegen wieder mehr auf die Schutzfunktion. — K l ä r e n d auch Werner i n L K , I I 1 zu § 306. 64 Etwa bei Nötigung u n d Erpressung. — Nähere Verdeutlichung i n den folgenden Abschnitten.

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

fälle ist dabei zu bedenken — und hier spielt wieder die schwierige spezielle Selbstmordproblematik hinein, auf die nicht näher eingegangen werden kann: Die Ehegatten sind i n der Regel beide Beherrscher des sozialen Herrschaftsbereiches „Wohnung". Da beide gleichberechtigt die Geschehnisse i n der Wohnung lenken und zu verantworten haben, ist bei der freiwilligen Seibstgefährdung der eine oder der andere nicht von vornherein verantwortlich, sondern allenfalls erst dann, wenn der eine die Möglichkeit der freien Selbstbestimmung (z.B. das Bewußtsein, die Zurechnungsfähigkeit) verloren hat und damit der andere alleiniger Beherrscher des sozialen Herrschaftsbereichs „Wohnung" geworden ist 5 5 . 2. Die

Vermögensfürsorge

a) Das Garantieverhältnis aus der Ehe Die Vermögensfürsorgepflicht der Ehegatten füreinander ist i m Hinblick auf die unechten Unterlassungsdelikte bisher nicht so bedeutsam geworden wie die Leibes- und Lebensfürsorge. Trotzdem ist es vonnöten, zumindest die Richtung, i n der die Überlegungen zu gehen haben, aufzuzeigen, um Fehlurteile, wie sie bisher manchmal vorkamen, i n Zukunft zu vermeiden. Die Basis der Überlegungen kann aus früher Gesagtem zusammengestellt werden: Die sozialethischen Pflichten der Ehegattenrolle erfassen auch die Vermögensfürsorge. Zur Rechtspflicht w i r d diese Pflicht durch die Kombination dreier objektiver Bewertungsmerkmale. Das Vermögensgut muß für den Partner existentiell wichtig sein 1 ; dazu muß entweder das Moment der Nichtzerrüttung der Ehe oder das des tatsächlichen Zusammenlebens 2 hinzukommen. Diese Grundstruktur w i r d nun von Tatbestandsgruppe zu Tatbestandsgruppe modifiziert. Für die §§ 242 ff. ist zu beachten, daß das Gesetz i n §247 Abs. 2 Diebstahl und Unterschlagung zwischen Ehegatten straflos sein läßt. Das gilt selbstverständlich auch, wenn diese Delikte durch Unterlassen der Ehegatten verwirklicht werden. — Aus § 247 Abs. 2 kann jedoch 55 Dieser Gesichtspunkt g i l t auch f ü r die freiwillige Selbstgefährdung eines D r i t t e n i n der Wohnung. — Die Fragwürdigkeit dieser Gedankenkonstruktion m i t der das Prinzip der Straflosigkeit der Teilnahme am Selbstmord oft umgangen w i r d , soll hier nicht aufgerollt werden. E i n T e i l der Lehre u n d die Rechtsprechung neigen jedenfalls zu Begründungen dieser A r t . — B G H 2, S. 156; 13, S. 167; Gallas, J Z 1952, S.372f.; Niese, J Z 1953, S. 175; Kielwein, G A 1955, S. 227. — Abweichend jetzt Gallas, J Z 1960, S. 687 ff. ι Siehe oben S. 119 f. 2 Siehe oben S. 137.

I. Garantieverhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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nicht geschlossen werden, daß das Gesetz für § 242 ff. schon eine rechtliche Pflicht der Ehegatten zur gegenseitigen Vermögensfürsorge verneint, denn diese Vorschrift ist nur ein persönlicher Strafausschließungsgrund, der einmal darauf beruht, daß die Klärung der Eigentumsverhältnisse zwischen den Ehegatten oft sehr schwierig ist, und zum anderen darauf, daß die staatliche Strafverfolgung den familiären Bereich so wenig wie möglich belasten soll. Uber den Unrechts- und Schuldgehalt sagt § 247 Abs. 2 nichts aus3. Demzufolge berührt diese Bestimmung nicht die rechtlichen Verpflichtungen der Ehegatten untereinander und damit auch nicht das Garantieverhältnis hinsichtlich ihres Vermögens. Aus dem Dargelegten ergibt sich die Lösung folgender Fälle: Sieht ein Ehemann zu, wie ein Taschendieb seiner Frau im Gedränge 5.— D M stiehlt, so t r i f f t ihn keine strafrechtlich relevante Rechtspflicht, dies zu verhindern, denn bei den 5.— D M handelt es sich nicht um ein existentiell wichtiges Vermögensgut der Frau. § 247 Abs. 2 braucht folglich gar nicht erst bemüht zu werden. Anders jedoch, wenn der Dieb das Sparkassenbuch der Ehefrau, die ihr ganzes Vermögen auf der Bank hat, stiehlt. Dann besteht die rechtliche Hinderungspflicht des Ehemannes, da es sich um ein existentiell wichtiges Gut handelt; hier greift aber § 247 Abs. 2 ein. Ähnliche Grundsätze gelten für Betrug und Untreue und deren Verfolgungsvoraussetzungen der Strafantragserfordernisse (§§ 263 Abs. 5, 265 a Abs. 4, 266 Abs. 3). Beim Raub ist neben dem Eigentum die persönliche Freiheit des Angegriffenen (Gewahrsamsträgers oder Verteidigungsbereiten) 4 geschützt 5 . Dabei entsteht zwangsläufig die generelle Frage, ob und wieweit der Ehegatte überhaupt zum Schutze der Freiheit des anderen verpflichtet ist. A n der sozialethischen Verpflichtung dürfte kein Zweifel bestehen 6 , zu klären bleibt nur, welche Umstände diese Pflicht zur Rechtspflicht machen. Beim Schutz der persönlichen Freiheit knüpft das Strafrecht an die psychischen Sachverhalte der Willensbildung und 3 So die h. L. u n d Rechtsprechung. — Vgl. Kohlrausch/Lange, V I I zu § 247; Welzel, Lb., S. 336; Maurach , B . T . , S. 217; Jagusch i n L K , 5 zu §247; Kohlhaas, ZStW 70, S. 225; Mittelbach, JR 1963, S. 189; B G H 18, S. 123; R G 73, S. 153; 61, S. 271; ganz i n diesem Sinne auch E 1962, S. 410 f.; a. M. Schönkel Schröder, 13, 14 zu § 247; Stree, FamRZ 1962, S. 59. 4 Maurach, B. T., S. 238; B G H 3, S. 297; R G 67, S. 186. 5 Schönke/Schröder, 1 zu § 249; Maurach, B. T., S. 235 f. 6 Vgl. z. B. n u r die umfassenden Pflichtenkataloge bei Dölle, Familienrecht I, S. 392 u n d Soergel/Siebert, 4 ff. zu § 1353 BGB.

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

Willensbetätigung an. Während das Gesetz beide Bereiche i n § 240 generell schützt, greift es i n anderen Tatbeständen noch einmal ganz besondere Freiheitssphären der Willensbetätigung auf. Durch diese Sonderregelungen, die zudem meistens noch mit einer höheren Strafdrohung ausgestattet sind, gibt das Gesetz zu erkennen, daß gerade der Schutz der freiheitlichen Willensausübung auf diesen bestimmten Gebieten besonders wichtig ist. So w i r d i n §239 die Freiheit der Willensbetätigung hinsichtlich der Veränderung des Aufenthaltsortes 7 , i n §§ 174, 176 ff. die Freiheit der Bestimmung über das eigene Geschlechtsleben8, i n § 249 ff. die freie Gewahrsamsausübung und Eigentumsbefugnis 9 , i n § 253 ff. die Dispositionsbefugnis über das Vermögen 10 geschützt. M i t diesem Gesichtspunkt des besonderen Schutzes der freiheitlichen Willensbetätigung auf verschiedenen Lebensgebieten kreuzt sich eine andere Qualifikation. So f ü h r t die besondere A r t des Angriffs und der m i t i h m verbundenen Motive zur B i l d u n g besonderer Tatbestände, z. B. i n §§ 234 (Menschenraub), 234 a (Verschleppen), 235 (Kinderraub), 236 ff. (Entführung), 241 (Bedrohung). Diese besonderen Momente können f ü r das Garantie Verhältnis zwischen dem einen Ehegatten u n d dem Hechtsgut der persönlichen Freiheit des anderen ebenfalls bedeutsam werden. I m vorliegenden Z u sammenhang, w o es n u r u m die Tatbestände der i m vorigen Absatz genannten Gruppe geht, sollen sie nicht berücksichtigt werden 1 1 .

Damit weist das Gesetz schon selbst auf ein Moment hin, das den Achtungsanspruch der persönlichen Freiheit besonders dringlich macht, nämlich die freiheitliche Willensbetätigung i n einem besonderen

Lebens-

bereich, und zwar i n einem jeweils existentiell bedeutsamen Lebensbereich. Damit weist das Gesetz auf ein allgemeingültiges, objektives Bewertungsmerkmal 1 2 hin, das auch und gerade i n der Ehe gilt, liegt es doch im Wesen dieser lebenslangen Gemeinschaft zweier Menschen, daß sie sich ganz besonders i n den existentiell wichtigen Lebensbereichen umeinander kümmern. Damit ist ein objektives Bewertungsmerkmal gefunden, das die sozialethische Pflicht des Ehegatten, den Partner in seiner Willensbildung zu schützen, zur Rechtspflicht macht: Die Ausübung dieser Freiheit in einem der als besonders wichtig i m 7 B G H 14, S. 316; Schönke/Schröder, 1 zu § 239; Maurach, B . T . , S. 115. β Maurach, B. T., S. 403, 103; Schönke/Schröder, 1 vor § 234; 1 zu § 174; 1 zu § 176. » Maurach, B. T., S. 235 f. 10 Maurach, B. T., S. 275; Schönke/Schröder, 1 zu § 253. 11 Vgl. insgesamt zur Gesetzessystematik bei den Freiheitsdelikten, Maurach, B. T., S. 101 ff. 12 Die Allgemeingültigkeit dieser Bewertung durch das geltende Gesetz w i r d durch E. 1962 bestätigt, der i n den §§ 163 ff. (Freiheitsberaubung), § 170 (Nötigung), §§ 204 ff. (Sittlichkeitsdelikte), 245 ff. (Raub), § 259 (Erpressung) i m wesentlichen die gleichen besonderen Gebiete freiheitlicher Willensbetätigung schützt. — Vgl. zusammenfassend E. 1962, S. 301 f.

I. Garantie erhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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Strafgesetz angesprochenen Lebensbereiche. Das Garantieverhältnis des Ehegatten zum Schutze der freiheitlichen Willensbetätigung des anderen w i r d damit i n den §§ 239, 174, 176 ff., 249 ff., 253 ff. auf jeden Fall relevant. Offengelassen w i r d hier die Frage, ob der Ehegatte strafrechtlich zur A b wehr jeder Nötigung nach § 240 verpflichtet ist, ob er also m i t strafrechtlicher W i r k u n g die Freiheit der Willensentschließung u n d -betätigung des Partners auf allen Gebieten u n d immer zu schützen hat. Dies ist i n Fällen einer leichten Nötigung durch D r i t t e zumindest sehr fraglich. Das objektive Bewertungsmerkmal zur Kennzeichnung der sozialethischen Pflicht des Ehegatten als Rechtspflicht könnte i n § 240 dann n u r die Intensität des Druckmittels u n d das Ausmaß des abgenötigten Verhaltens sein, wobei sich die Schwierigkeit ergibt, daß die Grenze quer durch die Tatbestandsmerkmale „ G e w a l t " u n d „Drohung m i t einem empfindlichen Übel" verläuft. Es k a n n z. B. ein bloßes Festhalten auf belebter Straße als Gewalt ein viel leichteres Druckmittel sein als z. B. die Drohung m i t einer Strafanzeige. — Die U n sicherheiten dieser Abgrenzung werden i n den obengenannten besonderen Tatbeständen durch das Abstellen auf den besonderen Willensbetätigungsbereich vermieden.

Der eine Ehegatte hat also — gleichgültig wie man in § 249 ff. das Verhältnis der beiden geschützten Rechtsgüter „Eigentum" und „Freiheit" zueinander sieht 1 3 — den anderen vor Raub zu schützen, da sich die Willensfreiheit auf die Gewahrsamsausübung bezieht. Dabei ist noch eine Abwandlung des oben 14 genannten Grundprinzips zu beachten. Der Doppelangriff auf zwei Rechtsgüter (Freiheit und Eigentum) des Ehegatten macht die Beschränkung der Schutzpflicht auf die existentiell wichtigen Vermögenswerte des anderen entbehrlich, d.h. auch wenn dem einen Partner 5.— D M unter Gewalt entwendet werden, muß der andere von Rechts wegen eingreifen. A n die Stelle des objektiven Bewertungsmerkmals „existentiell wichtiges Vermögensgut" t r i t t das objektive Bewertungsmerkmal „Angriff auf zwei Rechtsgüter zugleich". — Ähnliche Grundsätze wie beim Raub gelten für die Erpressung, § 253 ff. Für die Sachbeschädigung kommt zu dem oben genannten Grundprinzip lediglich die Besonderheit hinzu, daß der Ehegatte befugt ist, den Strafantrag zurückzunehmen (§ 303 Abs. 4). b) Das Garantieverhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung Auch i m Hinblick auf den Vermögensschutz taucht neben dem Garantieverhältnis aus ehelicher Lebensgemeinschaft wieder das aus dem räumlichen sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung auf. Für letzteres i» Vgl. dazu Maurach, 14 S. 146.

B. T., S. 237.

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

gilt wieder der Grundgedanke, daß sich entsprechend der Schutzfunktion des Raumes die Rechtspflicht des Wohnungsinhabers bzw. des Hausbesitzers auf den physischen Schutz von Menschen und Sachen i m beherrschten Raum beschränkt 15 . Für die §§ 242 ff. ergibt sich daraus: Der Wohnungsinhaber (Beherrscher dieses Raumes), der wissentlich zuläßt, daß ein Dieb Sachen eines Freundes oder Dritten aus seiner Wohnung stiehlt, ist wegen Beihilfe zum Diebstahl zu bestrafen, auch wenn die Objekte nur geringwertig sind, da in den §§ 242 f. die Funktion des Raumes, physischen Schutz zu gewähren, i m Vordergrund steht 16 . Das gilt auch dann, wenn der Wohnungsinhaber zusieht, wie Gegenstände seiner Frau gestohlen werden, denn hier steht nicht sein Garantieverhältnis als Ehemann, das eine Beschränkung auf existentiell wichtige Güter erfordert, zur Diskussion, sondern das als Beherrscher des Wohnraumes. Allerdings greift für die ehelichen Güter auch bei diesem Garantieverhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung der persönliche Strafausschließungsgrund des § 247 Abs. 2 ein, denn der Grund für den Erlaß dieser Bestimmung deckt auch das Garantieverhältnis aus Beherrschung des Wohnraumes, spielt sich doch das Eheleben i m wesentlichen i n der Wohnung ab und schützt der Raum hier zusammen die Sachen der Eheleute, an denen sich gerade deshalb oft die Eigentumsverhältnisse nicht klären lassen. Anders, wenn Sachen Dritter i n der Wohnung untergebracht sind: hier steht auf jeden Fall fest, daß sie nicht den Eheleuten gehören. Deshalb ist der einen Diebstahl wissentlich nicht hindernde Wohnungsinhaber strafbar, wenn die gestohlenen Objekte Eigentum eines Dritten sind, nach § 247 Abs. 2 aber nicht, wenn sie seiner Frau gehören. Die gleichen Gesichtspunkte gelten selbstverständlich auch für die Unterschlagung und auch für das Strafantragserfordernis bei der Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 4). Ganz anders liegen die rechtlichen Gesichtspunkte bei Betrug und Untreue. Geschütztes Rechtsgut ist i n § 263 das Vermögen, und zwar nach herrschender Lehre und Rechtsprechung nur das Vermögen 17 . I m Gegensatz zu §§ 242 ff. w i r d i n § 263 das Vermögen nicht als Eigentum, also in seinem Bestand physischer Sachen, sondern als Gesamtheit is Siehe oben S. 145. *e Übrigens sieht das Gesetz bei der Begehung ebenfalls v o n der Hochwertigkeit der gestohlenen Objekte ab. 17 Maurach, B. T., S. 288 f.; Schönke/Schröder, 1 zu § 263; Jagusch i n L K , 1 zu §263; Welzel, Lb., S.347; B G H 16, S. 325. — Ä h n l i c h f ü r die Untreue: Maurach, B. T., S. 3201, Welzel, Lb., S. 363; Jagusch i n L K , 1 zu §266 ; a. M. Schönke/Schröder, 1 zu § 266, die auch das Treueverhältnis als geschützt ansehen.

