Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten [1 ed.] 9783428478224, 9783428078226

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Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten [1 ed.]
 9783428478224, 9783428078226

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 83

Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten Von

Joachim Vogel

Duncker & Humblot · Berlin

JOACHIM

VOGEL

Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten

Strafrechtliche Abhandlungen • Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 83

Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten

Von

Joachim Vogel

Duncker & Humblot * Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Klaus Tiedemann, Freiburg i. Br.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Vogel, Joachim: Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten / von Joachim Vogel. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Strafrechtliche Abhandlungen ; N.F., Bd. 83) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07822-5 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-07822-5

Vorwort Die folgende Untersuchung hat der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. im Sommersemester 1992 als Dissertation vorgelegen. Sie ist für die Veröffentlichung nicht unerheblich überarbeitet, gekürzt und auf aktuellen Stand gebracht worden. Ziel der Untersuchung ist es, ausgehend von den Begriffen der "Norm" und der "Pflicht" die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte theoretisch zu fundieren. Es geht also in erster Linie um normtheoretische, strukturelle und i.e.S. dogmatische Fragen wie z.B. um solche der Kausalität, des Versuchs, der Beteiligung usf. Nicht hingegen ist es das Ziel der Untersuchung, eine neue materielle Garantenlehre vorzulegen und Grund und Grenzen der einzelnen Garantenstellungen zu erörtern. Zu dieser materialen Legitimationsproblematik werden vielmehr nur Vorüberlegungen methodischer und theoretischer Art angestellt. Diese Überlegungen mit inhaltlichem Leben zu erfüllen wäre eine noch zu leistende Aufgabe. Danken möchte ich in erster Linie meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Tiedemann, von dem ich wissenschaftliches Arbeiten gelernt habe und der es mir ermöglicht hat, neben meiner Assistententätigkeit an seinem Lehrstuhl in aller Freiheit an dieser Untersuchung zu arbeiten. Zu Dank verpflichtet bin ich weiterhin Herrn Professor Dr. Wolfgang Frisch, der die Mühe der Erstellung des Zweitberichts auf sich genommen und ausführliche, konstruktive, hier weitestgehend berücksichtigte Kritik geübt hat, sowie den Herren Professoren Dres. Friedrich-Christian Schroeder und Eberhard Schmidhäuser, die die Aufnahme der Untersuchung in die Strafrechtlichen Abhandlungen n.F. befürwortet haben. Herzlicher Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Urs Kindhäuser, der mein Interesse an rechtstheoretischen Fragen geweckt hat, und Herrn Professor Dr. Gerhard Dannecker, in dem ich für alle Schwierigkeiten einen verständnisvollen und hilfreichen Ansprechpartner hatte. Schließlich bedanke ich mich bei allen, die in anderer Weise zu diesem Unternehmen beigetragen haben, vor allem bei Herrn Dr. Matthias Siegmann für scharfsinnige Diskussionsbeiträge und stete Unterstützung. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern. Freiburg i. Br., im August 1992

Joachim Vogel

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis

14

Einführung

21

Erstes Kapitel Norm- und Pflichtwidrigkeit als Konstituenten der Straftat § 1 Norm- und Normwidrigkeit I.

Strafgesetz und Norm

27

1. Sanktionsnormen

27

2. Verhaltensnormen

28

3. Einwände gegen das Bestehen von Verhaltensnormen

30

4. Dogmatische Relevanz der Verhaltensnormen II. Zur Theorie der Verhaltensnormen

32 33

1. Präskriptive Rechtssätze

33

2. Sprechakttheoretische Verhaltensnormanalyse

34

3. Normenkollision und Einheit der Rechtsordnung (zur Rechtfertigung)

37

4. Norm-und Pflichtwidrigkeit

41

5. Bestimmungs- und Bewertungsnorm, Erfolgs- und Verhaltensunrecht

43

III. Der Grund der Verhaltensnormen (Rechtsgut und Norm)

45

1. Rechtlich Gutes, Richtiges, Gebotenes

45

2. Rechtsgüter

46

3. "Vollständige" Legitimation IV. Die Normwidrigkeit (zum Inhalt der Verhaltensnormen)

48 49

1. Normwidrigkeit und Tatbestandsmäßigkeit

49

2. Verletzungsverursachungsverbote

50

3. Willkürlichkeit des verbotenen Verhaltens? V. Einwände gegen das hier zugrundegelegte "objektive" Normenkonzept 1. Die Kritik von Frisch, Kuhlen und Freund 2. Verteidigung gegen die Einwände § 2 Zurechnung als Pflichtwidrigkeit I.

27

Zurechnung in ihrer umfassenden Bedeutung

51 53 53 55 57 57

8

nsverzeichnis 1. Zurechnung zur Person

57

2. Ältere und neuere Zurechnungslehren

57

3. "Objektive" Zurechnung?

60

4. Zurechnungsregeln

61

II. Der Grund der Zurechnung

63

1. Rechtsgüterschutz und Sanktionsgründe

63

2. Strafgründe

64

3. Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit

66

III. Zurechnung als Pflichtwidrigkeit (Vorsatz, Versuch, Fahrlässigkeit)

67

1. Handlung, Norm und Intention

67

2. Die Straftat als intentionale Handlung - Zurechnung erster und zweiter Stufe (Zurechnung zu Unrecht und Schuld)

68

3. Die Ermittlung der Pflichtwidrigkeit: "Praktischer Syllogismus" und "praktische Notwendigkeit" - Vorsatz

70

4. Der Versuch als Pflichtwidrigkeit ohne Normwidrigkeit

72

5. Haupt- und Hilfshandlungen, Haupt- und Hilfspflichten

74

6. Außerordentliche Zurechnung: Die Pflichtwidrigkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten

74

IV. Pflichtwidrigkeit und Beteiligungslehre 1. Zur Normentheorie der Beteiligung 2. Kriterien der pflichtwidrigen Beteiligung 3. Einige Konsequenzen

80 80 86 89

Zweites Kapitel Die Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten § 3 Garantengebote I.

93

Strafrechtliche Gebote, insbesondere bei den "unechten" Unterlassungsdelikten

93

1. Handlungsgebote

93

2. "Unechte" Unterlassungsdelikte als verbotswidrige Verhaltensweisen? 3. Zur begrifflichen - nicht: materialen - Abgrenzung von "echten" und "unechten" Unterlassungsdelikten 4. "Auslegungsunterlassen"?

94 96 98

5. Erfolgsabwendungsgebote bei den "unechten" Unterlassungsdelikten

100

II. Gebots- und Verbotsverletzung (zum "Umkehrprinzip", zur "Pflichten"kollision und zur Rechtfertigung) 1. Zeitstruktur von Verboten und Geboten 2. "Umkehrprinzip" 3. "Pflichten"kollision 4. Sonstige Rechtfertigungsprobleme

104 104 105 107 111

nsverzeichnis III. Zum Norminhalt der (Garanten-)Gebote (Tun und Unterlassen, Handlungsfähigkeit, "omissio libéra in causa")

112

2. "Interne" und "externe" Unterlassensbegriffe 3. Abgrenzung Tun - Unterlassen und Problemfälle (Fahrlässigkeit, rettende Kausalverläufe)

114 115

4. Unterlassen und Handlungsfähigkeit

121

5. "omissio libéra in causa"

122

§ 4 Garantenpflicht, Garantenstellung und Garantiebeziehung I.

112

1. Unterlassen als Negation eines Tuns

125

Garantenpflicht und Tatbestand

125

1. Rechtliche und sittliche Pflichten

125

2. Tatbestandsmodell (Nagler)?

126

3. Verweisungsmodell?

128

4. Einstandspflicht und § 13

131

5. Funktion des § 13 II. Garantenstellung, Garantiebeziehüng und Sonderdelikts-Natur 1. Die Kritik Freunds am Erfordernis der "Garantenstellung"

133 134 134

2. Stellungnahme: Garantiebeziehung als unterscheidbarer Teil des Tatbestands..135 3. Sonderdeliktsnatur und Jedermannsunterlassen (zur materialen Abschichtung zwischen "unechtem" und "echtem" Unterlassen) 136 III. Zur normentheoretischen Bedeutung der "Entsprechensklausel" (§ 13 Abs. 1 letzter HS) und des § 13 Abs. 2 138 1. Motive des Gesetzgebers

138

2. Deutung der Entsprechensklausel in der Literatur

139

3. Entsprechung als "vollständige" Legitimation

141

4. §13 Abs. 2

143

§ 5 Kausalität und Risikoerhöhung bei den unechten Unterlassungsdelikten I.

146

Kausalitätsfeststellung als kausale Erklärung

146

1. Streitfragen zur Kausalität des Unterlassens

146

2. Kritik der condicio sine qua non-Formel

147

3. Lehre von der "Minimalbedingung"

148

4. Das Problem "unvollständiger" Kausalgesetze

151

5. Kausalität und Alternative

153

6. Kausalgesetz und Norm

154

II. "Negative Bedingungen" und Kausalität des Unterlassens - Pflichtwidrigkeitsund Schutzzweckzusammenhang 1. Negative Bedingungen 2. Unterlassen als negative Bedingung

156 156 157

10

nsverzeichnis 3. Pflichtwidrigkeitszusammenhang

160

4. Schutzzweckzusammenhang

162

III. Zur (kausalitätsersetzenden) "Risikoerhöhungslehre" bei den unechten Unterlassungsdelikten 1. Unterlassen der Risikoverminderung statt Unterlassen der Erfolgsabwendung?

163 163

2. Statistische Erklärung statt Kausalität?

164

3. Fälle großer Zahlen

167 Drittes Kapitel

Die Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten § 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten (Zumutbarkeit, "erlaubtes Risiko", Selbstverantwortungsprinzip und "Vertrauensgrundsatz") I.

171

Zurechnungsprobleme bei den unechten Unterlassungsdelikten und "Anwendungsangemessenheit" als Pflichtengrenze 1. Situationsabhängigkeit der Gebotserfüllung

171 171

2. Zurechnungsprobleme bei den (unechten) Unterlassungsdelikten

173

3. Notwendigkeit der Präzisierung des "praktischen Syllogismus": Entscheidungsrelevanz und "praktische Notwendigkeit nach dem Kriterium der "Anwendungsangemessenheit" 4. "Anwendungsangemessenheit" (Klaus Günther)

174 176

5. Dogmatische Bedeutung der Anwendungsangemessenheit

180

II. Zumutbarkeit und Garantenpflichten

182

1. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens

182

2. Entschuldigende Unzumutbarkeit 3. Tatbestandseinschränkende Unzumutbarkeit und Garantenpflichten (Umkehrung von § 34)

184

III. "Erlaubtes Risiko" und Garantenpflichten 1. Dogmatische Relevanz des "erlaubten Risikos" bei den unechten Unterlassungsdelikten

186 189 189

2. Zum Begriff des erlaubten Risikos

189

3. Erlaubtes Gesamt- und erlaubtes Einzel-Risiko 4. Erlaubtes Risiko als Legitimationsgrenze für Garantengebote 5. Erlaubtes Risiko als Grenze des Inhalts von Garantenpflichten

192 194 197

6. Erlaubtes Risiko im Wortsinne (Notwehr und Ingerenz)

198

IV. Selbstverantwortungsprinzip sowie "Vertrauensgrundsatz" und Garantenpflichten

200

1. Selbstverantwortung des anderen und Garantenpflichten

200

2. Ermöglichung fremder Selbstgefährdung sowie einverständliche Fremdgefährdung und Garantenpflichten 3. Vertrauensgrundsatz als Grenze von Garantenpflichten

202 207

4. Theoretische Begründung des Vertrauensgrundsatzes

213

nsverzeichnis 5. Insbesondere: Überwachungspflichten über Vollverantwortliche sowie Übernahme § 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt bei den unechten Unterlassungsdelikten (mit einem Exkurs zur Konkurrenzlehre) I.

Vorsatz- und Irrtumsfragen bei den unechten Unterlassungsdelikten

214

217 217

1. Unterlassungsvorsatz und finales Wollen

217

2. Irrtum über die Garantenstellung und -pflicht

219

3. Irrtum über Erfolgsabwendungsmöglichkeiten

222

4. Irrtum über die Angemessenheit

224

II. Der Versuch der unechten Unterlassungsdelikte (zu den Fragen des Versuchsbeginns und des Rücktritts)

225

1. Versuchsstrafbarkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten?

225

2. Unmittelbares Ansetzen bei den unechten Unterlassungsdelikten

227

3. Handlungstheoretische Lösung

229

4. Rücktritt vom Versuch der unechten Unterlassungsdelikte

234

III. Exkurs: Zur Konkurrenzlehre bei den unechten Unterlassungsdelikten 1. Problemaufriß

237 237

2. Konkurrenz bei mehreren Unterlassungen ("Lederspray-Urteil" und § 130 OWiG) 3. Konkurrenz beim zeitgleichen Zusammentreffen von Begehungs- und Unterlassungsdelikten

241

4. Tun und nachfolgendes Unterlassen

242

§ 8 Die fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte I.

Die "Einheitlichkeitsthese" 1. Identität von Garanten- und Sorgfaltspflichten? 2. Fahrlässigkeit als Rechtspflichtverletzung? 3. Fahrlässigkeit als von der Garantenpflicht- zu unterscheidende Obliegenheitsverletzung II. Bezugspunkte und Inhaltsbestimmung der Sorgfaltsobliegenheiten bei den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten 1. Bezugspunkte der Sorgfaltsobliegenheiten bei den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten

238

244 244 244 245 249 250 250

2. Einzelfallbezogenheiten der Sorgfaltsobliegenheiten und Verkehrssicherungspflichten 3. Rollen- und Interaktionsbezogenheit (insbesondere bei den Verkehrssicherungspflichten) 4. Zur Funktion von Maßfiguren (induktiv-soziologischer oder deduktivnormativer Maßstab bei den Verkehrssicherungspflichten)?

256

5. Zum Problem des Sonderkönnens und -wissens bei den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten

258

252 253

nsverzeichnis

12

III. Insbesondere zu den sog. Verkehrssicherungspflichten (Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge)

262

2. Normentheoretischer Lösungsansatz

264

3. Parallelität von Ingerenz und Verkehrssicherung

266

4. Gefahrenabwehrund Gefahrenvorsorge

268

5. Zuständigkeit für Gefahrenabwehr und für Gefahrenvorsorge

273

§ 9 Die Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten I.

262

1. Sicherungs-oder auch Rettungspflichten?

275

Grundlagen nach dem hier zugrundegelegten Zurechnungsmodell der Beteiligung

275

1. Problemaufriß

275

2. Norm- und Pflichtwidrigkeit der Beteiligung der unterlassenden Garanten (zur "pflichtenorientierten Einheitstäterlösung")

277

3. Akzessorisches garantenpflichtwidriges Unterlassen

279

4. Möglichkeit und Notwendigkeit der Differenzierung zwischen Täterschaft und Teilnahme bei garantenpflichtwidrigem Unterlassen (zu den "Pflichtinhaltslehren") II. Die Beteiligung durch garantenpflichtwidriges Unterlassen 1. Denkbare Fallkonstellationen

281 283 283

2. Mittäterschaft zwischen Begehungstäter und unterlassendem Garanten

283

3. Mittäterschaft mehrerer Garanten

285

4. Mittelbare Täterschaft durch garantenpflichtwidriges Unterlassen

288

5. Anstiftung durch garantenpflichtwidriges Unterlassen

289

6. Beihilfe durch garantenpflichtwidriges Unterlassen III. Die Beteiligung am garantenpflichtwidrigen Unterlassen 1. Denkbare Fallkonstellationen - Abgrenzung zu Begehungsfällen

292 293 293

2. Mittelbare Täterschaft über einen Garanten als Tatmittler

295

3. Anstiftung zum garantenpflichtwidrigen Unterlassen

296

4. Beihilfe zum garantenpflichtwidrigen Unterlassen IV. Zur Sonderfrage der Bedeutung des § 28 bei den unechten Unterlassungsdelikten

297 297

1. Streitstand

297

2. Garantenspezifische Lösung

299

Viertes Kapitel Vorüberlegungen zur Legitimation von Garantengeboten § 10 Methodische und theoretische Probleme der Legitimation von Garantengeboten I.

301

Die Besonderheit der Legitimationsproblematik bei den Garantengeboten

301

1. Die methodische Differenz zu den bislang erörterten Fragen

301

nsverzeichnis 2. Garantenlehren als Lehren des (allgemeinen Teils) des Besonderen, nicht des Allgemeinen Teils des Strafrechts 3. Legitimationsprobleme in historischer Sicht (zur "Nachrangigkeit" von Geboten) II. Begehungsgleichwertigkeit als legitimationstheoretischer Schlüsselbegriff (Freund) 1. Die komparative Methode Freunds 2. Methodenkritik III. Zur formellen Legitimation: Rechtsquelle der Garantengebote und Vereinbarkeit von § 13 mit Art. 103 Abs. 2 GG 1. Die Frage nach der Rechtsquelle der Garantengebote und -pflichten (Sachgehalt und mögliche Antworten) 2. Soziologisches und normatives Rechtsquellenverständnis bei den Garantengeboten und -pflichten 3. "Interpretation des (Straf-)Rechts als eines Sinnganzen" als Rechtsquelle von Garantengeboten 4. Rechtsquellenfrage und Autonomie, Akzessorietät oder "Sekundarität" des Strafrechts bei Garantengeboten

302 305 311 311 312 313 313 315 320 324

5. Vereinbarkeit des § 13 mit Art. 103 Abs. 2 GG

326

6. Art. 103 Abs. 2 GG und restriktive Handhabung des § 13

335

IV. Zur materiellen Legitimation: Formale und materiale, monistische und dualistische Modelle 1. Das methodische Raster 2. Formale Konzepte 3. Materiale dualistische Konzepte auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen Obhuts- und Überwachergaranten? 4. Materiale monistische Konzepte

337 337 338 339 341

5. Grundsätzliche Defizienz monistischer Ansätze

353

6. Das materiale dualistische Modell von Jakobs

354

7. Versuch einer Reformulierung der Lehre von Jakobs auf der Basis eines "klassischen" Legitimationskonzepts V. Folgerungen für die Begehungsdelikte

358 372

1. Garantenstellung auch bei Begehungsdelikten (Jakobs)?

372

2. Zur Rolle der Anwendungsangemessenheit bei den Begehungsdelikten

373

Zusammenfassung

375

Literaturverzeichnis

3g5

Abkürzungsverzeichnis*

aA aaO. abl. Abs. AcP a.E. a.F. AG allg.M. ALR Alt. AMG Anh. Anm. AO ARSP Art. AtomG Aufl. b. BAG Baumann-FS BayObLG Bd(e). Bespr. BG BGB BGBl. BGE BGH BGHR BGHSt

anderer Ansicht am angegebenen Ort (sc. derselben Fußnote) ablehnend Absatz Archiv für die civilistische Praxis am Ende alte Fassung Amtsgericht allgemeine Meinung (sc. in Rechtsprechung und Literatur) (preußisches) Allgemeines Landrecht Alternative Arzneimittelgesetz Anhang Anmerkung Abgabenordnung Archiv für Recht- und Sozialphilosophie Artikel Atomgesetz Auflage bei Bundesarbeitsgericht (Hrsg.) Arzt, Gunther u.a., Festschrift für Jürgen Baumann zum 70. Geburtstag, Bielefeld 1992 Bayerisches Oberstes Landesgericht Band (Bände) Besprechung schweizerisches Bundesgericht Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts Bundesgerichtshof (Hrsg.) Die Richter des Bundesgerichtshofs, BGH-Rechtsprechung in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

*

§§ ohne Gesetzesangabe sind solche des StGB oder - in Verweisungen - solche der vorliegenden Untersuchung.

Abkürzungsverzeichnis BGHZ Bibl. f. d. peinl. Rw. Bockelmann-FS Bruns-FS BT-DrS. BVerfG BVerfGE CP D. DAR ders. diff. Diss. DJ DJT D.P. Dreher-FS DRiZ DRspr. dt. Dünnebier-FS E E1962 EheG Emge-FS Engisch-FS Enneccerus-FG f.(ff.) FamRZ Fn. Frank-FG GA Gallas-FS GaststG GenStA GG

15

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde (Hrsg.) Kaufmann, Arthur u.a., Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag, München 1979 (Hrsg.) Frisch, Wolfgang u.a., Festschrift für Hans-Jürgen Bruns zum 70. Geburtstag, Köln/Berlin/Bonn/München 1978 Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Code pénal/Côdigo pénal Digesten Deutsches Autorecht derselbe differenzierend (unveröffentlichte) Dissertation Deutsche Justiz Deutscher Juristentag Dalloz, Recueil périodique et critique de jurisprudence (Hrsg.) Jescheck, Hans-Heinrich u.a., Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag, Berlin/New York 1977 Deutsche Richterzeitung Deutsche Rechtsprechung deutsch (Hrsg.) Hanack, Ernst-Walter u.a., Festschrift für Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag, Berlin/New York 1982 Entwurf Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuches mit Begründung (BTDrS. IV/650) Ehegesetz (Hrsg.) Klug, Ulrich u.a., Philosophie und Recht. Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl August Emge, Wiesbaden 1960 (Hrsg.) Bockelmann, Paul u.a., Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, Frankfurt/M. 1969 Festgabe für Ludwig Enneccerus, dargebracht von den Mitgliedern der Juristischen Fakultät zu Marburg, Marburg 1913 folgende Seite(n) Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Fußnote (Hrsg.) August Hegler, Festgabe für Reinhard von Frank zum 70. Geburtstag, 2 Bde., Tübingen 1930 Goltdammer's Archiv für Strafrecht (Hrsg.) Lackner, Karl u.a., Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag, Berlin/New York 1973 Gaststättengesetz Generalstaatsanwaltschaft Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

16 Gleispach-FS

Gruch. GS hj \ . Habil. HaftPflG Heck-FG Heidelberg-FS

Heinitz-FS Herv. i. Orig. Herv. v. Verf. v. Hippel-FS h.L. Honig-FS Hrsg. HS HWiStR

i.E. insbes. i.S.v. JA Jescheck-FS JR Jura JuS JW JZ A. Kaufmann-GS H. Kaufmann-GS Kleinknecht-FS krit. KritJ

Abkürzungsverzeichnis (Hrsg.) Dahm, Georg u.a., Gegenwartsfragen der Strafrechtswissenschaft. Festschrift zum 60. Geburtstag von Graf W. Gleispach, Berlin/Leipzig 1936 Gruchot Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts Der Gerichtssaal/Großer Senat herrschende Ansicht (sc. in Rechtsprechung und Literatur) (unveröffentlichte) Habilitationsschrift Haftpflichtgesetz (Hrsg.) Stoll, Heinrich, Festgabe für Philipp Heck, Max Rümelin und Arthur Benno Schmidt, Beilageheft zu AcP 133 (1931) (Hrsg.) Die Hochschullehrer der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, Heidelberg 1986 (Hrsg.) Lüttger, Hans, Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag, Berlin 1972 Hervorhebung im Original Hervorhebung vom Verfasser (sc. nicht im Original) (Hrsg.) Esser, Josef u.a., Festschrift für Fritz von Hippel zum 70. Geburtstag, Tübingen 1967 herrschende Lehre (sc. in der Literatur) (Hrsg.) Göttinger Rechtswissenschaftliche Fakultät, Festschrift für Richard M. Honig zum 80. Geburtstag, Göttingen 1970 Herausgeber Halbsatz (Hrsg.) Krekeler, Wilhelm/Tiedemann, Klaus/Ulsenheimer, Klaus/ Weinmann, Günter, Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Köln Stand Mai 1990 im Ergebnis insbesondere im Sinne von Juristische Ausbildungsblätter (Hrsg.) Vogler, Theo, Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, 2 Bde., Berlin 1985 Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung (Hrsg.) Dornseifer, Gerhard u.a., Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, Köln/Berlin/Bonn/München 1989. (Hrsg.) Hirsch, Hans-Joachim u.a., Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, Berlin 1986 (Hrsg.) Gössel, Karl-Heinz u.a., Strafverfahren im Rechtsstaat. Festschrift für Theodor Kleinknecht zum 75. Geburtstag, München 1985 kritisch Kritische Justiz

Abkürzungsverzeichnis Lackner-FS Lange-FS Larenz-FS (1983) LG Lit. LM LMBG LRE LuftVG Maurach-FS H. Mayer-FS

MDR (b. Dali.) MedR Mezger-FS mit umf. Nachw. MSchrKrim m.w.N. n.F. NJW Nr. NStZ OAG Oehler-FS OLG OWiG Pappenheim-FS

PeinlGO Peters-FS (1974) ProdHaftG PStG Rdnr(n). Recht RG RGBl. RGSt RGZ 2 Vogel

(Hrsg.) Küper, Wilfried u.a., Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag, Berlin/New York 1987 (Hrsg.) Warda, Günter u.a., Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag, Berlin/New York 1976 (Hrsg.) Claus-Wilhelm Canaris u.a., Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, München 1983 Landgericht Literatur Lindenmaier/Möhring, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz Lebensmittelrechtliche Entscheidungen Luftverkehrsgesetz (Hrsg.) Schroeder, Friedrich-Christian u.a., Festschrift für Reinhart Maurach zum 70. Geburtstag, Karlsruhe 1972 (Hrsg.) Friedrich Geerds u.a., Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft. Festschrift für Hellmuth Mayer zum 70. Geburtstag, Berlin 1966 Monatsschrift für Deutsches Recht (bei Dallinger) Medizinrecht (Hrsg.) Engisch, Karl u.a., Festschrift für Edmund Mezger zum 70. Geburtstag, München/Berlin 1954 mit umfassenden Nachweisen Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform mit weiteren (sc. nicht umfassenden) Nachweisen neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Oberappellationsgericht (Hrsg.) Herzberg, Rolf-Dietrich, Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag, Köln/Berlin/Bonn/München 1985 Oberlandesgericht Ordnungswidrigkeitengesetz (Hrsg.) Rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, Festschrift für Max Pappenheim zum 50. Jahrestag seiner Doktorpromotion, Breslau 1931 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Hrsg.) Baumann, Jürgen u.a., Einheit und Vielfalt des Strafrechts. Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag, Tübingen 1974 Produkthaftungsgesetz Personenstandsgesetz Randnummer(n) Das Recht Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen

18 Rittler-FS Rspr. RStGB RTh s. S. sc. Schaffstein-FS Schima-FS Eb. Schmidt-FS Schmitt-FS Schulz-FS Schultz-FG SchwZStr SGB sog. Sp. Spendel-FS st. Rspr. StGB str. StV StVG StVO StVZO SubvG Tröndle-FS u. u.a. u.ö. Verf. VersR VerwArch vgl. VkAbh. VO Vorbem. VRS WDStRL

Abkürzungsveizeichnis (Hrsg.) Hohenleitner, Siegfried u.a., Festschrift für Theodor Rittler zum 80. Geburtstag, Aalen 1957 Rechtsprechung Reichsstrafgesetzbuch (bis 1945) Rechttheorie siehe Seite scilicet (= nämlich) (Hrsg.) Grünwald, Gerald u.a., Festschrift für Friedrich Schaffstein zum 70. Geburtstag, Göttingen 1975 (Hrsg.) Fasching, Hans W., Festschrift für Hans Schima zum 75. Geburtstag, Wien 1969 (Hrsg.) Bockelmann, Paul u.a., Festschrift für Eberhard Schmitt zum 70. Geburtstag, Göttingen 1961 (Hrsg.) Geppert, Klaus u.a., Festschrift für Rudolf Schmitt zum 70. Geburtstag, Tübingen 1992 (Hrsg.) Fahrenbach, Helmuth, Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, Pfullingen 1973 (Hrsg.) Walder, Hans u.a., Lebendiges Strafrecht. Festgabe zum 65. Geburtstag von Hans Schultz, Bern 1977 Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Sozialgesetzbuch sogenannte(r) Spalte (Hrsg.) Seebode, Manfred, Festschrift für Günter Spendel zum 70. Geburtstag, Berlin/New York 1992 ständige Rechtsprechung Strafgesetzbuch streitig Strafverteidiger Straßenverkehrsgesetz Straßenverkehrsordnung Straßenverkehrszulassungsordnung Subventionsgesetz (Hrsg.) Jescheck, Hans-Heinrich u.a., Festschrift für Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag, Berlin/New York 1989 und unter anderem/und andere und öfter Verfasser Versicherungsrecht Verwaltungsarchiv vergleiche Verkehrsrechtliche Abhandlungen Verordnung Vorbemerkung(en) Verkehrsrechtssammlung Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer

Abkürzungsverzeichnis v. Weber-FS Weinberger-FG Welzel-FS wistra WStG ZAkDR z.B. ZfBR ZfRV ZgesStaatsWiss zit. ZPO ZS ZStW zus.fas. zust. zutr. zw.

2*

19

(Hrsg.) Welzel, Hans u.a., Festschrift für Hellmuth v. Weber zum 70. Geburtstag, Bonn 1963 (Hrsg.) Krawietz, Werner u.a., Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag, Berlin 1984 (Hrsg.) Stratenwerth, Günter u.a., Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag, Berlin/New York 1974 Zeitschrift für Wirtschaft Steuer Strafrecht Wehrstrafgesetz Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht zum Beispiel Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Rechtvergleichung Zeitschrift für die gesamte Staatsrechtswissenschaft zitiert Zivilprozeßordnung Zivilsache Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zusammenfassend zustimmend zutreffend zweifelhaft

Einführung Seit der berühmten Untersuchung Armin Kaufmanns über die "Dogmatik der Unterlassungsdelikte"1 hat sich die deutsche Strafrechtswissenschaft in zahlreichen bedeutenden Monographien dem Problem strafbaren Unterlassens und insbesondere der unechten2 Unterlassungsdelikte gewidmet3. Abgesehen von der Habilitationsschrift von Philipps über den "Handlungsspielraum"4 (und mit Ausnahme des Lehrbuchs von Maurach5) haben diese Untersuchungen aber weniger den Schwerpunkt auf die von Armin Kaufmann unternommene normentheoretische Fundierung der Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte gelegt, sondern sich teils mehr auf Begriff oder "Wesen" der Unterlassung als Handlung, teils mehr auf die materiale Begründung der Garantenstellungen konzentriert. Im folgenden soll an die normentheoretisch orientierte Betrachtungsweise - die sich in der deutschen Strafrechtswissenschaft zumindest bis zu Binding6 zurückverfolgen läßt, zur Zeit aber eine Renaissance erfährt, wie v.a. die wegweisende Untersuchung von Frisch über "Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs" 7 und diejenige seines Schülers Freund8 ver1

2

Aus dem Jahre 1959; 2., unveränd. Aufl. 1988.

Gemeint sind solche Unterlassungsdelikte, die nicht ausdrücklich gesetzlich vertypt sind und bei denen nur Sonderverantwortliche Täter sein können; zur umstrittenen Terminologie vgl. vorerst Maurach-Gössel , AT 2, § 45 Rdnrn. 35 ff. m.w.N. und zu den dem terminologischen Streit zugrundeliegenden Sachfragen unten § 3 I 3., 5. Es wird nicht verkannt, daß die "Unechtheit" der unechten Unterlassungsdelikte auf der normentheoretisch überholten Vorstellung beruht, diese verstießen (auch) gegen ein Verhaltensverbot, s. unten § 3 I 2. Dogmatisch zutreffender wären deshalb Begriffe wie "begehungsgleiche Unterlassungsdelikte" oder "Garantenunterlassungsdelikte". Es erscheint Verf. aber nicht erforderlich oder angezeigt, von einer tradierten und völlig gängigen Terminologie abzuweichen. 3 Zu nennen sind insbesondere (in zeitlicher Reihenfolge): Androulakis , Studien (1963); EA. Wolff ; Kausalität (1965); Rudolphi , Gleichstellungsproblematik (1966); Bärwinkel , Garantieverhältnisse (1968); Pfleiderer , Garantenstellung (1968); Welp , Vorangegangenes Tun (1968); Schünemann, Unterlassungsdelikte (1971); Herzberg , Unterlassung (1972); Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen (1974); Brammsen , Entstehungsvoraussetzungen (1986); Gallas , Studien (1989); Sangenstedt , Garantenstellung (1989). 4 Aus dem Jahre 1971. 5 Maurach-Gössel , AT 2, § 45 Rdnrn. 12 ff. u. passim. 6 Normen, Bd. I, passim; speziell zum Unterlassungsdelikt Bd. II, S. 188 ff., 224 ff. 7 Aus dem Jahre 1988; hierzu noch unten §§ 1 V, § 6 I 5. 8 Unterlassen (1992); hierzu noch unten §§ 4 II, 10 II.

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Einführung

deutlichen - wieder angeknüpft und versucht werden, die i.e.S. dogmatischen Probleme der unechten Unterlassungsdelikte mit den Mitteln der modernen Rechts-9, Normen- 10 und (analytischen) Handlungstheorie11 zu präzisieren und hierauf aufbauend Lösungsvorschläge für umstrittene dogmatische Fragen dieser Deliktskategorie zu erarbeiten. Gegen eine derartige Inbezugnahme außerstrafrechtlicher, ja außerrechtlicher Kategorien und Theorien mag eingewendet werden, diese seien der spezifisch strafrechtlichen Problematik nicht adäquat. Hiergegen ist zu erinnern, daß die strafrechtliche Zurechnung in den lebensweltlichen Kontext der moralischen, allgemeinpraktischen Zurechnung eingebettet ist12. Diese Einbettung entspricht durchaus einer gewichtigen Tradition in der deutschen Strafrechtswissenschaft 13. Sicherlich wäre es problematisch, einer Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte ohne methodische Absicherung Ergebnisse einer beliebigen Seinswissenschaft zugrundezulegen14. Die Rückanknüpfung an die Rechts-, Normen- und Handlungstheorie erscheint demgegenüber aus zumindest drei Gründen als sinnvoll: Erstens ist die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte seit je her rechts-, normen- und handlungstheoretisch ambitioniert hinterfragt worden; schon deshalb erscheint es lohnenswert, die Fortschritte, die in der Rechts-, Normen- und analytischen Handlungstheorie seit dem Siegeszug des Finalismus gemacht worden sind, mit Blick auf die unechten Unterlassungsdelikte kritisch zu sichten und zu übertragen15. Zweitens ist in der Strafrechtswissenschaft selbst die Einsicht im Vordringen, daß die Straftat fruchtbarer statt als ontologische und durch "sachlogische Strukturen" vorgeprägte Gegebenheit als normatives und damit normen- und regelgebundenes Konstrukt einer "Zurechnung" verstanden werden kann16; hierin liegt der entscheidende Durchbruch zu einer post-fi9 Vgl. hierzu Dreier, Recht - Moral - Ideologie, S. 17 ff.; die Beiträge in (Hrsg.) Jahr/Maihofer, Rechtstheorie; Rottleuthner, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, passim. 10 Vgl. hierzu Kalinowski, Normenlogik, passim; die Beiträge in (Hrsg.) Lenk, Normenlogik; Lippold, Rechtslehre, S. 43 ff.; Weinberger, Normentheorie, passim; ders. } Rechtslogik, passim; sowie die Beiträge in der Weinberger-FG. 11 Vgl. hierzu Danto, Analytische Handlungsphilosophie; Kindhäuser, Handlung; die Beiträge in (Hrsg.) Lenk, Handlungstheorien; Weinberger, Studien, passim; v. Wright, Handlung, passim.

12

Auch Roxin (Strafrecht, § 8 Rdnr. 46) gibt zu, daß "Philosophie und Wissenschaftstheorie Lösungen der neuen strafrechtlichen Handlungstheorie durchaus stützen können". 13 Diese Tradition reicht von Feuerbach - der sich maßgeblich auf die moralische Imputationenlehre in der Form, die Kant ihr gegeben hatte, bezog - über Welzel - der sachlich der materialen Wertethik verpflichtet war, wie sie etwa Nicolai Hartmann entwickelte - bis hin zu Jakobs - der die Strafrechtsdogmatik aus soziologisch-funktionalistischen Ansätzen nach dem14Vorbild von Talcott Parsons und Luhmann heraus entwickelt -. Wie dies Behrendt (Unterlassung, passim) mit Blick auf die Psychoanalyse getan hat. 15 Treffend Philipps, Handlungsspielraum, S. 7 ff., bes. 9. 16 Vgl. statt vieler Hruschka, Strafrecht, S. 311 ff.; Jakobs, Strafrecht, S. VII f.; Kindhäuser, Gefährdung, S. 29 ff.; Neumann, Zurechnung, S. 269 ff.; gegen eine "Aufblähung" der Zurechnungslehre aber Frisch, Verhalten, S. 31 (ff.); zur Kritik an der Lehre von der "objektiven" Zurechnung s. auch hier unten § 2 I 3.

Einführung

nalistischen Straftatkonzeption, welche sich besonders deutlich an den unechten Unterlassungsdelikten demonstrieren läßt. Drittens aber entspringt ein rechts-, normen- und handlungstheoretisch orientierter Neuansatz keineswegs nur dem Bedürfnis nach formaler Ästhetik und wissenschaftstheoretischer Stimmigkeit, sondern stellt den Versuch dar, weitreichende gesellschaftliche Veränderungen, durch welche den unechten Unterlassungsdelikten eine immer größere Bedeutung eingeräumt wird, strafrechtsdogmatisch und -theoretisch valide zu erfassen. Insbesondere führen zunehmende Arbeitsteiligkeit und der von dem Soziologen Ulrich Beck17 beschriebene Weg in die "Risikogesellschaft" dazu, daß Risiken vor allem industrieller Produktion nur durch erweiterte Gefahrenverantwortlichkeiten und entsprechende Handlungspflichten beherrscht werden können. Paradigmatisch hierfür ist das "Lederspray-Urteil" des Bundesgerichtshofs 18, in dem neuerdings die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Warenherstellers auch für bereits in den Verkehr gebrachte unerlaubt gefährliche Produkte anerkannt worden ist. Die Abgrenzung derartiger Verantwortungsbereiche und die hierzu erforderliche Bestimmung von Normen, Pflichten und Obliegenheiten setzen ein adäquates theoretisches Instrumentarium voraus, das die Lösung dogmatischer Sachfragen erleichtern kann. Dementsprechend setzt die vorliegende Untersuchung mit dem Versuch einer Klärung der Begriffe "Norm" und "Pflicht" ein und unternimmt es, in einem ersten Kapitel (§§ 1 und 2) Norm- und Pflichtwidrigkeit als Konstituenten der Straftat zu erweisen. Hierbei wird die Straftat im Anschluß an die erwähnte neuere Strömung in der Strafrechtswissenschaft - insbesondere an Hruschka und Kindhäuser - als teleologisches Konstrukt begriffen, welches durch die Anwendung von Regeln im weitesten Sinne konstituiert wird. Ausgehend von der gängigen Unterscheidung zwischen Sanktions- und Verhaltensnorm werden hierbei zwei streng auseinanderzuhaltende Regelsysteme unterschieden19: dasjenige der (Verhaltens-)Normen im engeren Sinne und dasjenige der im folgenden so genannten "Zurechnungsregeln". (Verhaltens-)Normen geben an, was verboten, geboten, erlaubt oder freigestellt ist, und zwar - insofern unterscheidet sich das hier zugrundegelegte Normenverständnis von demjenigen Armin Kaufmanns und des Finalismus überhaupt - ex post beurteilt und ohne Rücksicht auf das Wissen und Können des Normadressaten einerseits, auf Gefährdungs- und Vermeidbar keitsaspekte andererseits (§ 1). Ein in diesem Sinne normwidriges Verhalten 20 stellt jedoch nur eine erste - weder notwendige21 noch hinreichende - Bedingung für das Vorliegen einer strafbaren Handlung dar. 17

Risikogesellschaft, passim. BGHSt 37,106; zu dieser wegweisenden Entscheidung s. noch unten §§ 3 III 2., 7 III 2., 8 III 2.; 9 II 2. 19 Grundlegend Hruschka, Strafrecht, S. 364 f. 18

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Dogmatisch gesprochen handelt es sich um das objektiv tatbestandsmäßige Verhalten (einschließlich besonderer subjektiver Merkmale, z.B. Absichten); näher unten § 1IV 1. 21 Nicht notwendig ist ein normwidriges Verhalten beim Versuch; näher unten § 2 III 4.

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Einführung

Vielmehr muß das Verhalten, um sanktioniert werden zu können, einen Norm"widerspruch" in des Wortes eigentlicher Bedeutung darstellen: Der Täter muß expressiv machen, daß die Norm für ihn kein verbindlicher Grund für Handlungen ist22; in diesem Falle handelt er im hier zugrundegelegten Sinne pflichtwidrig, und erst an dieser Stelle werden das Wissen und Können des Täters, die ex ante-Sicht und Gefährdungs- und Vermeidbarkeitsaspekte relevant. Wann der Täter in diesem Sinne die Normgeltung gleichsam in Abrede stellt, wird durch die Sanktionsnorm und die in ihrem Rahmen anzuwendenden Zurechnungsregeln festgelegt, beispielsweise durch diejenigen über Vorsatz und Fahrlässigkeit, Schuldfähigkeit oder Entschuldigungsgründe, aber auch durch die Regeln der Beteiligungslehre, welche hier im Einklang mit neueren Auffassungen als Teil der Zurechnungslehre verstanden wird 23 (zum Ganzen § 2). Entsprechend diesem Modell der Normen und Pflichten wendet sich das folgende zweite Kapitel (§§ 3 bis 5) zunächst der Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten zu. Ausgangspunkt der Überlegungen ist es, daß - entgegen einer älteren Lehre, nach welcher das tatbestandsmäßige Verhalten bei den unechten Unterlassungsdelikten (auch) verbotswidrig ist24 - jedes Unterlassungsdelikt ein (nur) gebotswidriges Verhalten darstellt. Wird dies akzeptiert, so muß zunächst die Normstruktur der Garantengebote - im Unterschied zu derjenigen der (Begehungs-)Verbote - geklärt und zur hochumstrittenen Unterscheidung (und Unterscheidbarkeit) von Tun, der Normmaterie der Verbote, und Unterlassen, der Normmaterie der Gebote, Stellung genommen werden (zum Ganzen § 3). Insbesondere gilt es, die normentheoretischen Besonderheiten des Kerns der Garantengebote, nämlich der Garanten"pflicht" und der Garanten"stellung", zu klären; hierbei wird besonderes Augenmerk auf die häufig übersehene Tatsache zu richten sein, daß die Garantenstellung zu präzisieren ist als (abstrakt-generell beschriebene) Garantie- und Sonderbeziehung zwischen den Garanten und den Rechtsgutsträgern, denen die "Garantie" zugute kommt (zum Ganzen § 4). Speziell zu den erfolgsbezogenen unechten Unterlassungsdelikten und den ihnen zugrundeliegenden Erfolgsabwendungsgeboten ist die seit je her umstrittene Frage der Kausalität des Unterlassens zu behandeln, was nicht ohne einen Blick auf die prozessuale Seite der Kausalitätsfeststellung inbesondere bei nur statistisch gesicherten Erkenntnissen geschehen kann (§ 5). Im dritten Kapitel (§§ 6 bis 9) wird sodann die Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten untersucht. Hierbei geht es zunächst darum, Besonderheiten der Zurechnung als Pflichtwidrigkeit festzustellen, die bei den unechten Unterlassungsdelikten etwa darin liegen, daß es in der Regel mehrere, u.U. zeitlich gestaffelte erfolgsabwendende Handlungen geben wird, so daß die pflichtwidrige Unterlassungshandlung - anders als bei 22 2 3 So 24

Kindhäuser, Gefährdung, S. 34 f.; vgl. auch Jakobs, Strafrecht, 1/9 u.ö. S. vorerst Bloy, Beteiligungsform, S. 244 ff., 293 ff. u. eingehend unten § 2 IV. S. vorerst Schmitt, JZ1959,432 u. näher unten § 3 I 2.

Einführung

den Begehungsdelikten die pflichtwidrige Begehungshandlung - nicht eindeutig bestimmt werden kann. Darüber hinaus hat die Uneindeutigkeit der Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten weitergehende Konsequenzen, welche die Einführung einer neuen dogmatischen Kategorie - der Angemessenheit - nahelegen, die sachlich in weiten Teilen mit den von Frisch für das "tatbestandsmäßige Verhalten" entwickelten Kategorien übereinstimmt und Fragen der "Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens", des "erlaubten Risikos", des Selbstverantwortungsprinzips und des "Vertrauensgrundsatzes" erfaßt (zum Ganzen § 6). Dogmatisch relevant werden diese Besonderheiten der Zurechnung von Unterlassungshandlungen bekanntlich bei der umstrittenen Frage des Versuchsbeginnes bei den unechten Unterlassungsdelikten (§ 7). Problematisch sind des weiteren die fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte (§ 8), bei welchen nach einer durchaus vorherrschenden Auffassung Garanten- und Sorgfaltspflichten zusammenfallen sollen25. Zudem werden die umstrittenen Fragen der Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten behandelt (§ 9). Das abschließende vierte Kapitel (§ 10) befaßt sich mit Vorüberlegungen zur Legitimation - im Sinne von Rechtfertigung und inhaltlicher Begründung - der unechten Unterlassungsdelikte. Ausgangspunkt der Überlegungen ist hier die normentheoretische Einsicht, daß es um echte (Gebots-) Normenbildung und nicht bloß um die Ergänzung oder gar Einschränkung der gesetzlich vertypten (Verbots-)Normen geht. Damit sprengt die Problematik an sich den Rahmen des Allgemeinen Teils im engeren, rechtstheoretischen Sinne und denjenigen der dogmatischen Arbeit "am" Gesetz, wenngleich sie wegen § 13 - der hier als Ermächtigung des Richters zur Normbildung verstanden wird - de lege lata zur Dogmatik zählt26. Die den ersten drei Kapiteln zugrundegelegte strukturbezogene und in gewissem Sinne formale Normentheorie ist deshalb nicht ohne weiteres geeignet, eine tragfähige materiale Begründung von Garantengeboten zu liefern. Dementsprechend beschränkt sich das vierte Kapitel darauf, methodische und theoretische Probleme der Legitimation von Garantengeboten anzugeben; nicht hingegen soll eine eigenständige materiale Legitimationstheorie vorgelegt und sollen Grund und Grenzen der einzelnen Garantenstellungen erörtert werden. Hierbei ist zunächst im Anschluß an Freund der Begriff der "Begehungsgleichwertigkeit" als legitimationstheoretischer Schlüsselbegriff zu entwickeln. Auf der Ebene der formellen - nicht bereits inhaltlichen - Legitimation stellt sich das von der hA. dahin formulierte Ausgangsproblem, daß die Garanten"pflichten" (genauer: "-geböte") rechtliche und nicht bloß sittliche sein müssen, daß sie m.a.W. einer der Quellen des positiven Rechts zuzuordnen sind, welche nach hier vertretener Auffassung nicht unmittelbar im Strafgesetz gefunden werden kann. Dies führt freilich mit Blick auf den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt (Art. 103 Abs. 2 GG) 25 26

S. nur Fünfsinn, Aufbau, S. 98 ff. mit umf. Nachw. S. unten § 10 I 2. mit Fn. 18.

26

Einführung

zu erheblichen Problemen, die mit zunehmender Schärfe auch nach Einfügung des § 13 in das StGB diskutiert werden27. Zur materiellen Legitimation wird sodann ein methodisches Raster angegeben, welches nach formalen und materialen, monistischen und dualistischen Modellen unterscheidet28 und diese - ebenso wie gängige Argumentationen aus den Gesichtspunkten des Gefährdungs-, Vertrauens-, Erwartungs- oder Herrschaftsprinzips - methodisch zu kritisieren versucht. Es wird behauptet, daß ein adäquates Legitimationsmodell ein materiales dualistisches sein müßte, welches im Anschluß an Jakobs auf eine Dichotomie der Haftungsgründe hinauslaufen könnte: Neben Garantengebote, welche Preis eingeräumter Handlungsfreiheit und Ausfluß des rechtlichen Rücksichtnahmegebots sind, treten solche, die aus Institutionen wie der Familie oder bestimmten Ämtern fließen. Eine wichtige, ebenfalls bereits von Jakobs formulierte Implikation dieser Dichotomie der Haftungsgründe besteht darin, daß sich die traditionelle Pflichtendichotomie des Strafrechts, nämlich die Unterscheidung von Pflichten, etwas zu unterlassen, und solchen, etwas zu tun (bzw. von Verboten und Geboten als den jeweiligen Pflichtengründen), als materiell sekundär erweist; die Dichotomie betrifft nämlich auch die Begehungsdelikte29.

27

S. etwa Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 126 ff., zus.fas. S. 187 f., der die Verfassungswidrigkeit von § 13 und damit der unechten Unterlassungsdelikte behauptet. 28 Ähnlich AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnrn. 37 ff. mit umf. Nachw. 29

Nämlich in der Unterscheidung zwischen (Jedermanns-)Begehungsherrschaftsdelikten und Sonderpflichtdelikten; s. vorerst Jakobs , Strafrecht, 29/14 f. u. unten § 10 V.

Erstes Kapitel

Norm- und Pflichtwidrigkeit als Konstituenten der Straftat § 1 Norm und Normwidrigkeit

I. Strafgesetz und Norm 1. Sanktionsnormen Die Strafgesetze des Besonderen Teils des StGB sind Rechtssätze, die auf ihrer Tatbestandsseite die Voraussetzungen dafür festlegen, daß die auf der Rechtsfolgenseite genannte Sanktion (Strafe) eintreten soll1. In diesem Sinne stellen die Strafgesetze Sanktionsnormen2 (in der Form bedingter Normen 3) dar, die festlegen, unter welchen Voraussetzungen eine Person für ein bestimmtes Verhalten haftet oder verantwortlich ist; hierbei ist die Tatbestandsseite um die (Zurechnungs-)Regeln des Allgemeinen Teils (etwa über Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum) zu ergänzen. Die Sanktionsnormen stellen darüber hinaus Anweisungen an den Rechtsstab4 dar, die Strafe unter den genannten Bedingungen zu verhängen (und sind in diesem Sinne Verhaltensnormen, freilich nicht an jedermann, sondern nur an den Rechtsstab gerichtet); staatsrechtlich gesprochen enthalten sie die Ermäch-

Allgemein zur Rechtssatzlehre Lorenz , Methodenlehre, S. 232 ff. - Genaugenommen sind aus Tatbestand und Rechtsfolge bestehende Rechtssätze der sprachliche Ausdruck von (bedingten) Rechtsnormen, Kindhäuser , Gefahrdung, S. 29. 2 Nach einem älteren Sprachgebrauch wird mit "Sanktionsnorm" nur der verweisende und die Strafbarkeit anordnende Teil eines Blankettstrafgesetzes bezeichnet, so noch Jescheck , Lehrbuch, S. 99; Schmidhäuser } Studienbuch, 3/56; zu dem modernen, hier gemeinten Sprachgebrauch vgl. Frisch , Verhalten, S. 82,541 f. mit Fn. 127; Kindhäuser , Gefährdung, S. 13. 3 Zur Theorie der bedingten Normen vgl. Weinberger , Norm und Institution, S. 62 f. u. näher Koch , in: (Hrsg.) Behrends , Rechtsdogmatik, S. 69 (79 f.) m.w.N. zum Streitstand. - Das Problem liegt in dem logischen Satz "ex falso sequitur quodlibet"; die Rechtsfolge ist logisch also auch dann gültig, wenn der Tatbestand nicht vorliegt. Das Problem ist nur normativ lösbar, nämlich unter der Prämisse, daß "ex falso sequitur quodlibetN im Rechtsstaat gerade nicht gilt. D.h. die mit der Rechtsanwendung und -durchsetzung befaßten Personen; näher unten § 1 II 2. mit Fn. 54.

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

tigung, den in der Sanktion (Strafe) liegenden Grundrechtseingriff vorzunehmen5. 2. Verhaltensnormen Gegenstand der durch die Sanktionsnormen angeordneten Haftung ist nach hier vertretener - aber umstrittener 6 - Auffassung die "Desavouierung einer Norm, die Kriterium rechtlich richtigen Verhaltens ist"7. Dies bedeutet, daß im Strafrecht noch eine zweite Art von Normen existiert, welche den Sanktionsnormen als "logisches prius"8 vorgelagert sind und angeben, welches Verhalten (axiologisch ausgedrückt) rechtlich gut (wertvoll) oder schlecht (wertwidrig) oder (deontologisch ausgedrückt) verboten, geboten, erlaubt oder freigestellt ist. Diese Normen werden üblicherweise als Verhaltensnormen bezeichnet, und es ist insofern die berühmte und der heute h.L.9 entsprechende Einsicht Bindings10 gewesen, daß die Straftatbestände des Besonderen Teiles des StGB in kontradiktorischer Formulierung auch Verhaltensnormen enthalten. Dieses "Enthalten" kann genauer dahin formuliert werden, daß Normsätze und die in ihnen ausgedrückten Normen das Ergebnis einer Interpretation der in den Straftatbeständen ausgedrückten Rechtssätze sind1 . Beide Normarten - Sanktions- und Verhaltensnormen - sind logisch und teleologisch streng zu trennen12. Die Frage, ob ein Verhalten nach rechtlichen Maßstäben richtig (geboten, erlaubt oder freigestellt) oder unrichtig (verboten) ist, muß bereits sprachlogisch von derjenigen unterschieden werden, ob jemand für ein Verhalten haftet bzw. verantwortlich gemacht wer5 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, Bd. I, S. 162 f.; ders./Dannecker, Milderung, S. 15 f.; Schmidhäuser, Studienbuch, 3/10 ff. 6 Zu den Gegenansichten s. unten § 113. I Kindhäuser, Gefährdung, S. 13. 8 Jakobs, Studien, S. 10 m.w.N. in Fn. 38. 9 S. nur Frisch, Verhalten, S. 541 f.; Jescheck, Lehrbuch, S. 209; je mit umf. Nachw. 10 Binding, Normen, Bd. I, S. 4 ff., 36 ff.; Darstellung und Kritik Bindings b. Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 3 ff. und 36 ff. - Binding ging von der alltagssprachlichen Rede aus, daß der Straftäter das Strafgesetz "übertrete". Wiewohl der Täter genau das tue, was im Tatbestand des Gesetzes beschrieben sei, sei diese Rede zutreffend, weil der Täter der Norm zuwiderhandle. Die Normen ließen sich nun vierfach beweisen: erstens "mittelbar" aus dem Strafgesetz selbst, da weder die Interpretation der Strafgesetze "Ihr sollt Strafe auf Euch nehmen, wenn ihr getötet habt" noch diejenige "Ihr sollt bei Strafe nicht töten" sinnvoll sei; sodann aus den "Bedürfnissen des Gesetzgebers", Verhaltensorientierung zu gewährleisten; drittens aus den zahlreichen Normen des geschriebenen Rechts; viertens aus der Rechtsgeschichte, in welcher deutlich werde, daß die Normen - z.B. des Dekalogs - den Strafgesetzen begrifflich vorausgehen. II Kindhäuser, Gefährdung, S. 29. 12

••

Ahnlich Frisch, Verhalten, S. 541: "Ob es Sinn hat, eine Verhaltensnormverletzung zu bestrafen, und ob ein bestimmter Erfolg einer Verhaltensnormverletzung zugerechnet werden kann - das sind zwei gänzlich verschiedene Fragen."

§ 1 Norm und Normwidrigkeit

29

den kann. Im ersten Fall geht es in den Worten der analytischen Sprachtheorie um präskriptives, im zweiten Fall um askriptives Sprechen13. Aber auch teleologisch bestehen gravierende Unterschiede. Während Verhaltensnormen nach allgemeiner und zutreffender Ansicht damit legitimiert werden, daß das verbotene Verhalten schädigend (rechtsgutsverletzend oder gefährdend) ist14, müssen Sanktionsnormen dadurch begründet werden, daß die Verhängung der Sanktion als Reaktion auf das Verhalten gerecht ist15. Es mag kühn klingen, ist aber eine konsequente Schlußfolgerung aus dieser teleologischen Differenz, daß sogar ein rechtlich richtiges (verhaltensnormgemäßes) Verhalten einer Sanktionsnorm unterfallen (sanktionsnormwidrig sein) kann. Gibt beispielsweise ein Arzt einem Patienten ein in Wahrheit lebensrettendes Medikament in der irrigen Vorstellung, den Patienten hiermit (aus welchen Motiven auch immer) zu töten16, so wäre es - jedenfalls unter der allgemein akzeptierten Prämisse, Verhaltensnormen dienten dem Rechtsgüterschutz - sprachwidrig zu sagen, der Arzt habe rechtlich falsch, nämlich verboten, gehandelt; als Garant für das Leben des Patienten hat er vielmehr gerade das rechtlich Richtige, nämlich Gebotene getan. Trotzdem ist es legitim, den Arzt wegen eines untauglichen Tötungsversuchs zu bestrafen, da er zum Ausdruck gebracht hat, daß er das Tötungsverbot nicht handlungswirksam anerkannt hat, und somit die Normgeltung desavouiert hat17.

1 Die analytische Sprachphilosophie unterscheidet im Bereich des pragmatischen - also menschliche Praxis, insbesondere menschliche Verhaltensweisen betreffenden - Sprechens die Sprachmodi der Präskription und der Askription; grundlegend Hart, Proceedings of the Aristotelian Society 49 (1948/49), 171 ff.; vgl. weiter Hare, Sprache, S. 144 ff.; Hruschka, Strafrecht, S. 424 ff.; Kindhäuser, Gefährdung, S. 29 mit Fn. 2. Unter präskriptiven Sätzen werden Normen, Regeln, Befehle, Ratschläge und Empfehlungen verstanden, also Sätze, durch die ein Verhalten mehr oder minder verbindlich vorgeschrieben bzw. ein Maßstab an dieses Verhalten angelegt wird. Präskriptive Sätze können nach h.L. nicht - wie theoretisch-deskriptive Sätze - wahr oder unwahr, sondern nur gültig bzw. verbindlich oder ungültig bzw. unverbindlich sein. Hingegen geht es beim askriptiven Sprechen nicht um Verhaltensorientierung und bewertung, sondern darum, jemandem ein Verhalten als eigenes zuzurechnen; z.B. sind Sätze, die jemandem die Verantwortung für ein Verhalten zuschreiben, askriptiv. Askriptive Sätze wie z.B. "A ist schuld" - sind für sich nicht "gültig" oder "verbindlich", sondern "berechtigt" oder "gerecht", so Hruschka, Strafrecht, S. 426. Das heißt freilich weder, daß die bei der Askription verwendeten Zurechnungsregeln nicht "gültige" im Sinne von (rechtsverbindlichen Zurechnungsregeln sein können, noch, daß durch andere Regeln eine Askription für bestimmte Dritte dem Inhalt nach (rechtlich) verbindlich sein kann. Im Strafrecht ist z.B. auf die gesetzliche Zurechungsregel des § 20 und die Regeln über die materielle Rechtskraft hinzuweisen.

14

Und damit mit Blick auf den Rechtsgüterschutz ausgelegt werden müssen. Und damit mit Blick auf die Sanktions-(Straf-)zwecke (genauer: -gründe) ausgelegt werden müssen. 16 Beispiel nach Kindhäuser, Gefährdung, S. 17. 17 Zur Versuchsstrafbarkeit im hier vorgelegten Modell unten § 2 III 4. 15

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

3. Einwände gegen das Bestehen von Verhaltensnormen Gegen die hier zugrundegelegte Auffassung, es gebe Verhaltensnormen (Ver- und Gebote), die unmittelbar an den Bürger als Normunterworfenen gerichtet sind, werden verschiedene Einwände erhoben. Die gegenteilige Auffassung wird zum einen auf eine radikale Zwangstheorie des Rechts gestützt, nach welcher das Recht als normative Zwangsordnung ausschließlich durch den Zwangscharakter und durch die Rechtsfolgen- bzw. Sanktionsanordnung gekennzeichnet ist18. Hiernach verlangt die Rechtsordnung nicht Befolgung von Normen (wenn dies auch faktische Folge der Sanktionsdrohung und Sanktionierung sein mag), sondern verlangt ihrem "objektiven Sinn nach" allein, daß vom Rechtsstab gewisse Übel unter gewissen Bedingungen zugefügt werden sollen; die "Verpflichtung" von jedermann hat allein den Inhalt, den rechtlichen Zwang zu dulden. Gegen diese Auffassung hat sich bereits Binding mit klaren Worten gewendet: Der Gesetzgeber stellt es dem (potentiellen) Täter nicht frei, entweder die Norm zu befolgen oder Strafe (bzw. das Risiko von Strafe) auf sich zu nehmen19. Allgemeiner muß gegen die Zwangstheorie des Rechts eingewendet werden, daß der Zwang eben zwingt und nicht verpflichtet; letztlich wäre die Rechtsordnung eine pflichtenlose Gewaltordnung und damit jedes normativen Sinnes beraubt 20. Zum anderen läßt sich für ein "verhaltensnormfreies" (Straf-)Recht anführen (und ljegt in der Konsequenz einer Zwangstheorie, ist aber von dieser gedanklich unabhängig), daß die Straftatbestände ausschließlich als Ermächtigungsnormen verstanden werden könnten, die "ein bestimmtes Individuum ermächtigen, gegen ein anderes Individuum einen Zwangsakt als Sanktion zu richten"21. M.a.W. sollen nur die Sanktions- und nicht die Verhaltensnormen genuine Rechtsnormen sein. Der bedeutendste heutige Vertreter dieser Auffassung ist Schmidhäuser22. Nach Schmidhäuser ist die - in Verhaltens- und Sanktionsnorm "zweigeteilte" - Strafrechtsnorm kaum je in der sozialen Wirklichkeit aufzufinden . Auch aus der Sicht des Gesetzgebers sei nicht jedermann "Adressat", sondern seien die Organe des Rechtsstabes "Adressaten" der Gesetze, denn wenn auch der Gesetzgeber die Kenntnisnahme des Gesetzes durch jedermann nicht verunmögliche, so tue er auch nichts dafür, daß jedermann Kenntnis erhalte. Schmidhäuser will die 18

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Grundlegend Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 45 ff., 51 ff.

Binding, Normen, Bd. I, S. 36 ff. - Binding läßt es nicht einmal zu, die Strafdrohung als Grund des Verbotes anzusehen: Eine derartige Auffassung hätte die paradoxe Folge, daß die "Sicherheit des Täters, sich der Strafverfolgung des Staates zu entziehen, ... jenen Grund der Verbindlichkeit des Verbotes beseitigen" würde. 20 S. Larenz y Methodenlehre, S. 73 ff. (bes. zur Rechtspflicht S. 75 f.) mit umf. Nachw. zu dieser gängigen Kritik an Kelsen. 21 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 35. 22 Studienbuch, 3/10 ff.; Form und Gehalt, passim; JZ 1989,417 ff.; s. auch die vertiefende Arbeit seines Schülers Alwart, Recht und Handlung, bes. S. 147 ff. 23 Schmidhäuser, JZ 1989,419 (421).

§ 1 Norm und Normwidrigkeit

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Funktion der Vermittlung der - von ihm nicht grundsätzlich bestrittenen rechtlichen Verhaltensorientierung daher nicht dem Strafgesetz selbst, sondern der Sozialmoral oder dem "soziale Rechtsbewußtsein", also dem "Recht in der Rechtsvorstellung der Laiensphäre" zuordnen24. Dieser Vorstellung einer "gesellschaftlichen Rechtsordnung" und einem Verbotensein "qua Sozialmoral" hat Hoerster zutreffend widersprochen 25. Die Begriffe des rechtlich und des moralisch Verbotenen seien streng zu trennen; die Vorstellung vom staatlichen Recht in der Gesellschaft stelle in keinem Sinne auch nicht "gesellschaftliches" - Recht dar 26. Natürlich treffe Schmidhäusers Auffassung zu, daß bereits die Sozialmoral z.B. den Diebstahl verbiete. Daraus jedoch zu folgern, daß die staatliche Rechtsordnung den Diebstahl nicht verbiete, sei unrichtig 27. Ohne weiteres zuzugeben ist Schmidhäuser allerdings, daß die (Verhaltens-)Norm erst das Ergebnis einer Interpretation des jeweiligen Straftatbestandes, des "Strafgesetzes", ist28. Es müßte aber nun dargetan werden, daß eine Interpretation der Strafgesetze als Verhaltensnormen schlechthin sinnlos ist. Daß diese Interpretation dem Willen des Gesetzgebers widerspricht, kann nicht ernsthaft behauptet werden - wie sollte sonst das Verkündungserfordernis (Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG) begründet werden? Gravierender aber ist es, daß es dem personalen Menschenbild des Grundgesetzes widerspräche, die Deliktstatbestände ausschließlich als Ermächtigungsnormen für die Anwendung von Sanktionen zu begreifen 29. Eine derartige Auffassung käme auch in größte Schwierigkeiten bei der Begründung des - ebenfalls Verfassungsrang genießenden - Prinzips des persönlichen Verschuldens, nach herrschender und zutreffender Auffassung also des Vorwurfes, sich nicht gemäß den Verhaltensanforderungen des Rechts motiviert zu haben, sowie mit dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG und § 1, welches jedenfalls auch dadurch erklärt werden kann, daß der Täter die Möglichkeit gehabt haben muß, sich entsprechend der im Strafverfahren zugrundegelegten Verhaltensnorm zu motivieren30. Letztlich ist die Notwendigkeit der Interpretation der Strafgesetze als Verhaltensnormen in dem Verständnis von Strafe als Unrechtsfolge begründet: Wenn Bedingung der Strafe ein Verhalten ist, durch das eine (Verhaltens) Norm desavouiert wird und das damit Unrecht ist, dann muß es auch eine derartige Norm geben31. 24 25 26 27

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Schmidhäuser, JZ 1989,419 (424). Hoerster, JZ 1989,10 ff. und 425 ff. Hoerster, JZ 1989,425 (426). Hoerster, JZ 1989,10 (12).

Es ist ebenfalls eine Interpretation der Straftatbestände des Besonderen Teiles, wenn sie als 2Ermächtigungsund Sanktions(verpflichtungs)normen gedeutet werden. 9 Näher Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 58. 30 ••

Ahnliche Gedanken liegen der Lehre Kiipers (in: Lackner-FS, S. 247 ) von der "Gewährleistungsnorm" zugrunde; krit. Würdigung b. Frisch, Verhalten, S. 542 in Fn. 127. 31 S. Weinberger, Norm und Institution, S. 90 f. - Die Rechtsfolgenabhängigkeit der Interpretation von Rechtssätzen zeigt Weinberger aaO. an dem Beispiel des Rechtssatzes: "Wer im Jahr mehr als 5.000,- DM Lohn erhält, soll Lohnsteuer zahlen". Da die Lohnsteuer-

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

Bei Schmidhäuser deutet sich freilich bereits ein weiterer und allgemeinerer Einwand an, nach welchem den Normen kein Rechtsohaxdkttr eigne und vielmehr die Normen außerrechtliche Kulturnormen seien32 oder zumindest einer "höheren" Schicht des allgemeinen öffentlichen Rechts angehörten33. Abgesehen davon, daß die Vorstellung einer "geteilten Rechtsordnung" theoretisch vor dem Hintergrund der strengen positivistischen Trennung von Recht und Moral problematisch ist, zwingt nichts dazu, die Normen aus dem Strafrecht zu verbannen: Sie sind - wie dargelegt - sinnvolle, ja zwingende Ergebnisse einer Interpretation der in der lex lata enthaltenen Straftatbestände. Das zutreffende Anliegen der Lehre von den Kulturnormen liegt vielmehr darin, den Gesetzgeber von einem vorgängigen, von der Gesamtüberzeugung getragenen Wertungs- und Verbotsprozeß abhängig zu machen. Sachlich geht es um die Eingrenzung sanktions- und strafwürdigen Verhaltens, die funktional sinnvoll ist: Da Strafe auch "rechtsethische Mißbilligung" ausdrückt, kann sie ohne ein entsprechendes "Echo" in der Gemeinschaft nicht effektiv sein; eine "rechtsethische Mißbilligung" ohne ein Mindestmaß an Widerspiegelung in der Sozialethik geht ins Leere und beschädigt selbst anerkannte Bereiche strafrechtlicher Sanktionierung34. Allerdings ist es nach modernem Verständnis - insbesondere im Bereich wirtschaftsstrafrechtlicher Normen - nicht ausgeschlossen, einen (freilich subsidiären) "Führungsauftrag" des Gesetzgebers zur Formung rechts- und sozialethischer Wertvorstellungen anzuerkennen35. 4. Dogmatische Relevanz der Verhaltensnormen Allerdings ist den geschilderten Einwänden darin recht zu geben, daß es der Rechtsanwender im Strafrecht vornehmlich mit den Sanktionsnormen zu tun hat. Gleichwohl sind die Verhaltensnormen keine dogmatisch "leere" Kategorie. Zum einen ist die Normwidrigkeit gleichzusetzen mit der Tatbestandsmäßigkeit36 bei der vollendeten37 Straftat (ohne Berücksichtung von Vorsatz und Fahrlässigkeit, die Kategorien der Sanktionsnorm sind38). Zum anderen ist die (jeweilige) Verhaltensnorm "Bezugspunkt" der Sanktionsnorm und schon deshalb - beispielsweise um den Inhalt des Vorsatzes näher pflicht nicht als Unrechtsfolge definiert ist (wenn sie auch faktisch einen Nachteil darstellt!), folgt hieraus keineswegs das Verbot, einen Jahreslohn über 5.000,- DM zu haben. 32 Grundlegend M.E. Mayer, Rechtsnormen, bes. S. 33 ff., 37 ff.; heute noch Maurach-Zipf\ AT 1, § 19 Rdnrn. 23 ff.; s. auch Schmidhäuser, JZ1989,419 (420). 33 So Binding, Normen, Bd. I, S. 156 f. 34 Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 344. 35 Näher Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 148 ff., bes. 159 ff.; s. bereits Sax, in: (Hrsg.) Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte, Bd. III/2, S. 928. 36 Und - so ist zu ergänzen - mit dem Nichteingreifen des Tatbestandes einer Erlaubnisnorm, die in Rechtfertigungsgründen enthalten ist, näher unten § 1 II 3. 37 Zum Versuch als Kategorie der Pflichtwidrigkeit ohne Normwidrigkeit unten § 2 III 4. 38 Die also die Pflichtwidrigkeit betreffen, s. unten § 1 II 4. und § 2 III.