I. Garantie Verhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

151

der wirtschaftlichen Güter einer Person — also z. B. auch Forderungen umfassend — geschützt. M i t diesem Vermögen i n seiner wirtschaftlichen Bedeutung für den einzelnen hat der Raum in seiner Schutzfunktion nichts zu tun. Dies ist um so einsichtiger, wenn man bedenkt, daß i n § 263 nur ein Vermögensangriff über den trotz Täuschung doch immerhin freiheitlichen Willensentschluß des Betrogenen zur Selbstschädigung für strafbar erklärt wird. Einige Beispiele mögen das veranschaulichen: Wenn der Wohnungsinhaber A m i t seinem Freund Β i m Gasthaus sitzt und zusieht, wie der m i t am Tisch sitzende X den Β u m Aktien betrügt, die bei der Bank i m Depot liegen, so t r i f f t A keine Rechtspflicht, den Β vor dem Vermögensschaden zu bewahren 1 8 ; und dies auch dann nicht, wenn die Aktien in der Wohnung des A liegen, denn Β kann ja jederzeit selbst seine Wertpapiere aus der Wohnung des A holen und sie dem X geben, was an dem Betrug nichts ändern würde. A n der rechtlichen Beurteilung ändert sich auch nichts, wenn man den Schauplatz der Täuschung in die Wohnung des A verlegt. Der innere Vorgang der ;freiheitlichen (wenn auch durch Täuschung verursachten) Willensbildung w i r d nicht durch die Schutzfunktion irgendeines konkret abgegrenzten Raumes erfaßt. Β kann genauso auf einsamem Waldweg oder auf belebter Großstadtstraße von X betrogen werden, ohne daß irgendjemand — selbst die Polizei nicht — eingreifen könnte. Das bestätigt wieder das oben genannte Prinzip: Die Eigenverantwortlichkeit des Wohnungsinhabers bezüglich seines Raumes w i r d strafrechtlich durch das objektive Bewertungsmerkmal, daß es sich um einen A n griff auf physische Objekte der Rechtsgüter handeln muß, begrenzt. M. a. W.: Z u § 263 gibt es mangels des objektiven Bewertungsmerkmals „physische Rechtsgutsobjekte" bzw. „physische Angriffe auf Rechtsgutsobjekte" kein Garantieverhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung. — Demgemäß t r i f f t auch den Wohnungsinhaber, wenn seine Frau um ihr Vermögen betrogen wird, als Wohnungsinhaber keine Rechtspflicht zum Eingreifen 19 . Dieselben Grundsätze gelten für die Untreue. Wieder anders liegen die Dinge beim Raub. Der Schutz des Eigentums, also von Vermögensteilen in ihrem physischen Bestand, gehört zur Funktion des Raumes. Der Wohnungsinhaber ist also verpflichtet, jeden Dritten — ebenso seinen Ehepartner (§ 247 Abs. 2 gilt beim Raub nicht) 2 0 — vor einem Raube zu bewahren, und zwar unabhängig vom ι» Die Freundschaft begründet k e i n Garantieverhältnis, siehe oben S. 112. W o h l aber als Ehemann, aber n u r dann, wenn es sich u m existentiell wichtige Güter (auch Forderungen) seiner F r a u handelt. 20 Maurach , B . T . , S. 236; Jagusch i n L K , 9 zu §249. 19

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

Wert des geraubten Objekts. Der Angriff auf die Freiheit des Gewahrsamsinhabers i n der Wohnung verändert hier die rechtliche Beurteilung nicht. Komplizierter liegt die Problematik bei der Erpressung. Das i n den §§ 253 ff. geschützte Rechtsgut, das Vermögen, ist, wie beim Betrug dargelegt, nicht Gegenstand einer Rechtspflicht des Wohnungsinhabers. Hier spielt aber die A r t des Angriffs auf die Freiheit der Dispositionsbefugnis über das Vermögen eine Rolle. Soweit dieser physisch, auf jeden Fall nicht bloß über den Willen des Opfers geführt w i r d 2 1 , w i r d die Schutzfunktion des Raumes berührt. Hierzu zählen alle Fälle der Gewalt 2 2 . Bei der Drohung ist zu differenzieren. Wenn A den Β m i t der Drohung einer Strafanzeige um 10 000.— D M erpreßt, so spielt der Ort der Handlung keine Rolle; es ist gleichgültig, ob das i m Wirtshaus, auf der Straße, i m Wald oder i n der Wohnung des X geschieht. Anders ist zu entscheiden, wenn der Raum Mittel zum Zweck der Durchsetzung oder Verstärkung der Drohung ist 2 3 , so ζ. B. wenn das Opfer sich der Drohung nicht entziehen kann, weil es der umschlossene Raum daran hindert oder wenn der Täter nicht m i t der Pistole vor ihm, sondern an der Tür steht. I n diesen Fällen der Drohung hat der Wohnungsinhaber jeden (also auch seine Frau) vor Erpressungen zu bewahren. Diese Abgrenzung w ü r d e auch f ü r die Rechtspflicht des Wohnungsinhabers i n allen Fällen der einfachen Nötigung nach § 240 Bedeutung haben.

Bei der Brandstiftung ist strikt zwischen den Fällen des § 306 und des § 308 zu unterscheiden. I n § 306 ist die Garantenpflicht des Wohnungsinhabers unproblematisch. Der Beherrscher des sozialen Herrschaftsbereichs „Wohnung" ist für das Leben eines jeden verantwortlich; ob das Haus nun seiner Frau gehört oder nicht, ist unerheblich 24 . — I n § 308 w i r d jedoch ein ganz anderes Garantieverhältnis relevant, nämlich das aus sozialem sachlichen Herrschaftsbereich. Es kommt für die 2. Alternative dieser Vorschrift nicht darauf an, daß durch den Brand eine Gefährdung von Menschenleben i n dem beherrschten Raum entsteht, sondern daß von den Sachen, die diesen Raum konkret begrenzen, also den Mauern, dem Dach usw. eine Gefahr ausgeht, die sich i n anderen Räumen realisieren könnte. Es geht also um die Beherrschung der Sache Haus als 21 Vgl. dazu Maurach , Β. T., S. 108 ff. u n d 237 ff. 22 Vgl. zu dem weiten Gewaltbegriff insbes. Maurach , Β . T., S. 108 ff.; Schönke/Schröder, 6 ff. vor § 234. 23 Vgl. bereits oben, S. 145, die Formulierung bei der Darlegung der G r u n d s t r u k t u r des Garantieverhältnisses aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung. 24 Vgl. zum Garantieverhältnis aus der Ehe bei der Brandstiftung oben S. 115 ff,

I. Garantie Verhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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Gefahrenquelle 25 . Damit besteht ein Garantieverhältnis zwischen dem Hausbesitzer als Herrscher über diese Gefahrenquelle und dem Rechtsgut der Allgemeinheit „Menschenleben". Hieraus entspringt die Rechtspflicht, die Allgemeinheit schon vor der abstrakten Gefährdung von Menschenleben zu schützen. — Ein völlig anderes B i l d ergibt sich wieder für die 1. Alternative des § 308. Hier wäre, um die §§ 306 und 308 2. Alternative auszuschalten, etwa an folgenden Fall zu denken: A wohnt allein in einem völlig einsamen Haus, das dem X gehört, i m kahlen Gebirge 26 . Als Β es anzündet, ist A damit einverstanden, w e i l er es sowieso verlassen will. Geschütztes Rechtsgut ist in diesem Fall lediglich das Eigentum des X. Zwischen diesem und A kann ein Garantieverhältnis also nicht aus sozial räumlichem oder sachlichem Herrschaftsbereich bestehen, sondern allenfalls aus vertraglicher A b machung zwischen A und X. Hier hätten dann die Grundsätze zu gelten, die die Rechtsprechung zu §266 entwickelt hat 2 7 . Wenn also unter solchen Umständen i m Gebirge ein Ehemann zuschaut, wie das Haus seiner Frau abbrennt, so kommt bei ihm für eine Bestrafung aus § 308 1. Altern, nur das Garantieverhältnis aus der Ehegemeinschaft i n Betracht, falls das Haus ein existentiell wichtiges Vermögensgut der Frau ist, nicht aber die Garantieverhältnisse aus dem räumlichen oder sachlichen sozialen Herrschaftsbereich. 3. Die Verhinderung

strafbarer

Handlungen

des

Ehegatten

Die Rechtsprechung hat bis heute ständig eine Rechtspflicht des einen Ehegatten zur Verhinderung von Straftaten des anderen angenommen und ersteren wegen Täterschaft oder Beihilfe durch unechtes Unterlassen bestraft 1 . Eine Begründung wurde hierzu, außer einer recht patriarchalischen aus dem Jahre 18922, soweit ersichtlich, nicht gegeben, 25

Damit ergibt sich eine klare Abgrenzung zwischen dem Garantieverhältnis aus räumlich sozialem Herrschaftsbereich u n d dem aus sachlich sozialem Herrschaftsbereich. Bei dem ersteren hat sich ein sinnerfassendes Bemühen darauf zu richten, welcher Raum dem einzelnen v o n der Gesellschaft zur Verantwortung übertragen ist, bei dem letzteren, f ü r welche Sachen er die Verantwortung trägt. 26 Es könnten also weder „Warenvorräte, welche auf dazu bestimmten öffentlichen Plätzen lagern" noch „Früchte auf dem Felde, Waldungen oder Torfmoore" usw. gefährdet werden. 2 7 Siehe oben S. 121. ι R G 22, S. 333 f.; 48, S. 197 f.; 58, S.97f. u n d 227 f.; 72, S. 19; 74, S.285; i n DR 1943, S. 234. 2 R G 22, S. 333: „Was aber die Stellung des Ehemannes betrifft, so hat die eheliche Gesellschaft i n i h m i h r Haupt. Sein Entschluß gibt i n gemeinschaftlichen Angelegenheiten den Ausschlag. Er ist schuldig u n d befugt, die Person, die Ehre, das Vermögen der Ehefrau i n u n d außer Gericht zu v e r teidigen . . . Ohne seine E i n w i l l i g u n g darf die Ehefrau keine Verbindung eingehen, wodurch die Rechte auf ihre Person gekränkt werden."

154

D. Einzelne Garantieverhältnisse

wenn man nicht den formalen Hinweis auf die §§ 1353 ff. BGB als solche gelten lassen w i l l . I n der neueren Rechtsprechung scheint sich allerdings eine Einschränkung insoweit durchzusetzen, als sich die Garantenhaftung nur auf die Straftaten beziehen soll, die von dem anderen „ i n dem besonderen Herrschaftsbereich eines jeden Ehegatten, nämlich der ehelichen Wohnung" begangen werden 3 . Auch bei dieser Problematik werden also Kriterien der ehelichen Lebensgemeinschaft und der „Hausgemeinschaft" miteinander kombiniert. Es fragt sich, ob dies sachgerecht ist und ob man nicht vielmehr wieder zwischen den verschiedenen Garantie Verhältnissen trennen muß. a) Das Garantieverhältnis aus der Ehe Die soeben zitierte Rechtsprechung ist in der Wissenschaft fast einmütig kritisiert worden, wobei jedoch die Uberzeugungskraft der Gegenargumente stellenweise zu wünschen übrig läßt. So trägt der temperamentvolle, scharfe A n g r i f f H. Mayers gegen die Rechtsprechung — „ W a r u m erregt man sich eigentlich über die nationalsozialistische Sippenhaftung, w e n n m a n sie durch bloße Rechtsprechung wieder einführen w i l l ? " 4 —· nichts zur K l ä r u n g der Problematik bei; denn der B G H w i r d selbstverständlich den Gedanken einer Sippenhaftung w e i t von sich weisen. Es geht vielmehr i n dem Streit darum, Unrecht u n d Schuld des unterlassenden Ehegatten sachlich zutreffend zu erfassen; u n d n u r Argumente, die die Rolle des Ehegatten präzisieren, helfen hier weiter.

I n neuerer Zeit scheint lediglich Androulakis die Rechtsprechung i m Prinzip bejahen zu wollen 5 . Er meint, die jeweilige Straftat des anderen Ehegatten stehe als Straftat „schlechthin m i t dem Wesen der ehelichen Gemeinschaft in Zusammenhang", denn die Begehung von Straftaten berühre das „Füreinander Da-sein" der Eheleute immer. Diese Argumentation, die ja auch der Rechtsprechung zugrunde liegt, übersieht, daß es hier nicht um ein Garantieverhältnis aus ehelicher Lebensgemeinschaft zwischen dem einen Ehegatten und dem Rechtsgutsobjekt des anderen geht, sondern um ein Garantieverhältnis, das allenfalls zwischen dem einen Ehegatten und einem fremden, von dem ande3 B G H i n N J W 1953, S. 591; B G H 6, S. 323 f.; O L G Schleswig i n N J W 1954, S. 285; O L G Bremen i n N J W 1957, S. 73; dagegen eine Garantenpflicht generell ablehnend O L G Oldenburg, NdsRpfl. 1951, S. 75. 4 Materialien, Bd. 1, S. 275; ebenso Schönke/Schröder, 134 vor § 1; Kohlrausch!Lange, System. Vorbem. I I Β I I 3 e, S. 9. 5 Aus seiner Stellungnahme, S. 211 f., w i r d allerdings nicht erkenntlich, ob er sich letzten Endes für oder gegen die Rechtsprechung einsetzt u n d ob er die Rechtspflicht zur Hinderung der Straftaten des Ehegatten als Ausfluß der Garantenstellung des Ehegatten ansieht oder nicht. — Vgl. auch Vogt, ZStW 63, S. 397.

I. Garantie Verhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

ren die ren die

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Ehegatten angegriffenen Rechtsgutsobjekt bestehen könnte 6 . Für Annahme eines Garantieverhältnisses der ersteren wie der letzteA r t könnte man begrifflich zwei Gedankenkonstruktionen errichten, sich jedoch sehr schnell als unhaltbar erweisen.