§ 1 Norm und Normwidrigkeit

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zu klären - auch für diese von dogmatischer Bedeutung. Bevor hierauf näher eingegangen wird, ist jedoch die Theorie der Verhaltensnormen näher zu entfalten. IL Zur Theorie der Verhaltensnormen 1. Präskriptive Rechtssätze Normsätze, die Verhaltensnormen ausdrücken, werden in der Rechtstheorie als präskriptive Rechtssätze bezeichnet39. Im einzelnen wird zwi39

Dieser Normbegriff ist zunächst von demjenigen der Rechtssoziologie - insbesondere demjenigen des system-funktionalen Ansatzes - abzuschichten, vgl. hierzu Luhmann, Rechtssoziologie, S. 31 ff.; aus strafrechtlicher Sicht Jakobs, Strafrecht, 1/4 ff. Nach der Systemtheorie sind Normen "kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen", also solche (Verhaltens-) Erwartungen, deren Enttäuschung nicht zur Aufgabe der Erwartung führt. Grund der Entwicklung solcher kontrafaktisch stabilisierten Erwartungen ist es, daß die Welt zu komplex ist, d.h. für den Handelnden zu viele Verhaltensmöglichkeiten bietet, und zu kontingent ist, d.h. zu viele unberechenbare Reaktionsmöglichkeiten anderer enthält. Normen dienen damit der Reduzierung von Komplexität und Kontingenz auf ein funktional adäquates Maß; dieses funktional adäquate Maß ist Luhmanns systemtheoretische Umschreibung für Gerechtigkeit, vgl. ders. y RTh 4 (1973), 131 ff. Da nun diese Reduzierungsfunktion durch jeden Normverstoß in Frage gestellt wird, zugleich aber ex definitione an der Norm festgehalten werde muß, stellt sich jedem Normensystem die Aufgabe, den Normverstoß so zu erklären und "abzuwickeln", daß weiterhin die (rationale) Möglichkeit besteht, normgemäßes Verhalten zu erwarten. Als Erklärungsmodell taugen hierbei naturwissenschaftlich-kausale - z.B. kriminologische - Ansätze nicht, da das Festhalten an einer Erwartung, die wissenschaftlichen Erfahrungssätzen widerspricht, irrational ist. Geeignet sind aber die Wege der Zurechnung unter der Fiktion individueller Schuld oder der Definition des normwidrig Handelnden als Person, die der Norm nichts anzuhaben vermag, so Luhmann, Rechtssoziologie, S. 59; s. auch Jakobs, Strafrecht, 1/9 und 11. - Das Verdienst des systemtheoretischen Ansatzes ist es, die funktionelle Voraussetzung der "Abwicklung" von Normverstößen - nämlich die "ernstzunehmende" Enttäuschung der Erwartung in normgemäßes Verhalten - erfaßt zu haben: Das Täterverhalten muß "expressiv" machen, daß der Täter die Norm nicht anerkennt; es kommt also auf die "Bedeutung" der Tat an, die nur durch zuschreibende Urteile erkannt werden kann. Jakobs, Strafrecht, S. V, geht so weit, daß nicht nur "die Begriffe Schuld und Handlung ... zu Begriffen (werden), von denen sich ohne Blick auf die Funktion des Strafrechts schlechthin nichts aussagen läßt, sondern (sich) selbst der Begriff des Subjekts, dem zugerechnet wird,... als ein funktionaler Begriff (erweist)". Jedoch liegt ein Mangel des system-funktionalen Ansatzes darin, daß ausschließlich die faktisch-soziologische Funktion (die hier so genannte perlokutionäre Ebene) der Norm in den Blick kommt und die pragmatische Bedeutung (die hier so genannte illokutionäre Ebene) übersehen wird. Sodann ist der hier verwendete Normbegriff aber auch von dem im Staats- und Verwaltungsrecht verwendeten Begriff zu unterscheiden. Die dort h.L. - vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr. 3; Erichsen/Martens-Ossenbühl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 68 ff.; Wolff/Bachof\ Verwaltungsrecht I, S. 114 ff.; je m.w.N. - versteht unter Rechtsnorm eine "hoheitliche abstrakt-generelle Regelung des Außenrechts". Daher enthält z.B. ein Verwaltungsakt zwar im rechtstheoretischen, nicht aber im verwaltungsrechtlichen Sinne eine (Verhaltens-)Norm. Im Bereich des Strafrechts fällt allerdings der rechtstheoretische und der staatsrechtliche Normbegriff zusammen: Wie sogleich zu zeigen sein wird, enthalten die Straftatbestände des Besonderen Teiles abstrakt-generelle Verhaltensnormen (Ver- und Ge3 Vogel

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

sehen Verboten, Geboten, Erlaubnissen und Freistellungen unterschieden: Verbote untersagen ein Tun, Gebote ein Unterlassen, Erlaubnisse gestatten ein Tun, Freistellungen ein Unterlassen40. Elementare Normsätze bestehen demnach aus zwei Bestandteilen41: dem "deontischen Operator" 42 - nämlich: "es ist verboten, ...", "es ist geboten, ...", "es ist erlaubt" oder "es ist freigestellt, ..." - sowie der Deskription des Norminhaltes - nämlich der Verhaltensbeschreibung, z.B."... einen anderen Menschen zu töten". 2. Sprechakttheoretische Verhaltensnormanalyse Eine Analyse der Geltungs- und Anwendungsbedingungen von (Verhaltens-)Normen im dargelegten Sinne kann im Anschluß an das in der analytischen Sprachphilosophie für Sprechakte43 entwickelte Modell in drei Ebenen vorgenommen werden44. Die erste Ebene, in den Worten der Sprechakttheorie die "lokutionäre Ebene", betrifft die Analyse des Norminhaltes. Geltungstheoretisch besteht hier das Erfordernis eines eindeutigen, logisch widerspruchsfreien Norminhalts; es kann von "logischen Geltungsbedingungen" und "logischer Geltung" gesprochen werden. Hervorzuheben ist, daß es auf dieser Ebene um den Norminhalt - also nicht um die Logik der normativen Operatoren 45 - und um böte), die beiden Begriffsbestimmungen unterfallen. - Im übrigen ist das Nebeneinander des rechtstheoretischen und des öffentlich-rechtlichen Normbegriffs nicht weiter überraschend (und braucht auch nicht aufgelöst zu werden), da es dem öffentlichen Recht um die anders und besonders gelagerten Probleme der Abgrenzung zwischen materiellem und formellem Gesetz, zwischen Maßnahme- und Einzelfallgesetz sowie zwischen Rechtsverordnung und Allgemeinverfügung geht. 40

Es wird auch vom "deontologischen Viereck" gesprochen. - Zum "deontologischen Sechseck", in 'welchem zudem erwünschte oder "supererogatorische" - aber nicht geradezu gebotene - sowie unerwünschte - aber nicht geradezu verbotene - Verhaltensweisen enthalten sind, vgl. Hmschka , Achenwall, passim; ders./Joerden , ARSP 73 (1987), 93 ff. Die supererogatorischen bzw. unerwünschten Verhaltensweisen spielen bei der sog. außerordentlichen Zurechnung eine Rolle; eingehend unten § 2 IV 5. 41 Weinberger , Norm und Institution, S. 61. 42 Zur Ersetzung deontischer durch axiologische Operatoren s. unten § 1 II 4., III 1. 43 Grundlegend H.L. Austin , Sprechakte, passim; Searle } Sprechakte, passim. 44 Zum folgenden Kindhäuser , Gefährdung, S. 29 ff., 133 f. - Die Möglichkeit, Normen mit Hilfe von Sprechakten zu explizieren, begründen näher Broekman , in: Weinberger-FS, S. 17 ff.; Ojjalek, Direktiven, S. 11 ff., 28 ff. Es ist also keine logische Geltungsbedingung, daß die Rechtsordnung deontische Widersprüche vermeidet - z.B. daß ein Verhalten gleichzeitig verboten und erlaubt ist. In diesen Fällen tritt zwar ein Normwiderspruch ein, dessen Existenz geradezu aber die Geltung beider Normen voraussetzt, so zutreffend Kelsen , in: (Hrsg.) Klecatsky/Marcic/Schamberg , Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. II, S. 1469 (1475) (anders freilich ders., Reine Rechtslehre, S. 210 f.); zust. Berkemann , in: (Hrsg.) Lenk , Normenlogik, S. 182 ff.; Bulygin/Alchourron , in: (Hrsg.) Conte/Hilpinen/v. Wright , Deontische Logik, S. 24 f.; a.A. aber Kindhäuser , Gefährdung, S. 133; Otte, in: (Hrsg.) Krawietz , Argumentation, S. 253 ff.; Weinberger , Norm und Institution, S. 65 f.

§ 1 Norm und Normwidrigkeit

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logische Widersprüche geht. Es ist mithin kein Einwand gegen die logische Geltung der Norm, daß sie keinen faktischen - sogar keinen faktisch möglichen - Anwendungsfall hat46. Ausgeschlossen sind also nur sprachlogisch unmögliche - insbesondere sprachlich unsinnige - Norminhalte. Anwendungstheoretisch gewendet bedeutet Normanwendung auf dieser ersten Ebene die logisch-deduktive Subsumtion des Sachverhalts unter die Verhaltensbeschreibung nach der sog. Individualisierungsregel 47. Hier besteht das Erfordernis der Vermeidung von Normwidersprüchen: Ein und dasselbe Verhalten darf nicht zugleich verboten und geboten oder erlaubt bzw. nicht zugleich geboten und verboten oder freigestellt sein48. Auf der zweiten "illokutionären" Ebene der Normbedeutung müssen aus geltungstheoretischer Sicht die Bedingungen erfüllt sein, unter denen der Norm die pragmatische Bedeutung einer - im hier untersuchten Zusammenhang der Rechtsnormen - rechtlich verbindlichen Handlungsanweisung zugesprochen werden kann, also die Bedingungen für "juristische Geltung". Hierfür ist zunächst die "Legalität" der Norm im Sinne ihrer korrekten Erzeugung nach den Meta-Regeln über die Normerzeugung - insbesondere nach verfassungsrechtlichen Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften 49 erforderlich, sodann aber auch die materielle Übereinstimmung mit höherrangigem Recht50. Es entspricht zudem der h.A., daß sich jede Rechtsnorm an äußersten Grenzen eines wie auch immer begründbaren überpositiven Rechts- und Gerechtigkeitsverständnisses messen lassen muß; hier kann von einem Erfordernis der (Mindest-)Legitimität gesprochen werden. Anwendungstheoretisch bedeutet Normanwendung auf dieser Ebene, daß dem Verhalten die "Bedeutung" einer Normbefolgung bzw. eines Normwiderspruchs zugesprochen wird. Hierzu muß eine nach dem Wissen und Können des Täters für die Norm entscheidungsrelevante Situation vorliegen; beispielsweise kann jemand, der beim Frühstück Zeitung liest, Die Gegenansicht, nach welcher auch die deontische Widerspruchslosigkeit logische Geltungsbedingung ist, übersieht, daß das Postulat der Auflösung von Normwidersprüchen nur pragmatisch begründbar ist und die Lösung von Normwidersprüchen auf einer höheren, nämlich einer Metaebene erfolgen muß, in welcher angegeben wird, welche der beiden konfligierenden Normen den Vorrang haben soll. Näher zur strafrechtlichen Relevanz dieser Ansicht unten § 1 II 3. 46 Derartige Normen - etwa: "Es ist verboten, daß die Sonne aufgeht" - mögen pragmatisch sinnlos sein; logisch inkonsistent sind sie jedenfalls nicht. 47

Welche besagt, daß aus allgemeinen Normsätzen individuelle Normsätze abgeleitet werden können, wenn der Individuen- dem Allgemeinbegriff unterfällt; hierzu (sowie zur sog. Abtrennungsregel) Weinberger, Norm und Institution, S. 69. 48 Näher Weinberger, Norm und Institution, S. 65 f. 49 Wegen des Erfordernisses eines formellen Parlamentsgesetzes im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG) kommen hier v.a. die Kompetenzvorschriften der Art. 70, 74 Nr. 1 GG und die Verfahrensvorschriften der Art. 76 ff. GG in den Blick. 50 Für das gesetzesgebundene Strafrecht kommen hierfür v.a. die Grundrechte in Betracht; speziell zu Art. 103 Abs. 2 GG Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 44 ff. u. unten § 10 III 3. *

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

sein Verhalten nicht als Befolgung des Tötungsverbots verständlich machen, obwohl es auf der ersten geschilderten Ebene normkonform ist51, und ebensowenig kann jemand, der auf eine Regentonne schießt, ohne zu wissen oder auch nur wissen zu können, daß in ihr ein Mensch schläft, sein Verhalten als Nichtbefolgung des Tötungsverbots verständlich machen. Auf der dritten "perlokutionären" Ebene der Normwirkung schließlich geht es geltungstheoretisch um die "faktische Geltung" im Sinne sozialer Wirksamkeit der Norm. Soziale Wirksamkeit ist allerdings - in den Grenzen der Derogation von Normen - keine Bedingung juristischer Geltung52; hier wird im Grunde der Bereich der (normativ orientierten) Rechtstheorie verlassen und derjenige der Rechtssoziologie erreicht. Faktische Geltung kann zweierlei bedeuten: Aus der Sicht einer Zwangstheorie des Rechts53 geht es darum, daß das Recht eine Ordnung ist, die "äußerlich garantiert ist durch die Chance des ... Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingerichteten Stabes von Menschen"54. Da allerdings der nur punktuell mögliche Rechtszwang eine Rechtsordnung nicht wirklich zu garantieren vermag, verweist ein auf die Historische Rechtsschule zurückgehender zweiter Ansatz auf das Erfordernis der wechselseitigen Anerkennung der Normen 55. Beide Ansätze können durch das Konzept der "handlungswirksamen Anerkennung" der Norm durch ihre Adressaten verbunden werden56. Handlungswirksam anerkannt wird eine Norm nämlich nicht allein dann, wenn sie ex ante als Verpflichtungsgrund zum Unterlassen oder zur Vornahme von Handlungen anerkannt, d.h. befolgt wird, sondern auch dann, wenn sie ex post als Grundlage der (rechtlichen) Kritik an normwidrigem Verhalten anerkannt wird 57. Hierbei steht allerdings nicht so sehr - wie bei Zwangstheorien - die Sanktionierung als solche, sondern - ganz im Sinne eines dialogi-

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Beispiel nach Kindhäuser, Gefährdung, S. 42. Dies gilt jedenfalls für die einzelnen Rechtsnormen. So beseitigt die Tatsache, daß massenhaft Verstöße gegen die in § 12 StVO angeordneten Halte- und Parkverbote vorkommen, die auch überwiegend nicht geahndet werden, nicht die Geltung des § 12 StVO. Eine andere Frage ist es, ob eine Rechtsordnung als solche "im großen und ganzen" faktisch gelten muß, um die Qualität "Recht" zu gewinnen, so Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 48; zustimmend Hoerster, JuS 1987,181 (183). 53 Grundlegend John Austin, Lectures, S. 81 ff.; vgl. weiter H.LA. Hart, Concept, S. 97 ff. 54 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 17, Herv. i. Orig.; s. auch S. 182, 187 ff. Entscheidendes Abgrenzungskriterium des Rechts von anderen Verhaltensordnungen (Sitte und Brauch; Konvention; Moral) ist hiemach die Existenz eines "Rechtsstabes"; hiermit werden alle diejenigen Personen bezeichnet, die institutionell das Recht verwalten, wie Richter und Staatsanwälte, Polizisten und Gerichtsvollzieher; näher Röhl, Rechtssoziologie, S. 35. 55 Bierling, Prinzipienlehre, Bd. I, S. 19. - Zu den beiden Aspekten "Anerkennung" und "Erzwingbarkeit" s. auch Dreier, NJW 1986, 890 (f.); Hoerster, JuS 1987,181 (183). 56 Kindhäuser, Gefährdung, S. 42. 57 Kindhäuser, Art. "Geltung", in: Staatslexikon, Bd. II, Sp. 814. 52

§ 1 Norm und Normwidrigkeit

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sehen Modells der Straftat 58 - die Begründung der Sanktionierung unter Bezugnahme auf die Norm im Vordergrund. Kurzum: Sanktionsnormen dienen dazu, die faktische Geltung der Verhaltensnormen, also deren handlungswirksame Anerkennung zu sichern. Anwendungstheoretisch geht es auf der dritten Ebene um die außertatbestandlichen tatsächlichen Auswirkungen des Verhaltens. Diese sind juristisch i.d.R. aber irrelevant; beispielsweise kann eine Äußerung die Bedeutung einer Beleidigung haben und deshalb gem. § 185 strafbar sein, obwohl der Beleidigte die Äußerung (akustisch oder sprachlich) nicht versteht und sich deshalb nicht beleidigt fühlt 59. 3. Normenkollision und Einheit der Rechtsordnung (zur Rechtfertigung) Für die Strafrechtsdogmatik ist zunächst die erste "lokutionäre" Ebene des vorgelegten Modells der Normanalyse und das dort bestehende Postulat der Widerspruchsfreiheit der Normenordnung bedeutsam. Prima facie sind nämlich insbesondere in jeder Rechtfertigungssituation einander (fallweise) widersprechende Normen - ein Verbot und eine Erlaubnis bzw. ein Gebot und eine Freistellung - anwendbar60. Es stellt sich hier zum einen die vieldiskutierte Frage, ob die (strafrechtliche) Normwidrigkeit nach Maßgabe einer Gesamtnorm festgestellt wird, die aus tatbestandlichem Ver- oder Gebot und (negativ eingeführter) rechtfertigender Erlaubnis- oder Freistellungsnorm gebildet wird, oder ob die jeweiligen Normen wirklich kollidieren, welche Kollision nach einer - einer höheren Stufe angehörenden - Metanorm in der Regel zugunsten der Erlaubnis- oder Freistellungsnorm zu entscheiden ist61. Normlogisch läßt sich der Streit nicht entscheiden. Jedoch spricht aus pragmatischen Gründen 58 5 9 Hierzu Haft,

Schulddialog, passim; Neumann, Zurechnung, bes. S. 269 ff. Vgl. S/S-Lenckner, § 185 Rdnr. 16 mit umf. Nachw. Zum folgenden Kindhäuser, Gefährdung, S. 106 ff. (bes. 108 und 110). 61 Das erste Modell entspricht der von Merkel begründeten Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, vgl. hierzu die erschöpfenden Nachw. b. S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 16; das zweite entspricht der h.L., vgl. deren Verteidigung b. Lenckner aaO. Rdnr. 18. Eine dritte Möglichkeit ist normlogisch ausgeschlossen. Insbesondere trägt die namentlich von Welzel, Strafrecht, S. 80, vertretene Auffassung, die Anwendbarkeit einer Erlaubnisnorm setze notwendig diejenige einer Verbotsnorm voraus, normlogisch nicht: Es gibt kein "an sich" verbotenes Verhalten (so Jakobs, Strafrecht, 11/1), wie auch ein Verbot nicht die Normwidrigkeit "indizieren" kann: Entweder ist ein Verhalten normwidrig oder nicht; das Eingreifen von Erlaubnisnormen ist in jedem Falle zu prüfen. - Keineswegs bestritten werden soll, daß außerhalb der normlogischen Einordnung als erlaubt zwischen der Tötung einer Mücke (erlaubt, weil nicht verboten) und der Tötung eines Menschen in Notwehr (erlaubt, weil das Verbot durch die vorgängige Erlaubnisnorm verdrängt wird) ein (Wert-)Unterschied besteht (Beispiel nach Welzel, ZStW 67 < 1955 >, 196 ): Der Schaden der zweiten Verhaltensweise ist evidentermaßen - auch: rechtlich - bedeutender als deijenige der ersten. - S. weiterhin Tiedemann, Strafrecht, S. 112; ders., Tatbestandsfunktionen, S. 76 in Fn. 18; Bokkelmann/Volk, Strafrecht, S. 37. 60

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

mehr dafür, eine Kollisionslösung zu wählen. Pragmatisch - im "dialogischen" Kontext der Zurechnung eines Verhaltens als gerechtfertigt, also als zulässige Wahrnehmung einer Erlaubnis - setzt nämlich die Rechtfertigung 62 die vorgängige Einschätzung eines Verhaltens als pflichtwidrig (und das heißt: nicht - nur - als normwidrig, sondern - auch - als vorsätzlich bzw. fahrlässig) voraus63. Zudem sieht sich eine Kollisionslösung imstande, jedenfalls formell deutlicher als eine Gesamtnormlösung die Problematik der sog. sozialethischen Grenzen der Rechtfertigung zu lösen. Beispielsweise kann die (nach dem Kollisionsmodell ungeschriebene) Metanorm, die die Kollision zwischen Tötungsverbot und Notwehrerlaubnis löst, dahin formuliert werden, daß die Notwehrerlaubnis dem Tötungsverbot vorgeht, wenn es nicht um die Verteidigung bloßer Bagatellwerte oder um einen schuldhaft provozierten Angriff etc. geht. Die Gesamtnormlösung müßte hingegen den Wortlaut der Erlaubnisnormen einschränken, beispielsweise bei der Notwehrerlaubnis an der problematischen Wendung der "Gebotenheit" der Notwehr ansetzen. Die materiellen und verfassungsrechtlichen Probleme derartiger Einschränkungen werden von der Modellwahl allerdings nicht unmittelbar berührt. Des weiteren fragt sich, ob - wie es der h.A. entspricht - die (kollidierenden) Erlaubnis- bzw. Freistellungsnormen der gesamten Rechtsordnung entnommen werden können. Für eine durchgängige Beachtlichkeit auch außerstrafrechtlicher Erlaubnis- bzw. Freistellungsnormen wird insbesondere das Postulat der "Einheit der Rechtsordnung" angeführt 65. Dieses Postulat bedeutet freilich nur, daß Normkollisionen aufgelöst werden müssen; nur insoweit trifft es zu, daß jede der Rechtsordnung angehörende kollidierende Erlaubnis- oder Freistellungsnorm zu beachten ist, und nur insoweit ist eine Strafrechtstto/wwidrigkeit, die von einer außerstrafrechtlichen Normwidrigkeit unterschieden wäre, logisch ausgeschlossen66. Das Postulat der Einheit der Rechtsordnung sagt jedoch nicht, wie diese Auflösung der Normkollision geschehen soll, und insbesondere nicht, daß eine (wo auch immer in der Normenordnung angesiedelte) Erlaubnis- bzw. Freistellungsnorm in jedem Falle einem (strafrechtlichen) Verbot bzw. Gebot vorgeht. Die Vorrangregelung muß vielmehr nach allgemeinen Grundsätzen - etwa

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Zum Unterschied zwischen "Rechtfertigung" und "Erlaubnis" näher unten § 2 III 3. Kindhäuser, Gefährdung, S. 109.

Hierzu Engisch, Einführung, S. 160 ff. mit umf. Nachw.; grundlegend ders., Einheit. S. nur S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr. 27 mit umf. Nachw. Insofern ist auch der These Günthers, Strafrechtswidrigkeit, bes. S. 253 ff., es gebe eine eigene Strafrechtswidrigkeit, zu widersprechen. Es ist allerdings zuzugeben, daß es bei den von Günther, aaO., S. 309 ff. und S. 314 ff. erörterten Problemfällen der §§ 193, 218 a in der Tat eine (Auslegungs-)Frage ist, ob es sich wirklich um Erlaubnisnormen handelt; insbesondere zu § 218 a neuerdings BAG NJW 1989, 2243 m. Anm. Tröndle, aaO. S. 2990 ff. u. BVerfG NJW 1990, 241 m. Anm. Kluth, JR 1990, 104 ff. - Zur Lehre Günthers s. noch unten Fn. 73. 65

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§ 1 No

und Normwidrigkeit

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der Rangordnung der Rechtsquellen67 oder dem Grundsatz "lex specialis derogat legi generali" - unter Berücksichtigung der jeweiligen Rechtsgebiete entwickelt werden, was dazu führen kann, daß außerstrafrechtliche Erlaubnisse und sogar Gebote hinter strafrechtliche Verbote zurücktreten müssen, also keine rechtfertigende Wirkung entfalten können68. Pragmatisch bedeutet die Feststellung der Normwidrigkeit eines Verhaltens nicht mehr als dessen Qualifizierung als verboten oder gebotswidrig, weil es den rechtlichen Interessenausgleich stört 69. Damit ist die Normwidrigkeit von der Rechtswidrigkeit im Sinne des dogmatischen Straftataufbaus zu unterscheiden. Nach h.L. kann die Rechtswidrigkeit - bzw. das Unrecht 70 - eines Verhaltens erst nach der Prüfung der Zurechenbarkeit des normwidrigen Verhaltens kraft Vorsatz oder Fahrlässigkeit71 bejaht werden. In diesem Sinne meint Rechtswidrigkeit einen - bedeutungshaltigen - "Widerspruch gegen das Recht"72; m.a.W. ist das Straftatmerkmsd der Rechtswidrigkeit bereits das Ergebnis einer Zurechnung. Um dies terminologisch vom Urteil der Normwidrigkeit abzuheben, wird hier auch von "Pflichtwidrigkeit" gesprochen73. Deshalb ist es keineswegs selbstverständlich, daß eine verwaltungsrechtliche Genehmigung ein strafgesetzliches Verbot - und dies auch noch wegen des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung! - außer Kraft setzen kann; zum hochumstrittenen Problem vgl. nur S/SLenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnrn. 61 ff. mit umf. Nachw. 68

Ein wichtiges Beispiel für die zuletztgenannte Konstellation ist die Kollision zwischen den Geheimnisverratsverboten des § 203 und der strafprozessualen Aussagepflicht des Zeugen: Nach der h.A. (vgl. S/S-Lenckner, § 203 Rdnr. 29 mit umf. Nachw.) geht hier für einen Zeugen, der sich (sei es auch obliegenheitswidrig) auf ein bestehendes Zeugnisverweigerungsrecht nicht beruft, das strafrechtliche Verbot vor, obwohl es dem Zeugen in diesem Falle strafprozeßrechtlich geboten ist, auszusagen. 69 Zu diesem teleologischen Gesichtspunkt näher unten § 1 III 2. 70 Insofern trifft die Unterscheidung von Otto (ZStW 87 , 539 ; zust. JeScheck, Lehrbuch, S. 209) zu, daß Rechtswidrigkeit der "Widerspruch zum Recht" und "Unrecht" die als rechtswidrig gewertete Handlung selbst ist; der Schwerpunkt der Unrechtsdefinition muß hier auf den Begriff Handlung - im Unterschied zu Verhalten - gelegt werden. - Zur Trennung zwischen Rechtswidrigkeit und Unrecht s. auch Roxin, Strafrecht, § 7 Rdnr. 57. 71

Sowie umgekehrt - wenn eine Erlaubnisnorm eingreift - bei Verneinung der Zurechenbarkeit des erlaubten Verhaltens wegen des Fehlens subjektiver Rechtfertigungselemente; s. noch unten § 2 III 3. 72 Nagler, in: Frank-FG, Bd. I, S. 339 (343); zustimmend Jescheck, Lehrbuch, S. 209; S/SLenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 49. 73 Zu den Begriffen der "Pflicht" und der "Pflichtwidrigkeit" noch eingehend unten §§ 1 II 4., 2 III. - Da die zur Bestimmung der Pflichtwidrigkeit verwendeten Zurechnungsregeln nach dem teleologischen Grund der jeweiligen Rechtsfolge und somit rechtsgebietsautonom zu bestimmen sind (s. unten § 2 II), trifft die überwiegende Auffassung zu, daß Pflichtwidrigkeit eines strafrechtlichen Delikts nach anderen Maßstäben als diejenigen eines zivilrechtlichen Delikts bestimmt werden kann. Neben den unterschiedlichen Fahrlässigkeitsmaßstäben ist vor allem darauf hinzuweisen, daß im zivilen Deliktsrecht keine subjektiven Rechtfertigungselemente zur Rechtfertigung erforderlich sind, s. RGZ 84, 306; Lorenz, Schuldrecht, Bd. I, S. 275. Der Unterschied zwischen straf- und zivilrechtlicher Pflichtwidrigkeit liegt nach hier vertretener Auffassung freilich nur darin, daß die einheitlich zu bestimmende Normwidrigkeit

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

Schon aus normlogischen Gründen gewährt ein verbotenes oder gebotswidriges Verhalten hingegen nicht für sich Eingriffs- und Zwangsrechte, da der verboten oder gebotswidrig Handelnde nicht "friedlos" gestellt und weiterhin seinerseits durch Verletzungsverbote geschützt wird 4 . Eingriffsund Zwangsrechte können nur durch andere Erlaubnis- und Berechtigungsnormen gegeben werden, etwa durch § 3275. Insoweit ist es keineswegs ausgemacht, daß das Urteil der Normwidrigkeit ohne weiteres mit demjenigen der "Rechtswidrigkeit" eines Verhaltens im Sinne der Notwehrvorschrift gleichgesetzt werden kann76. Nach einer vordringenden Ansicht bedarf der Begriff des "rechtswidrigen Angriffs" in § 32 einer selbständigen Auslegung; die Auslegung, es genüge die (konkrete) Gefahr eines normwidrigen Verhaltens, ist nicht zwingend und axiologisch - vor allem mit Blick auf Überschneidungen mit § 34 - durchaus zweifelhaft 77.

nach unterschiedlichen Regeln zugerechnet wird. Eine andere Frage ist es, ob zudem eine eigene Prüfungsstufe der - teleologisch und unter dem Gesichtspunkt der Strafwürdigkeit zu bestimmenden - "Strafrechtswidrigkeit" erforderlich ist, um die Rechtswidrigkeit als Straftatmerkmal - das heißt: die Pflichtwidrigkeit - zu bestimmen, so insbesondere Günther, Strafrechtswidrigkeit, bes. S. 253 ff. Diese Lehre ist abzulehnen: Die Strafwürdigkeit ist mit Blick auf die strafrechtlichen Verhaltensnormen vom Gesetzgeber entschieden, und das spezifisch strafrechtliche Erfordernis der Sicherung eines hinreichenden Maßes an handlungswirksamer Anerkennung der Normen geht bereits in die Bestimmung der Zurechnungsregeln ein, so auch die h.L., vgl. S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 13 (zur fehlenden dogmatischen Relevanz der Strafwürdigkeit im allgemeinen) und Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr. 8 (zu Günther im besonderen); je m.w.N. - Zur Lehre Maurachs von der "Tatverantwortung" s. noch unten § 6 I in Fn. 23. 74 Eine ganz andere Frage ist es, ob in derartigen Fällen Zwang und Eingriffe zur Verhinderung bzw. Ahndung freiheitsverletzenden Verhaltens legitim sind. Insoweit ist die berühmte These Kants, Metaphysik der Sitten, AB 35 (Einleitung in die Rechtslehre § D), das Recht sei mit der Befugnis zu zwingen immanent verbunden, nicht als Aussage über normtheoretische Fol^erungsbeziehungen, sondern über die Legitimität des Zwanges zu verstehen. In diesem Sinne können Erlaubnisnormen zugleich Zwangs- und Eingriffsrechte gewähren, denen entsprechende Duldungspflichten gegenüberstehen. Ob dies der Fall ist, kann allerdings erst eine Auslegung der Erlaubnisnorm sagen; so ist es Auslegungsfrage, ob § 193 Duldungspflichten generiert, ob also m.a.W. die Berufung auf § 193 ausreicht, um die "Rechtswidrigkeit" eines Angriffes in § 32 auszuschließen, beides verneinend insbesondere S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnrn. 11 f. m.w.N. 76 Bereits Engisch (Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 61; Herv. i. Orig.) hat darauf hingewiesen, daß "das Verbrechensmerkmal Rechtswidrigkeit eine ganz andere Funktion und Bedeutung hat als die Notwehrvoraussetzung Rechtswidrigkeit" - und, so ist zu ergänzen, als das normlogische Urteil der Normwidrigkeit; zust. Welzel, Fahrlässigkeit, S. 28. 77 Zutr. Jakobs, Strafrecht, 12/16 ff. mit umf. Nachw. (der sogar individuell-pflichtwidriges Verhalten verlangt); SK-Samson, § 32 Rdnr. 13 f.; Schmidhäuser, Studienbuch, 6/62 ff.; zu den älteren "relativierenden" und "subjektivierenden" Auffassungen (Beling, Dohna, v. Ferneck, Kohler) LK-Spendet, § 32 Rdnr. 63 mit umf. Nachw. A.A. aber - Normwidrigkeit genügt - die (noch) h.L., vgl. Jescheck, Lehrbuch, S. 306; S/SLenckner, § 32 Rdnr. 19; LK-Spendel, § 32 Rdnrn. 54 ff. (der - ausgehend von der Perspektive der fehlenden "Duldungspflicht" des Angegriffenen - sogar bei Angriffen durch Tiere ein Notwehrrecht geben will!).

§ 1 Norm und Normwidrigkeit

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4. Norm- und Pflichtwidrigkeit Sodann ist für die dogmatische Analyse der Straftat die Unterscheidung zwischen der ersten inhaltlichen und der zweiten "Bedeutungs"ebene der Normen von besonderem Gewicht. Diese Unterscheidung kann in Verbindung gebracht werden mit der gängigen Differenzierung zwischen Norm und Pflicht, zwischen abstrakt-generell normwidrigem und konkret-individuell pflichtwidrigem Verhalten 8 . Nach Armin Kaufmann entfaltet die abstrakt-generelle Norm ihre konkret verpflichtende Wirkung nur dann, wenn die tatbestandsmäßige Situation vorliegt und der Täter im Rahmen seines Wissens und Könnens handlungsfähig ist; die Pflicht sei hiernach die aus der abstrakten Norm fließende Bindung eines bestimmten Einzelnen, der handlungsfähig ist79. Es fragt sich freilich, in welchem Sinne die so bestimmte Pflicht aus der Norm "fließt": Handelt es sich um eine logisch-begriffliche Deduktion oder um etwas anderes? Aus allgemeinen Normsätzen können durch die normlogische Individualisierungsregel individuelle Normsätze abgeleitet werden, wenn der Individuenbegriff dem in der Norm genannten Allgemeinbegriff unterfällt 80. Beispielsweise kann aus dem Satz: "Es ist jedem Menschen verboten, einen anderen Menschen zu töten" abgeleitet werden: "Es ist A verboten, B mittels eines Schusses aus dem Gewehr der Marke x mit der Seriennummer y zu töten"81. Es fragt sich nun,' ob die Einführung des spezifizierenden Elements der Handlungsfähigkeit - des Wissens und Könnens des Täters - in demselben Sinne eine Individualisierung der abstrakt-generellen Norm wie die Einsetzung von Namen für Allgemeinbegriffe ist. Dies ist zu verneinen: Gegenstand der Handlungsfähigkeit - des Wissens und Könnens des Täters - ist das normgemäße Verhalten selbst; Handlungsfähigkeit ist mithin eine Kategorie, die auf die Norm selbst Bezug nimmt . Die Einführung einer derarti78

Vgl. hierzu Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 199 ff. Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 7 f. m.w.N. 80 Weinberger, Norm und Institution, S. 69. 81 Diese Individualisierung verengt den Normbereich. Daher kann aus einer individualisierten Norm nicht gefolgert werden, daß ein ihr nicht entsprechendes Verhalten erlaubt ist. Diesen Fehlschluß begeht der Finalismus, wenn er - allerdings unzulässigerweise (s. sogleich im Text) - die Normen durch Einfügung des Erfordernisses finaler Steuerungsmöglichkeit spezifiziert und daraus schließt, ein nicht final steuerbares Verhalten sei nicht normwidrig und daher erlaubt. 82 Um die Selbstbezüglichkeit am Modell der finalistischen Normenauffassung Welzels zu illustrieren: Nach Welzel - vgl. Fahrlässigkeit, S. 16 und 29 f. - lauten die den §§ 212, 222 zugrundeliegenden Verhaltensnormen nicht: "Es ist verboten, den Tod eines anderen zu verursachen", sondern vielmehr bei § 212: "Es ist verboten, den Tod eines anderen zu verursachen, sofern dies (hier liegt der Selbstbezug!) vom Täter erkannt (und gewollt) wurde" und bei § 222: "Es ist verboten, den Tod eines anderen zu verursachen, sofern dies von einem Beobachter mit dem ontologischen Wissen eines einsichtigen Beobachters und dem darüber hinausge79

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

gen Kategorie ist aber wegen des Verbots der Selbstbezüglichkeit logisch unzulässig83. Allgemeiner ausgedrückt84: Eine (Verhaltens-)Norm kann nicht von sich selbst sagen, unter welchen Bedingungen der Täter durch sie verpflichtet ist, weil sie dann auf sich selbst Bezug nehmen müßte. Zwar ist es sprachlogisch nicht ausgeschlossen, daß eine Norm auf einer höheren "Meta-Ebene" eine Norm auf einer unteren Ebene in Bezug nimmt; nur handelt es sich dann eben um Normen verschiedener Ebenen und selbständigen Inhalts. Die Angabe der Bedingungen, unter denen der Täter durch die Norm verpflichtet wird, nämlich sich anders hätte verhalten müssen, als er sich verhalten hat - z.B. wenn er Vorsatz hatte -, ist daher Gegenstand nicht der Verhaltens-, sondern der (diese in Bezug nehmenden) Sanktionsnorm. Das von Armin Kaufmann gemeinte "Aus-der-Norm-fließen" der Pflicht ist mithin keine logisch-deduktive, sondern eine pragmatische Beziehung. Sie entspricht dem Übergang von der ersten "lokutionären" zu der zweiten "illokutionären" Ebene des vorgelegten Modelles der Normanalyse. Normen sind in dem Sinne Verpflichtungsgründe für Handlungen, als sie jedermann verpflichten, im Rahmen seines Wissens und Könnens normgemäß zu handeln85. Da es für jemanden, der weiß, daß sein beabsichtigtes Verhalten normwidrig ist, und der dieses Verhalten vermeiden kann, praktisch notwendig ist, dieses Verhalten zu unterlassen, sofern er normgemäß handeln will, können Normen als Gründe für die Pflicht verstanden werden, normgemäß handeln zu wollen86. Eine Verpflichtung entsteht nur, wenn mindestens zwei Bedingungen erfüllt sind87: Erstens muß eine (zumindest in der Vorstellung des Täters) tatbestandsrelevante Situation vorliegen; und zweihenden ontologischen Sonderwissen des wirklichen Täters und mit dem nomologischen Höchstwissen seiner Zeit erkannt worden wäre." 83

Wie sich auch bei theoretischen Sätzen (wie z.B. "Dieser Satz ist falsch") zeigt; vgl. nur Seiffert, Wissenschaftstheorie, S. 89 ff. (bes. 90 f.). - Die Selbstbezüglichkeit kann allerdings dann vermieden werden, wenn das normwidrige Verhalten selbst - entgegen dem Wortlaut des Gesetzes - als Verhalten bestimmt wird, das (nach wessen Urteil auch immer) geeignet ist, ein tatbestandsmäßiges Verhalten darzustellen. So kann ohne Selbstbezüglichkeit die Norm eines Erfolgsdelikts formuliert werden: "Es ist verboten, ein Verhalten vorzunehmen, das nach dem Urteil des Täters (oder eines Beobachters usw.) den Erfolg zu verursachen geeignet ist". Diese Formulierung trifft nun genau die Position der radikalen Finalisten (Horn, Zielinski u.a.), welche den Erfolg als objektive Strafbarkeitsbedingung ansehen und damit aus der Normmaterie der Erfolgsdelikte ausscheiden wollen. Hierzu - und zur zutreffenden Ablehnung dieser Auffassung - S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 59 m.w.N. und noch eingehend unten § 1 V. 84 S. Kindhäuser, Gefährdung, S. 29. 85 Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 13. 86 Aus Sollensnormen "fließen" also in der Tat Wollenspflichten; krit. Horn, JZ 1990, 333 (334); s. noch unten Fn. 162. 87 Vgl. Hruschka, in: Larenz-FS (1983), S. 257. - Als dritte und vierte Bedingung sind zu nennen: Es darf (nach der Vorstellung des Täters) keine Kollision mit einer vorrangigen Erlaubnis- oder Freistellungsnorm vorliegen, und das Ergreifen der (nach der Vorstellung des Täters) normgemäßen Handlungsalternative muß situationsangemessen gewesen sein; eingehend zum zuletztgenannten Gesichtspunkt unten § 6 I.

§ 1 Norm und Normwidrigkeit

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tens muß es entsprechend dem Satz "impossibilium nulla obligatio" dem Täter nach seinem Wissen und Können möglich gewesen sein, die normgemäße Handlungsalternative zu ergreifen. 5. Bestimmungs- und Bewertungsnorm, Erfolgs- und Verhaltensunrecht Es ist mithin festzuhalten, daß Norm- und Pflichtwidrigkeit logisch distinkte und keinesfalls notwendig deckungsgleiche Begriffe sind88. Zugespitzt formuliert: Normwidrigkeit ist eine objektive, Pflichtwidrigkeit eine personale Kategorie89. Der Sache nach entspricht die Unterscheidung derjenigen der h.L. zwischen den das Delikt konstituierenden Aspekten der Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung - im hier zuerundegelegten Verständnis: der Normwidrigkeit - und der Pflichtverletzung . Es ist durchaus anerkannt, daß die Pflichtverletzung mehr als eine Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung voraussetzt, nämlich einen "Gesinnungsfehler" bzw. einen "Handlungsunwert"91. Der hier bestehende inhaltliche Unterschied wird dann freilich durch die Wendung eingeebnet, das Delikt sei "zugleich" Rechtsguts- und Pflichtverletzung - was z.B. für den (insbesondere: untauglichen) Versuch nicht stimmt92. Der zwischen Norm und Pflicht bestehende Unterschied kann nicht dadurch aus der Welt geschafft werden, daß die (Verhaltens-)Norm einerseits als Bewertungsnorm - welche die Handlungsfähigkeit, also das Wissen und Können außer Acht läßt - und andererseits als Bestimmungsnorm - welche sich an die Rechtsunterworfenen wendet und deshalb deren Handlungsfähigkeit in Rechnung stellen muß - verstanden wird 93. Präzisiert wurde die hergebrachte Unterscheidung zwischen Bestimmungs- und Bewertungsnorm 94 durch Armin Kaufmann, der ein dreistufiges Modell der Normengenese entwickelt hat95. Die logisch erste Wertung bei der Genese von Nor88 Mißverständlich daher Hruschka, in: Larenz-FS (1983), S. 257 (265): "Da jeder, der ein Delikt, d.h. eine als rechtswidrig zu beurteilende Tat begeht, damit zugleich eine Pflicht verletzt, die ihm das Recht auferlegt hat ..."; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 93: "Zuwiderhandlung gegen ein Gebot, d.h. Verletzung einer Handlungspflicht"; Herv. jeweils v. Verf.

89

Das Anliegen des Finalismus und der personalen Unrechtslehre ist also auf der Ebene der9Pflichtwidrigkeit zutreffend, nicht aber auf der Ebene der Normwidrigkeit. 0 LK-Jescheck, Vor § 13 Rdnrn. 5 ff.; S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnrn. 8 ff.; je m.w.N. 91 Vgl. LK-Jescheck, Vor § 13 Rdnr. 10 f.; S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 11. 92 Zutreffend S/S-Lenckner, wie vorige Fn.: "Zum anderen kann ein Verhalten auch strafbar sein, obwohl es im Einzelfall an der Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsguts fehl (untauglicher Versuch)"; Herv. v. Verf. - Näher unten § 2 III 4. 93

So aber insbesondere Wolter, Zurechnung, S. 46 ff., 48 ff. Grundlegend Mezger, GS 89 (1924), 207 (bes. 241); ders. t Strafrecht, S. 193 ff.; näher Münzberg, Verhalten und Erfolg, S. 49 f. mit umf. Nachw. in Fn. 98. 95 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 69 ff. 94

Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

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men sei stets positiv; sie bewerte bestimmte Zustände und Eigenschaften als rechtlich geschütztes Gut, als Rechtsgut. Die Summe dieser Bewertungen schaffe den "rechtlich gebilligten Zustand", das Sein-Sollen. Mit sachlicher Notwendigkeit folge aus dieser positiven Bewertung die negative Bewertung von Ereignissen, welche die Rechtsgüter beeinträchtigen (und die positive Bewertung von Ereignissen, welche Rechtsgüter schützen und erhalten), wobei es gleichgültig sei, ob diese Ereignisse auf menschliches Verhalten oder auf Naturkräfte (!) zurückgehen; es könne hier von "Sachverhaltsunwert" gesprochen werden. Nun dränge aber das Werturteil zur Verwirklichung; aus dem Sein-Sollen werde ein Tun-Sollen. Daher werden aus den Ereignissen der zweiten Stufe diejenigen herausgefiltert, die "Menschenwerk" - und zwar: finales Werk - seien. - Nun sind aber die ersten beiden Bewertungsstufen sicherlich nicht logisch gestuft; die negative Bewertung der Rechtsgutsverletzung ist die auf derselben logischen Ebene erfolgte Negation der positiven Bewertung des Rechtsguts. Fragwürdig ist es aber auch, eine logische Stufe der "Überganges" vom Sein-Sollen zum Tun-Sollen zu schaffen. Abgesehen davon, daß bei Armin Kaufmann hier auf erkenntnistheoretisch problematische Ansätze - ontologisch immanente Tendenzen zur Verwirklichung des Wertes - zurückgreifen muß96, wird das Rechtsgut in den Normen eben nicht schlechthin, sondern nur gegen menschliches Verhalten geschützt. Der Gesetzgeber bewertet den - z.B. auf Naturereignisse zurückgehenden - Schaden, der bloßes "Unglück", nicht "Unrecht" darstellt, überhaupt nicht; das (moderne) Recht ist nur an menschlichen Verhaltensweisen interessiert 97. Der Unterschied zwischen Bewertungsnormen und Bestimmungsnormen als Verhaltensnormen besteht nach hier vertretener Auffassung nur darin, daß die normativen Operatoren der ersteren die axiologischen Grundbegriffe "gut" und "schlecht" ("wertvoll" und "wertwidrig") sind, diejenigen der letzteren die deontologischen Grundbegriffe "verboten", "geboten", "erlaubt" oder "freigestellt" sind. Insofern haben Bestimmungs- und Bewertungsnorm verschiedene pragmatische Funktionen (zu bestimmen oder zu bewerten); den auf der logischen Ebene liegenden Norminhalt betrifft diese Unterscheidung nicht. Vielmehr schafft der Gesetzgeber mit den Straftatbeständen uno actu das Gesetz, die hierin ausgedrückte Verhaltensnorm und die rechtlich verbindliche positive Bewertung des Rechtsguts bzw. die negative Bewertung rechtsgutsverletzenden Verhaltens. Eine logische Vorrangbeziehung zwischen der Interpretation des Strafgesetzes als Bewertungs- oder als Bestimmungsnorm gibt es nicht99. 96

97

Armin Kaufmann bezieht sich hier auf Nicolai Hartmann.

Was nicht bedeutet, daß nicht durch verbotene Handlungen (oder gebotswidrige Unterlassungen) geschaffene Zustände als "rechtswidrig" bezeichnet werden können; vgl. Beling, Verbrechen, S. 170 ff. QO So bereits Welzel, ZGesStaatsWiss 97 (1937), 381 (382); vgl. auch Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 78, 82 f: Ein nur der Bewertungs-, nicht der Bestimmungsnorm widersprechendes Verhalten sei nicht denkbar. 99

Freilich kann die Bestimmungsnorm nicht als Verhaltensnorm, sondern als Kriterium der Bindung eines Adressaten an die Norm verstanden werden. In diesem Falle ist die Be-

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§ 1 Norm und Normwidrigkeit

Die Unterscheidung zwischen Bestimmungs- und Bewertungsnorm lebt allerdings für die Erfolgsverletzungsdelikte in der heute allgemein anerkannten Trennung von Erfolgsunrecht oder -unwert und Verhaltens-(Akt-) unrecht oder -unwert fort 1 . Ein isoliertes Erfolesunrecht in des Wortes eigentlicher Bedeutung kann es aber nicht geben10: Daß ein in der Norm ausgedrückter Erfolg eingetreten ist - z.B. ein Mensch gestorben ist -, interessiert das Recht nicht; insofern liegt zunächst kein Unrecht, sondern nur ein Schaden vor. Vielmehr kommt es zudem darauf an, daß dieser Erfolg als Veränderung kausal durch ein menschliches Verhalten (Tun oder Unterlassen) erklärt werden kann. Allgemein formuliert ist (erfolgsverletzungsverbots-)normwidrig und rechtlich verboten ein Verhalten, das die Eigenschaft aufweist, einen tatbestandsmäßigen Erfolg verursacht zu haben102, nicht (nur) ein solches, welches ein "rechtlich mißbilligtes Risiko" für das geschützte Rechtsgut geschaffen hat103. III Der Grund der Verhaltensnormen

(Rechtsgut und Norm)

1. Rechtlich Gutes, Richtiges, Gebotenes Allgemein gesprochen ist der Grund - im Sinne von (legitimierender) Begründung - der Normen, daß das gebotene Verhalten für sich selbst oder dessen Folgen für gut 104 oder rechtlich richtig gehalten werden. In diesem Sinne können die Straftatbestände des Besonderen Teils - wie bereits erwähnt - sowohl als deontologische Bestimmungsnormen - insbesondere als Verbote und Gebote - als auch als axiologische Bewertungsnormen stimmungsnorm ihrem Inhalt nach mit der Pflicht identisch; sie ist kein Verpflichtungsgrund für Handlungen, sondern die Pflicht selbst. Ein derartiger Sprachgebrauch - der übrigens der (überwundenen) Imperativentheorie des Rechts entspricht - verdeckt freilich die sachlichen Differenzen zwischen Norm und Pflicht und sollte deshalb mit Kindhäuser (Gefährdung, S. 58 in Fn. 24) vermieden werden. 100 Vgl. Jescheck, Lehrbuch, S. 6 f.; S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnrn. 52 ff.; Maurach-Zipf, AT 1, § 17 Rn. 1 ff., bes. 6; je m.w.N. Im einzelnen ist der Begriff des "Handlungs-" oder "Verhaltensunwertes" inhaltlich durchaus umstritten. Neben Ansichten, die vorrangig auf Gesinnungselemente wie den "Abfall vom Rechtsgehorsam" abstellen - so z.B. LK-Jescheck, Vor § 13 Rdnr. 11 - und damit sachlich der Schuld zugehörige Aspekte in den Tatbestand verlagern, stehen Ansätze, die den "Intentionsunwert" für entscheidend halten - so z.B. Rudolphi, in: Maurach-FS, S. 51 (57) -, wobei problematisch bleibt, weshalb beim Fahrlässigkeitsdelikt ein "Intentionsunwert" vorliegen soll. 101 Kindhäuser, Gefährdung, S. 60. 102 Deshalb treffen die Ansätze (z.B. Hirsch, ZStW 94 , 239 ), die den Erfolg bereits in den "Handlungsunwert" miteinbeziehen wollen, grundsätzlich zu. Zur hiermit gemeinten Lehre von Frisch eingehend unten § 1 V. 104

Zur Sprachanalyse des Begriffs "gut" vgl. Ricken, Ethik, Rdnrn. 66 ff. mit umf. Nachw.; im Zusammenhang des strafrechtlichen Rechts"gutes" Kindhäuser, Gefährdung, S. 138 ff.

Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

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interpretiert werden 105. In beiden Formen sind die Normen Maßstäbe für das Verhalten von Menschen. Diese Maßstäbe haben freilich unterschiedliche pragmatische Funktionen106: Während Verhaltensnormen der Verhaltensorientierung dienen und deshalb auf die deontologischen Grundbegriffe (sollen, müssen, Verbot, Gebot usf.) zurückgreifen, ermöglichen Bewertungsnormen eine Bewertung und verwenden deshalb die ätiologischen Grundbegriffe (gut, schlecht, wertvoll, wertwidrig) 107. Festzuhalten ist, daß sich Bestimmungs- und Bewertungsnormen nur durch den unterschiedlichen Modus des normativen Operators unterscheiden; der Norminhalt (die deskriptive Verhaltensbeschreibung des gesollten oder guten Verhaltens) ist derselbe108. Dementsprechend wird hier der üblichen Unterscheidung zwischen formeller und materieller Rechtswidrigkeit - zwischen dem "formellen" Widerspruch zur Verhaltensnorm und der "materiell" den Grund der Verhaltensnorm bildenden Verletzung des Rechtsguts109 - keine weitere inhaltliche Bedeutung zugemessen110. 2. Rechtsgüter Der Grund strafrechtlicher Verhaltensnormen wird nach allgemeiner Ansicht im Rechtsgüterschutz - Schutz der Rechtsgüter vor Verletzung oder Gefährdung - erblickt 111: Das strafrechtliche Ver- oder Gebot eines Verhaltens muß durch den Schutz eines Rechtsguts begründbar sein; dieses Rechtsgut muß nach seinem Gewicht der durch ein Ver- oder Gebot eingeschränkten allgemeinen Handlungsfreiheit 112 vorgehen. Allgemein gesprochen nennt die Strafrechtsnorm "Bedingungen, unter denen bestimmte ... Schutzinteressen ubiquitären Handlungsinteressen vorgehen"113. Im ganz klassischen Verständnis grenzen die Verletzungsverbote mithin Freiheitssphären gegeneinander ab; sie bestimmen das rechtliche "Gleichgewicht" der

105

106

Kindhäuser, Gefährdung, S. 143 und 150 f.

Weinberger, Norm und Institution, S. 60 f. Vgl. zur Unterscheidung zwischen deontologischen und axiologischen Begriffen Weinberger, Norm und Institution, S. 55,57. 107

108

Ebenso Binding, Normen, Bd. II, S. 128 u. Bd. IV, S. 363; Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 75; Welzel, ZGesStaatsWiss 97 (1937), 381 (382). 109 S. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 209. 110 Krit. zur Trennung zwischen formeller und materieller Rechtswidrigkeit auch S/SLenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 50. 111 S. nur S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 10 m.w.N.; krit. für die (insbesondere abstrakten) Gefährdungsdelikte Kindhäuser, Gefährdung, S. 10, 225 ff. 112 Bzw. den sonst betroffenen Grundrechten; z.B. bei §§ 185 ff. der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und bei § 218 dem Persönlichkeitsrecht des Frau (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG); näher hierzu Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 50 ff. mit umf. Nachw. aus der Rspr. des BVerfG. 113 Kindhäuser, Gefährdung, S. 13.

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Interessen114. Hingegen kann der Grund von Verhaltensnormen - entgegen der Jakobsschen Lehre vom "Strafrechtsgut" 115 - nicht darin erblickt werden, daß deren Geltung gesichert werden soll, da diese Begründung auf eine Tautologie hinausliefe: Es wäre dann der legitimierende Grund geltender Normen, daß sie gelten sollen116. Allerdings ist die Rede vom Rechtsgut als Grund der Verhaltensnormen vor dem Hintergrund der gängigen Unterscheidung zwischen "Handlungs-" oder 'Tatobjekt" einerseits und "Rechtsgut" andererseits 117 erläuterungsbedürftig. Nach dieser Lehre besteht das normwidrige Verhalten bei Verletzungsdelikten in der Verletzung des Handlungsobjekts, ist nicht aber im strengen Sinne Verletzung des Rechtsguts, welches als "ideeller", "geistiger" Wert der Sozialordnung dem Zugriff des Täters entzogen sei. "Verletzt" werde nicht das Rechtsgut als solches, sondern der aus ihm fließende "Achtungsanspruch". Hieran trifft zu, daß die (juristische) Geltung der Norm - welche auch als Bewertungsnorm interpretiert werden kann durch das Delikt nicht in Frage gestellt wird; die Bewertung des Rechtsguts als gut kann der Täter in der Tat nicht beeinträchtigen. Dies zwingt aber keineswegs zu der Schlußfolgerung, die Rechtsgüter selbst seien als "ideelle" Güter unverletzlich. Sprachanalytisch gesehen 1 8 sind Rechtsgüter wie z.B. Leben oder Gesundheit Allgemeinnamen für die ganz realen und "materiellen" Eigenschaften, zu leben oder gesund zu sein: Wer bei einem Verkehrsunfall "an der Gesundheit beschädigt" wurde (§ 223 Abs. 1), verweist nicht auf ein immaterielles Gut, sondern auf einen empirischen Befund. Allgemeiner ist eine Rechtsgutsverletzung die Beeinträchtigung oder Aufhebung der im Rechtsgut benannten werthaften Eigenschaft; diese Eigenschaft ist im Falle der Lebens- und Leibesverletzungsdelikte eine ganz "natürliche" 119, faktisch-empirische, nämlich zu leben oder gesund zu sein. Dabei sind die jeweils geschützten Güter nicht unter dem Vorbehalt finaler Eingriffe schutzwürdig: Das "Gleichgewicht" der Interessen wird durch jede - auch die nicht finale und nicht zurechenbare - Verhaltensweise, die

114

Zu dieser Deutung der Normen als "distributiv vorteilhafte Koordinationsregeln" näher Kindhäuser, Gefährdung, S. 146 ff. - Ähnlich auch die Lehre von Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (753 f.), wonach der Bürger "von vornherein auch durch ein Recht auf eine von Kontrolle freie115Sphäre definiert werden" soll. Jakobs, Strafrecht, 2/1 ff. 116 Zur korrekten Lozierung des Jakobsschen "Strafrechtsguts" als Grund der Sanktionsnormen und Zurechnungsregeln eingehend unten § 2 II. 117 S. nur Jakobs, Strafrecht, 2/6; Jescheck, Lehrbuch, S. 233 f.; Maurach-Zipf, AT 1, § 19 Rdnrn. 14 ff. 118 Näher zum folgenden Searle, Sprechakte, S. 182 ff.; die Übertragung ins Strafrecht hat Kindhäuser, Gefährdung, S. 137 ff. geleistet. 119 Zur sprachanalytischen Unterscheidung zwischen "natürlichen" und "konventionalen" Eigenschaften Kindhäuser, Jura 1984,465 (466 ff.) m.w.N.

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das Strafrechtsgut verletzt, gestört. Diese - bereits von Binding120 vertretene - Auffassung entspricht insbesondere der herrschenden verfassungsrechtlichen Dogmatik zu den Grundrechtsverletzungen. Während die früher h.L. unter (Grund-)Rechtseingriffen bzw. (Grund-)Rechtsverletzungen nur (potentiell) finale Eingriffe verstand121, dringt nunmehr die Auffassung vor, der Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter sei nur dann effektiv, wenn er sich auch gegen nicht finale Beeinträchtigungen richtet 122. Auch in der (Zivil-) Rechtsprechung ist seit längerem anerkannt, daß Enteignungsentschädigungs- und Aufopferungsansprüche im Bereich der Beeinträchtigung von Leib, Leben und Eigentum nicht an (potentiell) finale Eingriffe gebunden sind123. 3. "Vollständige" Legitimation Freilich taugt der Aspekt des Rechtsgüterschutzes nur zu einer gleichsam "isolierten" Normbegründung. Zudem muß bedacht werden, daß die Forderung der Norm nach Geltung im Sinne handlungswirksamer Anerkennung vom Täter mehr verlangt als die Intention, normgemäß zu handeln; der Täter muß die Realisierung aller anderen - auch nützlicher - Intentionen unterlassen, die mit der Intention, den Deliktstatbestand nicht zu verwirklichen, unvereinbar sind124. Beispielsweise muß der Warenhersteller wegen §§ 222, 230 seine - an sich berechtigten - Rationalisierungsinteressen zugunsten einer hinreichenden (ggf. personal- und kostenintensiven) Produktkontrolle hintanstellen125. Gerade bei der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit wird zudem verlangt, daß der Täter sogar für seine Fähigkeit zur Normbefolgung Sorge trägt. Deshalb muß für eine gleichsam "vollständige" Legitimation berücksichtigt werden, daß die Verhaltensnormen in Deliktstatbeständen von Sanktionsnormen in Bezug genommen werden 126. Daher kann nicht jede "isoliert" begründbare Norm Sira/rechtsnorm sein; strafrechtlich legitim können nur solche Normen sein, bei denen die strafrechtliche Sanktionierung als Reaktion auf einen zurechenbaren Normverstoß gerechtfertigt ist. "Vollständig" begründet sind strafrechtliche Verhaltensnormen also erst, wenn auch die 120

Normen, Bd. IV, S. 445: "Keiner solchen (sc. Verletzung von Rechtsgütern) steht die Rechtsordnung gleichgültig gegenüber"; s. weiterhin Kindhäuser, Gefährdung, S. 148 ff. 121 So insbes. Forsthoff, Veiwaltungsrecht, S. 347, 359 ff.; vgl. aus der Rspr. BGHZ 12, 52 (57); 23, 235 (240). 122 Näher Brohm, WDStRL 30 (1972), 253 (271 f.); Murswiek, Risiken, S. 129 f.; Ramsauer, VerwArch 72 (1981), 89 (93); ders., Beeinträchtigungen, passim. 123 Grundlegend BGHZ 37,44 (47); näher Wolff/Bachof, Veiwaltungsrecht, Bd. I, S. 537. 124 Kindhäuser, Gefährdung, S. 151. 125 BGHSt 37,106. 126 Vgl. zum folgenden Kindhäuser, Gefährdung, S. 153 ff.; ähnlich Freund, Unterlassen, S. 85 ff.

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jeweilige Sanktionierung zurechenbaren normverletzenden Verhaltens begründbar ist. Insofern ist ein Ansatz für die Erklärung des "ultima ratioPrinzips" gewonnen, wonach strafrechtliche Verhaltensnormen nur zum Schutz wichtiger - und im System der strafrechtlichen Rechtsgüterordnung auch vergleichbar wichtiger - Rechtsgüter aufgestellt werden dürfen 127. Allerdings hat diese "vollständige" Begründung der Normen bei den gesetzlichen vertypten Tatbeständen nur eine theoretische Bedeutung (und spielt de lege ferenda eine Rolle). Die gesetzgeberische Entscheidung, eine Norm als strafschutzwürdig zu bewerten, ist im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen ebenso hinzunehmen wie diejenige, sie nur ins Ordnungswidrigkeitenrecht aufzunehmen 128. Der Gesichtspunkt der "vollständigen" Begründung von Normen wird aber bei den unechten Unterlassungsdelikten und insbesondere bei der Entsprechensklausel des § 13 von Bedeutung sein129. IV. Die Normwidrigkeit

(zum Inhalt der Verhaltensnormen)

1. Normwidrigkeit und Tatbestandsmäßigkeit Normwidrig im hier zugrundegelegten Sinne ist ein Verhalten, das sich unter die Tatbestandsseite des jeweiligen Straftatbestands im Besonderen Teil subsumieren läßt. Insofern ist die Normwidrigkeit eine logisch-deduktiv und ex post130 getroffene Feststellung, die entsprechend dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes die objektiven Merkmale des Täterverhaltens sowie besondere subjektive Normmerkmale wie etwa Absichten131, nicht aber die - der logisch und teleologisch distinkten Ebene der Pflichtwidrigkeit angehörenden - allgemeinen subjektiven Merkmale der Straftat wie Vorsatz oder Fahrlässigkeit und auch nicht die (subjektiven) Schuldmerkmale zugrundelegt. Hierin liegt nur auf den ersten Blick eine Parallele zu der - zu Recht überwundenen - klassischen Verbrechenslehre, nach welcher das strafrechtliche Unrecht nur durch objektive ("äußere"), die Schuld nur durch 177

BVerfGE 39, 1 (47); vgl. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 3. - Insofern der Vorrang anderer rechtlicher Schutzmechanismen - z.B. zivil- oder verwaltungsrechtlicher Art - begründet werden soll, ist das ultima ratio-Prinzip wegen der Inkomparabilität von Strafe und NichtStrafe problematisch; vgl. Jakobs, Strafrecht, 2/26 ff.; Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 52 (u. bereits in Tatbestandsfunktionen, S. 144 ff.; JZ 1986, 865 ); Verf., GA 1990, 241 (257 ff.); je m.w.N. i ja

BVerfGE 22, 49 (81) u. 22, 125 (133). - Zu den Grenzen des gesetzgeberischen Einordnungsermessens, insbesondere zu den Fällen des "Etikettenschwindels", vgl. Jescheck, Lehrbuch, S. 53 in Fn. 33; Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 32. 129 Eingehend unten § 4 III 3. 130

Kindhäuser, Gefährdung, S. 53; s. zum Streit hierum aber noch unten § 1 V 1. mit Fn. 157.1 3 1 Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 99. 4 Vogel

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subjektive ("innere") Merkmale konstituiert wird 132 : Die Feststellung der Normwidrigkeit - also des Verbotenseins eines Tuns oder des Gebotenseins eines Unterlassens - darf nicht mit derjenigen des Vorliegens zu verantwortenden strafrechtlichen Unrechts und der Rechts- als Pflichtwidrigkeit verwechselt werden 133. 2. Verletzungsverursachungsverbote Insbesondere zu den Erfolgsverletzungsdelikten (etwa der §§ 212, 222 bzw. 223, 230) schließt sich die vorliegende Konzeption damit der Auffassung Bindings an, nach welchem die Normen etwa der genannten Tatbestände lauten: "Verursache nicht den Tod (bzw. die Körperverletzung) eines anderen"134. Gegen Bindings Normkonzeption wurde nun seit je her eingewendet, daß die Normen in der Fassung von Erfolgsverletzungsverursachungsverboten viel zu weit gefaßt wäre, da dann nach der im Strafrecht herrschenden Äquivalenzlehre von der Verursachung jedes Verhalten normwidrig wäre, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß die Verletzung entfiele; somit müßte etwa die Zeugung des Totschlägers (und auch des Opfers!) ebenso wie die Produktion eines bei einem Totschlag verwendeten Tatwerkzeuges normwidrig sein. Wie Puppe135 gezeigt hat, läßt sich der Einwand aber unter Rückgriff auf eine handlungstheoretische Präzisierung dessen, was mit dem "(konkreten) tatbestandsmäßigen Erfolg" 136 der Verletzungsdelikte gemeint ist, ausräumen. Auf den ersten Blick scheint der Erfolg ein Zustand zu sein - z.B. des Opfers, tot oder verletzt zu sein. Wird aber auf die handlungstheoretische Figur des "Handlungsergebnisses" zurückgegriffen 137, so erweist sich, daß der Erfolg genaugenommen eine Veränderung von Zuständen, und zwar eine für das Rechtsgut - z.B. Leben oder Gesundheit - nachteilige Veränderung darstellt. Wird nun die Kausalitätsfrage dahin präzisiert, daß gerade diese Veränderung kausal erklärt werden muß, so ist zunächst irrelevant, weshalb der Ausgangszustand bestand, weshalb also das Opfer lebte oder gesund war. Irrelevant ist aber auch die Frage, warum der Täter existierte, und auch, warum das Tatmittel existierte 138. AIP dies sind hinzunehmende Antecedensbedingungen, die für

132 1 3 3Vgl.

nur die Darstellung b. Jakobs , Strafrecht, 6/6 f. m.w.N. S. bereits oben § 1 II 4. Binding, Normen, Bd. I, S. 15 ff. 135 Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (878 ff.) im Anschluß an E. A. Wolff , Kausalität, S. 21 ff. u. Wälder , SchwZStr 93 (1977), 113 (123); vgl. weiterhin Kindhäuser , Gefährdung, S. 50, 88 f. 136 Zur Lehre vom "Erfolg in seiner konkreten Gestalt" Engisch , Kausalität, S. 9 ff.; Samson, Hypothetische Kausalverläufe, S. 30 ff.; Traeger , Kausalbegriff, S. 41; zu Recht krit. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (870 ff.). - Näher unten § 5 I 2. 137 Näher unten § 3 III 3. a.E. 134

138

D.h., warum es produziert wurde. - Relevant kann aber sein, warum das Tatmittel bei der Tat eingesetzt wurde, insbesondere wer es dem Täter verschaffte. Das Produzenten-

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die Veränderung vorausgesetzt werden können139. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der handlungstheoretischen Unterscheidung zwischen Haupt- und Hilfshandlung 140: Hilfshandlungen - wie z.B. das Besorgen eines Messers (für sich selbst oder für Dritte), um eine Körperverletzung zu begehen - können nicht als normwidrige 141 Haupthandlungen interpretiert werden, denn sie bedingen nicht das Ergebnis der Haupthandlung, sondern versetzen den Täter nur in die Lage, die Haupthandlung zu vollziehen - wie z.B. einen anderen zu verletzen. 3. Willkürlichkeit des verbotenen Verhaltens? Allerdings bestimmt die hier vertretene Auffassung den Norminhalt an einem Punkt anders als Binding: Während dieser als Erfordernis der tatbestandsmäßig-normwidrigen Handlung zwar nicht Vorsatz und Fahrlässigkeit, aber doch die willentlich-absichtliche Anstoßung einer Bewegung in Richtung auf den Erfolg ansah142, wird hier auf der Ebene der Normwidrigkeit nicht notwendig143 ein willentliches und nicht einmal zwingend ein willkürliches Verhalten gefordert 144. Dieser Schritt - nach welchem auch verletzende Reflexbewegungen oder Verhaltensweisen eines Schlafenden normwidrig sein können - mag kühn, ja abwegig erscheinen145. Jedoch entspricht es in der Sache der hA., auch unwillkürliches Verhalten zu bestrafen: Erdrückt eine Mutter im Schlaf das zu ihr ins Bett genommene Kind 146 oder fährt ein Kraftfahrer, der zu geringen Abstand zum Vordermann gehalten hat, bei dessen plötzlicher Bremsung als Spielball physikalischer Kräfte auf diesen auf und verletzt ihn, so ist ohne Zweifel gem. §§ 222 bzw. 230 zu bestrafen. Freilich werden diese Fälle von der h.L. dadurch gelöst, daß das tatbestandsmäßig-normwidrige Verhalten vorverlegt wird: Das Tötungsverhalbeispiel ist also erst auf der Ebene der Angemessenheit - genauer: des "erlaubten Risikos" lösbar; eingehend unten § 6 III. 139

Es zeigt sich, daß derartige Voraussetzungen bei der kausalen Erklärung aus pragmatischen Gründen gemacht werden. Die Gesamtheit der insofern vorausgesetzten Tatsachen kann als "kausales Feld" bezeichnet werden; näher Kindhäuser, Gefährdung, S. 85 m.w.N. u. unten § 5 I 3. 140 S. näher unten § 2 III 5. 141 Zur hiermit gemeinten Ablehnung eines extensiven Täterbegriffs unten § 2 IV 1. 142

ff.