Zuerst könnte man argumentieren, der eine Ehegatte dürfe nicht zusehen, wie der andere sich freiwillig in Unrecht und Schuld verstricke, und insoweit an ein zu schützendes Gut des anderen Ehegatten anknüpfen. Indessen sieht die Rechtsordnung und insbesondere das Strafrecht nicht den Schutz eines solchen Gutes vor, es gibt kein zu schützendes Rechtsgut „Unschuld eines Individuums". § 138 (Nichtanzeige drohender Verbrechen) schützt nach herrschender Lehre 7 die Rechtspflege, nach einer Mindermeinung die durch die dort genannten Verbrechen angegriffenen Rechtsgüter 8 . Auch mittelbar über die Teilnahmelehre ist ein solches Gut nicht geschützt, denn anerkannter Strafgrund der Teilnahme ist heute nicht die Korruption des Täters durch den Teilnehmer — es gilt also nicht die Schuldteilnahmetheorie 9 —, sondern die Verursachung der Rechtsgutsverletzung durch Beteiligung an der Haupttat 1 0 . Mag also die Verhinderung einer Straftat des anderen Ehegatten noch so sehr eine sozialethische Verpflichtung für den einen bedeuten, ein Garantieverhältnis kann deshalb nicht existieren, weil das Gut des anderen Ehegatten, vor kriminellem Lebenswandel bewahrt zu werden, kein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut ist. Diese sozialethische Pflicht der Ehegattenrolle bezieht sich also nicht auf ein geschütztes Rechtsgut, so daß aus diesem Grunde wegen des fehlenden Wertungssachverhalts „Rechtsgut" kein Garantieverhältnis entstehen kann. Wenn Böhm zusätzlich zum Beweise dessen, daß eine solche eheliche Rechtspflicht nicht besteht, auf die Bestimmungen der §§ 139 Abs. 3, 257 Abs. 2 StGB u n d § 52 StPO hinweist 1 *, so ist das ungenau; denn die V o r schriften des Strafgesetzbuches sind Schuldausschließungs- 12 bzw. Strafaufhebungsgründe 1 3 u n d berühren die sozialethische Verpflichtung des U n rechtsbereiches genausowenig w i e die prozessuale Vorschrift des § 52 StPO 1 4 . « Vgl. Gallas, J Z 1960, S. 687 Anm. 66; A r m i n Kaufmann, Dogmatik, S. 297 Anm. 207. 7 Kohlrausch/Lange, I I zu § 138; Maurach, B.T., S. 679. β Schönke/Schröder, 1 zu § 138. 9 A. M. H. Mayer, Lb., S.319 u n d i n Rittler-Festschrift, S. 254; Less, ZStW 69, S. 47 (43). 10 Maurach, A. T., S. 577; Welzel, Lb., S. 110 f.; Schönke/Schröder, 100 vor § 47. 11 Diss., S. 59 A n m . 263. 12 So Schönke/Schröder, 4 zu § 139; 49 zu § 257. 1 3 So Welzel, Lb., S. 494. 14 Überhaupt ist die Argumentation Böhms zu dieser Problematik, Diss., S. 58 f., wenn sie auch i m Ergebnis richtig ist, sehr ungenau. So ist der Be-

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

Beim Gedankengebäude des zweiten möglichen Garantieverhältnisses zwischen dem Ehegatten und dem vom anderen angegriffenen Rechtsgut, wäre zu fragen, welcher A r t denn die eheliche Pflicht, dieses fremde Rechtsgut zu schützen, sei. Der einzige Gesichtspunkt, der hier infrage käme, wäre der, den anderen straffälligen Ehegatten, eben w e i l er der Ehegatte ist, zu überwachen, damit das konkret angegriffene Rechtsgut und alle anderen, die noch verletzt werden könnten, vor dem Übeltäter bewahrt wären. U m es ganz deutlich auszudrücken: Es käme ein Garantieverhältnis aus Überwachung einer persönlichen Gefahrenquelle i n Betracht oder, anders ausgedrückt, ein Garantieverhältnis aus persönlich sozialem Herrschaftsbereich. Einen erwachsenen, geistig normalen Menschen von vornherein als Gefahrenquelle — oder wie immer man es sonst auch terminologisch verbrämen würde — für alle strafrechtlich geschützten Rechtsgüter der Gemeinschaft anzusehen, stünde i m eklatanten Widerspruch zur Würde des Menschen und Freiheit der Person, wie sie i n Art. 1 und 2 GG geschützt sind. Daran ändert auch die eheliche Bindung zwischen zwei Menschen nichts. Man braucht nur auf die maßgeblichen Gesichtspunkte, auf Gleichberechtigung, Selbständigkeit und eigene persönliche Sphäre zweier erwachsener Menschen i n der Ehe hinzuweisen, um evident zu machen, daß keine sozialethische Pflicht gegenüber einzelnen Menschen und der Gemeinschaft existiert, seinen Ehegatten in dessen Persönlichkeit als mögliche „Gefahrenquelle" zu degradieren. Eine solche „Pflicht" zur Degradierung entbehrte jeglichen ethischen Gehalts. M. a. W.: Die Rolle des Ehegatten enthält keine solche Pflicht. Damit läßt sich zusammenfassend sagen: Es besteht zwar eine sozialethische Pflicht, den Ehepartner vor Schuld und Strafe zu schützen, aber dieses Gut ist nicht strafrechtlichem Schutz unterworfen und dam i t kein Rechtsgut. Eine sozialethische Pflicht, das vom anderen Ehepartner angegriffene Rechtsgut zu schützen, aus Überwachung einer Gefahrenquelle, die in der Person des anderen liegt, existiert nicht. Es besteht also für den Ehegatten unter keinem Gesichtspunkt ein Garantieverhältnis, den anderen Ehegatten an der Begehung strafbarer Handlungen zu hindern, da es unter dem einen Aspekt am Wertungsweis f ü r das mangelnde Rechtsgut nicht i n der Konkurrenzlehre, sondern i m Strafgrund der Teilnahme zu finden. Es stimmt auch nicht, w e n n Böhm ausführt, daß, selbst wenn man i n der Teilnahmelehre eine Rechtspflicht, den anderen vor Schuld u n d Strafe zu bewahren, anerkenne, man i m m e r noch nicht zu einer Bestrafung des Unterlassenden komme, w e i l es keinen entsprechenden Straftatbestand gebe; denn der Unterlassende müßte dann wegen Teilnahme nach dem Straftatbestand, den der Täter verwirklicht, i n Verbindung m i t §§ 47 ff. bestraft werden (denn Strafgrund der Teilnahme wäre j a dann die K o r r u p t i o n durch den Unterlassenden). Das übersieht Böhm, w e i l er eben sofort an die sekundäre Konkurrenzlehre anknüpft u n d nicht an den eigentlichen Grund, der i m Wesen der Teilnahme liegt.

I. Garantie Verhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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Sachverhalt „ R e c h t s g u t " u n d u n t e r d e m a n d e r e n A s p e k t a n der sozialethischen Pflicht f e h l t 1 5 .

Das gilt prinzipiell. Es ist daher schon i m Ansatz verfehlt, wenn Geilen zwischen Straftaten, die „aus selbstverständlichen, natürlichen Gründen m i t dem Wesen der ehelichen Gemeinschaft sehr viel enger" zusammenhängen, und solchen, „die die Ehe möglicherweise überhaupt nicht berühren", differenziert 16 und dementsprechend ein Garantieverhältnis für Taten des anderen Ehepartners annimmt, die „ausreichende sachliche Berührungspunkte mit dem Wesen der ehelichen Gemeinschaft haben" 1 7 . Das gilt entgegen der Meinung Geilens auch für die Kuppelei, sofern der eine Ehegatte wirklich nur unterläßt, und nicht etwa i n der „Gewährung . . . von Gelegenheit der Unzucht" ein konkludentes Handeln, also eine Begehungstat liegt; denn auch bei der Kuppelei w i r d ein nicht zur Rolle des Ehegatten gehörendes Rechtsgut geschützt, nämlich die Reinhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen von sexuell unzüchtigen Handlungen, dessen Träger die Allgemeinheit und nicht der andere Ehegatte ist 1 8 . Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß in § 181 Abs. 1 Ziff. 2 als besondere Straferschwerungsgründe besondere Beziehungen, nämlich das „Verhältnis des Ehemanns zur Ehefrau, von Eltern zu Kindern" usw. angeführt sind, was sich aus folgender Überlegung ergibt: Ob man nun den § 181 als Qualifikationstatbestand des § 180 19 oder als selbständige Bestimmung 2 0 ansieht, in jedem Fall verweist er i n seinen Merkmalen auf die Kuppelei, d. h. auf das „der Unzucht Vorschub leistet" i n § 180. Daß dieses „der Unzucht Vorschub leisten" auch durch is i m Ergebnis ebenso Böhm, Diss., S. 58 ff. u n d i n JuS 1961, S. 181; Gallas, J Z 1960, S. 687 A n m . 66; Grünwald, ZStW 70, S.427 A n m . 32; Henkel, M s c h r K r i m 1961, S. 191 Anm.26; H.Mayer, Materialien B d . l , S.275; Schönke/ Schröder, 134 vor § 1; Kohlrausch/Lange, System. Vorbem. I I Β I I 3 e vor § 1, S. 9; Mezger, Lb., S. 140; W. Landsberg, Diss., S. 32 f. Bedenklich finden die Rechtsprechung Welzel, Lb., S. 207; Baumann, Lb., S. 229 f. 16 FamRZ 1961, S. 157. 17 FamRZ 1961, S. 159. 18 So konsequent u n d richtig i m Ergebnis Böhm, Diss., S. 58—62. — I n sofern ist auch dem Vorbehalt Schröders i n Schönke/Schröder, 11 zu § 180, der hier unter besonderen Umständen eine Garantenpflicht aus Ehegemeinschaft bejaht, während er sonst eine Hinderungspflicht generell verneint (Schönke/Schröder, 134 vor § 1), nicht zu folgen. — Treffende Bemerkungen zur Fraglichkeit der Rechtsgutsbestimmung i n § 180 durch die h. L. bei Franzheim, G A 1962, S. 139 ff., dessen Thesen die vorliegende Ansicht n u r unterstützen. i» Mezger i n L K , 1 zu § 181. 20 So die h . L . ; vgl. z.B. Schönke/Schröder, 1 zu § 181; Maurach, B . T . , S. 437 f.; Schwarz/Dreher, 1 zu § 181.

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

ein Unterlassen verwirklicht werden kann, ist unbestritten. Das aber bedeutet, daß die gleichen Verhältnisse, wie sie i n § 181 Abs. 1 Ziff. 2 genannt sind, (neben anderen noch) bereits i n § 180 als Garantieverhältnisse des Unterlassungstatbestandes relevant werden. Die Merkmale des § 181 Abs. 1 Ziff. 2 würden also, wenn man sie auch als Merkmale eines i n dieser Bestimmung m i t enthaltenen Unterlassungstatbestandes ansehen wollte, i m Vergleich zu denen des Unterlassungstatbestandes des § 180 keine Unrechtssteigerung bedeuten. Dann aber würde die höhere Strafdrohung i n § 181 nicht gerechtfertigt sein, und dies u m so weniger, als § 181 noch auf die zwei qualifizierenden Momente des § 180, die Gewohnheitsmäßigkeit und den Eigennutz, verzichtet. Soll die Vorschrift des § 181 Abs. 1 Ziff. 2 trotzdem sinnvoll sein, so gibt es nur eine Lösung: Sie bezieht sich nur auf Begehungsdelikte. Bei der Begehung haben die Garantieverhältnisse i n § 180 keine Bedeutung, und sie können sich demzufolge i n § 181 Abs. 1 Ziff. 2 als das Unrecht der Begehungsdelikte steigernde Merkmale auswirken. W i r d also das „Verhältnis des Ehemanns zur Ehefrau" sowieso nur für die Kuppelei durch Begehung bedeutsam, so läßt es die Frage nach dem Garantieverhältnis bei der Kuppelei durch Unterlassen unberührt und steht damit der These, daß die Eheleute nicht rechtlich verpflichtet sind, einander vor Begehung von Straftaten zu hindern, nicht entgegen. Verfehlt wäre es auch, wenn man die Tatsache, daß sich die Straftat des anderen i m „räumlich-gegenständlichen Ehebereich der Wohnung" ereignet, als objektives Bewertungsmerkmal ansehen wollte, das eine eheliche Pflicht dringlich mache 21 ; denn es existiert ja gar keine sozialethische Pflicht, die sich auf ein eheliches Gut beziehen könnte; es fehlt also schon die Basis, an die eine solche Bewertung anknüpfen könnte. Die Formulierungen der Rechtsprechung, daß eine solche Pflicht aus der Ehegemeinschaft jedenfalls dann bestehe, wenn sich die Tat i m gemeinsamen Herrschaftsbereich der Wohnung abspiele 22 , liegen jedenfalls für die ehelichen Pflichten genauso neben der Sache wie die eines Teils des Schrifttums, wenn es zwischen Taten „intra muros" und „extra muros" differenziert 23 . — Die Wurzel dieses einschränkenden 21 Vgl. etwa den Leitsatz i n B G H N J W 1953, S. 591: „ A u s der ehelichen Lebensgemeinschaft folgt die Pflicht jedes Ehegatten, den anderen von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten. Die Verletzung dieser Rechtspflicht steht mindestens dann dem positiven M i t w i r k e n bei der strafbaren Handlung des anderen Teils gleich, w e n n diese Handlung i n dem besonderen Herrschaftsbereich eines jeden Ehegatten, nämlich der ehelichen Wohnung, stattfindet." 22 Vgl. oben S. 154. 23 Maurach, A. T., S. 514; — deshalb ist auch die i m Ergebnis richtige Entscheidung, B G H 6, S. 322 ff., falsch begründet, w e n n der B G H auf das (im konkreten F a l l nicht vorliegende) „tatsächliche Zusammenleben" abstellt.

I. Garantie Verhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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Moments liegt ganz woanders, nämlich formalrechtlich i n den alten §§ 1354 und 1356 BGB 2 4 , die auf den entscheidenden materiellrechtlichen Gesichtspunkt hinweisen: den dem einzelnen Ehegatten verantwortlich übertragenen Zuständigkeitsbereich. Daher kommen auch die i n diesem Zusammenhang gebrauchten Formulierungen vom „Haushaltungsvorstand" und der „Leiterin des Hauswesens". Sie haben m i t den Pflichten aus § 1353 i m Grunde gar nichts zu tun, sondern sind Fälle der Garantieverhältnisse aus Beherrschung eines sozialen Herrschaftsbereichs, hier des räumlichen Herrschaftsbereichs der Wohnung 2 5 . b) Das Garantieverhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung Dadurch, daß die Rechtsprechung die Selbständigkeit dieses Garantieverhältnisses aus dem räumlich sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung gegenüber dem aus der Ehe verkannt hat, ist eine erhebliche Unsicherheit i n die Problematik hineingetragen worden, die teils zu ungerechten Entscheidungen und teils zu richtigen Ergebnissen m i t falschen Begründungen geführt hat 2 6 . Eine exakte Behandlung hat wieder von der Grundstruktur des Garantieverhältnisses aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung auszugehen, nämlich daß die sozialethische Pflicht des Wohnungsinhabers zum Schutze von Rechtsgütern i n seinen Räumen dann zur Rechtspflicht wird, wenn — entsprechend dem Zwecke der Wohnung, äußerlichen Schutz zu gewähren — physische Rechtsgutsobjekte angegriffen werden oder bei nichtphysischen Rechtsgutsobjekten der Raum M i t t e l zum Zweck eines physischen Angriffs auf diese ist. Mangels dieser objektiven Bewertungsmerkmale entfällt z. B. das Garantieverhältnis aus sozialem Herrschaftsbereich der Wohnung beim Betrug 24 Vgl. dazu Geilen, FamRZ 1961, S. 158. 25 Insoweit war, w i e Geilen, FamRZ 1961, S. 158, richtig hervorhebt, die alte formalistische Rechtsprechung, die zwischen den Pflichten aus § 1353 u n d aus §§ 1354, 1356 a. F. B G B trennte, exakter als die heutige, die n u r noch auf § 1353 zurückgreift u n d damit unterschiedliche Haftungsgründe m i t einander vermengt. — Wie hier auch Schönke/Schröder, 135 vor § 1; Jescheck , ZStW 77, S. 135; W. Landsberg, Diss., S. 33; vgl. auch Böhm, Diss., S. 67 ff. 26 Es ist also W. Landsberg, Diss., S. 33 A n m . 18 durchaus zu widersprechen, wenn er meint, es komme i m Ergebnis auf das gleiche hinaus, ob man n u n die Haftung aus der ehelichen Gemeinschaft ableite u n d auf die Wohnung beschränke oder ob man sie aus der Hausgemeinschaft herleite. Dies ist schon nach Landsbergs eigenen Thesen nicht gleichgültig, n i m m t er doch an, daß der Hausherr gegenüber den Straftaten seiner Frau, nicht aber die Hausherrin für die Taten ihres Mannes Garant ist (Diss., S. 47). Nach der hier vertretenen Meinung ist es schon deshalb nicht gleichgültig, w e i l der Wohnungsinhaber f ü r die Verletzung nichtphysischer Rechtsgüter durch nichtphysische Angriffe (Betrug) nicht haftet. Siehe oben S. 145.

160

D. Einzelne Garantieverhältnisse

diurch Unterlassen, w e n n der Wohnungsinhaber zuschaut, w i e X den Ζ i n seiner Wohnung betrügt 2 7 .

Es ist gleichgültig, wer der Angreifer ist. Die Tatsache, daß nun gerade der andere Ehepartner, also der Mitinhaber der Herrschaftsgewalt über die Wohnung, diesen Angriff ausführt, ändert daran nichts. Gedanken von Gleichberechtigung und selbständiger Eigenverantwortung der Ehepartner kommen hier keine Bedeutung zu, da die Verantwortlichkeit des einen Mitinhabers der Herrschergewalt für die gesamte Wohnung nicht entfällt, wenn der andere, seine eigene Verantwortlichkeit beiseite schiebend, die Wohnung zur Begehung einer Straftat mißbraucht; denn es w i r d niemand von seinem strafbaren Verhalten dadurch entlastet, daß sich auch ein anderer strafbar verhält 2 8 . Prüft man anhand dieser Grundsätze einige Entscheidungen der Rechtsprechung 29 , so ergibt sich: I n einem Fall, in dem die Ehefrau i n der ehelichen Wohnung eine Abtreibung an sich selbst vornahm, verneinte das OLG Oldenburg 3 0 treffend eine Rechtspflicht des Ehemannes als Ehemann zur Hinderung dieser Tat, bejahte aber ebenso richtig eine Garantenstellung des Mannes als Vater des noch ungeborenen Kindes. Allerdings hat es übersehen, daß der Mann hier auch als Mit-Inhaber der Herrschaftsgewalt über die Wohnung verpflichtet war, die Leibesfrucht vor der Vernichtung zu bewahren. — Das Garantieverhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung und nicht die eheliche Rechtspflicht zur Hinderimg von Straftaten, wie der Bundesgerichtshof meint, trägt auch i n Wahrheit die Entscheidung, i n der der Ehemann wegen Duldung der Fremdabtreibung der Ehefrau i n der gemeinsamen Wohnung verurteilt wurde 3 1 . Ähnlich liegt es i n dem Fall 3 2 , i n dem der Ehemann jahrelang duldete, daß seine Frau von der Schwiegermutter gestohlene Waren in der ehelichen Wohnung aufbewahrte; hier kam eine sachliche Begünstigung durch Unterlassen aus dem Garantieverhältnis des sozialen Herrschaftsbereichs der Wohnung i n Betracht und nicht eine eheliche Rechtspflicht zur Hinderung von Straftaten der Ehefrau (Hehlerei). — Dagegen sind auch i m Ergebnis zwei Reichsgerichtsentscheidungen falsch, i n denen der Ehemann wegen 27

Vgl. bereits oben, S. 150 f. Ob allerdings f ü r den Unterlassenden dann n u r eine Beihilfe u n d keine Täterschaft i n Frage kommt, w i e Schönke/Schröder, 136 vor § 1 u n d 109 ff. vor § 47, meinen, soll hier nicht weiter untersucht werden. Bedenken hat Gallas, JZ 60, S. 687, Anm. 66, 69. 2 » Z u B G H 6, S. 323 u n d O L G Bremen i n N J W 1957, S. 73 bereits oben S. 135 u n d S. 142 f. 30 NdsRpfl. 1951, S. 75. 31 B G H i n N J W 1953, S. 591. 32 R G i n DR 1943, S. 234. 28

I. Garantie Verhältnisse aus den Beziehungen zwischen Ehegatten

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Duldung der gewerbsmäßigen Unzucht seiner Ehefrau außerhalb seiner Wohnung i m Bordell 3 3 und wegen Beihilfe zum Meineid durch Unterlassen 34 bestraft wurde. — Richtig und auch mit der zutreffenden Begründung ist ein Urteil des OLG Celle, wonach ein Ehemann der Hehlerei durch Unterlassen nur wegen Verletzung seiner Rechtspflicht als Haushaltungsvorstand für schuldig befunden wurde 3 5 . Eine Sonderregelung für das Garantieverhältnis aus räumlich sozialem Herrschaftsbereich schafft bei der Kuppelei der § 180 Abs. 3. Dieser Strafausschließungsgrund, der dem Wohnungsgewährenden Straffreiheit zusichert, wenn m i t der Überlassung der Wohnung weder ein Ausbeuten des Unzuchttreibenden noch ein „Anwerben oder Anhalten dieser Person zur Unzucht verbunden ist", ist auf das Garantieverhältnis aus Beherrschung des räumlich sozialen Herrschaftsbereichs der Wohnung geradezu zugeschnitten. Soweit die Wohnungsinhaber Eheleute sind, ist zu beachten, daß der unterlassende Teil dem die Unzucht begehenden nicht Wohnung „gewährt", denn beide sind ja gleichberechtigte Mitinhaber der Herrschaftsgewalt. Trotzdem ist auch hier § 180 Abs. 3 i m Wege extensiver Auslegung anwendbar, da die Fälle, i n denen ein Ehegatte i n der Wohnung Unzucht treibt, hinsichtlich der Unterlassung des Wohnungsinhabers nicht strafwürdiger sind, als wenn dies ein Dritter, etwa ein Untermieter, t u t 3 6 . Die Rechtsprechung hat den Strafausschließungsgrund des § 180 Abs. 3 durchweg i n den hier zur Debatte stehenden Kuppeleifällen nicht beachtet und ist daher auch deshalb zu falschen Ergebnissen gekommen. Betrachtet man einige Urteile aus der Kuppeleirechtsprechung unter diesen Gesichtspunkten, so ergibt sich: I n zwei Fällen, i n denen die Ehemänner das unzüchtige Treiben ihrer Frauen zugelassen hatten, verurteilte das Reichsgericht trotz falscher Begründung i m Ergebnis richtig wegen Kuppelei durch Unterlassen 37 . Für die Ehemänner bestand zwar keine Pflicht aus der Ehegemeinschaft, die Unzucht ihrer Frauen zu verhindern, wie das Reichsgericht meinte, wohl aber hatten sie jedenfalls als Wohnungsinhaber die Pflicht, die Unzucht, also den i m physischen Verhalten zweier Personen liegenden Angriff auf das Rechtsgut „Sauberkeit des zwischenmenschlichen Verkehrs von sexuell unzüchtigen Handlungen" i n ihren Räumen zu verhindern. Da § 180 83 R G 58, S. 227.

34 R G 74, S. 285. 35 HESt 1, S. 110. — Der Verweis auf R G i n G A 59, S. 353 geht allerdings fehl, w e i l es dort u m eine Hehlerei durch konkludentes Handeln ging. 36 I m Ergebnis ebenso Böhm, Diss., S. 69 f. 37 R G 48, S. 197 (die zusätzliche Heranziehung des § 181 Abs. 1 Ziff. 2 ist allerdings falsch, da diese Bestimmung, w i e oben dargelegt, n u r f ü r Begehungen gilt); R G 58, S. 97. 11 Bärwinkel

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Abs. 3 i n der damaligen Zeit 3 8 noch nicht existierte — er wurde erst 1927 i n das StGB aufgenommen —, sind die Urteile also i m Ergebnis richtig. — Ein anderes Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahre 1939 ist dagegen trotz richtiger Begründung des Garantieverhältnisses i m Ergebnis falsch 39 . Hier hat das Reichsgericht eine Ehefrau, die nichts gegen das unzüchtige Treiben ihres Mannes mit anderen Männern i n der ehelichen Wohnung unternommen hatte, verurteilt, weil sie ihre Rechtspflicht, als „Leiterin des gemeinschaftlichen Hauswesens" dagegen einzuschreiten, verletzt habe 40 . Trotz dieser zutreffenden Heranziehung des Garantieverhältnisses aus sozialem Herrschaftsbereich der Wohnung ist die Anwendung des § 180 verfehlt, da zu dieser Zeit bereits der Strafausschließungsgrund des Abs. 3 entgegenstand. Richtig wäre vielmehr gewesen, die Frau wegen Beihilfe zu § 175 durch Unterlassen zu verurteilen 4 1 . — Interessant ist ein Fall, den der Bundesgerichtshof mit z. T. falscher Begründung, aber i m Ergebnis zutreffend entschieden hat 4 2 . Der zweite Ehemann einer Frau hatte sich längere Zeit hindurch an seiner Stieftochter vergangen. Er war wegen Verbrechen und Vergehen nach §§ 173 Abs. 2 und 174 Nr. 1 und die Stieftochter nach § 173 Abs. 2 verurteilt worden. Für die Ehefrau wollte der Bundesgerichtshof offensichtlich eine Garantenpflicht aus ehelicher Gemeinschaft (§ 1353 BGB) zur Hinderung der Taten des Mannes und eine Garantenpflicht aus der Erziehungsgewalt (§§ 1627, 1631, 1686 BGB) zur Hinderung der Straftaten der 15jährigen Tochter annehmen und demgemäß eine Kuppelei und Beihilfe zu den Taten des Ehemannes durch Unterlassen bejahen. Nach der hier entwickelten Auffassung ist die Annahme einer ehelichen Garantenpflicht falsch, und die Garantenpflicht aus Beherrschung der Wohnung führt wegen § 180 Abs. 3 nicht zur Kuppeleibestrafung, w o h l aber zur Bestrafung wegen Beihilfe zu den Taten des Mannes und der der Tochter 43 . Die Bestrafung wegen Kuppelei w i r d dagegen durch die Verletzung der Rechtspflicht aus dem Garantieverhältnis Mutter — minderjährige Tochter (persönlich sozialer Herrschaftsbereich 44 ) gerechtfertigt: Die Mutter hat aufzupassen, daß die Tochter keine strafbaren Handlungen begeht und daß an ihr keine begangen werden. Gegenüber dieser Rechtspflicht 38 1914 u n d 1924. 39 R G i n HRR 1940, Nr. 41. 40 Hier hat das formelle Abstellen auf § 1356 B G B zur richtigen Begründung geführt. Der Hinweis auf R G 58, S. 97 u n d 227 ist allerdings u n v e r ständlich. 41 So treffend Böhm, Diss., S. 70. 42 FamRZ 1956, S. 81. 43 Letzteres hat der B G H übersehen. — § 173 Abs. 4 ist n u r ein Strafausschließungsgrund. 44 Siehe oben S. 140, A n m . 28.

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greift der Strafausschließungsgrund des § 180 Abs. 3 nicht durch, da sie mit Wohnung gewähren und dergleichen nichts zu t u n hat. Selbstverständlich bedeutet die Verletzung dieser Aufsichtspflicht auch eine Beihilfe durch Unterlassen an den Sittlichkeitsdelikten der Tochter und des Ehemannes. — Richtig und m i t treffender Begründung hat der Bundesgerichtshof einen Fall entschieden, i n dem er den Ehemann, dessen Frau Räume der ehelichen Wohnung an „Pärchen" vermietete, als Wohnungsinhaber zum Einschreiten verpflichtet ansah. Hier kam §180 Abs. 3 nicht zum Zuge 45 . Damit dürfte auch im vorliegenden Zusammenhang, nämlich i m Rahmen der Abschichtung einer angeblichen Rechtspflicht zur Verhinderung von Straftaten des Ehepartners von dem Garantieverhältnis aus Beherrschung des sozialen Herrschaftsbereichs der Wohnung erneut die praktische Bedeutung des letzteren Garantieverhältnisses aufgezeigt sein. Eines sei jedoch nochmals ausdrücklich hervorgehoben: Das Garantieverhältnis aus dem räumlich sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung hat nicht etwa die Rechtspflicht zum Inhalt, Dritte an der Begehung strafbarer Handlungen i n der Wohnung zu hindern, sondern nur die Rechtspflicht, die Rechtsgutsobjekte im Raum vor Angriffen Dritter zu schützen 46 . Erst diese Sicht macht z. B. die Bestrafung des unterlassenden Wohnungsinhabers wegen Kuppelei i n den Fällen verständlich u n d w i r d damit der ratio des § 180 gerecht, w o die Unzuchttreibenden selbst keine strafbaren Handlungen begehen.

II. Die Beziehungen zwischen Verwandten 1. Die Trennung der Garantieverhältnisse aus Verwandtschaft, aus enger Lebensgemeinschaft, aus dem räumlichen sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung und aus dem persönlichen sozialen Herrschaftsbereich der Eltern über ihre minderjährigen Kinder

I n der neuesten Diskussion haben Schröder 1 und Geilen 2 i m Anschluß an die neuere Judikatur 3 ausgeführt, bei der Garantenhaftung durchdrängen sich die Gesichtspunkte der Familienzugehörigkeit und der „effektiven" Lebens-(Haus-)gemeinschaft. Je weiter und deshalb lockerer die Angehörigenbeziehung sei, desto notwendiger sei das Abstellen 45 B G H i n L M , Nr. 3 zu § 180. 46 Wobei die oben S. 145 angeführten objektiven Bewertungsmerkmale entscheidend sind. ι JR 1964, S. 227 u n d i n Schönke/Schröder, 110 f. vor § 1. 2 FamRZ 1964, S. 390. 3 B G H 19, S. 167 ff. = JR 1964, S. 225 ff. 11*

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

auf eine faktische Bindung der Beteiligten. Während also Geilen und Schröder die Garantenhaftung aus familiären Beziehungen und „effektiver Lebensgemeinschaft" (bzw. „Hausgemeinschaft") sonst strikt trennen, sollen sich hier plötzlich beide Garantenpositionen kreuzen. Weder Schröder noch Geilen geben aber an, von welchem Grade „familiärer Distanz" ab denn nun die „faktische" Lebensgemeinschaft bedeutsam werden soll, und die Begründungen, die beide für ihre gleiche Ansicht geben, sind denn auch diametral entgegengesetzt. Schröder beruft sich darauf, daß ja auch sonst „die effektive Lebensgemeinschaft allein, also auch ohne Vorhandensein einer engen verwandtschaftlichen Beziehung geeignet erscheint, eine Garantenpflicht zu begründen" 4 . Geilen hingegen verneint prinzipiell eine Garantenhaftung aus tatsächlicher Lebensgemeinschaft 5 und w i l l sie nur ausnahmsweise i m Zusammenhang mit der Angehörigenbeziehung anerkennen, wobei er jedoch angesichts der möglichen Aufweichung rechtlich-sozialethischer Pflichten durch faktische Umstände Bedenken hat 6 . Hält man sich wieder die Wertstruktur der Garantieverhältnisse vor Augen, so erkennt man, daß eine gegenseitige Durchdringung zweier Garantieverhältnisse nicht i n Frage kommen kann, w e i l — wie oben 7 bereits ausgeführt — die Verknüpfung einer sozialethischen Pflicht mit einer zweiten (aus der Rolle des anderen Garantieverhältnisses) nicht zu einer Verstärkung der ersten führen kann. Außerdem verschleiert die Ansicht Geilens und Schröders die Verschiedenartigkeit von Garantieverhältnissen aus Verwandtenbeziehungen. Es gibt nämlich Garantieverhältnisse aus Verwandtenbeziehungen, bei denen eine sog. „effektive Lebensgemeinschaft" überhaupt keine Rolle spielt, dann gibt es solche, i n denen sie bedeutsam wird, und schließlich existieren Lebensgemeinschaften zwischen Verwandten, wo die Verwandtenbeziehungen keine Bedeutung haben. Diese Unterschiede erschließen sich alsbald, wenn man die oben generell aufgezeigte Wertstruktur der Garantieverhältnisse beachtet: Die sozialen Rollen aus den durch die Verwandtenbeziehungen begründeten Gruppen liefern die sozialethischen Pflichten, die je nach Gruppensituation durch objektive Bewertungsmerkmale (z. B. das „tatsächliche Zusammenleben" oder die „Hochwertigkeit des Rechtsgutsobjekts" oder dessen „existentielle Wichtigkeit") verstärkt werden oder nicht. Eine Betrachtung der am Sinngehalt der Verwandtengruppen orientierten Rollen ermöglicht zunächst eine exakte Abgrenzung der Garan4 JR 1964, S. 227. δ FamRZ 1961, S. 157 ff. β FamRZ 1964, S. 390. 7 S. 131.

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tie Verhältnisse aus Verwandtenbeziehungen von denen aus „enger Lebensgemeinschaft". Eine der Verwandtenbeziehungen ist ihrem Sinn und Zweck nach — noch stärker als die Ehe 8 — umfassend auf eine „enge Lebensgemeinschaft" angelegt, nämlich das Verhältnis der Eltern zu den minderjährigen Kindern innerhalb der Familie. Neben diesem Spezialfall einer engen Lebensgemeinschaft erlangt selbstverständlich der Gesichtspunkt eines Garantieverhältnisses aus „enger Lebensgemeinschaft" zusätzlich keine Bedeutung 9 . Ähnliche Überlegungen gelten für manche Verwandtschaftsbeziehungen, die gegenüber dem Eltern-minderjährige-Kinder-Verhältnis nicht ganz so eng sind, wie etwa das Verhältnis der Großeltern zu den Enkeln, des unehelichen Vaters zu seinem Kind. Sinn und Zweck dieser Gruppen gehen dahin, daß zeitweilig auch zur Erfüllung der Gruppenaufgabe — die Hilfe für die Verwandten — eine enge Lebensgemeinschaft begründet werden muß. Diese enge Lebensgemeinschaft bezieht dann aber ihren Sinn aus der Verwandtenbeziehung. Deshalb kommt neben dem Garantieverhältnis aus der Verwandtenbeziehung nicht noch eins aus enger Lebensgemeinschaft i n Frage. Ganz anders liegt es bei den weiten Verwandtschaftsbeziehungen, die — wie unten noch dargelegt w i r d 1 0 — rechtlich irrelevant sind, wie etwa die von Tante zu Neffe. Kommt es bei solchen Beziehungen zu engen Lebensgemeinschaften, so entscheiden ausschließlich Sinn und Zweck dieser engen Lebensgemeinschaften unabhängig von den irrelevanten Verwandtenbeziehungen über die rechtliche Bedeutung der zugehörigen Rollen, die die jeweilige sozialethische Pflicht spezialisieren. Außer dem Garantieverhältnis aus der betreffenden engen Lebensgemeinschaft kann also keins aus der Verwandtschaftsbeziehung bestehen. Damit lassen sich klar die Garantieverhältnisse aus Verwandtschaftsbeziehung von denen aus enger Lebensgemeinschaft trennen. Neben diesen Garantieverhältnissen gewinnen noch die beiden Garantieverhältnisse aus dem räumlichen sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung und aus dem persönlichen sozialen Herrschaftsbereich der Eltern über ihre Kinder Bedeutung. Das erstere ist bereits oben 11 ausführlich dargelegt worden. Unter dem sozialen persönlichen Herrschaftsbereich w i r d hier lediglich verstanden, daß jemand die Macht β Siehe oben S. 138 f. » Siehe oben S. 138 f. i° Unter 2 c. I i Unter D 1 1 c.