Binding, Normen, Bd. II, S. 3 ff.; näher Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 20 ff., 110 143

Selbstverständlich kann der Gesetzgeber Willensmerkmale - z.B. bestimmte Absichten in den Norminhalt aufnehmen, wie er dies in §§ 242, 253, 263 getan hat; zur Vereinbarkeit von Absichten mit dem hier vorgelegten Normenmodell Kindhäuser, Gefährdung, S. 99. 144 Ebenso Kindhäuser, Gefährdung, S. 95 f. 145 Immerhin ist er auch von Herzberg gegangen worden, der (Unterlassung, S. 179 ff.) nicht allein auf die Finalität, sondern sogar auf die Willentlichkeit verzichtet, vgl. aaO., S. 173 mit dem Beispiel, daß ein aus der Nase Blutender ein Sofa beschmutzt und dadurch beschädigt (§303). 146 Vgl. das ähnliche Beispiel b. Wessels, Strafrecht, S. 27. 4*

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ten der Mutter liege darin, daß sie das Kind zu sich ins Bett genommen, das Verletzungsverhalten des Kraftfahrers darin, daß er zu geringen Abstand gehalten hat. Anders als beim Vorsatzdelikt sei diese Lösung unbedenklich, da beim Fahrlässigkeitsdelikt der extensive (Einheits-)Täterbegriff gelte14 und das Vorverhalten für den Erfolg jedenfalls kausal werde: Wird hinweggedacht, daß die Mutter das Kind ins Bett nahm, oder hinzugedacht, daß der Kraftfahrer hinreichenden Abstand hielt, so entfällt der Erfolg. Bereits Binding selbst hat aber darauf hingewiesen, daß diese Kausalitätsbehauptung auf einer "benignissima interpretatio" des Täterverhaltens beruht 14 : Es wird nämlich unterstellt, daß der Täter sich nach Vornahme der Vorsorgehandlung weiterhin rechtstreu verhalten hätte. Dies ist aber eine belastende und deshalb in dubio pro reo auszuschließende Unterstellung: Behauptet z.B. der Kraftfahrer, er wäre auf den Vordermann - seinen Intimfeind - auch willentlich aufgefahren, so fehlt es an der Kausalität des Vorverhaltens 149. Zu Recht besteht Binding darauf, daß der Irrtum nicht das rechtswidrige Handeln verursacht, sondern vielmehr den Grund seiner unbewußten (oder unwillkürlichen) Begehung bildet150. Allgemeiner gesprochen fehlt es an einem formulierbaren gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem Vorverhalten und dem tatbestandsmäßigen Erfolg 151: Kinder sterben nicht daran, daß sie zur Mutter ins Bett genommen werden, sondern daran, daß sie erdrückt werden und ersticken; und daß das Kind ins Bett genommen wurde, ist wiederum keine kausale Erklärung dafür, daß sich die Mutter im Schlaf umgewendet hat und das Kind erstickte. Im Grunde stellen sich hier dieselben Fragen wie bei der "Vorverlagerungsdoktrin" zur "actio libera in causa"152. Im Kern leidet die Vorverlagerungsdoktrin daran, daß die Auslegung der hA. die Grenze der - beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht anders als beim Vorsatzdelikt zu bestimmenden153 - tatbestandlichen 147

Vgl. hierzu nur LK-Roxin, § 25 Rdnrn. 156 ff. mit umf. Nachw. - S. noch sogleich unten Fn. 148 154. 149 Binding, Normen, Bd. IV, S. 370; übereinstimmend Kindhäuser, Gefährdung, S. 124 f. Der naheliegende Einwand, hier werde unzulässigerweise eine hypothetische Reserveursache hinzugedacht, trifft nicht zu. Abgesehen davon, daß das Verbot des Hinzudenkens hypothetischer Reserveursachen so wissenschaftstheoretisch nicht haltbar ist - es muß in jedem Fall ein hypothetischer Verlauf hinzugedacht werden, z.B. daß das Herz des Erstochenen ohne den Stich weitergeschlagen hätte; s. hierzu noch unten § 5 1 2 . - , muß bei der Bestimmung des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges immer ein hypothetischer Sachverhalt hinzugedacht (und nicht nur die Sorgfaltswidrigkeit hinweggedacht) werden. Daß aber diesem Sachverhalt stets eine rechtstreue Motivation zugrundegelegt werden muß, ist auf Norm- und Kausalitätsebene (anders als auf der Ebene der Pflichtwidrigkeitsbestimmung!) nicht begründbar, aj\. aber Bloy, DRspr. 1190,1733 (1734); Samson, Kausalverläufe, S. 102 ff., 125 ff., 136150 ff. Binding, Normen, Bd. IV, S. 370 f.; übereinstimmend Kindhäuser, Gefährdung, S. 94 f. 151 Zu demselben Problem bei der "actio libera in causa" Neumann, Zurechnung, S. 26. 152

Eingehend hierzu Neumann, Zurechnung, S. 25 ff. mit umf. Nachw. pro et contra. Die Verhaltensnormen sind beim Vorsatz- wie beim Fahrlässigkeitsverletzungsdelikt nämlich dieselben, s. bereits Binding, Normen, Bd. IV, S. 341. 153

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Verhaltensbeschreibung sprengt. Daß die Mutter das Kind ins Bett genommen hat bzw. der Kraftfahrer zu wenig Abstand gehalten hat, kann nicht als Tötungs- oder Verletzungsverhalten angesehen werden 154. Nach dem Modell der Haupt- und Hilfshandlung liegt eine bloße Hilfshandlung vor; hierfür kann als Test der Vergleich zu vorsätzlichem Handeln eingeführt werden 155: Die Mutter, die das Kind töten will, kann dies nicht dadurch tun, daß sie das Kind ins Bett nimmt; der Kraftfahrer kann den Vordermann nicht dadurch verletzen, daß er zu nah auffährt; in beiden Fällen liegt - dogmatisch gesprochen - noch nicht einmal ein Ansetzen zum Versuch vor. Ist aber die "Vorverlagerungsdoktrin" auch im Bereich der Fahrlässigkeit nicht haltbar, so muß das - auch unwillkürliche - Verhalten selbst normwidrig sein, da jede Vollendungsstrafbarkeit ein normwidriges Verhalten zwingend voraussetzt. V. Einwände gegen das hier zugrundegelegte "objektive"

Normenkonzept

1. Die Kritik von Frisch, Kuhlen und Freund Der gewichtigste Einwand gegen Bindings "objektive" Normenauffassung lautet, daß das hier der Pflichtwidrigkeit zugewiesene Kriterium der Handlungsfähigkeit (Wissen und Können des Täters) bereits in die Normgenese und in den Norminhalt eingehen muß: Normen seien nur sinnvoll, wenn sie - sei es nach einem generalisierten Maßstab des "Menschen-" und "Jemandmöglichen", sei es sogar nach dem Maßstab des individuell Möglichen befolgbar sind156. Die dem Finalismus verpflichtete Variante dieses Einwands lautet, daß verboten nur ein finales, d.h. auf die Herbeiführung des Verletzungserfolges gerichtetes oder jedenfalls richtbares Verhalten bzw. geboten nur ein final auf die Abwendung des Erfolges gerichtetes oder richtbares Verhalten sei. Der Einwand kann schärfer so formuliert werden: Normen müssen ex ante handlungsorientierend wirken. Dieser Zweck wird verfehlt, wenn ein nicht einmal "menschen-" oder "jemandmögliches" Verhalten gefordert wird. Damit sind insbesondere echte Verletzungsverursachungs- oder Verletzungsabwendungsgebote keine sinnvollen Normen: Da die Eigenschaft eines Verhaltens, die Verletzung (den tatbestandsmäßigen Erfolg) verursacht zu haben, nur ex post festgestellt werden kann, kann der Verursacher nicht im entscheidenden Zeitpunkt ex ante durch die Norm motiviert werden, da er (noch) nicht um die Tatbestandsmäßigkeit seines Tuns wissen kann. Wird konsequent die ex ante-Sicht eingenommen, so 154

Das Argument, bei der Fahrlässigkeit gelte der Einheitstäterbegriff und deshalb seien auch Hilfs- (dogmatisch: Beihilfe-)handlungen normwidrig, sticht nicht, da die Beihilfe ein Zurechnungs-, kein Normproblem ist; näher unten § 9 I. 155 Der "Versuch" eines Fahrlässigkeitsdelikts ist begrifflich denkbar (wenn auch de lege lata straflos), vgl. Jescheck, Lehrbuch, S. 517. 156 Vgl. nur S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 54.

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müssen die Normen lauten, daß ein zur Herbeiführung der Verletzung geeignetes - und das heißt: gefährdendes - Verhalten verboten ist157. In besonderer Deutlichkeit und Schärfe hat Frisch diesen Standpunkt verfochten 158. Frisch bezeichnet es als "heute anerkannt", daß die bloße Verursachung jedenfalls beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht als "tatbestandsmäßiges" normwidriges Verhalten genügt. Vielmehr sei Kern des tatbestandsmäßigen Verhaltens und der Verhaltensnormwidrigkeit - und zwar auch beim Vorsatzdelikt 159 - die Schaffung eines objektiv mißbilligten Risikos. Für dessen Bestimmung sei das ex ante-Urteil maßgeblich160. Demgegenüber sei die Risikorealisierung im Erfolgseintritt - die wahre Heimstatt der Lehre von der "objektiven Zurechnung" - ein "sanktionskonzept-spezifisches zusätzliches Erfordernis der Sanktionsnorm Verletzung"161. Die vom (späteren) Eintritt des Erfolgs unabhängige ex ante-Fassung der Verhaltensnorm sei schon logisch dadurch bedingt, daß ein noch nicht vorhandener Erfolg nicht gewußt werden könnte. Speziell gegen die hier im Anschluß an Kindhäuser entwickelte objektive Normenkonzeption haben sich neuerdings Kuhlen und Freund gewendet162. Nach Kuhlen1 ist es ein "gewichtiger Vorzug" der objektiven Konzeption, daß sie eine unproblematische Gewinnung der Normen aus den Tatbeständen ermöglicht. Jedoch biete die Norm dann keinen Maßstab, mit dessen Hilfe der Normadressat in konkreten Handlungssituationen zwischen verbotenen und nicht verbotenen Verhaltensalternativen unterscheiden könne. Insoweit seien die "objektiven" Normen einerseits zu weit (normwidrig seien auch ex ante betrachtet unverbotene Handlungen, wenn der Erfolg eintritt), andererseits zu eng (nicht normwidrig seien auch ex ante betrachtet verbotene Handlungen, wenn der Erfolg ausbleibt). - Auch nach Freund 164 besticht die Auffassung, Verbotsmaterie sei ein Verhalten, das die Eigenschaft 157

Die These, die Normwidrigkeit müsse aus einer (objektiven) ex ante-Sicht bestimmt werden, entspricht der h.L., vgl. nur Kuhlen, GA 1990, 477 (480); Frisch, Verhalten, S. 71 f. m.w.N. 158 Frisch, Verhalten, S. 33 ff.; 71 f.; s. bereits ders., Vorsatz, bes. S. 59. - Eingehende und zust. 159Würdigung des Ansatzes von Frisch b. Wolter, GA 1991,531 ff. Eingehend hierzu Frisch, Verhalten, S. 36 ff. Frisch, Verhalten, S. 71 f. mit umf. Nachw. zu der diesbezüglichen h.L. 161 Frisch, Verhalten, S. 516; s. bereits ders., Vorsatz, S. 57 ff. 162 Weitere Kritik findet sich b. Horn, JZ 1990, 333 f. Nach Horn soll erst nachzuweisen sein, warum die von Binding überlieferte Normentheorie in der Gestalt, die ihr Armin Kaufmann gegeben hat, untauglich sei. Hierzu ist zu bemerken, daß die hier vorgelegte Konzeption weitgehend zu Bindings Modell zurück kehrt und nur bestimmte Modifikationen, die Armin Kaufmann in dessen Modell eingefügt hat, ablehnt. Im übrigen stellt Horn - insoweit im Vorgriff auf die Zurechnungslehre - in Frage, ob - wie im vorliegenden Modell - aus Sollensnormen Wollenspflichten abgeleitet werden können und ob Unrecht wirklich Nichtanerkennung der Norm als Handlungsgrund bedeutet. Beides ist allerdings nach hier vertretener Auffassung der Fall, s. unten § 2 III u. oben Fn. 86. 163 GA 1990, 477 (479 f.). 164 Unterlassen, S. 122 ff. 160

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aufweise, den Erfolg verursacht zu haben, durch ihre Klarheit und Eindeutigkeit. Jedoch sei sie sachlich unangemessen. Da die verfassungsrechtliche Frage der Legitimierbarkeit der Einschränkung von Handlungsfreiheit aus der Perspektive des Normadressaten und ex ante erfolgen müsse, handele es sich bei den - hier den (Sanktions-)Kriterien der Zurechenbarkeit zugeschlagenen - Aspekten der Handlungsfähigkeit um Fragen des "rechtverstandenen Normzwecks". Das Verbot etwa, den Tod eines Menschen zu verursachen, sei überhaupt nicht legitimierbar, da offensichtlich viel zu weitgreifend. Andererseits sei ein derartiges Verbot zu eng, da Beschränkungen der Handlungsfreiheit bereits dann legitimierbar seien, wenn nur mögliche schadensträchtige Verläufe in Frage stünden. 2. Verteidigung gegen die Einwände Demgegenüber ist aber mit Nachdruck daran festzuhalten, daß Erfolgsverursachungsverbote bzw. Erfolgsabwendungsgebote verhaltensorientierend wirken 65 . Ex ante steht fest, wie ein Verhalten nicht sein soll, nämlich nicht ursächlich für den tatbestandsmäßigen Erfolg; offen ist allein, ob das konkrete Verhalten den Erfolg verursachen wird, ob es "verletzungsrelevant" ist. Das Urteil über die Verletzungsrelevanz des konkreten Verhaltens kann aber keine denkbare Verhaltensnorm dem Täter abnehmen, da dieses Urteil ganz auf der konkreten Situation und auf dem Wissen und Können des Täters beruht! Der Täter kann sich insofern sehr wohl an dem Verletzungsverursachungsverbot orientieren, welches er gleichsam als "Obersatz" seinem Verhalten zugrundelegen und nach welchem er im Modell des "praktischen Syllogismus"166 unter Zugrundelegung seines Wissens sein Verhalten einrichten kann: Ergibt sich, daß aus der Sicht des Täters das Verhalten den Verletzungserfolg verursachen wird, so muß der Täter dieses Verhalten unterlassen, um pflichtgemäß zu handeln167. Damit wird hier insbesondere die in ihrer Differenzierung zutreffende Lehre von Frisch kategorial umgekehrt: Die Erfolgsherbeiführung durch ein wie auch immer geartetes Verhalten ist Kern der Verhaltensnorm(widrigkeit), die Qualität des Verhaltens - unter dem maßgeblichen Gesichtspunkt der Vermeidbarkeit und unter Einbeziehung des der Lehre von Frisch ähnlichen Kriteriums der "Anwendungsangemessenheit"168 - Kern der Sanktionsnorm(widrigkeit).

165

Kindhäuser, Gefährdung, S. 61 f.; Tiedemann, in: Baumann-FS, S. 7 (11). S. unten §2 III 3. 167 Die Belastung, daß der pflichtgemäß handelnde Täter auch Verhaltensweisen unterlassen muß, die sich ex post als harmlos, d.h. normgemäß verweisen, ist im Gesetz vorgesehen: Strafbarkeit des (auch absolut) untauglichen Versuchs. Die Gegenansicht belastet freilich den Täter noch über dieses Maß hinaus, indem verletzungsgeeignete, aber nicht verletzende Handlungen sogar als verboten qualifiziert werden! 168 Näher unten § 61. 166

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Die Gegenansicht formuliert letztlich den Norminhalt der Erfolgsverletzungsdelikte in der Weise, daß verboten sei, was nach Ansicht eines - wie auch immer gearteten - Beobachters ex ante betrachtet geeignet ist, die tatbestandsmäßige Verletzung herbeizuführen. Diese Auffassung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zum einen erweitert sie den Bereich des Verbotenen um ein Vielfaches und deutet Verletzungs- in Gefährdungsverbotsnormen um 169 . Gerade das von Freund betonte Verbot nur schadensträchtiger (nicht aber schädigender) Verläufe ist - wie aus der Diskussion um die Legitimierbarkeit abstrakter Gefährdungsdelikte bekannt legitimationstheoretisch besonders problematisch. Zum anderen sind, wie dargelegt, Güter keineswegs nur gegenüber (potentiell) finalen Eingriffen schutzwürdig170. Schließlich trägt die Gegenauffassung eine verfassungsrechtlich unerträgliche Unbestimmtheit in den Norminhalt hinein171: Wessen Eignungsurteil auf wessen Wissensbasis soll denn entscheidend sein? Die im Grunde konsequente Individualisierung des Eignungsurteils führte dazu, daß es so viele Norminhalte wie Individuen gibt. Insofern ist es schwerlich einsichtig, warum die um die Eignungsprognose ergänzte Norm besser der Verhaltensorientierung dienen soll als das eindeutige Verletzungsverursachungsverbot 172.

169

So bereits Binding, Normen, Bd. IV, S. 396 ff. (bes. 400). S. oben § 1 III 2. 171 So bereits Binding, wie Fn. 169. - Insofern ist die von Kuhlen und Freund zugegebene "Eindeutigkeit" der hier vorgelegten Normenkonzeption schon aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 103 Abs. 2 GG) geboten. 170

172

S. hierzu auch Tiedemann, in: Baumann-FS, S. 7 (11); zweifelnd auch Krümpelmann, in: Jescheck-FS (1985), S. 313 (318 f.).

§ 2 Zurechnung als Pflichtwidrigkeit

1. Zurechnung in ihrer umfassenden Bedeutung 1. Zurechnung zur Person Mit der Feststellung der (Verhaltens-)Normwidrigkeit eines Verhaltens im hier zugrundegelegten Verständnis - dogmatisch gesprochen: mit der Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit beim vollendeten Delikt 1 - ist für die Konstituierung der Straftat nur der allererste (und beim Versuch nicht einmal notwendige) Ausgangspunkt gewonnen. Das (beim vollendeten Delikt normwidrige) Verhalten muß als Handlung erst interpretiert werden, es muß der sich verhaltenden Person als Erklärung, das Gesollte nicht zu wollen, zugeschrieben werden. Diese Interpretation oder Zuschreibung wird im folgenden als "Zurechnung" bezeichnet. Zurechnung in dieser umfassenden Bedeutung ist also "Zurechnung zur Person"2 oder "Zurechnung des Geschehens als Werk des Täters"3. Sie zielt pragmatisch darauf ab, den sich Verhaltenden für sein Verhalten verantwortlich (haftbar) zu machen4, während der Vergleich des Täterverhaltens mit der Norm das ganz andere pragmatische Ziel hat festzustellen, ob das Verhalten verboten, geboten, erlaubt oder freigestellt ist. 2. Ältere und neuere Zurechnungslehren Es ist Hruschka zu danken, die begriffsgeschichtlichen Wurzeln des hier gemeinten Zurechnungsbegriffs, nämlich die Imputationenlehre des aufgeklärten Naturrechts 5, aufgedeckt zu haben6. In der berühmten Formulierung Kants ist die "Zurechnung (imputatio) ... das Urtheil, wodurch jemand als 1

2

S. oben § 1IV 1.

Vgl. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 234, nach welchem die Kausalitätsanalyse unbefriedigend ist, weil sie "nur die Zurechnung des Erfolges zur Handlung erklärt, nicht aber auch das, worauf es letztlich ankommt: die Zurechnung zur Person n (Herv. v. Verf.). 3 Vgl. Lorenz , Zurechnungslehre, S. 61. 4 Treffend Bloy, Beteiligungsform, S. 247: "Zurechnung bedeutet im Strafrecht Verantwortlichkeit für eine Handlung ..."; Herv. v. Verf. 5 Die von Pufendorf entwickelt und von Christian Wolff systematisiert wurde; vgl. Jescheck , Lehrbuch, S. 377, 382 f.; Welzel , Strafrecht, S. 38. 6 Hruschka, Strukturen, S. 2 f.; ders., Brigham Young University Law Review 1986, 669 ff.

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Urheber (causa libera) einer Handlung (actio), die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird" 7. Der Schritt von der Handlung oder actio - im hier zugrundegelegten Verständnis: dem Verhalten - zur "That" - im hierzugrundegelegten Verständnis: der (strafbaren) Handlung - muß demnach als Urteil, also als regelgebundener Schluß, verstanden werden. Grund dieses Urteils ist die Freiheit des Täters: "That heißt eine Handlung, ... sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit der Willkür betrachtet wird" 8. "Freiheit der Willkür" meint hier die Möglichkeit, Alternativen zu ergreifen; an dieser Stelle wird also der Satz "impossibilium nulla obligatio" bzw. "impossibilium et necessarium nulla est imputatio"9 relevant. Nachdem die Imputationenlehre - und mit ihr auch die Begriffe der "objektiven" und "subjektiven" Zurechnung - im Laufe des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts gründlich in Vergessenheit geraten war 10, haben vor allem Hardwig 11 und ihm folgend Kahrs die Zurechnung als Grundkategorie des Strafrechts wiederentdeckt13. Beide stellen zu Recht die Zurechnung auf den Boden des Vermeidbarkeitsprinzips, wonach ein (rechtswidriges) Geschehen einem Rechtssubjekt dann zuzurechnen ist, wenn das vom Recht Gebotene oder Verbotene ihm als Verpflichtetem zu tun oder zu unterlassen möglich war, sofern es dies gewollt hätte14. Wenn dann freilich gesagt wird, die Vermeidbarkeit bestehe nicht in einem bloßen faktischen Vermeidenkönnen des Erfolges (oder allgemeiner: des tatbestandsmäßigen Verhaltens), sondern in der Vermeidbarkeit der Verletzung einer Vermeidepflicht 15, so wird das vom Recht Geforderte - Verbotene oder Gebotene mit der Vermeidbarkeit als Kriterium der Zurechnung des vom Recht 7

Kant, Metaphysik der Sitten - Rechtslehre, AB 29. - Es ist bemerkenswert, daß in dieser allgemeinen Formulierung nicht nur eine Zurechnung der schlechten Tat - d.h. des (strafrechtlichen) Delikts sondern auch eine solche der guten Tat in Betracht kommt, was im heutigen (Straf-)Recht insbesondere bei der Zurechnung des durch Notrechte erlaubten Verhaltens als gerechtfertigt eine Rolle spielt; s. auch Bloy> Beteiligungsform, S. 244 f. m.w.N. 8 Kant, Metaphysik der Sitten - Rechtslehre, AB 22. 9 So die genauere Fassung b. Hutcheson, vgl. Hruschka, Brigham Young University Law Review 1986, 669 (686). 10 Dies hing damit zusammen, daß sowohl das klassische - naturalistische - wie auch das finalistische Handlungsmodell die strafbare Handlung nicht als zuschreibendes Urteil, also als teleologisches und regelgebundenes Konstrukt, sondern als Seinstatsache, mithin ontologisch verstanden. - Wenn des weiteren der Imputationenlehre bis heute vorgeworfen wird, sie habe nicht die - grundlegende - Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld gekannt (vgl. Welzel, Strafrecht, S. 38,138 f.), so ist dies wohl unzutreffend, s. Jescheck, Lehrbuch, S. 382 mit Fn. 1 u. eingehend Hruschka, Brigham Young University Law Review 1986, 669 (676 ff.). 11 In seiner Schrift über "Die Zurechnung" aus dem Jahre 1957. 12

In seiner Schrift über "Das Vermeidbarkeitsprinzip und die condicio-sine-qua-non-Formel1 im Strafrecht" aus dem Jahre 1968. 3 S. Bloy, Beteiligungsform, S. 260 ff. 14 Hardwig, Zurechnung, S. 120,127 f.; Kahrs, Vermeidbarkeitsprinzip, S. 34. 15 So insbesondere Kahrs, Vermeidbarkeitsprinzip, S. 37 f.

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Geforderten selbst verquickt. Der hierin liegende Denkfehler führte bereits Hardwig, sodann aber Kahrs und ihm folgend Herzberg dazu, das Unterlassungsdelikt - im Sinne eines "Vermeidedelikts" - als eigentliche Grundform der Verhaltensnormen anzusehen und somit die Trennung zwischen Begehungsverboten und Unterlassungsgeboten aufzugeben 16. In der heutigen Strafrechtswissenschaft ist - neben den Ansätzen Hruschkas und Kindhäusers, denen hier weitgehend gefolgt wird und die im folgenden entfaltet werden - vor allem die funktionale Zurechnungslehre von Jakobs zu erwähnen. Nach Jakobs legt die Zurechnung fest, welche Person zur Stabilisierung der Normgeltung zu bestrafen ist; die Lehre von der Zurechnung entwickelt hierbei die Begriffe Verhalten des Subjekts, Normbruch und Schuld17. Das Verhalten (die Aktion) des Subjekts ist die Handlung; es wird nicht nur festgelegt, welchem Subjekt welche Aktion zuzurechnen ist, sondern zugleich, wer das Subjekt und was seine Aktion ist18. Leitender Gesichtspunkt ist hierbei die individuelle Vermeidbarkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens oder die "Objektivierung einer falschen Haltung zur Norm" 19. Hingegen bleibt die Ebene der Motivation dieser Haltung - Jakobs spricht von "Antriebssteuerung" im Gegensatz zu (allein unrechtsrelevanter) "Handlungssteuerung" - zunächst außer Betracht; vielmehr wird hypothetisch unterstellt, der Täter habe die - rechtsgemäße - Motivation, verbotene Verhaltensweisen zu unterlassen bzw. gebotene vorzunehmen20. Ein Verhalten, welches trotz individueller Vermeidbarkeit (also: Möglichkeit der Handlungssteuerung) der Norm widerspricht, wird als Normbruch bezeichnet; Normbruch ist also ein "bedeutungshaltiger" Widerspruch gegen die Norm, welcher deren Geltung desavouiert, weil er deutlich macht, daß dem Täter die rechtliche Handlungsmotivation (also: die Antriebssteuerung nach Maßgabe der Verhaltensnormen) mangelt . Eine Frage der Schuldzurechnung ist es dann, ob der Täter für diesen Mangel zuständig ist. Dies ist der Fall, wenn das Manko "nicht so verständlich gemacht werden kann, daß es das allgemeine Normvertrauen nicht tangiert", wenn also der Mangel an rechtstreuer Motivation nicht gleichsam "am Täter vorbei erklärt" erklärt werden kann22, etwa dadurch, daß der Täter für nicht normbefolgungskompetent erklärt wird (§§ 20, 21) oder für seine Nichtkenntnis der Norm unzuständig ist (§ 17) oder die Normbefolgung unzumutbar war (§ 35). Das Modell von Jakobs entspricht strukturell in weiten Teilen der hier vor16

Zu Recht ablehnend Bloy, Beteiligungsform, S. 260 f., 263 mit Nachw. zu den genannten Autoren; gegen Herzberg auch Jakobs, Strafrecht, 6/33; Maiwald, Kausalität, S. 84; s. zu den "internen" Unterlassungskonzeptionen (auch Behrendt) noch unten § 3 III 2. 11 Jakobs, Strafrecht, 6/1. 18 Jakobs, Strafrecht, 6/20. 19 Jakobs, Strafrecht, 6/24 f. 20 Jakobs, Strafrecht, 6/21 f., IT, ebenso bereits Hardwig, Zurechnung, S. 120,127 f.; Kahrs, Vermeidbarkeitsprinzip, S. 34; näher unten § 2 III 2. 21 Jakobs, Strafrecht, 1/9. 22 Jakobs, Strafrecht, 17/1 f.

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gelegten Zurechnungsanalyse. Diese unterscheidet sich von dem Jakobsschen Modell im wesentlichen allein durch den gewählten Legitimationsansatz: Während hier Rechtstreue als vom Recht prästierte und durch Gerechtigkeitserwägungen legitimierte Tugend verstanden wird 23, fundiert Jakobs sein Modell mit system-funktionalen Erwägungen, welche wohl aus rechtsstaatlicher Sicht nicht hinreichen, um staatliches Strafen und damit die Zurechnungslehre zu begründen24. 3. "Objektive" Zurechnung? Der hier verwendete Begriff der Zurechnung in seiner umfassenden Bedeutung ist von dem in der neueren Lehre gängigen Terminus der "objektiven" Zurechnung abzuheben. Während Larenz - dem die Wiederbelebung dieses auf die ältere Unterscheidung zwischen "objektiver" und "subjektiver" Zurechnung25 zurückgehenden Terminus zu danken ist - hierunter noch den Versuch verstand, "die eigene Tat vom zufälligen Geschehen abzugrenzen"26, trat in der Folge der Zusammenhang zwischen Verhalten und Erfolg dieses Verhaltens immer mehr in den Vordergrund 27. Mit dem Begriff der objektiven Zurechnung verbindet die heute h.L. im wesentlichen für notwendig erachtete Korrekturen an der strafrechtlichen Äquivalenzlehre der Verursachung, wobei es sich um einen Oberbegriff handelt, der verschiedene Aspekte - wie z.B. der Adäquanz, der Risikoverwirklichung und des Selbstverantwortungsprinzips - unter sich vereint 28. Es ist der h.L. zuzugeben, daß die Äquivalenzlehre weder wissenschaftstheoretisch befriedigt noch dem pragmatischen Kontext, in dem die Kausalerklärung im Strafrecht steht, hinreichend berücksichtigt29. Gleichwohl erscheint die Lehre von der objektiven Zurechnung, soweit sie den Norminhalt der Erfolgsverletzungsdelikte "wertend" verengen will, als kategorial verfehlt 30: Die auf der "lokutionären Ebene" der Normanalyse liegende Frage, ob ein eingetretener tatbestandsmäßiger Erfolg durch ein (wie auch immer geartetes) Verhalten des Täters kausal erklärt werden kann, muß schon aus logischen Gründen von derjenigen unterschieden werden, ob der Täter für das 23

S. sogleich § 2 II 2. Krit. etwa Arthur Kaufmann, JZ 1986, 225 (229) m.w.N. 25 Zu diesen - bis auf die humanistischen Juristen (Decianus, Theodoricus) zurückgehenden - Lehren vgl. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 179 f. m.w.N. 26 Larenz, Hegels Zurechnungslehre, S. 61. 27 Grundlegend Honig, in: Frank-FG, Bd. I, S. 174 ff. 28 Vgl. zum heutigen Diskussionstand Ebert/Kühl, Jura 1979,561 ff.; Jakobs, Strafrecht, 7/6 ff.; Jescheck, Lehrbuch, S. 257 ff.; S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnrn. 72 ff., bes. 95; Maurach-Zipf AT 1, § 18 Rdnrn. 42 ff.; Roxin, in: Honig-itf, S. 133 ff.; ders., Strafrecht, § 11 Rdnrn. 36 ff.; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rdnrn. 57 ff.; alle m.w.N. 24

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Eine nach diesen Kriterien tragfähige Kausalanalyse wird unten § 5 I vorgestellt werden. Krit. zur "Aufblähung" der Lehre von der objektiven Zurechnungs auch Frisch, Verhalten, S. 31 ff. 30

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in diesem Sinne erfolgsverursachende Verhalten verantwortlich gemacht werden kann. Zugespitzt formuliert: Der Täter ist für ein erfolgsverursachendes Verhalten nicht bereits verantwortlich, weil er den Erfolg verursacht hat, sondern aus anderen, weiteren Gründen, nämlich weil er ihn (unter der Prämisse der Vermeidefähigkeit) nicht vermieden hat31. Diese kategoriale Kritik darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Sachanliegen der Lehre von der objektiven Zurechnung berechtigt ist. Wie Frisch 32 gezeigt hat, geht es vorrangig um die Konturierung des "tatbestandsmäßigen" - in der hier zugrundegelegten Terminologie: des pflichtwidrigen - Verhaltens. Entgegen der Kritik des Finalismus an der objektiven Zurechnung33 erledigen sich die hier auftretenden Probleme nicht auf der Ebene des subjektiven Tatbestands (Vorsatz und Fahrlässigkeit) oder der "finalen Tatmacht"; die Frage der "Entscheidungsrelevanz" von (potentiellem) Wissen ist vielmehr eine normative, nach Maßgabe der "Anwendungsangemessenheit" zu lösende34. 4. Zurechnungsregeln Das Zurechnungsurteil, also die Interpretation eines Verhaltens als Handlung, welche die (rechtliche) Verantwortlichkeit des Täters begründet, ist selbst regelgebunden. Derartige bei der Zurechnung anwendbare Regeln werden im folgenden als "Zurechnungsregeln" bezeichnet. Zurechnungsregeln nennen die Voraussetzungen, unter denen der Täter sein Verhalten bei Strafe verantworten muß, unter denen also die Verhängung von Strafe legitim ist. Für das strafrechtliche Delikt sind hier insbesondere die Regeln der §§ 15 bis 17 (Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum), der §§ 19 bis 21 (Schuldfähigkeit) und des § 35 (entschuldigender Notstand) zu nennen; zudem ist die Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen (und diejenige vom Irrtum im Rechtfertigungsbereich) Teil der Zurechnungslehre. Aus rechtsstaatlichen Gründen - nämlich wegen des (strafrechtlichen) Gesetzesvorbehalts - kann ein Verhalten nur dann zugerechnet (und sanktioniert - bestraft) werden, wenn dies gesetzlich angeordnet war; diese gesetzliche Anordnung findet sich in den Sanktionsnormen, welche die Zurechnungsregeln des Allgemeinen Teils (im gesetzestechnischen Sinne) in Bezug nehmen und durch diese zu ergänzen sind35. 31

Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 83 in Fn. 2. Verhalten, S. 31 ff. und passim. 33 Vgl. Hirsch, in: Köln-FS, S. 403 ff.; Armin Kaufmann, in: Jescheck-FS, S. 251 ff.; Struensee, JZ 1987,53 ff.; Gegenkritik b. Roxin, in: A. Kaufmann-GS, S. 237 ff. 32

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Eingehend unten § 6 I. Eine andere Frage ist es, ob und inwieweit die Zurechnungsregeln als solche dem (strafrechtlichen) Gesetzesvorbehalt unterliegen. Bedeutsam wird diese Frage insbesondere bei der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen - welche der Sache nach (ungeschriebene) Voraussetzungen der Zurechnung eines objektiv erlaubten Verhaltens als (individuell) gerechtfertigtes darstellen - und bei den in der Rspr. entwickelten Grundsätzen 35

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Im Unterschied zu den (Verhaltens-)Normen betreffen die Zurechnungsregeln nicht die Frage, ob ein Verhalten verboten, geboten, erlaubt oder freigestellt ist; so verbietet es § 15 nicht, einen Tatvorsatz zu fassen. Umgekehrt können die Verhaltensnormen nicht selbst besagen, wann der Täter normwidriges Verhalten verantworten muß, weil sie sich dann selbst in Bezug nehmen müßten36. Das Verhalten ist Gegenstand der Zurechnung, gehört aber nicht selbst zum Zurechnungsurteil und geht diesem logisch voraus. Dementsprechend haben die Zurechnungsregeln teleologisch nichts mit dem Grund der Normen - dem Schutz des jeweiligen Rechtsguts - zu tun; vielmehr müssen sie - und zwar einheitlich - nach den Strafgründen bestimmt werden37. Sie gelten daher für alle Verhaltensnormen des Strafrechts und gehören damit zum Allgemeinen Teil des Strafrechts in seinem engeren, rechtstheoretischen Sinne38. Wenn aber der teleologische Grund der Zurechnung und der Zurechnungsregeln ein allgemeiner, einheitlicher und zur "actio libera in causa" - welche der Sache nach eine gesetzlich nicht vertypte Ausnahme zu den zurechnungsbeschränkenden Regeln der §§ 20, 21 darstellen. Eine vordringende Auffassung (vgl. die Nachw. b. S/S-Eser, § 1 Rdnm. 14 f., 31) will den Gesetzesvorbehalt auf die Zurechnungsregeln erstrecken (und behauptet - jedenfalls für die "actio libera in causa" - konsequent deren Verfassungswidrigkeit, s. z.B. Hettinger, "actio libera in causa", bes. S. 436 ff.). In gewissem Umfang kann sich diese Auffassung auf das Gesetz selbst berufen. Beispielsweise hatte es die ältere Rechtsprechung (vgl. RGSt 48, 118; BGHSt 6, 132; zu den Einzelheiten S/S, 17. Aufl. , § 59 Rdnr. 149) noch zugelassen, im Wege der Auslegung zu entscheiden, ob ein normwidriges Verhalten nur kraft Vorsatzes oder auch kraft Fahrlässigkeit zurechenbar seiri solle; nunmehr ist gem. § 15 eine ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten der Fahrlässigkeitszurechnung erforderlich. Ähnlich tritt die Versuchsstrafbarkeit - nach hier vertretener Auffassung ebenfalls eine Kategorie der Zurechnung - nur ein, wenn die Tat ein Verbrechen ist oder dies ausdrücklich angeordnet ist, § 23 Abs. 1. Eine Lösung der aufgeworfenen Frage dürfte in der folgenden Richtung zu suchen sein: Mit der Anordnung der Fahrlässigkeits- und der Versuchsstrafbarkeit entscheidet der Gesetzgeber über das Gewicht, welches er der (faktischen) Geltung der Norm (im Sinne des prästierten Maßes an handlungswirksamer Anerkennung, s. oben § 1 II 2.) zumißt. Insbesondere belastet der Gesetzgeber die Bürger hierdurch in besonderem Maße, nämlich mit der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit dadurch, daß der Bürger auch für seine Handlungs- oder Vermeidefähigkeit sorgen muß, mit der Versuchsstrafbarkeit dadurch, daß auch ex post harmlose und jedenfalls nicht normwidrige Verhaltensweisen unterlassen werden müssen, wenn sie ex ante betrachtet normwidrig sein werden (s. noch unten § 2 II 3.). Dies spricht dafür, daß die Regelungen der §§ 15, 22 verfassungsrechtlich notwendig sind, da Art. 103 Abs. 2 GG jedenfalls die strafrechtlichen Verhaltensnormen (und damit auch deren Gewichtung, wie sie z.B. im Strafmaß zum Ausdruck kommt) erfaßt. Hingegen ist es bei "verhaltensnormneutralen" Zurechnungsregeln, die nur das Niveau der allgemein prästierten Rechtstreue betreffen, und ist es insbesondere bei der "actio libera in causa" jedenfalls vertretbar, diese der Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG zu entziehen. 36

S. oben § 1 II 4. Allerdings äußert Jakobs, Strafrecht, 17/3 (mit Verweis auf 6/24) für die Schuldzurechnung Vorbehalte gegen eine alleinige Ableitung der Zurechnungsregeln aus der Strafzweck(bessen -grund-)lehre: Der Inhalt von Schuld werde vielmehr auch durch die gesellschaftliche Verfassung bestimmt; diese und die Strafgründe seien nicht beliebig kombinierbar. Dies bedeutet aber nur, daß die Strafzwecke gesellschaftsabhängig bestimmt werden müssen, und stellt keinen Einwand gegen die dogmatische Interpretation der Zurechnungsregeln qua Strafgründe dar. 37

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Hierzu eingehend unten § 10 I 2.

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mit den Strafgründen gleichzusetzen ist, so muß im folgenden zu diesen Stellung genommen werden. IL Der Grund der Zurechnung 1. Rechtsgüterschutz und Sanktionsgründe Als Grund der Zurechnung, also (rechtssatzmäßig formuliert) als Grund der Sanktionsnormen und der von ihr in Bezug genommenen Zurechnungsregeln, kann nicht unmittelbar der Rechtsgüterschutz angesehen werden. Rechtsgüterschutz ist der unmittelbare Grund der Verhaltensnormen; die strafrechtliche Sanktionierung setzt hingegen (beim vollendeten Delikt) geradezu das Fehlschlagen des Rechtsgüterschutzes, nämlich die Rechtsgutsverletzung voraus und muß deshalb anders als unmittelbar mit dem Rechtsgüterschutz begründet werden39. Das pragmatische Ziel und zugleich der Grund jeder Zurechnung ist es, jemanden für sein Verhalten verantwortlich zu machen. Dieses Verantwortlichmachen geschieht im Strafrecht nicht um seiner selbst willen40, sondern dient der Begründung der Sanktion (Strafe). Daher können als unmittelbarer Grund der Zurechnungsregeln und der Sanktionsnormen die SanktionS'(Straf-)gründe Al angesehen werden; diese Gründe sind zugleich für die Inhaltsbestimmung und Auslegung der Zurechnungsregeln maßgebend42. Mithin ist das Problem der legitimen Sanktions-(Straf-)gründe keine bloß rechtsphilosophische, sondern eine dogmatisch relevante Fragestellung. 39

Vgl. Jakobs , Strafrecht, 2/3 ff. Allerdings müssen die Zwecke der Verhaltensnormen und diejenigen der Sanktionsnormen pragmatisch verträglich sein. Nach der im folgenden gegebenen Strafzweckbestimmung ist diese Verträglichkeit aber gesichert: Wenn Strafe der Sicherung der faktischen Normgeltung im Sinne ihrer handlungswirksamen Anerkennung dient, so wird mittelbar - durch die stabile Normgeltung - Rechtsgüterschutz bewirkt; ebenso Freund , Unterlassen, S. 93 ff. 40 Insbesondere nicht aus moralischen oder allgemein-praktischen Gründen; eine "Ethisierung" des Rechts wäre im säkularen Staat bedenklich. Dies bedeutet freilich nicht, daß die in der Gesellschaft wirksamen allgemein-praktischen Wurzeln der Zurechnungslehre bedeutungslos sind; vgl. etwa zur gesellschaftlichen Vorprägung des Schuldbegriffs Jakobs , Strafrecht, 41 17/3. Die ganz h.L. setzt SirdXgrund und Strafzweck gleich, was (nur) unter der Voraussetzung einer utilitaristischen (Rechts-)Ethik zutrifft; für eine Trennung aber zutreffend Geerds , Einzelner und Staatsgewalt, S. 16. 42 Entsprechend gilt für das zivile Deliktsrecht, daß die mit der Schadensersatzverpflichtung verbundenen Zwecke die zivilrechtlichen Zurechnungsregeln inhaltlich bestimmen und begründen. Hiermit ist übrigens der theoretische Ansatz gefunden, die unterschiedlichen Zurechnungsregeln im Zivil- und im Strafrecht (v.a. bei den Fahrlässigkeitsmaßstäben) zu erklären: Da Schadensersatz und Schmerzensgeld einerseits und Strafe andererseits unterschiedliche Zwecke verfolgen, können die Zurechnungsregeln "relativ" zu diesen Zwecken unterschiedlich ausgestaltet sein. - Zum Verhältnis von Schadensersatz und Strafe grundlegend J. Schmidt , Schadensersatz und Strafe, bes. S. 41 ff.

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2. Strafgründe Sind Sanktionen (Strafen) legitimierbar 43? Es ist eine in der praktischen Philosophie und der Rechtstheorie unter den Schlagworten des "Schwarzfahrerproblems" 44 und des "Gefangenendilemmas" 45 erörterte Einsicht, daß es (individuell) zweckrational ist, (Verhaltens-)Normen nicht zu befolgen, selbst wenn sie - wie es etwa beim Tötungs- und Körperverletzungsverbot der Fall ist - distributiv gerecht und allseitig vorteilhaft sind. Voraussetzung für die Zweckrationalität der Nichtbefolgung von Normen ist es, daß sich alle (oder die meisten) anderen an die Normen halten. In diesem Falle gewinnt der Täter sowohl den Vorteil, der für ihn aus der Normeinhaltung durch die anderen entspringt, als auch denjenigen, daß ihm weitere Handlungsmöglichkeiten eröffnet sind. Andererseits verlöre der Täter den zuerstgenannten Vorteil, wenn sich alle zweckrational verhielten. Daher ist es vom rechtlichen (moralischen) Standpunkt der Gleichheit aus legitim und allseitig vorteilhaft, die Einhaltung von Normen - ihre faktische Geltung und "handlungswirksame Anerkennung"46 - zu erzwingen und hierdurch das Vertrauen in die möglichst weitgehende Befolgung von Normen zu gewährleisten. Mit dieser Überlegung ist zunächst der präventive Rechtszwang legitimierbar; nichts anderes gilt aber für die repressive Sanktionierung, sofern sie die handlungswirksame Anerkennung von Normen sichert. Nun weist 43

Zum folgenden Kindhäuser, Gefährdung, S. 153 ff. Das Problem wurde erstmals b. Sidgwick erörtert, vgl. Kutschera, Ethik, S. 37; Singer, Verallgemeinerung, S. 91 ff., 111 ff.; Wimmer, Universalisierung, S. 305 ff.; je m.w.N. Im einzelnen geht es um folgendes: Unter der Voraussetzung, daß die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel billiger als diejenige privater ist und die meisten Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel bezahlen, ist es individuell vorteilhaft, schwarzzufahren. Täten dies freilich alle, so bräche der öffentliche Verkehr zusammen. Aus dieser Überlegung kann aber nichts Zwingendes für das individuell zweckrationale Verhalten abgeleitet werden. Theoretisch gewendet liegt das Problem darin, daß aus dem kollektiven Verbot, daß alle schwarzfahren, nicht normlogisch abgeleitet werden kann, daß distributiv jeder einzelne nicht schwarzfahren darf, denn es ist eine zulässige Umformung (Negation) des Verbotes, daß jedenfalls einige schwarzfahren dürfen; näher Kutschera, Ethik, S. 37 in Fn. 42. 44

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Vgl. Höffe, Gerechtigkeit, S. 419 ff. m.w.N. Das in der amerikanischen Literatur entwikkelte (und vor dem Hintergrund des angloamerikanischen Strafrechts zu sehende) Gefangenendilemma ergibt sich aus folgendem: A und B haben mittäterschaftlich einen Totschlag begangen und sich zudem beide wegen Landstreicherei strafbar gemacht; sie befinden sich getrennt in Untersuchungshaft. Es bestehen nun folgende drei Möglichkeiten: Schweigen beide, so kann der Totschlag nicht bewiesen werden, aber beide werden wegen Landstreicherei zu einer geringen Strafe verurteilt. Schweigt einer und gesteht der andere, so gewinnt der Geständige als Kronzeuge Straffreiheit wegen beider Delikte; der andere wird zu einer hohen Strafe verurteilt. Gestehen beide, so werden beide zu einer mittleren Strafe verurteilt. Das insgesamt optimale Ergebnis ist es, daß beide schweigen. Jedoch gibt es für A und für B als Einzelne je eine bessere Möglichkeit: nämlich zu gestehen, sofern (und in der Hoffnung daß) der andere schweigt. Daraus wiederum folgt zweckrational, daß beide gestehen werden, mit der insgesamt suboptimalen Folge, daß beide mittelschwer bestraft werden. 46 Zu diesem Konzept s. oben § 1 II 2.

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allerdings die Bestrafung - anders als die ordnungswidrigkeitenrechtliche Bebußung und der zivile Schadensersatz - die Besonderheit auf, daß sie einen "sozialethischen Tadel" enthält47. Überschreitet das Strafrecht hier die Grenzen, die dem säkularen Staat gezogen sind? Der Tadel betrifft nun nicht für sich die Tatsache, daß normwidrig gehandelt wurde 48. Vielmehr indiziert der Normbruch unter bestimmten Voraussetzungen - nämlich denen der Zurechenbarkeit - einen Mangel an "Gerechtigkeitssinn"49 beim Täter, welcher den Vorteil der Geltung der Norm in Anspruch nimmt, ohne selbst seinen Beitrag zur Normgeltung leisten zu wollen, und damit letztlich den rechtlichen Standpunkt der Gleichheit aller aufgibt. Genaugenommen ist der mit Strafe verbundene Tadel also kein sozial-, sondern ein rechtsethischer. Er ist auch im säkularen Staat gerechtfertigt, da der Täter das Maß an handlungswirksamer Anerkennung oder rechtstreuer Motivation der rechtlichen Verhaltensnormen verfehlte, welches erforderlich ist, damit diese zum Vorteil aller faktisch gelten, und welches ihm auch selbst erreichbar ist. Mithin kann der legitime Strafgrund dahin formuliert werden, daß Strafe das Maß an rechtstreuer Motivation sichern muß, welches die allseitig vorteilhafte Normgeltung sichert und für jedermann hinnehmbar ist50. Mit dieser Auffassung wird an die in der Literatur vordringende, aber wohl auch vom Bundesverfassungsgericht geteilte51 Lehre von der "positiven" oder "Integrations-Generalprävention" als vorrangigem Strafzweck (besser: Strafgrund) angeknüpft . So besteht nach Jakobs53 der Beitrag, den das Strafrecht zur Erhaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Gestalt leistet, in der Garantie der (Verhaltens-)Normen. Normen dürften auch im Falle ihrer Enttäuschung nicht preisgegeben werden; diese "Enttäuschungsfestigkeit" sei mit "praktizierter Normgeltung" gleichzusetzen. Die Normgel47 Allg.M., vgl. nur BVerfGE 9, 137 (144); 22, 49 (81) und 125 (131 ff.); 27, 18 (ff.); Jescheck, Lehrbuch, S. 58. 48 So aber wohl Jakobs, Strafrecht, 2/1 f. 40 Zu diesem Begriff Rawls, Gerechtigkeit, S. 493 ff. 50 So insbes. Kindhäuser, Gefährdung, S. 156 u.ö. - Als Strafgrw/iiflehre ist diese Auffassung ohne weiteres vereinbar mit der Ansicht, daß Strafe (auch) spezial- und generalpräventiv wirken soll, und erst recht mit derjenigen, daß der Strafvollzug resozialisierend wirken soll, daß also bestimmte Zwecke mit staatlichem Strafen verfolgt werden (auch - aus verfassungsrechtlichen Gründen - verfolgt werden müssen); vgl. auch Kindhäuser, Gefährdung, S. 31 f. mit Fn. 11. Diese Zwecke sind freilich teilweise außerhalb des (materiellen) Strafrechts angesiedelt, werden nämlich im Strafprozeß und im Strafvollzug verfolgt; hierin liegt der zutreffende Kern des klassischen "Dreisäulenmodells", wonach das materielle Strafrecht der Vergeltung, der Strafprozeß der General- und der Strafvollzug der Spezialprävention (und Resozialisierung) zu dienen habe. 51 Eingehend Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 20 ff. 52 Eine Auseinandersetzung mit der Fülle der vertretenen Straftheorien kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung freilich nicht erfolgen; ein analytischer Überblick findet sich z.B. b. Jakobs, Strafrecht, 1/17 ff. mit umf. Nachw. 53 Jakobs, Strafrecht, 2/1 ff.

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tung sei mithin das vom Strafrecht - genauer: von den strafrechtlichen Sanktionsnormen - zu schützende Gut, das "Strafrechtsgut". Allerdings besteht bei rein funktionalistische Ansätzen die Gefahr, daß der Täter zum bloßen Mittel zu Zwecken entwürdigt wird 54. Der Vorwurf trifft das hier entwickelte Konzept nicht: Voraussetzung der Sanktionierung ist der vom Täter gezeigte Mangel an "Gerechtigkeitssinn", der beispielsweise fehlt, wenn das Verbotensein des Verhaltens für den Täter nicht erkennbar war (§ 17). Allgemeiner gesprochen muß die Bestrafung gerecht sein und darf den Täter nicht wie ein unvorhersehbares Übel (willkürlich) treffen. 3. Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit Dies bedeutet insbesondere, daß als "hinnehmbares" Maß an rechtstreuer Motivation nichts Unverhältnismäßiges verlangt werden darf. Damit sieht sich die vorliegende Konzeption, welche - wie dargelegt - als Kern der Straftat die pflichtwidrige, die Normgeltung in Abrede stellende Handlung ansieht, gegen die Einwände gefeit, die zu Recht gegen ältere (insbesondere von der Kieler Schule entwickelte) Konzepte von der Straftat als Pflichtwidrigkeit 55 erhoben wurden und im Vorwurf bloßen "Gesinnungsstrafrechts" gipfeln 56. Insbesondere kann den älteren Konzepten weder zugegeben werden, daß der Versuch, der - wie dargelegt - in demselben Maße pflichtwidrig ist wie die vollendete Tat, grundsätzlich bei allen Delikten (und wie die vollendete Straftat 57) bestraft werden müsse, noch, daß aus dem Befund, daß die Pflichtwidrigkeit beim Fahrlässigkeitsdelikt bereits vor Erfolgseintritt "komplett" ist, abzuleiten sei, daß die Erfolgsverletzungs-Fahrlässigkeitsdelikte durchweg durch entsprechende (ggf. abstrakte) Gefährdungsdelikte zu ersetzen seien58. Es ist nämlich zu bedenken, daß sowohl die Versuchs- als auch die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit die Normadressaten wesentlich schwerer belasten als die Vorsatz-Vollendungsstrafbarkeit; im ersten Fall sind auch ex post gesehen harmlose und jedenfalls nicht normwidrige Verhaltensweisen zu unterlassen, und im zweiten Fall muß der Täter für seine Fähigkeit, die Norm (intentional) zu befolgen, Rechnung tragen, indem er das zur Normbefolgung erforderliche Wissen 54

Sehr eindrücklich Arthur Kaufmann, Jura 1986, 225 ff. m.w.N. Grundlegend Schaffstein, in: (Hrsg.) Dahm, Grundfragen, S. 108 ff.; vgl. weiterhin ders., ZStW 55 (1936), 18 ff. u. 57 (1938), 295 ff.; s. auch Gallas, in: Gleispach-FS, S. 50 (67 ff.). Eingehende Darstellungen b. Amelung, Rechtgüterschutz, S. 216 ff.; Marxen, Kampf, S. 177 ff. * Vgl. nur Jakobs, Strafrecht, 2/18. 57 Dieser Gedanke lag der Beseitigung der obligatorischen Strafmilderung für den Versuch durch § 4 GewaltverbrecherVO vom 5.12.1939 (RGBl. I 2378) zugrunde; vgl. Jescheck, Lehrbuch, S. 470 in Fn. 48 m.w.N. - De lege lata (zu § 43 a.F., jetzt § 22 Abs. 2) für eine grundsätzliche Gleichbestrafung von Versuch und Vollendung etwa Roeder, Erscheinungsformen, S. 14; konsequent vom Standpunkt einer radikal-finalistischen Handlungslehre auch Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 213 ff. 55

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So etwa Klee, Dolus indirectus, S. 40 ff.

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und Können erwerben muß. Aus dieser schwereren Belastung folgt, daß die Versuchs- und die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nur zum Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter angeordnet werden darf (was der Standpunkt des Gesetzes ist!); normtheoretisch gewendet muß die faktische Normgeltung im Sinne ihrer handlungswirksamen Anerkennung so wichtig sein, daß der Täter auch ex post harmlose und nicht normwidrige Verhaltensweisen unterlassen bzw. für seine Fähigkeit zur Normbefolgung sorgen muß. Überhaupt darf ein rechtlich akzeptables und damit legitimes Richtmaß an rechtstreuer Motivation nichts schlechthin Unzumutbares verlangen. Im Fahrlässigkeitsbereich wird diese Einsicht von der hA. durch das "Verbot der Überspannung von Sorgfaltspflichten" formuliert 59. Ähnlich erweisen sich der Gedanke der "Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens" und insbesondere die Regelung des entschuldigenden Notstandes (§ 35) als legitim, ja zwingend, da eine rechtstreue Motivation nicht um den Preis des Verlusts besonders gewichtiger Rechtsgüter (Leib, Leben, Freiheit) verlangt werden kann, da insbesondere die Forderung nach Selbstaufgabe des Lebens vom Recht nicht mit einem dem Täter zukommenden Gegenwert vergolten werden kann60. III. Zurechnung als Pflichtwidrigkeit

(Vorsatz,

Versuch, Fahrlässigkeit)

1. Handlung, Norm und Intention Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß die Straftat ein Verhalten ist, durch welches der Täter ausdrücken muß, daß er die jeweilige (Verhaltens-) Norm nicht handlungswirksam anerkennt, und durch welches er einen Mangel an "Gerechtigkeitssinn" zeigt. Dem Verhalten muß also eine "Bedeutung" zugeschrieben werden, genauer: die Bedeutung, daß der Täter in Abrede stellt, daß die Norm für ihn61 verbindlich ist; das Verhalten muß als die Norm desavouierende Handlung interpretiert werden. Wird an dieser Stelle wiederum auf handlungs- und sprachtheoretische Ansätze zurückgegriffen, so geschieht die Interpretation eines Verhaltens als Handlung im allgemeinen dadurch, daß dem sich Verhaltenden die Intention zugeschrieben wird,

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S. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 523. Kindhäuser, Gefährdung, S. 38. 61 Weder kann der Täter die generelle Geltung der Norm - die Objektivität des Rechts beeinträchtigen noch wird er dies mit der Tat im Regelfalle ausdrücken, da er andernfalls den mit der Tat verbundenen Vorteil verlöre (s. oben § 2 II 2.). Problematisch sind freilich die Fälle, in denen der Täter mit seiner Tat ausdrücken will, daß die Norm schon generell nicht verpflichtend sein kann, wie dies bei Gewissens- und Überzeugungstätern der Fall ist; hierzu Jescheck, Lehrbuch, S. 372 f. m.w.N. zu der u.a. von Radbruch angestoßenen Grundsatzdiskussion. 60

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

das Verhalten wirklich zu wollen62. Diese Intention erklärt das Verhalten und macht es zur Handlung. Die (notwendigen, aber nicht hinreichenden) Mindestbedingungen für die Zuschreibung dieser Intention sind, daß der sich Verhaltende das Verhalten auch hätte unterlassen (bzw. sich anders hätte verhalten) können und daß er wußte, was er tat. Zudem ist ein gewisser räumlich-zeitlicher Zusammenhang, ein "entscheidungsrelevanter Kontext" vonnöten: Wer Zeitung liest, kann sein Verhalten zwar mit der Intention des Zeitunglesens, nicht aber mit der Intention erklären, Tötungen oder Körperverletzungen unterlassen zu wollen63. 2. Die Straftat als intentionale Handlung - Zurechnung erster und zweiter Stufe (Zurechnung zu Unrecht und Schuld) Es fragt sich freilich, ob dieses äußerst einfache Modell hinreicht, um die Konstituierung der Straftat als Handlung zu ermöglichen. Hier sind zwei Korrekturen vorzunehmen: Um ein Verhalten als negativ pflichtverletzendes Handeln zuzurechnen, kommt es erstens nicht darauf an, daß der Täter positiv die Intention im Sinne handlungswirksamen Wollens hatte, das durch die Norm untersagte Verhalten vorzunehmen; vielmehr ist es nur negativ entscheidend, daß der Täter nicht die Intention hatte, das normgemäße Verhalten handlungswirksam zu wollen64. Andernfalls könnte, dogmatisch gesprochen, nur absichtliches Verhalten (dolus directus ersten Grades) strafbar sein. Normentheoretisch läßt sich die hier vertretene Auffassung wie folgt erklären: Das Verhalten des Täters muß ausdrücken, daß er die Norm nicht handlungswirksam anerkennt. Lautet nun die Norm z.B. im Falle des § 223 "Es ist verboten, einen anderen zu verletzen", so lautet die normgemäße Intention: "Ich will keinen anderen verletzen" und ihre kontradiktorische Verneinung, also die zurechnungsbegründende normwidrige Intention: "Ich will dies - keinen anderen zu verletzen - nicht." Es wäre ein zu starke - und überdies in ein logisches Problem führende 65 - Forderung, der Täter müsse die Intention haben: "Ich will einen anderen verletzen". Diese Intention entspräche der Norm "Es ist geboten, einen anderen zu verletzen". Der Täter muß aber nicht ausdrücken, daß er das normwidrige Verhalten geradezu für geboten hält; es genügt, daß er die Norm, wie 62 Kindhäuser, Handlung, S. 140 ff. mit umf. Nachw.; zum "wirklichen" handlungswirksamen - Wollen ders., Gefährdung, S. 46 m.w.N. 63 Zum Begriff des Unterlassens eingehend unten § 3 III. 64 Ebenso Jakobs, Strafrecht, 6/27; Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 38 ff; Kindhäuser, Gefährdung, S. 47. 65 Das Problem liegt darin, daß zwischen der normgemäßen Intention - das normgemäße Verhalten zu wollen - und der nach dem konträren Modell normwidrigen Intention - das Gegenteil des normgemäßen Verhaltens zu wollen - Leerstellen verbleiben. Es kann jemand weder das normgemäße noch das normwidrige Verhalten wollen, sich aber für das normwidrige Verhalten entscheiden, weil er etwas anderes - drittes - will; näher Kindhäuser, Gefährdung, S. 97 f.

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sie ist, nicht für sich anerkennt66. Zugespitzt formuliert: Es kommt nicht darauf an, was der Täter wollte, sondern darauf, daß er nicht wollte, was er sollte67. Zweitens aber genügt die Feststellung, daß der Täter nicht die normgemäße Intention zur Grundlage seines Handelns machte, also die Feststellung der Pflichtwidrigkeit, offensichtlich nicht, um die Strafbarkeit zu begründen. Jeder Mensch mit "natürlichem Willen" - auch Kinder und Geisteskranke - kann Intentionen bilden, hiernach handeln und dementsprechend auch ausdrücken, daß er die normgemäße Intention nicht seinem Handeln zugrundelegt. Dogmatisch gesprochen können Kinder und Geisteskranke nicht nur im formalen Sinne normwidrig, sondern auch pflichtwidrig, also rechtswidrig im Sinne des Deliktsaufbaus handeln68. Hingegen kennzeichnet es den Menschen als verantwortliche Person, daß er Handlungsintentionen "erster Stufe" bewerten und unter ihnen auswählen kann69. Da die Bewertung und Auswahl von Handlungsintentionen wiederum intentional erklärt werden kann, kann hier von Intentionen "höherer" oder "zweiter Stufe" gesprochen werden. Auch auf dieser zweiten Stufe ist es nicht etwa positiv erforderlich, daß der Täter die inhaltlich normwidrige Intention um des Widerspruches zur Norm willen wählte; es genügt negativ, daß er nicht die Intention, nur norminhaltsgemäße Intentionen erster Stufe seinem Verhalten zugrundezulegen, hatte70. In diesem Falle muß der Täter 66 Ebenso ist übrigens beim Verbotsirrtum anerkannt, daß der Täter sein Verhalten nicht geradezu für geboten - gut - halten muß, BayObLG MDR 1963, 333; S/S-Cramer, § 17 Rdnr. 6. 67 Der Einwand richtet sich mutatis mutandis gegen jede Lehre, die - sei es auf Normebene, sei es auf der Ebene der Zurechnung, insbesondere beim Vorsatz - als Kern der Straftat ein Willenselement (den "dolus malus") behauptet; so aber insbesondere Welzel, Strafrecht, S. 34: "(Es) ist der zielbewußte, das kausale Geschehen lenkende Wille das Rückgrat der finalen Handlung". 68 Das Problem wurde im Rahmen des Streits um die Imperativentheorie (Thon, Dohna) relevant, vgl. Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 121 ff. mit umf. Nachw. Zutreffend verweist die heute ganz h.L. den Aspekt der Motivierbarkeit in den Bereich der Schuldzurechnung und erkennt die Möglichkeit rechts- im Sinne von pflichtwidrigen Handelns nicht motivierbarer Personen an, s. statt aller Jescheck, Lehrbuch, S. 213; Maurach-Zipf AT 1, § 23 Rdnr. 16; je m.w.N. Wenn freilich Armin Kaufmann (aaO., S. 125) aus normentheoretischer Sicht darauf hinweist, es müsse die Geltungsfrage von dem "Adressatenproblem" gelöst werden, jedermann sei Adressat jeder Norm" und Kern des Adressatenproblems sei die Verpflichtung des einzelnen, so ist dem entgegenzuhalten, daß das Adressatenproblem eine Frage des6Norminhalts und nicht der Verpflichtung ist. 9 Vgl. BGHSt 2, 194 (200): "Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, ... das rechtlich Verbotene zu vermeiden ...". - Grundlegend zum Begriff der "Person" Dennett, in: (Hrsg.) Bieri, Analytische Philosophie, S. 303 ff. 70 Daher darf die Wendung in BGHSt 2, 194 (200), dem Täter werde vorgeworfen, daß er sich für das C/wrecht entschieden habe, nicht intentional mißverstanden werden: Es genügt, daß er sich nicht ßr das Recht entschieden hat. - Insofern ist es zutreffend, daß § 17 nur das Bewußtsein von dem Verbotensein der Handlung, nicht aber das Wollen dieses Verbotenseins verlangt.

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von Rechts wegen seine Pflichtwidrigkeit verantworten; die Straftat erweist sich als eine zu verantwortende Pflichtwidrigkeit. Mithin sind zwei Stufen der Zurechnung zu unterscheiden71: Auf der ersten Stufe - derjenigen der Pflichtwidrigkeit, dogmatisch gesprochen des Unrechts - wird ermittelt, daß das Verhalten des Täter nicht durch die normgemäße Intention erklärt werden kann. Auf der zweiten Stufe - derjenigen der Verantwortung für die Pflichtwidrigkeit, also der Schuld - wird ermittelt, warum der Täter eine andere als die normgemäße Intention seinem Verhalten zugrundelegte, ob also die Pflichtwidrigkeit (das Unrecht) einen Mangel an "Gerechtigkeitssinn" verdeutlicht oder ob ein rechtlich akzeptabler Grund dafür bestand, daß der Täter sich nicht am Recht orientierte 72. 3. Die Ermittlung der Pflichtwidrigkeit: "Praktischer Syllogismus" und "praktische Notwendigkeit" - Vorsatz Zentrales Kriterium der Zurechnung erster Stufe eines Verhaltens als Pflichtwidrigkeit (tatbestandsmäßiges Unrecht) ist die Vermeidbarkeit, genauer gesagt: das normrelevante "Wissen" und "Können" des Täters im entscheidenden Zeitpunkt des tatbestandsmäßigen Verhaltens73, das ihn befähigt, die verbotene Handlung zu unterlassen (oder, beim Gebot, die gebotene Handlung vorzunehmen. Die Zurechnungsfrage lautet also, ob der Täter bei Zugrundelegung seines Wissens und Könnens das normwidrige Verhalten als solches intentional - also bei (kontrafaktischer) Unterstellung der Intention zu norminhaltsgemäßem Verhalten - hätte vermeiden können. Diese hier so genannte "intentionale Vermeidefähigkeit" läßt sich in dem

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Übereinstimmend Hruschka, Strafrecht, S. 337 ff.

Diese Gründe zu entwickeln ist Aufgabe einer (materialen) Schulddogmatik; hierzu nur einige Vorüberlegungen: Auch die Zurechnung "zweiter Stufe" (zur Schuld) wird durch die Kriterien des "Wissens" und "Könnens" konstituiert (s. sogleich 3.), hier freilich bezogen auf das "Wissen" um die Norm und das "Können" der Einsicht in die Norm bzw. des Handelns aufgrund dieser Einsicht; allgemein kann von "Motivationsfähigkeit" gesprochen werden. In den Elementen des "Wissens" und des "Könnens" sind nun leicht die Erfordernisse des Unrechtsbewußtseins (§ 17) und der Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit (§§ 20 f.) zu erkennen. Zum eigens begründungsbedürftigen entschuldigenden Notstand (§ 35) im Rahmen des Zurechnungsmodells der Straftat vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 37 ff. m.w.N. 73 Dieser Zeitpunkt deckt sich mit dem Versuchsbeginn, also mit dem "unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung" gem. § 22, und zwar auch für das vollendete Delikt. Daß (für die ordentliche Zurechnung) Können und Wissen zu diesem Zeitpunkt gegeben sein müssen, folgt aus dem Simultaneitätsprinzip, s. Hruschka, Strafrecht, S. 1 ff. Normentheoretisch gewendet: Da Zurechnungsgegenstand das normrelevante Verhalten ist, müssen Wissen und Können genau im Zeitpunkt dieses Verhaltens vorliegen. Handlungstheoretisch gewendet: Da sich das (ggf. nur vorgestellte) normwidrige Verhalten als "Haupt-" und nicht bloß als "Hilfshandlung" darstellen muß, genügen Hilfs- oder Vorbereitungshandlungen nicht; hierzu noch unten § 2 III 5.

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handlungstheoretischen Modell des "praktischen Syllogismus"74 am Beispiel der Verletzungsverursachungsverbote verdeutlichen: Hatte der Täter die Intention, die Verletzung zu vermeiden, und wußte er im entscheidenden Zeitpunkt, daß sein Tun die Verletzung verursachen würde, so ist es für ihn "praktisch notwendig"75, das Tun zu unterlassen, sofern er dies im entscheidenden Zeitpunkt auch physisch-real kann76. Skizzenhaft: (Intentionsprämisse:) Der Täter will normgemäß handeln. (Wissensprämisse:) Der Täter weiß, daß sein Verhalten normwidrig sein wird. (Konklusion:) Dann ist es für ihm praktisch notwendig, sein Verhalten zu unterlassen, wenn er dies kann (und hierum weiß). In der zuletzt genannten Zurechnungsvoraussetzung ist unschwer das der ganz hA. entsprechende Erfordernis der "Handlungsfähigkeit" im engen Sinne der physisch-realen Handlungsmöglichkeit zu erkennen77; in der Wissensvoraussetzung steckt das Vorsatzerfordernis. In Übereinstimmung mit der ganz h A . sind Handlungsfähigkeit und Vorsatz im hier entwickelten Zurechnungsmodell der Straftat also Unrechts- und nicht erst Schuldvoraussetzungen. Der Unterschied zur h.A. ist zunächst nur ein kategorialer: Handlungsfähigkeit und Vorsatz - also intentionale Vermeidefähigkeit - sind nicht Voraussetzungen der Normwidrigkeit und des Verbotenseins des Verhaltens, sondern Bedingungen der Zurechnung erster Stufe als Pflichtwidrigkeit (Zurechnung zum Unrecht) 78. Freilich ist im hier vorgelegten Modell der Vorsatz auf das intellektuelle Element des Wissens um die mögliche kausale Relevanz des Verhaltens beschränkt; das Willenselement kommt nur in der - kontrafaktischen - Unterstellung der Intention, die Verletzung zu vermeiden, ins Spiel, kennzeichnet aber nicht selbst den Vorsatz79. 74

Zu diesem - auf Aristoteles zurückgehenden - Modell "praktischer Deliberation" Kindhäuser , Handlung, S. 146 ff.; ders ., Gefährdung, S. 54 ff.; Weinberger , Norm und Institution, S. 1417 ff.; v. Wright , Handlung, S. 41 ff., 61 ff. 5 Es handelt sich nicht um eine theoretisch zwingende, sondern um eine praktisch fundierte Notwendigkeit; "praktische Notwendigkeit" wird hier als Fachterminus eingeführt. Näher zur Ausgestaltung dieses Begriffs unten § 6 I. 76 Und um diese physisch-reale Möglichkeit weiß; s. noch unten § 3 III 5. 77 Die sich also also Zurechnungs-, nicht aber als Normwidrigkeitsvoraussetzung erweist; a.A. aber die ganz h.L., vgl. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 201 ff. 78 Es kann auch nicht zugegeben werden, daß die Anforderungen an den (insbesondere: bedingten) Vorsatz eine Frage des objektiven Tatbestandes - mithin der Normwidrigkeit sind, so aber Herzberg, JuS 1986, 259 ff.; zum von Herzberg gemeinten Problem der "Entscheidungsrelevanz" eines Wissens s. noch unten § 6 I. 79

Im Ergebnis wie hier eine vordringende Literaturansicht, vgl. Frisch, Vorsatz, S. 255 ff., 300 ff.; Jakobs, Strafrecht, 8/7 ff.; Schmidhäuser, Studienbuch, 7/36 ff.; theoretisch grundlegend Ross, Vorsatz, S. 149 ff.; zu den älteren Auffassungen (//. Mayer, Sauer u.a.) Jescheck, Lehrbuch, S. 271 m.w.N. Hingegen verlangt die (noch) hA. zudem ein voluntatives Vorsatzelement, für das freilich ein "verdünntes" Wollen im Sinne einer "Einwilligung", eines "Sichabfindens" oder eines "billigenden Inkaufnehmens" genügen soll; vgl. BGHSt 7, 363 (369); 21, 283; Jescheck, Lehrbuch, S. 268 ff.; Maurach-Zipf, AT 1, § 26 Rdnr. 36. - Zur proble-

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Die Zurechnungsvoraussetzung des Wissens ist auch auf der - ebenfalls dem Unrecht zugehörenden - Ebene der Rechtfertigung anwendbar80. Ein Verhalten, welches auf der Normebene erlaubt ist, weil es dem (objektiven) Inhalt der in den Rechtfertigungsgründen enthaltenen Erlaubnisnormen entspricht, kann auf Zurechnungsebene als gerechtfertigt nur zugerechnet werden, wenn der Täter die tatsächlichen Voraussetzungen des Erlaubtseins seines Verhaltens kannte. Deshalb ist das Erfordernis subjektiver Rechtfertigungselemente berechtigt; freilich beschränken sich diese Elemente nach hier vertretener Auffassung entsprechend den Ausführungen zum Vorsatz auf die (intellektuelle) Kenntnis und umfassen nicht zudem voluntative Elemente ("Verteidigungswillen" o.ä.)81. 4. Der Versuch als Pflichtwidrigkeit ohne Normwidrigkeit Das hier entwickelte Modell der Pflichtwidrigkeit hat ersichtlich Konsequenzen für die Theorie der Versuchsstrafbarkeit: Beim Versuch liegt beim Täter ein Wissen (und Können) vor, welches es ihm - hätte er die Intention, normgemäß handeln zu wollen - im Modell des "praktischen Syllogismus" praktisch notwendig machen würde, das (Versuchs-)Verhalten zu unterlassen. In der hier vorgelegten Konzeption ist der Versuch also keine Kategorie der Normwidrigkeit - da es an dem Teil der Verhaltensnorm bildenden Erfolgseintritt fehlt -, sondern eine Kategorie der Pflichtwidrigkeit und der Sanktionsnorm: Der Versuch ist eine erfolglose, daher nicht norm-, aber pflichtwidrige (Haupt-)Handlung. Gleichwohl ist es grundsätzlich legitim, den Versuch zu bestrafen, da der Strafgrund - die expressiv gemachte Nichtanerkennung der Norm - auch beim Versuchstäter vorliegt.

matischen Abgrenzung zwischen (bedingtem) Vorsatz und (bewußter) Fahrlässigkeit s. unten Fn. 109. 80

Zum folgenden Kindhäuser, Gefährdung, S. 113 ff. - Die Zurechnungsvoraussetzung des Könnens spielt auf der Rechtfertigungsebene keine Rolle: Kann der Täter nicht anders handeln81als er es tut, kann schon keine Pflichtverletzung vorliegen. Wie hier bereits Beling, Verbrechen, S. 141 u. eine vordringende Auffassung, vgl. S/SLenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnrn. 13 ff. und (zur Notwehr) § 32 Rdnr. 63, je mit umf. Nachw. auch zu der - in der Rspr. und der wohl h.L. vertretenen - Gegenansicht. - Hingegen ist bei der Rechtfertigung des Fahrlässigkeitsdelikts eine Zurechnung (sei es "ordentlich" kraft Wissens, sei es "außerordentlich" kraft Wissenkönnens der rechtfertigenden Umstände) des objektiv erlaubten Verhaltens nicht erforderlich: Da hier kein normwidriges Verhalten vorliegt, welches aber bei den Fahrlässigkeitsdelikten, die keine Versuchsstrafbarkeit kennen, vonnöten ist, stellt sich die Frage der Zurechenbarkeit nicht; im Ergebnis wie hier OLG Karlsruhe NJW 1986,1358; Hruschka, GA 1980,1, (18); Jakobs, Strafrecht, 11/30; S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr. 99; a.A. die Rspr. und wohl h.L., die ein Handeln in "Rechtfertigungstendenz" und jedenfalls in Kenntnis der Rechtfertigungssituation verlangt, s. nur BGHSt 25, 232; weit. Nachw. b. S/S-Lenckner, Vorbem. § 32 ff. Rdnr. 97.

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Eine derartige Konzeption mag schlüssig erscheinen, kann aber keinesfalls auf ungeteilten Beifall rechnen82. Gegen sie könnte erstens eingewendet werden, daß hiernach das Versuchsunrecht anders bestimmt werde als das Unrecht der vollendeten Tat, und zweitens, daß § 22 nicht nur Pflichten, sondern auf den Versuchstäter bezogene Versuchsverhaltensnormen generiere 83. Der erste Einwand trifft zu, entspricht freilich einer alten - und neuerdings von Roxin bestätigten84 - Auffassung 85, daß der Versuch in einem anderen Sinne Unrecht enthält als die vollendete Tat, daß das Versuchsunrecht also eine gegenüber dem Vollendungsunrecht eigenständige Qualität hat. Hingegen ist der zweite Einwand unzutreffend. Wie Tiedemann86 jüngst hervorgehoben hat, widerspricht es sowohl der Normentheorie wie auch jedem sinnvollen Norminhalt, etwa eine Verhaltensnorm "Versuche nicht zu töten" statuieren zu wollen, da dieselbe Verhaltensdeterminierung bereits durch die Norm "Töte nicht" erreicht wird, weil bekanntlich kein Versuch vorliegt, wenn der Vorsatz nicht auf Vollendung gerichtet ist. Darüber hinaus führt die Auffassung, es gebe Versuchsverhaltensnormen, in gravierende teleologische und dogmatische Probleme: Da Grund der Verhaltensnormen der Rechtsgüterschutz ist, kann eine verhaltensnormorientierte Versuchstheorie die Strafbarkeit des absolût untauglichen Versuchs kaum begründen; zum anderen muß die Grenze des "unmittelbaren Ansetzens" nach Rechtsgutsgefährdungskriterien bestimmt werden, was etwa beim Versuch von Tätigkeits- und abstrakten Gefährdungsdelikten zu internen Friktionen führt 87. Demgegenüber vermag die Auffassung, der Versuch sei eine Kategorie der Pflichtwidrigkeit und der Sanktionsnorm, zwanglos nicht nur die Strafbarkeit des absolut untauglichen Versuchs, sondern auch die vordringende Auffassung theoretisch zu begründen, nach welcher das unmittelbare Ansetzen nicht nach Kriterien des Rechtsgüterschutzes - also nach der Rechtsgütergefährdung - zu bestimmen ist, sondern auf der Basis der sog. "Eindruckstheorie" nach Kriterien der hinreichenden Erschütterung des Vertrauens in normgemäßes Verhalten durch hinreichende Externalisierung des Tatentschlusses . Schließlich trifft der Einwand nicht zu, es komme bei der hier vorgelegten Konzeption zu einer Zurechnung ohne Zurechnungsgegenstand: Gegenstand jeder Zurechnung ist ein Verhalten - sei es normwidrig oder nicht -, welches der Täter hätte unterlassen (oder - bei Geboten:

82 Krit. Kuhlen, GA 1990, 477 (480): Das vorgelegte Konzept sei konstruktiv möglich, aber doch nicht wirklich überzeugend. 83 In diesem Sinne wohl Roxin, Strafrecht, § 10 Rn. 97. 84 Roxin, Strafrecht, § 10 Rdnr. 97.

85

S. Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 343 mit Fn. 37 und Verweis auf Goldschmidt und8 6Kitzinger. In: Baumann-FS, S. 7 (11). 87 Eingehend hierzu Tiedemann, in: Baumann-FS, S. 7 (12 f.); gegen Formeln, die mit dem Kriterium der Gefahr arbeiten, auch Jakobs, Strafrecht, 25/57. - S. noch unten 7 II 2., 3. 88 S. etwa Jakobs, Strafrecht, 25/20, 63 ff.

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

vornehmen) müssen, hätte er die Intention gehabt, sich normgemäß zu verhalten. 5. Haupt- und Hilfshandlungen, Haupt- und Hilfspflichten De lege lata sind Vorbereitungshandlungen grundsätzlich (vorbehaltlich des § 30) nicht strafbar; die Strafbarkeit setzt erst ein, wenn der Täter die Grenze des "unmittelbaren Ansetzens" zur Tatbestandsverwirklichung überschreitet. Handlungstheoretisch kann diese Differenzierung durch die Unterscheidung zwischen Haupt- und Hilfshandlungen präzisiert werden. Hilfshandlungen sind auf andere Handlungen bezogen; sie dienen zur Erlangung oder Sicherung der Fähigkeit zur Ausführung der anderen Handlungen) . Sollen derartige Hilfshandlungen dazu dienen, die Handlungsfähigkeit in möglichen, ggf. nicht einmal bedachten Haupthandlungen zu sichern, so kann von Vorsorgehandlungen gesprochen werden; sind die Hilfshandlungen hingegen auf bestimmte Haupthandlungen bezogen, so kann von Vorbereitungshandlungen gesprochen werden. Beispielsweise dient das Besorgen eines Nachschlüssels der Ermöglichung eines Einbruchsdiebstahls (Vorbereitungshandlung) oder das Überprüfen der Bremsanlage eines Kraftfahrzeugs der Ermöglichung wirksamen Bremsens in gefährlichen Situationen (Vorsorgehandlung). Die Verhaltensnormen des Besonderen Teils sind unmittelbar nur Gründe dafür, Haupthandlungen zu unterlassen90. Sie begründen nur eine hierauf bezogene Pflichtwidrigkeit, die als Verstoß gegen "Hauptpflichten" bezeichnet werden kann. Gleichwohl sind Hilfshandlungen und Hilfspflichten, die auf Haupthandlungen und Hauptpflichten bezogen sind, dogmatisch nicht irrelevant. Vorsorgehandlungen und "Vorsorgepflichten" werden bei der außerordentlichen Zurechnung kraft Fahrlässigkeit91, Vorbereitungshandlungen werden beim Versuch, aber auch als "Hilfshandlungen" bei der Teilnahme92 relevant. 6. Außerordentliche Zurechnung: Die Pflichtwidrigkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten Die Zurechnung bereitet unter der Voraussetzung des aktuellen Wissens und Könnens im entscheidenden Zeitpunkt der Vornahme des normrelevanten Verhaltens theoretisch und axiologisch keine Probleme; hier kann

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Brennenstuhl , Handlungslogik, S. 60 f.; Kindhäuser, Handlung, S. 56 ff. 90 91 Näher hierzu sogleich § 2 III 6. Hierzu sogleich § 2 III 6. u. noch unten § 8. 92 Hierzu sogleich § 2 IV 1.

Gefahrdung, S. 64 f.; v. Wright,

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von "ordentlicher" Zurechnung gesprochen werden93. Jedoch kennt die lex lata einen Fall, in welchem im Unrechtsbereich 94 auf die Zurechnungsvoraussetzungen des Wissens im entscheidenden Zeitpunkt verzichtet wird: die Fahrlässigkeit (§ 15), die übrigens auch - wie dargelegt95 - Fälle schlechthin unwillkürlichen normwidrigen Verhaltens erfaßt, bei denen im entscheidenden Zeitpunkt das Können als physisch-reale Handlungsfähigkeit fehlt. Es handelt sich hier um Fälle, in denen der Täter für das Fehlen einer Voraussetzung "ordentlicher" Zurechnung verantwortlich gemacht werden kann, also um Fälle einer gleichsam "außerordentlichen" Zurechnung96. Es entspricht nämlich einer vordringenden und zutreffenden Ansicht, daß die Bewältigung dieser Fälle nicht auf Normebene - durch "Vorverlagerung" des normwidrigen Verhaltens auf einen Zeitpunkt, in welchem die Voraussetzungen des Wissens und Könnens gegeben waren - geschehen kann97. Die im Bereich der Vorverlagerungsdoktrin vorrangig diskutierten Verletzungsverbote verbieten aber nur ein tatbestandsmäßiges Verhalten, welches den tatbestandsmäßigen Verletzungserfolg bedingt; sie verbieten weder gefährdendes Verhalten für sich noch gebieten sie, dem Versuchsbeginn vorgelagerte Handlungen zur Vermeidung tatbestandsmäßiger Erfolge zu treffen, ^beispielsweise sich nicht zu betrinken 98. Die Normwidrigkeit eines Verhaltens kann schon aus den verfassungsrechtlichen Gründen der Tatbestandsbestimmtheit und des Analogieverbotes nicht damit begründet werden, daß der Täter ein Normtatbestandsmerkmal zwar nicht erfüllt, dies jedoch zurechenbar herbeigeführt und die Norm ge93

94

Hruschka, Strafrecht, S. 313 f.

Noch häufiger sind die Fälle der "außerordentlichen Zurechnung" im Schuldbereich (Zurechnung zweiter Stufe): Zu nennen ist neben § 17 Satz 2 (vermeidbarer Verbotsirrtum) und neben der Notstandsprovokationsklausel des § 35 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 (hierzu eingehend Hruschka , Strafrecht, S. 280 ff.) vor allem die sog. actio libera in causa, nach welcher Rechtsfigur die Schuldunfähigkeit zum Tatzeitpunkt nicht die außerordentliche Zurechnung zur Schuld hindern soll, sofern die Schuldunfähigkeit zurechenbar herbeigeführt wurde; vgl. nur Lackner , § 20 Rdnrn. 25 ff. mit umf. Nachw.; zusammenfassend und krit. neuerdings Hettinger , "actio libera in causa", bes. S. 436 ff. Darüber hinaus anerkennt die h.A. im Bereich der Rechtfertigung Fälle, in denen trotz Vorliegens eines Erlaubnistatbestandes und trotz Wissens des Täters um das Vorliegen der erlaubnisbegründenden Umstände die Rechtfertigung verneint wird, wenn nämlich die Rechtfertigungslage zurechenbar herbeigeführt ("provoziert") wurde (sog. actio illicita in causa), vgl. nur S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr. 23, § 32 Rdnrn. 54 ff. und § 34 Rdnr. 42; je mit umf. Nachw. 95 S. oben § 1IV 3. 96 Eingehend Hruschka , Strafrecht, S. 274 ff., 313 ff., 326 ff. 97

Neumann, Zurechnung, S. 149 ff.; teilweise krit. Kindhäuser , Gefährdung, S. 118 f. mit Fn.9830." Überdies bestehen z.B. im Falle der actio libera in causa Zweifel, ob das Sichbetrinken für die spätere Straftat kausal ist, weil kein Naturgesetz existiert, nach welchem ein Betrunkener - und zumal wegen seiner Trunkenheit, also wegen der Beseitigung der Motivationsfähigkeit - eine Straftat begeht, und weil ein Betrunkener auch einwenden könnte, er hätte die Straftat auch in nüchternem Zustand begangen, vgl. Kindhäuser , Gefährdung, S. 124 f.; Neumann, Zurechnung, S. 26; Puppe, JuS 1980, 346 (348). - S. bereits oben 1 IV 3.

Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

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wissermaßen "umgangen" hat". Eine außerordentliche Zurechnung ist im Bereich der Feststellung der Normwidrigkeit schon begrifflich, aber auch sachlich nicht möglich100. Die Möglichkeit einer "außerordentlichen Zurechnung" muß vielmehr auf der Zurechnungsebene selbst entwickelt werden. Zurechnungsregeln nennen die Bedingungen, unter welchen der Täter an die Norm in dem Sinne "gebunden" ist, daß er sie handlungswirksam anerkennen muß; ihr Zweck ist die Sicherung eines hinreichenden Maßes rechtstreuer Motivation. Nach dem Modell des praktischen Syllogismus ist aktuelles Wissen und Können intentionale Vermeidefähigkeit auf der Unrechtsebene - ohne Zweifel eine hinreichende und legitime Bedingung der Bindung an die Norm. Jedoch ist es grundsätzlich auch legitim, von Teilnehmern am Rechtsverkehr zu erwarten, daß sie sich in gewissem Maße um ihre intentionale Vermeidefähigkeit (und Motivationsfähigkeit) bemühen, indem sie für ihr Wissen und Können auf Unrechts- (wie auf Schuld-)ebene im entscheidenden Zeitpunkt Vorsorge treffen; hier kann von "erwarteten Fähigkeiten" gesprochen werden101. Grund dieser Erwartung ist das Vertrauen, das in den Täter als Teilnehmer am Verkehr in seiner Rolle als solcher gesetzt wird. Bezugspunkt der Erwartung ist nicht das normgemäße Verhalten als solches, sondern die Fähigkeit des Täters hierzu. Das Maß des Erwarteten kann deshalb nicht der (Verhaltens-)Norm selbst entnommen werden, sondern nur - unter dem Gesichtspunkt der hinreichenden faktischen Geltung im Sinne handlungswirksamer Anerkennung - der Sanktionsnorm. Da aber die Sanktionsnorm anders als die Verhaltensnorm - den Täter nicht zu einem Verhalten verpflichtet, sondern nur das Maß für die Verpflichtung angibt, ist der Erwerb und die Erhaltung der erwarteten Vermeide- (und Motivations-) fähigkeiten nicht selbst gesollt: Es ist nicht normwidrig und verboten, bestimmte normrelevante Umstände nicht zu kennen oder nicht hinreichend zur Normbefolgung fähig zu sein, wie es auch - vorbehaltlich der Norm des § 323 a 102 - nicht verboten ist, sich bis zur Schuldunfähigkeit zu berauschen. 99

Zur Umgehung vgl. Stockei, Gesetzesumgehung, passim; Tiedemann, Art. "Umgehung", in: HWiStR. 100 Deshalb ist die Auffassung von Maurach (Strafrecht, 4. Aufl. , S. 441; vgl. weiterhin ders., JuS 1961, 373 ff.), taugliches Bezugsobjekt der actio libera in causa könne jedes verbrechenskonstitutives Merkmal sein, so nicht zutreffend; eingehend - und im Ergebnis wie hier - Hruschka, Strafrecht, S. 350 ff.; Neumann, Zurechnung, S. 288 f. (gegen LG Kaiserslautern JZ 1956,182 mit abl. Anm. Bruns, aaO., S. 147 ff.) - Umgekehrt dürfen auf der Ebene der Rechtfertigung Erlaubnisnormen nicht mit der Begründung ausgeschaltet werden, das Verhalten des Täters unterfalle zwar einer Erlaubnisnorm, sei aber gleichwohl verboten, weil der Täter die Erlaubnis - etwa im Wege der Notwehrprovokation - "erschlichen" habe (Verbot der "Gegenanalogie"), vgl. Tiedemann, NJW 1980, 1557 (1559 m.w.N.); a.A. allerdings die (noch) h.L., vgl. LK-Tröndle, § 1 Rdnr. 38; zum hier allerdings möglichen Zurechnungsausschluß vgl. unten Fn. 107. 101 Näher Kindhäuser, Gefährdung, S. 39 ff., 62 ff. 102 Krit. zu dieser Vorschrift Hruschka, Strafrecht, S. 296 ff.; Kindhäuser, Gefährdung, S. 326 ff. - Die h.L. hält in der Tat das Sichberauschen bzw. die Herbeiführung der Schuldunfä-

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Auch ist ein Verhalten, welches bei fehlender Vermeide- oder Motivationsfähigkeit erfolgt, nicht für sich verboten, sondern nur dann, wenn es die Eigenschaft aufweist, den tatbestandsmäßigen Erfolg bedingt zu haben103. Die Rechtsfolge des unterlassenen Erwerbs und der unterlassenen Erhaltung der Vermeide- (und Motivations-)fähigkeit ist vielmehr nur, daß sie einen Mangel an Rechtstreue aufzeigen, welcher die außerordentliche Zurechnung rechtfertigt; der Täter wird mit dem "Verteidigungsvorbringen", er sei nicht vermeide- (bzw. motivations-)fähig gewesen, zurückgewiesen und verliert gewissermaßen eine "Verteidigungsposition"104. Insofern ist es für den (potentiellen) Täter pragmatisch sinnvoll, sich vermeide- bzw. motivationsfähig zu erhalten; daher kann im Anschluß an die vor allem im Zivilrecht verwendete Terminologie von "Obliegenheiten" gesprochen werden, sich vorrangig im eigenen Interesse vermeide- (und motivationsfähig) zu erhalten105. Normentheoretisch sind die gemeinten Obliegenheiten "supererogatorische" Rechtssätze, also Rechtssätze, die ein Verhalten nicht geradezu gebieten (bzw. verbieten), seine Vornahme (bzw. sein Unterlassen) aber als wünschenswert auszeichnen und umgekehrt sein Unterlassen (bzw. seine Vornahme) mit der Folge der außerordentlichen Zurechnung "sanktionieren" 106. Diese Überlegungen werden ein interessantes Licht insbesondere auf die Theorie der Fahrlässigkeitsdelikte107. Fahrlässigkeit setzt - negativ gespro-

higkeit für das bei § 323 a normwidrige, verbotene Verhalten, vgl. nur S/S-Cramer, § 323 a Rdnr. 1 m.w.N. 103 Daher ist auch die Ansicht von Puppe, JuS 1982, 660 (661), das normwidrige Verhalten sei ein solches, welches die Eigenschaft aufwiese, eine Sorgfaltsnorm zu verletzen, abzulehnen. 104

Insoweit ist die "dialogische" Rekonstruktion der (außerordentlichen) Zurechnung b. Haft, Schulddialog, passim, und Neumann, Zurechnung, passim, zutreffend. Wenn Neumann, aaO., S. 13 u.ö. allerdings zwischen dogmatischen Regeln "erster Stufe" und "Metaregeln" unterscheidet, welche die Befugnis zur Geltendmachung von Regeln im Prozeß betreffen sollen, so ist dies zu zivilprozessual gedacht: Im Strafrecht wird (anders als im Zivil < prozeß > recht) zwischen dem "Haben" eines Rechts und dem "Sich berufen-Dürfen" auf das Recht nicht unterschieden; krit. auch Kindhäuser , Gefährdung, S. 81 in Fn. 40 und S. 118 f. in Fn. 50. 105 So Hruschka , Strafrecht, S. 415 ff.; Kindhäuser , Gefährdung, S. 65; Neumann, Zurechnung, S. 261 ff. - Die Terminologie (krit. Kuhlen, GA 1990, 477 : "nicht eben plausibel") darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Vermeide- und Motivationsfähigkeit die handlungswirksame Anerkennung von Verhaltensnormen ermöglicht und damit unter der Prämisse der Rechtstreue jedenfalls mittelbar dem Rechtsgüterschutz dient. 106 Hruschka/Joerden, ARSP 73 (1987), 93 (121 ff.). 107 Der Gedanke der Obliegenheitsverletzung hilft des weiteren bei der Analyse der genannten Problemfälle der actio illicita in causa und der actio libera in causa. Im ersten Fall verletzt der Täter die Obliegenheit - nicht: Rechtspflicht! -, sich nicht (zurechenbar) in eine Rechtfertigungslage zu bringen; im zweiten Fall diejenige, sich nicht (mit Blick auf die später begangene Straftat zurechenbar) in einen Zustand der Schuldunfähigkeit zu versetzen. Die Obliegenheitsverletzung rechtfertigt es, dem Täter im ersten Fall die Zurechnung des objektiv erlaubten Verhaltens, im zweiten Fall die Berufung auf den Zurechnungsausschluß gem. § 20 zu versagen. Es handelt sich also um (richterrechtlich entwickelte) Ausnahmeregelungen, im ersten Fall zu den ungeschriebenen Zurechnungsvoraussetzungen bei den Rechtfertigungs-

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chen - die fehlende intentionale Vermeidefähigkeit im entscheidenden Zeitpunkt voraus, sei es mangels Wissens, sei es mangels Könnens. Die Fahrlässigkeitszurechnung kommt also nur dann in Betracht, wenn die ordentliche Zurechnung kraft Vorsatzes ausscheidet, wenn also der Täter im entscheidenden Zeitpunkt - nämlich bei Versuchsbeginn - entweder nicht wußte, daß sein Verhalten verletzungsrelevant war, oder nicht handlungsfähig war (und dies wußte); ganz im Sinne der hA. 1 0 8 werden Vorsatz und Fahrlässigkeit hier als alia betrachtet109. Die fehlende intentionale Vermeidefähigkeit gründen, im zweiten Fall zu § 20. Eingehend und mit umf. Nachw. Kindhäuser, Gefährdung, S. 115 ff., 120 ff. IHR 109 S. nur LKSchroeder, § 15 Rdnr. 9 ff. m.w.N. Die Abgrenzung zwischen (bewußter) Fahrlässigkeit und (bedingtem) Vorsatz hängt also nach hier vertretener Auffassung weder von einem "Irrtumsmoment" noch von einem voluntativen Element ab. Im einzelnen: (a) Der (bewußten) Fahrlässigkeit ist kein "Irrtumsmoment" eigen, so die zutreffende h.L., vgl. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 270 m.w.N.; zur Dogmengeschichte und zu älteren Auffassungen Binavince, Momente, S. 135 f. Die Gegenansicht - jeder Fahrlässigkeit sei ein Irrtumsmoment eigen - wurde insbesondere von Exner, Fahrlässigkeit, S. 144, begründet. Es irre selbst der bewußt fahrlässig Handelnde darüber, daß der Erfolg doch eintreten wird, "denn hätte der Täter alle Bedingungen des Erfolgseintritts richtig erwogen, so würde er die Wahrscheinlichkeit nicht mit 40:100, sondern mit 100:100 beurteilt, und die Handlung unterlassen haben" - damit müßte aber auch der dolus eventualis ein Irrtumsfall sein; zu Recht krit. Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 264 f. - Auch Schmidhäusers These - JuS 1987, 373 (378) der bewußt fahrlässig Handelnde wisse eben nie, daß er im entscheidenden Moment handlungsunfähig sein wird, trifft nicht zu: Der riskant Handelnde - z.B. der vor der Bergkuppe Überholende - weiß genau, daß er, falls ein Kraftfahrzeug entgegenkommen wird, einen Unfall nicht vermeiden können wird. - Auch die These, der Fahrlässigkeitstäter erkenne stets "die sich ereignende Verwirklichung des objektiven Tatbestandes nicht" - so Jakobs, Strafrecht, 9/1 - trifft nicht zu. Es ist durchaus denkbar, daß der fahrlässig Handelnde auch im entscheidenden Zeitpunkt genau weiß, daß er sich normwidrig-tatbestandsmäßig verhält, wenn z.B. ein Kraftfahrer, der zu wenig Abstand gehalten hat, "sehenden Auges" auf den Vordermann auffährt (wenn er dies auch als Spielball physikalischer Kräfte nicht mehr vermeiden kann). (b) Da es für die Bestimmung der Zurechnungsformen generell auf voluntative Elemente nicht ankommt (eingehend oben § 2 III 2., 3.), kann die Abgrenzung auch nicht hier gesucht werden. (c) Vielmehr geht es bei der Fahrlässigkeit allein um die Verneinung des Vorsatzes zum Zeitpunkt des Versuchsbeginns. Dies läßt sich an dem vieldiskutierten Fall des Autofahrers verdeutlichen, der vor einer Bergkuppe zum Überholen ausschert und hierbei bedenkt, ein Auto könne entgegenkommen und verunglücken: Das Ausscheren ist noch kein Ansetzen zur Verletzung oder Tötung des Entgegenkommenden; hierzu muß der Autofahrer vielmehr unmittelbar dazu ansetzen, auf das entgegenkommende Fahrzeug aufzufahren. Im diesem entscheidenden Zeitpunkt - dem Beginn des Auffahrens auf den Entgegenkommenden - ist der Kraftfahrer aber (unter der Voraussetzung, daß ein Ausweichen unmöglich ist) nicht mehr handlungsfähig, sondern Spielball physikalischer Kräfte. - Zuzugeben ist, daß mit der vorgeschlagenen Lösung die Unsicherheiten, die über die Abgrenzung des Versuchsbeginnes insbesondere über die Unmittelbarkeit des Ansetzens - bestehen, in die Abgrenzung zwischen Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit hineingetragen werden; vgl. hierzu nur S/S-Eser, § 32 Rdnrn. 36 ff. mit umf. Nachw. u. näher unten § 7 II 3.). Ein Einwand gegen die Lösung ergibt sich daraus nicht, da die Abgrenzung unsicher ist. (d) Zuzugeben ist allerdings, daß sich Vorsatz und Fahrlässigkeit ihrem Wissensgegenstand nach unterscheiden (wenngleich bei der Fahrlässigkeit kein "Irrtumsmoment" gegeben

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vermag aber die außerordentliche Zurechnung dann nicht auszuschließen110, wenn dies in der Sanktionsnorm ausdrücklich angeordnet ist (§ 15) und wenn das Fehlen den Erwartungen widerspricht, welche in den Erwerb oder die Erhaltung derartiger Vermeidefähigkeit durch den Täter in seiner sozialen Funktion ("Rolle") gesetzt werden. Der Verkehr erwartet gewisse - nach der sozialen Funktion gestufte - "Vorsorgehandlungen", welche die intentionale Vermeidefähigkeit sichern oder deren Verletzungsrelevanz abschirmen. Beispielsweise wird von einem Kraftfahrer erwartet, dafür Sorge zu tragen, daß sein Fahrzeug verkehrssicher ist (daß etwa die Bremsen funktionieren) - Sicherung -, oder es andernfalls nicht zu benutzen - Abschirmung. Da die Enttäuschung dieser Erwartungen Grund der Vermeideunfähigkeit ist, kann diese den Täter nicht entlasten. Positiv gewendet ist Fahrlässigkeit also erwartbare und erreichbare intentionale Vermeidefähigkeit. In einem weiten Sinne handelt es sich daher bei der Fahrlässigkeit - wie bereits in der historischen Entwicklung vertreten - um den Fall einer "actio libera in causa"111. Erwartungen in die Erhaltung oder den Erwerb von intentionaler Vermeidefähigkeit begründen freilich nach dem oben Gesagten keine wirklichen Rechtspflichten, sondern bloße Obliegenheiten; die Sorgfalts"pflichten" erweisen sich also genaugenommen als Sorgfalts"obliegenheiten" . Dem Fahrlässigkeitstäter wird auch nicht etwa (bloß) ein sorgfaltsnormwidriges Verhalten vorgeworfen. Die Sorg-

sein muß), vgl. Kindhäuser , Gefährdung, S. 105. Dies läßt sich wiederum am Beispiel des vor der Bergkuppe überholenden Kraftfahrers verdeutlichen: Beim Ausscheren fehlt es am Bewußtsein, sich tatbestandsmäßig-normrelevant zu verhalten; der (bewußt) fahrlässig handelnde Kraftfahrer weiß vielmehr (nur), daß er sich außerstande setzt, sich im entscheidenden Zeitpunkt das normwidrige Verhalten vermeiden zu können. Im entscheidenden Moment des Auffahrens "sehenden Auges" fehlt diese Kenntnis ebenso, weil der Kraftfahrer - wie er weiß "Spielball physikalischer Kräfte" ist. 110 Es ist durchaus eine Frage, ob diese außerordentliche Zurechnung normativ-axiologisch derart schwächer als die ordentliche Zurechnung kraft Vorsatzes wiegt, wie dies aus den Strafrahmen des StGB hervorgeht (zum Problem Hruschka , Strafrecht, S. 334; Jakobs , Strafrecht, 8/5a f.). Nach h.A. besteht zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitszurechnung ein normatives Stufenverhältnis (wenn auch Vorsatz und Fahrlässigkeit alia sind), s. nur LK-Schroeder, § 15 Rdnr. 10 m.w.N. Hierfür kann im vorgelegten Zurechnungsmodell angeführt werden, daß der Vorsatztäter die Normgeltung intensiver in Abrede stellt als der bewußt fahrlässig Handelnde, da das Bewußtsein, eine unmittelbar normwidrige Verhaltensweise vorzunehmen, psychologisch und axiologisch vom Bewußtsein zu unterscheiden ist, sich außerstande zu setzen, späterhin die Norm zu befolgen; näher Kindhäuser , Gefährdung, S. 106. Es wäre aber axiologisch und de lege ferenda durchaus vertretbar, wenn - einem Vorschlag von Klee , Dolus indirectus, S. 40 ff. folgend - dolus eventualis und bewußte Fahrlässigkeit gleichschwer bestraft würden und strafschärfend hiervon der direkte Vorsatz, strafmildernd die unbewußte Fahrlässigkeit abgesetzt würde, oder wenn "Tatsachenblindheit" aus belastenden Gründen überhaupt nicht strafmildernd wirken würde, so Jakobs , aaO. u. bereits Binding , Normen, Bd. IV, S. 417. 111 Siehe Hruschka , Strafrecht, S. 343 ff. - Genaugenommen müßte allerdings gesagt werden, daß nicht das tatbestandsmäßige Verhalten vom Täter frei gesetzt wurde, sondern die Unfähigkeit, dieses Verhalten zu vermeiden; näher Kindhäuser, Gefährdung, S. 121. 112 Hruschka, Strafrecht, S. 415 ff.; Kindhäuser , wie Fn. 105.

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faltspflichtverletzung als solche ist kein verletzendes Verhalten 113 und bildet deshalb nicht den Gegenstand der Zurechnung, sondern ist deren Maßstab. Allgemeiner formuliert: Auch wenn Zurechnungsregeln ein (Vor-)Verhalten zum Gegenstand haben, so begründen sie keine Normen und ihnen entsprechende Pflichten; Zurechnungsregeln verbleiben im Bereich des askriptiven Sprechens, eben der Zurechnung. Insbesondere können Sorgfaltspflichten auch nicht als analytische oder synthetische Implikationen der (Verletzungsverbots-)Normen aufgefaßt werden, da dies voraussetzen würde, daß aus den Verboten analytisch oder synthetisch Sorgfaltsgebote abgeleitet werden können, was aus sprachlogischen Gründen nicht der Fall ist 4 . Selbst wenn bestimmte (Vor-)Verhaltensweisen, die als zurechnungsbegründend anerkannt sind (wie z.B. unaufmerksames Autofahren), zugleich durch Normen rechtlich verboten sind (wie z.B. durch § 1 StVO), so ändert dies nichts daran, daß die Regel im Kontext der Zurechnung nur als solche - als Obliegenheit - verwendet wird. Der auch sachliche Unterschied liegt darin, daß (Gefährdungs-)Normen durch den Rechtsgüterschutz (bzw. den Schutz der Sicherheit von Rechtsgütern) legitimiert werden, Sorgfaltsobliegenheiten hingegen durch das rechtlich erforderliche Maß an handlungswirksamer Anerkennung der Verletzungsverbotsnormen 115. IV. Pflichtwidrigkeit

und Beteiligungslehre

1. Zur Normentheorie der Beteiligung Eine mit Blick auf die heikle Frage der Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten116 schließlich besonders zu behandelnde Frage ist es, wie die Beteiligungsformen in das hier vorgelegte Konzept von Normund Pflichtwidrigkeit eingeordnet werden können: Sind die Beteiligungsformen eine Frage der Normwidrigkeit (und damit primär aus Gesichtspunkten des Rechtsgüterschutzes, nämlich der Verletzungskausalität oder der Rechtsgutsgefährdung, zu bestimmen) oder handelt es sich um eine Frage der Zurechnung als Pflichtwidrigkeit (und damit primär um eine aus personalen Verantwortungs- und Herrschaftskriterien zu beantwortende Frage)? In seiner Untersuchung über die "Beteiligungsform als Zurechnungstypus

113

Insbesondere ist die Sorgfaltspflichtverletzung nicht kausal für den Verletzungserfolg, s. oben 114 § 1IV 3. m.w.N. Für eine wenigstens synthetische Ableitbarkeit der Sorgfaltsobliegenheiten aus den Verhaltensnormen aber Hruschka, Strafrecht, S. 397 ff.; hiergegen zu Recht Kindhäuser, Gefährdung, S. 80 f. 115 Hieraus leitet sich übrigens der teleologische Grund dafür ab, daß nach der zutreffenden hA. (außerstrafrechtliche Gefährdungsverbots-)Normen nur Indizien für fahrlässiges Verhalten darstellen; näher unten § 8 I 2. m.w.N. 116 Eingehend unten § 9.

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im Strafrecht" hat sich vor allem Bloy 117 für die zweite der bezeichneten Lösungen entschieden. Grund der Beteiligungsstrafbarkeit sei nicht (nur) die kausale, sondern die personale Beziehung des Täters zur Tat 118 . Deshalb seien Maßstab der Beteiligungslehre nicht unmittelbar der Rechtsgüterschutz, sondern Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit, denn "nur als Person, nicht als Kausalfaktor kann ein Mitwirkender an einer Tat Adressat eines Unwerturteils sein und seine Bestrafung im Hinblick auf die Erreichung von Strafzwecken einer Prognose unterliegen"119. - Demgegenüber geht die heute h.L. dahin, die Beteiligungslehre vorrangig aus dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes und damit im Sinne der ersten Lösung normbezogen zu entwickeln120. Besonders deutlich wird dies bei den Lehren, welche die Teilnahme dem Gedanken der Risikoerhöhung und -Intensivierung unterstellen und insbesondere die Beihilfe als (abstraktes oder konkretes) Gefährdungsdelikt verstehen121. Unter Zugrundelegung des hier vorgelegten Modells der Normen und Pflichten sind drei Möglichkeiten denkbar, die Beteiligungslehre zu erfassen: Entweder unterfällt jede Beteiligung bereits den in den Deliktstatbeständen enthaltenen Normen, da jede Beteiligung kausal für den verbotenen Erfolg ist; in diesem Falle wäre die Beteiligungslehre ohne weiteres eine (freilich nicht notwendigerweise subjektiv zu entscheidende) Zurechnungsfrage. Dieses erste Modell entspricht dem in der Rechtsprechung vertretenen sog. extensiven Täterbegriff 22 und den "reinen Verursachungstheorien" zur Teilnahme123. - Oder es weiten §§ 25 ff. die in den Deliktstatbeständen enthaltenen Verhaltensnormen aus124; die Beteiligung wäre dann grundsätz117

IIS

Beteiligungsform, S. 244 ff.

Bloy , Beteiligungsform, S. 290. 119 Bloy, wie vorige Fn.; ähnlich Schmidhäuser , Lehrbuch, 6/29. - Wie Bloy eingehend ausführt, geht die (vorrangige) Berücksichtigung von Strafzweckgesichtspunkten - dem entscheidenden teleologischen Bezugspunkt der Zurechnungslehre, s. oben § 2 II - auf Hermann Bruns zurück. - Abi. aber Roxin, Täterschaft, S. 24. 120 Den jüngsten Versuch hierzu hat Stein , Beteiligungsformenlehre, bes. S. 238 ff. vorgelegt. Stein will nach "Dringlichkeitsstufen" der jeweiligen Täter-, Anstifter- und Gehilfenverhaltensnormen unterscheiden. Bei der Teilnahme stelle die dem Vordermann auferlegte Pflicht zu normgemäßem Verhalten einen "SchutzwalP für das Rechtsgut dar, so daß die Teilnehmerverhaltensnormen weniger "dringlich" seien als die Täterverhaltensnormen. Diese Auffassung ist problematisch: Warum soll eine Verhaltensnorm mit der Möglichkeit rechtswidrigen Verhaltens Dritter begründet und gar das Verbotensein (!) nach "Dringlichkeitsstufen" abgestuft sein? Krit. auch Roxin, Täterschaft, S. 625 f. 121 Im Sinne konkreter Gefährdung insbes. SK-Samson, § 27 Rdnr. 8; s. bereits ders ., Kausalverläufe, S. 196; im Sinne bloß abstrakter Gefährdung insbes. Herzberg, GA 1971,1 (7). Grundlegend Zimmerl , ZStW 49 (1929), 39 ff.; näher Bloy, Beteiligungsform, S. 115 ff. mit umf. Nachw.; zum Verhältnis zwischen extensivem und Einheitstäterbegriff Kienapfel , JurBl. 96 (1974), 113 (114). 123 So v.a. Lüderssen , Teilnahme, bes. S. 161 ff., 192. 124 Wohl h.L.; für die Teilnahme sehr deutlich Jakobs , Strafrecht, 22/7: "Das Verbot der Verwirklichung des Tatbestands, so wie er im BT beschrieben ist, übertritt der Teilnehmer nie, sondern stets nur das durch die Teilnahmeregelung erweiterte Verbot" (Herv. v. Verf.). 6 Vogel

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lieh eine Frage des Norminhalts und der Normlegitimation, mithin nach den Gesichtspunkten des Rechtsgüterschutzes zu entscheiden. Dieses zweite Modell entspricht dem in der h.L. vertretenen sog. restriktiven Täterbegriff 125 und - jedenfalls in Teilen - der herrschenden Auffassung von der Teilnahme als "akzessorischem RechtsgutangrifF' 126. - Oder aber es ist die Beteiligung - insbesondere: die Teilnahme - überhaupt nicht (aus sich heraus) normwidrig und ausschließlich das Ergebnis einer Zurechnung fremden (ggf. versuchten) Normbruchs. Dieses dritte Modell entspricht - für die Teilnahme - den älteren Unrechts- und Schuldteilnahmetheorien127. Gegen das erste Modell spricht allerdings bereits das auf Art. 103 Abs. 2 GG gegründete Argument, daß jedenfalls bei verhaltensgebundenen Delikten die (auch: kausale) Beteiligung an fremdem Verhalten nicht der Tatbestandsbeschreibung der Deliktstatbestände im Besonderen Teil entspricht: Der Rat an einen anderen, eine dritte Person zu verleumden, ist selbst noch kein Behaupten oder Verbreiten ehrenrühriger Tatsachen128. Weiterhin scheitert der extensive Täterbegriff de lege lata an den Pflicht- und eigenhändigen Delikten sowie am Vorsatzerfordernis für die Haupttat bei der Teilnahme (Ablehnung der bloßen "Urheberschaft") 129. Gravierender ist aber der Einwand, daß die These, jede Beteiligungshandlung sei kausal für das deliktische Verhalten bzw. den deliktischen Erfolg, für die wichtigen Bereiche der Anstiftung, der psychischen Beihilfe und der mittelbaren Täterschaft durch psychische Beeinflussung erheblichen wissenschaftstheoretischen Zweifeln unterliegt: Psychische Vorgänge werden im Strafrecht nicht als determiniert gedacht; sie können nicht strikt kausal erklärt werden 130. Allerdings entspricht die Rede von der "Kausalität der Anstiftung" (usw.) einem tiefverwurzelten Sprachgebrauch; insofern fragt sich, ob die KausaliNoch anders Herzberg, GA 1971, 1 ff. (bes. 3), für den die Teilnahmedelikte eigenständige "echte Deliktstypen", also nicht (nur) Erweiterungen der Verhaltensnormen darstellen. 125 S. nur LK-Roxin, Vor § 25 Rdnrn. 9 ff. 126 S. nur LK-Roxin, Vor § 26 Rdnrn. 15 ff. 127

S. zur Schuldteilnahmetheorie H Mayer, in: Rittler-FS, S. 243 ff.; zur Unrechtsteilnahmetheorie Trechsel, Teilnahme, S. 54 ff.; zur Kritik LK-Roxin, Vor § 26 Rdnrn. 8 f. Die Schuldteilnahmetheorie entspricht nicht mehr dem Gesetz, da §§ 26 f., 29 ausdrücklich die Teilnahme (Beteiligung) auch bei fehlender Schuld des (Mit-)Täters zulassen. 128 S. nur Jakobs, Strafrecht, 21/6; Jescheck, Lehrbuch, S. 524, 530; Roxin, Kriminalpolitik, S. 20; Tiedemann, Strafrecht, S. 150 f. - Eingehend zum Streit um den extensiven und den restriktiven Täterbegriff Bloy, Beteiligungsform, S. 115 ff. mit umf. Nachw. 129 LK-Roxin, Vor § 25 Rdnr. 10. 130 Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (295); s. weiterhin Kahlo, GA 1987, 66 (77 ff.); krit. aber Jakobs, 7/27 mit Fn. 35a u. 21/26; Schulz, in: Lackner-FS, S. 39 (45 ff.); alle m.w.N. - Zum älteren Streit um die psychische Kausalität Bloy, Beteiligungsform, S. 128 ff.; Roxin, Täterschaft, S. 44 ff. (jeweils insbes. zu Arnold Horn, GS 54 , 321 ff.). Beide Autoren weisen zutreffend darauf hin, daß sich die Frage der "psychischen Kausalität" auch bei der (mittelbaren) Täterschaft stellt und daher nicht zur Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme taugt.

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tätsthese durch Erweiterungen eines deterministischen Kausalmodells131 gehalten werden kann. Puppe132 weist darauf hin, daß Kausalverläufe insbesondere im Fahrlässigkeitsbereich, die unter Mitwirkung des Opfers (Verletzten) oder Dritter Zustandekommen, dadurch strikt kausal erklärt werden können, daß dieses Verhalten als gegeben vorausgesetzt und nicht weiter erklärt wird. Wird z.B. Gift schlecht verwahrt, gerät es deshalb in die Hände eines Kindes, das am Genuß des Gifts stirbt, so wird das Verhalten des Kindes für die ex post vorzunehmende Kausalerklärung als gegeben vorausgesetzt; daher ist das Verwahren des Gifts in casu kausal für den Tod des Kindes133. Jedoch kann nicht immer ein nicht determiniertes Ereignis als gegeben (und nicht erklärungsbedürftig) hingenommen werden; eine Erklärung ist de lege lata insbesondere beim Betrug (Erklärung der Vermögensverfügung durch Täuschung und Irrtum) sowie eben bei den hier problematischen Fällen der Anstiftung, der psychischen Beihilfe und der durch psychische Beeinflussung begründeten mittelbaren Täterschaft erforderlich. Es wird vorgeschlagen, hier anstelle der objektiven Kausalität das Kausalerlebnis des Betrogenen bzw. Angestifteten, in seinem Tatentschluß Bestärkten oder durch Irrtum oder Zwang zu seiner Tat Veranlaßten genügen zu lassen134: Erklären diese Personen ihr (späteres) Verhalten durch die Täuschung, Anstiftung oder Bestärkung durch den Gehilfen, so genüge dies für die Annahme einer Verursachung. In welche Probleme diese Auffassung führen kann, zeigt der bekannte Fall BGHSt 13, 13135: Hier hatte ein Gerichtsreferendar einen Zeugen um Geld gebeten und ihm hierbei wahrheitswidrig versichert, er erwarte in Kürze Geld. Der Zeuge sagte später aus, er habe das Geld in jedem Falle hingegeben, weil er einer Gerichtsperson gefällig sein wollte. Für den Bundesgerichtshof konnte diese Einlassung die Kausalität nicht beseitigen: Es genüge, daß das Vertrauen auf die falschen Angaben "wenigstens mitbestimmend" gewesen sei; der tatsächliche Verlauf der Willensbildung verliere "sein Dasein und seine rechtliche Bedeutung nicht dadurch, daß an seine Stelle ein anderer getreten wäre ... Die abweichende Auffassung ... überträgt Grundsätze, nach denen Ursachenzusammenhänge in der äußeren Natur beurteilt zu werden pflegen, zu Unrecht auf geistige Vorgänge im Innern des Menschen"136. Allgemeiner gesprochen ist - eben wegen des Fehlens von deterministischen Gesetzen nicht angebbar, wie sich der Betrogene, Angestiftete usw. nun entschieden 131

Hierzu unten § 5 I. ZStW 95 (1983), 287 (293 ff.). Ex ante gesehen ist der Verlauf freilich nicht determiniert; hier genügt es, daß der Verlauf (unter Zugrundelegung des Vertrauensgrundsatzes) nicht ganz unwahrscheinlich ist; näher Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (295). - Zum älteren Streit um die Frage des sog. "RegreßVerbots" in den Fällen, daß fahrlässigerweise vorsätzliches Handeln ermöglicht wird, Bloy, Beteiligungsform, S. 134 ff. m.w.N. 134 Vgl. (teilweise krit.) Engisch, in: v. Weber-FS, S. 247 ff. (bes. 267 ff.). 135 Mit Anm. Heinitz, JR 1959, 386 ff. 136 BGHSt 13,13 (14 f. - Herv. v. Verf.)\ für die abweichende Auffassung verweist der BGH auf RGSt 76,82 (86 f.) u. auf Maurach, Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. (1956), S. 277. 132 133

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hätte, wäre die (tatsächlich relevant gewordene) psychische Bedingung nicht gesetzt worden. Puppe137 sieht nun den Ausweg darin, hier (psychologische) Wahrscheinlichkeitsgesetze zur Erklärung des Verhaltens zu verwenden. Auch dieser Weg ist aber nicht unmittelbar gangbar, da Wahrscheinlichkeitsgesetze den Einzelfall nie erklären können138. Es bleibt daher dabei, daß innere (seelische) Ereignisse nicht kausal (oder wahrscheinlichkeitstheoretisch), sondern - und hierin liegt ein wissenschaftstheoretisch valider Lösungsansatz - nur dispositionell erklärt werden können, nämlich durch die Zuschreibung der gesetzesartigen Hypothese, daß ein bestimmten Einflüssen ausgesetzter Mensch zu bestimmten Handlungen neigt139. Damit ist vom restriktiven Täterbegriff auszugehen140, und somit verbleiben nur das zweite und das dritte Modell für die Erfassung der Teilnahmelehre. Beide Modelle vermögen aber als Gesamtmodell für die Erfassung der Beteiligungslehre nicht zu befriedigen. Das dritte Modell - wonach die Beteiligung als solche (aus sich heraus) unverboten ist - kann nicht erklären, warum insbesondere im Fall der Mittäterschaft jeder (schuldhaft handelnde, § 29) Mittäter wegen eines vollendeten Delikts - und damit wegen normwidrigen Handelns - bestraft wird. Es trifft zwar zu, daß in dem paradigmatischen Fall der mittäterschaftlichen Vergewaltigung, in welchem der eine Mittäter Gewalt anwendet, der andere den außerehelichen Beischlaf vollzieht141, keiner der Mittäter (isoliert betrachtet) gegen das Vergewaltigungsverbot verstößt, da keiner in seiner Person alle Normmerkmale erfüllt. Dennoch haben beide zusammen und hat damit jeder von ihnen gegen das Vergewaltigungsverbot verstoßen; es wäre schlicht falsch zu sagen, beide hätten unverboten (!) gehandelt. Ähnliches gilt bei der mittelbaren Täterschaft: Zwar handelt der Arzt, welcher der ahnungslosen Krankenschwester aufträgt, ein in casu tödlich wirkendes Medikament zu spritzen, nach einem restriktiven Täterbegriff nicht normwidrig (und setzt auch nicht zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar an 142 ); jedoch kann es nicht richtig sein zu sagen, der Arzt habe mit Blick auf das Tötungsverbot unverboten (!) gehandelt (und es werde ihm nur ein fremder Normverstoß zugerechnet, was wegen des bei der Krankenschwester gem. § 26 nötigen Vorsatzes unmöglich wäre). - Andererseits gerät das rechtsgutsbezogene zweite Modell in Schwierigkeiten zu erklären, warum die Teilnahmestrafbarkeit de 137

ZStW 95 (1983), 287 (299). S. noch unten § 3 III 2. m.w.N. 139 Grundlegend Ryle, Der Begriff des Geistes, S. 49 ff., 110 ff. (bes. 119); 147 ff.; vgl. weiterhin v. Savigny, Sprache, S. 91 ff.; zur Anwendung auf die Freiwilligkeit des Rücktritts (§ 24) Hassemer, in: (Hrsg.) Lüderssert/Sack, Sozialwissenschaften, Bd. I, S. 229 ff. - Näher zum Begriff der Disposition am Beispiel der "Gefahr" unten § 8 Fn. 147. 138

140

Anderes gilt selbstverständlich, wenn der Gesetzgeber den extensiven "Einheitstäterbegrifr ausdrücklich normiert hat, so in § 14 OWiG u. in §§ 12 ff. östStGB; zu diesen Regelungen1eingehend Bloy, Beteiligungsform, S. 151 ff. u. in: Schmitt-FS, S. 33 ff. 41 S. hierzu RGSt 3,181 (182 f.); 71, 364; BGHSt 6, 226 (228 f.); 27, 205. 142

Str., aber (wohl) h s . nur LK-Vogler, § 22 Rdnrn. 96 ff. mit umf. Nachw.

§ 2 Zurechnung als Pflichtwidrigkeit

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lege lata (limitiert) akzessorisch ist, also einen kraft Vorsatz zurechenbaren fremden Normbruch (oder zumindest dessen Versuch, also fremdes pflichtwidriges Verhalten) voraussetzt. In aller Schärfe hat Lüderssen143 dieses Problem aufgedeckt: Es sei schlichtweg widersprüchlich, daß der teleologische Grund für die Teilnehmerstrafbarkeit einerseits in der Mitwirkung an der Verletzung eines im Besonderen Teil geschützten Rechtsguts (in der Form der Kausierung der Verletzung oder der Gefährdung des Rechtsguts) erblickt werde, andererseits aber darauf bestanden werde, es handele sich um akzessorisches144, nämlich vom Teilnehmer zu verantwortendes fremdes Unrecht 145. Diese Erwägungen zwingen dazu, eine zwischen dem zweiten und dem dritten Modell vermittelnde Lösung zu wählen: Bei der (Mit- und mittelbaren) Täterschaft ergibt sich die Normwidrigkeit durch die Zurechnung fremden Verhaltens als eigenes normwidriges Verhalten; bei der Teilnahme hingegen wird fremder (versuchter) Normbruch als solcher dem Teilnehmer zugerechnet146. In beiden Fällen stellen sich aber im Ergebnis nur Zurech143

144

Teilnahme, S. 63 ff.

So die ganz h.L., s. nur LK-Roxin, Vor § 26 Rdnr. 15 ff. ("akzessorietätsorientierte Verursachungstheorie"). 145 Konsequenterweise meint Lüderssen (Teilnahme, S. 25, 28, 119), es müsse das Teilnehmerunrecht stets eigenes, nicht vom Haupttäter abgeleitetes sein. Dies verfehlt den normativen Sinn der Akzessorietät, auch wenn Lüderssen eine "faktische" Bedeutung der Haupttat als Stufe der Vermittlung der Gefährdung bzw. Verletzung anerkennt. - Soweit die Lehre von Lüderssen damit kritisiert wird, sie gehe am Gesetz vorbei (s. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 621), ist freilich zu erinnern, daß Lüderssen (aaO. S. 29 ff.) schon keine Interpretation des geltenden Rechts bezweckt; ebenso Bloy, Beteiligungsform, S. 177. 146 Ebenso Tiedemann, in: Baumann-FS, S. 7 (11 f.). Terminologisch irritierend mag erscheinen, daß hiernach die Teilnahme als solche unverboten ist, also keine eigenständige Normwidrigkeit darstellt. Genau das ist aber der Sinn der Akzessorietät; und ganz in diesem Sinne führt Jakobs, Strafrecht, 21/8a aus: "Gegen ... Versuche, die Haftung (sc. des Teilnehmers) ... ohne Akzessorietät zu begründen ..., spricht auch, daß alle solche Konzepte ein Verhalten im Vorfeld des Externalisierung (der Tatbestandsverwirklichung) als Unrecht definieren müssen ... (Hierbei wird) das Tatprinzip ... mißachtet", Herv. i. Orig. Bestärkend läßt sich heranziehen, daß nach allg.M. Vorbereitungshandlungen des Täters selbst unverboten sind (mögen sie auch noch so gefährdend sein), was auch für Hilfshandlungen nach Versuchsbeginn gilt; es ist etwa unverboten, wenn sich der Einbrecher mit einem selbst mitgebrachten Bier stärkt. Warum anderes gelten soll, wenn Dritte diese Handlungen vornehmen, ist unerfindlich. Schließlich ist eine Haftung für nicht (selbst) normwidriges Verhalten dem Strafrecht nicht fremd, wie der Versuch zeigt. Allerdings ist diese Auffassung noch mit § 30 zu harmonisieren. Wäre diese Vorschrift wirklich als Anordnung einer Versuchsstrafbarkeit (im technischen Sinne des § 22) für bestimmte Formen der Teilnahme zu deuten, so müßte der Auffassung gefolgt werden, daß die Teilnahme ein verbotenes und - sogar eigenständig, d.h. nichtakzessorisch - normwidriges Verhalten darstellt; in diesem Sinne eine vordringende Lehre, vgl. M.-K. Meyer, GA 1979, 252 (255, 260); Plate, ZStW 84 (1972), 294 (300); Sax y ZStW 90 (1978), 927 (957); Schmidhäuser, Lehrbuch, 14/62, 77; s. bereits Höpftier, ZStW 26 (1906), 579 (600). Nun spricht gegen eine derartige Deutung des § 30 schon, daß - wäre § 22 auf die Teilnahmedelikte anwendbar - sich einerseits § 30 erübrigen würde, andererseits die versuchte Beihilfe strafbar wäre. Auch nicht haltbar ist es, § 30 als Sonderregelung der Teilnahme anzusehen, weil es an einer Haupttat gerade fehlt und somit eine akzessorische Unrechtsbegründung ausscheidet (a A. aber Maurach-

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

nungs-, d.h. Verantwortungs- und Vermeidbarkeitsfragen, nicht aber rechtsgutsbezogene Normfragen. Letztere betreffen bei der Teilnahme (nur) die Haupttat, bei der (Mit- und mittelbaren) Täterschaft (nur) die Frage, ob das Gesamtgeschehen in der Person des (Mit- und mittelbaren) Täters normwidrig ist. Mithin kann die eingangs aufgeworfene Frage, ob die Beteiligungslehre auf der Ebene der Zurechnung oder derjenigen der Normwidrigkeit zu lösen ist, im ersten Sinne beantwortet werden 147. 2. Kriterien der pflichtwidrigen Beteiligung Damit ist aber noch nicht ausgemacht, welches die Kriterien der Zurechnung fremden Verhaltens sind und wie insbesondere täterschaftliche Zurechnung von derjenigen bei der Teilnahme abzugrenzen ist; allgemeiner: worin sich Täterschaft und Teilnahme unterscheiden. Eine erste formale Abgrenzungsmöglichkeit ergibt sich aus dem hier zugrundegelegten Modell der Haupt- und Hilfshandlung 148: Mit- und mittelbare Täterschaft sind Formen der zurechenbaren Aufspaltung einer (ggf. versuchten) normwidrigen Haupthandlung auf mehrere; die Formen der Teilnahme stellen hingegen (nicht normwidrige) Hilfshandlungen dar, die einen anderen - den Haupttäter - in den Stand setzen, eine normwidrige Haupthandlung zu vollziehen, sei es, daß die Intention zu dieser Tat hervorgerufen wird (Anstiftung), sei es, daß deren Handlungsvollzug ermöglicht oder erleichtert wird (Beihilfe). Damit wird die zeitliche Grenze zwischen Haupt- und Hilfshandlung, nämlich der Versuchsbeginn, bedeutsam. Es entspricht einer vordringenden und zutreffenden Lehre, im Rahmen der Mittäterschaft 149 Tatbeiträge, die Gössel, AT 2, § 53 Rdnrn. 4, 8 m.w.N.). Vielmehr trifft die h.A. zu, die in § 30 eine selbständige Pönalisierung bestimmter Vorbereitungshandlungen sieht, die teleologisch von den Teilnahmeformen abzukoppeln ist; grundlegend Letzgus, Beteiligung, S. 219 ff.; s. weiterhin Bloy, Beteiligungsform, S. 181 f., 185; S/S-Cramer, § 30 Rdnr. 2; LK-Roxin, § 30 Rdnr. 2; SKSamson, Vor § 26 Rdnr. 23; ähnlich BGHSt 9, 134; 10, 389; 14, 379. Eine derartige Pönalisierung ist aber vor dem Tatprinzip begründungsbedürftig, s. Jakobs, Strafrecht, 21/8a, 26/lc u. 27/ 1 f.; ders., ZStW 97 (1985), 751 (778 - "externalisiertes Bedrohungsunrecht"). - Zur Rolle des § 30 bei (unechten) Unterlassungsdelikten vgl. Jakobs, Strafrecht, 29/122. 147

Gegen eine "Zurechnungslösung" bei der Beteiligungslehre (und mit Rückgriff auf klassisch-finalistische Formeln) aber neuerdings Küpper, Grenzen, S. 111 ff. 148 S. oben §2 III 5. 149

Wenig diskutiert ist das Problem, wie sich die mittelbare Täterschaft in diesen Gedanken einfügt. Unproblematisch ist die Harmonisierung nur für die Auffassung, welche das unmittelbare Ansetzen des mittelbaren Täters mit dem Beginn der Einwirkung auf den - jedenfalls: den gutgläubigen - Tatmittler gleichsetzt (so RGSt 59,1; 66,141; 70, 212; ähnlich S/S, 17. Aufl. < 1975 >, § 43 Rdnr. 16; Welzel, Lehrbuch, S. 191). Für die - zutreffende - h.L., welche das unmittelbare Ansetzen des mittelbaren Täters erst mit demjenigen des Tatmittlers als gegeben ansieht (so LK-Vogler, § 22 Rdnr. 101 m.w.N.), stellt sich hingegen das Harmonisierungsproblem in voller Schärfe. Es resultiert daraus, daß bei der mittelbaren Täterschaft die gesamte Haupthandlung des Tatmittlers dem mittelbaren Täter zugerechnet werden muß, bei der Mittäterschaft hingegen nur Teile derselben. Daher kann die im Text bezeichnete Einschränkung für die mittelbare Täterschaft nicht gelten.

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ausschließlich im Vorbereitungsstadium der Tat geleistet werden, nie als täterschaftlich zuzurechnen, und zwar auch dann nicht, wenn die Tat ohne den vorbereitenden Tatbeitrag nicht geschehen wäre 150. Hingegen gilt nicht umgekehrt, daß Tatbeiträge im Ausführungsstadium stets täterschaftlich zugerechnet werden müssen: Es kann so sein, daß solche Beiträge den oder die (Haupt-)Täter nur in den Stand versetzen, die Haupthandlung zu vollziehen 5 1 . Über diesen formalen Gesichtspunkt hinaus ist die materiale Abgrenzung zwischen der täterschaftlichen Zurechnung und derjenigen zum Teilnehmer bekanntlich ungemein umstritten. Im Ausgangspunkt stellt die Rechtsprechung monistisch auf die subjektive Willensrichtung des Beteiligten ab152, während in der Lehre fast einhellig ein dualistisches Modell vertreten wird: Fremde Tatbeiträge können hiernach täterschaftlich einerseits kraft Tatherrschaft, andererseits kraft besonderer Pflichtenstellung zugerechnet werden 153. Nun müssen die durchschlagenden Einwände gegen subjektive Täterlehren hier nicht wiederholt werden154. Bedeutsamer ist die Streitfrage, ob Tatherrschaft als normativ durchtränkter (Typus-)Begriff 155 nicht selbst eine Pflichtenstellung impliziert, so daß sich letztlich ein monistisches pflichtenorientiertes Modell ergibt 156. Jedoch kann der der h.L. zugrundeliegende Dualismus auch pflichtentheoretisch formuliert werden: Bestimmte Tatbestände des Besonderen Teils - eben die Pflichtdelikte - beinhalten 150 So aber die Lehre von der "unentbehrlichen" oder "kausalen" Beihilfe als Täterschaft, vgl. Baumann, JuS 1963, 85 (86 f.); S/S-Cranier, § 25 Rdnr. 51; a.A. auch die st. Rspr., s. nur BGHSt 11, 268 (271); 14, 124 (128 f.); wie hier jedoch Bloy, Beteiligungsform, S. 196 ff.; LK-Roxin, § 25 Rdnr. 125 ff.; ders., Täterschaft, S. 292 ff.; je mit umf. Nachw. 151 Bloy , Beteiligungsform, S. 369. 152 Näher und differenzierend Bloy , Beteiligungsform, S. 99 ff. mit umf. Nachw., der zum Ergebnis gelangt, die BGH-Rspr. stehe nunmehr auf der Grundlage einer "normativen Kombinationstheorie", die objektive und subjektive Elemente - freilich ohne klare Linie - berücksichtige. - Zum Sonderfall der Täterschaft bei § 216, wo die Rspr. (BGHSt 19, 135) selbst eine subjektivierende Abgrenzung für unmöglich hält, Bloy , aaO., S. 109 ff. 153 Grundlegend Roxin , Täterschaft, S. 352 ff.; s. weiterhin ders. in: LK, § 25 Rdnrn. 29 ff.; je mit umf. Nachw. - Darüber hinaus anerkennt die h.L. die eigenständige Kategorie der "eigenhändigen Delikte", für welche weder der Tatherrschafts- noch der Pflichtgedanke maßgeblich sei, s. jeweils aaO. S. 399 ff. u. Rdnrn. 31 ff. 154 Eingehende Kritik z.B. b. Jakobs , Strafrecht, 21/27 ff.; LK-Roxin, § 25 Rdnrn. 22 ff. m.w.N. - Zur Frage, ob die Gesetzesfassung des § 25 einer (extrem) subjektiven Täterschaftslehre - insbesondere der Auffassung, der eigenhändig alle Tatbestandsmerkmale Erfüllende könne bloßer Gehilfe sein, so bekanntlich BGHSt 18, 87 ("Staschynskij-Urteil") - den Boden entzogen hat, s. OLG Stuttgart JZ 1977, 725; Bloy , Beteiligungsform, S. 114; Roxin , aaO. Rdnr. 25. Geradezu zwingend ist eine bejahende Antwort wohl nicht, weil die Wendung "wer die Straftat selbst ... begeht " (noch) auslegungsbedürftig und -fähig ist und die Auffassung der Gesetzesverfasser (Prot., Bd. V, S. 1649, 1823, 1825) nach allgemeinen Grundsätzen nicht ausschlaggebend ist; s. auch Baumann/Weber , Strafrecht, S. 563 in Fn. 28. 155 Hierzu eingehend Bloy , Beteiligungsform, S. 304 ff. 156 In diese Richtung gehen die Einwände von Gallas , ZStW 69 (1957), Sonderheft zum VII. Internationalen Strafrechtskongreß in Athen S. 3 (14, 28); hiergegen Roxin , Täterschaft, S. 382.

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ohne weiteres die Pflicht, zum Schutze des jeweiligen Rechtsguts Tatbeiträge Dritter sogar in ihrer Erfolgsrelevanz abzuschirmen und erst recht sie nicht zu fördern (Beteiligungsunterlassungspflicht); neben zahlreichen Amtsdelikten ist insbesondere die Untreue (§ 266) zu nennen, bei welcher der Treupflichtige auch dann Täter ist, wenn er an vermögensschädigenden Handlungen Dritter teilnimmt oder sie gar nur geschehen läßt157. In diesen Fällen beruht die Beteiligungsunterlassungspflicht auf der Mitgliedschaft in einer Institution158. Außerhalb von Institutionen bestehen derartige Beteiligungsunterlassungspflichten aber nur dann, wenn sie als Folge der Ausübung von (Organisations-)Freiheit angesehen werden können. Hierfür ist aber Tatherrschaft aber nur eine bildhafte und keineswegs stets (ohne Verbiegung ihres Begriffsinhalts) zutreffende Chiffre 159: Die Tat (d.h. die Haupthandlung) muß von dem Täter nicht so organisiert werden, daß (nur) er über sie herrscht, wie insbesondere bei der Mittäterschaft deutlich wird 160 , vor allem wenn der Tatbeitrag des einen Mittäters ohne weiteres durch einen anderen ersetzbar ist. Allgemeiner gesprochen muß die Organisation keineswegs darauf hinauslaufen, daß der Täter Tatherrschaft im Sinne des "faktischen In-Händen-Halten(s) des tatbestandsmäßigen Geschehensablaufs, ... der faktischen Möglichkeit jederzeitiger tatbestandsgestaltender Steuerung" oder des jederzeitigen Hemmenkönnen der Verwirklichung des Gesamterfolgs innehat161, wie sich insbesondere bei der mittelbaren Täterschaft zeigt: Wer einen schuldunfähigen Geisteskranken zur Tötung eines Politikers losschickt, herrscht faktisch über die (Haupt-) Handlung weniger (!) als derjenige, der einen vollverantwortlichen professionellen Mörder dingt und ihm einen detaillierten Tatplan vorgibt 162. Umgekehrt kann nicht nur der "notwendige", sondern jeder Teilnehmer (oder sogar ein unbeteiligter Dritter) durch Anzeige der Tat bei der Polizei deren Ablauf faktisch hemmen und gestalten.

157

158

S. nur Lackner, § 266 Rdnr. 15.

Eingehend Jakobs, Strafrecht, 21/2 u. 115 ff.; krit. aber Stein, Beteiligungsformenlehre, S. 209 ff. 159 Jakobs, Strafrecht, 21/33 f. 160 Zum Streit um die Tatherrschaft des Mittäters Bloy, Beteiligungsform, S. 370 ff. - Bloy (aaO., S. 371) schließt sich der h.L. an, nach welcher es genügt, daß alle Mittäter die Gesamtherrschaft innehaben, so daß sich die Tatherrschaft des Mittäters als Mit-, nicht als Teilhcrrschaft erweist. Dann wäre doch aber noch zu begründen, warum diese Mitherrschaft täterschaftliche Zurechnung begründen kann. 161 So aber Maurach-Gössel, AT, 2, § 47 Rdnr. 89. 162 Daher will Roxin (in LK, § 25 Rdnr. 49; s. bereits Täterschaft, S. 147 f.) bei der mittelbaren Täterschaft die Tatherrschaft denn auch durch ein normatives "Verantwortungsprinzip" begründen.