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hat, eine andere Person i n ihren Handlungen gegenüber der Umwelt zu lenken. Was aber umgekehrt an Einflüssen der Umwelt diese andere Person berührt, fällt nicht unter den Begriff des sozialen persönlichen Herrschaftsbereichs, denn diese Garantieverhältnisse aus sozialem persönlichen Herrschaftsbereich beruhen auf Rollen innerhalb der Gesamtgesellschaft, die den Schutz der Gemeinschaft vor den Handlungen der zu überwachenden Personen zum Inhalt haben. Man könnte m. a. W. auch von Garantieverhältnissen aus Überwachung einer persönlichen Gefahrenquelle sprechen 12 . Diese Trennung der Garantieverhältnisse ermöglicht, i n den folgenden Abschnitten das Hauptproblem anzugehen, das darin besteht, die Garantieverhältnisse aus verwandtschaftlichen Bindungen in ein System zu bringen. Diese Aufgabe erscheint angesichts der Konturenlosigkeit und Verflechtungen, die Rechtsprechung und Lehre i n diesen Bereich der Garantieverhältnisse hineingetragen haben, notwendiger als i m Einzelfall dieses oder jenes Garantieverhältnis durch Aufspüren von objektiven Bewertungsmerkmalen noch genauer zu bestimmen 13 . So w i r d i m folgenden neben der Systematisierung der Garantieverhältnisse aus Verwandtenbeziehung hauptsächlich ihre Trennung von den oben genannten Garantieverhältnissen behandelt werden. 2. Die Systematisierung der Garantieverhältnisse aus Verwandtschaftsbeziehungen Nach der oben 14 entwickelten Methode, die die Struktur der Garantieverhältnisse erfordert, lassen sich die Verwandtenrollen i m Hinblick auf ihre rechtliche Relevanz zunächst i n zwei Kategorien einteilen. Es gibt einmal die sozialen Rollen der Verwandtengruppen, deren Sinn und Aufgabenerfüllung notwendig für das heutige Gemeinschaftsleben sind. Diese Gruppen werden hauptsächlich aus der engeren Familie mit den Rollen der Eltern, Kinder, Großeltern und Enkel gebildet. Dann gibt es die Gruppen weiterer verwandtschaftlicher Beziehungen, deren Sinn und Zweck heute nicht mehr notwendig für unser Gemeinschaftsleben ist. Hierzu gehören Verschwägerungen und weite, über die engere Familie hinausgehende Verwandtschaftsbeziehungen, z. B. die von Onkel/Tante zu Neffe/Nichte 15 . 1 2 Vgl. oben S. 156. 13 Vgl. zu einer ganzen Reihe Einzelprobleme Böhm, Diss., S. 62—67. 14 C H I 7. 15 Böhm, Diss., S. 66 weist m i t Recht darauf hin, daß sich unsere Rechtsordnung i n den Gesetzen wenig u m diese weiteren verwandtschaftlichen Beziehungen kümmert, sondern hauptsächlich die Belange der engeren Familie (Ehegatten, Eltern—Kinder) regelt. — A u f Einzelnachweise muß hier verzichtet werden.

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Innerhalb der strafrechtlich relevanten Gruppe von Verwandtenbeziehungen muß wieder differenziert werden. Es sind die Rollen (und dementsprechend die Garantieverhältnisse) von Eltern zu ihren minderjährigen Kindern, von Eltern zu ihren großjährigen bzw. verheirateten minderjährigen Kindern, vom unehelichen Vater zu seinem Kind, von Großeltern zu Enkeln, von Kindern zu Eltern bzw. Großeltern und von Geschwistern zueinander auseinanderzuhalten. Für diese Garantieverhältnisse muß man generell eine Unterscheidung danach machen, ob für die Charakterisierung der jeweiligen sozialethischen Pflicht als Rechtspflicht das objektive Bewertungsmerkmal des tatsächlichen Zusammenlebens hinzukommt oder nicht. Bei den Beziehungen der Eltern zu ihren Kindern spielt dieses Merkmal keine Rolle, w o h l aber — wie unten noch gezeigt w i r d — bei allen anderen Verwandtenbeziehungen, die alle von ihrem Sinngehalt her nicht so eng sind. Daß es bei den letzteren Garantieverhältnissen auf das objektive Bewertungsmerkmal des tatsächlichen Zusammenlebens ankommt, hängt damit zusammen, daß zur V e r w i r k l i c h u n g der Aufgabe dieser Verwandtengruppen oft ein tatsächliches Zusammenleben nötig ist. Die Verwendung des gleichen Merkmals w i e bei den Garantieverhältnissen aus der E h e 1 6 beruht jedoch hier auf einer anderen Gruppensituation. Während bei der Ehe die Selbständigkeit der Partner der G r u n d war, auf das objektive Bewertungsm e r k m a l des tatsächlichen Zusammenlebens abzustellen, ist es bei den Verwandtenbeziehungen deren Sinngehalt, der von vornherein nicht auf ein derartig umfassendes Miteinanderleben w i e bei der Ehe oder beim V e r hältnis der Eltern zu ihren minderjährigen K i n d e r n hinzielt. Dementsprechend t r i t t dieses objektive Bewertungsmerkmal bei der Ehe i n Kombination m i t dem objektiven Bewertungsmerkmal „Nichtzerrüttetsein" auf, während es bei dem Verhältnis der Eltern zu ihren minderjährigen K i n d e r n gar keine Rolle spielt u n d bei den sonstigen Garantieverhältnissen aus Verwandtenbeziehungen allein bedeutsam w i r d .

a) Garantieverhältnisse aus der Rolle der Eltern gegenüber ihren Kindern Unabhängig vom tatsächlichen Zusammenleben besteht bei der engsten aller Angehörigenbeziehungen, der Eltern zu ihren minderjährigen Kindern 1 7 , ein umfassendes Garantieverhältnis. Die Eltern haben Leib und Leben der Kinder zu schützen und deren Vermögen soweit, als es für die Kinder existenzwichtig (objektives Bewertungsmerkmal) ist 1 8 . 16 Siehe oben S. 137. 17 Ebenso zu dem noch ungeborenen K i n d ; vgl. die oben, S. 160 erörterte Entscheidung des O L G Oldenburg i n NdsRpfl. 1951, S. 75. — Ob i n gleicher

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Von diesem Garantieverhältnis sind die beiden anderen aus „räumlich-sozialem Herrschaftsbereich" und „persönlich-sozialem Herrschaftsbereich" zu trennen. Geschieht den Kindern etwas i n der elterlichen Wohnung, so haben die Eltern als Wohnungsinhaber die Gefahren von ihren Kindern genauso wie von dritten Personen abzuwenden. Ganz anders liegt es bei dem Garantieverhältnis aus persönlichem Herrschaftsbereich. Hier sind die geschützten Verhaltensobjekte nicht Leib, Leben, Vermögen usw. der Kinder, sondern die von den Kindern angegriffenen Objekte. Weil die Eltern das Recht und die Pflicht haben, ihre Kinder zu erziehen 19 , haben sie darüber zu wachen, daß diese nicht rechtswidrig strafrechtlich geschützte Rechtsgüter verletzen 20 . Dieses Garantieverhältnis ist von dem aus dem räumlichen sozialen Herrschaftsbereich gegenüber den dort befindlichen Rechtsgutsobjekten zu trennen. Begehen die Kinder Straftaten i n der Wohnung, so haben die Eltern auch als Wohnungsinhaber die Pflicht das von den Kindern angegriffene, in der Wohnung befindliche Verhaltensobjekt zu schützen 21 . I m gleichen Ausmaß haben Eltern auch ihre großjährigen Kinder vor allen möglichen Schäden zu bewahren. (Lediglich die A r t und Weise, wie sie diese Pflicht erfüllen, w i r d sich ändern. Es genügt bei Erwachsenen oft nur die Warnung.) Weise die elterngleichen Stellungen zu behandeln sind — vgl. etwa R G 30, S. 192; 65, S. 334 —, mag auf sich beruhen. 18 R G 76, S. 372; 77, S. 215 ff.; R G 37, S. 165 f.; 38, S. 125 f.; B G H 7, S. 269 f. ι» A r t . 6 I I G G ; § 1626 I I B G B ; § 143 StGB; die letztere Vorschrift schließt wegen ihrer i n Abs. 1 Satz 2 festgelegten Subsidiarität die Bestrafung wegen des unechten Unterlassungsdeliktes nicht aus. Außerdem geht die Bestrafung wegen eines unechten Unterlassungsdeliktes weiter als die nach § 143, da die Eltern auch dann schon wegen unechter Unterlassung zu bestrafen sind, wenn die K i n d e r strafrechtlich geschützte Rechtsgüter n u r angreifen, ohne schuldhafte Straftaten zu begehen, z.B. bei fahrlässiger Sachbeschädigung, die die E l t e r n vorsätzlich zulassen. 20 Das ist i n Lehre u n d Rechtsprechung unbestritten. B G H 1, S. 344 ff.; B G H FamRZ 1956, S.81; R G i n J W 1939, S.400; R G 40, S. 166; 72, S.374f.; K G i n JR 1950, S.408; O L G Hamm, JR 1951, S.349; Schönke/Schröder, 133 vor § 1; Welzel, Lb., S. 207; Böhm, Diss., S. 63 f. A . M . lediglich H. Mayer, Lb., S. 116 m i t der Bemerkung, es habe noch k e i n Staatsanwalt ein V e r fahren gegen einen Vater eingeleitet, der der siegreichen Prügelei seines Sohnes zugeschaut habe. I h m hat Böhm (a.a.O.) treffend entgegengehalten, daß es sich bei den normalen Raufereien unter Jungen u m sportliches, jedenfalls sozialadäquates Verhalten handele. Dagegen sei der Vater strafbar, w e n n er zulasse, daß der Sohn andere K i n d e r m i t Steinen werfe oder sonstw i e mißhandele. 2 1 So k a m z. B. i n B G H FamRZ 1956, S. 81; R G 72, S. 374 f.; K G i n JR 1950, S. 407 f. neben dem Garantie Verhältnis aus persönlich-sozialem Herrschaftsbereich auch eins aus räumlich-sozialem Herrschaftsbereich i n Betracht, was die Rechtsprechung zumeist nicht beachtete.

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Nicht dagegen besteht eine Garantenpfiicht, die erwachsenen Kinder ihrerseits von der rechtswidrigen Verletzung von Rechtsgütern abzuhalten, da die Erziehungs- und Aufsichtspflicht mit der Selbständigkeit der herangewachsenen Kinder aufhört. Das ist i n Rechtsprechung und Lehre durchweg anerkannt 2 2 . Die Klarheit der Stellungnahme w i r d jedoch oft durch die Erörterung anderer Fragen, die hier hereinspielen, getrübt. So ist das Schutz- bzw. Autoritätsverhältnis der Eltern zu den K i n dern i n § 181 Abs. 1 Ziff. 2 streng von dem Garantieverhältnis aus persönlich-sozialem Herrschaftsbereich in § 180 zu trennen, wie bereits oben begründet wurde 2 3 . Dieses Verhältnis des § 181 Abs. 1 Ziff. 2 gew i n n t zwar auch für die elterlichen Beziehungen zu großjährigen K i n dern Bedeutung, wie die Rechtsprechung zutreffend ausgeführt hat, aber nur bei der Begehung. Für das Garantieverhältnis Eltern—Kinder bei der Kuppelei durch Unterlassen gilt etwas anderes 24 . Die andere Problematik, die hier in zwei Varianten hereinspielt, ist wieder m i t dem Garantieverhältnis aus dem räumlich sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung oder dem „Hausrecht", wie die Rechtsprechung formuliert, verknüpft. Entsprechend der Struktur der Garantieverhältnisse könnte man zunächst daran denken, eine Erziehungspflicht, die bei Minderjährigen eine Rechtspflicht der Eltern ist, m i t dem E i n t r i t t der Volljährigkeit weiterhin als sozialethische Pflicht anzusehen — was an sich schon sehr fraglich ist — und diese sozialethische Pflicht durch das objektive Bewertungsmerkmal „bei M i t einanderleben i m Hause" 2 5 als Rechtspflicht zu bewerten. Eine solche Ansicht ginge aber fehl, denn ein solches Bewertungsmerkmal w i r d durch die Gruppensituation zwischen Eltern und Kindern nicht gerechtfertigt. Solange die Kinder minderjährig sind, besteht die Erziehungspflicht der Eltern immer und überall, so daß es auf dieses Bewertungsmerkmal nicht ankommen kann. Sind die Kinder großjährig, so ist das „Miteinanderleben i m Hause" nicht ein objektives Bewertungsmerkmal, sondern bedeutet nur, daß die Rolle der Erzieher jetzt nur noch eine gruppenmögliche (eben solange die Kinder i m Hause sind) und keine 22 R G 40, S. 166 f.; 67, S. 314; 77, S. 126; B G H i n N J W 1954, S. 847; B G H i n FamRZ 1958, S. 211; O L G Celle, NdsRpfl. 1950, S.92; O L G Stuttgart, FamRZ 1959, S. 74; Schönke/Schröder, 133 vor §1; teilweise weitergehend Dahm, ZStW 59, S. 171 f. 23 S. 157 f. 24 Unsicherheiten haben sich ergeben, w e i l die Rechtsprechung i n einigen Entscheidungen, die diese Problematik berühren, nicht sagt, ob sie v o n einer Kuppelei durch Begehung oder durch Unterlassung ausgeht (RG 16, S. 50 u n d B G H 17, S. 235 — das Zitat i n Schönke/Schröder, 11 zu § 180, ist insofern ungenau). Eindeutig von einem Begehungsdelikt geht B G H 5, S. 186 aus, eine Entscheidung, auf die sich B G H 17, S. 235 ausdrücklich beruft. 25 Darauf hat Böhm schon aufmerksam gemacht, Diss., S. 65, A n m . 295.