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3. Einige Konsequenzen Die allgemeinen dogmatischen Konsequenzen dieser Sicht können hier nur äußerst skizzenhaft angedeutet werden: Bei der Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2) liegt der zurechnungsbegründende Organisationsakt in der geplanten arbeitsteiligen Aufspaltung der Vornahme der (in einer Gesamtbetrachtung) normwidrigen Haupthandlung163. Es liegt also nur eine Normverletzung als eine Handlung, freilich begangen durch mehrere, vor. Hierbei sind die Kriterien der Einheitlichkeit ähnlich zu bestimmen wie bei der einfachen Normverletzung durch mehrere Handlungen164; unabdingbar ist insbesondere die subjektive Verklammerung durch einen gemeinsamen - freilich nicht notwendig vor der Tat gefaßten 165 - Tatentschluß. Jeder mittäterschaftliche Beitrag muß (subjektiv und objektiv166) "wesentlich" sein167; dies bedeutet, daß nicht bloß eine Hilfshandlung vorliegen darf, die den (oder die anderen Mit-)Täter in den Stand setzt, die (oder Teile der) Haupthandlung zu vollziehen; es genügen aber solche "vor-" und "außertatbestandlichen" Handlungen, die - wären sie von einem Alleintäter vorgenommen worden die Versuchsstrafbarkeit begründen würden 168. - Bei der Teilnahme (Anstiftung und Beihilfe, §§ 26, 27) ist der zurechnungsbegründende Akt eine Hilfshandlung, die den Haupttäter in den Stand setzt, die vorsätzliche Haupthandlung selbst (ggf. in bestimmter Weise) zu vollziehen. Grund der Zurechnung ist weder die Korrumpierung des Haupttäters169 noch die - nach

163

Der Gedanke der Arbeitsteilung allein genügt nicht, da auch im Verhältnis von Hilfsund Haupthandlungen Arbeitsteilung vorliegen kann, treffend Bloy, Beteilungsform, S. 369. 164 Hierzu Kindhäuser, JuS 1985,100 (103). 165 Zum spontan gefaßten gemeinsamen Tatentschluß und zu den problematischen Fällen "sukzessiver" Mittäterschaft s. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 614 f. m.w.N. 166 Zum Auseinanderfallen des objektiven Moments vom subjektiven RGSt 74, 84; BGHSt 18, 87; Jescheck, Lehrbuch, S. 617. - Die hier erhobene Forderung, für mittäterschaftliche Zurechnung müsse der Tatbeitrag subjektiv und objektiv vorliegen, hat zur Folge, daß das unmittelbare Ansetzen (§ 22) durch einen Mittäter jedem anderen erst dann zugerechnet werden kann, wenn der andere selbst einen Tatbeitrag leistet (sog. Einzellösung), zutr. Bloy, Beteiligungsform, S. 265 ff.; SK-Rudolphi, § 22 Rdnr. 19a; a A aber die h.L. (sog. Gesamtlösung, nach4 welcher der Versuchsbeginn durch einen Mittäter den anderen ohne weiteres zurechenbar ist), s. nur S/S-Eser, § 22 Rdnr. 54a; Küper, Versuchsbeginn, S. 17; LK-Roxin, § 25 Rdnr. 139. 167 Zu diesem Kriterium Bloy, Beteiligungslehre, S. 370; Roxin, Täterschaft, S. 284 u. in LK, § 25 Rdnrn. 108,131; s. weiterhin Jescheck, Lehrbuch, S. 611; SK-Samson, § 25 Rdnr. 47. 168

Beispiel: Wer planmäßig eine Haustür aufbricht, ist Mittäter eines geplanten Einbruchsdiebstahls, nicht aber einer geplanten Vergewaltigung der Hausbewohnerin. Weitergehend die h.L., die auch "wesentliche" Hilfshandlungen für Mittäterschaft (wie im zuletztgenannten Beispiel) genügen lassen will, s. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 616; noch viel weitergehend die Rspr., nach welcher insbesondere die bloß psychische Förderung der Tat - teilweise nur mehr vermittelt über die physische Anwesenheit des Beteiligten! - genügen soll, um Mittäterschaft zu begründen, s. etwa BGH GA 1986, 229. 169 So die Schuld- und Unrechtsteilnahmetheorien, s. oben Fn. 127 u. krit. Jakobs, Strafrecht, 22/1 ff.; Stein, Beteiligungsformen, S. 100 ff. mit umf. Nachw.

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dem Gesagten170 nicht immer gegebene - Verursachung des tatbestandlichen Erfolges oder die - ja erst durch den Haupttäter vermittelte - Gefährdung des jeweils geschützten Rechtsguts. Auch mit dem von Schumann171 in die Diskussion gebrachten Schlagwort der "Solidarisierung mit fremdem Unrecht" kann die Teilnahme nicht hinreichend gegründet werden: In welchem Sinne soll etwa die Anstiftung - das Hervorrufen des Entschlusses eines anderen, Unrecht zu begehen - eine Solidarisierung mit fremdem Unrecht sein? Den zutreffenden Gesichtspunkt hat Schumann selbst beiläufig genannt: Es geht nicht - positiv - um Solidarisierung mit fremdem Unrecht, sondern - negativ - um einen Mangel an rechtlich geforderter Solidarität mit dem bedrohten Rechtsgut172. Diese Solidarität geht - in den Grenzen des § 138 - nicht allgemein so weit, daß fremdes täterschaftliches Unrecht zu verhindern sei; sie gebietet es aber, daß andere nicht in den Stand gesetzt werden, normwidrige Handlungen (in bestimmter Weise) zu vollziehen. Aus dieser Deutung ergibt sich dogmatisch: Insbesondere bei der Beihilfe muß die Hilfshandlung bis zum Beginn der Haupthandlung (d.h. bis zu deren Versuchsbeginn) fortwirken, aber nicht selbst die Haupthandlung (in ihrer konkreten Gestalt) oder gar ihren (tatbestandsmäßigen) Erfolg bedingen173. Zwar ist es nicht erforderlich, daß die Haupthandlung erfolgreich vollzogen wird (und damit normwidrig ist); in diesen Fällen liegt eine Teilnahme am Versuch vor, welche das funktionale Äquivalent der Versuchsstrafbarkeit bei der Teilnahme darstellt 174. Jedoch muß - analog zur Versuchskonstellation - der Vorsatz des Teilnehmers auf eine normwidrige (und damit vollendete) Haupthandlung gerichtet sein (sog. agent provocateur) 175. In 170 171

172

S. soeben § 2 IV 1. Selbstverantwortung, S. 49 ff.

Schumann, Selbstverantwortung, S. 66. Damit stellen - in Übereinstimmung mit der allg.M., s. nur LK-Roxin, § 27 Rdnr. 7 solche Tatbeiträge keine Beihilfe dar, die den Täter nicht erreichen oder vor Versuchsbeginn wieder ausscheiden (z.B. der vergessene Nachschlüssel). Nicht wirksame oder überflüssige Tatbeiträge zum Versuch (z.B. der abgebrochene Nachschlüssel oder die nicht benutzte Zange, vgl. RGSt 6, 169 , RG v. 7.11.1913, zit. in RGSt 58, 113 ) bleiben aber beachtlich, wobei diskutabel ist, ob hier nicht (nur) Beihilfe zum Versuch vorliegt, so LKRoxin, § 27 Rdnr. 7. - Weitgehend wie hier die st. Rspr. (s. die Nachw. b. LK-Roxin, § 27 Rdnrn. 14 ff., 24 ff.); i.E. ähnlich auch diejenigen Ansichten, die auf die Gefährdung durch den Tatbeitrag abstellen, so v.a. Herzberg, GA 1971, 1 ff.; Samson, Kausalverläufe, S. 55 ff. u. in: Peters-FS (1974), S. 121 ff. - Hingegen hält die h.L. daran fest, die Beihilfe müsse (mindestens) erfolgskausal gewesen sein, wobei der Kausalitätsbegriff freilich stark deformiert wird (so z.B. b. LK-Roxin, § 27 Rdnr. 2: "ermöglicht, erleichtert, intensiviert oder absichert"); s. weiterhin Bloy, Beteiligungsform, S. 270 ff. (bes. 285 f.); S/S-Cramer, § 27 Rdnr. 10; Dreher/Trändle, § 27 Rdnr. 2; Jescheck, Lehrbuch, S. 628 f.; Schmidhäuser, Lehrbuch, 14/143. 174 Zu § 30 - der gerade keine Versuchsstrafbarkeit darstellt - s. oben Fn. 146. 175 Zur umstrittenen Frage, ob der Vorsatz zudem auf "materielle" Beeinträchtigung des jeweils geschützten Rechtsguts gerichtet sein muß, s. (bejahend, d.h. Straflosigkeit bei bloßem Vollendungsvorsatz annehmend) S/S-Cramer, § 26 Rdnr. 16; LK-Roxin, § 26 Rdnrn. 19 f.; Schmidhäuser, Lehrbuch, 14/107 in Fn. 7; Stratenwerth, Strafrecht, Rdnr. 890; (verneinend) Franzheim, NJW 1979, 2014 (2016 f.); Welze!, Strafrecht, S. 117; vgl. auch (differenzierend) Jakobs, 23/17. 173

§ 2 Zurechnung als Pflichtwidrigkeit

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den umstrittenen Fällen der Teilnahme an Haupttaten gegen (disponible) Rechtsgüter des Teilnehmers selbst176 - etwa der Anstiftung zu einer Sachbeschädigung an eigenen Sachen des Haupttäters ist zu unterscheiden: Weiß der Teilnehmer, daß die Haupttat seine eigenen (disponiblen) Rechtsgüter verletzen wird, so liegt schon wegen der Teilnahmehandlung objektiv eine (wirksame) Einwilligung und damit kein objektiver Normbruch des Haupttäters vor, was der Teilnehmer weiß; deshalb ist eine Teilnahmestrafbarkeit ausgeschlossen. Weiß er es nicht (oder ist die Einwilligung unwirksam 177), so liegt mangels Einwilligung eine objektiv und in der Vorstellung des Teilnehmers normwidrige Haupttat vor, so daß wegen vollendeter Teilnahme an der vollendeten oder ggf. nur versuchten178 Haupttat zu bestrafen ist. Problematisch ist schließlich die mittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 2), die unter der Herrschaft der strengen Akzessorietät zunächst zur Ausfüllung von Strafbarkeitslücken geschaffen wurde 179. Mit der Einführung des limitierten Akzessorietät sind erhebliche Harmonisierungsprobleme insbesondere im Verhältnis zwischen Anstiftung eines nicht schuldhaft Handelnden und mittelbarer Täterschaft entstanden181. Es entspricht freilich der Intention des Gesetzgebers und der h.A. 182, die Anstiftung als Auffangstatbestand für Fälle zu verstehen, in denen - nach allgemeinen Regeln - keine mittelbare Täterschaft vorliegt. Zurechnungsbegründender Akt bei der mittelbaren Täterschaft ist es, daß der mittelbare Täter die Ausführung der (Haupt-) Handlung durch den Tatmittler durch eine eigene (Hilfs-)Handlung ermöglicht (insoweit liegt es wie bei der Teilnahme!), jedoch hierbei ein relevanter Defekt 183 bei dem Tatmittler vorliegt, um welchen der mittelbare Täter weiß und für welchen er Verantwortung trägt 184. Für den umstrittenen185 Grund dieser Verantwortung ist zu differenzieren: Immer hinreichend ist es, wenn der mittelbare Täter den 176

177

S. hierzu nur Jakobs, Strafrecht, 22/11.

So z.B. in den Fällen des § 216 oder des § 226 a. - Folge dieser Auffassung ist, daß - gelingt eine Tötung auf Verlangen nicht oder wird zu einer sittenwidrigen Körperverletzung (z.B. einer Selbstverstümmelung) angestiftet - das Tatopfer gem. §§ 216, 22, 26 bzw. § 223 (ggf. 109), 26 zu bestrafen ist, sofern hier nicht der Gedanke der "notwendigen Teilnahme" zu korrigieren vermag; verneinend Otto, in: Lange-FS, S. 197 (213); bejahend (und für Straflosigkeit) aber die h.L., vgl. LK-Roxin, Vor § 26 Rdnr. 33; Herzberg, Täterschaft, S. 105 f. 178 Versucht auch dann, wenn der Haupttäter irrig davon ausgeht, in der Teilnahmehandlunc liege (konkludent) eine (wirksame) Einwilligung. 179 Vgl. Jakobs, Strafrecht, 21/17. 180 Durch VO v. 29.5.1943, RGBl. I 339. 181

Eingehend Bloy, Beteiligungsform, S. 344 ff. S. LK-Roxin, Vor § 26 Rdnr. 20.

182

183

Die Frage, welche Defekte relevant sind, ist im einzelnen ungemein umstritten, s. nur LK-Roxin, § 25 Rdnrn. 49 ff. mit umf. Nachw. 184 Nicht aber muß der mittelbare Täter dem Tatmittler stets überlegen sein: Auch der Geisteskranke kann einen anderen zur Tatausführung mit Mitteln des § 35 nötigen und ist dann I O Cmittelbarer (freilich schuldlos handelnder) Täter, s. Jakobs, Strafrecht, 21/64. Zum Problem Jakobs, Strafrecht, 21/68 m.w.N.

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Erstes Kapitel: Norm- und Pflichtwidrigkeit

Defekt herbeigeführt hat, um die Tat zu veranlassen186. Das bloße Ausnutzen eines bestehenden, nicht vom Täter herbeigeführten Defekts kann hingegen nur dann genügen, wenn die Handlung als solche herbeigeführt worden ist 187 , wenn der sich in dem Defekt befindliche Tatmittler also nicht bereits den Handlungsentschluß gefaßt hat und der mittelbare Täter zur Handlungsausführung nur mehr Beihilfe leistet188. - Schließlich muß sich das hier vorgelegte Modell - vor allem bezüglich der Teilnahme - an § 28 messen lassen . Insofern kann zwar die Regelung zu den echten Sonderdelikten (§ 28 Abs. 1) zwanglos erklärt werden: Bei echten Sonderdelikten kann der Extraneus an der Tat des Intraneus teilnehmen, weil es um die Zurechnung fremden Normbruchs geht, nicht aber umgekehrt 190. Problematisch erscheint aber die Regelung der unechten Sonderdelikte (§ 28 Abs. 2). Immerhin ist die Regelung für die täterschaftliche Zurechnung mit dem hier vorgelegten Modell kompatibel, da es nur darum geht, fremde Handlungsbeiträge als eigene zuzurechnen und (mit Blick auf beim Intraneus vorhandene, beim Extraneus fehlende besondere persönliche Merkmale) zur strafbaren Handlung zusammenzusetzen. Bei der Teilnahmezuxtámuxig scheint aber das hier vorgelegte Modell der Zurechnung fremden Normbruchs zu versagen, auch wenn der Intraneus ebenso wie der Extraneus normwidrig (im Sinne des Grundtatbestandes) handelt. Der Widerspruch ist im Gesetz angelegt und nicht lösbar 191; die von Cortes Rosa192 und Roxin193 insoweit favorisierte "Strafrahmenlösung" stellt letztlich nur ein formales, kein materiales Lösungsprinzip dar.

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Unstreitige Beispiele: Der Tatmittler wird vom mittelbaren Täter betrunken gemacht und begeht dann die Tat (§ 20); der mittelbare Täter bringt den Tatmittler (selbst oder durch andere) 187 in einen Nötigungsnotstand gem. § 35. Schulbeispiel: Der Arzt weist die (gutgläubige) Krankenschwester an, ein in casu tödlich wirkendes Medikament zu spritzen. - A.A. aber RGSt 61, 265 (267): Veranlassung eines 13jährigen, der für die Tat "genügendes Verständnis" hatte, zu einer Brandstiftung als bloße Anstiftung; der Entscheidung zust. Jescheck, Lehrbuch, S. 605. 188 Ebenso Roxin , Täterschaft, S. 591 für Schuldunfähige; anders aber ders . (aaO., S. 173 ff. sowie in: LK, § 25 Rdnr. 60 m.w.N. für die insoweit h.L.) für im Tatbestandsirrtum Befindliche; hiergegen zutr. Schmidhäuser , Lehrbuch, 14/22; Schumann, Selbstverantwortung, S. 102 f.; Gegenkritik zu Schumann b. Roxin , aaO., S. 640 f. mit Fn. 255. 189 Näher LK-Roxin, § 28 Rdnr. 3 m.w.N. - Zu § 28 bei den unechten Unterlassungsdelikten eingehend unten § 9 IV. 190 Hier liegt dann mittelbare Täterschaft des Intraneus vor; an der Haupttat nimmt der Extraneus als Gehilfe teil, vgl. LK-Roxin, § 25 Rdnrn. 91 ff. mit umf. Nachw. 191 SK-Samson, § 28 Rdnr. 5. 192 ZStW 90 (1978), 413 ff. 193 In: LK, § 28 Rdnrn. 4 f.

Zweites Kapitel

Die Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten § 3 Garantengebote

L Strafrechtliche

Gebote, insbesondere bei den " unechten " Unterlassungsdelikten 1. Handlungsgebote

Die Tatbestände der Unterlassungsdelikte lassen sich dahin interpretieren, daß sie in kontradiktorischer Formulierung Verhaltensnormen enthalten, die ein positives Tun gebieten: Das tatbestandsmäßige Verhalten ist im Falle des (vollendeten) Unterlassungsdelikts gebotswidrig . Vom hier vertretenen Standpunkt aus ist dies eine zwingende und sinnvolle Interpretation der Tatbestände der Unterlassungsdelikte1. Ähnlich liegen der übereinstimmenden h.L. im wesentlichen folgende normentheoretischen Überlegungen zugrunde2: Strafbar könne nur ein rechtswidriges Verhalten sein3. Daher müsse das Verhalten des Täters gegen eine in einer Rechtsnorm aufgestellte Pflicht verstoßen und in diesem Sinne formell rechtswidrig sein4. Rechtsnormen seien entweder Verbotsnormen, die ein positives Tun untersagen und somit ein Unterlassen anordnen, oder Gebotsnormen, die ein positives Tun anordnen und somit ein Unterlassen untersagen. Unterlassungsdelikte - bei denen die Unterlassung strafbar und pflichtgemäß also ein positives Tun ist - seien daher Zuwiderhandlungen gegen Gebotsnormen.

1 2

3

Mutatis mutandis gelten hier dieselben Erwägungen wie oben § 114. S. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 543 f. mit umf. Nachw.

Genauen ein pflichtwidriges (und nur beim vollendeten Delikt zugleich normwidriges) Verhalten; s. oben § 2 III 4. zum Versuch. 4 Genauer: Grund und Bezugspunkt der Pflichtwidrigkeit muß stets eine Norm sein; pflichtwidrig handelt derjenige, der nicht die Intention hat, sich normgemäß verhalten zu wollen.

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Zweites Kapitel: Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

2. "Unechte" Unterlassungsdelikte als verbotswidrige Verhaltensweisen? Während diese Auffassung zu den gesetzlich vertypten "echten" Unterlassungsdelikten - insbesondere zu §§ 138 f. und § 323 c - im wesentlichen unbestritten ist, behauptet eine ältere, jedoch bis in neuere Zeit vertretene Lehre5, daß die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung in Frage stehenden "unechten", also mit Hilfe des § 13 gebildeten Unterlassungstatbestände nicht ein gebotswidriges, sondern ein (zumindest auch 6) verbotswidriges Verhalten beschreiben; genau hieraus ergebe sich auch die "Unechtheit" der unechten Unterlassungsdelikts. Historisch gesehen geht diese ältere Lehre auf die Annahme des römischen Rechts zurück, ein "bloßes" Unterlassen könne nicht deliktisch relevant sein, vielmehr müsse in jedem Falle ein (Vor-)Verhalten und somit ein positives Tun die deliktische Relevanz begründen7. Damit aber lag es nahe, das deliktsrelevante Unterlassen als einem Verbot dieses (Vor-)Verhaltens widersprechend anzusehen. Unter der Herrschaft des naturalistischen Kausaldogmas wurde diese Lehre im 19. Jahrhundert bekanntlich dahin neu formuliert, daß ein "bloßes" Unterlassen nie erfolgskausal sein könne, sondern nur dann, wenn eine (vorgängige) "Aktivität" mit ihm verbunden sei; auf der Grundlage dieser Annahme erweist sich das erfolgskausale und strafbare Unterlassen in der Tat als ein nur "scheinbares" oder eben "unechtes"8. Zur Kritik dieser Lehre ist das normentheoretische Verhältnis zwischen Verboten und Geboten näher zu klären. Wie Armin Kaufmann 9 eingehend dargelegt hat, können Verbote nicht analytisch in Gebote desselben Norminhalts umgewandelt oder ergänzt werden. Zwar können Verbote und Gebote in der Tat ineinander transformiert werden10. Hierbei ändert sich jedoch der Modus des den Normgegenstand bildenden Verhaltens und damit der Norminhalt: Das Verbot, ein den Erfolg - z.B. die Verletzung eines anderen - bedingendes Verhalten vorzunehmen (zu tun), kann transformiert werden in das Gebot, dieses Verhalten zu unterlassen; das Verbot, ein Verhalten - z.B. die Abwendung der Verletzung eines anderen - zu unterlassen, 5 BGHSt 14, 280 (281); OLG Düsseldorf MDR 1985, 342; Baumann/Weber , Strafrecht, S. 253; zu den älteren Auffassungen s. die umf. Nachw. b. Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 248 in Fn. 352. 6 So Schmitt , JZ 1959, 432: "Echte Unterlassungsdelikte verstoßen nur gegen eine Gebotsnorm, unechte außerdem auch gegen einer Verbotsnorm" (Herv. v. Verf. ); s. auch Maurach , Strafrecht, 4. Aufl. (1971), S. 580: Das unechte Unterlassungsdelikts sei "Verstoß gegen eine Verbotsnorm, dadurch verwirklicht, daß der Täter pflichtwidrig nicht zur Erhaltung des durch die Verbotsnorm geschützten Rechtsguts tätig wird"; weit. Nachw. und zutreffende Kritik b. Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 252 f. 7 Hierzu Binding , Normen, Bd. IV, S. 60. 8 Hierzu immer noch grundlegend und krit. Binding , Normen, Bd. II, S. 224 ff. mit umf. Nachw. - Zur - entgegen der h.L. noch nicht überholten - Frage der Kausalität der Unterlassung s. unten § 5 II. Dogmatik, S. 3 ff. 10 Insofern zutr. Meyer-Bahlburg , Unterlassungsdelikte, S. 160.

§ 3 Garantengebote

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kann transformiert werden in das Gebot, dieses Verhalten vorzunehmen (zu tun). Unrichtig wäre es hingegen, aus dem Verbot eines positiven Tuns (T) das Gebot eines anderen positiven Tuns abzuleiten: In einem "offenen Normensystem" besagt das Verbot von T vielmehr nur, daß alle von T unterschiedenen Handlungen erlaubt sind11. Umgekehrt wäre es falsch, aus dem Gebot der Vornahme von T das Verbot eines anderen Tuns als T abzuleiten: Nur die Unterlassung von T ist verboten; was der Täter sonst tut, ist dem Recht gleichgültig (erlaubt oder freigestellt) 12. Der Unterlassende verhält sich gebotswidrig, verbotswidrig nur insofern, als er das Gebotene nicht tut, nicht aber, indem er etwas anderes als das Gebotene tut 13 . Allerdings leuchtet diese normtheoretische Begründung unmittelbar nur auf der abstrakt-generellen Ebene ein. Wird hingegen zugleich die konkretindividuelle Normanwendungssituation bedacht, in welcher ein (endlicher) "Handlungsspielraum"14 besteht, so scheint sich zu ergeben, daß Verbote in Gebote umwandelbar sind und vice versa15. Um ein (zugegebenermaßen konstruiertes) Beispiel zu bilden: Jemand fahre mit einem schlecht bremsenden Auto einen Hohlweg entlang, der sich nach rechts und links verzweigt. Auf der rechten Verzweigung liege ein Betrunkener mitten auf der Fahrbahn. Prima facie könnte nun gemeint werden, das Gesundheitsbeschädigungs- oder Tötungsverbot fordere nicht nur das Unterlassen, rechts zu fahren, sondern auch das Tun, nach links einzuschlagen16. Mithin lasse sich aus den genannten Verboten auch das Gebot zu einem erfolgsvermeidenden Tun ableiten. Eine solche Argumentation verwechselt aber die Kategorien von Norm und Pflicht. Daß die Pflicht, die Gesundheitsbeschädigung oder Tötung eines anderen unterlassen zu wollen, in konkreten Handlungssituationen verlangt, etwas anderes zu tun (bzw. tun zu wollen), besagt nicht, daß Grund dieser Pflicht ein Gebot ist17. Daß die Pflicht, links einzuschlagen, keine Folgerung des Gebots ist, ein lebens- oder gesundheitsrettendes Tun vorzunehmen, ergibt sich auch daraus, daß das Linkseinschlagen als solches für die Lebensrettung nicht kausal ist. Vielmehr kann der Kausal11 Näher Alcourron/Bufygin, in: (Hrsg.) Hilpinen, Deontic Logic, S. 95 (116 ff.); Weinberger/Weinberger, RTh 10 (1979), 1 (10 ff., 23 ff., 31 ff.); v. Wright, Norm, S. 93 ff. 12 Vgl. Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 3 f. mit Fn. 10.

13

So liegt das gebotsnormwidrige Verhalten einer Mutter, die ihr Kind verhungern läßt, nicht darin, daß sie etwas anderes tut, z.B. Strümpfe strickt; hierzu noch unten im Text mit Fn. 1418. Zu dieser Figur Philipps, Handlungspielraum, S. 15 ff. 15 Dieser Auffassung ist Philipps, Handlungsspielraum, S. 63 ff. (freilich mit der zutreffenden Einschränkung, es handele sich nicht um notmlogische Schlußfolgerungen, aaO., S. 66). 16 In dem Beispiel ist es unzumutbar, geradeaus zu fahren und somit das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, so daß diese (Unterlassungs-)Alternative rechtlich ausscheidet. 17 Insofern trifft die Aussage von Stree, in: H. Mayer-FS, S. 145 (156), zu: "Das Verletzungsverbot wandelt sich ... (in bestimmten Situationen) ... in ein Verhinderungsgebot (besser: eine Verhinderungy/Z/c/i/, Anm. d. Verf.), wenn auch Haftungsgrundlage weiterhin das Verletzungsverbot bleibt".

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Zweites Kapitel: Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

konnex erst dadurch hergestellt werden, daß hinzugedacht wird, daß der Autofahrer - wäre er nicht links gefahren - rechts hätte einschlagen müssen und (erst) hierdurch den auf der Fahrbahn liegenden verletzt oder getötet hätte. Es liegt hier umgekehrt wie bei dem berühmten und zutreffenden Einwand Krugs gegen Luden, wonach die Mutter, die ihr Kleinstkind nicht ernährt, sondern etwas anderes tut (etwa Strümpfe stopft), nicht etwa durch dieses Tun (etwa das Strümpfestopfen) kausal für den Tod des Kindes wird 18 : Es gibt kein Kausalgesetz, wonach Kinder dadurch sterben, daß ihre Mutter strickt, sondern nur eines, wonach Kinder, die nicht ernährt werden, verhungern. Der oft unternommene Versuch, aus Verboten Gebote (teils auch durch Norm"ergänzung") abzuleiten oder Geböte in Verboten mit enthalten zu denken, ist mithin aus normlogischen Gründen zum Scheitern verurteilt 19. Normentheoretisch nicht haltbar sind aber des weiteren die Versuche, in die Tatbestände des Besonderen Teiles "Normenkomplexe" oder "Komplexnormen" hineinzulesen, die im Kern die "Vermeidung" tatbestandsmäßiger Erfolge - sei es durch Tun, sei es durch Unterlassen - als Norminhalt bestimmen20. Vermeidbarkeit - objektiv oder subjektiv als Vermeidefähigkeit - ist kein Kriterium des Norminhalts und der Normwidrigkeit, sondern der Zurechnung als Pflichtwidrigkeit. Die Normen verbieten unmittelbar ein tatbestandsmäßiges Verhalten oder gebieten, ein solches Verhalten vorzunehmen; weder treffen (Verhaltens-)Normen Aussagen zur prästierten (subjektiven) Vermeidefähigkeit noch zur situationsabhängigen (objektiven) Vermeidbarkeit. 3. Zur begrifflichen - nicht: materialen - Abgrenzung von "echten" und "unechten" Unterlassungsdelikten Besteht aber zwischen Verbot und Gebot ein und desselben Verhaltens keine normlogische Folgerungsbeziehung, so kann die Abgrenzung zwischen den "echten" und den "unechten" Unterlassungsdelikten nicht danach getroffen werden, daß diese (auch) gegen ein (Begehungs-)Verbot verstoßen, jene aber nicht21. Wird zunächst die Frage des "Erfolgsbezugs" der "unechten Unterlassungsdelikte" beiseite gelassen22, so bieten sich zwei 18

Krug , Abhandlungen, Bd. II, S. 30 gegen Luden , Abhandlungen, Bd. I, S. 469 (und allgemein 19 S. 474); hierzu Welp , Vorangegangenes Tun, S. 32. So aber insbes. Androulakis , Studien, S. 149 ff.; Maurach , wie oben Fn. 6; E. A. Wolff, Kausalität, S. 44 f.; eingehende Darstellung und zutreffende Kritik b. Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 247 ff. mit umf. Nachw. - Insbesondere zu Naglers Modell der Tatbestandsergänzung" s. noch unten § 4 I 2. 20 So insbesondere Herzberg, Unterlassung, S. 188 u.ö.; zutr. Kritik b. Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 258 ff. - S. noch unten § 3 III 2. 21 Ebenso Kahlo, Problem, S. 29 ff. 22

Hierzu sogleich unten § 3 15.

§ 3 Garantengebote

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Wege an, eine normentheoretisch valide Unterscheidung zu treffen 23: Erstens kann formell danach unterschieden werden, daß echte Unterlassungsdelikte auf gesetzlich vertypten Gebotsnormen beruhen, unechte jedoch nicht24. Zweitens aber kann materiell danach differenziert werden, daß echte Unterlassungsdelikte begehungsungleiches, unechte begehungsgleiches Unterlassen pönalisieren25. Während diese beiden Wege für den Kernbereich der echten Unterlassungsdelikte - §§ 138 f., 323 c - keine praktischen und dogmatischen Unterschiede aufweisen, weisen sie für zahlreiche begehungsgleiche, aber mehr oder weniger ausdrücklich vertypte Unterlassungs-Straftatbestände des Besonderen Teils Differenzen auf. Gedacht ist hierbei an Tatbestände wie §§ 123 Abs. 1 Alt. 2, 221 Abs. 1 Alt. 2, 223 b Abs. 2 letzter HS sowie an die zahlreichen Tatbestände, die ein Begehen"lassen" ausdrücklich der Begehung gleichstellen, etwa im Sexualstrafrecht oder bei § 340 Abs. 1 Satz 1 2. Alt., schließlich überhaupt an alle Pflichtdelikte, bei denen eine Pflichtverletzung durch Tun einer solchen durch Unterlassen gleichsteht, z.B. bei § 266 . All' diese Tatbestände haben gemeinsam, daß sie materiell mehr oder weniger deutlich Sonderpflichten enthalten, welche die Begehungsgleichheit begründen, daß in ihnen also eine ausdrückliche oder durch Interpretation zu ergänzende Beschreibung eines im weiteren Sinne sonderpflichtigen Täters oder "Garanten" enthalten ist, welche einerseits wichtige Anhaltspunkte für die Bestimmung der Garantenstellung bei nicht vertypten begehungsgleichen unechten Unterlassungsdelikten gibt, andererseits aus den dort entwickelten Garantenstellungen begründet werden kann. Beispielsweise knüpft die Tatbestandsbeschreibung in § 94 Abs. 1 Nr. 2 1. Alt. - das "Gelangenlassen" eines Staatsgeheimnisses an einen Unbefugten - an die Garantenstellung aus Sachherrschaft über gefährliche Gegenstände an27, während § 340 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. - das "Begehenlassen" einer Körperverletzung im Dienst durch einen Amtsträger - offensichtlich einen Ansatzpunkt für die - im einzelnen umstrittene - Garantenstellung von Amtsträgern enthält. Die dogmatische Konsequenz dieser materiellen Begehungsgleichheit - und damit Verwandtschaft zu den mit Hilfe von § 13 gebildeten, nicht vertypten "unechten" und begehungsgleichen Unterlassungsdelikten - ist es, daß zwar § 13 Abs. 1 durch die speziellere Regelung in den jeweiligen Straftatbeständen verdrängt wird (oder nur, wie im Falle von § 221 Abs. 1 2. Alt., subsidiär 23

Hierzu Jescheck, Lehrbuch, S. 547 ff.; Maurach-Gössel, AT 2, § 45 Rdnrn. 34 ff.; s. auch Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 275 ff.; je mit umf. Nachw. 24 So z.B. Hruschka, in: Bockelmann-FS, S. 421 (435); Jescheck, Lehrbuch, S. 491 und in LK, Vor § 13 Rdnr. 85; Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 277; Maurach-Gössel, AT 2, § 45 Rdnr. 38; Welzel, Strafrecht, S. 202. 25 So z.B. Schünemann, ZStW 96 (1984), 287 (302). 26 Vgl. die eingehende Untersuchung dieser - und vieler anderer - Tatbestände b. Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 38 ff., 175 ff.; sehr instruktiv zur Beleidigung durch Unterlassen auch S. 227 ff. mit umf. Nachw. 27 Zutreffend Jakobs, Strafrecht, 28/10. 7 Vogel

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Zweites Kapitel: Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

heranzuziehen ist), daß aber die Milderungsmöglichkeit des § 13 Abs. 2 anwendbar bleibt28. Zutreffend dürfte deshalb eine Synthese des formellen und des materiellen Ansatzes sein, die - im Anschluß an Jakobs29 - zwischen materiell begehungsgleichen echten Unterlassungsdelikten, bei denen die Unterlassung eine ausdrückliche Deliktsversion mit dem Unrechtsmaß und der Unrechtsart der Handlungsversion ist, materiell begehungsungleichen echten Unterlassungsdelikten sowie den eigentlichen (begehungsgleichen) unechten Unterlassungsdelikten, bei denen der Wortlaut nicht erkennen läßt, ob eine Unterlassung überhaupt Unrecht ist, unterscheidet. Damit ist freilich noch nicht ausgemacht, welches die materialen Kriterien der "Begehungsgleichheit" sind . 4. "Auslegungsunterlassen"? Gerade zu der dritten genannten Tatbestandsgruppe - welche die eigentliche Problematik der "unechten" Unterlassungsdelikte ausmacht - stellt sich freilich noch die Frage, ob die Garantengebote - die, wie gesagt, nicht normlogisch aus den in den Tatbeständen unzweifelhaft enthaltenen Begehungsverboten ableitbar sind - selbständig im Wege der Auslegung aus eben diesen Tatbeständen herausgelesen werden können, ob also z.B. mit "töten" in §§ 212, 222 oder mit "mißhandeln" bzw. "an der Gesundheit beschädigen" in §§ 223, 230 auch ein Unterlassen (in Garantenstellung) gemeint ist: Enthalten die genannten Tatbestände neben den Begehungsverboten zugleich in noch so rudimentärer Form - (spezialisierte) Unterlassungsverbote und damit (Garanten-)Gebote31 ? Nach der h.L. beschreiben die genannten Tatbestände nur ein positives Tun, stellen daher nur (primäre) Begehungsdelikte dar und enthalten somit nur an jedermann gerichtete (Begehungs-) Verbote 32. Die Gegenansicht hat vor allem Schünemann zu verteidigen versucht33: Nach dem "natürlichen 28 Jakobs , Strafrecht, 28/10; Schünemann, ZStW 96 (1984), 287 (317); differenzierend nämlich in den Fällen näher beschriebener Unterlassungsvarianten wie z.B. in §§ 223 b, 340 eine speziellere, § 13 Abs. 2 verdrängende Regelung annehmend - Lackner , § 13 Rdnr. 18 f. u. § 266 Rdnr. 2 (je mit umf. Nachw.); zu § 266 Abs. 1 Alt. 2 wie hier BGHSt 36, 227 mit krit. Anm. Timpe , JR 1990, 428 ff.; a.A. übst Herzberg, Unterlassung, S. 52 ff.; Roxin , Täterschaft, S. 460; SK-Rudolphi, § 13 Rdnr. 65. - Näher zu § 13 Abs. 2 noch unten § 4 III 4. 29 Strafrecht, 28/9 ff. 30 S. noch unten § 3 I 5., 4 II 3, 10 II. 31 Wie Schöne (Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 175 ff.) eingehend dargelegt hat, gibt es eine Fülle von Tatbeständen mit "neutralen" oder "doppeldeutigen" Verhaltensbeschreibungen, die ohne Zweifel auch als Unterlassungsverbote und damit als Begehungsgebote interpretiert werden können.

32

S. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 550. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 46 ff. - Ahnlich unterscheidet Schmidhäuser, Lehrbuch, 16/11, zwischen "Wortlauttatbestand" und "Auslegungstatbestand" der Strafgesetze 33

§ 3 Garantengebote

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Sprachgebrauch" verlaufe die Grenze der Strafbarkeit "irgendwo im Unterlassungsbereich"; so "töte" die Mutter, die ihren Säugling nicht nähre, während der Autofahrer, der das Unfallopfer seinem Schicksal überläßt, nur "die Rettung unterlasse". Auch der historische Gesetzgeber habe die Strafbarkeit (rechtspflichtwidrigen) Unterlassens als selbstverständlich vorausgesetzt. Sodann sei aus den - ohnehin wenigen - ausdrücklich positivierten Unterlassungsdelikten keinesfalls im Gegenschluß logisch-systematisch herzuleiten, daß die übrigen Delikte nicht auch durch Unterlassen begangen werden könnten, da der Gegenschluß gegenüber der Analogie keinen logischen Vorrang habe. Und schließlich sei teleologisch die "materielle Rechtswidrigkeit" und "Strafwürdigkeit" der den Säugling verhungern lassenden Mutter als Totschlägerin oder Mörderin "nach unserem Rechtsgefühl" evident. Zu Recht hat Schöne hiergegen eingewendet, daß eine Auslegung, die das "Ob" der Unterlassungs-Normwidrigkeit, nicht aber im Ansatz das "Wie" bestimmen kann, keine im Strafrecht mögliche ist34. Ein weiteres gewichtiges Argument gegen die Lehre vom "Auslegungsunterlassen" ergibt sich aber aus der Einführung des § 13 selbst. Motiv des Gesetzgebers war es hier, eine gesetzliche Grundlage für die Bestrafung unechten Unterlassens zu schaffen 35. Jedenfalls im Rahmen einer subjektiv-historischen Auslegung folgt also nunmehr aus § 13 e contrario, daß die Tatbestände des Besonderen Teiles gerade nicht hinreichen, um die Strafbarkeit wegen eines "unechten" Unterlassens und die entsprechenden Garantengebote zu begründen. Dies ergibt auch eine genaue Analyse des Wortlautes des § 13: Mit der Wendung "wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört" wird bedeutet, daß nur die Erfolgsbeschreibung - nicht aber der Verhaltensmodus, nämlich das Unterlassen - dem Tatbestand entnommen werden kann. Sodann bezieht sich die Wendung "ist nach diesem Gesetz nur strafbar" allein auf die Sanktionsseite der Strafgesetze; es wird also die Sanktionsnorm in Bezug genommen, nicht aber die Verhaltens- als Verbotsnorm auf Unterlassungen ausgedehnt und somit als Gebotsnorm aufgefaßt. Schließlich wird mit der Wendung "wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch Tun entspricht" - entgegen Stree36 - gerade nicht impliziert, daß der gesetzliche Tatbestand auch durch Unterlassen "verwirklicht" werden kann; im Gegenteil kann das Unterlassen der Verwirklichung durch Tun nur - axiologisch - entsprechen 37.

des Besonderen Teiles und meint, jedenfalls der letztere umfasse das Unterlassen mit; zutreffende Kritik hieran b. Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 271 f. 34 Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 275, s. bereits 273 f. 35 S. BT-DrS. V/4095, S. 8; vgl. auch E 1962, Begründung S. 124. 36 In S/S, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 147. - Es ist Stree zuzugeben, daß die Wendung "durch Tun" an sich nicht erforderlich (tautologisch) ist; sie dient aber zur Verdeutlichung des Gemeinten. 37 Im gleichen Sinne bereits Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 276 f.

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Zweites Kapitel: Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

5. Erfolgsabwendungsgebote bei den "unechten" Unterlassungsdelikten Wird der Bereich der "unechten", materiell begehungsgleichen Unterlassungsdelikte auf die nicht ausdrücklich im Gesetz vertypten Straftatbestände beschränkt, so ist diese Beschränkung seit Einfügung des § 13 in das StGB freilich dahin zu präzisieren, daß diese Delikte auf - erst - mit Hilfe von § 13 gebildeten Geboten beruhen. Da nun aber in § 13 die Wendung vom Einstehenmüssen für einen "zum Tatbestand gehörenden Erfolg" enthalten ist, wird an dieser Stelle der Streit um das Verhältnis zwischen den Begriffspaaren des echten und des unechten Unterlassungsdelikts einerseits, des (schlichten) Tätigkeits- und des Erfolgsdelikts andererseits relevant38. Nach einer älteren Auffassung soll es ausgeschlossen sein, (schlichte) Tätigkeitsdelikte durch "unechtes" Unterlassen zu begehen39. Es ist freilich längst erkannt worden, daß der Begriff des "Erfolges" mehrdeutig ist40. Es kann nämlich bereits der Handlungsvollzug bei den (schlichten) Tätigkeitsdelikten - z.B. bei §§ 153, 316 - als außenweltlicher "Erfolg" bezeichnet werden41. Überwiegend wird mit "Erfolg" freilich nur ein vom Handlungsvollzug bedingtes weiteres oder "räumlich-zeitlich von der Handlung abgrenzbares" Handlungsergebnis bezeichnet42; bei Erfolgsdelikten in diesem Sinne stellt sich also die Kausalfrage 43. "Erfolg" in diesem Sinne kann die Verletzung eines Rechtsguts (bzw. - gleichbedeutend - eine < negative > Zuständsveränderung des Handlungsobjekts44) sein; dann wird genauer von Erfolgsverletzungsdelikten gesprochen. Nach heute allgemeiner Ansicht stellt auch der Eintritt einer konkreten Gefahr - wie er z.B. von § 315 c verlangt wird einen (kausierten) Erfolg dar 45. Jedoch können selbst abstrakte Gefährdungsdelikte einen "Erfolg" im bezeichneten Sinne eines Handlungsergebnisses haben; beispielsweise muß bei der schweren Brandstiftung (§ 306) eine der bezeichneten Räumlichkeiten durch die Brandstiftungshandlung in Brand geraten sein. Ähnlich kann bei einem der Paradebeispiele für bloße Tätigkeitsdelikte, nämlich bei § 153, ein "Erfolg" als Handlungsergebnis in der - unabdingbaren - Wahrnehmung der Falschaus38

IQ

Zus.fas. Tenckhoff, , in: Spendel-FS, S. 347 ff.

So insbes. Jescheck , Lehrbuch, S. 547 und in LK, § 13 Rdnr. 3; Welzel , Strafrecht, S. 223. Zum Problem vgl. die eingehende Darstellung b. Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 19 ff. 40 Zum Begriff des "Erfolgsdelikts" vgl. allgemein Jescheck , Lehrbuch, S. 234 ff.; S/SLenckner , Vorbem. § 13 ff. Rdnr. 130. 41

Der wegen des Tatprinzips unabdingbar ist, vgl. Jakobs , Strafrecht, 6/78. Vgl. nur S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 130; vertiefend Kindhäuser , Gefährdung, S. 50, 88,145. 42

43

Und zwar nicht als zweifelhafte "innenweltliche" Kausalität zwischen Entschluß und Handlungsvollzug, sondern im eigentlichen "außenweltlichen" Sinne. 44 Str.; s. oben § 1 III 2. m.w.N. 45

Vgl. bereits Beling , Verbrechen, S. 210; eingehend Horn, Gefährdungsdelikte, S. 161 ff. m.w.N.

§ 3 Garantengebote

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sage durch das Gericht erblickt werden46. Die Undeutlichkeit der Abgrenzung spricht dafür, daß mit der Wendung des "zum Tatbestand gehörenden Erfolgs" in § 13 nicht der "Erfolg" im Sinne des Handlungsergebnisses gemeint sein kann47. Dementsprechend sollen nach der nunmehr h.A. auch Tätigkeitsdelikte - deren "Erfolg" nur im Handlungsvollzug besteht unter § 13 fallen 48. Dies trifft zu, da § 13 nicht mehr, aber auch nicht weniger zuläßt, als den Modus des tatbestandlich beschriebenen Handlungsvollzuges (das positive Tun) durch ein Unterlassen zu ersetzen49. Das von den Vertretern der Gegenauffassung gemeinte Sachproblem liegt vielmehr darin, ob bestimmte Delikte - insbesondere die Aussagedelikte - als "eigenhändige" und (nur) durch positives Tun zu begehende auszulegen sind, so daß (allenfalls) eine Teilnahme durch Unterlassen in Betracht kommt, und erweist sich damit als eine - den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengende - Frage des (allgemeinen Teils des) Besonderen Teils50. Die Rede von den Garanten- als "Erfolgsabwendungsgeboten" wirft freilich noch die Frage auf, ob bei bereits eingetretenem "Erfolg" i.S.v. § 13 noch dessen "Abwendung" verlangt werden kann. Die Frage stellt sich zum einen bei Dauerdelikten wie der Freiheitsberaubung (§ 239), des weiteren bei Delikten mit "vorverlegter" Vollendung wie bei der (schweren) Brandstiftung (§ 306), sodann aber allgemein bei Erfolgsverletzungsdelikten: Muß der bereits Eingesperrte befreit, das bereits in Brand geratene Haus gelöscht, dem bereits Verletzten (dessen Verletzung sich nicht verschlimmert) ärztliche Hilfe verschafft werden51? Auszugehen ist von der Einsicht, das ein bereits "perfekter" Erfolg nicht mehr abgewendet werden kann. Jedoch ist bei Dauerdelikten - wie insbesondere bei § 239 - der Erfolg erst dann tatbestandlich "perfekt" (und die Freiheitsberaubung nicht nur materiell beendet, sondern auch tatbestandlich abgeschlossen), wenn das Opfer seine

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Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 23.

Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 32; krit. zum Kriterium der "Erfolgsbezogenheit" auch Kahlo, Problem, S. 32 f. 48 Vgl. BayObLG JR 1979, 289 m. krit. Anm. Horn; Lackner, § 13 Rdnr. 6; S/S-Stree, § 13 Rndr. 3; Dreher/Tröndle, § 13 Rdnr. 1; Maurach-Gössel, AT 2, § 46 Rdnr. 7; Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 85, 90; Tenckhoff, in: Spendel-FS, S. 347 (361 f.). 49

Offensichtlich unrichtig - und weder der Rspr. noch der h.L. entsprechend - ist die Auffassung von Eb. Schmidt, Niederschriften, Bd. XII, S. 268, nur ein von einer Person bewirkter "Erfolg" könne i.S.v. § 13 zur Unterlassungsstrafbarkeit führen: Dann wäre der durch Naturereignisse (oder auch aufgrund eigenen Entschlusses - Selbsttötungsfälle!) drohende "Erfolg" keiner i.S.v. § 13. - Wenig hilfreich ist auch die materielle Lösung von Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 32 ff., zus.fas. 49, wonach die Verletzung oder Gefährdung des Rechtsgutsobjekts der "im Tatbestand enthaltene Erfolg" i.S.v. § 13 sein soll. Gerade für den Problemfall der eigenhändigen Delikte (s. sogleich im Text) gibt diese Lösung nichts her. 50 Ebenso Tenckhoff,\ in: Spendel-FS, S. 347 (361 f.); vgl. weiterhin Jakobs, Strafrecht, 29/79 f.; Maurach-Gössel, § 46 Rdnrn. 8 f.; je m.w.N. und Beispielen. - Näher unten § 4 III 3. 51 Eingehend zu diesen Fällen Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 57 ff.

1 0 2 Z w e i t e s Kapitel: Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

(Bewegungs-)Freiheit wieder zurückerlangt hat52. Wiederum handelt es sich letztlich um eine - den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengende - Frage des (allgemeinen Teils des) Besonderen Teils, die auf die Problematik der Annahme einer "Nachtatbestandszone" der materiellen Beendigung führt 53. Im Ergebnis dürften bloß nach- und damit außertatbestandliche "Erfolge" - anders als noch tatbestandsmäßige "Dauererfolge - nicht zu einer "Erfolgs"abwendungspflicht i.S.v. § 13 führen. So ist es - entgegen der hA. - unzutreffend, daß im Beispiel des bereits in Brand gesetzten Gebäudes noch ein abzuwendender "materieller" Erfolg vorliegt, da dieser nachtatbestandlich ist54; und im Körperverletzungs-Beispiel verlangt die h A . zutreffend, daß jedenfalls weitere anhaltende Schmerzen und damit eine (noch weiterhin) tatbestandliche Mißhandlung drohen müssen55. Schließlich bedarf die Deutung der Garanten- als "Erfolgsabwendungsgebote" noch einer Klarstellung für diejenigen Garantengebote, die den Erfdgsverletzungsverboten (etwa der §§ 212, 222; 223, 230) entsprechen. In Übereinstimmung mit der Analyse der Erfolgsverletzungsverbote 56 ist daran festzuhalten, daß die entsprechenden Garantengebote dem Garanten ein Verhalten (Tun) gebieten, das den tatbestandsmäßigen (Verletzungs-) Erfolg abwendet, das also für das (Weiter-)Bestehen des je geschützten Rechtsgutes57 kausal wird. Die Gebotsnormen sind echte Erfolgsabwendungsgebote und gebieten nicht bloß ein Verhalten, welches zur Abwendung des Erfolges - nach wessen Urteil auch immer - geeignet ist58. Selbstverständlich muß der Täter nur dasjenige tun, was ihm nach seinem Wissen und Können möglich ist; er handelt nicht pflichtwidrig, wenn er - ohne sich hierzu obliegenheitswidrig außerstande gesetzt zu haben - nicht zur Erfolgsabwendung fähig ist. Dies aber ist - entsprechend dem oben Ausgeführten eine Frage der Zurechnung erster Stufe als Pflichtwidrigkeit, nicht des Norminhaltes.

52 Ganz hA.; RGSt 24, 339 (f.); S/S-Eser, § 239 Rdnr. 7; Schmidhäuser , Uhrbuch, 16/11; vgl. weiterhin Herzberg , Unterlassung, S. 210; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 328. 53 Vgl. hierzu nur Lackner , Vor § 22 Rdnr. 2 mit umf. Nachw. und dem zutreffenden Hinweis, es handele sich um eine BT-Frage, die nicht losgelöst von den einzelnen Tatbeständen beantwortet werden könne. 54 Wie hier Geppert , Jura 1989, 417 (423); Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 59 f.; anders aber die h.A., BGHR § 306 Nr. 2; S/S-Cramer , § 306 Rdnrn. 12 f.; Jakobs , Strafrecht, 29/2; Lackner , § 306 Rdnr. 6. 55 S. OLG Hamm NJW 1975, 604 (605 - freilich sehr weitgehend); OLG Düsseldorf NStZ 1989, 269; Lackner , § 223 Rdnr. 4; S/S-Eser, § 223 Rdnr. 7. 56 S. oben § 1 I V 2. 57 Oder für dessen Wiederherstellung: So ist der Arzt verpflichtet, nicht nur Gesundheitsverschlechterungen abzuwenden, sondern auch die beschädigte Gesundheit wiederherzustellen andernfalls er sich wegen Körperverletzung durch Unterlassen strafbar macht; s. bereits oben §314.

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A.A. die ganz h.L., s. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 557 f.

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Nur dieser Ausgangspunkt erlaubt es, die vom Standpunkt der h.L. aus schwierige Frage zu klären, warum die in den "echten" Unterlassungsdelikten der §§ 138 f., 323 c enthaltenen Handlungsgebote nicht hinreichen, um Garantengebote zu begründen. Die Antwort lautet schlicht: §§ 138 f., 323 c gebieten, (bestimmte) Straftaten anzuzeigen bzw. in Unglücksfälle Hilfe zu leisten; die Gebotsnormen lauten nicht, Straftaten bzw. Unglücksschäden abzuwenden. Da aber die h.L. die Erfolgsabwendungsgebote so auffaßt: "Es ist geboten, daß der Garant alles ihm Mögliche und Zumutbare tut, um den Erfolg abzuwenden" und § 323 c für den Erfolg der Not- und Unglücksfälle genau diese Norm enthält - woraus eine durchaus gewichtige Ansicht ableitet, auch § 323 c enthalte Erfolgsabwendungsgebote (I) 59 -, muß sie auf vage Konkurrenzerwägungen bzw. die Absicht des Gesetzgebers zurückgreifen, in den Fällen des § 323 c gerade nicht aus den entsprechenden Begehungstatbeständen der Erfolgsverletzungsdelikte zu bestrafen. Nicht tragfähig ist auch die Lösung, die Garanten- als Erfolgsabwendungsgebote der Ebene der Bewertungsnormen, die eigentlichen Tätigkeitsgebote als Gebote zur Vornahme erfolgsabwendungsgeeigneter Handlungen aber derjenigen der Bestimmungsnormen zuzuordnen60 und danach zu differenzieren, daß zwar die Bestimmungsnormen etwa in § 323 c einerseits, in §§ 223, 13 andererseits identisch seien, nicht aber die jeweiligen Bewertungsnormen. Wie dargelegt, unterscheiden sich Bestimmungs- und Bewertungsnormen nicht ihrem Norminhalt nach, sondern nur ihrer pragmatischen Funktion (bzw. ihrem normativen Operator) nach. Auch auf der Ebene der Bewertungsnormen enthalten die "echten" Unterlassungsdelikte der §§ 138 f., 323 c daher keine Garanten- als Erfolgsabwendungsgebote 61. Allerdings ist mit dieser strukturellen Analyse die Frage der materiellen Differenz zwischen "echten" und "unechten" Unterlassungsdelikten noch nicht gelöst. Denn ersichtlich haben auch die in den "echten" Unterlassungsdelikten enthaltenen Gebote - wie jede Verhaltensnorm 62 - ihren legitimierenden Grund im Rechtsgüterschutz und sind insofern durchaus "erfolgsbezogen". Die materiale (und legitimationstheoretische) Differenz muß vielmehr in der Sonderverantwortlichkeit des Garanten für den abzuwendenden schädigenden Verlauf gesehen werden; die Abschichtung fällt deshalb mit der Legitimation von Garantengeboten zusammen63. 59

So Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 206 ff. und 275; ihm folgend z.B. Kahlo, Problem, S. 28 f.; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 103 ff.; Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 64 ff.; zutreffend dagegen - also wie hier - aber BGH NJW 1983,530 f. 60 So aber Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 103 ff.; Pfleiderer, Garantenstellung, S. 116 f. 61 Dem widerspricht nicht, daß nach hier vertretener Auffassung auch Tätigkeitsdelikte einen "Erfolg" i.S.v. § 13 haben können. Diese Frage ist allein ein Problem der Auslegung des § 13 und hat mit der hier untersuchten des Norminhalts der Erfolgsabwendungsgebote bei den Erfolgsverletzungsdelikten einerseits, der §§ 138 f., 323 c andererseits nichts zu tun. 62 S. oben § 1 III 2. 63 S. hierzu noch unten §§ 4 II 3 und 10 II.

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Zweites Kapitel: Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

IL Gebots- und Verbotsverletzung (zum "Umkehrprinzip", zur "Pflichten"kollision und zur Rechtfertigung) 1. Zeitstruktur von Verboten und Geboten Philipps64 hat auf eine Besonderheit bei der Feststellung der Gebotswidrigkeit aufmerksam gemacht, die mit der Zeitstruktur der Gebote zusammenhängt. Um die Gebotswidrigkeit bei (abstrakt-generellen) Geboten zu bestimmen, sei anzugeben oder zu ermitteln, bis wann das Gebot erfüllt sein müsse. Nur die Gebotserfüllung sei zeitlich ohne weiteres genau bestimmbar, rechtlich jedoch irrelevant. Insofern liege es bei Geboten genau umgekehrt wie bei (abstrakt-generellen) Verboten: Hier sei das rechtlich Relevante, nämlich die Verbotswidrigkeit, zeitlich genau zu bestimmen (und eine Zeitbestimmung zwar möglich, aber nicht nötig: wenn das Verbot nämlich, wie in der Regel, von Anfang an - d.h. vom Zeitpunkt seines Erlasses an - nicht und niemals - d.h. bis zu seiner Aufhebung nicht - übertreten werden dürfe). Dies bedeute, daß Gebote, um praktisch werden zu können, anders als Verbote einer zeitlichen und situativen Individualisierung bedürfen, andernfalls die Gebotserfüllung ad infinitum herausgeschoben werden könne und eine Gebotswidrigkeit nie feststellbar sei. Diese Individualisierung sei nicht ubiquitär möglich; ein Gebot, das immer und überall zu erfüllen sei - z.B. das Gebot der Nächstenliebe - könne nicht dem Recht, sondern nur der Moral angehören65. Nun trifft die soeben bezeichnete Problematik für die Garantengebote zunächst nur dann zu, soweit es sich um (schlichte) Tätigkeitsgebote handelt, bei denen aber regelmäßig Fristen bestimmt sind. So ist etwa in § 16 PStG eine Frist von einer Woche ab der Geburt des Kindes für die Geburtsanzeige und in § 31 PStG von einem (Werk-)Tag ab Todestag bestimmt - woraus sich ergibt, daß erst nach Ablauf dieser Frist ein gebotswidriges Handeln vorliegen kann66. Ähnlich ist bei den ErfolgsverletzungsUnterlassungsdelikten die Gebotswidrigkeit genau dann perfekt, wenn der abzuwendende Erfolg eingetreten ist, und erst dann liegt ein gebotswidriges Verhalten vor. Wird bedacht, daß die Gebotswidrigkeit nach hier vertretenem Normenverständnis in jedem Falle ex post festgestellt wird, so ergeben sich aus der unterschiedlichen "Zeitstruktur" von Ver- und Geboten für die dogmatische Behandlung also keine besonderen Schwierigkeiten67. 64

Handlungsspielraum, S. 21 ff. (u. auch 67 f.) im Anschluß an Maihofer , GA 1958,258 ff. Philipps , Handlungsspielraum, S. 23. - Philipps stellt ganz zu Recht die bezeichneten Strukturunterschiede zwischen Geboten und Verboten in einen Zusammenhang mit der Auffassung des deutschen Idealismus, Gebote gehörten als praktisch nicht erzwingbare Normen nicht dem Recht, sondern (nur) der Moral an; hierzu noch unten § 10 I 3. 66 Zur - streitigen - diesbezüglichen Unterlassungsstrafbarkeit gem. §§ 169, 13 vgl. RGSt 72,215; LK-Dippel, § 169 Rdnrn. 12,20; S/S-Lenckner, § 169 Rdnr. 8 (f.). 67 Übrigens auch nicht für die Konstellation des Unterlassungsvmwc/w: Da nach hier vertretener Auffassung der Versuch ohnehin nicht normwidrig ist, erübrigt es sich, etwa im Falle 65

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2. "Umkehrprinzip" Jedoch bleibt die Beobachtung zutreffend, daß Gebote - anders als Verbote - in dem Sinne "situationsabhängig" sind, als die Zuwiderhandlung gegen ein Gebot eine "gebotsrelevante Situation" voraussetzt. Insofern sind Gebots-Nichtbefolgung und Verbots-Befolgung in der Tat parallel strukturiert: Wer in einem Sessel sitzt und Zeitung liest, kann sein Verhalten nicht als Handlung des Befolgens etwa des Tötungsverbots verständlich machen; er verhält sich zwar (aus welchen Gründen auch immer) objektiv normkonform - und damit in Übereinstimmung mit dem Recht -, jedoch läßt sich nicht sagen, daß er das Tötungsverbot befolge 68. Ganz allgemein kann eine Unterlassungshandlung nur in einem Kontext angenommen werden, in dem es Gründe gibt, das Geforderte zu tun69. Wichtig zu sehen ist nur, daß es an dieser Stelle um die Zuschreibung (Interpretation) eines Verhaltens als Handlung und damit um eine Zurechnungsfrage geht, also nicht um eine Frage der Normwidrigkeit, sondern der Zurechnung eines Verhaltens als Pflichtwidrigkeit im Sinne des hier vorgelegten Straftatmodells. Insofern ist festzuhalten, daß die Gebotszuwiderhandlung einerseits, die Verbotsbefolgung andererseits ebenso parallel strukturiert sind wie die Gebotsbefolgung einerseits, die Verbotszuwiderhandlung andererseits. Unzutreffend wäre es aber, die Gebotszuwiderhandlung einerseits, die Verbotszuwiderhandlung andererseits als durchweg (und schematisch) umzukehrende Konstrukte anzusehen. Genau dies ist aber die These, die Armin Kaufmann in seinem berühmten "Umkehrprinzip" entwickelt hat, das denn auch in der Literatur - zu Recht - ganz überwiegend abgelehnt wird 70. Armin Kaufmann führt das "Umkehrprinzip" in zwei Fassungen an: "Von der dogmatischen Funktion her gesehen läßt sich dieses Umkehrprinzip wie folgt formulieren: Die gleiche rechtliche Wirkung wie beim Begehungsdelikt tritt beim Unterlassungsdelikt ein, wenn mit Bezug auf die unterlassene Handlung die umgekehrte Struktur vorliegt wie bei der begangenen Handlung." "Das Umkehrprinzip läßt sich auch anders, nämlich von der Gleichartigkeit der Phänomene her, formulieren: Tritt bei der unterlassenen Handlung die gleiche Erscheinungsform auf wie bei der begangenen Handlung, so zeitigt

der (strafbaren!) versuchten Personenstandsfälschung die Gebotswidrigkeit der unterlassenen Geburts- oder Todesanzeige vor Ablauf der jeweiligen Frist festzustellen, ebenso wie die bekannte Streitfrage des Versuchsbeginns beim Erfolgsverletzungs-Unterlassungsdelikt keine Frage der Normwidrigkeit ist; eingehend unten § 7 II 2. Kindhäuser, Gefährdung, S. 42; zum Begriff des "Befolgens" einer Regel vgl. Kemmerling, RTh 6 (1975), 104 ff.; Winch, Sozialwissenschaft, S. 60 ff. 69 Vgl. Bubner, Handlung, S. 125 ff.; Kindhäuser, Handlung, S. 140 ff.; Riedel, Norm, S. 23 ff.; Taylor, Erklärung, S. 65 ff., 154 ff. 70 S. nur Androulakis, Studien, S. 196; Jakobs, Strafrecht, 28/3 in Fn. 3 (u. weit. Nachw.); Roxin, ZStW 74 (1962), 445 (530); Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 376; zust. freilich Welzel, Strafrecht, S. 203.

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sie beim Unterlassungsdelikt die umgekehrte Wirkung." 11 Aus der ersten Fassung des "Umkehrprinzips" leitet Armin Kaufmann insbesondere die Schlußfolgerungen ab, es gebe keine Begehung durch Unterlassen, sondern nur das Unterlassen, die (gebotene) Handlung vorzunehmen; es gebe keinen Unterlassungsvorsatz, sondern nur das Fehlen des Vorsatzes, die gebotene Handlung vorzunehmen; es gebe keinen Unterlassungsversuch, sondern nur ein Unterlassen des Versuchs, die gebotene Handlung vorzunehmen; es gebe keine mittelbare Täterschaft durch Unterlassen, sondern nur ein Unterlassen, die gebotene Handlung als mittelbarer Täter vorzunehmen; und es gebe keine Beihilfe zum Unterlassen, sondern nur das Unterlassen der Beihilfe zur Erfüllung des Gebots seitens eines Dritten. Es ist längst erkannt worden, daß nur die erste Schlußfolgerung - nicht das Begehen durch Unterlassen, sondern nur das Unterlassen des Begehens ist relevant trägt 72, welche - bemerkenswerterweise - als einzige die Ebene der Normwidrigkeit im hier vorgelegten Straftatmodell betrifft. Dies weist darauf hin, daß die erste Fassung des "Umkehrprinzips" überhaupt nur auf der Ebene der Normwidrigkeit valide ist73; eine wichtige Schlußfolgerung hieraus ist es, daß es nicht auf die "Kausalität der Unterlassens", sondern auf das Fehlen der Kausalität des (gebotenen) Tuns ankommt74. Fast durchweg korrekt und dementsprechend auch kaum angegriffen worden sind allerdings die Schlußfolgerungen, die Armin Kaufmann aus der zweiten Fassung des "Umkehrprinzips" gezogen hat, nämlich: die Vornahme der verbotenen Handlung begründet die Tatbestandsmäßigkeit, die Vornahme der gebotenen Handlung schließt sie aus; der (fehlgeschlagene) Versuch, ein verbotenes Handeln vorzunehmen, belastet, der, ein gebotenes Handeln vorzunehmen, entlastet75; der Rücktritt vom Versuch der verbotenen Handlung entlastet, derjenige vom gebotenen Handeln belastet; die Anstiftung zum verbotenen Handeln ist strafbar, diejenige zum gebotenen Handeln straffrei. Dies vermag freilich kaum zu überraschen: Die zweite Fassung des "Umkehrprinzips" entspricht nämlich der hier vertretenen These von der strukturellen Parallelität zwischen Verbotszuwiderhandlung einerseits und Gebotsbefolgung andererseits (bei - natürlich - umgekehrtem rechtlichen Vorzeichen).

71 Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 88 und 89 (Herv. i. Orig.) - Vgl. weiterhin ders., JuS 1961,173 ff.; ders ., in: v. Weber-FS, S. 207 ff.

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S. - im hier vorgelegten Modell - sogleich § 3 III 1. So wohl auch Philipps , Handlungsspielraum, S. 32. - Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 89, hat selbst zugegeben, daß die Handlungsfähigkeit - und damit eine der zentralen Zurechnungsvoraussetzungen - beim Begehungs- wie beim Unterlassungsdelikt gleichermaßen vorliegen muß. 73

74

Was im Ergebnis dem hier vorgelegten Modell der Kausalität des Unterlassens entspricht, wobei es sich freilich nicht um eine bloß hypothetische Kausalität, sondern um eine wirkliche Kausalerklärung handelt; eingehend unten § 5 II. 75 Jedenfalls von der Vorsatzvollendungsstrafbarkeit: zur verbleibenden Möglichkeit einer Versuchs- oder Fahrlässigkeitsstrafbarkeit eingehend unten § 71 3.

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3. "Pflichten"kollision Philipps hat freilich noch auf einen zweiten Strukturunterschied zwischen Geboten und Verboten hingewiesen, welcher das Problem der Normenkollision und damit, dogmatisch gesprochen, der Rechtfertigung betrifft. Philipps meint - und folgt hier der alten, auf die Normenlehre des aufgeklärten Vernunftrechts zurückgehenden76 Auffassung -, es könnten Normenkollisionen nur aufgrund von Geboten und nicht von Verboten entstehen77. Daß dies nicht richtig sein kann, hat Hruschka78 an folgendem Beispiel gezeigt: Wenn auf der Autobahn (in casu: im Hamburger Elbtunnel) eine Ampel auf Rot geschaltet ist, kollidieren die Verbote, eine rote Ampel zu überfahren, mit den Verboten, auf Autobahnen anzuhalten, zu wenden oder rückwärts zu fahren; wie immer sich ein Autofahrer verhält, so verstößt er doch gegen ein Verbot 79. Theoretisch gesprochen kollidieren Verbote und die aus ihnen resultierenden Unterlassungspflichten genau dann, wenn der dem Normadressaten konkret gegebene Handlungsspielraum durch Verbote vollständig abgedeckt wird. Doch entspricht es der Alltagserfahrung, daß Gebote - und damit Unterlassungspflichten - häufig (und häufiger als Verbote) mit anderen Geboten und auch mit Verboten kollidieren. Ein Schulbeispiel für den ersten Fall ist es, daß ein Vater bemerkt, daß seine zwei Kinder gleichzeitig zu ertrinken drohen, er jedoch nur eines zu retten vermag; eines für den zweiten Fall, daß ein Arzt nur über ein bereits belegtes Bett auf einer Intensivstation verfügt, als ein zweiter Patient eingeliefert wird, der ebenfalls, eine Intensivbehandlung benötigt, um zu überleben80. Das Problem dieser Fälle der "Pflichten"kollision 81 liegt - entgegen einer häufig geäußerten Ansicht nur mittelbar in dem Satz "impossibilium nulla obligatio"82: Denn isoliert betrachtet ist in diesen Fällen dem Normadressaten die Erfüllung jeder der kollidierenden Normen möglich; er kann sie nur (situationsbedingt) nicht 76

Vgl. Hruschka, in: Larenz-FS (1983), S. 257 (262 in Fn. 16 m.w.N.). Philipps, Handlungsspielraum, S. 70, s. allgemein 68 ff. 78 In: Larenz-FS (1983), S. 257 (261 f.); a A aber Jakobs, Strafrecht, 15/15a mit dem Argument, die Antriebslage gelte im Unrechtsbereich als beliebig verfügbar. Hier geht es aber nicht um eine Frage der Antriebssteuerung (Motivation), sondern des Handlungsspielraums (der Handlungsmöglichkeit). 79 Eine andere Frage ist es, ob nicht irgendeines (oder mehrere) der Verbote als das "schwächste1* zurücktreten muß (oder müssen); dies betrifft aber die Normen- und Pflichtenkonkurrenz, nicht die Feststellung einer bestehenden Normen- und Pflichtenkollision. 77

80

Beiden Beispielen ist gemeinsam, daß die kollidierenden Pflichten dasselbe Gewicht haben;8 1zur Lösung in Fällen unterschiedlichen Gewichts s. sogleich im Text. Genauer gesagt geht es nicht um die Kollision von Pflichten in des Wortes eigentlicher Bedeutung, sondern um die fallbezogene Kollision von Normen. - Allgemein zur Pflichtenkollision vgl. Jakobs, Strafrecht, 15/6 ff.; Jescheck, Lehrbuch, S. 327 ff., 452 ff.; Küper, Pflichtenkollision, passim; S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnrn. 71 ff.; Otto, Pflichtenkollision, passim; je mit umf. Nachw. 82

Insoweit zutreffend Jescheck, Lehrbuch, S. 330.

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sämtliche zugleich erfüllen. Mithin geht es vorrangig um die (pragmatisch gebotene) logische Konsistenz oder Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung bei der Beurteilung von Einzelfällen: Ein und dasselbe Verhalten kann nicht zugleich geboten und gebotswidrig oder verboten und geboten sein83. Des weiteren geht es bei der Pflichtenkollision nicht um "systeminterne" Normwidersprüche - die entweder durch Subsidiaritätsklauseln84 oder durch die Anwendung des Grundsatzes "lex specialis derogat legi generali" zu lösen sind sondern um die nur fallweise, akzidentielle Kollision von Normen. Eine derartige Kollision liegt genau dann vor, wenn sämtliche in der konkreten Situation gegebenen Verhaltensalternativen rechtlich negativ bewertet werden (sei es als Verbots-, sei es als gebotswidrig); im ein-

zelnen: wenn mehrere Gebote verschiedene, nicht zugleich vorzunehmende Verhaltensweisen gebieten; wenn ein und dieselbe Verhaltensweise geboten und verboten ist; wenn sämtliche Verhaltensalternativen verboten sind85. Inhaltlich können diese "Pflichten"kollisionen auf zwei Arten gelöst werden: Entweder tritt eine (oder treten mehrere) der kollidierenden Normen hinter eine (oder mehrere) andere zurück; oder es sind überhaupt keine Normen anwendbar bzw. entstehen überhaupt keine (Rechts-)Pflichten. Methodisch bieten sich ebenfalls zwei Wege an, das jeweilige inhaltliche Ergebnis zu erreichen: Entweder werden Gesamtnormen gebildet oder aber Metanormen angegeben, die über die Geltung der kollidierenden Normen entscheiden. In Uber einstimm ung mit dem oben zur Theorie der Rechtfertigung Gesagten wird hier der zuletztgenannte methodische Weg gewählt86. Inhaltlich ist die These von der Nichtanwendbarkeit der Normen - besser bekannt als These vom "rechtsfreien Raum"87 - abzulehnen, und zwar auch in dem Fall der Kollision völlig gleichwertiger Normen 88, da sie gegen das dem Gebot der Zweckrationalität entspringende "Gesetz der größtmöglichen Wirksamkeit des Pflichtensystems" verstößt: Auch bei Kollision gleichwertiger Normen muß wenigstens - darf aber auch nur - eine auf die 83

84

S. oben § 1 II 3.

Wie insbesondere in § 323 c geschehen: "ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten". Hruschka, in: Larenz-FS (1983), S. 257 (271 ff.), meint, das Vorliegen einer Pflichtenkollision ließe sich im ersten und dritten Unterfall nur begründen, wenn anerkannt werde, daß ein Verbot das Gebot alternativer Verhaltensweisen und ein Gebot das Verbot alternativer Verhaltensweisen beinhalte. Weder trifft aber die Prämisse zu - s. oben § 3 1 2 . noch trifft es zu, daß die Prämisse gemacht werden muß: Eine (fallbezogene) Normenkollision liegt bereits dann vor, wenn jede in der Situation mögliche Verhaltensweise normwidrig ist, was sich unmittelbar aus der Subsumtion unter alle auf alle möglichen Verhaltensweisen bezogenen Normen ergibt. 86 S. oben §1114. 85

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S. allgemein Engisch, Einführung, S. 140 mit umf. Nachw. - Unter der Prämisse, daß ein Normensystem vollständig ist, in ihm also die Metaregel gilt, daß ein nicht verbotenes (gebotswidriges) Verhalten erlaubt (freigestellt) ist, kann es "rechtsfreie Räume" nicht geben; auch das von Engisch genannte "reine Denken" oder "Glauben" ist nicht rechtsfrei, sondern positiv 88 erlaubt und geschützt (Art. 4 GG!). Insofern aA. aber insbes. Arthur Kaufmann, in: Maurach-FS, S. 336 ff.

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Situation anwendbar bleiben89. Die hiernach in jedem Falle zu bildenden Vorrang- und Metanormen könnten beispielsweise - einer alten philosophischen Tradition folgend 90 - lauten: Kollidieren mehrere Gebote miteinander, so hat das gewichtigste Vorrang. - Kollidieren gleichgewichtige Gebote (oder gleichgewichtige Verbote) miteinander, so ist es freigestellt, welches der Gebote (oder gleichgewichtigen Verbote) befolgt wird, wenn nur überhaupt eines befolgt wird. - Kollidieren ein Verbot und ein Gebot miteinander, so hat das erstere Vorrang, es sei denn, das Gebot geht dem Verbot wesentlich vor. - Insbesondere die dritte - der h A . entsprechende91 Regel ist freilich erheblichen Zweifeln ausgesetzt. Sie läßt sich jedenfalls dann nicht halten, wenn das Gebot alternativen Verhaltens als in Verboten mitgedacht wird (und vice versa), da sich dann jedes Verbot in ein Gebot umwandeln läßt und somit die erste Regel anwendbar wird 92. Richtigerweise wird - wie bei der Konkurrenz zwischen Geboten - das Gewicht der Norm maßgebend sein müssen, wobei ein genereller Nachrang von (gem. § 13 Abs. 1 "entsprechenden") Garantengeboten gegenüber Begehungsverboten nicht begründbar sein wird. Die von der h.L. genannten Vorrangregeln kranken freilich daran, daß eine Theorie des "Gewichts" einer Norm (noch) nicht besteht93. Insbeson89

Hruschka, in: Larenz-FS (1983), S. 257 (284 f.); allerdings trifft die Lehre vom rechtsfreien Raum insoweit zu, als die Wahl zwischen den zu erfüllenden Normen rechtlich nicht bewertet wird, zutr. Jakobs, Strafrecht, 15/7 in Fn. 11 m.w.N. Unzutreffend ist andererseits die Auffassung von Jescheck (Lehrbuch, S. 329 f.; ebenso Dreher/Tröndle, vor § 32 Rdnr. 11; Gallas, Beiträge, S. 74 ff.), in den Fällen der Kollision gleichwertiger Normen seien beide Verhaltensweisen rechtswidrig (und nur entschuldigt): Hier wird das fundamentale Gebot der (auch: fallweisen) Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung verletzt; Jakobs, Strafrecht, 20/39. Dasselbe gilt für die Lösung Günthers, Strafrechtswidrigkeit, S. 333, in derartigen Fällen sei nur das Strafunrecht, nicht das allgemeine Unrecht ausgeschlossen; zur Kritik an Günther s. oben § 1 Fn. 66, 73. Unzutreffend ist es auch, den vollständig untätig bleibenden Garanten für die Nichterfüllung aller kollidierender Pflichten haftbar zu machen, so aber LK-Hirsch, Vor § 32 Rdnr. 81. Hier fehlt es nämlich zumindest mit Blick auf eine der Pflichten am Pflichtwidrigkeitszusammenhang; daher ist der Garant nur für die Nichterfüllung einer Pflicht verantwortlich, und zwar bei gleichwertigen Pflichten wahldeutig einer der mehreren Pflichten, bei nicht gleichwertigen Pflichten der vorrangigen Pflicht; vgl. Jakobs, Strafrecht, 15/7a. 90

Hruschka, in: Larenz-FS (1983), S. 257 (276 ff.) mit umf. Nachw., auch zu den entsprechenden in der heutigen Dogmatik vertretenen Lösungen. S. nur Jakobs, Strafrecht, 15/8 mit umf. Nachw. in Fn. 15. - Grundlegend aus der Rspr. ist RGSt 6, 64 f., wo die (Verkehrssicherungs-)Pflicht des Mitbenutzers einer Jauchegrube zum Abdecken der Grube, in welche ein Kind gefallen und gestorben war, in casu mit der Erwägung verneint wurde, der Mitbenutzer habe "nach den sonstigen Verhältnissen keine Befugnis zur Vornahme der Deckung" gehabt; s. weiterhin RGSt 33, 346: Das polizeiliche Verbot, den Fuhrverkehr entlang einer Kanalbaustelle zu sperren, begrenzt die Verkehrssicherungspflicht des Bauunternehmers. 92 Hierzu Hruschka, in: Larenz-FS (1983), 257 (S. 278 f.). - Die Prämisse ist freilich unrichtig, s. oben § 3 I 2. 93 Hruschka, in: Larenz-FS (1983), S. 257 (276 f.). Einen Anhaltspunkt zur Lösung können die im Rahmen des § 34 entwickelten Ansätze geben; hierzu nur S/S-Lenckner, § 34 Rdnrn. 22 ff. und ders., Notstand, S. 90 ff. Ausgangspunkt dürfte sein, daß nicht das abstrakt-generelle,

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dere wird nicht immer gesagt werden können, daß eine Hilfeleistungspflicht gem. § 323 c schwächer als eine Garantenpflicht ist94. Umgekehrt sind rechtlich anerkannte "Verrechnungsverbote" zu beachten, z.B. dasjenige, daß Lebensspannen gegeneinander nicht verrechnet werden dürfen; daher darf ein Arzt, der von zwei gleichzeitig eingelieferten Schwerstverletzten nur einen behandeln kann, von Rechts wegen auch denjenigen behandeln, der signifikant schlechtere Überlebenschancen hat95. Soweit die h.L. zur Bestimmung des "Gewichts" kollidierender Normen auf eine einzelfallbezogene Interessenwägung nach dem Vorbild des § 34 zurückgreift 96, ist dies zweifelhaft: Zwar enthält § 34 eine (allgemeine Obhuts-)Duldungspflicht und räumt Dritten, die mit Blick auf das in Anspruch genommene fremde Gut an sich unterlassungspflichtig sind, ein Eingriffsrecftf ein97. Zur Frage, was gilt, wenn der Dritte - sei es als allgemein Hilfspflichtiger, sei es als Garant dem bedrohten Gut hilfs- oder einstandspflichtig ist, also mit Blick auf das in Anspruch genommene fremde Gut - vorbehaltlich des Verletzungsverbots - eingriffspflichtig ist, sagt § 34 aber seinem Wortlaut nach nichts98. Es wäre eine petitio principii, hier in jedem Falle den Vorrang der Unterlassungspflicht anzunehmen und die Hilfs- oder Einstandspflicht des Dritten eo ipso durch das (nur gem. § 34 eingeschränkte) Verletzungsverbot einzuschränken99. Vielmehr wird bereits bei "einfachem" Überwiegen des Gewichts der mit dem Handlungsgebot verfolgten vor dem durch das Begehungsverbot geschützten Interesse eine Rechtfertigung anzunehmen sein 00 . Muß etwa zur Behandlung eines schwerverletzten Unfallopfers ein medizinisches Gerät in Anspruch genommen werden, das einem bereits in Behandlung befindlichen Patienten weggenommen werden muß, der hierdurch gesundheitliche Nachteile erleidet, so ist dies gerechtfertigt, ohne daß es darauf ankommt, ob das gerettete Gut das Eingriffsgut geradezu wesentlich

sondern das in der jeweiligen Situation vorliegende konkret-individuelle Gewicht der Norm zu berücksichtigen ist ("modifizierte, konkretisierende Güterabwägung", vgl. Küper , Nötigungsnotstand, S. 107 ). 94 Vgl. LK-Hirsch, Vor § 32 Rdnr. 80; Jakobs , Strafrecht, 15/7; Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 137; Stratenwerth , Strafrecht, Rdnr. 470. 95 Zweifelnd Jakobs, Strafrecht, 15/7. 96 Hierzu allgemein S/S-Lenckner, § 34 Rdnrn. 22 ff. u. ders ., Notstand, S. 90 ff.; s. weiterhin Küper, Nötigungsnotstand, S. 107 ff. ("modifizierte, konkretisierende Güterabwägung"). 97 S. unten § 6 II 3. 98 Hruschka, in: Larenz-FS (1983), S. 257 (279 f.); für die Maßgeblichkeit des § 34 aber Jakobs, Strafrecht, 15/8; S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 71 ff. Rdnr. 71. 99 So aber die hA., vgl. RGSt 59, 341 u. 60, 84 (86) (beide zur Verletzung von Ordnungsvorschriften < Verboten > im Straßenverkehr in Notstandssituationen); BayObLGSt 1954,114; S/S -Lenckner, § 34 Rdnr. 4, bereits Vorbem. § 32 ff. Rdnr. 71 mit umf. Nachw.; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rdnr. 29 a. 100 Zu weitgehend freilich Otto, Pflichtenkollision, S. 100: Gleichwertigkeit genüge; daher sei die Tötung eines Dritten durch den Vater, der nur hierdurch das Leben seines Kindes retten kann, erlaubt; hiergegen zu Recht Küper, Pflichtenkollision, S. 113 ff.

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überwiegt 101. Erst recht gilt dies, wenn zur Verhütung schwererer Nachteile für das zu garantierende Rechtsgut leichtere Verletzungen (durch positives Tun) herbeigeführt werden müssen102. Freilich ist noch der - häufig übersehene - Gesichtspunkt zu bedenken, daß Pflichtenkollisionen im Rahmen der Rechtfertigung nach allgemeinen Grundsätzen nur dann rechtfertigend zu wirken vermögen, wenn die Kollision als Rechtfertigungslage nicht zurechenbar herbeigeführt worden ist. Hätte beispielsweise im zuerstgenannten Beispiel der Vater Vorsorge dafür tragen müssen, daß er gegebenenfalls beide Kinder retten kann (Obliegenheit!), so bleibt die unterlassene Rettung des einen Kindes rechtswidrig und ist kraft Fahrlässigkeit zurechenbar 103. 4. Sonstige Rechtfertigungsprobleme Ansonsten bietet die Rechtfertigung beim (unechten) Unterlassungsdelikt keine Besonderheiten104. So kann sich der rechtswidrig Angegriffene im Rahmen der Notwehr (auch) durch Unterlassen verteidigen, wenn etwa der Angreifer nicht davor gewarnt wird, daß ein Polizist im Begriffe steht, den Angreifer niederzuschlagen; dies gilt auch für (Obhuts-)Garanten. Unzutreffend ist insbesondere die - der ständigen Rechtsprechung entsprechende, in der Literatur teils mit Vehemenz abgelehnte1 - These, institutionelle Garanten hätten gegen Angriffe durch die Träger des zu garantierenden

Wie hier Jakobs, Strafrecht, 15/9: Wenn der Handlungspflichtige durch positives, verbotswidriges Tun Rettungschancen für Dritte verhindert, um einer Handlungs-(Garanten-) Pflicht nachzukommen, ist dies gerechtfertigt, wenn das Gewicht der Handlungs-(Garanten-) pflicht dasjenige des verletzten Verbotsgesetzes überwiegt. - S. weiterhin Otto, Pflichtenkollision, S. 77 ff. (bes. 87). Vgl. in diesem Zusammenhang den tragischen Fall BGH JZ 1973,173 = MDR b. Daliinger 1971, 361 m. Anm. Geilen, JZ 1973, 321 ff.; Herzberg, MDR 1971, 811 ff.; Spendel, JZ 1973, 137 ff.; Ulsenheimer, JuS 1972, 252 ff.: Hier hatte ein Vater aus Furcht vor Verletzung seiner beiden Kinder so lange gezögert, diese aus dem 3. Stock eines brennenden Hauses in die Arme wartenden Männer zu werfen, daß er sich zuletzt nur selbst durch einen Sprung retten konnte; die Kinder verbrannten. Zu Recht verurteilte der BGH wegen (zweifacher fahrlässiger) Tötung, da die durch Tun und damit verbotswidrig ggf. herbeigeführten Verletzungen geringer gewogen hätten als der Tod der Kinder; dies wird auch dann gelten müssen, wenn nur (schwerwiegendere) Verletzungen der Kinder durch das Feuer gedroht hätten, vgl. Wessels, Strafrecht, S. 228. 103 S. den in der vorigen Fn. genannten Fall: Hier war das Zuwarten obliegenheitswidrig; daher konnte sich der Vater nicht darauf berufen, er habe sich nur mehr selbst retten können; dies wird auch dann gelten müssen, wenn der Vater durch das Zuwarten sich verunmöglicht hätte, beide Kinder zu retten. 104

SK-Rudolphi, Vor § 13 Rdnr. 29; AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnrn. 71; je m.w.N. LK-Spendel, § 32 Rdnr. 310; ders., JZ 1984, 507 ff.; s. weiterhin Engels, GA 1982, 109 (114,124 f.); Frister, GA 1988, 291 (308). 105

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Zweites Kapitel: Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Rechtsguts nur eingeschränkte Notwehrbefugnisse 106: Zwar schulden institutionelle (Obhuts-)Garanten - ähnlich wie sie im Bereich der Zumutbarkeit jedenfalls mehr als die Mindestsolidarität gem. §§ 34, 323 c schulden107 auch im Rahmen der Notwehr ein Mehr an Gütereinbuße. Jedoch wird dies in den kritischen Fällen der Notwehr eines Ehegatten gegen den anderen durch die vermehrte Solidaritätspflichtverletzung des anderen aufgehoben; jedenfalls in derartigen Konstellationen reziproker Solidarität ist nicht einzusehen, warum die Notwehrbefugnis beschränkt sein soll. Unrichtig ist es auch, unterlassende Garanten als "Angreifer" i.S.v. § 32 anzusehen; hier wird die Grenze zum - anders zu behandelnden - Aggressivnotstand (analog § 228 BGB) verschoben108. Nicht erst zum Rechtfertigungsbereich - sondern bereits zur Frage nach der tatbestandsmäßigen Pflichtverletzung - gehört schließlich die Frage, inwieweit der Garant eigene Mittel einsetzen muß (tatbestandsausschließende Unzumutbarkeit bzw. Unangemessenheit)109. III. Zum Norminhalt der (Garanten-)Gebote (Tun und Unterlassen , Handlungsfähigkeit , "omissio libera in causa") 1. Unterlassen als Negation eines Tuns Das Verhalten, welches die Tatbestände der unechten Unterlassungsdelikte beschreiben, ist ein Unterlassen, nämlich das Unterlassen eines Verhaltens (Tuns), welches die Eigenschaft aufgewiesen hätte, den (Verletzungs-)Erfolg abzuwenden oder allgemeiner: welches dem gebotenen Verhalten entsprochen hätte. Die Feststellung norm-, also gebotswidrigen Verhaltens setzt also die Angabe eines Verhaltens (Tuns) voraus, welches in der konkreten Situation die Eigenschaft aufgewiesen hätte, den (Verletzungs-) Erfolg abzuwenden oder allgemeiner: dem gebotenen Verhalten zu ent106 S. nur BGH NJW 1969, 802; 1975, 62 f.; 1984, 986 (mit zust. Anm. Montenbruck , JR 1985,115 ff. u. diff. Anm. Loos, JuS 1985, 859 ff.); eingehend u. mit umf. Nachw. Jakobs , Strafrecht, 12/58 f. 107 Hierzu unten § 6 II 2. 108 Zutr. S/S-Lenckner, § 32 Rdnr. 10 f. mit umf. Nachw.; a.A. aber die Rspr., vgl. BayObLG NJW 1963, 825. - Beachtliche, aber im Ergebnis wohl nicht durchgreifende Bedenken gegen den Verweis auf Notstandsregeln hat neuerdings Lagodny , GA 1991, 300 ff. vorgebracht. Nach Lagodny wäre es - zumal angesichts der Unsicherheit der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen - ein Wertungswiderspruch, Notwehr gegen garantenpflichtwidriges und damit begehungsgleichwertiges Unterlassen nicht zu erlauben. Auch sei in Fällen garantenpflichtwidrigen Unterlassens der die "Schärfe" des Notwehrrechts (gegenüber dem Notstandsrecht) begründende "Rechtsbewährungsgedanke" einschlägig. Jedoch zeigen die insoweit gebrauchten Formeln ("Recht muß dem Unrecht nicht weichen"), daß vorrangig Rechtsbewährung gegen "Angriffe" im Sinne positiven Tuns gemeint ist (hiergegen aber Lagodny, aaO., S. 301 f.). Zudem gewichtet Lagodny die Notstandsbefugnis zu gering, da § 34 auf den Defensivnotstand zugeschnitten ist, beim hier vorliegenden Aggressivnotstenü jedoch die Güterabwägung eher zugunsten des Notstandsberechtigten ausfällt. 109 Eingehend unten § 6 II.

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sprechen. Mit diesem gebotenen Verhalten wird das tatsächliche Verhalten des Täters verglichen; verhält er sich anders, so handelt er norm- und gebotswidrig, und hierbei ist gleichgültig, ob er etwas anderes oder nichts tut 110 . Zu Recht hat bereits Traeger 11 in aller Schärfe ausgesprochen, daß es ein Unterlassen "an sich" nicht gibt: Unterlassen ist stets Unterlassen von etwas, nämlich Nichtvornahme eines geforderten Tuns112. Um Mißverständnisse zu vermeiden: "Gefordert" meint hier zunächst rechtlich - nämlich von der strafrechtlichen Gebotsnorm - gefordert; auf irgendwelche vor- oder außerstrafrechtliche Erwartungen kommt es nicht an113. Des weiteren kommt es auf der Ebene des Norminhalts und der Feststellung des Norminhalts (dogmatisch gesprochen: der Tatbestandsmäßigkeit des < unechten > Unterlassungsdelikts) nicht darauf an, ob der Täter zur Vornahme des geforderten Tuns imstande war, ob er also vermeidefähig war; "gefordert" meint also nicht "verpflichtet zu" im Sinne der hier entwickelten Pflichtenkonzeption, die erst auf der Stufe der Zurechnung relevant wird. Daher ist zur Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten nicht mehr, aber auch nicht weniger anzugeben als ein normkonformes positives Tun, bei den unechten Erfolgsverletzungs-Unterlassungsdelikten also ein Tun, das für die Erfolgsabwendung kausale Relevanz gehabt hätte, und festzustellen, daß das tatsächliche Täterverhaltens mit diesem Tun nicht übereinstimmt. In diesem Modell taucht das Unterlassen nur als Negation auf: Der Täter hat nicht das getan, was das Gebot verlangte, nämlich etwa bei den Erfolesverletzungs-Unterlassungsdelikten: den Verletzungserfolg abzuwenden14. Damit erweist sich aber die vielumstrittene Frage, ob das Negat eines Tuns, das Unterlassen, in irgendeinem Sinne - ontologisch oder axiologisch "Handlung" sei, als irrelevant für die Bestimmung der Norm- als Gebotswidrigkeit 15 . 110 111 112

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Roxin, in: Engisch-FS, S. 380 (402 ff.). Unterlassungsdelikte, S. 7. S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 139.

So aber Traeger, Unterlassungsdelikte, S. 7 f.; wie hier LK-Jescheck, Vor § 13 Rdnr. 85. Zu den Spielarten der "Erwartungstheorie" des Unterlassens (v. Liszt, v. Rohland u.a.) eingehend 114 und krit. Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 50 ff. mit umf. Nachw. Ahnlich Schmidhäuser, in: A. Kaufmann-GS, S. 131 (157): Unterlassung sei "das NichtHandeln, wo gehandelt werden soll". 115 Zum Streit hierüber S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 139 mit umf. Nachw. Im übrigen hat Kindhäuser (Handlung, S. 175 ff., s. auch 203 ff.) gezeigt, daß grundsätzlich nichts entgegensteht, Unterlassungen als (intentionale) Handlungen aufzufassen, da die Handlung kein kausales Ereignis ist. Allerdings weist Kindhäuser auf die Besonderheit hin, daß Ergebnis einer Handlung nicht (unmittelbar) ein Ereignis, sondern eine - unterlassene (intentionale) Handlung ist: Unterlassungshandlungen stellen eine Relation zwischen einer faktischen und einer kontrafaktischen Handlung dar (aaO. S. 177 f.). Über die kontrafaktisch "erwartete" Handlung (s. hierzu oben im Text) wird die Kausalkette vermittelt (hierzu unten § 5 II); damit kommt es mittelbar doch zu einer Zurechnung eines Erfolges (aaO. S. 207 f.). Vgl. zum Streit über die Begriffe Verhalten - Handlung - Begehung - Unterlassung noch die 8 Vogel

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2. "Interne" und "externe" Unterlassensbegriffe Es ist Gallas116 schon im Jahre 1932 gelungen, den hier gemeinten "externen" Unterlassungsbegriff von einem "internen", an innere Willensund Motivationsvorgänge anknüpfenden Begriff der Unterlassung abzugrenzen, wie er in neuerer Zeit namentlich von Behrendt 117 vertreten worden ist und wie er den sog. Interferenztheorien 118 zugrundelag. Wie Gallas aufzeigt, war die philosophische Grundlage dieser internen Unterlassungslehren bereits von Kant gelegt worden, der Negationen nur dann empirische Wirklichkeit beilegte, wenn sie als das Ergebnis einer "realen Opposition" oder "Realpugnenz" einander entgegengesetzter realer Kräfte erscheint119. Damit lag es aber nahe, die "Gegenkraft", die den rettenden oder erfolgsabwendenden Kausalverlauf hinderte und somit empirische Wirklichkeit gewann, in der Innenwelt des Täters, in der Selbsthinderung als bewußte Unterdrückung der auf ein Handeln gerichteten Antriebe, im "Niederkämpfen" des Motivs oder in der Hemmung des Bewegungsreizes auf die motorischen Nerven zu sehen. Hierin sei eine "negative" oder "interne" Handlung mit wirklich-empirischer kausaler Relevanz zu sehen120. Es ist nun längst erkannt, daß keineswegs alle Unterlassungen in der bezeichneten Weise als "interne" Handlungen umformuliert werden können121. Weder ließe sich so das unbewußte (fahrlässige) Unterlassen erklären, noch ist es ausgemacht, daß der Täter stets ein bestehendes Handlungsmotiv neueren Beiträge von Schmidhäuser , in: A. Kaufmann-GS, S. 131 (bes. 137 ff.); Gimbernat Ordeig , aaO., S. 159 (bes. 168 ff.). 116 Studien, S. 5 ff. 117

Unterlassung, S. 121 ff., 130 und passim (anknüpfend an psychoanalytische Handlungsund1 Triebmodelle). - Krit. Brammsen , JZ 1989, 71 (72 ff.). 18 S. nur Binding, Normen, Bd. II/l, S. 546 ff., 556; Hälschner , Strafrecht, Bd. I, S. 234 ff. 119

Kant , Negative Größen, A 13 f. und passim. •• Ahnlich Behrendt , Unterlassung, wie Fn. 117: Kern der finalen Tat soll die unterlassene "Gegensteuerung gegen destruktive Triebe" sein. - Letztlich liegt diese Auffassung auch dem negativen Handlungsbegriff vom Herzberg zugrunde (hierzu bereits oben § 2 I 2. a.E.). Herzberg findet das Gemeinsame von Tun und Unterlassen im "vermeidbaren Nichtvermeiden" des je tatbestandsmäßigen Erfolgs. Der hiermit geschaffene "negative Handlungsbegriff" erstrecke sich auch auf das Begehungsdelikt, bei welchem darauf abzustellen sei, daß der Täter "es unterlassen hat, sich im entscheidenden Moment 'zurückzuhalten'", Unterlassung, S. 170; s. auch S. 172: "(Den unerwünschten Erfolg) verhütet der Aktivtäter ja keineswegs, sondern er vermeidet (ihn) ebenfalls nicht, weil er sich zur Züglung seiner selbst nicht aufrafft"; Herv. v. Verf. Die Besonderheit des (unechten) Unterlassens sei es, daß (zudem) eine Garantenstellung erforderlich sei: (Unechtes) Unterlassen sei "vermeidbares Nichtvermeiden in Garantenstellung". Hiergegen ist einzuwenden, daß - wenn Tun und Unterlassen gleichermaßen "vermeidbares Nichtvermeiden" darstellen - das zusätzliche Erfordernis einer Garantenstellung nicht begründbar ist, s. Jakobs , Strafrecht, 6/21 f. u. 33 mit Fn. 81. - Gegen Behrendt und Herzberg auch die h.L., nur S/S-Lenckner , Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 36 m.w.N. (beide hätten "die121 Dinge auf den Kopf gestellt"). S. bereits Kitzinger , Handlung, S. 110 ff.; Traeger , Unterlassungsdelikte, S. 17 ff.; des weiteren Gallas , Studien, S. 6 f.; Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 244, 268 f.; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 38 f. 120

§ 3 Garantengebote

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"niederkämpft", sei es, daß der Handlungswille nur erlahmt (etwa durch Vergessen der Handlungsumstände oder des Entschlusses selbst), sei es, daß er aufgrund rationaler Deliberation von vorn herein nie bestand122. Auch der Versuch Gerhart Husserls123, diese Schwächen durch ein "willenslogisches Modell" der Unterlassung auszuräumen, muß als gescheitert angesehen werden. Nach Husserl ist das Unterlassen nicht ein mögliches Verhalten verneinender psychischer Akt, sondern die Befolgung der durch diesen Akt begründeten negativen Handlungsmaxime. Dem liegt die These zugrunde, daß die Verneinung des Wollens eines Aktes a das Wollen des kontradiktorischen Gegenteils dieses Aktes, also von non-a, bedeute. Diese These ist aber unzutreffend, sofern ein nicht bloß verdünnter, uneigentlicher Begriff des Wollens zugrunde gelegt wird. Wer nicht den Willen hat, a zu tun, muß deshalb nicht den Willen haben, etwas anderes als a zu tun: Das Nicht-Wollen von a ist nicht gleichzusetzen mit dem Wollen von non-a124. Es ist Husserl freilich zuzugeben, daß sein - im Zusammenhang der Vergessens-Fälle eingeführtes - Konzept, Unterlassen sei die Nichtbefolgung einer positiven Handlungsmaxime1 , weitgehende Ähnlichkeit mit dem hier vorgestellten (Zurechnungs-)Konzept hat, wenn auch diese positive Handlungsmaxime im hier verwendeten Konzept eine kontrafaktische Unterstellung und keine aufzuweisende empirische Realität darstellt. Über die gezeigten psychologischen und handlungslogischen Schwächen hinaus leiden freilich sämtliche "internen" Unterlassungskonzeptionen vom Standpunkt des hier vorgelegten Straftatmodells an einem grundsätzlichen Kategorienfehler, nämlich demjenigen, der Motivation des Täters bereits auf Norm- und Unrechtsebene Relevanz einzuräumen. Die Motivation des Täters ist aber weder auf der Ebene der Normwidrigkeit (dogmatisch: der < objektiven > Tatbestandsmäßigkeit) noch auf derjenigen der Zurechnung erster Stufe zum Unrecht als Pflichtwidrigkeit relevant, auf welcher die normgemäße Intention kontrafaktisch unterstellt wird, der reale Motivationsprozeß aber ausgeblendet wird 126 . 3. Abgrenzung Tun - Unterlassen und Problemfälle (Fahrlässigkeit, rettende Kausalverläufe) Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen wird im hier vorgelegten Modell mithin trennscharf und eindeutig durch den Vollzug oder Nichtvollzug einer erfolgsbedingenden bzw. -abwendenden Körperbewegung be122 123 124 125

Husserl, Negatives Sollen, S. 31 f. S. oben § 2 III 2.; wie hier Jakobs, Strafrecht, 28/2.

126

8*

S .Jakobs, Strafrecht, 28/2 in Fn. 1. Negatives Sollen, bes. S. 27 (ff.). Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 98 m.w.N.

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Zweites Kapitel: Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

stimmt127. Hiermit wird das klassische "naturalistische" Kriterium mit dem vordringenden "Kausalitätskriterium" verbunden128. Mehrdeutige Verhaltensweisen im Sinne einer "Koinzidenz" von Verhaltensformen kann es in diesem Modell nicht geben129, wohl aber "Sukzessionen" von Tun und Unterlassen. Zuzugeben ist freilich, daß die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen nach dem "naturalistischen" Kriterium der erfolgsbedingenden Körper(nicht)bewegung dann fragwürdig wird, wenn es um Verläufe in generell beherrschten Organisationssphären - insbesondere in Unternehmen 130 geht. Beispielsweise fragt sich, ob das Inverkehrbringen eines Produkts aus dem Blickwinkel des organisations- (unternehmens-)beherrschenden Managements schon deshalb ein positives Tun ist, weil das Funktionieren der Organisation (des Unternehmens) durch das (stete) Tätigwerden dieses Personenkreises bedingt ist 131 . Hier hat BGHSt 37, 106 (114) eine bemerkenswerte "unternehmensbezogene Sicht" entwickelt132: Zunächst soll festgestellt werden, ob das Unternehmen als Ganzes - "wie" eine natürliche Person betrachtet etwas getan oder unterlassen hat; sodann soll dieses Tun oder Unterlassen den für das Unternehmen handelnden verantwortlichen natürlichen Personen zugerechnet werden (nicht umgekehrt!). Diese "unternehmensbezogene Sicht" ist unter zwei Aspekten problematisch: Zum einen handelt es sich bei der auf den (verantwortlichen) Täter bezogenen Frage, ob dieser etwas getan oder unterlassen hat, nicht um eine Zurechnungs-, 127

Wie hier insbes. Jakobs , Strafrecht, 28/1. Wenn Jakobs dann allerdings (28/3) die Frage der Abgrenzung mit derjenigen des "Motivs" zusammenführt - wer handelt, hat ein Motiv zu einer Körperbewegung zuviel, wer unterläßt, ein Motiv zuwenig so vermengt er Kriterien der128 Normwidrigkeit und der Zurechnung. Allerdings vermögen die gängigen "Kausalitätslösungen" - vgl. Roxin, ZStW 74 (1962), 411 (415 ff.) - wie auch die Ansichten, die auf das Kriterium des "Energieeinsatzes" abstellen vgl. Engisch , in: Gallas-FS, S. 163 (170 ff.) - nicht vollständig zu überzeugen, da nicht jedes kausale Verhalten und nicht jeder Energieeinsatz tatbestandsmäßig ist, sondern nur solche, die "Haupthandlungen" darstellen. - Im wesentlichen wie hier Stoffers, "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit", S. 106 ff. 129 Ebenso Stoffers, "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit", S. 299 ff. - Insbesondere ist es hiernach ausgeschlossen, einem Tun den (sozialen) "Sinn" eines Unterlassens zu geben, wie es insbesondere in den Fällen des Abbruchs ärztlicher Rettungsbemühungen durch positives Tun (z.B. das Abschalten einer Herz-Lungen-Maschine) oder in dem Schulbeispiel, daß jemand bei einem Hochwasser sein Haus vor einem Ertrinkenden verschließt; ebenso Stoffers, "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit", S. 358 ff. mit umf. Nachw.; vgl. weiterhin S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnm. 159 f.; für ein Unterlassen in diesen Fällen insbes. Engisch, in: GallasFS, S. 163 (182 ff.); Meyer-Bahlburg, GA 1968, 49 ff.; Roxin , in: Engisch-FS, S. 380 (ff.); für ein Tun insbes. Jescheck, Lehrbuch, S. 546 m.w.N. Hier wird der "Nullpunkt" des Unterlassens letztlich bei dem Sozialadäquaten bzw. sub specie Begehungshaftung rechtlich Irrelevanten gesetzt, was die Wertungsprobleme verdeckt; treffend Jakobs, Strafrecht, 29/16 m.w.N. - Zu den hiermit angesprochenen Fällen rettender Kausalverläufe s. sogleich im Text. 130

S. hierzu Schiinemann , Unternehmenskriminalität, S. 30 ff. In diesem Sinne die Rspr., vgl. BGHSt 37, 106 (114); s. weiterhin Kuhlen, Produkthaftune, S. 26 f. 132 Hierzu Kuhlen, WuV 1991,181 (243 f.). 131

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sondern um eine (wie dargelegt, "naturalistisch" zu beantwortende) Norminhaltsfrage. Zum anderen ist zweifelhaft, ob die Organstellung als solche einen hinreichenden Zurechnungsgrund für fremdes (!) Verhalten abgibt; hiermit würde die gängige Beteiligungsdogmatik gesprengt. Richtigerweise ist zu unterscheiden: Entweder liegt ein positives Tun des Managements (etwa die Anweisung, bestimmte Produktionen aufzunehmen) vor, das es nach allgemeinen Beteiligungsgrundsätzen erlaubt, das Tun (oder Unterlassen) anderer, insbesondere Angestellter und Arbeiter, täterschaftlich qua "Organisationsherrschaft" zuzurechnen; oder es liegt nur ein Unterlassen vor, das ggf. garantenpflichtwidrig ist. Praktische Bedeutung hat die Unterscheidung freilich kaum, weil in generell beherrschten Organisationssphären in der Regel eine (Sicherungs-)Garantenverantwortlichkeit für organisationsspezifische, nach außen dringende erfolgsrelevante Kausalverläufe besteht1^. Ein genereller Vorrang einer Verhaltensweise besteht nicht134; vielmehr können Tun und Unterlassen miteinander konkurrieren und einander nachfolgen, wobei die Rechtswidrigkeits- und subjektiven Zurechnungsvoraussetzungen verschieden sein können135. Unbrauchbar ist auch die hier häufig verwendete Formel, es sei nach dem "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" abzugrenzen136, da es nicht um die (Zurechnungs-)Frage der Vorwerfbarkeit, sondern ausschließlich um die Auslegung der (Begehungs-) Verbotsnormen bzw. der (Unterlassungs-)Gebotsnormen geht. Die Formel 133 Vgl. hierzu RGSt 19, 204 (206); 43, 327; 71,124; BGHSt 19, 288; 37,106 (123 f.); Göhler, in: Dreher-FS, S. 611 ff.; Hsü, Garantenstellung, S. 165 ff., 250 ff.; LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 45; Lackner, § 13 Rdnr. 14; SK-Rudolphi, § 13 Rdnr. 35 a; Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 62 ff.; S/S-Stree, § 13 Rdnr. 52. - Die hier gemeinte "Geschäftsherrnhaftung" findet de lege lata in § 130 OWiG ihren Ausdruck, der für sich aber keine Garantenpflichten begründet, Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 276; Jakobs, Strafrecht, 29/36; aA. aber LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 45 a.E.

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Jakobs, Strafrecht, 28/4; a A. aber - im Zweifel sei ein positives Tun anzunehmen - Arthur1 3Kaufmann, in: Eb. Schmidt-FS, S. 200 (212); Spendet, in: Eb. Schmidt-FS, S. 183 (194). 5 S. BGHSt 7, 287 (288); BGHSt 23, 327 (f.); BGH NStZ 1987,171 f. 136 BGHSt 6,46 (59); S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 158 m.w.N. Eine kritische Rekonstruktion der Formel vom "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" hat jüngst Stoffers, "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit", unternommen. Auch Stoffers hält den schuldbezogenen Begriff der "Vorwerfbarkeit" für problematisch, deutet ihn der Sache nach aber im Anschluß an Mezger als "Gegenstand bzw. Zielrichtung des rechtlichen Vorwurfs" (aaO. S. 470 f.). Der Sache nach sei zwischen der "echten" Abgrenzungsproblematik - enthält das Verhalten überhaupt Elemente des Tuns bzw. des Unterlassens? - und der Problematik "mehrdeutiger" Verhaltensweisen zu unterscheiden (aaO. S. 472). Erstere sei nach dem Kausalitätskriterium zu behandeln. Letztere sei nach den Fallgruppen "Koinzidenz der Verhaltensformen", "Sukzession der Verhaltensnormen" und "falsches stattrichtigesHandeln" aufzugliedern (S. 125 ff.). Es sei dann ein "mehrstufiges Prüfungsverfahren" vorzunehmen, in welchem auf erster Stufe geprüft wird, ob Tun bzw. Unterlassen jeweils volldeliktisch begangen worden sind, und auf zweiter Stufe, wie die Konkurrenzfrage zu entscheiden ist. - Die Untersuchung von Stoffers kommt weitgehend zu denselben Ergebnissen wie die hier vorgelegte Konzeption (Begehungsfahrlässigkeit als nicht "ambivalente" Verhaltensweise, aaO. S. 474; Ablehnung der Rechtsfigur "Unterlassen durch Tun", aaO. S. 358 ff., 475).

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Zweites Kapitel: Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

vom "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" ist allenfalls geeignet, nach der vollständigen rechtlichen Bewertung der konkurrierenden Strafbarkeitsansätze Richtlinien für die Konkurrenzentscheidung zu geben137. Daß die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen im Einzelfall Schwierigkeiten bereitet, kann freilich nicht bestritten werden. Problematisch sind vor allem die Fälle des Fahrlässigkeitsdelikts und diejenigen des "Abbruchs eigener rettender Kausalverläufe" bzw. der "Verhinderung fremder rettender Kausalverläufe" 138. Bei den Fahrlässigkeitsdelikten liegt die Schwierigkeit darin, daß diesen ein "Unterlassungsmoment" eigen ist, nämlich die Unterlassung, für hinreichende Vermeidefähigkeit bzw. Abschirmung der Erfolgsrelevanz einer gegebenen Vermeidefähigkeit Vorsorge zu tragen. Nun ist nach dem hier vorgelegten Zurechnungsmodell der Fahrlässigkeit139 die Unterscheidung theoretisch eindeutig: Das Unterlassen bezieht sich beim Begehungsfahrlässigkeitsdelikt ausschließlich auf die zu treffende Vorsorge- oder Hilfshandlung, die nicht selbst tatbestandsmäßig-normwidrig ist. Freilich stellt sich hier - wie dargelegt - das inhaltliche Problem der Abgrenzung von Hilfs- und Haupthandlung nach dem Versuchskriterium 140. Beispielsweise stellt sich in dem berühmten "Ziegenhaar-Fall"141 die Frage, ob das Ausgeben der mit Milzbrandbakterien infizierten und nicht desinfizierten Ziegenhaare bereits ein (verbots-)normwidriges Tun oder nur eine Hilfshandlung für eine noch (durch Unterlassen) zu bewirkende Verletzung war. Die Frage kann allerdings eindeutig und in Übereinstimmung mit der h.L. im ersten Sinne beantwortet werden: Um Verletzungen oder Todesfälle bei den Arbeiterinnen zu bewirken, ist nicht mehr als das Ausgeben infizierter Haare erforderlich. Im Vorsatzfall läge ein bereits beendeter Versuch vor; daher liegt eine Haupthandlung und somit ein positives, verbotswidriges Tun vor. Problematisch ist hingegen der ebenfalls bekannte "Radleuchten-

137 Jakobs, Strafrecht, 28/4; krit. auch SK-Rudolphi, vor § 13 Rdnr. 6; AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnr. 27. - Die Konkurrenzfrage stellt sich insbesondere bei "Distanzdelikten", bei denen zwischen Handlung und Erfolg eine (räumliche und zeitliche) Distanz liegt (z.B. Versenden einer Briefbombe o.ä.). Hier bedingt i.d.R. das dem positiven Tun nachfolgende Unterlassen den Erfolg mit. Dies hindert aber die Annahme eines verbotswidrigen Verhaltens nicht; umgekehrt bleibt allerdings auch ein nachfolgendes Unterlassen grundsätzlich gebotswidrig (Ingerenz!). Zu Recht nimmt Roxin (ZStW 74 , 411 ) an, daß in derartigen Fällen das (nachfolgende) Unterlassen grundsätzlich subsidiär zum (vorgängigen) Tun ist. Anders liegt es freilich, wenn das Tun nur kraft Fahrlässigkeit zugerechnet werden kann. Unter der Voraussetzung, daß das nachfolgende Unterlassen auch gebotswidrig ist, kann es dann kraft Vorsatzes zugerechnet werden und verdrängt wiederum die Begehungs-Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. - Zum ganzen Welp , Vorangegangenes Tun, S. 321 ff. u. speziell zur Konkurrenz Teilnahme - nachfolgende Unterlassungstäterschaft unten § 7 III 5. 138 139 140 141

Wessels, Strafrecht, S. 223 f. S. oben § 2 III 6. S. oben § 2 III 5., 6. u. bereits § 1IV 3. RGSt 63, 211.

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Fall"142, in welchem es um folgenden Sachverhalt ging: Die Brüder Josef und Paul Z. waren auf unbeleuchteten Fahrrädern gefahren; deshalb war Josef Z. mit einem entgegenkommenden, ebenfalls unbeleuchteten Radfahrer zusammengestoßen, der infolge des Sturzes zu Tode kam. Das Berufungsgericht hatte die Strafbarkeit des Paul Z. wegen fahrlässiger Tötung damit begründet, daß - hätte dieser seine Beleuchtung eingeschaltet - der entgegenkommende Radfahrer den Josef Z. hätte bemerken und ihm ausweichen können. Ohne Zweifel ist nun das Einschalten des Lichts durch einen Radfahrer grundsätzlich nur Hilfshandlung: Niemand kann dadurch verletzt werden, daß ein Radfahrer das Licht nicht einschaltet; hierzu muß vielmehr der Radfahrer auf einen anderen - den er oder der ihn deshalb nicht erkennt - auffahren, und (erst) dies stellte eine Haupthandlung und somit ein verbotswidriges Tun dar 13 . Die Besonderheit des Falles ist es freilich, daß nicht Paul Z. selbst, sondern sein Bruder auf den Getöteten auffuhr. Da aber das Verhalten des Josef Z. nicht ein normwidriges Verhalten des Paul Z. sein kann, trifft - entgegen der h.L.144 - die Lösung des Reichsgerichts zu, hier ein bloßes Unterlassen der Erfolgsabwendung anzunehmen1 . In der zweiten Fallkonstellation des Abbruchs eigener und der Verhinderung fremder rettender Kausalverläufe resultieren die Probleme daraus, daß, wird der Erfolg, wie hier, als Veränderung interpretiert 146, verschiedene "Veränderungsmöglichkeiten" ("Handlungsergebnisse") bestehen, die wiederum verschiedene "Handlungstypen" oder "Handlungsgelegenheiten" begründen. Im Anschluß an v. Wright 147 können insofern vier "Handlungstypen" unterschieden werden: Ein Zustand besteht, vergeht aber, wenn er nicht aufrechterhalten wird (Handlungstyp "Aufrechterhalten"); der Zustand besteht und bleibt bestehen, wenn er nicht zerstört wird ("Zerstören"); der Zustand besteht nicht und tritt nur ein, wenn er herbeigeführt wird ("Herbeiführen"); und ein Zustand besteht nicht, tritt aber ein, wenn er nicht unterdrückt wird ("Unterdrücken"). Um dies am Beispiel des Zustandes "Gesundheit" (§ 223) zu erläutern: Ein Diabetiker nimmt Insulin und ist hierauf angewiesen, um nicht schwerste Gesundheitsschäden zu erleiden; der Arzt, der das Insulin weiter verschreibt, erhält die Gesundheit 142

144

RGSt 63, 392. So auch Wessels, Strafrecht, S. 224.

Die (auch) für Paul Z. ein positives Tun annimmt, dann freilich den Schutzzweckzusammenhang zwischen diesem (sorgfaltswidrigen) Tun und dem eingetretenen Erfolg verneint; umf.145Nachw. b. Fünfsinn, Aufbau, S. 129 in Fn. 421. Wie auch die axiologische Begründung der Verneinung einer Garantenpflicht des Paul Z. durch das RG überzeugt: "Zwar hatte er (sc. Paul Z.) sein Verhalten so einzurichten, daß er selbst die allgemeine Verkehrssicherheit nicht gefährdete; er hatte aber ebensowenig wie jeder andere Wegebenutzer die Rechtspflicht, seinen Bruder auf der Fahrt zu begleiten, dessen Rad und Fahrbahn zu beleuchten und dadurch ihn und den K (den entgegenkommenden Radfahrer, Anm. des Verjs.) auf einander aufmerksam zu machen", RGSt 63, 392 (393). - Zum fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt s. noch eingehend unten § 8. 146 S. bereits oben § 1IV 2. 147

Norm, S. 59; vgl. weiterhin Kindhäuser, Gefährdung, S. 50 ff., 89 ff.

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Zweites Kapitel: Normwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

des Diabetikers aufrecht. - Wer einen anderen in den Arm sticht, zerstört (bzw. beschädigt) dessen Gesundheit. - Der Chirurg kann die Gesundung eines Patienten mit akuter Blinddarmentzündung durch eine Operation herbeiführen. - Wer einen kranken Rekonvalezenten vergiftet, unterdrückt dessen Gesundung. - Sämtliche Handlungstypen bieten nun Gelegenheit zu einem Tun oder einem Unterlassen; die Frage des "Handlungstyps" und des "Handlungsergebnisses" ist also - entgegen dem Ansatz von Karl Wolff 148 von der Frage, ob ein Tun oder Unterlassen vorliegt, streng zu trennen. So kann im ersten Fall der Arzt dem Diabetiker das Insulin weiter verschreiben (positives Tun) oder nicht (Unterlassen). Tut er es nicht, so unterläßt er das Aufrechterhalten der Gesundheit des Diabetikers, was aber nichts daran ändert, daß ein Unterlassen vorliegt. Die Problematik des "Abbruchs eigener rettender Kausalverläufe" liegt nun darin, ob der Handlungstyp des Aufrechterhaltens oder des Zerstörens als einschlägig angesehen wird. Droht z.B. ein Nichtschwimmer zu ertrinken und hat ein Passant ihm einen an einer Leine angebundenen Rettungsring zu geworfen, der auf den Nichtschwimmer zutreibt, so liegt nunmehr die Handlungsgelegenheit des Zerstörens vor, weil das Leben des Nichtschwimmers besteht und bestehenbleibt, wenn der Passant den Rettungsring nicht zurückzieht, so daß das Zurückziehen des Ringes ein (zerstörendes) Tun bedeutet. Allerdings könnte auch erwogen werden, daß nach einer Gesamtbetrachtung der Handlungstyp des Aufrechterhaltens vorlag, da der Nichtschwimmer stirbt, wenn ihm nicht der Rettungsring zugeworfen und zugelassen wird, daß der Ring auf ihn zutreibt; wer diese Handlungsgelegenheit als Passant nicht wahrnimmt, unterläßt nur. Ähnlich kann bei der Verhinderung fremder rettender Kausalverläufe gefragt werden, ob ein unterlassenes "Herbeiführen" oder ein "Unterdrücken" durch Tun vorliegt. Wehrt z.B. ein Apotheker mit Gewalt den Versuch des Angehörigen eines mittellosen Fieberkranken ab, ein fiebersenkendes Mittel zu stehlen, so liegt es zwar nahe, daß der Apotheker die Gesundung des Kranken durch Tun (freilich ggf. gerechtfertigt) unterdrückt hat; unter Zugrundelegung einer Gesamtbetrachtung nicht abwegig wäre aber auch die Deutung, er habe die Gesundung nicht herbeigeführt. Eine derartige Gesamtbetrachtung149 ist aber nach dem hier vertretenen, auf Haupthandlungen beschränkten Normverständnis abzulehnen. Die We/iw/igsprobleme, die sich hier stellen, können nur unter Zugrundelegung der These gelöst werden, daß auch beim Begehungsdelikt die pflichtenbegrenzende Wertungsstufe der Angemessenheit eine Rolle spielen kann150.

148

Verbotenes Verhalten, S. 142 f.; hiergegen zu Recht v. Weber , Grundriß, S. 57; näher Armin 149 Kaufmann , Dogmatik, S. 4 f. m.w.N. Die offensichtlich den oben Fn. 129 erwähnten Bemühungen zugrundeliegt, nach dem "Sinn" des Verhaltens ein Unterlassen, begangen durch positives Tun, anzuerkennen. 150 Näher unten § 10 V (gegen die Lösung von Jakobs < Strafrecht, 7/58 >, der in diesen Fällen eine Garantenstellung des Begehungstäters verlangt).

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4. Unterlassen und Handlungsfähigkeit Für die Bestimmung der Norm- und Gebotswidrigkeit des Unterlassens kommt es - in Übereinstimmung mit dem zu den (Begehungs-)Verbotsnormen Gesagten151 - nicht darauf an, ob dem Täter oder einer wie auch immer bestimmten Vergleichsperson das gebotene, erfolgsabwendende Tun auch konkret-individuell oder abstrakt-generell möglich war 152. "Können" die physisch-reale Möglichkeit des geforderten Verhaltens für den Täter und "Wissen" - um diese Möglichkeit -, allgemeiner: "Vermeidefähigkeit" sind ausschließlich Kriterien der Zurechnung (erster Stufe) zum Unrecht als Pflichtwidrigkeit, spielen aber für die Bestimmung der Normwidrigkeit keine Rolle. Wiederum ist streng zwischen normwidrigem Verhalten und pflichtwidriger Handlung zu trennen 153. Insofern ist es auch - entgegen der ganz h.L. - nicht sinnlos zu sagen, die Bewohner Berlins haben es unterlassen, einen im Bodensee bei einer Meisterschaft im Skilauf Ertrinkenden zu retten, wenn sie im Fernsehen Zeugen des Unglücks geworden sind154: Als empirische Feststellung (und nichts anderes ist die Feststellung eines normwidrigen Verhaltens) ist dieser Satz wahr. Im Gegensatz hierzu verlangt die ganz h.L. schon zur Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit (und damit der Normwidrigkeit) des Unterlassens teils die abstrakte-generelle, überwiegend sogar die konkret-individuelle Handlungsfähigkeit des Unterlassungstäters 155. Noch weitergehend will Armin Kaufmann 56 das Erfassen der möglichen Handlungsrichtung - also das 151 152

153

S. oben § 1IV 3. Weinberger, Norm und Institution, S. 141.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist nochmals darauf hinzuweisen, daß das - auch bei fehlendem Könnens zu fällende - Urteil der Norm- als Gebotswidrigkeit des Verhaltens ausschließlich rechtstheoretische Bedeutung hat: Weder bedeutet es, daß der Täter ohne weiteres zu seinem Tun gezwungen werden könnte, noch, daß sein Verhalten "rechtswidrig" im Sinne des Straftatmerkmales der Rechtswidrigkeit (besser. Pflichtwidrigkeit) ist. 154 Beispiel bei Jescheck, Lehrbuch, S. 202; ähnlich dasjenige bei Wessels, Strafrecht, S. 226, wonach ein Vater, der in Bonn Geschäften nachgeht, nicht die Rettung seines in Köln auf dem Schulweg in den Rhein gefallenen Kindes unterläßt. Aber auch dies kann zur (außerordentlichen) Fahrlässigkeitszurechnung führen, wenn nämlich eine Hilfshandlung denk- und erwartbar gewesen ist, die den Erfolg verhindert hätte. Das Beispiel von Wessels gewinnt seine Plausibilität nur dadurch, daß eine derartige Hilfshandlung kaum vorstellbar ist. Anders entschiede das - zutreffende - Rechtsgefühl, wenn die in Bonn wohnenden und arbeitenden Eltern erfahren, daß ihr Kind, das in Köln zur Schule geht, einen unnötig gefährlichen Schulweg wählt - z.B. eine Stadtautobahn überquert - und hiergegen nicht tätig werden. 155 Im ersten Sinne Jakobs, Strafrecht, 29/10 ff.; Jescheck, Lehrbuch, S. 202; im zweiten S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnrn. 142 f.; zus.fas. Maiwald, JuS 1981, 473 (475 ff.). - Eine (unzutreffende) theoretische Begründung der These, ein Verhalten sei nur dann ein Unterlassen, wenn es sich als nicht ergriffene mögliche Alternative eines Verhaltensspielraums darstellt, hat Rödig, Alternative, S. 81 ff. unternommen; zur Kritik Kindhäuser, Gefährdung, S. 83 f. m.w.N. 156 Dogmatik, S. 35 ff., 99 ff.; abl. die h.L., s. SK-Rudolphi, vor § 13 Rdnr. 3; S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 143; je m.w.N.

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Wissen um eine tatbestandsmäßige Situation - und die Erkennbarkeit der Handlungsmittel - der Abwendemöglichkeit - in den Begriff der für die Normwidrigkeit des Unterlassens erforderlichen Handlungsfähigkeit einbeziehen. Daß das Urteil der Normwidrigkeit aber auch bei fehlendem Können (und erst recht bei fehlendem Wissen) zu fällen ist, zeigt wiederum der Fall außerordentlicher Zurechnung erster Stufe kraft Fahrlässigkeit. Sieht z.B. ein Vater, der nicht schwimmen kann, wie sein Kind in der Mitte eines Badesees zu ertrinken droht, und tut er nichts, so verhält er sich normwidrig, auch wenn die Rettung dem Vater (oder generell einem Nichtschwimmer) physisch-real unmöglich ist (wenn sich z.B. auch niemand anderes am See befindet). Diese Normwidrigkeit kann dem Vater außerordentlich zugerechnet werden, sofern er entsprechende Obliegenheiten verletzt hat, z.B. zugelassen hat, daß das Kind auf den See hinausschwamm. Wie bei den Begehungsverboten ist es auch keine Lösung, das normwidrige Verhalten "vorzuverlagern", z.B. hier als unterlassene Lebensrettung anzusehen, daß der Vater dem Kind nicht verboten hat, auf den See hinauszuschwimmen. Die Erfolgsabwendungsgebote gebieten nicht selbst , Situationen zu verhindern, in denen der Unterlassungstäter zum normgemäßen Verhalten, nämlich der Erfolgsabwendung, unfähig ist. Wiederum lautet das Argument, daß z.B. das Verbot an das Kind, auf den See hinauszuschwimmen, nicht als Abwendung des Todes des Kindes - als allein tatbestandsmäßige "Haupthandlung" - interpretiert werden kann; es ist eine bloße "Hilfshandlung", welche die Erfolgsrelevanz der Unfähigkeit des Vaters, das Erfolgsabwendungsgebot in bestimmten Fällen zu erfüllen, abschirmt 157. 5. "omissio libera in causa" Erst diese Sicht der Dinge ermöglicht es, die überwiegend anerkannte Rechtsfigur der "omissio libera in causa" normentheoretisch und dogmatisch valide zu verankern und zugleich zu kritisieren. Ein Schulbeispiel für diese Konstellation ist der Fall des Schrankenwärters, der sich des Abends vorsätzlich (und im Wissen um die Folgen) so stark betrinkt, daß er am frühen Morgen die Schranken nicht mehr betätigen kann (sei es, daß er noch im Rausch schlafend im Bett liegt, sei es, daß er nicht mehr imstande ist, die richtigen Schalter o.ä. zu betätigen). Hier geht die h.L. dahin, den Täter, der seine Handlungsfähigkeit vorsätzlich und mit Wissen um die Folgen beseitigt hat, wegen eines vorsätzlichen (unechten) Unterlassungsdelikts zu bestrafen . Welp 159 geht so weit, auch ein Unterlassen von (Vorsorge-) 157

Ebenso wie bei den Begehungsdelikten (s. oben §§ 1 IV 2., 2 III 5.>) müssen "Haupt-" und "Hilfshandlungen" bei den Unterlassungsdelikten nach Maßgabe des unmittelbaren Ansetzens zum Versuch unterschieden werden. Die Frage ist allerdings bei den (unechten) Unterlassungsdelikten sehr umstritten; vgl. zum Meinungsstand vorerst S/S-Eser , § 22 Rdnrn. 47 ff. mit umf. Nachw. und eingehend unten § 7 II 2., 3. 158 S. Bertel , JZ 1965, 53 (55); Meyer-Bahlburg , GA 1968, 49 (51); Roxin , in: Engisch-FS, S. 380 (383); S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 144; eingehende Darstellung der Problematik

§ 3 Garantengebote

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Handlungen als zurechnungsbegründend anzusehen, wenn beispielsweise es eine Mutter unterläßt, vor dem Wochenende lebenswichtige Medikamente für ihr Kind zu kaufen ("omissio libera in omittendo"). Daß diese Lösung nicht richtig sein kann, zeigt bereits ein Blick auf die Parallel-Konstellation beim Begehungsdelikt. Beseitigt ein Täter vorsätzlich (und im Wissen um die Folgen) seine Handlungsfähigkeit - indem er sich etwa "sinnlos" berauscht160 - und begeht dann eine (ja dem Zufall und nicht einmal der "natürlichen" Steuerungs- und Handlungsfähigkeit unterworfene) Begehungstat, so lehnt die überwiegende Ansicht die Bestrafung wegen eines Ko/söfz-Begehungsdelikts entsprechend den Grundsätzen der sog. "actio libera in causa" ab und läßt - nur - die Bestrafung wegen eines Fahrlässigfceto-Begehungsdelikts zu161. Ähnlich wird bei § 323 a überwiegend abgelehnt, daß im Falle fehlender Handlungsfähigkeit wegen "sinnloser" Trunkenheit eine - zumindest: vorsätzliche (und als solche strafrahmenbestimmende!) - Rauschtat vorliegt 162. Eine systematische Erörterung der "omissio libera in causa" (und der parallelen Begehungs-Fälle) muß zunächst davon ausgehen, daß - entgegen der abzulehnenden "Vorverlagerungsdoktrin" - das normwidrige Verhalten nicht in der Beseitigung der Handlungsfähigkeit selbst gesehen werden kann, da wie dargelegt - schon aus Gründen des Analogieverbots (Art. 103 Abs. 2 GG) die Normwidrigkeit nicht nach "außerordentlichen" oder Umgehungskriterien bestimmt werden kann163: Der Schrankenwärter unterläßt es nicht, die Schranken morgens herunterzulassen, indem er sich abends sinnlos berauscht. Auch gebietet ein Gebot (schon aus logischen Gründen) nicht, sich zu seiner Befolgung imstande zu erhalten164. Unter Zugrundelegung dieser Ansicht müßte die h.L. - welche die Handlungsfähigkeit allgemein und insbesondere beim Unterlassungsdelikt zum Norminhalt rechnet - die "omissio libera in causa" schlechthin verwerfen. Zu dieser Konsequenz nötigt allerdings die hier vorgelegte Normkonzeption nicht, nach welcher die Handlungsfähigkeit nur Zurechnungsvoraussetzung ist, von welcher in Fälbei Androulakis, Studien, S. 152 ff.; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 137 ff.; abl. aber Hruschka, in: Bockelmann-FS, S. 421 ff.; AK-StGB-Seelmann, §§ 13 Rdnrn. 26, 60. 159

Vorangegangenes Tun, S. 137. Oder - um ein Schulbeispiel zu nennen -, indem sich ein Epileptiker, der das Herannahen eines Anfalles fühlt, in ein Porzellangeschäft begibt und dort in dem Anfall wertvolles Porzellan zerschlägt. 161 Vgl. Hruschka, SchwZStr 90 (1974), 48 (76); Jescheck, Lehrbuch, S. 402; Schmidhäuser, Studienbuch, 5/75; a.A. freilich Krause, in: H. Mayer-FSrS. 305 (315); Otto, Jura 1986, 426 (434). Vgl. - jedenfalls für "Zwangshandlungen" wie (rauschbedingte) Krampfanfälle, Torkeln usf. - RGSt 69,191; BGH DAR/M 1968,117; Maurach, JuS 1961, 373 (374); a.A. freilich Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 122; abgeschwächt S/S-Cramer, § 323 a Rdnr. 14; Schröder, DRiZ 1958, 219 (221). 163 S. oben § 2 III 6. 164 S. oben § 1 II 4. 160

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len der zu verantwortenden, d.h. obliegenheitswidrigen Beseitigung Ausnahmen gemacht werden können. Insofern erscheint es als durchaus vertretbar, dem Schrankenwärter (als Garanten) die Obliegenheit aufzuerlegen, für seine Handlungsfähigkeit am Morgen Sorge zu tragen. Hier handelt es sich aber um eine außerordentliche Zurechnung, dogmatisch gesprochen also nur: um eine Zurechnung qua Fahrlässigkeit. Dies entspricht der fast trivialen Einsicht, daß der Schrankenwärter im entscheidenden Zeitpunkt des normwidrigen Verhaltens keinen (Unterlassungs-) Vorsatz hatte165. Nach dem sog. Simultaneitätsprinzip muß aber der Vorsatz zum Zeitpunkt des normwidrigen Verhaltens (also bei Versuchsbeginn) vorhanden sein, andernfalls ein - unschädlicher - bloßer dolus antecedens vorliegt. Zusammengefaßt: Die "omissio libera in causa" kann also nur zur Fahrlässigkeits-, nie zur Vorsatzzurechnung führen 166. Damit ist zugleich der Wertungswiderspruch zu den genannten Parallelkonstellationen der Begehungsdelikte aufgehoben, wo - wie dargelegt - die Anwendung der Grundsätze der "actio libera in causa" bei beseitigter Handlungsfähigkeit (nur) im Rahmen der Fahrlässigkeitszurechnung zugelassen wird 167 .

Dies liegt auf der Hand für den Fall, daß der Schrankenwärter sinnlos berauscht im Bett liegt. Hruschka (Strafrecht, S. 311) zeigt, gilt aber nichts anderes in dem Fall, in dem der Unterlassungstäter um seine Handlungsunfähigkeit im entscheidenden Zeitpunkt weiß, wenn etwa der Schrankenwärter den Zug nahen sieht und wegen seiner Trunkenheit die richtigen Schalter nicht betätigen kann, was ihm bewußt ist. Zum Unterlassungsvorsatz gehört nämlich das Bewußtsein der Handlungsmöglichkeit; wer beispielsweise weiß, daß bei Neumond der Mond nicht scheint, hat keinen diesbezüglichen Unterlassungsvorsatz, da er keine Möglichkeit hat, den Mond scheinen zu lassen. Hruschka , Strafrecht, S. 311, 336 f. - Hruschka meint, daß hiermit der Fahrlässigkeitsbegriff ausgesprochen weit gefaßt wird, da an sich Fahrlässigkeit außerordentliche Zurechnung auf der Ebene der subjektiven Deliktsvoraussetzungen, sc. bei vermeidbarem Nichtwissen (und nicht - jedenfalls nicht primär - bei vermeidbarem Nichtkönnen auf der Ebene der objektiven Zurechnungsvoraussetzungen) sei. Jedoch ist das vermeidbare Nichtkönnen ganz allgemein - z.B. bei der Übemahmefahrlässigkeit - als Anwendungsfall der Fahrlässigkeit anerkannt. 167 Ähnlich wird bei § 323 a angemerkt, daß eine im Zustand der Handlungsunfähigkeit begangene Rauschtat i.d.R. nie vorsätzlich begangen sein kann, sondern - allenfalls - fahrlässig; eingehend - mit umf. Nachw. - S/S-Cramer, § 323 a Rdnr. 17 (f.).

§ 4 Garantenpflicht, Garantenstellung und Garantiebeziehung

/. Garantenpflicht

und Tatbestand

1. Rechtliche und sittliche Pflichten Außer acht gelassen wurde bei der bisherigen Analyse des Norminhalts der Garantengebote und der Normwidrigkeit der unechten Unterlassungsdelikte freilich die Kernfrage des "Garantie"charakters 1 dieser Gebote und Delikte. Hierfür soll nach heute allgemeiner Meinung das Bestehen einer "Garantenpflicht" entscheidend sein, welche wiederum auf einer "Garantenstellung" beruht. Einigkeit besteht darin, daß die Tatbestände der Begehungsdelikte bzw. die entsprechenden (Verbots-)Normen diese Garantenpflichten bzw. die ihr zugrundeliegenden Garantenstellungen nicht selbst enthalten, sondern daß sie anders entwickelt und begründet werden müssen. Im einzelnen sind jedoch Quelle, rechtstheoretischer Status und Funktion dieser Garantenpflichten 2 bei der Tatbestands-, d.h. Normbildung der unechten Unterlassungsdelikte hochumstritten. Weitgehende Übereinstimmung besteht allerdings darin, daß die in Frage stehende Garantenpflicht - besser: das Garantengebot - eine rechtliche sein muß und allein ethische oder auch sozialethische Pflichten (besser: Normen) nicht genügen3. Diese - bereits in der Rechtsprechung des Reichsgerichts anerkannte - Auffassung ist nunmehr durch § 13 Abs. 1 mit der Wendung vom "rechtlichen" Einstehenmüssen nach zutreffender Ansicht zugleich die des positiven Rechts4. Bei zahlreichen Autoren leidet freilich die prononcierte Ablehnung der "bloß" sittlichen Pflichten als garantenpflichtbegründend unter dem Mangel, daß das Kriterium nicht angegeben wird, nach welchem die Zugehörigkeit einer Pflicht zum Kreis der rechtlichen Pflichten bestimmt werden kann. Ohne Zweifel kann dieses Kriterium 1 "Garantie" meint hier nichts anderes als Einstandspflicht und selbstverständlich keine verschuldensunabhängige Haftung, so aber die begriffliche Kritik aus zivilrechtlicher Sicht b. Deutsch, Haftungsrecht, Bd. I, S. 127. 2 Es handelt sich freilich nicht um Pflichten im Sinne von Verpflichtungen nach dem oben §§ 1 II 4., 2 III entwickelten Konzept; im folgenden wird die eingeführte Terminologie aber der3Verständlichkeit halber beibehalten. A.A. aber Maurach, Strafrecht, 4. Aufl. (1971), S. 602; Lobe, Strafrecht, S. 89; Schaffstein, in: Gleispach-FS, S. 70 (71). 4 Jescheck, Lehrbuch, S. 562 m.w.N.; vgl. bereits RGSt 66, 71 (73); BGHSt 7, 268 (271).

ites Kapitel:

widrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

nicht unmittelbar inhaltlicher Art sein, da sittliche und rechtliche Pflichten inhaltlich durchaus zusammenfallen können. Verschärft wird dieses Problem dadurch, daß es nach allgemeiner Auffassung dem Recht möglich ist, durch bloßen Verweis auf sittliche Pflichten (oder schlichter: auf die guten Sitten, vgl. §§ 138, 826 BGB, 226 a StGB) sittliche zu Rechtspflichten zu erheben. Insofern konnte das Reichsgericht - ohne den Ausgangspunkt der Rechtspflichtlehre (besser: Rechtsnormlehre) zu verlassen - letztlich nur sittlich begründete Handlungspflichten mit Strafe bewehren: "Denn die Beantwortung der Frage, ob eine allgemein anerkannte Pflicht dem weiteren Kreis der sittlichen Wertung oder dem hierin eingeschlossenen Gebiet der rechtlichen Anforderung angehöre, hängt nicht nur davon ab, welche Ausgestaltung ... das ... Gesetz gewählt ... hat, sondern vornehmlich davon, auf welcher aus dem Willen der Gemeinschaft heraus entwickelten Vorstellungen vom Recht seine Vorschriften aufgebaut sind."5 Ähnlich meinte Maurach, daß "Handlungspflichten, die die heutige Sozialethik als bindend anerkennt und mit der Garantiewirkung ausstattet, auch als rechtliche Handlungspflichten gelten müssen."6 Hiermit wird zweierlei deutlich: Zum einen ist die Abgrenzung der "bloß" sittlichen von den "auch" rechtlichen Pflichten ein Problem der Rechtsquellenlehre . Zum anderen tendieren Rechtsprechung und herrschende Lehre dazu, jedenfalls im Bereich des § 13 die Rechtsquellenlehre keineswegs in dem streng-positivistischen Sinne anzuwenden, sondern erkennen auch "soft law" an der Grenze von Moral und Recht an, wofür eben die "aus dem Willen der Gemeinschaft heraus entwikkelten Vorstellungen vom Recht" eine Rolle spielen - m.a.W.: die jeweiligen Rechtsprinzipien. Es geht also methodisch bei der Bildung von Garantengeboten um Rechtsbildung aus (legitimen) Rechtsprinzipien . 2. Tatbestandsmodell (Nagler)? Unklar ist jedoch das Verhältnis zwischen Garantenpflichten einerseits und den Garantengeboten andererseits: Sind die Garantenpflichten mit den Gebotsnormen gleichzusetzen ? Oder ergänzen sie - und in welcher Weise die Verbots- zu Gebotsnormen? Und wie verhalten sich die Garantenpflichten zu den Deliktstatbeständen im dogmatischen Sinne (und zu den in ihnen enthaltenen oder ihnen vorgelagerten Normen)? Den Ausgangspunkt der heute herrschenden Auffassung zu diesen Fragen8 bildete der berühmte Aufsatz Naglers zur "Problematik der Begehung durch Unterlassung" aus dem Jahre 1938. Nagler legt dar, daß geschichtlich RGSt 66, 71 (73); vgl. sodann RGSt 69, 321 (323). - Die Tendenz des Reichsgerichts, "moralische Pflichten als Rechtspflichten zu tarnen" wurde bereits von v. Hippel (Strafrecht, Bd. II, S. 162) kritisiert. 6 Maurach, wie Fn. 3. 7 Näher unten § 10 III 1., 2. 8 S. etwa Jescheck , Lehrbuch, S. 550,561 ff.; Maurach-Gössel , AT 2, § 46, bes. Rdnrn. 28 ff.