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gruppennotwendige Rolle ist 2 6 , was sich w o h l eindeutig aus den Regeln des BGB und den sozialen Anschauungen ergibt. Die Erzieherrolle scheidet also dann bereits für eine rechtliche Bewertung aus. — A n eine andere Möglichkeit nämlich, daß sich hier einfach das Garantieverhältnis aus dem räumlichen sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung m i t dem Garantieverhältnis „Eltern—Kinder" kreuzt, hat w o h l die Rechtsprechung überwiegend gedacht. Freilich ist ein echtes Durchdringen zweier Garantieverhältnisse i n dem Sinne, daß daraus ein neues entsteht, aus den oben 2 7 erörterten Gründen nicht möglich. Man könnte höchstens untersuchen, ob neben dem angeblichen, i n Wahrheit nicht existierenden Garantieverhältnis der Eltern aus Überwachung ihrer großjährigen Kinder noch das Garantie Verhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung relevant w i r d . Das ist der Fall, wenn die Kinder (genauso wie dritte Personen) Rechtsgutsobjekte i n der Wohnung der Eltern angreifen. Dann aber ist bei diesem Garantieverhältnis aus Beherrschung der Wohnung für die Kuppelei der § 180 Abs. 3 zu berücksichtigen, was die Rechtsprechung allerdings überwiegend nicht beachtet hat 2 8 . Da bei großjährigen Kindern eine strafrechtlich relevante Erziehungspflicht nicht mehr besteht und eine Bestrafung der Verletzung der Pflicht, als Wohnungsinhaber das physisch angegriffene Rechtsgut der Kuppelei zu schützen, wegen § 180 Abs. 3 nicht i n Frage kommt, hätte die Rechtsprechung statt zu Verurteilungen zu Freisprüchen gelangen müssen 29 . I n etwa gleicher Weise wie das Garantieverhältnis der Eltern zu ihren großjährigen K i n d e r n gestaltet sich auch das Garantie Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern 3 0 . b) Garantieverhältnisse aus sonstigen engeren Verwandtschaftsbeziehungen V o n den Beziehungen der Eltern zu ihren K i n d e r n heben sich — wie oben 3 1 ausgeführt — i m Bereich der strafrechtlich relevanten Angehö26 Vgl. dazu oben, S.112f. 27 S. 131, 164. 28 B G H NJW 1954, S. 847; O L G Stuttgart, FamRZ 1959, S. 74; R G 77, S. 126; ein richtiger Hinweis auf die straf einschränkende Funktion des § 180 Abs. 3 findet sich i n RG 67, S. 314 f. 2» Unklar sind z.B. die Ausführungen des BayrObLG M D R 1952, S. 312. M a n kann nicht eine Erziehungspflicht bei E i n t r i t t der Volljährigkeit verneinen, sodann betonen, daß § 180 Abs. 3 entsprechend seinem Sinngehalt diese Erziehungspflicht nicht berühre, und dann plötzlich den Schluß ziehen, daß Eltern strafbar seien, wenn sie ihre aus dem Hausrecht fließende Pflicht, ihre großjährigen Kinder i n der Wohnung vor dem Unzuchttreiben abzuhalten, verletzten. 30 Vgl. dazu B G H 19, S. 167 ff. m i t Anm. von Schröder i n JR 1964, S.227; Geilen, FamRZ 1964, S. 389 ff., der zurecht an dem Vorbehalt des BGH, daß

I I . Beziehungen zwischen Verwandten

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rigenrollen deutlich weitere ab, bei denen die sozialethische Hilfspflicht erst durch das tatsächliche Miteinanderleben zur Rechtspflicht wird. Hierzu zählt die Beziehung des unehelichen Vaters zu seinem Kind. Die Meinungen gehen hierüber allerdings auseinander. Zu einem Fall, i n dem ein Verlobter seine schwangere Braut „veranlaßte, m i t ihm an einen menschenleeren Ort zu gehen", wo sie das K i n d gebar, das sie beide dann hilflos sterben ließen, bejahte das Reichsgericht 32 eine Garantenhaftung des Mannes aus vorangegangenem gefährlichen Tun und — selbständig — daneben aus der natürlichen Verwandtschaftsbeziehung zu seinem Kind. I n der Literatur bezeichnet man teilweise die Annahme des Garantieverhältnisses des unehelichen Vaters zu seinem K i n d als sehr bedenklich 3 3 , zum Teil befürwortet man sie 34 . Die Gegner berufen sich auf § 1589 I I BGB, wonach der uneheliche Vater nur zur zivilrechtlichen Unterhaltsleistung verpflichtet sei; diese Regelung dürfe durch die Annahme eines solchen Garantieverhältnisses nicht überspielt werden 3 5 . Die Befürworter stützen ihre Ansicht auf § 170 c StGB, dem eine solche Garantenpflicht zugrunde liege 36 . Beide Hinweise sind indes nicht unbedingt hieb- und stichfest. § 1589 I I BGB präjudiziert als zivilrechtliche Bestimmung genausowenig die strafrechtliche Regelung 37 , wie umgekehrt § 170 c StGB zivilrechtliche Pflichten statuiert 3 8 . Aber auch § 170 c StGB selbst ist keine sichere Gewähr für die Annahme eines Garantieverhältnisses aus unehelicher Vaterschaft. Diese Vorschrift ist aus verfassungsrechtlichen Gründen eng auszulegen, da sie sonst gegen Art. 6 I GG 3 9 verstößt. Sie darf nämlich nicht zur Erzwingung außerehelicher, eheähnlicher Lebensgemeinschaften führen, die die grundgesetzliche Garantie der Ehe in ihrer Ausschließlichkeit beeinträchtigt und damit die i n ihrem Bestand und Inhalt geschützte Rechtsinstitution der Familie gefährdet 40 . Genausodie Garantenpflicht des Sohnes jedenfalls dann bestehe, w e n n er i n einer engen Gemeinschaft m i t dem Vater lebe, K r i t i k übt. 31 Siehe oben S. 167. 32 R G 66, S. 72 ff. 33 Η .Mayer, Lb., S. 114, 118; Maurach, Α. T., S. 516; Baumann, Lb., S. 234. 34 Schönke/Schröder, 109 vor § 1, Kohlrausch/Lange, System. Vorbem. I I Β I I 3 e vor § 1; Böhm, Diss., S. 62 f.; Geilen, FamRZ 1961, S. 152 f. 35 Baumann, Lb., S. 234; Maurach, A. T., S. 516. 36 Geilen, FamRZ 1961, S. 152 f. 37 Geilen, FamRZ 1961, S. 152 m i t arg. e contr. aus A r t . 33 EGBGB. 38 Vgl. dazu U w e H. Lange, FamRZ 1960, S. 385 ff. u n d FamRZ 1961, S. 161 ff. 39 Von A r t . 103 I I G G ganz zu schweigen — vgl. zum ganzen U w e H. Lange, FamRZ 1961, S. 163. 40 Bockelmann, Ndschr., Bd. 8, S. 402: „Soll der Schwängerer zwei Frauen haben, eine m i t der er verheiratet ist, und eine, m i t der er ein eheähnliches Verhältnis unterhalten muß, w e i l das Straf recht dies von i h m fordert?"

172

D. Einzelne Garantieverhältnisse

wenig darf die Annahme eines Garantieverhältnisses aus unehelicher Vaterschaft dazu führen, daß die von der Rechtsordnung i m Grunde mißbilligte familienähnliche Gemeinschaft auf diesem Wege sanktioniert wird, daß die Rechtsordnung von sich aus die Aufrechterhaltung solcher Verhältnisse erzwingt. Die Lösung, die alle diese Gesichtspunkte beachtet, ergibt sich, wenn man wieder generell die Struktur des Garantieverhältnisses beachtet. Die natürliche Abstammung begründet für den unehelichen Vater die sozialethische Pflicht, für sein K i n d zu sorgen. Diese sozialethische Pflicht w i r d zur Rechtspflicht, wenn der Vater von sich aus m i t dem Kinde zusammenlebt und ständig für es sorgt. Es ist also das „tatsächliche Zusammenleben" das objektive Bewertungsmerkmal, das die sozialethische Pflicht zur Rechtspflicht macht. Damit w i r d der Gruppensituation zwischen unehelichem Vater und Kind, wie sie in der Rechtsordnung an einigen Stellen entsprechend den sozialen Anschauungen ihren Niederschlag gefunden hat, Rechnung getragen. Es w i r d einerseits die Zurückhaltung, mit der das Zivilrecht die Beziehungen zwischen dem unehelichen Vater und seinem K i n d behandelt, beachtet — der uneheliche Vater hat keinerlei elterliche Gewalt über sein K i n d —, andererseits w i r d aber auch berücksichtigt, daß das Strafrecht an die Tatsache der blutsmäßigen Abstammung — i n Übereinstimmung mit der sozialen Anschauung — gewisse Rechtsfolgen knüpft 4 1 . Dadurch, daß das Strafrecht hier das faktische Merkmal des Miteinanderlebens berücksichtigt, w i r d der Gefahr, durch eine Zwangswirkung den Art. 6 Abs. 1 GG zu untergraben, begegnet 42 . Liegen diese Voraussetzungen des Garantieverhältnisses vor, so t r i f f t den unehelichen Vater nicht nur die Pflicht, sein K i n d vor Verletzungen von Leib und Leben zu schützen (das Vermögen bei existentieller Wichtigkeit), sondern er muß das minderjährige K i n d auch von der Begehung von Straftaten abhalten. Die zivilrechtliche Regelung präjudiziert hier nicht vollständig 4 3 , sondern ist nur ein Indiz dafür, die 41 Vgl. außer § 170 c z. B. auch § 174 Ziff. 1 (dazu i m vorliegenden Z u sammenhang B G H 1, S. 344 ff.), § 181 Abs. 1 Ziff. 2 u n d generell § 52 (dazu Kohlrausch/Lange, V I 1 zu § 52). 42 Der hier vorgetragenen Ansicht entspricht i n etwa die Auffassung Maurachs, A. T., S. 516, der eine Garantenstellung des unehelichen Vaters n u r bei vorhandener Hausgemeinschaft bejahen w i l l . — Böhm, Diss., S. 62, übersieht bei seiner Gegenargumentation die Wertungsgesichtspunkte aus A r t . 6 Abs. 2 GG. — Wenn sich Böhm f ü r seine unbeschränkte Bejahung der Garantenstellung des unehelichen Vaters auf § 221 Abs. 2 StGB beruft, so ist i h m entgegenzuhalten, daß die dort genannte Qualifikation n u r f ü r die Aussetzung durch Begehung gilt, u n d zwar aus den oben zu § 181 Abs. 1 Ziff. 2 genannten Gründen (siehe oben S. 157 f.). 43 Wie etwa Böhm, Diss., S. 64 meint. — Hier gelten ähnliche Erwägungen aufgrund der natürlichen Lebensanschauung, wie sie der B G H i n Band 1, S. 344 ff. entwickelt hat.

I I . Beziehungen zwischen Verwandten Garantenpflicht beschränken.

auf

die F ä l l e

des tatsächlichen Z u s a m m e n l e b e n s

173 zu

M i ß t m a n das oben angeführte Reichsgerichtsurteil an dieser Auffassung, dann ist es i n der Begründung falsch, denn der uneheliche Vater konnte f ü r das ungeborene K i n d bisher noch gar nicht tatsächlich gesorgt haben. Die Strafbarkeit des Angeklagten ergab sich denn eigentlich auch aus ganz anderen Erwägungen: Ebenfalls nicht aus dem anderen Garantieverhältnis des vorangegangenen gefährlichen Tuns, w i e das R G zusätzlich meinte, sondern wegen eines Begehungsdeliktes (Beihilfe bzw. Mittäterschaft zu § 212). Der Angeklagte hatte nämlich, indem er m i t der Geschwängerten i n die menschenleere Gegend zog, das noch ungeborene K i n d i n die gefährliche Lage gebracht, damit es nach der Geburt erfriere 4 4 . Z u dieser G r u p p e f ü r die U n t e r l a s s u n g s d e l i k t e r e l e v a n t e r A n g e h ö r i g k e i t s b e z i e h u n g e n z ä h l t auch die v o n G r o ß e l t e r n z u E n k e l n . Daß die R e c h t s o r d n u n g a u c h dieser G r u p p e B e d e u t u n g i m S i n n e d e r N o t w e n d i g k e i t f ü r die Gemeinschaft b e i m i ß t , zeigt sich z u m i n d e s t a n d e r U n t e r h a l t s r e g e l u n g d e r §§ 1601, 1606, 1705 B G B . E i n strafrechtliches G a r a n t i e v e r h ä l t n i s w i r d m a n auch h i e r u n t e r der besonderen V o r a u s setzung des tatsächlichen M i t e i n a n d e r l e b e n s b e j a h e n k ö n n e n 4 5 . Interessant ist hier, die Rechtsprechung zu verfolgen. I n einem F a l l hat das Reichsgericht eine Frau, die zuließ, daß ihre sechzehnjährige Tochter i n ihrer (der Mutter) Wohnung eine Kindstötung (§ 217) begangen hatte, bestraft, w e i l sie ihre großmütterliche Pflicht, das Leben des soeben geborenen Enkelkindes zu erhalten, verletzt habe 4 6 . Nach der hier vertretenen Ansicht ist diese Auffassung nicht zutreffend, da die Großmutter bisher noch gar nicht f ü r das ungeborene K i n d gesorgt haben konnte. Trotzdem ist das U r t e i l i m Ergebnis richtig, da auf jeden F a l l zwei andere Garantieverhältnisse vorlagen, nämlich das aus Beherrschung des sozialen räumlichen H e r r schaftsbereichs der Wohnung u n d aus dem persönlichen sozialen Herrschaftsbereich der elterlichen Stellung gegenüber der minderjährigen Tochter. — Genau diese beiden Gesichtspunkte u n d nicht das Garantieverhältnis Großmutter—Enkel hat denn auch das Reichsgericht später i n einem gleichgelagerten F a l l angeführt 4 7 . — Dagegen geht eine andere Entscheidung über eine Kindstötimg i n der Begründung wieder fehl, w e n n auf die GroßmutterEnkel-Beziehung abgestellt w i r d 4 8 ; dort kam, w e i l die Tochter großjährig war, n u r ein Garantieverhältnis aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung i n Frage. — W i r k l i c h relevant w u r d e das Garantieverhältnis von Großmutter zu E n k e l k i n d i n einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der britischen Zone 4 9 , i n dem die M u t t e r zusah, w i e ihre erwachsene Toch44 Der gleiche Fehler liegt R G 56, S. 169 zugrunde. Auch hier lag i n W a h r heit eine Begehung vor. 4 5 Ebenso der Sache nach Maurach, A. T., S. 515. Ohne die hier v o r geschlagene Beschränkung: Welzel, Lb., S. 207; Schönke/Schröder, 109 vor § 1; Sauer, A l S t R L , S.92; Vogt, ZStW 63, S.397; Dohm, ZStW 59, S. 171; Kohlrausch, Z A k D R 1939, S. 246. Ablehnend Böhm, Diss., S. 65 f. 4 e R G 39, S. 398. 47 R G 72, S. 374. 48 R G 64, S. 321. 49 Bd. 1, S. 87 ff.

174

D. Einzelne Garantieverhältnisse

ter ihren IV2 Jahre alten kleinen Jungen nach vier Versuchen schließlich tötete. Die Mutter, die Tochter u n d E n k e l k i n d bei sich aufgenommen hatte u n d für deren Lebensunterhalt sorgte, w a r hier als Wohnungsinhaberin und als Großmutter verpflichtet, das Leben des kleinen Kindes vor dem A n g r i f f seiner M u t t e r zu schützen. Der Oberste Gerichtshof der britischen Zone stellte hier n u r auf die Verpflichtung als Haushaltungsvorstand, also auf den sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung, ab.

Hierher zählt auch das Verhältnis der Geschwister zueinander. Solange sie miteinander leben — gleichgültig, ob sie minderjährig oder erwachsen sind —, haben sie füreinander zu sorgen. Die Einschränkung auf die Fälle des tatsächlichen Miteinanderlebens trägt der soziologischen Tatsache (der Gruppensituation) Rechnung, daß Geschwister, wenn sie erwachsen werden und ihre eigenen Wege gehen, oft das Zusammengehörigkeitsgefühl verlieren und sich anderen Menschen wesentlich enger anschließen. Darauf hat Böhm 5 0 zutreffend aufmerksam gemacht. Sein Schluß, demzufolge bestünde zwischen Geschwistern unter keinen Umständen die Rechtspflicht, den anderen zu schützen, geht jedoch zu weit, denn er übersieht, daß zwischen Geschwistern zunächst einmal prinzipiell die verwandtschaftliche sozialethische Pflicht zur gegenseitigen Hilfe besteht — auch wenn sie sich auseinandergelebt haben. Daraus folgt, daß das Miteinanderleben ein Merkmal ist, das diese Pflicht verstärkt und damit als objektives Bewertungsmerkmal die sozialethische Pflicht zur Rechtspflicht werden läßt 5 1 . — A n dererseits t r i f f t Geschwister nicht die Pflicht, einander von der Begehung von Straftaten abzuhalten, da die Rolle der Geschwister von vorherein keine sozialethische Pflicht der Aufsicht über den anderen zum Inhalt hat. So hat das Reichsgericht i n einer Entscheidung treffend die Pflicht eines Bruders verneint, den anderen von einer Fahrt m i t unbeleuchtetem F a h r rad abzuhalten bzw. die Gefahr, die dadurch entstand, sonstwie zu v e r hindern®'.

c) Die weiten, für die unechten Unterlassungsdelikte irrelevanten Verwandtschaftsbeziehungen I n neuerer Zeit ist der Bundesgerichtshof i n einer Entscheidung davon ausgegangen — ohne es allerdings ausdrücklich zu betonen, weil er es offenbar für selbstverständlich hielt —, daß der Schwiegersohn die Garantenpflicht habe, seine Schwiegermutter am Selbstmord zu hindern 5 3 . I m Gegensatz zu dieser vereinzelt gebliebeso Diss., S. 66. « Wie hier der Sache nach Niethammer, ZStW 57, S. 446. «2 R G 63, S. 394. 53 B G H 13, S. 166. — Bedenken hiergegen bei Geilen, FamRZ 1961, S. 151.

I I . Beziehungen zwischen Verwandten

175

nen Entscheidung ist die Rechtsprechung sonst erheblich zurückhaltender gewesen. So haben Reichsgericht und Bundesgerichtshof i n zwei Fällen die Pflicht einer Frau, ihren i m Haushalt lebenden kranken Schwager (Schwägerin) zu pflegen, auf die Stellung als Haushaltungsvorstand gegründet und nicht aus der Schwägerschaft hergeleitet 54 . Ebenfalls i n eine andere, hier zu verfolgende Richtung weist eine Entscheidung des Reichsgerichts 55 . Eine Frau, die ihrer Tochter und deren Ehemann i n ihrem Hause ein Zimmer vermietet hatte, schritt nicht ein, als die Tochter den Schwiegersohn vergiftete. Das Reichsgericht verneinte zutreffend eine Rechtspflicht der Frau aus ihrer Vermieterstellung 56 , erwähnte m i t keinem Wort eine etwaige Pflicht aus der bestehenden Schwägerschaft, hielt aber eine Schutzpflicht aus der eventuell bestehenden Hausgemeinschaft für möglich. Dieser Hinweis deutet auf die richtige Behandlung der angeführten Fälle hin: Zwar nicht die Hausgemeinschaft, wohl aber die „enge Lebensgemeinschaft" begründeten hier ein Garantieverhältnis zu dem zu schützenden Rechtsgutsobjekt des jeweiligen Partners. Die weiten, lockeren Angehörigenbeziehungen, wie sie etwa durch Verschwägerung oder durch Verwandtschaft i m dritten oder höheren Grad in der Seitenlinie (z. B. Onkel—Neffe) begründet werden, sind keine sozialen Gruppierungen, die i n der heutigen Gesellschaft, die i m wesentlichen auf der engen Familie aufbaut 5 7 , noch von wichtiger Bedeutung wären. Zwar existieren i n diesen Gruppen durchaus noch gruppeneigene sozialethische Bindungen, denen das Recht Rechnung trägt (z. B. i n §§ 52, 54, 139, 257, 263 Abs. 5 StGB, 52 StPO), aber rechtlich relevante Rollen m i t Pflichten, deren Erfüllung notwendig für das Gemeinschaftsleben ist, können diese Gruppen nicht herausbilden, da ihr Sinn für das Gemeinschaftsleben nicht mehr beachtlich ist 5 8 . Entscheidend w i r d i n solchen Fällen jeweils, unabhängig von einer möglicherweise bestehenden Angehörigenbeziehung, die Tatsache, ob eine „enge Lebensgemeinschaft" zwischen dem Unterlassenden und dem Träger des angegriffenen Rechtsgutsobjekts besteht. Dabei ist darauf zu achten, daß die einzelne, i n jedem konkreten Fall besondere enge Lebensgemeinschaft i n ihrem Sinngehalt (Aufgabenstellung) notwendig für das Gemeinschaftsleben ist. Das ist etwa i n den Fällen zu bejahen, wo der eine Partner i n seiner Existenz auf die Hilfe des 54

R G 73, S. 389 ; B G H 3, S. 21. DStR 1936, S. 178 ff. 56 Der räumlich-soziale Herrschaftsbereich des Vermieters erstreckt sich nicht ohne weiteres u n d unbeschränkt auf die untervermieteten Räume. Die Abgrenzung i m einzelnen soll hier offengelassen werden. 57 Dölle, S. 16 ff.; Gernhuber, S. 1 ff. (beide m i t reicher Literatur). 58 Vgl. auch Böhm, Diss., S. 66, der jedoch noch weitergeht. 55

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

a n d e r e n angewiesen ist, e t w a i n der e i n e n V a r i a n t e des o b e n 5 9 b e h a n d e l t e n „ T a n t e n - K a n a r i e n v o g e l - F a l l e s " oder i n d e n z w e i z i t i e r t e n U r t e i l e n des Reichsgerichts u n d des B u n d e s g e r i c h t s h o f s 6 0 , i n d e n e n also noch außer d e m G a r a n t i e v e r h ä l t n i s aus r ä u m l i c h - s o z i a l e m H e r r s c h a f t s bereich das G a r a n t i e Verhältnis aus „ e n g e r Lebensgemeinschaft" v o r l a g ; z u v e r n e i n e n w ä r e die N o t w e n d i g k e i t einer solchen L e b e n s g e m e i n schaft f ü r die S o z i a l o r d n i m g e t w a b e i b l o ß e n Freundschafts- oder L i e b e s v e r h ä l t n i s s e n 6 1 , u n d auch i n d e m o b e n e r w ä h n t e n F a l l , i n d e m die M u t t e r nichts gegen d e n M o r d der T o c h t e r a m S c h w i e g e r s o h n u n t e r n a h m , w ä r e eine solche Lebensgemeinschaft, i n d e r d e r S o h n e x i s t e n t i e l l a u f die S c h w i e g e r m u t t e r angewiesen w a r , z u v e r n e i n e n . Interessant ist i n diesem Zusammenhang H G 69, S. 321 ff. Das Reichsgericht hat ein achtzehnjähriges Mädchen, das ihre m i t i m Hause lebende, schwerkranke Tante vernachlässigte, m i t der Begründung verurteilt, sie habe gegenüber ihrem Vater die Pflicht gehabt (§ 1617 BGB), Dienstleistungen i m Hause zu erbringen, u n d dazu habe auch die Pflege der Tante gehört. „Denn es besteht kein Rechtssatz, demzufolge die Versäumung einer Rechtspflicht zum Handeln die strafrechtliche Verantwortlichkeit für den hierdurch herbeigeführten Schaden n u r dann zu begründen vermöchte, w e n n die Pflicht zum Handeln gerade dem Geschädigten gegenüber bestanden hat«*2." Diese Begründung ist verfehlt. Rein formal gesehen, hätte es dem Gericht obgelegen, die Berechtigung seiner Gedankenführung darzulegen; es durfte sich also nicht m i t dem negativen Hinweis, daß seiner Überlegung kein Rechtssatz entgegenstehe, begnügen. Aber auch sachlich ist diese Argumentation falsch. Daß u n d wer einen zivilrechtlichen Anspruch auf die E r f ü l l u n g einer Rechtspflicht hat, ist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit genauso irrelevant wie die Begründung der Pflicht durch das TochterVater-Verhältnis. Entscheidend ist vielmehr, daß es möglicherweise zwischen dem Mädchen u n d der Tante zu einer engen Lebensgemeinschaft gekommen war, i n der die K r a n k e auf die Pflege der Nichte angewiesen war. Durch welche Umstände diese Lebensgemeinschaft entstanden w a r — etwa w e i l das Mädchen i m Hause des Vaters helfen mußte oder w e i l es das ohne Rechtsverpflichtungen gegenüber dem Vater tat —, interessiert hier ebensowenig wie die Verwandtschaftsbeziehung Tante — Nichte. I I I . Garantieverhältnisse aus Verlobung und Garantieverhältnisse aus enger Lebensgemeinschaft Die Meinungen darüber,

ob das V e r l ö b n i s

ein

Garantieverhältnis

b e g r ü n d e t , das d e n e i n e n V e r l o b t e n z u m Schutz des a n d e r e n s t r a f r e c h t l i c h verpflichtet, s i n d i n d e r L i t e r a t u r g e t e i l t 1 . E i n e nähere

Begrün-

st S. 126 f. 60 S. 175 u n d dort A n m . 54. ei Verfehlt ist deshalb die Begründung i n JR 1956, S. 347 ff. Die 19jährige Geliebte eines Arztes hatte sich i n dessen Sprechzimmer vergiftet. H i e r lag ein Garantieverhältnis aus räumlichem sozialen Herrschaftsbereich vor, aber nicht aus dem Liebesverhältnis. 62 a.a.O., S. 323. ι Bejahend: Schönke/Schröder, 109 vor § 1; Schwarz/Dreher, D 3 v o r § 1;

I I I . Garantieerhältnisse aus Verlobung u n d enger Lebensgemeinschaft

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dung einer Befürwortung oder Ablehnung hat — soweit ersichtlich — außer Geilen 2 und Böhm 3 niemand gegeben. Auch die zivilrechtliche Literatur beschränkt sich i m wesentlichen darauf, die hier gerade erst zu überprüfende Rechtsprechung zu zitieren 4 . Das Reichsgericht hat eine aus dem Verlöbnis folgende Rechtspflicht, den anderen Verlobten an der Begehung einer Straftat (Abtreibung) zu hindern, verneint, „ w e i l das Verlöbnis (§ 1297 BGB) nicht einmal einen dem kraft der Eheschließung begründeten ähnlichen Rechts- und Pflichtenkreis erzeugt" 5 . Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof eine Rechtspflicht des Verlobten, den anderen vor bestimmten Gefahren zu schützen, bei Vorliegen besonderer Umstände bejaht 6 . „Die Dauer des Verlöbnisses, das Alter und die Reife der Verlobten, die räumliche Nähe oder Ferne, i n der sie leben, vor allem das persönliche Verhältnis der Verlobten zueinander, die Enge und Festigkeit ihres Zusammenschlusses i m Hinblick auf die künftige Ehe können dafür von Bedeutung sein." Diese Umstände lagen i n dem v o m Bundesgerichtshof entschiedenen F a l l w o h l vor. Eine Verlobte hatte Selbstmord verübt, indem sie sich vor den Eisenbahnzug warf. „Das Mädchen hatte i n seiner heftigen Zuneigung zum Angeklagten das Versprechen, von i h m zu lassen, beim ersten Wiedersehen m i t i h m gebrochen u n d bedenkenlos u m seinetwillen die häusliche Geborgenheit und Sicherheit der Lebensführung preisgegeben, u m i h m i n ein neues, v ö l l i g ungewisses Dasein zu folgen. Er wiederum wollte anderwärts eine Arbeitsstätte u n d eine gemeinsame Lebensmöglichkeit finden u n d später m i t dem Mädchen auswandern." Daraus zieht der Bundesgerichtshof dann das Fazit: „Beide hatten ihre Schicksale verknüpft u n d i m Hinblick darauf eine von der Sitte nicht gebilligte, aber tatsächliche Gemeinschaft des Lebens aufgenommen, die später zur Ehe führen sollte. Bei dieser U n bedingtheit, m i t der sie einander angehörten, w a r der Angeklagte . . . rechtlich verpflichtet, Gefahren für Leib und Leben von seiner Braut abzuwenden . . Λ "

Geilen 8 hat i n seiner kritischen Besprechung der Rechtsprechung treffend darauf aufmerksam gemacht, daß der Bundesgerichtshof hier i n Wirklichkeit gar nicht an das Verlöbnis anknüpft, sondern an die bereits bekannten Rechtsinstitute des vorangegangenen Tuns („ihre Dahm, ZStW 59, S. 171. — Sauer, GS 114, S.308 u n d O L G Jena i n H R R 1935, S. 216 bejahen eine Pflicht zur Hinderung der Straftat des Verlobten. V e r neinend Geilen, FamRZ 1961, S. 155 ff.; Böhm, Diss., S. 67; W. Landsberg, Diss., S. 33 f. Unentschieden Welzel, Lb., S. 207. 2 FamRZ 1961, S. 155 ff. 3 Diss., S. 67. 4 Döile, I , S. 65; Gernhuber, S. 61 f.; Beitzke, S. 19; R G R K , Anm. I vor § 1297 B G B ; Bartholomeyczik i n Erman, 2 vor § 1297 BGB. 5 R G 56, S. 169. 6 JR 1955, S. 104 f. = L M Nr. 25 zu § 222. ? JR 1955, S. 105. 8 FamRZ 1961, S. 155. 12 Bärwinkel

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

Schicksale verknüpft") u n d der engen Lebensgemeinschaft („tatsächliche Gemeinschaft des Lebens") anknüpft. So habe der Bundesgerichtshof i n einer späteren Entscheidung 9 nicht auf die dort auch bestehende Verlobung zurückgegriffen, sondern n u r m i t der tatsächlich bestehenden Lebensgemeinschaft u n d dem vorangegangenen T u n argumentiert. Geilen ist denn auch der Meinung, daß das Verlöbnis n u r „eine Gemeinschaftsbeziehung v o n denkbar geringer Intensität" sei, deren rechtlicher Gehalt sich i m Grunde darin erschöpfe, „ i m Straf- u n d Verfahrensrecht bestimmte, durch das Verlöbnis sozusagen unwiderleglich vermutete Motivationslagen zu berücksichtigen" 1 0 . Dieser Ansicht Geilens ist grundsätzlich zuzustimmen, n u r bedarf sie, der hier entwickelten Methode zufolge, noch einiger Ergänzung aus der Sicht der Sinn- u n d Zweckbestimmung des Verlöbnisses u n d der durch sie normalerweise begründeten Gemeinschaft zwischen zwei Menschen. Böhm hat darauf hingewiesen, daß die Verlobung „ v o n der Rechtsordnung nicht als Vor-Ehe, sondern als die Ermöglichung besseren Kennenlernens" 1 1 gedacht ist. Dieser Ansicht k a n n man sich n u r anschließen. Das Verlöbnis ist das Versprechen zweier Menschen, die Ehe einzugehen. Das durch diesen Einigungsakt 1 2 begründete personenrechtliche Gemeinschaftsverhältnis steht zwar unter dem Leitziel der künftigen Eheschließung, aber voreheliche i m Sinne eheähnlicher Pflichten begründet es als Verlöbnis gerade nicht. So ist sein Zweck auch gerade nicht, eine Prüfungszeit durchzuführen, i n der die Partner sich u n d den anderen auf ihre Tauglichkeit, eine Ehe zu führen, h i n prüfen (arg. aus § 1298 B G B : dann könnte nämlich diese Vorschrift bei grundlosem Rücktritt nicht zum Schadensersatz verpflichten), sondern Sinn u n d Zweck ist vielmehr, „den Ubergang vom Fremdsein zum späteren ehelichen Vertrautsein zu erleichtern und die engeren Beziehungen zwischen den Brautleuten der Gesellschaft gegenüber zu rechtfertigen" 1 3 . Wie wenig dieser Sinngehalt des Verlöbnisses m i t dem ehelichen Rechtenund Pflichtenkreis zu t u n hat, ergibt sich auch aus der Tatsache, daß die Eheschließung nicht eine vorher bestehende Verlobung notwendig zur V o r aussetzung hat.

Ist das aber der objektive Sinn einer Verlobimg 1 4 , nämlich daß zwei Menschen i m Hinblick auf die spätere Ehe erst beginnen, nähere K o n 9

FamRZ 1960, S. 402 = N J W 1960, S. 1821 f. 10 Ähnlich Gernhuber, S. 61. u Diss., S. 67. ι 2 Ob dieser ein zivilrechtlicher Vertrag ist oder n u r ein soziales F a k t u m (Tatsächlichkeitstheorie), interessiert hier nicht (vgl. dazu Dölle, S. 62 ff.; Gernhuber, S. 55 f.). 13 Lehmann, S. 25. 14 U n d dafür spricht die zivilrechtliche Regelung des § 1297 I u n d I I B G B (vgl. auch § 888 I I ZPO).