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das unechte Unterlassungsdelikt zuerst als Problem der Tatbestandshandlung angesehen wurden "Erst infolge einer naheliegenden und für eine dogmatisch ungeschulte Zeit verzeihliche Gedankenvertauschung glitt das Problem zur Kausalität ab; schließlich geisterte das Problem zwischen Kausalität, Rechtswidrigkeit und gelegentlich auch der Schuld umher." Nagler will nun zum historischen Ausgangspunkt zurückkehren; dogmatischer Ort der Rechtspflicht sei die Tatbestandshandlung. Die Untätigkeit müsse sich als Handlung i.S. des Tatbestandes erweisen; diese Gleichstellungsfrage und nur sie stehe zur Debatte10. Als Begehungshandlung gleichwertig sei die Unterlassung genau dann, wenn der Unterlassende als Garant in einem besonderen Pflichtenverhältnis stehe, vermöge dessen der Täter zur Abwendung des tatbestandlichen Erfolges berufen oder bestellt worden ist11. Es werde also der Tatbestand um die Beschreibung derjenigen Merkmale berichtigt 12, die die Garantenpflicht des Garanten begründen. Hingegen sei die Garantenpflicht nicht nochmals auf der Rechtswidrigkeitsebene relevant: "Die Rechtspflicht zur Abwehr fließt aus der Garantenstellung ab, diese aber ist unter dem Gesichtspunkt der Tatbestandsmäßigkeit zu erörtern und bildet gleich den übrigen Tatbestandsmerkmalen die Voraussetzung für die Widerrechtlichkeitswertung" 13. Nach Nagler ist also die Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung in den besonderen Merkmalen enthalten, die den Täter zum Garanten machen (sog. Garantenlehre); um diese - und nur um diese - Merkmale seien die Tatbestände und die in ihm enthaltenen Normen zu "berichtigen". Diese Aussage kann nun wörtlich genommen nicht richtig sein, denn wenn - wie es Nagler selbst zugibt14 - die tatbestandsmäßige Handlungsbeschreibung nur positives Tun erfaßt, so muß - soll ein Unterlassen tatbestandsmäßig sein - auch diese Handlungsbeschreibung verändert werden, nämlich auf ein Unterlassen bezogen werden; und ganz in diesem Sinne spricht Nagler auch nicht von einer "Ergänzung", sondern von einer "Berichtigung" des Tatbestandes. Damit fällt aber - wie schon oben bemerkt - der normentheoretische Ausgangspunkt Naglers in sich zusammen, jedes unechte Unterlassungsdelikt sei "Erscheinungsform einer echten Begehung, d.h. eine Zuwiderhandlung gegen ein rechtliches Verbot" 15, nämlich gegen das im Begehungstatbestand enthaltene Schädigungsverbot16. Schließlich ist dem schlichten Einwand Ar9

Nagler, GS 111 (1938), 1 (51 und bereits 7 f.). Nagler, GS 111 (1938), 1 (53 f.). 11 Nagler, GS 111 (1938), 1 (59). 12 Vgl. Nagler, GS 111 (1938), 1 (61) (Tatbestandsberichtigung", Herv. i. Orig.). 13 Nagler, GS 111 (1938), 1 (74). 14 Vgl. Nagler, GS 111 (1938), 1 (54): "Die Begehungstatbestände sind regelmäßig so gefaßt, daß nur die Aktivität die Tatbestandshandlung erfüllt." 15 Nagler, GS 111 (1938), 1 (18 f.); Herv. v. Verf. 16 Im übrigen liegt eine Aporie darin, daß das "sekundäre", aus dem Verbot abgeleitete Gebot nur den Garanten trifft, obwohl das Verbot umfassender ist; treffend Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 253. 10

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min Kaufmanns gegen Nagler recht zu geben, daß eine um bestimmte Merkmale "ergänzte", also im Norminhalt veränderte Norm eben eine neue und andere als die ursprüngliche ist17. 3. Verweisungsmodell? In der "Tatbestandslösung" von Nagler findet sich jedoch ein weiteres eigentümliches Problem, welches jeglicher Rechtspflichtlehre - sei sie formell, sei sie materiell geprägt - anhaftet. Nach Nagler ist der Tatbestand des Begehungsdelikts um die Merkmale zu ergänzen, welche den Unterlassenden zum Garanten machen. Diese Merkmale werden danach bestimmt, ob dem Unterlassenden eine Garanten- und Erfolgsabwendungspflicht obliegt. Dies führt aber in einen logischen Zirkel: Ist festgestellt, daß der Unterlassungstäter Garant ist, so steht bereits fest, daß er erfolgsabwendungspflichtig war (und zwar schon bezogen auf den spezifischen tatbestandsmäßigen Erfolg). Warum sollte hier nun noch der Straftatbestand zur Gewinnung der Erfolgsabwendungspflicht 18 in irgendeiner Weise ergänzt werden? Zur Rettung des Rechtspflichtsmodelles könnte freilich postuliert werden, daß die den Garanten treffende Pflicht (besser: Norm) als außer - oder vorstrafrechtlich nachzuweisende Pflicht (Norm) zu bestimmen sei. In diesem Falle scheint es in der Tat erforderlich, zwecks Konstituierung der straf rechtlichen Norm eine Ergänzung des Sira/tatbestandes vorzunehmen. Zunächst ist freilich zu bemerken, daß die "Ergänzung" strenggenommen nur eine "Übernahme" der außerstrafrechtlichen Norm (Pflicht) ins Strafrecht - sei es in toto, sei es mit gewissen Einschränkungen - darstellt. Von Strafrecht aus gesehen verwiese also das strafrechtliche Erfolgsabwendungsgebot auf außer- oder vorstrafrechtliche Normen desselben In17 Diese - eigentlich triviale - Einsicht hat Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 251 ff., bes. 253 f., durch ein etwas eigenartiges Additionsmodell dargestellt, welches ebenso eigenartige Kritiken hervorgerufen hat - s. Bärwinkel , Garantieverhältnisse, S. 25; vgl. ferner Androulakis, Unterlassungsdelikte, S. 174 f.; Meyer-Bahlburg , Unterlassungsdelikte, S. 156; treffende Gegenkritik b. Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 243 ff.: Angenommen, ein Tatbestand laute a + b + c, wobei a die tatbestandsmäßige Handlung, b der Erfolg und c die Kausalität ist. c werde nun in c - Kausalität beim Tun - und c - Kausalität beim Unterlassen - unterteilt, wobei nach der ausdrücklichen Aussage Naglers beide gleich strukturiert seien. Dann sei aber nicht einzusehen, warum zwar a + b + c den Tatbestand erfüllen solle, nicht aber a + b + c , sondern nur unter Hinzunahme der darantenstellung g, also a + b + c + g. Letztlich sei a + b + c + g eben ein anderer Tatbestand als a + b + c^ - Nun ist freilich die Kausalität gerade nicfit der bei Nagler ausschlaggebende Punkt, sondern die bei Tun und Unterlassen unterschiedliche Handlungsqualität. Der Satz bei Armin Kaufmann , aaO., S. 252: "Fordert man z.B. - i.S. Naglers - zur Erfüllung des Tatbestandes des § 212 StGB nur die Verursachung des Todes eines Menschen ..." ist nicht zutreffend. Korrekterweise hätte Armin Kaufmann sein Additionsmodell auf die Differenzierung zwischen a - Handlung als positives Tun - und ^ - Handlung als (garantenpflichtwidrige) Unterlassung stützen müssen. 18 Natürlich muß in jedem Falle die Sanktionsanordnung ergänzt werden.

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halts; es kann von dem "Verweisungsmodell" der unechten Unterlassungsdelikte gesprochen werden. Genaugenommen müssen hier freilich zwei Untermodelle unterschieden werden. Wie aus der Diskussion zum Blankettstrafgesetz bekannt ist, kann die "Inkorporierung" der in Bezug genommenen Rechtsnorm ("Verweisungsnorm") entweder durch das "Zusammenlesen" der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen erfolgen - was hier freilich zur Übernahme der Voraussetzung der außerstrafrechtlichen Norm führte -, oder es kann die sich aus der Verweisungsnorm ergebende Pflichtenstellung als solche, nämlich als "Regelungseffekt", in den Tatbestand der verweisenden Norm inkorporiert werden19. Nun ist die inhaltliche Schwäche des Verweisungsmodells längst erkannt worden 20: Es kann nicht richtig sein, daß nach außer- oder vorstrafrechtlicher Wertung - aus welchen Gründen auch immer - nicht gebotenes Verhalten nie als strafrechtlich geboten angesehen werden darr, wie auch umgekehrt nicht jede einschlägige außerstrafrechtliche Norm die Strafbarkeit begründen kann (Erfordernis vollständiger Legitimation22). Das Verweisungsmodell ist aber auch normlogisch bedenklich, sofern es als Ergänzung des Straftatbestandes durch einen au/terstrafrechtlichen Pflichtenverstoß verstanden wird. Hier stellt sich dasselbe Problem wie bei allen Sonder(pflicht)delikten, wie nämlich das Verhältnis zwischen außerstrafrechtlicher Sondernorm und strafrechtlich-tatbestandlicher Norm zu bestimmen ist23. An der älteren Sicht, welche die Sondernorm als außerstrafrechtliche Norm für strafnorm- und straftatbestandsbildend hielt, hat bereits Nagler 24 eingehende und durchgreifende Kritik geübt25: Die außerstrafrechtliche Sondernorm beziehe sich im Zivilrecht auf das Verhältnis zwischen Privaten, im öffentlichen Recht auf das zwischen dem Staat als Grundlegend Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 89 ff.; ders., Art. "Blankettstrafgesetz", in: HWiStR; je mit umf. Nachw. - Das erste Modell entspricht der Lehre, daß nur die Garantenstellung Tatbestandsmerkmal ist, das zweite derjenigen, daß (auch) die Garantenpflicht zum Tatbestand gehört, näher unten im Text. 20 S. bereits Schaffstein, in: Gleispach-FS, S. 70 (79); heute allg.M. 21 Das vielverwendete Beispiel ist die Garantenstellung aus Übernahme: Die zivilrechtliche Nichtigkeit oder das NichtZustandekommen eines Vertrages sperrt nicht die Annahme von Garantenpflichten, z.B. eines minderjährigen Kindermädchens; vgl. S/S-Stree, § 13 Rdnr. 28. Das normentheoretische Erfordernis der "Einheit der Rechtsordnung" - zu seiner Bedeutung oben § 1 II 2. - steht der Annahme solcher Gebote nicht entgegen, da zwischen (in casu: strafrechtlichen) Geboten und (in casu: außerstrafrechtlichen) Erlaubnissen kein normlogischer Widerspruch besteht, vgl. Weinberger, Norm und Institution, S. 65 f. Ist z.B. der zivilrechtliche Anstellungsvertrag mit dem Kindermädchen nicht wirksam zustandegekommen, so impliziert dies kein Verbot, das Kind vor Verletzungen zu bewahren; die Rettung ist auf jeden Fall (außerstrafrechtlich) erlaubt und kann daher ohne Widerspruch (strafrechtlich) geboten werden. 22 Hierzu oben § 1 II 4. u. - im Zusammenhang von § 13 Abs. 1 letzter HS - unten § 4 III 3. 23

Zus.fas. Langer, Sonderverbrechen, S. 143 ff., 249 ff. mit umf. Nachw. Sonderverbrechen, S. 22 ff. mit umf. Nachw. 25 Diese Sicht wird freilich bis heute von Roxin (Täterschaft, S. 352 ff., 600 ff.) vertreten. 24

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Dienstherrn und den Beamten, Soldaten usf. Im Strafrecht stehe aber das Verhältnis des Täters zum Staat als "Rechtsquelle", als "Inhaber des Imperiums gegenüber seinen Untertanen", in Frage. Gerade zu den Unterlassungsdelikten führte Nagler aus: "Man hat eingesehen, daß vom strafrechtlichen Tatbestand auszugehen und daher nur zu fragen ist, ob er ... an rechtlich bereits anderweitig gewertete Sachlagen anknüpft und darauf verweist. Das öffentlich-rechtliche (sc.: strafrechtliche) Verbot und der darüber geformte Tatbestand nimmt dann auf jene rechtlichen Wirkungen Bezug. Damit erst werden sie strafrechtlich relevant. Das gleiche wiederholt sich für die Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung" 26. Mithin führen Verweisungen eines Strafgesetzes auf außerstrafrechtliche Normen stets dazu, daß diese gleichsam ins Strafrecht inkorporiert werden; daher müssen die in Bezug genommenen Normen jedenfalls für Zwecke der strafrechtlichen Sanktionierung27 nach strafrechtlichen Grundsätzen ausgelegt werden28. Auch im Verweisungsmodell geht es daher um rein sfra/rechtliche Normbildung29. Mit diesen Überlegungen ist - positiv - immerhin festgestellt, daß es sich bei den strafrechtlichen Erfolgsabwendungsgeboten um rein strafrechtliche 30 Sondernormen 31 handelt. Diese Normen enthalten keine besonderen Garantenpflichten als Norminhalt (Tatbestandsmerkmal), sondern nur die Merkmale, die den Täter (und auch den Erfolg) besonders kennzeichnen32. 26

Nagler, GS 111 (1938), 1 (24); Heiv. v. Verf. Daß die in Bezug genommene Norm für außerstrafrechtliche Zwecke anders - i.d.R. weiter - ausgelegt werden darf, daß also eine "Normspaltung" auftreten kann, stellt unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung kein Problem dar, da eine Meta-Norm des Inhaltes, daß jedes strafrechtlich unverbotene Verhalten auch positiv erlaubt ist, nicht existiert; die Bedenken von Tiedemann , in: Immenga/Mestmäcker , Vor § 38 Rdnr. 27, gegen eine "Normspaltung" sind daher allenfalls unter pragmatischen Gesichtpunkten berechtigt. 28 Ebenso BVerfGE 48,48 (60 f.); BGHSt 24,54 (61 f.). 29 Wie hier auch Armin Kaufmann , Normentheorie, S. 136. Nach/lmim Kaufmann wäre es verfehlt, das Sonderdelikt als "doppelten" Normverstoß - gegen die Strafnorm und gegen die außerstrafrechtliche Sondernorm - aufzufassen. Es existiere vielmehr nur "eine (sc. strafrechtliche) Norm, und zwar eine besondere" (aaO.). Das Normsubjekt habe zwar eine besondere außerstrafrechtliche Pflicht; da diese aber allein aus der besonderen außerstrafrechtlichen Norm fließe, drohe auch hier ein Zirkelschluß. (Etwas anders ausgedrückt: Es ist nicht einsichtig, wie diese Pflicht zum Teil oder Grund der Strafrechtsnorm oder -pflicht werden soll.) Dieser Zirkel könne nur vermieden werden, wenn auf die konkreten, die Pflichtenstellung kennzeichnenden Umstände zurückgegriffen werde: Nicht die Sonderpflicht kennzeichne den Täter als Normsubjekt, sondern die Merkmale des Pflichtigen seien die Merkmale, die das Subjekt der strafrechtlichen Sondernorm kennzeichnen. Hiermit soll noch nicht dazu Stellung genommen werden, ob und wie außerstrafrechtliche Vorgaben und Wertungen in die Konstituierung der Erfolgsabwendungsgebote einfließen können (näher unten §§ 10 III 4.); gemeint ist nur um das normentheoretische Urteil, daß Erfolgsabwendungsgebote rein strafrechtliche Normen sind. 31 Zum Sonderdelikts-Charakter der unechten Unterlassungsdelikte s. noch unten § 4 II 3. 32 Ebenso die hA., s. BGHSt 16,155 (158); 19, 295 (299), grundlegend - neben Nagler-Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 255 und 306 ff. (zus.fas. 308); vgl. weiterhin Jescheck , Lehrbuch, 570; Maurach-Gössel , AT 2, § 46 Rdnr. 28 ff.; S/S-Stree, § 13 Rdnr. 7. 27

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Normwidrig verhält sich, wessen Verhalten dem nach der Norm gebotenen widerspricht; garanten"pflicht"widrig in des Wortes rechtstheoretischer Bedeutung handelt, wem dieses normwidrige Verhalten auf der ersten Stufe zurechenbar ist. Mithin sind sowohl die älteren Lehren, welche die Garantenpflicht auf der Rechtswidrigkeitsebene lozieren wollten33, wie auch die Lehren, nach welchen die Garantenpflicht selbst - allein oder in Verbindung mit den Merkmalen der Garantenstellung - Tatbestandsmerkmal sein soll , zurückzuweisen. 4. Einstandspflicht und § 13 Seit Inkrafttreten des § 13 müssen normentheoretische Positionen im Bereich der Garantenproblematik freilich am Wortlaut dieser Vorschrift gemessen werden. Nun formuliert § 13 für sich genommen keine Unterlassungstatbestände und Erfolgsabwendungsgebote. Vielmehr gibt er ein Verfahren an, nach welchem aus den Tatbeständen des Besonderen Teils Unterlassungstatbestände (Erfolgsabwendungsgebote) gebildet werden können, und erklärt für diese Tatbestände (Normen) die jeweiligen Sanktionen für anwendbar; § 13 enthält keine Gebotsnormen, sondern er weist den Weg zu ihrer Konstituierung35. Hierbei weist die Vorschrift allerdings in der Tat prima facie drei "Verweisungselemente" auf: erstens die Verweisung auf den tatbestandsmäßigen Erfolg des Begehungsdelikts; zweitens diejenige auf die durch die Sanktionsnorm des Begehungsdelikts angeordnete Strafe; und drittens diejenige auf das "rechtliche Einstehenmüssen" für das Nichteintreten des Erfolges. Zwingt dies - insbesondere das zuletztgenannte Erfordernis - dazu, § 13 als Verweisungsnorm oder gar als Blankett zu deuten? Bedenken gegen die Annahme eines Blankettes ergeben sich schon daraus, daß der Gesetzgeber bei § 13 völlig untypischerweise selbst für die Strafdrohung auf andere Normen - die Sanktionsnormen des in Bezug genommenen Straftatbestandes - verweist. Sodann ist mit Blick auf die tatbestandliche Verhaltensbeschreibung zu beachten, daß erstens nur der tatbestandsmäßige Erfolg, nicht aber der Verhaltensmodus - nämlich das Unterlassen - aus dem in bezug genommenen Straftatbestand entnommen werden kann. Jedoch kann selbst die Erfolgsbeschreibung häufig nicht ohne Abwandlungen aus dem Begehungstatbestand übernommen werden. Insbesondere bei Tätigkeits- und Gefährdungsdelikte sind - unabhängig von der (zu bejahenden) Frage, ob diese einen "Erfolg" i.S.v. § 13 haben können36 zur Gewinnung der Gebotsnorm erhebliche Eingriffe in den Norminhalt der 33

So v.a. Beling, Kissin, M. E. Mayer u. Sauer, Darstellung und Kritik b. Armin Kaufmann, Doonatik, S. 262 ff.; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 262 ff.; je mit umf. Nachw. So BGHSt 3, 82 (89 f.); vgl. hierzu - zu Recht krit. - Maurach-Gössel, AT 2, § 46 Rdnrn. 29, 31. 35 Ebenso Jakobs, Strafrecht, 28/12 (Transformationsnorm, besser: Ergänzungsnorm"). 36 S. oben § 3 15. 9*

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Begehungsverbote erforderlich 37. Ahnliches gilt bei Delikten mit einem zwar handhaften - äußerlichen - Erfolg, aber mit (vom Rechtsgut her gesehen) vorverlegter Vollendung. So kann die § 306 Nr. 2 entsprechende Gebotsnorm so gebildet werden: "Es ist dem Garanten geboten, das Inbrandsetzen (oder -geraten) eines Gebäudes abzuwenden" oder so: "Es ist dem Garanten geboten, das Brennen eines Gebäudes abzuwenden (d.h. auch einen Brand, der im Begehungsfall die Vollendung von § 306 Nr. 2 begründen würde, zu löschen bzw. löschen zu lassen)"38. Schließlich gewinnen subjektive Unrechtsmerkmale - v.a. Absichten - beim Unterlassen eine andere Bedeutung als beim positiven Tun39. Zudem ist auf die - gelegentlich übersehene40 - Selbstverständlichkeit hinzuweisen, daß auch bei den Garantengeboten, die den reinen Erfolgsverletzungsdelikten entsprechen, die Erfolgsbeschreibung mit Blick auf die Reichweite der Garantenposition eingeengt werden muß: Während sich Verletzungsverbotsnormen auf jeden denkbaren Rechtsgutsträger, auf das Rechtsgut schlechthin beziehen, ist es dem Garanten nicht geboten, das Rechtsgut schlechthin zu schützen, sondern nur die Güter derjenigen Rechtsgutsträger, für welche er Garant ist: Die Garantenposition ist in Wahrheit eine Garantiebeziehung 41. Problematisch ist schließlich, was - vor dem Hintergrund der Ablehnung eines Verweisungsmodelles - mit der Wendung des "rechtlichen Einstehenmüssens" gemeint ist42. Schürmann, der die bislang ausführlichste Untersuchung zu § 13 vorgelegt hat, deutet diese Wendung dahin, daß in ihr ein Verweis auf aw/terstrafrechtliche Rechtsnormen liege, welche auf die Abwendung des je in Bezug genommenen Erfolges gerichtete Handlungspflichten statuierten43. Diese Rechtsnormen müßten zudem selbständig mit Sanktionen irgendwelcher Art versehen sein, da nur derjenige für die Vornahme einer Handlung "einstehen" könne, der bei Verletzung der Handlungspflicht in irgendeiner Form (nachteilige) Rechtsfolgen zu tragen habe . Zu den soeben dargestellten normentheoretischen Problemen dieser 37 38

39

Näher Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 19 ff. mit umf. Nachw. Zum Problem oben § 3 15.

Zum Problem Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 46 ff. m.w.N. So b. Welzel , Strafrecht, S. 208: Der Tatbestand sei - nur? - um die täterschaftsbegründenden Merkmale der Garantenstellung zu ergänzen. 41 Eingehend sogleich § 4 II. 40

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Nach h.L. ist die Wendung vom rechtlichen Einstehenmüssens de lege lata der Sitz der Garantenproblematik, was den Gesetzgebungsmotiven entspricht (hierzu sogleich im Text); s. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 561; Lackner , § 13 Rdnr. 6; Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 66; je m.w.N. Anders hingegen SK-Rudolphi , § 13 Rdnrn. 19 ff.: Aus der Wendung ergebe sich - nur - das Erfordernis einer Erfolgsabwendungspflicht; nicht jede Erfolgsabwendungssei aber Garantenpflicht, diese müsse vielmehr mit Hilfe der Entsprechensklausel (des § 13 Abs. 43 1 letzter HS) gebildet werden. - Näher zur Entsprechensklausel unten § 4 III 2. Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 61 ff., 74 f.; ähnlich auch Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 330 f. 44 Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 63; vgl. weiter die - unklaren - Ausführungen b. Schultz , Amtswalterunterlassen, S. 21 ff.

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Ansicht nimmt Schürmann freilich nicht Stellung. Er selbst gesteht ein, daß sein "Verweisungsmodell" nicht der herrschenden Meinung und Rechtsprechung entspricht; es läßt sich aber auch nicht mit dem Gesetz vereinbaren. Nach den amtlichen Begründungen zur Vorläufervorschrift des § 13 im E 1962 sowie zu § 13 heutiger Fassung soll die Wendung vom rechtlichen Einstehenmüssen ausschließlich das Erfordernis der "Garantenstellung und der aus ihr entspringenden Garantenpflicht" verdeutlichen; die Garantenstellung wiederum begründe ein "besonderes Pflichtenverhältnis", welches den Garanten aus der Masse der übrigen Rechtsgenossen heraushebe45. Daß hierbei auf aw/terstrafrechtliche Normen verwiesen werde, geht aus der Begründung nicht hervor. Wird zudem die dargelegte axiologische und normentheoretische Problematik des Verweisungsmodelles bedacht, so erweist sich das hier vorgelegte Modell der "rein strafrechtlichen Sondernormen" als das auch dem Gesetz entsprechende. 5. Funktion des § 13 Um dieses Modell reibungslos mit § 13 abzustimmen, bleibt freilich noch klären, welche Funktion § 13 nun bei der Gewinnung der Erfolgsabwendungsgebote als "rein strafrechtliche Sondernormen" hat. Nach richtiger Auffassung enthalten weder die Straftatbestände des Besonderen Teils noch enthält § 13 - auch nicht in Verbindung mit außerstrafrechtlichen in bezug genommenen Normen - für sich die gesuchten Gebote. Zwar lassen sich aus § 13 zusammen mit den Straftatbeständen Gebote bilden; deren Inhalt ist jedoch in entscheidenden Punkten (noch) nicht festgelegt. Die den unechten Unterlassungsdelikten zugrundeliegenden Erfolgsabwendungsgebote sind mithin weder in § 13 noch in den Straftatbeständen noch in außerstrafrechtlichen Normen noch in Kombinationen zwischen diesen vorhanden, sie müssen erst gebildet werden. Damit bleibt nur mehr der Ausweg, § 13 als Ermächtigung des Strafrichters zur Normen- und Tatbestandsbildung zu verstehen. Diese Rechts(fort)bildung ist gesetzesimmanent - weil im Gesetz selbst vorgesehen und nicht andere ausdrückliche Strafrechtsnormen derogierend - und muß wie jede Rechtsfortbildung auf Prinzipien rekurrieren, die wiederum legitim sein müssen. Kurzum: § 13 eröffnet die Möglichkeit gesetzesimmanenter strafrichterlicher Rechtsfortbildung aus legitimen Rechtsprinzipien. Die Schlußfolgerung erscheint radikal; ihre verfassungsrechtliche Problematik - die nicht in Abrede gestellt wird - liegt auf der Hand. Sie benennt aber nur analytisch klar, was Rechtsprechung und Lehre tun und was auch der Gesetzgeber wollte. So wird die Rechtsprechung des späten Reichsgerichts und auch des frühen Bundesgerichtshofs ganz zutreffend als "wildwuchernde Rechtsschöpfung" gekennzeichnet und - mit Blick auf das 45

Begründung zum E1962, S. 124 sowie BT-DrS. V/4095, S. 8.

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Wuchern - kritisiert 46. Der Begriff der "Rechts/ö/iWMw/ig" taucht auch in der Literatur auf 47; explizit (und zutreffend) verteidigt Schünemann48 die "schöpferische Rechtsfindung" oder "Rzchtsschöpfung" im Strafrecht als Methode der Konstituierung von Garantengeboten gegen den Einwand eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Der Gesetzgeber überließ ausdrücklich die "Konkretisierung" der Garantengebote - und jede Rechts(fort)bildung ist "Konkretisierung" des Rechts49 - der Rechtsprechung und Lehre 50. Schließlich ist zu bemerken, daß das gängige - und berechtigte - Vorgehen, Garantengebote aus faktischen Verhältnissen - z.B. der engen Lebensgemeinschaft - herzuleiten51, rechtstheoretisch überhaupt nur durch eine Normbildungskompetenz des Strafrechts zu erklären ist; insbesondere müßte hier ein Verweisungsmodell versagen, weil nach allgemeiner Auffassung nicht auf rechtsfremde (bloß ethische) Pflichten verwiesen werden darf. Im übrigen ist im Vorgriff auf die verfassungsrechtliche Erörterung 52 zu bemerken: Daß die Strafbarkeit des unechten Unterlassungsdelikts wegen Art. 103 Abs. 2 GG problematisch ist, entspricht der allgemeinen Meinung. Wenn nun freilich die h.L. pauschal die Unbestimmtheit des § 13 rügt, so müßte sie - auch wegen der unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Maßstäbe - erläutern, ob § 13 als Norm, als Regelung des allgemeinen Teils oder als Verweisungsvorschrift (usf.) unbestimmt ist. Durch die vorgelegte Lösung wird das Problem nur präzisiert: Es steht die Zulässigkeit der Ermächtigung des Strafrichters zur Rechtsfortbildung im Räume; die Bestimmtheit einer derartigen Ermächtigung ist nur ein Teilproblem dieser Frage, die sich allgemeiner als Problem des Art. 103 Abs. 2 GG in seinem gewaltenteilenden Aspekt darstellt. IL Garantenstellung, Garantiebeziehung und Sonderdelikts-Natur 1. Die Kritik Freunds am Erfordernis der "Garantenstellung" Aus dem Dargelegten hat sich ergeben, daß zwar nicht die Garantenpflicht, wohl aber die Merkmale, die die "Garantiebeziehung" ausmachen, Teil der Tatbestände und der (Gebots-)Normen der unechten Unterlassungsdelikte sind. An dieser Auffassung, die das Proprium der Normen der unechten Unterlassungsdelikte in einem zusätzlichen, selbständigen Tatbe46 So Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 244 (Herv. v. Verf.); lassung, S. 196.

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Z.B. b. Rudolphiy Gleichstellungsproblematik, S. 89. Unterlassungsdelikte, S. 256 ff.; s. bereits 196 ff.

Hierzu Lorenz , Methodenlehre, S. 351 ff. und 456 ff. S. Protokolle, S. 1864. S. nur S/S-Stree, § 13 Rdnrn. 23 ff. 52 S. unten §10 III 3. 50 51

ähnlich Herzberg , Unter-

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standsmerkmal der "Garantenstellung" erblickt, hat neuerdings Freund 53 grundlegende Kritik geübt. Der Begriff der Garantenstellung sei nicht mehr als eine "formale Hülse", in welcher die Sachproblematik - nämlich die Begehungsgleichwertigkeit des "unechten" Unterlassens - verborgen sei54. Im einzelnen untersucht Freund nun zwei Rekonstruktionsversuche des angeblichen Tatbestandsmerkmals der Garantenstellung, die er beide für untauglich hält55. Werde das Unterlassen in Garantenstellung als Synonym begehungsgleichwertigen Unterlassens begriffen, so sei hiermit ersichtlich keine materiale Begründung verbunden. Dann aber könne es sich bei der Garantenstellung auch nicht um ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal handeln: Begehungsgleichwertigkeit sei kein Tatbestandsmerkmal, sondern Kriterium der Tatbestandsbildung. Werde das Unterlassen in Garantenstellung hingegen als Konkretion begehungsgleichwertigen Unterlassens verstanden, so entbinde dies wiederum nicht von einer materialen Begründung, warum die Garantenstellung Begehungsgleichwertigkeit bedeute. Seibist wenn die Konkretionshypothese zutreffe, sei wiederum die Eigenständigkeit eines Tatbestandsmerkmals "Garantenstellung" zu verneinen: Wäre die Garantenstellung Funktion all' der Umstände, Merkmale und normativen Erfordernisse, die gegeben sein müssen, damit ein begehungsgleichwertiges Unterlassen vorliegt, dann falle die Bejahung der Garantenstellung mit der Feststellung zusammen, daß der Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts insgesamt erfüllt sei56. Normentheoretisch sei die Garantenproblematik eine Problematik des tatbestandsmäßigen Verhaltens und der Verhaltensnorm, mithin die "Garantenstellung" nicht unterscheidbar von einem "farblosen" Unterlassenverhalten. 2. Stellungnahme: Garantiebeziehung als unterscheidbarer Teil des Tatbestands Die Kritik von Freund trifft weitgehend mit der hier unternommenen Analyse der Struktur von Garantengeboten zusammen: Auch hier wird davon ausgegangen, daß eine bloße "Addition" von Begehungstatbestand (bzw. Verbotsnorm) und Garantenstellung noch keineswegs das Garantengebot ergibt; vielmehr geht es um die Bildung "rein strafrechtlicher Sondernormen". Auch entpuppt sich die Garantenstellung als Garantiebeziehung zwischen dem Normadressaten und dem jeweils zu garantierenden Rechtsgutsträger. Problematisch erscheint aber, daß im Rahmen der hier vertretenen erfolgsbezogenen Normentheorie jedenfalls der Erfolg des Unterlassens57 sowie die Kausalität des Unterlassens hierfür 58 außerhalb der 53

54

Unterlassen, S. 39 ff.

55 Freund, 56

57

Unterlassen, S. 43 f. Freund, Unterlassen, S. 45 ff. Freund, Unterlassen, S. 47 f.

Zu den hier auftauchenden Transformationsproblemen s. oben § 4 14.

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Garantiebeziehung bestimmt werden müssen. Ein interner Widerspruch liegt bei Freund aber insoweit nicht vor, da bei einer ganz verhaltensbezogenen Normentheorie der Erfolg keine Rolle spielt und Freund zuzugeben ist, daß ein reines, "farbloses" Unterlassen nicht als eigenständiges Tatbestandsmerkmal in Ansatz gebracht werden muß. Aber auch im Rahmen des Normenmodells von Freund - das weitgehend demjenigen von Frisch entspricht - besteht die Möglichkeit, zwischen zwei Aspekten des "tatbestandsmäßigen Verhaltens" zu unterscheiden: Wie Freund selbst darlegt, ist zum einen der Risikoschaffungsaspekt, zum anderen der Aspekt der Sonderverantwortlichkeit für die Legitimation von Verhaltensnormen beim Begehungs- wie beim unechten Unterlassungsdelikt erforderlich. Es ist im Grunde nicht ersichtlich, warum die Sonderverantwortlichkeit in ihren tatsächlichen Gründen nicht gesondert - eben als "Garantenstellung" oder "Garantenbeziehung" - im Tatbestand aufweisbar sein soll. Tiefergehend ist zwischen dem Grund der Sonderverantwortlichkeit - für den "Garantenstellung" allerdings nur eine ausfüllungsbedürftige Chiffre ist - und den Grenzen dieser Verantwortlichkeit, also dem (konkreten) Pflichteninhalt zu unterscheiden. Die von Freund vorgenommene Reduzierung der Sachproblematik auf den zuletztgenannten Aspekt erscheint terminologisch und sachlich nicht glücklich. 3. Sonderdeliktsnatur und Jedermannsunterlassen (zur materialen Abschichtung zwischen "unechtem" und "echtem" Unterlassen) Konstituiert aber eine Garantie- als Sonderbeziehung die Tatbestände der unechten Unterlassungsdelikte - und die in ihnen enthaltenen Garantengebote - mit, so erweisen sich diese Delikte als Sonderdelikte jedenfalls in dem (allgemeineren) Sinne, als der Täter und Normadressat bestimmte Eigenschaften ("Täterqualifikation") aufweisen muß und nicht jedermann Täter sein kann . Freilich hat Jakobs darauf hingewiesen, daß der Begriff der Sonderdelikte zu undifferenziert ist. Zu unterscheiden ist hiernach zwischen Sonderdelikten im engeren Sinne, bei denen der Täter unabhängig von der Deliktsbegehung in einer Statusbeziehung zum geschützten Gut steht, und solchen im weiteren Sinne, bei denen die Beziehung zum Gut nur durch das deliktische Verhalten vermittelt wird 60. Ob alle unechten Unterlassungsdelikte in die zuletztgenannte Kategorie fallen, ist zweifelhaft und bereits eine - nicht hier zu behandelnde - Frage der materialen Legitimation von Garantengeboten; im Vorgriff ist anzudeuten, daß nach Jakobs nur die institutionell begründeten Garantengebote Sonderdelikte im engeren Sinne dar58

S. hierzu unten § 5 II. Zu dieser gängigen Definition der Sonderdelikte Roxin , Strafrecht, § 10 Rdnr. 128. Jakobs , Strafrecht, 6/91; zu den Konsequenzen für die Beteiligungslehre 21/115 ff.; für den Versuch 25/43 ff.; für für die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte 29/43 ff., 57 ff. 59

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stellen, während die Sicherungsgarantengebote kraft Verantwortlichkeit für den eigenen Organisationskreis keine - über die Rechtsperson hinausgehende - Statusrolle implizieren und deshalb nur Sonderdelikte i.w.S. darstellen61. Die Unterscheidung von Jakobs ist nicht zu verwechseln mit derjenigen der h.L. zwischen Sonder- und Sonderpflichtdelikten. Bei den letzteren soll die Täterqualifikation in einer außerstrafrechtlichen Pflichtenstellung bestehen62. Die - gängige - Einordnung der unechten Unterlassungsdelikte als Sonderpflichtdelikte 63 ist (nur) konsequent unter der Voraussetzung, daß einem Verweisungsmodell gefolgt wird. Demgegenüber wird hier behauptet, es gehe um die Bildung einer "rein strafrechtlichen Sondernorm" 64, also um (echte) Sonderdelikte , deren Pflichtigkeit nicht durch (unmittelbare) Verweisung auf vorstrafrechtliche Pflichtenordnungen konstituiert wird. Jedoch hat die nach hier vertretener Auffassung .yfra/rtu/theoretisch wenig bedeutsame Einordnung der unechten Unterlassungs- als Sonder- oder Sonderpflichtdelikte eine wichtige legitimationsthtoretische Bedeutung, die den materialen Unterschied zum "Jedermannsunterlassen" - etwa im Rahmen des § 323 c - betrifft. Diesen Unterschied hat neuerdings Freund 66 in aller Klarheit hervorgehoben. Nach Freund kann der (legitimationstheoretische) Unterschied zwischen dem "Jedermannsunterlassen" und dem begehungsgleichen (Garanten-)Unterlassen nicht in dem "Erfolgsbezug" des letzteren gesehen werden, da auch z.B. § 323 c seinen Sinn und Inhalt nur aus dem Erfolgsbezug gewinne67. Vielmehr stehe der Täter eines echten Unterlassungsdelikts zum schadensträchtigen Verlauf in der Position eines Unbeteiligten, eines "quivis ex populo"; er werde gleichsam nach Notstandsgrundsätzen (nur) um der Gütererhaltung willen in Anspruch genommen68. 61

S. noch unten § 10 IV 6., 7. Roxin, Strafrecht, § 10 Rdnr. 128; vgl. weiterhin die Nachw. b. Jakobs, Strafrecht, 21/118 in Fn. 212. 63 So etwa S/S-Stree, § 13 Rdnr. 2: "Sonderdelikte des Handlungspflichtigen"; ähnlich Henckel, MSchrKrim 1961,173 (179). 64 S. oben §4 13. 65 In diesem Sinne wohl auch Jescheck, Lehrbuch, S. 561. 66 Unterlassen, S. 71, 298 ff. 67 Hierfür ist auch zu bedenken, daß eingetretene, aber abwendbare Folgen selbstverständlich in die Strafzumessung bei § 323 c eingehen, vgl. LK-Spendet, § 323 c Rdnr. 185. Anders liegt es nach hier vertretener Auffassung aus strukturtheoretischer Sicht, bei welcher daran festgehalten werden muß, daß die Verhaltensnorm tfes § 323 c keine Erfolgsabwendung verlangt, s. oben § 3 15. 62

68

Allerdings stellt sich bei dieser Deutung des § 323 c und der echten Unterlassungsdelikte für Freund ein Sonderproblem, das mit seiner komparativen Methode der Feststellung von Begehungsgleichwertigkeit zusammenhängt (hierzu noch unten § 10 II): Wenn § 323 c eine im Güternutzen fundierte Jedermanns-Verantwortlichkeit ohne Sonderverantwortlichkeit zugrundelegt, dann fragt sich, welche Deliktsgruppe dieser Konstellation bei den Begehungsdelikten entspricht. Bei den Begehungsdelikten liegt nach Freund im Regelfall eine Sonderverantwortlichkeit vor; fehlt sie, so soll die Strafbarkeit wegen Begehens ausscheiden

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Hingegen stehe der Garant in einem - gerade die Begehungsgleichwertigkeit kennzeichnenden - Sonderverhältnis zum schädigenden Verlauf, sei also gerade nicht ein "quivis ex populo". Mit dieser Überlegung ist freilich noch nichts für die Bestimmung des Grundes derartiger Sonderverantwortlichkeiten gewonnen69. III . Zur normentheoretischen Bedeutung der "Entsprechensklausel" (§ 13 Abs. 1 letzter HS) und des § 13 Abs. 2 1. Motive des Gesetzgebers Wenn - wie soeben dargelegt - die Garantiebeziehung als Grund der Sonderverantwortlichkeit geeignet ist, die Begehungsgleichwertigkeit des Unterlassens und damit Garantengebote zu legitimieren, so fragt sich allerdings einerseits, welche Bedeutung das in § 13 Abs. 1 letzter HS enthaltene Erfordernis hat, das Unterlassen müsse der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch Tun "entsprechen", andererseits, wie die fakultative Strafmilderungsmöglichkeit des § 13 Abs. 2 mit der grundsätzlich gleichwertigen Legitimation der Garantengebote vereinbar ist. Die Intention des Gesetzgebers bei Schaffung dieser beiden Regelungen ist wenig klar. In der amtlichen Begründung70 wird zu § 13 Abs. 1 letzter HS ausgeführt, es sei anstelle des im Entwurf enthaltenen Ausdrucks "gleichwertig ist" die Wendung "entspricht" eingefügt worden, um wiederum die Strafmilderungsmöglichkeit des § 13 Abs. 2 71 zu erhalten, welche unter Hinweis auf die "Rechtslehre" damit begründet wurde, "daß unter sonst gleichen Umständen das Unterlassen ... regelmäßig weniger schwer wiege, als ... positives Tun". Ob diese Harmonisierung allein durch die "kosmetische" Änderung der Wortwahl gelungen ist, muß bezweifelt werden72. Jedenfalls zur Entsprechungsklausel finden sich in den Gesetzgebungsmaterialien und in der Begründung zum E 1962 deutlichere Aussagen: Es gehe um einen Vergleich des Unwert- und Unrechtsgehalts zwischen Begehungs- und (Garanten-)Unterlassungsnorm, der insbesondere bei verhaltensgebundenen Delik-

(vgl. aaO., S. 70 f.). Warum sollte das aber - gerade auf der Grundlage der komparativen Methode Freunds - beim Unterlassungsdelikt anders sein? Ist § 323 c dann in Wahrheit gar nicht legitimierbar? 69

S. hierzu die Vorüberlegungen in § 10 IV. BT-DrS. V/4095, S. 8. - Eingehend zur Entstehungsgeschichte der Entsprechensklausel Nitze , Entsprechensklausel, S. 23 f. 71 Die weder im E 1962 noch im AE (§ 12) enthalten war. 72 Krit. Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 91 f. m.w.N. 70

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ten mit spezifizierten Handlungsmodalitäten - etwa bei der Kuppelei73 - relevant sei . 2. Deutung der Entsprechensklausel in der Literatur Dementsprechend ist zunächst die Bedeutung der Entsprechensklausel in der Literatur ausgesprochen umstritten75. Überwiegend wird im Anschluß an die Gesetzgebungsmaterialien eine "Modalitätenäquivalenz" bei verhaltensgebundenen Delikten verlangt (und, vice versa, die Relevanz der Entsprechensklausel bei reinen Erfolgsverletzungsdelikten verneint) 76. Hierbei ist im einzelnen umstritten, ob es um einen bloßen Normvergleich oder um eine Gesamtbewertung im Einzelfall (etwa unter Einschluß von Zumutbarkeitserwägungen) gehe77, sowie, ob nicht auch bei den reinen Erfolgsverletzungsdelikten die Entsprechensklausel ausnahmsweise zu berücksichtigen s e i . Die Gegenauffassung will allerdings in der Entsprechensklausel geradezu das "eigentliche Gleichstellungsproblem"79 oder zumindest die Kernvoraussetzung tatbestandlicher Gleichstellung von Tun und Unterlassen nach dem Kriterium der "für die Zurechnung maßgeblichen sachlogischen Strukturen" erblicken80. Einen kritischen Neuansatz zur Klärung der Entsprechensklausel hat jüngst Nitze unternommen. Nitze geht von der Unterscheidung Schmidhäu73 § 180 Abs. 1 a.F., welcher das in den damaligen Diskussionen hauptsächlich (!) herangezogene Beispiel bildete, vgl. E1962, Begründung S. 125 f., s. weiterhin Gallas, Niederschriften, Bd. XII, S. 81 f.; Jescheck, aaO., S. 96 f. - Die Streitfrage lautete, ob ein "Vorschubleisten" vorliegt, wenn es eine Mutter unterläßt, gegen den außerehelichen Geschlechtsverkehr ihres Sohnes einzuschreiten (bejahend RGSt 40, 166; auch noch BGH LM Nr. 3 zu § 180; abl. die überwiegende Lit.; eingehend und mit umf. Nachw. zum Streit Welzel, Strafrecht, S. 219 u. 442 f.). 74 Vgl. E 1962, Begründung S. 125; Protokolle, S. 1644 ff., 1860 ff.; Gallas, Niederschriften, Bd. XII, S. 79 ff. (bes. 80).

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Die Entsprechensklausel wird deshalb de lege ferenda weitgehend abgelehnt, vgl. Roxin, ZStW 78 (1966), 214 (245 f.); Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 430 f. - Zusammenfassende Darstellungen b. Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 88 ff.; Nitze, Entsprechensklausel, S. 23 ff. - In der Rspr. hat die Entsprechensklausel ebenfalls bislang kaum eine praktische Bedeutung gewonnen, vgl. die (kritische) Darstellung b. Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 93 f. in Fn. 18 m.w.N. 76 S. nur S/S-Stree, § 13 Rdnr. 4 m.w.N. 77 Im letzteren Sinne insbes. Henkel, MSchrKrim 1961,178 (188 f.). 78 Blei, Strafrecht, S. 331; Fünfsinn, Aufbau, S. 148. 79 So insbes. Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 284 f. mit einem dreistufigen Modell: Erstens sei ein strafbares Begehungsdelikt erforderlich; zweitens ein Gebot, das die Abwendung von Rechtsgutsverletzungen oder -gefährdungen zum Inhalt habe; drittens - und zentral - sei zu prüfen, ob die Verletzung des Handlungsgebots dem Unrechtsgehalt und dem Maß des Schuldvorwurfs "wenigstens annähernd" gleichstehe. 80 So Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 323 ff., 241 ff.; dersUnternehmenskriminalität, S. 84 f.

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sers zwischen "Wortlaut-" und "Auslegungsunterlassen" aus81. (Unechte) Unterlassungsdelikte jenseits eines noch möglichen Auslegungsunterlassens könne es schon wegen des Gesetzlichkeitsprinzips nicht geben. Es sei freilich möglich, alle Erfolgsdelikte 82 im Wege der Auslegung als Unterlassungstatbestände zu fassen, da der Erfolg "auch unabhängig von menschlichem Handeln vorstellbar" sei; hingegen scheide ein Auslegungsunterlassen dann aus, wenn der Wortlauttatbestand ein nicht erfolgsbezogenes Handeln oder ein bestimmtes Unterlassen voraussetze83. Freilich gebe es bei einem (möglichen) Auslegungsunterlassen keine "Intention" des Täters und somit keinen "Zielunwert"; deshalb sei im Vorsatzfalle hier nie Gleichwertigkeit gegeben, sondern die Strafe stets obligatorisch zu mildern. Im Fahrlässigkeitsfall sei beim Unterlassen die Erkennbarkeit der Gefahrenlage erschwert, so daß ebenfalls eine (wenn auch fakultative) Strafmilderung geboten sei. De lege lata könne hier jeweils § 13 Abs. 2 angewendet werden. Im Ergebnis müsse aber jede Suche nach einer Bedeutung der Entsprechensklausel scheitern, weil sie teleologisch und straftatsystematisch ganz verfehlt sei84. - Abgesehen davon, daß dieses Ergebnis schwerlich mit der lex lata vereinbar ist85, sind die Grundaussagen (und dementsprechend auch die Schlußfolgerungen) Nitzes durchweg unhaltbar: Weder kann das Unterlassen im Wege der "Auslegung" in die interessierenden Straftatbestände des Besonderen Teils hineingelesen werden86, noch ist es für die Auslegung von Straftatbeständen ein irgendwie relevanter Gesichtspunkt, daß die Erfolge auch "unabhängig von menschlichem Verhalten" - also als bloße Schäden - denkbar sind , noch ist der Handlungswille - schon gar nicht als "Intention", als handlungswirksames Wollen des tatbestandsmäßigen Erfolges - für die Normwidrigkeit oder auch nur für die Zurechnung erforderlich 88, noch sind Unterlassungs"intentionen" ausgeschlossen89. 81 82 Nitze

, Entsprechensklausel, S. 125 ff. Unter die Nitze , Entsprechensklausel, S. 131 auch die "eingeschränkten" Erfolgsdelikte also solche, die eine bestimmte erfolgsrelevante Verhaltensweise erfordern wie z.B. § 184 b sowie die "uneingeschränkten Mehrerfolgsdelikte" - wie z.B. den Betrug - faßt. 83 Nitze , Entsprechensklausel, S. 135. - Für die zweite Fallgruppe nennt Nitze (aaO., S. 133) das diskutable Beispiel des § 310 a Abs. 1 Nr. 2 (Herbeiführen einer Brandgefahr in der Natur), der als ausdrückliche Unterlassungsvariante die "ungenügende Beaufsichtigung von offenem Feuer oder Licht" kennt; hieraus schließt Nitze , daß andere Unterlassungsvarianten nicht gebildet werden dürften. Ähnlich diskutabel sind die von Nitze (aaO., S. 132) genannten Beispielsfälle für die erste Fallgruppe: Soll z.B. der Tatbestand der fehlerhaften Herstellung kerntechnischer Anlagen (§ 311 e) wirklich nicht gem. § 13 auf denjenigen angewendet werden können, der - etwa als Bauleiter, der einen Fehler bemerkt - gegen die (fehlerhafte) Erstellung nicht einschreitet? Nitze , Entsprechensklausel, zus.fas. S. 188 f. 85 Zu diesem Aspekt Roxin, JuS 1973, 197 (198): "Die Mißbrauchbarkeit der Formel enthebt uns aber nicht der Mühe, für die Entsprechensklausel, mit der die Praxis nun einmal wird arbeiten müssen, die verhältnismäßig sinnvollste Deutung zu suchen ..." 86 S. oben § 3 14. mit Fn. 33 (zu Schmidhäuser). 87 S. oben § 1 II 5. a.E. 88 S. oben §2 III 2.

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3. Entsprechung als "vollständige" Legitimation Eine normen- und deliktstheoretisch valide Deutung des § 13 Abs. 1 letzter HS muß vielmehr daran ansetzen, daß es zunächst um ein Problem der Norm- und Tatbestands-, in den Worten der h.L.: der Unrechts- (Unwert-) bildung geht90. Daher können an Zurechnungskriterien wie an die Zumutbarkeit im Einzelfall anknüpfende Kriterien grundsätzlich keine Rolle spielen. Nun scheint freilich dieses Problem der Norm-, d.h. (Garanten-) Gebotsbildung ganz in der Formel vom "Einstehenmüssen" aufzugehen. Hier würde aber übersehen, daß - entsprechend dem oben Ausgeführten 91 strafrechtliche Normen, damit auch strafrechtliche Verhaltensgebote, nicht nur "isoliert" als Verhaltensnormen, sondern auch mit Blick auf die Sanktionsnorm einer "vollständigen" Legitimation bedürfen. Es besteht nun ein entscheidender Unterschied zu den gesetzlich vertypten (Begehungs-) Verboten: Während diese bereits durch die hinzunehmende gesetzgeberische Entscheidung für dogmatische Zwecke hinreichend legitimiert sind, geht es bei den erst zu bildenden (Garanten-)Geboten auch dogmatisch darum, ob sie den (Begehungs-) Verboten mit Blick auf ihren "Anerkennungswert" gleichwertig sind. Genau dies ist der Sinn der Entsprechensklausel, welche von der Literatur denn auch zutreffend auf den Gesichtspunkt der "Strafwürdigkeit" des Unterlassungsunrechts bezogen wird 92. Mithin ist die "Entsprechung" auf der Stufe der vollständigen Legitimation der Garantengebote vor dem Hintergrund des Strafzweckes, ein allseitig akzeptables, hinreichendes Maß der handlungswirksamen Anerkennung durchzusetzen und zu sichern, zu bestimmen; das Garantengebot muß denselben legitimen Anerkennungswert wie das Verletzungsverbot haben. Unrichtig wäre es hingegen, auf die Gleichheit des faktisch-empirischen Maßes an "soziaTethischer Mißbilligung im Sinne diffuser - übrigens, methodisch gesprochen, empirisch nachzuweisender! - Erwartungshaltungen der Bevölkerung oder des hier vorhandenen "Rechtsgefühls" abzustellen; vielmehr ist der Tadel, den Strafe ausspricht, sozial- im Sinne von rechtsethischer Natur. Das Unterlassen der Erfolgsabwendung in der Garantenbeziehung muß demnach (unter der Bedingung seiner Zurechenbarkeit) denselben Mangel an "Gerechtigkeitssinn" indizieren wie ein (zurechenbares) erfolgsbedingendes Tun. Damit erweist sich aber die Frage der "Entsprechung" im Ausgangspunkt als eine Frage der Ermittlung des Vergleichsmaßstabs, nämlich des dem Begehungsdelikt zu entnehmendem Anerkennungswerts

89 90

ff.

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92

Zum letzten Gesichtspunkt noch unten § 711. Ebenso Jakobs, Strafrecht, 29/7 und 78 ff.; Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 109 S. oben § 1 III 3. S. Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 111.

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der Norm 93. Ganz im Sinne des von Jakobs94 vorgelegten Modells zu § 13 Abs. 1 letzter HS muß daher durch Auslegung der jeweiligen Begehungstatbestände95 ermittelt werden, inwieweit der spezifisch strafrechtliche Anerkennungswert gerade mit der Begehungsform des positiven Tuns (ggf. in spezialisierten Modalitäten) zusammenhängt. Sonderprobleme bieten hier nur diejenigen Delikte, die für die Täterschaft eine körperliche Beteiligung voraussetzen, nämlich die sog. "eigenhändigen" Delikte (insbes. § 316), sowie (teilweise in Überschneidung mit der Gruppe der "eigenhändigen" Delikte) diejenigen, die durch Abgabe einer Information begangen werden (Kommunikationsdelikte, z.B. §§ 153 ff., 185 ff., 263). Bei den ersteren muß die Entsprechung für die täterschaftliche (Vorsatz-)Beteiligung verneint werden96. Bei den letzteren stellt sich die von Herzberg thematisierte Frage, ob nicht bereits der Informationswert des Schweigens durch eine Garantenpflicht bestimmt ist. So ist es beim Betrug erforderlich, daß der Betrüger als unterlassender Garant seinem Unterlassen "auch noch einen spezifischen Sinngehalt, den der Lüge" gibt97. In diesem Fall ist aber auch die Entsprechung unproblematisch gegeben98. Anders liegt es, wenn das Schweigen obwohl einer Garantenpflicht widersprechend - keinen Informationswert hat99. Wiederum anders - also: Entsprechung - liegt es, wenn das Unterlassen zu einer tatbestandsmäßigen Information führt, wenn z.B. der Arbeitgeber nicht hindert, daß ein bloß als Entwurf gedachter, beleidigender,

93

Damit handelt es sich grundsätzlich um eine - den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengende - Frage des (allgemeinen Teils des) Besonderen Teils; ebenso i.E. Straten werth , Strafrecht, Rdnr. 1036. 94 Strafrecht, 29/78 ff. 95

Zu den problematischen Fällen eingehend Nitze , Entsprechensklausel, S. 165 ff. mit umf. Nachw. 96 Wer etwa als Halter nicht hindert, daß ein anderer vorsätzlich eine Trunkenheitsfahrt begeht, haftet nur als Gehilfe, vgl. BGHSt 6, 6; OLG Koblenz NJW 1965,1926 m. Anm. Möhl, aaO., u. Bödecker , DAR 1970, 1773; S/S-Cramer, § 316 Rdnr. 7a m.w.N. - Ebenso bei der Unfallflucht, vgl. OLG Stuttgart NJW 1981, 2369; krit. Schürmann , Unterlassungsstraftaten, S. 93 in Fn. 18. - Im Fahrlässigkeitsfall haftet der Garant freilich (wegen des dort geltenden Einheitstäterbegriffs) täterschaftlich. 97 Herzbergy Unterlassung, S. 78. - Zu weitgehend erscheint freilich die Folgerung Herzbergs , aaO. S. 105 ff., es komme in diesen Fällen auf das Bestehen einer Garantenpflicht überhaupt nicht an; abl. auch Jakobs , Strafrecht, 29/80 in Fn. 164; SK-Rudolphi , § 13 Rdnr. 18. Zur Abgrenzung zwischen "konkludenter Täuschung" durch Tun und (ggf. garantenpflichtwidriger) Täuschung durch Unterlassen s. nur LK-Lackner , § 263 Rdnrn. 68 ff. mit umf. Nachw. 98

A.A. insbes. Naucke , Betrug, S. 106 ff. (mit v.a. historischen Argumenten gegen die generelle Möglichkeit einer Strafbarkeit des Betrugs durch Unterlassen); abl. auch Grünwald , in: 99 H. Mayer-FS, S. 281 (291). - Näher zum Betrug durch Unterlassen unten § 12 III c). Jakobs , Strafrecht, 29/80 mit dem Beispiel: Wer (z.B. als Vater) pflichtwidrig einen Brief nicht absendet, der das ahnungslose Betrugsopfer (z.B. den Sohn) aufklären würde, betrügt nicht täterschaftlich durch Unterlassen. - Zur Teilnahmehaftung in diesen Fällen Jakobs aaO. m.w.N.

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täuschender oder eine falsche eidesstattliche Versicherung enthaltender Brief durch einen Arbeitnehmer expediert wird 100 . Hingegen bildet die Bestimmung eines "entsprechenden" UnterlassungsKorrelats bei alP denjenigen Delikten keine Schwierigkeit, deren Verhaltensbindung sich in mehraktige oder parallele Kausalverläufe auflösen läßt101. Soweit nicht überhaupt spezifizierende Schuldmerkmale vorliegen, richtet sich hier die Garantenhaftung ausschließlich nach der Reichweite der Garantiebeziehung, ist aber kein Problem des Anerkennungswerts und somit keines der Entsprechensklausel102. Droht beispielsweise eine Bombe auf einem Fest zu explodieren, so ist mit Blick auf das Mordmerkmal der "Gemeingefährlichkeit" (§ 211 Abs. 2 2. Gruppe) nur der Feuerwerker für den Tod der Gäste, nicht aber der Vater für den Tod des Sohnes gerade mit Blick auf die Gemeingefahr einstandspflichtig 103. 4. §13 Abs. 2 Problematisch bleibt auf der Grundlage dieser Konzeption freilich die Einordnung der Strafmilderungsmöglichkeit des § 13 Abs. 2 104 . Nach dem Dargelegten kann nämlich eine Wertungsdifferenz auf Norm- und Unrechtsebene jedenfalls nach Bejahung der Entsprechung nicht angenommen werden; insbesondere können angebliche "ontologische" Unterschiede zwischen Tun und Unterlassen einen Wertungsunterschied nicht tragen 105.

100

Zutr. Böhm, Rechtspflicht, S. 19 ff.; Herzberg, Unterlassung, S. 81 f., 85 ff.; Jakobs, Strafrecht, 29/80. 101 Erst recht gilt dies für reine Erfolgsverletzungsdelikte wie §§ 212, 223: Unter der Voraussetzung, daß eine "isoliert" legitime Garantiebeziehung bestimmt werden kann, muß die Verhaltensbeschreibung des (Jedermanns-)Begehungsdelikts nur, wie in § 13 vorgesehen, durch das Unterlassen ersetzt werden; weitere Umformungsprobleme treten nicht auf. Dann aber gilt, daß das "isoliert" begründbare Erfolgsabwendungsgebot an dem Anerkennungswert des Verletzungsverbotes ohne weiteres teil hat, weil das Erfolgsabwendungsgebot "isoliert" ebensogut wie das Verletzungsverbot begründbar ist, dieses aber in seinem strafwürdigen Anerkennungwert durch die gesetzgeberische Entscheidung anerkannt ist und § 13 die Übertragbarkeit dieses Anerkennungswertes zuläßt. 102 Jakobs, Strafrecht, 29/78. 103 A.A. in diesem Beispielfall wohl Nitze, Entsprechensklausel, S. 171 f. - Der Fall BGH MDR 1986, 420, in welchem es darum ging, daß der Täter (unbeabsichtigt) einen Wohnungsbrand gelegt und dann den Tod der Mitbewohner billigend in Kauf genommen hatte, ist nach der hier zugrundegelegten Auffassung zutreffend entschieden: Da der Täter hier auch Garant mit Blick auf die Gemeingefahr - den Brand war haftete er gem. §§ 211,13. 104

Hierzu neuerdings Bruns, in: Tröndle-FS, S. 125 ff.; Timpe, Strafmilderungen, S. 152 ff.; je mit umf. Nachw. - S. bereits oben § 3 15. 105 S. noch unten § 10 I 3.; zu den diesbezüglichen Auffassungen zutreffend krit. Freund, Unterlassen, S. 15 ff.; Jakobs, Strafrecht, 29/123; Timpe, Strafmilderungen, S. 217. - Eine Wertungsdifferenz (auch mit Blick auf § 13 Abs. 2) verneinen auch Androulakis, Studien, S. 243; Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 458 f.; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 338 ff.

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Zur Vermeidung eines derartigen Widerspruchs im Gesetz106 wird vorgeschlagen, die Entsprechensklausel auf Unrechtsmerkmale zu begrenzen, bei § 13 Abs. 2 jedoch weitergehend auf den Schuldgehalt der Tat abzustellen107. Daß dies so nicht zutreffen kann, ergibt sich aus der hier vorgelegten Konzeption, wonach bei der Entsprechensklausel bereits die Entsprechung des "Anerkennungswerts" - der auch in den gewählten Zurechnungsvoraussetzungen (Vorsatz oder Fahrlässigkeit, Versuchsstrafbarkeit) zum Ausdruck kommt - geprüft werden muß108. Auch die These von Roxin109, § 13 Abs. 2 sei auf Fälle zu beschränken, in denen der Garant "zur Rettung aus ungewöhnlichen Gefahren" berufen ist, dürfte nicht weiterführen, da "ungewöhnliche Gefahren" auch im Zusammenhang von Begehungsdelikten denkbar sind und somit kein - zu Recht allgemein verlangter 110 - "unterlassungsbezogener" Grund vorliegt 111. Nicht zu überzeugen vermag sodann die Auffassung von Jakobs112, § 13 Abs. 2 sei bei institutionell begründeten Garantenpflichten anwendbar, wenn die Institution nicht mehr gelebt wird, also nicht mehr materiell vorliegt, etwa in einer zerrütteten Ehe oder zwischen Eltern und volljährigen, außer Haus lebenden Kindern: In diesen Fällen steht bereits das Bestehen der Garantenpflicht in Frage. In einer Art Synthese der Ansätze von Roxin und Jakobs will schließlich Timpe § 13 Abs. 2 nur im Rahmen "fürsorgerischer Garantieverhältnisse" bei "Sonderlagen" anwenden, im Rahmen der (nach Timpe ohnehin begehungsgleichen) Garantenstellungen aus Ingerenz und Verkehrssicherung hingegen nur, wenn (auch) nach dem Begehungsdelikt ein allgemeiner minderschwerer Fall vorläge . Richtig erscheint es vielmehr, im Ergebnis auf die Auffassung Armin Kaufmanns zurückzugreifen, nach welchem eine (fakultative) Milderungsmöglichkeit vor allem in denjenigen Fällen erforderlich erscheint, in denen als Zurechnungsform materiell bloße Beihilfe, wegen des jedenfalls in be-

106 So Herzberg , Unterlassung, S. 7 f. ("handfester Widerspruch im Gesetz"); vgl. weiterhin Schmid , MDR 1982, 374 f.; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 356. - Auch die Rspr. macht von § 13 Abs. 2 kaum Gebrauch; näher unten Fn. 111. 107 So Gallas , ZStW 80 (1968), 1 (20); vgl. weiterhin LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 6; SK-Rudolphi , § 13 Rdnr. 18; Schmidhäuser , Lehrbuch, 16/68.

108

Ebenso Schürmann , Unterlassungsstraftaten, S. 112 ff. (insbesondere zum Aspekt der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit). 109 Täterschaft, S. 465 ff.; s. auch LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 62. 110 LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 63; SK-Rudolphi, § 13 Rdnr. 65; S/S-Stree, § 13 Rdnr. 64. 111 Ebenso Jakobs, Strafrecht, 29/124. - Freilich kann die (magere) Rspr. zur Anwendbarkeit des § 13 Abs. 2 - vgl. BGH NJW 1982,393; StV 1987,527 - dahin gedeutet werden, daß es um Sonderlagen und Sondergefahren ging; näher Bruns, in: Tröndle-FS, S. 125 (130,133). 112 Strafrecht, 29/125. 113 Timpe, Strafmilderungen, S. 220 f. - Soweit Timpe darüber hinaus das (erhebliche) Mitverschulden des Opfers als Fall des § 13 Abs. 2 begreift (aaO. S. 214), ist dies nach allgemeinen Grundsätzen zur Kausalität und sog. "objektiven Zurechnung" nicht einzusehen; treffende Kritik b. Bruns , in: Tröndle-FS, S. 125 (137).

§ 4 Garantenpflicht, Garantenstellung und Garantiebeziehung

145

stimmten Bereichen114 geltenden Einheitstäterbegriffs beim Unterlassen formell Täterschaft vorliegt 115. Allgemeiner gesprochen dient § 13 Abs. 2 dazu, den Besonderheiten der Zurechnung bei den unechten Unterlassungsdelikten116 Rechnung zu tragen.

114

Nämlich bei den institutionell begründeten Garantenstellungen, s. unten § 9 II. Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 300 ff. (bes. 302 f.); hiergegen - nicht überzeugend Timpe, Strafmilderungen, S. 218 f. 116 S. unten § 6 I u. - speziell zur Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten -§9. 115

10 Vogel

§ 5 Kausalität und Risikoerhöhung bei den unechten Unterlassungsdelikten

I. Kausalitätsfeststellung

als kausale Erklärung

1. Streitfragen zur Kausalität des Unterlassens Bekanntlich war die Frage der Kausalität des Unterlassens einer der Kristallisationspunkte der Entwicklung der Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte im 19. Jahrhundert 1. Wenn v. Liszt den Streit hierum als einen "der unfruchtbarsten, welche die Strafrechtswissenschaft je geführt hat", bezeichnete2, so wird dies weder dem Gewicht der ausgetauschten Argumente noch der Tatsache gerecht, daß die Kausalitätsfrage stets eine natürliche Verbindung zwischen Strafrechtsdogmatik und Philosophie oder Wissenschaftstheorie darstellte3. Zuzugeben ist allerdings, daß im praktischen Ergebnis der Streit heute weitgehend gegenstandslos geworden ist. Die nunmehr ganz überwiegende Ansicht bestimmt die Kausalität des Unterlassens nach der Formel, es liege ein Kausalzusammenhang vor, wenn das unterlassene "erwartete" oder "geforderte" Verhalten nicht hinzugedacht werden könne, ohne daß der eingetretene Erfolg entfiele 4. Im einzelnen umstritten ist hier freilich, ob die unterlassene Handlung dem Täter (abstraktgenerell oder konkret-individuell) möglich gewesen sein muß oder nicht, ob also die Kausalitätsfeststellung das Bestehen einer Handlungsalternative voraussetzt oder nicht5, und ob das Entfallen des Erfolges (prozessual gesprochen) zur Überzeugung des Urteilers feststehen muß oder ob es genügt, daß das unterlassene Verhalten das Risiko des Erfolgseintritts verringert hätte (und sich genau diese unterlassene Risikoverringerung - im Ergebnis: die Risikoerhöhung - im Erfolg realisiert hat)6. Umstritten ist schließlich die 1 Eingehende Darstellungen b. Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 5 ff.; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 30 ff.; Traeger, Unterlassungsdelikte, S. 30 ff. 2 v. Liszt, Lehrbuch, S. 128. 3 S. oben § 3 III 2. zu Kant und den philosophischen Wurzeln der sog. Interferenzlehren. 4 RGSt 58,151 (153 f.); 63, 392 (393); 75, 49 (50) und 326 m. Anm. Mezger, ZAkDR 1942, 29 ff.; BGHSt 6, 1 (2), 7, 211 (214); NJW 1953,1838; s. aus neuerer Zeit NStZ 1985, 26; vgl. weiterhin Jescheck, Lehrbuch, S. 559 f.; S/S-Stree, § 13 Rdnr. 61; je mit umf. Nachw. 5 Im ersten Sinne insbes. Rödig, Alternative, S. 123 ff. (freilich nicht speziell für das Unterlassungsdelikt). 6 Zur hiermit angesprochenen "Risikoerhöhungslehre" eingehend unten § 5 III.