I I I . Garantie Verhältnisse aus Verlobung u n d enger Lebensgemeinschaft

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takte anzuknüpfen — und zwar, i m Gegensatz zu sonstigen Liebesbeziehungen, unter Billigung der Rechts- und Gesellschaftsordnung —, so kann die Gesellschaft den Verlobten i n dieser Anfangszeit des Knüpfens gemeinschaftlicher Bindung nicht bereits strafrechtlich sanktionierte Pflichten, sich umeinander zu kümmern, auferlegen. I m Einzelfall kann nun allerdings ein Verlöbnis Anlaß sein, daß Mann und Frau eine enge Lebensgemeinschaft begründen, die weit über das hinausgeht, was die Gemeinschaft zweier Verlobter nach den Vorstellungen der Gesellschaftsordnung zum Ziel hat, und die i n vielen Fällen von ihr deshalb (weil sie über das Verlöbnis hinausgeht) auch mißbilligt wird 1 5 . Eine solche enge Lebensgemeinschaft hat aber i n ihrem Sinngehalt mit dem Verlöbnis nichts mehr zu tun. Ob sie ein Garantieverhältnis begründet, hängt ausschließlich von ihrem eigenen, jetzigen Sinn und Zweck ab. Die Tatsache, daß sie durch ein Verlöbnis begründet wurde, ist genauso unbedeutend wie jeder beliebige andere Entstehungsgrund 16 . Als Zwischenergebnis kann also festgehalten werden: Die normale Gemeinschaft zweier Verlobter, der Brautstand, begründet kein strafrechtliches Garantieverhältnis, sondern nur die konkrete enge Lebensgemeinschaft, die unter anderem auch durch ein Verlöbnis oder eine Freundschaft veranlaßt sein kann, wenn ihr Sinngehalt notwendig für das Gemeinschaftsleben ist 1 7 . Knüpft man i m Zuge der Abschichtung vom angeblichen Garantieverhältnis aus Verlobung an den Begriff der engen Lebensgemeinschaft an, wie das in derselben Weise oben bei den weiten Verwandtschaftsbeziehungen geschehen ist 1 8 , so bedarf es noch einmal einer grundsätzlichen Auseinandersetzung m i t den Bedenken Geilens gegen die Annahme eines Garantieverhältnisses aus „enger Lebensgemeinschaft". Geilen 1 9 weist zunächst darauf hin, daß die Rechtsprechung früher mit dem Begriff der Lebensgemeinschaft einen „nicht zu überhörenden Wertakzent" verbunden habe, und nennt als deutlichste Entscheidung i n dieser Richtung RG 73, S. 52 ff. Dort war die Konkubine eines Ehemannes, die zusammen mit i h m und dessen Ehefrau i n der ehelichen Wohnung lebte, angeklagt, den Mord des Mannes an seiner Frau nicht verhindert zu haben. Das Reichsgericht verneinte eine solche Rechtspflicht der Angeklagten mit der Begründung 2 0 : „Es hieße, den sittlichen is Wie der BGH, JR 1955, S. 105, j a auch ausdrücklich betont hat. le Vgl. dieselbe Argumentation bereits oben S. 176. 17 Siehe S. 175 f. 18 S. 175 f. ι» FamRZ 1961, S. 153. 20 a.a.O., S. 56. 12*

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

Wert der Familiengemeinschaft und der Hausgemeinschaft i n unzulässiger Weise herabwürdigen, wenn man unter solchen Umständen die Angeklagte als Teilnehmerin dieser (Lebensgemeinschaft) anerkennen und etwa der Frau K . (der ermordeten Ehefrau) noch eine Rechtspflicht auferlegen wollte, i n größerem Maße als für einen gleichgültigen Fremden, der nicht i n Beziehung zu ihr stand, für die Angeklagte zu sorgen." Dazu führt Geilen aus, diese „Ansätze einer wertenden Einschränkung des Begriffs der Lebensgemeinschaft" habe die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs i n zunehmendem Maße fallengelassen 21 . Während der Bundesgerichtshof i n Bd. 2, S. 150 noch zur Begründung von Garantenpflichten auf „engere, vom Treuegebot beherrschte Lebensgemeinschaften" verweise, spreche er i n JR 1955, S. 105 = L M Nr. 25 zu § 222 nur ganz beiläufig davon, daß die tatsächliche Lebensgemeinschaft nicht von der Sitte gebilligt sei 22 , u m i n FamRZ 1960, S. 402 = NJW 1960, S. 1821 f. nur noch von der tatsächlichen Lebensgemeinschaft auszugehen 23 , obwohl doch dort auch ein Verlöbnis bestanden habe. I n dieser Rechtsprechung sieht Geilen die Tendenz, daß der „Begriff der Lebensgemeinschaft aus seiner ursprünglich noch deutlich erkennbaren sozialethischen Gebundenheit gelöst, und ins nur noch Faktische ausgeweitet" wird, und er stellt die Gegenforderung auf, daß man als Ausgleich für die transpositive Erweiterung der Garantenpflichten wenigstens daran festhalten müsse, „daß die die Garantenstellung begründende Lebensgemeinschaft auf sozialethisch festgefügtem Boden steht" 2 4 . M i t diesem Anliegen hat Geilen sicherlich recht, jedoch kann seiner Deutung der Rechtsprechung, daß sie nur noch der Faktizität huldige, nicht beigepflichtet werden. Geilen verliert auch hier, genau wie es oben bei der ehelichen Gemeinschaft aufgezeigt wurde 2 5 , das sittliche, sozialethische Moment aus den Augen, das auch i n einer engen Lebensgemeinschaft liegen kann. Berücksichtigt man bei der Betrachtung der Rechtsprechung dieses Moment i n dem Rechtsbegriff der „engen Lebensgemeinschaft" 26 , so kann man freilich zu einer ganz anderen Interpretation der Rechtsprechung gelangen. I n RG 73, S. 56 w i r d ausgeführt, daß die Konkubine des Ehemannes nicht in einer familiären oder häuslichen Gemeinschaftsbeziehung zur Ehefrau gestanden haben könne. FamRZ 1961, S. 153 u n d 150. — Die Einschränkungen sollen nach Geilen i n verschiedenen Erscheinungsformen noch z.B. i n R G 70, S.313ff.; 69, S.323; 74, S. 309 ff.; DStR 1936, S. 178 vorhanden sein. 22 Siehe oben S. 177 das Z i t a t aus dem Urteil. 23 Ebenso O L G Celle, HannRpfiL, 1947, S. 33. 24 FamRZ 1961, S. 153. 25 S. 135 ff. 26 Also als einer Gruppe, die notwendig f ü r das Gemeinschaftsleben ist — vgl. oben S. 175 f.

I I I . Garantie Verhältnisse aus Verlobung u n d enger Lebensgemeinschaft

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Das ist unabhängig von der verfehlten Begründung, die das Reichsgericht gibt, richtig; denn eine familiäre, und das kann nur heißen, verwandtschaftliche Beziehung bestand zwischen den beiden Frauen sowieso nicht, und den Begriff der Hausgemeinschaft hätte das Gericht erst einmal präzisieren müssen; unter den konkreten Umständen des damaligen Falles wäre hierunter allenfalls nur eine „enge Lebensgemeinschaft", wie sie hier definiert w i r d 2 7 , als möglich i n Erwägung zu ziehen gewesen, allerdings nur, um ihr tatsächliches Vorliegen aus den Umständen des konkreten Falles sogleich zu verneinen. Denn die Ehefrau war ganz sicherlich nicht existentiell auf die Gemeinschaft mit der Konkubine ihres Mannes angewiesen, i m Gegenteil, ihr wäre geholfen gewesen, wenn die Ehebrecherin auf Nimmerwiedersehen verschwunden wäre. Ist also durch eine exakte Begriffsbildung nachgewiesen, daß die Ehebrecherin i m entschiedenen Fall schon von der Struktur der Gruppen „Familiengemeinschaft" und „enge Lebensgemeinschaft" gar nicht Mitglied einer dieser Gruppen sein konnte, m. a. W. keine entsprechende Rolle innehaben konnte, so w i r d deutlich, daß die Begründung, die das Gericht gibt, nämlich der sittliche Wert dieser Gemeinschaft werde herabgesetzt, wenn man die Konkubine als ihre Teilnehmerin anerkenne, i n der L u f t hängt. Die Beziehung der Konkubine zur Ehefrau gehört nun einmal nicht zu dem festumrissenen soziologischen Sachverhalt, den die Gesellschaft m i t dem Begriff „Familie" verknüpft, und sie hat auch m i t ihm keine gemeinsamen Anknüpfungspunkte. Daher ist es von vornherein verfehlt, diesen andersartigen Sachverhalt mit den sittlichen Maßstäben zu messen, mit dem die Gesellschaft die Familie wertet. Das ist auch bereits ein logischer Verstoß 28 . Der gleiche Fehler liegt auch bei der Argumentation hinsichtlich der „ H e r abwürdigung der Hausgemeinschaft" vor, sofern man präzise m i t diesem Ausdruck die existentiell wichtige enge Lebensgemeinschaft meint. E i n solcher sozialer Sachverhalt lag eben i n concreto nicht vor, u n d der soziale Sachverhalt, der vorlag, kann nicht an Wertungsgrundsätzen gemessen werden, die für die existentiell bedeutsame enge Lebensgemeinschaft gelten.

Die sozialethische Wertung, die das Reichsgericht in jenem Urteil vorgenommen hat, ist also verfehlt. Aus diesem Grunde kann die heutige Rechtsprechung nicht an diesem Urteil gemessen werden, wie Geilen dies tut. Freilich scheint B G H JR 1955, S. 105 zunächst die Tendenz, die 27 Siehe oben S. 175 f. 28 Oben beim Garantieverhältnis des Vaters zu seinem unehelichen K i n d (vgl. S. 171 f.) w a r der Hinweis auf die Stellung u n d Bewertung der Familie i n der Gesellschaft berechtigt, da hier w i e bei der Familie nach sozialer Anschauung eine natürliche, abstammungsmäßige Verwandtschaft besteht. I n diesem P u n k t gleichen sich die sozialen Sachverhalte u n d können demzufolge auch wertmäßig verglichen werden.

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

Geilen feststellt, zu bestätigen, wenn dort formuliert wird: „ . . . und i m Hinblick darauf eine von der Sitte nicht gebilligte, aber tatsächliche Gemeinschaft des Lebens aufgenommen, . . A b e r die Beiläufigkeit, mit der der Bundesgerichtshof diese Unsittlichkeit konstatiert, kommt nicht von ungefähr. Unsittlich w a r die Gemeinschaft der beiden Verlobten, wenn man sie an den Wertvorstellungen mißt, die die Gesellschaft m i t dem Verlöbnis verknüpft. I n der Weise, wie der Angeklagte und seine Braut es taten, dürfen Verlobte nicht zusammenleben. Diese Unsittlichkeit des Zusammenlebens i m Hinblick auf das Verlöbnis besagt jedoch nichts über die sittliche Werthaftigkeit der begründeten engen Lebensgemeinschaft als solcher. Haben sich zwei Menschen existentiell miteinander verbunden, so verlangt die Sozialethik, daß sie sich umeinander kümmern. Unter diesem Aspekt hatte die begründete Gemeinschaft der beiden herumvagabundierenden Verlobten durchaus sittliche Pflichten zum Inhalt. I n diese Richtung scheint doch das „aber" i n der Formulierung des B G H „ . . . nicht gebilligte, aber tatsächliche..." zu deuten.

Dieses ethische Moment der „engen Lebensgemeinschaft" das vorhanden ist, wo Geilen nur noch Faktizität sieht, ist für das entsprechende Garantieverhältnis bei den unechten Unterlassungsdelikten bedeutsam. So ist es nur zu begrüßen, daß der Bundesgerichtshof denn auch i n NJW 1960, S. 1821 f. den verfehlten Hinweis auf das Verlöbnis und die verfehlte, am Wertgehalt des Verlöbnisses orientierte sittliche Verdammung fortgelassen und zutreffend nur noch auf die „enge Lebensgemeinschaft" abgestellt hat. Der berechtigten Forderung Geilens, daß das Garantieverhältnis aus „enger Lebensgemeinschaft" auf sozialethisch festgefügtem Boden stehen" müsse, daß sich die hieraus entspringenden Pflichten als sozialethische Aufgaben ausweisen lassen müßten, die infolge der sozialethischen Struktur des angesprochenen „Lebensbereiches" (m. a. W. der „Rolle") wenigstens transpositive Anhaltspunkte für eine „Erstreckung der Rechtspflicht" böten 29 , dieser Forderung w i r d durch die hier angeführten Kriterien Rechnung getragen: die Lebensgemeinschaft muß i n ihrer Aufgabe für den zu schützenden Partner existentiell bedeutsam sein. Nur dann entsteht die rechtlich relevante soziale Rolle eines der Gruppenmitglieder. Darüber hinaus werden die sozialethischen Pflichten dieser Rollen nur dann zu Rechtspflichten, wenn sich der Schutz auf existentiell wichtige Güter erstreckt (objektives Bewertungsmerkmal). Zusammenfassend läßt sich also sagen: Ein Garantieverhältnis kann aus dem Verlöbnis nicht entstehen, wohl aber kann eine Verlobung 29 FamRZ 1961, S. 153.

I V . Ergebnis

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Anlaß zur Begründung einer engen Lebensgemeinschaft sein, die dann ihrerseits zu einem Garantieverhältnis führen kann, nämlich dann, wenn sie notwendig für das Gemeinschaftsleben ist. Das dürfte anzunehmen sein, wenn die Lebensgemeinschaft für einen der beiden Partner existentiell lebenswichtig ist; die sozialethischen Pflichten einer solchen Rolle werden durch das objektive Bewertungsmerkmal, daß ein existentiell wichtiges Gut des einen oder anderen Partners gefährdet ist, zu Rechtspflichten. I V . Ergebnis Zieht man aus der Untersuchung am konkreten Material zunächst das Fazit unter dogmatischen (strukturellen) und methodischen Aspekten, so läßt sich sagen: Das Abstellen auf den Wertungssachverhalt der sozialen Rolle i m Garantieverhältnis hat die exakte Abgrenzung und Systematisierung von Garantieverhältnissen ermöglicht. Es konnten die Garantieverhältnisse aus der Ehe, aus dem sozialen Herrschaftsbereich der Wohnung, aus enger Lebensgemeinschaft, aus dem sachlichen sozialen Herrschaftsbereich des Hausbesitzers über die Sache Haus als Gefahrenquelle, aus dem Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern, aus persönlichem Herrschaftsbereich der Eltern über ihre Kinder und aus sonstigen engeren Verwandtschaftsbeziehungen herausgearbeitet und i n ihrer Bedeutung zueinander abgegrenzt werden. Die Garantieverhältnisse aus Verwandtschaftsbeziehungen konnten systematisch in Gruppen geordnet werden 1 . Darüber hinaus ergab die Betrachtung der Rollen, daß es i n einigen Fällen bei angeblichen Garantenstellungen schon an einer rechtlich relevanten sozialen Rolle fehlt (etwa bei den weiten Verwandtschaftsbeziehungerl 2 oder bei engen Lebensgemeinschaften, die nicht für den einen Partner existentiell wichtig sind 3 ) oder daß innerhalb der gegebenen sozialen Rolle keine sozialethische Pflicht zum Schutze eines Rechtsgutes existiert (z.B. bei der Hinderung des Ehegatten an der Begehung von Straftaten 4 , beim Verlöbnis 5 ). Beim Fehlen der Rolle wie beim Mangel der einzelnen sozialethischen Pflicht fehlt bereits i m Garantieverhältnis die sozialethische Basis, an die eine weitere Bewertung anknüpfen muß. ι * 3 * δ

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

oben S. 163 ff., 166 f. oben S. 174 ff. S.180f. S. 153 ff. (156). S. 176 ff. (178 f.).

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D. Einzelne Garantieverhältnisse

Auch der andere Wertungssachverhalt, das Rechtsgut, hat i n manchen Fällen entscheidende Bedeutung erlangt: So lag bei der einen Konstruktion zur Begründung einer Pflicht des Ehegatten, den Partner an der Begehung von Straftaten zu hindern, überhaupt kein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut vor®. Beim Garantieverhältnis aus sozialem Herrschaftsbereich der Wohnung ist die Natur des einzelnen Rechtsguts von Bedeutung (Vermögen — Eigentum) 7 . Schließlich w i r k t sich das Rechtsgut auch auf die A r t und Zahl der objektiven Bewertungsmerkmale aus (bei Vermögensgütern t r i t t i n vielen Fällen noch die „existentielle Wichtigkeit der Rechtgutsobjekte" zu den anderen objektiven Bewertungsmerkmalen hinzu 8 ), oder aber der Angriff auf zwei Rechtsgüter zugleich ist ein objektives Bewertungsmerkmal, das ein anderes entbehrlich macht 9 . Die „objektiven Bewertungsmerkmale" als dritter Wertungssachverhalt des Garantieverhältnisses haben sich i n einer ganzen Fülle ergeben. Z u betonen ist nochmals, daß sie stets ganz konkret aus der Gruppensituation heraus zu entwickeln sind. Selbst äußerlich gleiche Merkmale können i n mehreren Garantieverhältnissen auf unterschiedlichen Gruppensituationen beruhen und treten dann demzufolge i n ganz unterschiedlichen Kombinationen mit jeweils anderen objektiven Bewertungsmerkmalen auf 1 0 . Die inhaltliche Beschreibung der behandelten Garantieverhältnisse und die inhaltliche Lösung der strittigen Fälle ist i n der Untersuchung, der es i n erster Linie um eine Darstellung der Struktur der Garantieverhältnisse geht, naturgemäß knapp ausgefallen. Immerhin hat sich gezeigt, daß sich manche Streitfragen und Probleme sachlich quasi „von selbst" zurechtrücken und inhaltlich zufriedenstellend lösen, wenn man die Struktur der Garantieverhältnisse beachtet 11 . Freilich w i r d dem Rechtsanwendenden wie auf keinem Rechtsgebiet so auch hier nicht die eigene Verantwortung bei der Fällung einer Wertentscheidung abgenommen 12 ; die Erkenntnis der Wertstruktur der Garantieverhältnisse vermag i h m nur das Auffinden der Kriterien zu erleichtern.

β Vgl. S. 155. 7 Vgl. S. 149 ff. 8 Vgl. S. 146, 148. » Vgl. S. 149. 10 Vgl. S. 167, 172. 11 Vgl. S. 135 ff., 154 ff., 163 ff. 12 Siehe oben S. 98 f.

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Standort

der unechten

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