§ 5 Kausalität und Risikoerhöhung

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Grundsatzfrage, ob die genannte, gewissermaßen durch eine Umkehrung der sog. condicio sine qua non-Formel der Kausalitätsfeststellung bei positivem Tun entstandene Formel zum Unterlassen nur die Feststellung einer "hypothetischen", also nicht realen Kausalität erlaubt oder ob sie ebensowenig (oder ebenso) hypothetisch ist wie die condicio sine qua non-Formel selbst7. 2. Kritik der condicio sine qua non-Formel Soweit der bezeichnete Streitstand freilich von der auf Glaser und v. Buri 8 zurückgehenden sog. condicio sine qua non-Formel der Kausalitätsfeststellung und deren "Umkehrung" beim Unterlassungsdelikt9 bestimmt wird, muß eine kritische Würdigung zunächst an der längst erkannten wissenschaftstheoretischen Unzulänglichkeit dieser Formel ansetzen. Es dürfte mittlerweile der allgemeinen Ansicht entsprechen, daß die condicio sine qua non-Formel (allenfalls) hermeneutischen, nicht aber definitorischen Wert hat, da das Ergebnis, das beim Wegdenken der Bedingung eintritt, nur ermittelt werden kann, wenn vorab gewußt wird, ob die Bedingung kausal ist: Das Definiendum (Kausalität) tritt im Definiens auf; eine derartige Zirkularität ist aber in Definitionen verboten10. Überdies versagt die condicio sine qua non-Formel in Fällen, in denen eine Ersatzbedingung durch eine andere, die den Erfolg zeitlich später oder sogar zeitgleich herbeiführt, verdrängt wird (überholende oder hypothetischen Kausalität), sowie in denjenigen, in denen mehrere gleichzeitig und unabhängig voneinander bestehende Bedingungen den Erfolg vollständig bedingen (sog. kumulative Kausalität)11. Beispiele für diese Fälle sind: Jemand setzt noch unversehrte Teile eines bereits in Brand gesetzten Gebäudes in Brand, die ohnehin später dem Brand zum Opfer gefallen wären12. - Ein Anstaltsarzt erstellt Listen für die Tötung von Geisteskranken im Dritten Reich; hätte sich der Arzt geweigert, wären diese Listen zeitgleich von einem Oberarzt erstellt worden 13. - Mehrere Beteiligte, die nicht Mittäter sind, bringen dem Beraubten gleichermaßen Im ersten Sinne die h.L., vgl. nur Jakobs, Strafrecht, 29/15 ff. u. bereits 7/25 f.; Jescheck, Lehrbuch, S. 560; Maiwald, Kausalität, S. 80 f. u.ö.; je m.w.N.; im zweiten Sinne insbes. Maurach-Gössel, AT 2, § 42 Rdnrn. 45 f. 8 Nachw. b. Jescheck, Lehrbuch, S. 251 in Fn. 12,13. 9 Die insbes. von Engisch (Kausalität, S. 31; ders., Weltbild, S. 135) wissenschaftstheoretisch präzisiert worden ist: Das Unterlassen sei die Negation eines positiven Tuns; werde die Negation weggedacht, so ergebe sich nach dem Grundsatz "duplex negatio est affirmatio" die vollkommene Sinnidentität zwischen Begehens- und Unterlassenskausalität; krit. hierzu Jakobs, Strafrecht, 29/16; Spendet, JZ 1973,137 (139). 10 Vgl. Jakobs, Strafrecht, 7/9 mit umf. Nachw.; grundlegend Engisch, Kausalität, S. 16; ders., Weltbild, S. 130 mit Fn. 288; vgl. weiter Maiwald, Kausalität, S. 57. - Zum Verbot der Zirkularität näher Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie, S. 332 ff. 11 Zu diesen Kausalitätsarten Jescheck, Lehrbuch, S. 253. 12 RGSt 22, 235. 13 BGHSt 1, 321 (330). 10*

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widrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

tödliche Verletzungen bei14. - In den beiden zuerstgenannten Fallgruppen wird allerdings vorgeschlagen, die condicio sine qua non-Formel durch das Verbot des Hinzudenkens von "Reserveursachen" oder (bereitstehenden) "Ersatzbedingungen" einerseits15, durch das das Abstellen auf den Erfolg "in seiner konkreten Gestalt" andererseits zu ergänzen16. Gegen die erste Lösung spricht freilich, daß in jedem Fall (kontrafaktisch) "Ersatzbedingungen" hinzugedacht werden müssen - stirbt z.B. ein Mensch durch einen Messerstich ins Herz, so wird nicht etwa nur der Stich hinweggedacht, sondern hinzugedacht, daß das Herz anderfalls weitergeschlagen und das Opfer weitergelebt hätte17 und die zweite Lösung kann weder angeben, was zum Erfolg "in seiner konkreten Gestalt" gehört18, noch kann sie den Anstaltsärzte-Fall lösen, in dem der wirklich bedingte Erfolg (Listenerstellung zur Tötung der Geisteskranken) sich "in seiner konkreten Gestalt" (abgesehen von der - erst zu prüfenden! - Frage, wer für die Erstellung kausal wurde) überhaupt nicht von dem hypothetischen unterscheidet. Und schließlich vermag die dritte bezeichnete Fallgruppe durch die von Tarnowski begründete korrigierte Fassung der conditio sine qua non-Formel es sei jede mehrerer Bedingungen kausal, welche nur alternativ, nicht aber kumulativ weggedacht werden könnten, ohne daß der Erfolg entfiele - nur unter Preisgabe des Ausgangspunktes gelöst zu werden, wie auch hier die kumulative Ursächlichkeit zuvor feststehen muß19. 3. Lehre von der "Minimalbedingung" Bereits Engisch20 hat hieraus den Schluß gezogen, entscheidend für die Kausalitätsfeststellung dürfe nicht das "hypothetische Eliminationsverfahren" der condicio sine qua non-Formel, sondern müsse die Anwendung eines streng naturwissenschaftlichen, nichtmetaphysischen Ursachenbegriffs 14

Vgl. RGSt 19,141 (145). Grundlegend hierzu Spendet , Kausalitätsformel, S. 34 ff. (bes. 38 und auch 92). 16 So die ganz hj\., vgl. die erschöpfenden Nachw. b. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (870 in Fn. 7). 17 Zutreffend Jakobs , Strafrecht, 7/10. 15

18

Nicht zu überzeugen vermag die Lösung von Engisch , Kausalität, S. 11 (zust. Samson, Hypothetische Kausalverläufe, S. 30), nur zur (tatbestandsmäßigen) Erfolgsverwirklichung gehörende Umstände seien zu berücksichtigen, so etwa, wenn das Opfer auf Grund des Zurufs eines Dritten von dem tödlichen Schlag an der Schläfe statt am Hinterkopf getroffen wird, nicht aber, wenn etwa ein Künstler eine Vase bemalt, die ein Dritter zerschlägt, so daß bemalte Scherben am Boden liegen. Es ist ebenso (unrechts-) relevant, wie die (Tötungs)Handlung beschaffen ist, wie es (unrechts-)relevant ist, wie das Tatobjekt beschaffen ist (die Bemalung könnte z.B. den Wert der Sache wesentlich erhöht haben). - Krit. auch Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (873). 19 Vgl. Jescheck , Lehrbuch, S. 254 m.w.N. 20 Kausalität, S. 17 ff., bes. 21; ders., Weltbild, S. 128 ff.; zust. Jakobs , 7/12 und die heute wohl h.L., vgl. Frisch, Verhalten, S. 521 ff.; Jescheck , Lehrbuch, S. 254; S/S-Lenckner , Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 75; je mit umf. Nachw.

§ 5 Kausalität und Risikoerhöhung

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sein, der jede "gesetzmäßige Bedingung des Erfolges" umfaßt. Hieran trifft im Ausgangspunkt zu, daß ein eigenständiger "geisteswissenschaftlicher" Kausalbegriff im (Straf-)Recht nicht anerkannt werden kann; die Kausalanalyse zur Feststellung der Normwidrigkeit ist eine empirische Analyse wie auch die Feststellung eines normwidrigen Verhaltens eine empirische Feststellung, bezogen auf den Norminhalt, ist - und kann nur nach den in den (Natur-)Wissenschaften und in der Wissenschaftstheorie anerkannten Grundsätzen erfolgen 21. Hier ist aber eine - höchst fruchtbare - Theorie der kausalen Erklärung, das Hempel-Oppenheim-Schema (HO-Schema oder deduktiv-nomologisches Erklärungsschema), vorgelegt worden 22. Nach dem HO-Schema wird ein Ereignis (das sog. Explanandum) dadurch kausal erklärt, daß es aus Antecedensbedingungen mit der Hilfe eines (Natur- und Kausal-)Gesetzes logisch abgeleitet werden kann. Skizzenhaft dargestellt: Antecedensbedingungen a 1 bis a n . (Natur- und Kausal-)Gesetz: Immer wenn a 1 bis a n , dann e. Explanandum e. Bemerkenswert ist zum einen, daß es im HO-Schema um eine (nur) logische Schlußfolgerung geht; es sind also metaphysische und ontologische Annahmen über Realgründe ("causae efficientes"), wirklich wirkende Kräfte etc. aus diesem Modell verbannt23. Des weiteren ist zu beachten, daß das HO-Schema zur (kausalen) Erklärung eines wirklichen, durch einen wahren Satz beschriebenen Ereignisses voraussetzt, daß die Antecedensbedingungen wirklich und durch wahre Sätze beschrieben sind. Damit lassen sich zunächst die oben genannte Fallgruppe der hypothetischen Kausalität zwanglos lösen: In diesen Fällen ist es nicht wahr, daß die hypothetischen Ersatzbedingungen der Fall sind (z.B. der Oberarzt die Listen erstellt hat); deshalb kann der Erfolg (z.B. die Listenerstellung und die hierdurch bedingte Tötung der Geisteskranken) auch nicht hierdurch erklärt werden. Nichts anderes gilt aber für die Fallgruppe der überholenden Kausalität: 21

A.A. freilich LG Aachen JZ1971,507 (510). Hierzu Koch/Rüßmann , Begründungslehre, S. 283 f.; Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie, S. 354 ff.; je m.w.N. - Eine eingehende Darstellung der neueren Kausalitätslehren findet sich b. Maiwald , Kausalität, S. 51 ff, der (aaO. S. 66 ff.) Kritik an dem Erklärungsmodell übt. Soweit diese Kritik freilich darauf beruht, es handele sich um ein spezifisch naturwissenschaftliches Erklärungsmodell, das nicht ohne weiteres im (Straf-)Recht zu verwenden sei, ist die Kritik zurückzuweisen, s. zuvor im Text b. Fn. 21. 22

23

Wenngleich diese Annahmen wiederum bei der Abgrenzung von Natur- und Kausalgesetzen von anderen (deterministischen) Zusammenhängen, insbesondere von Vernunftgründen, eine Rolle spielen; hierzu Koch/Rüßmann , Begründungslehre, S. 284 m.w.N. Wenn z.B. ein Orkan immer dann eintritt, wenn das Barometer abrupt auf 800 mbar fällt, so ist das Fallen des Barometers zwar ein (Vernunft-)Grund, einen Orkan zu erwarten, aber keine kausale Erklärung. Hieraus ergibt sich, daß deduktiv-nomologische Erklärungen geschehener Ereignisse und Voraussagen (Prognosen) nicht gleiche Strukturen haben, Stegmüller , Erklärung, S. 153 ff. gegen Hempel , Erklärung, S. 34 ff. - Zur Kritik Kahlos an diesem Verständnis der Kausalität als "Denkform" s. noch unten Fn. 68.

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widrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Wird bedacht, daß Kausalgesetze "Nahwirkungsgesetze" sind, welche räumlich-zeitliche Zwischenwirkungen beschreiben, so fehlen zwischen der "überholten" Bedingung und dem Erfolg die bezeichneten Zwischenwirkungen. Stürzt beispielsweise ein Haus, in dem eine scharfe Bombe gelegt worden ist, aufgrund eines Erdbebens ein, bevor die Bombe explodiert, so fehlt für die Erklärung des Hauseinsturzes durch das Legen der Bombe die Tatsache der Explosion24. Es ist Puppe25 und Kindhäuser26 zu danken, auf der Grundlage des HOSchemas ein neues und wissenschaftstheoretisch tragfähiges Modell des Kausalanalyse im Strafrecht entwickelt zu haben, das als Präzisierung der Lehre von dem kausalen als dem "gesetzmäßigen bedingenden" Ereignis verstanden werden kann. Das "gesetzmäßig bedingende" Ereignis kann hiernach nicht als eine - logisch gesprochen - notwendige und hinreichende Bedingung des zu erklärenden Erfolges angesehen werden27. Eine Ursache braucht nämlich keineswegs eine (generell) notwendige Bedingung zu sein, d.h. eine solche, bei deren Wegfall das zu erklärende Ereignis nie eintritt. Beispielsweise ist eine Brandstiftungshandlung keine generell notwendige Bedingung dafür, daß ein Gebäude in Brand gerät; dies kann auch durch Kurzschluß, Selbstentzündung bestimmter Materialien usw. geschehen. Andererseits braucht eine Ursache auch keine (generell) hinreichende Bedingung zu sein, d.h. eine solche, bei deren Vorliegen das zu erklärende Ereignis immer eintritt. Beispielsweise kann eine Brandstiftungshandlung nur dann zu einem Gebäudebrand führen, wenn genügend brennbares Material in der Nähe des Brandherdes liegt, keine Sprinkleranlage installiert ist usw. Vielmehr muß die Ursache der im Einzelfall notwendige Teil einer hinreichenden Minimalbedingung sein28. Unter "Minimalbedingung" wird hierbei die Gesamtheit derjenigen Umstände verstanden, die - positiv oder negativ formuliert - jedenfalls ("minimal") hinreichend sind, um den Erfolg zu bedingen. Die Umstände, welche die Minimalbedingung ausmachen, können mit Kindhäuser29 als das "kausale Feld" bezeichnet werden. Das Konzept der Minimalbedingung kann nun zunächst dazu dienen, die Fallgruppe der kumulativen Kausalität zwanglos zu lösen. Schießt A dem O ins Herz und zeitgleich B ins Gehirn, so stellen beide Verhaltensweisen notwendige Teile einer (jeweils verschiedenen) hinreichenden Minimalbedingung für den Tod des O dar; es liegen also zwei Ursachen vor 30. Des 24

Zu diesem Aspekt Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (888 ff.). ZStW 92 (1980), 863 ff. 26 Gefährdung, S. 83 ff. 27 Ebenso Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (864 ff.); Kindhäuser, Gefährdung, S. 86. 28 So die bekannte "INUS"-Definition der Ursache b. Macfäe, Cement, S. 62: Eine Ursache ist "an insufficient but non-redundant part of an wnnecessary but sufficient condition"; vgl. Kindhäuser, Gefahrdung, S. 87 m.w.N. 29 Gefährdung, S. 85. 30 Eingehend Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (876 ff.). 25

§ 5 Kausalität und Risikoerhöhung

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weiteren ist für die Bestimmung des "kausalen Feldes" für die Minimalbedingung zu beachten, daß dieses Feld zwar potentiell alle kausalrelevanten Tatsachen des Antecedens-Weltzustandes enthält (und zwar: positiv wie negativ beschriebene31), daß seine Eingrenzung jedoch pragmatisch bestimmt ist32. Erklärt beispielsweise ein Sachverständiger einen Gebäudebrand dadurch, daß die Luft Sauerstoff enthält, so wäre dies zwar eine zutreffende, aber weder für das Strafgericht noch etwa für eine Feuerversicherung pragmatisch annehmbare Erklärung. Im Strafrecht interessieren also erstens nur solche Bedingungen als Ursachen, die menschliches Verhalten betreffen. Des weiteren interessieren - wie bereits gezeigt33 - nur solche Bedingungen, die mit dem als Zustandsveränderung gefaßten Erfolg in einem Zusammenhang stehen: So ist der Maler, der eine von einem Dritten zu Boden geworfene Vase bemalt hat, zwar kausal für den Erfolg "in seiner konkreten Gestalt" des Endergebnisses, daß nämlich bemalte Scherben auf dem Boden liegen, nicht aber für den Sachbeschädigungserfolg verstanden als Übergang von einer unversehrten zu einer zerstörten Vase . Des weiteren interessiert der Ort des Erfolgseintritts für dessen Erklärung als Zustandsveränderung (anders als die Zeit) nicht: Lenkt ein Weichensteller, aus welchem Grund auch immer, einen Zug, den er nicht mehr aufhalten kann, auf das verschüttete rechte Gleis, ist aber zugleich das linke Gleis verschüttet, so ist das Umlenken zwar für den Erfolg des Eisenbahnunglücks "in seiner konkreten Gestalt" am Ort des rechten Gleises kausal; dies ist aber pragmatisch - vorbehaltlich von Notstandserwägungen! - ohne Bedeutung . Schließlich lassen sich die Fälle der Erfolgsintensivierung bzw. -Verringerung durch eine geeignete quantitative Bestimmung des Erfolges lösen, ohne daß es einer eigenen Stufe der objektiven Zurechnung bedürfte: Ein Teilerfolg, der ohne Zutun des Täters eingetreten wäre, ist aus der Kausalanalyse zu eliminieren 36. 4. Das Problem "unvollständiger" Kausalgesetze Ein gewichtiges Problem der Kausalanalyse nach dem entwickelten Modell ist allerdings dasjenige der "unvollständigen" Kausalgesetze, also solcher, bei denen die Antecedensbedingungen (a 1 bis a ) nicht vollständig bekannt sind37. Die Problematik kann mit Bezug auf die unechten Unterlas31

32

Hierzu sogleich unten § 5 II 1.

Näher Kindhäuser, Gefährdung, S. 85 m.w.N. 33 S. oben § 1IV 2. 34

3 5 So löst

sich das oben Fn. 18 angeführte Beispiel von Engisch zwanglos. Das (alte) Beispiel findet sich b. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (bes. 881 f.). Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (883 ff., bes. 886) mit umf. Nachw. 37 Hierzu eingehend Hempel , Erklärung, S. 128 ff.; JGeine-Cosack, Kausalitätsprobleme, S. 21 ff.; Stegmüller , Erklärung, S. 105 ff. u. 434 ff.; s. auch Schulz, in: Lackner-FS, S. 39 (41 f.). Die Unvollständigkeit von Kausalgesetzen ist für die strafrechtliche Praxis, insbesondere im medizinischen Bereich, die Regel. 36

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widrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

sungsdelikte an dem der Entscheidung BGHSt 37, 106 zugrundeliegenden Sachverhalt verdeutlicht werden: Hier hatten die Verantwortlichen eines Unternehmens, das Ledersprays herstellte, es unterlassen, diese zurückzurufen, obwohl nach Auslieferung zahlreiche Berichte über z.T. lebensbedrohende allergische Zustände bei Benutzung der Sprays eingingen. Es konnte zwar festgestellt werden, daß die allergischen Zustände der Betroffenen stets in einem engen zeitlich-räumlichen Zusammenhang mit der Benutzung des Sprays standen und sonst nicht auftraten. Jedoch konnte nicht geklärt werden, welcher konkrete Inhaltsstoff der Sprays nun auf welcher konkreten physiologischen Grundlage zu den allergischen Reaktionen geführt hatten. Theoretisch formuliert fehlt es in derartigen Fällen an einem "vollständigen" Kausalgesetz, da die Randbedingungen, welche den Erfolg bedingen, nicht vollständig bekannt sind. Besonders deutlich zeigt sich diese theoretische Problematik, wenn die These von der Strukturgleichheit von kausaler Erklärung und Prognose38 für zutreffend erachtet wird: Da nicht bekannt ist, welche physiologischen Strukturen vorliegen müssen, damit ein Mensch auf die Sprays allergisch reagiert, kann nicht vorhergesagt werden, ob ein beliebiger Mensch, der das Spray benutzt, allergisch reagieren wird. Ein derartiger Einwand verkennt aber den pragmatischen Kontext der Kausalanalyse: Es geht nicht darum zu erklären (oder vorherzusagen), ob irgendein Mensch auf die Sprays allergisch reagiert, sondern darum, ob gerade der Betroffene wegen des Sprays allergisch reagiert hat. Hierfür kann die physiologische Struktur des Betroffenen als gegeben vorausgesetzt werden. Das - etwa auch im Contergan-Fall39 aufgetretene - Problem ist allein, ob für das postulierte unvollständige Kausalgesetz - hier etwa: "Immer dann, wenn das Spray von dem Betroffenen benutzt wird, bedingt es - ggf. im Zusammenhang mit anderen, nicht bekannten, aber beim Betroffenen gegebenen physiologischen Faktoren - allergische Reaktionen" - irrelevante Randbedingungen, die zu einem anderen möglichen Kausalgesetz gehören, ausgeschieden werden können40. Mit anderen Worten müssen die Randbedingungen, die - wenn auch unvollständig - angegeben werden können, einen solchen Konkretisierungsgrad erreichen, daß sie sich von Randbedingungen, die einem anderen möglichen Kausalgesetz angehören, hinreichend (und feststellbar!) unterscheiden41. In den Fällen, in denen dies nicht möglich ist (freilich nur in diesen Fällen!), läßt sich eine kausale Erklärung des Einzelfalls nicht leisten. Hier könnte nur die Risikoerhöhungslehre als kausalitätsersetzendes Kriterium weiterhelfen 42.

38 39

40

Krit. hierzu aber oben Fn. 23. LG Aachen JZ1971,507 ff.; hierzu noch unten in Fn. 57.

Es ist also grundsätzlich möglich, auch mit einem unvollständigen Kausalgesetz kausal zu erklären; vgl. die oben Fn. 37 Genannten. 41 Treffend Kleine-Cosack, Kausalitätsprobleme, S. 33 f. 42 Hierzu sogleich unten § 5 III.

§ 5 Kausalität und Risikoerhöhung

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Nach diesem Maßstab ist aber der "Lederspray-Fall", in welchem die Kausalität bejaht wurde 43, zutreffend entschieden worden. In der nicht zu beanstandenden Beweisaufnahme ergab sich nämlich, daß ein Kausalgesetz, das andere Randbedingungen als die Verwendung der Ledersprays durch die Betroffenen voraussetzte, auch nicht im Ansatz in Betracht kam44. Zwar war das der Entscheidung zugrundegelegte Kausalgesetz unvollständig, da es weder die Randbedingungen vollständig erfaßte noch alle Zwischen- und Einzelglieder der Kausalkette nannte; entgegen Brammsen45 änderte dies aber nichts daran, daß ein - wenn auch unvollständiges - Kausalgesetz formuliert werden konnte46. 5. Kausalität und Alternative Nach dem HO-Schema und nach dem Konzept der hinreichenden Minimalbedingung kommt es für die Kausalerklärung nicht darauf an, ob zu den Antecedensbedingungen eine Alternative bestand47; es ist ausschließlich erforderlich, daß die die Antecedensbedingungen enthaltenden Aussagen wahr sind bzw. die Antecedensbedingungen der Fall gewesen sind. Die empirische Frage der Kausalerklärung - dogmatisch gesprochen: der Feststellung der Normwidrigkeit bzw. Tatbestandsmäßigkeit - ist unabhängig von der Frage zu beantworten, ob ein kausales Verhalten auch - wegen Nichtwahrnehmung einer möglichen Verhaltensalternative - als Pflichtverletzung zurechenbar ist. Gerade für die Kausalität des Unterlassens läßt sich mithin festhalten, daß die (abstrakt-generelle oder konkret-individuelle) Möglichkeit der Erfolgsabwendung entgegen der h.L. kein Kausalitätskriterium sein kann. Kausalität ist mithin keine Zurechnungsfrage, und schon deshalb ist eine Ersetzung oder Ergänzung der Kausalitätsfeststellung durch eine objektive Zurechnung jedenfalls terminologisch mißverständlich48. Dies bedeutet freilich nicht, daß die sachlichen Anliegen der Lehre von der objektiven Zu43

44

Vgl. hierzu BGHSt 37,106 (111 ff.).

Natürlich sind solche Kausalgesetze stets theoretisch möglich, womöglich beim derzeitigen Stand der Wissenschaft nur nicht bekannt. Bei einer auf die pragmatisch zu bestimmende richterliche Überzeugung abstellenden Wahrheitsfindung im Prozeß sind solche Möglichkeiten4aber unbeachtlich, s. noch unten Fn. 57. 5 Jura 1991,533 (535). 46 Wäre die Forderung Armin Kaufmanns (JZ 1971, 569 ), es müsse stets ein generelles Kausalgesetz angegeben werden können, so zu verstehen, es müsse stets ein vollständiges Gesetz gegeben sein, wäre dies nicht zutreffend. 47

A A . insbes. Rödig, Alternative, S. 123 ff.; ders ., Schriften, S. 83; wie hier aber Kindhäuser , Gefährdung, S. 83. - Das Abstellen auf die Alternative widerspricht bereits alltäglichen Kausalvorstellungen: Warum sollte verneint werden, daß ein Museumsbesucher, der durch einen (unvermeidlichen) Krampf eine brennende Zigarette verliert, den hierdurch ausgelösten Brand verursacht hat (Bsp. nach Rödig, aaO.)? 48 S. bereits oben § 2 I 3.

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rechnung verfehlt sind. Teilweise decken sich diese Anliegen mit den Problemen, welche durch die (pragmatische) Eingrenzung des "kausalen Feldes" aufgeworfen werden. Soweit allerdings darüber hinaus Fragen der "Adäquanz", des "erlaubten Risikos", des "Vertrauensgrundsatzes" und der "Risikoverwirklichung" in die "objektive Zurechnung" einbezogen werden49, bleibt festzuhalten, daß es sich ausschließlich um - teleologisch jenseits des Rechtsgüterschutzes angesiedelte und noch zu behandelnde50 - Fragen der Zurechnung erster Stufe als Pflichtwidrigkeit, nicht der Normwidrigkeit und (objektiven) Tatbestandsmäßigkeit handelt. 6. Kausalgesetz und Norm Aus dogmatischer Sicht wirft schließlich das hier vorgelegte Modell der kausalen Erklärung durch gesetzmäßige Bedingungen die Frage auf, welche Rolle die Natur- und Kausalgesetze bei der Tatbestands- und Normbildung spielen. Bekanntlich hat Armin Kaufmann hierzu vertreten, es integriere das "Tatbestandsmerkmal 'Verursachung'... die Vielzahl der Kausalgesetze, und mit dem Tatbestandsmerkmal gehen auch die Kausalgesetze ein in die Rechtsnorm, die das Kausalitätsmerkmal enthält. Um im altbewährten Subsumtionsschema zu bleiben: Die Kausalgesetze gehören mit zu dem Obersatz, unter den der Sachverhalt - Merkmal für Merkmal - zu subsumieren ist"51. Zur Rechtsnorm gehöre also die "generelle" Kausalität; nur diejenige im konkreten Fall - die "konkrete" Kausalität - sei bloße Normanwendung. Daher sei nur diese, nicht aber jene der freien richterlichen Überzeugungsbildung zugänglich. Maiwald52 hat hiergegen eingewendet, daß es unter der Voraussetzung, daß das Kausalgesetz zur Rechtsnorm gehört, bereits nicht einzusehen sei, warum - was auch Armin Kaufmann nicht bestreitet - hierüber Beweis erhoben werden dürfe und der Grundsatz "iura novit curia" nicht gelte. Tiefergehend sei die Feststellung der Kausalität Feststellung einer Wirklichkeitsstruktur, auf die sich die Rechtsnorm beziehe, die aber nicht deren Bestandteil sei: Die Wirklichkeitsstruktur werde vom Rechtssatz vorgefunden, sei aber nicht deren Bestandteil. Genauer gesagt ist das Kausalgesetz allerdings nicht in dem Sinne "Wirklichkeitsstruktur" wie es z.B. ein Mensch als in § 212 benanntes Tatopfer, sondern Teil eines Urteils über die Wirklichkeitsstruktur, nämlich des Kausalitätsurteils. Dies ändert aber nichts an der zutreffenden Aussage Maiwalds, daß das Kausalgesetz als solches nicht Teil der Rechtsnorm ist . 49

Vgl. nur die zusammenfassende Darstellung b. Jakobs , Strafrecht, S. 7/29 ff. mit umf. Nachw. 50 S. unten § 6. 51 Armin Kaufmann , JZ 1971, 569 (574). 52 Kausalität, S. 107 f. 53 Ähnlich Frisch , Verhalten, S. 524 m.w.N.

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Gleichwohl ist das Anliegen Armin Kaufmanns - nämlich die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Kausalgesetzes der freien richterlichen Beweiswürdigung zu entziehen - verständlich. Unabhängig von der Frage, wie Kausalgesetze überhaupt theoretisch nachzuweisen sind54, gilt nämlich nach allgemeiner Auffassung, daß "gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse" vom Richter ohne weiteres zugrundezulegen sind55, daß hier also nur die Frage, ob es sich um "gesicherte" Erkenntnisse handelt, der richterlichen Überzeugungsbildung zugänglich ist56. Es ist nun freilich problematisch, ob die Umkehrung dieses Satzes, also die These, bei einem ernsthaften Streit in der Naturwissenschaft über das Bestehen eines Naturund Kausalgesetzes sei der Zweifel hieran bindend zugrundezulegen und mithin nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" freizusprechen, gilt: Hier gibt es gerade keine "gesicherte" naturwissenschaftliche Erkenntnis, so daß der Umkehrschluß denkmöglich ist, die richterliche Überzeugungsbildung sei in diesen Fällen gerade erforderlich. Allerdings spricht vieles dafür, nach der Teleologie der freien Beweiswürdigung und des in dubio-Grundsatzes auch hier eine negative Bindung anzunehmen57.

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Hierzu Goodman , Tatsache, S. 81 ff.; Stegmüller , Erklärung, S. 366 ff. S. nur Maiwald, Kausalität, S. 100 mit umf. Nachw. in Fn. 35. Ähnlich verlangt die Rspr. bei der Würdigung von Sachverständigengutachten, der Richter müsse sich eine eigene Überzeugung bilden und dürfe dem Gutachten nicht "blindlings" folgen, vgl. BGHSt 7, 238; 8, 113 (118). Soweit dies teilweise als Widerspruch zur Bindung an naturwissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse angesehen wird - so insbes. Maiwald , Kausalität, S. 103; Spendet , JuS 1964, 465 (469 f.); je m.w.N. -, läßt sich der Widerspruch ausräumen, wenn die Würdigung des Gutachtens - sinnvollerweise! - auf dessen Seriosität und Widerspruchslosigkeit bezogen wird. 57 So LG Frankfurt NStZ 1990, 592 (594); Kleine-Cosack , Kausalität, S. 50 ff.; Maiwald , Kausalität, S. 108 f. - Die Beantwortung dieser (strafprozessualen) Frage sprengt den inhaltlichen Rahmen der vorliegenden Untersuchung; hier nur so viel: Ebenso wie "nur" theoretische, also pragmatisch nicht ins Gewicht fallende Zweifel die Anwendung des in dubio-Grundsatzes nicht rechtfertigen, verletzt das Übergehen von "praktischen", also pragmatisch ins Gewicht fallenden Zweifeln diesen Grundsatz. Ein ernsthafter Streit in der Fachwelt über das Bestehen des in Frage stehenden Kausalgesetzes dürfte - schon wegen des Willkürverbots - stets "praktisch" sein; einer anderen Entscheidung dürfte stets der Makel der persönlichen Beliebigkeit anhaften. Speziell im Contergan-Verfahren (LG Aachen JZ 1971, 507) war freilich letztlich umstritten, ob der Kausalitätsnachweis naturwissenschaftlich korrekt gesichert sei oder nicht, ob also hierüber ein ernsthafter Meinungsstreit bestand. Hier war - nach dem oben bei Fn. 56 Gesagten - in der Tat die Möglichkeit derrichterlichen Beweiswürdigung eröffnet; zweifelnd aber Maiwald , Kausalität, S. 109 f. 55

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IL " Negative Bedingungen " und Kausalität des Unterlassens Pflichtwidrigkeitsund Schutzzweckzusammenhang 1. Negative Bedingungen Das kausale Feld, welches die hinreichende Minimalbedingung ausmacht, wird nicht nur über positive, sondern auch über negative Bedingungen definiert 58. Die Notwendigkeit der Einführung solcher negativer Bedingungen läßt sich an der Konstellation störender Bedingungen zeigen: Wenn z.B. A einen Ball in Richtung einer Fensterscheibe schießt, der Ball von einem in der Flugbahn liegenden Verkehrsschild abprallt und in demselben Moment, in dem der Ball die Scheibe zerbrochen hätte, ein Betrunkener die Scheibe zerschlägt, so ließe sich der Erfolg - unrichtigerweise! - dann kausal durch das Naturgesetz erklären, daß ein in bestimmter Weise getretener Ball eine Fensterscheibe zerstört, wenn nicht die negative Bedingung hinzugenommen wird, daß sich in der Flugbahn keine Hindernisse befinden 59. Allgemein gesprochen kann ein Erfolg überhaupt nur durch das Zusammenwirken zwischen positiven und negativen Bedingungen erklärt werden. Daher können auch negative Bedingungen - d.h. negativ beschriebene Tatsachen - notwendige Bestandteile einer hinreichenden Mindestbedingung und damit Ursachen sein60. Dies entspricht alltäglichen Kausalvorstellungen: Befindet sich eine Pflanze unter einem Gestrüpp und wächst nicht, während eine freistehende Pflanze derselben Art gut wächst, so kann das schlechte Wachstum der ersten Pflanze ebensogut durch die positive Bedingung, daß sie durch ein Gestrüpp verdeckt wird, erklärt werden wie das gute Wachstum der zweiten Pflanze durch die negative Bedingung, daß sie nicht durch ein Gestrüpp verdeckt wird; beiden Erklärungen liegt das Kausalgesetz zugrunde, daß eine Pflanze nur dann gut wächst, wenn sie genügend Licht hat61. Es geht bei der Erklärung durch negativ beschriebene Tatsachen mithin keineswegs um eine hypothetisches Räsonnieren, sondern um eine Erklärung durch Fakten: Daß z.B. eine Pflanze nicht durch ein Gestrüpp verdeckt wird - daß das Gestrüpp nicht "wirklich" ist -, ändert nichts an der Wahrheit der (negierten) Aussage, die Pflanze sei nicht verdeckt62; hypothetisch (besser: konditional) formuliert ist nur das Naturgesetz. Kurzum: Negativ beschriebene Tatsachen erklären einen Erfolg so gut - und so "real" 58

Vgl. Kindhäuser , Gefährdung, S. 87 ff.; Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (895 ff.). Beispiel nach Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (898 f.). 60 Ebenso Engisch, Kausalität, S. 27 ff.; Spendet, JZ 1973,137 (138 f.). 61 Beispiel nach Kindhäuser, Gefährdung, S. 87 f. 62 Allgemeiner ausgedrückt: Die Nichtexistenz eines Gegenstandes ändert nichts an der Wahrheit einer negierten Existenzbehauptung; so ist die Nichtexistenz von Einhörnern geradezu Wahrheitsbedingung für den Satz "Einhörner gibt es nicht". Entsprechendes gilt für die Wahrheit von negierten Konditionalsätzen. 59

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wie positiv beschriebene. Insbesondere können auch geltende Kausal- und Naturgesetze mit negativen Bedingungen formuliert werden63. Gegen diese Einsicht kann nicht eingewendet werden, daß zur "vollständigen" kausalen Erklärung eines Erfolges dann Myriaden von negativen Bedingungen erforderlich sind. Zum einen schließt bereits jede in die Kausalerklärung eingefügte Position eine Unzahl anderer Positionen aus, deren Negationen wiederum wahr sind, die aber nicht eigens angeführt werden müssen64: Hat A auf B geschossen und diesen tödlich getroffen, so bedarf es nicht der Feststellung, daß A nicht etwas anderes - was auch immer getan hat oder daß B nicht krank - oder was auch immer - geworden wäre. Des weiteren sind wegen der wie dargelegt65 pragmatisch vorzunehmenden Begrenzung des kausalen Feldes eine Unzahl von Negationen irrelevant 66: Daß irgendwelche andere Personen nicht auf B geschossen haben, ist für die Erklärung des Todes des B jedenfalls dann irrelevant, wenn diese Personen in keinem Zusammenhang mit der Tat standen. 2. Unterlassen als negative Bedingung Hiernach löst sich auch die eingangs67 dargestellte Streitfrage, ob die Kausalität des Unterlassens eine "reale" oder eine bloß "hypothetische", in Wahrheit aber fehlende sei, zwanglos - und gegen die h.L. - im Sinne der zuerstgenannten Antwort. Das Unterlassen kann als negative Bedingung als negativ beschriebene Tatsache, nämlich als Negation eines Tuns - verstanden werden; die ein Unterlassen beschreibende Aussage ist eine wahre (und keine bloß hypothetische!) Aussage zu den Antecendensbedingungen. Die "metaphyische" Verneinung der Frage, ob bei der Kausalität negative Bedingungen vorkommen können - etwa nach dem Topos "ex nihilo nihil fit" oder in der Vorstellung, Ursachen seien Kräfte oder Agentien -, trägt für die kausale Erklärung eines Erfolges nach hinreichenden Mindestbedingungen nichts bei; ihr liegt - methodisch gesprochen - die Verwechslung zwischen der Negation und deren Gegenstand, dem Negat, zugrunde68. 63 Es werde nur an das Gesetz der Massenträgheit gedacht: Wenn auf eine Masse keine Kraft einwirkt, so bleibt deren Bewegungszustand gleich. 64 Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (894). ^S.o.SSlS. 66 S. Kindhäuser , Gefährdung, S. 88. 67 S. oben § 5 11. m.w.N. 68 A A . aber die h.L.; vgl. oben Fn. 7. - Daß insbes. Jakobs , aaO., 7/25 f. u. 29/15 ff. an einem "ontologischen" Kausalitätsmodell festhält, überrascht, da Jakobs selbst bemerkt, der Streit um die Kausalität des Unterlassens lehre, "wie schwer dem Strafrecht die Abnabelung von naturalistischen Kategorien fällt" (29/15); s. aber 29/19 a.E.: "die Lage selbst, in der eine hypothetische Rettung gelungen wäre, ist... wirklich". Normen- und handlungstheoretisch unklar ist andererseits die Konzeption von E. A. Wolff\ Kausalität, S. 33 ff., auch 55, der als "Ereignis" im Sinne eines wirklich Vorhandenen auf der Grundlage eines sozialen Handlungsbegriffs jede Abweichung vom erlaubten Verhalten -

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Das Unterlassen ist für einen Erfolg mithin genau dann kausal, wenn es notwendiger Teil einer hinreichenden Minimalbedingung für den Erfolg ist, und das heißt: wenn das Kausal- und Naturgesetz gilt, daß das Unterlassen den Erfolg herbeigeführt oder umgekehrt: daß das Tun den Erfolg verhindert hätte . Ist der tatbestandsmäßige Erfolg eingetreten, so verhält sich mithin derjenige gebotswidrig, der nicht das getan hat, was kausal für das Nichteintreten des Erfolges geworden wäre 7. Diese Kausalanalyse unterscheidet sich strukturell nicht von derjenigen, die auch bei der Verursachung durch Tun vorgenommen wird 71. Insbesondere ist es hier wie dort unerheblich, ob der Täter die erfolgsabwendende Verhaltensalternative hätte wahrnehmen können72. Allerdings hat Puppe73 auf ein Problem hingewiesen, welches bei einer unbesehenen Übertragung des Konzepts der hinreichenden Mindestbedingung auf negative Bedingungen (und damit Unterlassungen) besteht: Beispielsweise setzt der Vater, der es versäumt, einen Arzt zu seinem plötzlich erkrankten Kind zu rufen, eine hinreichende Bedingung für den Tod des Kindes, auch wenn das Kind in jedem Fall gestorben oder ein Arzt nicht rechtzeitig erreichbar gewesen wäre usw. Es ist freilich daran zu erinnern, gleichsam vom "Nullpunkt" des strafrechtlich relevanten Verhaltens - ansieht, und deshalb die "wirkliche" Kausalität des Unterlassens bejaht; zutr. krit. Jakobs , Strafrecht, 29/16 m.w.N. Gegen das hier zugrundegelegte Verständnis der Kausalität als "Denkform" hat sich neuerdings mit beachtlichen - auf Kant rekurrierenden - Argumenten Kahlo t Problem, S. 308 ff. gewendet: "Daß man zwei Wirklichkeiten ... gedanklich miteinander verbinden kann, erweist nämlich noch nicht, daß beide wirklich so miteinander zusammenhängen, daß man die eine als realen Grund der anderen verstehen kann ..." (S. 311). Es geht aber nicht um eine irgend gedankliche Verbindung, sondern um eine mittels eines (negativ formulierten) Kausalgesetzes. 69 Diese Umkehrbarkeit ergibt sich implizit schon aus dem Konzept der INUS-Ursache (s. oben Fn. 28): Wenn eine Ursache eine im Einzelfall notwendige und hinreichende Bedingung ist, dann gilt, daß ohne sie der Erfolg nicht eingetreten wäre. Rechtstheoretisch präzisiert bedeutet dies, daß jedes Kausalurteil auf dem irrealen Konditionalsatz beruht, daß der Erfolg nicht eingetretenen wäre, wenn etwas getan oder unterlassen worden wäre. Dieser - offensichtlich der oben kritisierten condicio sine qua non-Formel entsprechende - Satz ist freilich, wie jeder irreale Konditionalsatz, nicht wahrheitsfähig, da Antecedens und Konsequens als tatsachenwiderstreitend und damit als falsch angesehen werden (ex falso sequitur quodlibet!); näher Kindhäuser , Gefährdung, S. 86 m.w.N. 70 Teilweise abweichend Kindhäuser , Handlung, S. 207 f., nach welchem die Erfolgszuschreibung bei den Unterlassungsdelikten auf zwei Ebenen vorzunehmen sei: erstens Zuschreibung einer Zulassungshandlung mit einem faktischen Ereignis als Handlungsresultat und zweitens Zuschreibung einer Unterlassungshandlung mit einer faktischen Handlung, der Zulassungshandlung, als Handlungsergebnis. Hierzu ist zu bemerken, daß die Kausalanalyse (nur) die erste Ebene betrifft. Auf der zweiten Ebene stellen sich keine Kausalfragen, aber entgegen Kindhäuser - auch keine Erwartungsfragen: Es wird bei der Kausalanalyse schlicht gefragt, ob irgendein Zulassungsverhalten angebbar ist. 71 Zutr. Maurach-Gössel , AT 2, § 46 Rdnrn. 15 f. (freilich mit der dem hypothetischen Eliminationsverfahren - sc. der condicio sine qua non-Formel - verpflichteten Bemerkung, die Kausalitätsfeststellung geschehe stets - beim Tun wie beim Unterlassen - im Wege eines "hypothetischen Denkverfahrens"). S. oben § 5 15. 73 ZStW 92 (1980), 863 (900 f.).

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daß mit Mindestbedingung eine Bedingung gemeint ist, die jedenfalls ("minimal") im konkreten Fall hinreicht, den Erfolg zu bedingen. Während dies bei positiv formulierten Bedingungszusammenhängen bedeutet, daß möglichst wenige (pragmatisch bedeutsame) Umstände angegeben werden, bedeutet es bei negativ formulierten Bedingungszusammenhängen, daß möglichst viele (pragmatisch bedeutsame) Umstände zu berücksichtigen sind, also auch, ob das Kind zu retten gewesen oder ein Arzt rechtzeitig erreichbar gewesen wäre usw. Weiterhin ist zu beachten, ob dem Garanten oblegen hätte, für derartige Umstände zu sorgen; diese müssen für die Kausalanalyse unterstellt werden74. Hat beispielsweise ein Vater mit einem schwerkranken Kind einen Ausflug unternommen und obliegenheitswidrig nicht dafür gesorgt, daß medizinische Hilfe jederzeit erreichbar ist, so bleibt das Unterlassen des Herbeirufens eines Arztes auch dann für den Tod kausal, wenn während des Ausflugs kein Arzt herbeigerufen werden kann. Wenn nach diesem Maßstab aber keine Verhaltensweise angegeben werden kann, die den Erfolg kausal verhindert hätte, so hat sich der Täter nicht norm-(gebots-)widrig verhalten. Umgekehrt verhält sich normgemäß, wer durch ein Tun den Erfolg kausal verhindert; dies gilt auch, wenn der Täter andere - u.U. besser zur Erfolgsabwendung geeignete - Rettungstätigkeiten unterlassen hat75. Problematisch ist auch der Umfang, in welchem hypothetische Reserveursachen berücksichtigt werden dürfen. Das Schulbeispiel für diese Konstellation ist dasjenige, daß ein Bauherr eine Grube nicht mit Lampen sichert, weshalb ein Passant in die Grube fällt und sich hierbei verletzt. Die Lampen wären aber (möglicherweise oder mit Sicherheit) vor dem Unfall von einem lauernden Dieb gestohlen worden (was der Bauherr nicht hätte erkennen und vermeiden können). Im Bereich der strafrechtlichen Produkthaftung ist die Frage neuerdings in der Konstellation praktisch geworden, daß mehrere gemeinsam Verantwortliche und Entscheidungsbefugte ohne gemeinsame Abstimmung den Rückruf eines gefährlichen Produkts unterlassen, jedoch jeder einzelne einwendet, bei Herbeiführung einer Abstimmung wäre beschlossen worden, den Rückruf nicht vorzunehmen76. Die wohl hA. geht in derartigen Fällen vom "wirklichen" Geschehen aus, berücksichtigt also hypothetische Reserveursachen nicht77. Dies trifft zu, da nach allgemeinen 74

Ebenso für die Sonderfrage der kumulativen Unterlassungskausalität Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (907); vgl. noch unten § 9 II 2. 75 Das Urteil der /Vomiwidrigkeit ist bei den Erfolgsabwendungsgeboten also eindeutig entscheidbar, auch wenn mehrere Verhaltensweisen möglich sind, die den Erfolg abgewendet hätten: Es genügt, daß der Täter irgendeine dieser Verhaltensweisen nicht getan hat (und deshalb der Erfolg eingetreten ist). - Zu den Folgeproblemen bei der Pflichtwidrigkeit - v.a. bei der Versuchsstrafbarkeit - s. unten §§ 6 I, 7 II. 76 BGHSt 37,106 (131); hierzu noch unten § 9 II 2. 77 Die Frage wird v.a. im Rahmen der Begehungsfahrlässigkeit und des dort problematischen Pflichtwidrigkeitszusammenhangs diskutiert; grundlegend BGHSt 10, 369 (370): Strafbarkeit gem. § 230, wenn ein Fußgänger einen Unfall dadurch verursacht, daß er die in Gehrichtung falsche (rechte) Fahrbahnseite benutzt, obwohl der Unfall (möglicherweise oder mit

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Regeln kontrafaktische (unwahre) Tatsachen zur Erklärung des Erfolges nicht eingeführt werden dürfen; es ist aber nicht wahr, daß der Dieb die nicht angebrachten Lampen stahl (bzw. auch nur hätte stehlen können) oder die Mitverantwortlichen einen Rückruf ablehnten. 3. Pflichtwidrigkeitszusammenhang Keine Kausalitäts- und Norm-, sondern eine Zurechnungsfrage ist diejenige nach dem sog. Pflicht- oder Rechtswidrigkeitszusammenhang bei den (unechten) Unterlassungsdelikten78. Hier geht es darum, daß ein vollendetes normwidriges Verhaltens dann nicht zugerechnet werden kann, wenn es auch bei pflichtgemäßem Handeln eingetreten wäre, da die Pflicht der Vermeidung der Normwidrigkeit dient; dies gilt auch dann, wenn dem Täter - etwa wegen eines Irrtums - ein anderes pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen werden kann, welches aber nicht zur Vermeidung des normwidrigen Verhaltens geführt hätte79. Daher kann nicht wegen vollendeten vorsätzliSicherheit) auch verursacht worden wäre, wenn er in die andere Gehrichtung auf derselben, dannrichtigenFahrbahnseite gegangen wäre; ebenso (und wie hier) S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 165; Jakobs , Strafrecht, 7/93 u. 29/23; Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (906 f.); aA. aber OLG Hamm NJW 1959,1551; LK-Schroeder, § 16 Rdnr. 193. 78

Die Frage wird überwiegend beim Fahrlässigkeitsdelikt diskutiert (s. hierzu nur Jescheck y Lehrbuch, S. 527 f.), ist aber auch - wie sogleich zu zeigen sein wird - für das vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt von Bedeutung, s. BGH StV 1985, 229; NStZ 1987, 505; MDR b. Holtz 1988,100; Jakobs , Strafrecht, 29/19. Der BGH sieht den Pflichtwidrigkeitszusammenhang bekanntlich als Kausalitätsfrage an, grundlegend BGHSt 11, 1 (7); s. auch 33, 61. Diese Auffassung - der die Ablehnung einer "naturwissenschaftlich-empirischen* 1 zugunsten einer "wertenden Betrachtungsweise" nach "rechtlichen Bewertungsmaßstäben" zugrundeliegt - ist nach dem oben § 5 I Gesagten abzulehnen und stimmt auch nicht mit dem hier vorgelegten Modell der Normen und Pflichten überein; näher Kindhäuser , Gefährdung, S. 71 f. Deshalb ist auch der beeindruckende Versuch von Kahlo (Problem, bes. S. 312 ff.), die Kausalitätsproblematik beim unechten Unterlassungsdelikt ganz allgemein als Problematik des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges zu reformulieren, nach hier zugrundegelegtem wissenschaftstheoretischen Verständnis nicht zutreffend. 79

S. Kindhäuser , Gefährdung, S. 72 f.; zweifelnd an der Begründbarkeit des Erfordernisses des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs aber Küper , in: Lackner-FS, S. 247 (255 f.); näher Frisch , Verhalten, S. 533 in Fn. 97. - Darüber hinaus kann nicht jede erfolgsabwendende Pflichtwidrigkeit (Obliegenheitsverletzung), sondern nur eine solche, die das tatbestandsmäßige Verhalten selbst betrifft, in Ansatz gebracht werden. Beispiel nach OLG Karlsruhe NJW 1958, 430; s. hierzu S/S-Cramer , § 15 Rdnr. 167; SK-Rudolphi, Anh. § 16 Rdnr. 28: Fährt ein Kraftfahrer erst zu schnell und erreicht dann mit ordnungsgemäßer Geschwindigkeit die Unfallstelle, wo er die Tötung eines unvorsichtig auf die Straße tretenden Fußgängers nicht vermeiden kann, so ist es mit Blick auf die tatbestandsmäßige Verhalten irrelevant, daß er zuvor zu schnell gefahren ist und die Unfallstelle bei pflichtgemäßem (obliegenheitsgemäßem) Verhalten später erreicht hätte und der Unfall hierdurch vermieden worden wäre. - Zweifelhaft ist hingegen die Rspr. (BGHSt 24, 31 ), nach der bei durch Betrunkene verursachte Unfälle für das pflichtgemäße Verhalten auf dasjenige eines "besonnenen Betrunkenen" abgestellt werden soll, weil die Pflichtwidrigkeit nach dem "Eintritt der kritischen Verkehrslage" beurteilt werden soll, die "unmittelbar zum schädigenden Erfolg geführt hat" (was an sich zutrifft!). Hier liegt aber der Unterschied zu dem zuvor bezeichneten Fall darin, daß die

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chen (unechten) Unterlassens bestraft werden, wenn sich zwar ein objektiv erfolgsabwendendes Verhalten angeben läßt, der Garant aber irrig davon ausging, nur ein anderes und ex post betrachtet nicht erfolgsabwendendes Verhalten müsse getan werden, um den Erfolg abzuwenden; es bleibt ggf. die Strafbarkeit wegen eines (untauglichen) Versuchs. Beispiel: Wer den bereitliegenden Rettungsring übersieht, es aber unterläßt, den - wie er irrigerweise annimmt - anwesenden Bademeister zu alarmieren, um sein ertrinkendes Kind zu retten, handelt zwar "isoliert" norm- und (vorsätzlich) pflichtwidrig; da das pflichtgemäße Verhalten - die Alarmierung des Bademeisters - aber den Erfolg nicht abgewendet hätte, kann nicht wegen §§ 212, 13 bestraft werden80. Mangels Strafbarkeit des fahrlässigen Versuchs tritt Straflosigkeit ein, wenn auch bei sorgfaltsgemäßem Verhalten des Garanten der Erfolg eingetreten wäre; hierbei müssen - wie bei jeder Strafbarkeitsvoraussetzung - Zweifel zugunsten des Angeklagten ausgehen81. Im Bereich des unechten (insbesondere fahrlässigen) Unterlassungsdelikts ist freilich zu bemerken, daß hohe und höchste Anforderungen an ein pflichtgemäßes Verhalten Zweifel am Pflichtwidrigkeitszusammenhang ausschließen können. Bezeichnend für diese Korrelation ist die Entscheidung BGHSt 17, 181 (186): Hiernach muß ein Lkw-Anhänger auf abschüssiger Strecke durch sämtliche mögliche Bremsvorkehrungen gesichert werden; daher konnte in casu der Einwand, die unterlassene Benutzung der unerkennbar defekten Feststellbremse hätte den Unfall nicht verhindert, zurückgewiesen werden, da jedenfalls durch Bremsklötze den Unfall hätte vermieden werden können. Bereits auf der Ebene der Normwidrigkeit - nämlich der Normlegitimation - ist der Pflichtwidrigkeitszusammenhang allerdings bei der IngerenzGarantenstellung von Bedeutung: Der Ingerent ist dann nicht erfolgsabwendungspflichtig, wenn er zwar pflichtwidrig gehandelt bzw. - richtiger - ein unerlaubtes Risiko gesetzt hat, die sich hieraus ergebende Gefahrenlage Obliegenheitsverletzung (betrunken zu fahren) auch die Handlungsfähigkeit in der "kritischen Situation" betrifft; zutr. abl. LK-Schroeder, § 16 Rdnr. 193 m.w.N. 80

Es liegt hier nicht etwa nur eine "unwesentliche Abweichung des vorgestellten vom wirklichen Kausalverlauf" vor; zu diesem in der Rspr. entwickelten Topos s. nur Wessels , Strafrecht, S. 77 ff. mit umf. Nachw. In den Fällen der unwesentlichen Abweichung wäre das Verhalten normgemäß gewesen, hätte der Täter pflichtgemäß gehandelt: Wird ein Kleinkind von einer Brücke in den Fluß geworfen in der Annahme, es werde ertrinken, stirbt es aber an dem Aufprall auf einem unter der Brücke hervorschnellenden Segelboot, so hätte das pflichtgemäße Verhalten - das Kind nicht von der Brücke zu werfen - dessen Leben auch objektiv gerettet. 81 S. nur Wessels , Strafrecht, S. 210 ff. mit umf. Nachw. auch zur Gegenposition der sog. Risikoerhöhungslehre; hierzu sogleich § 5 III. - Insbes. der BGH (grundlegend St. 11, 1 ) fordert für den Pflichtwidrigkeitszusammenhang die vollerichterliche Überzeugung, für die zwar keine "gedanklich unumstößliche Gewißheit" zu fordern sei; wohl aber könnten sich Zweifel "zu einem für eine vernünftige lebensnahe Betrachtung beachtlichen Grad" verdichten und schlössen bereits dann - also nicht erst dann, wenn die gegen die "Ursächlichkeit" sprechenden Umstände überwiegen - eine Verurteilung aus; zu den in der Rspr. gleichwohl gemachten Einschränkungen LK-Schroeder, § 16 Rdnrn. 192 ff. 11 Vogel

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aber auch - sicher oder möglicherweise - bei pflichtgemäßem bzw. erlaubt riskantem Verhalten eingetreten wäre82. 4. Schutzzweckzusammenhang Der sog. Schutzzweckzusammenhang hat auf der Normebene beim unechten Unterlassungsdelikt insofern eine selbstverständliche Bedeutung, als ein Garant nicht zur Abwendung beliebiger, sondern nur solcher Erfolge verpflichtet ist, deren Abwendung zu garantieren ist. Darüber hinaus ist freilich das Erfordernis, zwischen der Pflichtverletzung und dem normwidrigen Verhalten müsse ein Schutzzweckzusammenhang bestehen, nicht anzuerkennen83. Weder ist der Schutzzweck Teil des Inhalts der Norm noch spielt er für deren verhaltenssteuernde Funktion eine Rolle. Zudem kann es sein, daß der Garant gegen eine Obliegenheit verstoßen hat, die genau der Erfolgsabwendung dienlich ist - z.B. der Schiffsführer vor der Uberfahrt nicht genügend Schwimmwesten an Bord genommen hat -, jedoch auf andere Weise - z.B. durch eine größere Zahl an Rettungsbooten - diesen Mangel hinreichend kompensiert hat; tritt der Erfolg dann ein - sterben z.B. bei dem Untergang des Schiffes Menschen, weil einige der Rettungsboote (unvermeidbar und ohne Obliegenheitsverletzung des Schiffsführers) nicht zu Wasser gebracht werden können -, so müssen diese "Kompensationsbemühungen" berücksichtigt werden, auch wenn eine andere, im Schutzzweckzusammenhang stehende Obliegenheit verletzt worden ist84.

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A.A. aber BGHSt 34, 82; wie hier jedoch die Bespr. v. Ranft, JZ 1987, 859 (864 ff.) u. die Anm. v. Rudolphi , JR1987,162 ff. 83

So aber die ganz h A.; vgl. zum unechten Unterlassungsdelikt Jakobs , Strafrecht, 29/21 ff. m.w.N.; zum (auch: Unterlassungs-)Fahrlässigkeitsdelikt Burgstaller , Fahrlässigkeitsdelikt, S. 96 ff.; S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 165; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rdnrn. 63 f.; Wolter , Zurechnung, S. 341 ff.; aus der Rspr. BGHSt 21, 59; 33, 61. - Der bekannte "Chloraethyl-FaH" BGH 25, 59 mit Anm. Wessels , JZ 1968, 38 ff., in dem ein Zahnarzt es unterlassen hatte, vor einer Narkose eine kardiologische Untersuchung zu veranlassen, die zwar nicht zur Entdeckung des Narkoserisikos, wohl aber dazu geführt hätte, daß der Tod der Patientin später eingetreten wäre, muß nicht über einen angeblichen Schutzzweckzusammenhang gelöst werden: Die Frage ist doch nur, ob ein obliegenheitsgemäß vermeidefähiger Zahnarzt - d.h. ein solcher, der vor der (konkreten) Narkose alle Sorgfaltsvorkehrungen beachtet hätte - den Tod hätte vermeiden können, was zu verneinen ist. 84 S. Kindhäuser, Gefährdung, S. 77 ff.; auch Jakobs, Strafrecht, 29/39 a.E.

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III. Zur ( kausalitätsersetzenden ) "Risikoerhöhungslehre" Unterlassungsdelikten

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bei den unechten

1. Unterlassen der Risikoverminderung statt Unterlassen der Erfolgsabwendung? Brammsen85 hat es neuerdings unternommen, die auf Hardwig zurückgehende sog. "Risikoerhöhungslehre" 86 als die einzig adäquate Form der Kausalanalyse bei den unechten Unterlassungsdelikten, hier umgeformt als "Risikoverminderungslehre", zu verteidigen. Nach dieser Lehre - die einer in der Literatur zu den unechten Unterlassungsdelikten vordringenden Auffassung entspricht87, freilich in der Rechtsprechung nie hat Fuß fassen können88 - liegt ein normwidriges Verhalten des Garanten bereits dann vor, wenn er eine Handlung unterlassen hat, die vom Standpunkt ex ante aus zur Verringerung der für das zu garantierende Rechtsgut bestehenden Gefahr geeignet gewesen ist. Brammsen begründet seine Zustimmung zu dieser Lehre mit drei Argumenten: Erstens entspreche es dem die Garantiebeziehung begründenden sozialen Erwartungsverhältnis, daß der Garant bereits zur Risikoverminderung eingreifen müsse ("garantenspezifischer Einwand"). Zweitens sei es eine Konsequenz der Gegenauffassung, daß eine Versuchsstrafbarkeit nur dann eintreten könne, wenn aus der Sicht des Garanten feststehe, daß der Erfolg mit Sicherheit abgewendet werden könne; und drittens - damit zusammenhängend - sei der Unterlassungsvorsatz nach der Gegenauffassung ebenfalls auf Fälle des sicheren Wissens um die Erfolgsabwendungsmöglichkeit zu beschränken ("straftatsystematische Einwände"). Nun kann der "garantenspezifische Einwand" schon deshalb nicht überzeugen, weil außerstrafrechtliche und gar "soziale" Erwartungen für die Inhaltsbestimmung des strafrechtlichen Garantengebots, dogmatisch gesprochen: des Straftatbestandes, schon aus Gründen des Art. 103 Abs. 2 GG 85

86

MDR1989,123 ff.

Eingehende Darstellung der verschiedenen weiteren Fallgruppen dieser Lehre (v.a. der Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt und die Beihilfe) b. Frisch , Verhalten, S. 537 ff.; Puppe, ZStW 95 (1983), 287 ff. mit umf. Nachw. - Die Kritik von Frisch (Verhalten, S. 516 ff.) an der Risikoerhöhungslehre beruht auf dessen - hier abgelehnten normentheoretischem Konzept, daß der Erfolg Teil der Sanktionsnorm sei und deshalb als "Indikator generalpräventiv besonders indiziertem bzw. legitimierbaren Strafeinsatzes" erforderlich sei. Demgegenüber gehört nach hier zugrundegelegtem Verständnis der Erfolg bereits zur8Verhaltensnorm. 7 Vgl. die umf. Nachw. Brammsen , MDR 1989,123 (124 in Fn. 7). 88 Anders aber RGSt 75, 324 (327 f.): "(Das gesunde Rechts- und Volksempfinden) wird es vielmehr durchaus in Ordnung finden und verlangen, daß ein Angeklagter, der fahrlässig eine Rettungsmöglichkeit verschüttet hat, auch für den eingetretenen Erfolg haftbar gemacht wird, wenn eine nach allgemeiner Lebenserfahrung wohlbegründete Wahrscheinlichkeit besteht, daß sein schuldhaftes Verhalten den Erfolg auch tatsächlich herbeigeführt hat". Ii*

1 6 4 i t e s Kapitel:

widrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

keine Rolle spielen können89. Tieferliegend zeigt sich, wie sich das - nach hier vertretener Ansicht unrichtige - Normenverständnis des Finalismus' auswirken kann: Daß der Garant auf der Ebene der Pflicht im eigentlichen Sinne selbstverständlich nur dazu verpflichtet ist, dasjenige zu tun, was aus seiner ex ante-Sicht den tatbestandsmäßigen Erfolg (möglicherweise) abwenden wird 90, bedeutet keineswegs, daß der Norminhalt und die Feststellung der Normwidrigkeit eines Unterlassens in dieser Weise beschränkt werden kann. Und im Vorgriff auf die Erörterungen zum Unterlassungsvorsatz91 ist zu den "straftatsystematischen Einwänden" zu sagen: Die Vorsatzzurechnung ist nach dem Modell des praktischen Syllogismus92 bereits dann begründet, wenn zum Zeitpunkt der tatbestandsmäßigen Handlung nach dem Wissen des Täters ein "entscheidungsrelevantes Risiko" vorliegt; ebenso wie der Begehungstäter verpflichtet ist, eine aus seiner Sicht (nur) mögliche Kausalität zu vermeiden, ist es der Unterlassungstäter. Mithin ist der (noch) herrschenden Ansicht - nach welcher die Tatbestandsmäßigkeit, d.h. Normwidrigkeit des "erfolgsbezogenen" unechten Unterlassungsdelikts die (zur Überzeugung des Richters festzustellende) Kausalität des Unterlassens, d.h. der erfolgsabwendenden Kausalität des unterlassenen Tuns voraussetzt93 - jedenfalls insoweit recht zu geben, als weder normentheoretische noch straftatsystematische Erwägungen zu ihrer Widerlegung taugen. 2. Statistische Erklärung statt Kausalität? Eine kausale Erklärung ist eine Erklärung nach deterministischen (Kausal- und Natur-)Gesetzen, also nach solchen Gesetzen, die keine Ausnahme dulden, sondern "All-Sätze" (genauer: ausnahmslos geltende Bedingungsrelationen) enthalten94. In zahlreichen Bereichen - insbesondere in der Medizin95 - fehlen aber derartige deterministische Gesetze; vielmehr ist nur mehr oder weniger wahrscheinlich, daß eine Antecedensbedingung zu einem Ereignis führen wird oder geführt hat. Beispielsweise kann sich in dem Fall des Vaters, der zu seinem todkranken Kind einen Arzt nicht ruft, ergeben, daß die Krankheit des Kindes in dem Stadium, das sie bei ihrer Entdeckung er89

Grundsätzlichere Kritik an Brammsens an sozialen Erwartungsverhältnissen orientiertem90Garanten-Konzept findet sich unten §§ 10 III 2., IV 5. zu (3). Insofern drückt sich übrigens Brammsen , MDR1989,123 (f.), ganz präzise aus. 91 S. unten § 71. 92 S. bereits oben § 2 III 2. 93 So die st. Rspr., vgl. RGSt 22, 357 (359); 63, 211 (213 f.); zuletzt BGH NStZ 1985, 26 (27); BGH JA 1987, 210 ff. m. Anm. Sonnen, und die h.L., vgl. nur Fünfsinn, Aufbau, S. 110 ff.; LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 18; S/S-Stree, § 13 Rdnr. 61; alle m.w.N. 94

f.

Zum Begriff des deterministischen Gesetzes Koch/Rüßmann , Begründungslehre, S. 285 95

Zum Problem der Erfolgszurechnung bei ärztlichem Fehlverhalten eingehend Frisch , Verhalten, S. 551 ff.

§ 5 Kausalität und Risikoerhöhung

165

reicht hatte, bei ärztlicher Behandlung nur mehr oder weniger wahrscheinlich geheilt werden konnte, da alle Krankheiten dieser Art ab diesem Stadium nur mehr oder weniger wahrscheinlich geheilt werden können96. In diesen Bereichen bestehen mithin nur statistische Gesetze, also All-Sätze, die ein Häufigkeitsverhältnis zwischen Ereignisklassen angeben97. Es ist nun möglich, das deduktiv-nomologische Erklärungsschema auf statistische Gesetze zu erweitern und hierdurch "statistische Erklärungen" zu liefern. Es fragt sich aber, ob in den Straftatbeständen, die die Verursachung eines Erfolges verlangen, statistische Erklärungen zugelassen werden können. Hierauf läuft - wissenschaftstheoretisch präzisiert - die Risikoerhöhungslehre (bzw. im Kontext des unechten Unterlassungsdelikts die Risikoverminderungslehre) hinaus98, soweit sie als kausalitätsersetzende - und nicht bloß wie von der wohl h.L. als nur kausalitätsergänzende" - Lehre verstanden wird. Eine statistische Erklärung kann zwar eine kausale Relevanz zwischen Ereignisklassen implizieren1 . Sie erlaubt jedoch keine unmittelbare (genauer: objektsprachliche) Aussage über ein Ereignis. Sterben n Prozent aller Raucher an Lungenkrebs und kommt dem Rauchen eine kausale Relevanz zu, so ist die Aussage, daß der an Lungenkrebs erkrankte Raucher R zu n Prozent wegen des Rauchens erkrankt ist, keine objektsprachliche Aussage über R: R ist wegen des Rauchens erkrankt oder wegen einer anderen Ursache, tertium non datur. Vielmehr handelt es sich um eine Meta-Aussage über den Grad der Gewißheit, mit welchem die objektsprachliche Aussage über R zutrifft: "Die Aussage, daß R wegen des Rauchens an Lungenkrebs erkrankt ist, wird durch die statistische Hypothese mit dem Grad

Häufig wird sich allerdings ergeben, daß jedenfalls der Todeszeitpunkt mit Sicherheit hätte hinausgeschoben werden können; in diesem Fall liegt ein deterministisches Gesetz über die Lebensverlängerung vor, das die Feststellung der Kausalität und Normwidrigkeit erlaubt; diesen Weg geht die Rspr. häufig in Fällen bloß statistischer Gesetze über die endgültige Abwendung des Erfolges, vgl. nur BGH NStZ 1986, 26 f. m.w.N. u. krit. Bespr.. Ranft , JZ 1987, 859 (863). - Eingehend zu dieser Möglichkeit, "Lücken" bei der Erfolgszurechnung bei ärztlichem Fehlverhalten zu schließen, Frisch , Verhalten, S. 555 ff. 97 S. nur Hempel, Erklärung, S. 55 ff.; Stegmüller , Wahrscheinlichkeit, S. 27 ff. 98 Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (902 mit Fn. 61). 99 Vgl. zu den diesbezüglichen, einer vordringenden, von Roxin begründeten Lehre entsprechenden Ansätzen Frisch , Verhalten, S. 519 ff.; Jakobs , Strafrecht, 7/72 ff.; Küper , in: Lackner-FS, S. 247 ff.; Roxin , Strafrecht, § 11 Rdnrn. 82 ff.; je m.w.N. Eine Kritik der kausalitätsergänzenden Risikoerhöhungslehre, welche Teil der Lehre von der objektiven Zurechnung ist (hierzu oben § 2 I 3.), kann hier nicht geleistet werden. Jedenfalls ist sie für die Kausalanalyse im hier vorgelegten Modell nicht erforderlich. Des weiteren dürfte ihr wissenschaftstheoretisch entgegenstehen, daß es unmöglich ist, statistische Risiken zu isolieren (s. unten im Text mit Fn. 111). Dies wird auch von Roxin (aaO. Rdnr. 74 mit Nachw. in Fn. 108) zugegeben, der hieraus allerdings ableitet, daß jede unerlaubte Risikoerhöhung sich im Erfolg verwirkliche. Aber wie soll ein nicht isolierbares Risiko im Erfolg ausgewiesen werden? 100

Vgl. Kindhäuser , Gefährdung, S. 233 u. noch unten § 5 III 3.

1 6 6 i t e s Kapitel:

widrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

n/100 bestätigt"101. Allgemeiner gesprochen gilt bei statistischen (anders als bei kausalen) Erklärungen die Abtrennungregel nicht, nach welcher aus einem wahren Allsatz ein wahrer singulärer Satz über ein konkretes Ereignis abgeleitet werden kann, wenn das Ereignis einen (logischen) Unterfall des Allsatzes darstellt 102. Schon deshalb verstößt die kausalitätsersetzende Risikoerhöhungslehre gegen den (strafprozessualen) Grundsatz, daß der konkrete Einzel-Sachverhalt zur richterlichen Überzeugung als wahr festgestellt sein muß und daß pragmatisch relevante Zweifel an der Wahrheit nicht zu Lasten des Täters gehen dürfen (in dubio pro reo) 103. Wenn demgegenüber Rudolphi104 die kausalitätsersetzende Risikoerhöhungslehre bei den (unechten) Unterlassungsdelikten mit dem Argument verteidigt, es sei der in dubio-Grundsatz nicht anwendbar, da der bei pflichtgemäßem Verhalten möglicherweise eingetretene Verlauf ein anderer als der bei nicht pflichtgemäßem Verhalten sei, geht dies fehl: Daß der (nicht auszuschließende) erfolgskausale Verlauf ein anderer als der wirkliche ist, ist geradezu eine Voraussetzung der Anwendung des in dubio-Grundsatzes. Nichts anderes gilt in den Bereichen, in denen - wie häufig im medizinischen Bereich - selbst unvollständige105 Kausalgesetze nicht verfügbar sind. Die These von Stratenwerth 106, der in dubio-Grundsatz sei jedenfalls in Bereichen unanwendbar, in denen Zweifel prinzipiell nicht zu beheben seien, trifft nicht zu107: Im nicht determinierten Bereich der sog. psychischen Kausalität geht es um eine anders gelagerte Problematik 108; und ansonsten

101

Hierzu (in der umgekehrten Konstellation der Prognose) Kindhäuser , Gefährdung, S. 232 f. m.w.N. 102 Vgl. Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (307). - Ausgesprochen zweifelhaft ist hiernach RGSt 76, 372 (374 f.): Auch bei generell nur wahrscheinlicher Heilung könne der Tatrichter die Überzeugung vom Eintritt der Heilung gewinnen, da er nicht das durchschnittliche Ergebnis vieler Fälle, sondern den Einzelfall mitsamt dessen Besonderheiten zu beurteilen hätte. Aber über den Einzelfall läßt sich nichts mit Sicherheit aussagen, wenn es keine Kausalgesetze gibt! 103 S. nur BGHSt 11,1 (7); 21, 59 (61); st. Rspr.; aus der Lit. LK-Schroeder, § 16 Rdnr. 189 f.; Wessels , Strafrecht, S. 55 f., 213 f.; je m.w.N. Allerdings wenden sich die o.g. Stimmen auch und schon gegen die kausalitätsergänzende Risikoerhöhungslehre. Diese dürfte der Einwand des Verstoßes gegen den in dubio-Grundsatz freilich nicht treffen, da sie den Pflichtwidrigkeitszusammenhang bereits materiell-rechtlich anders formuliert und nach den meisten Anhängern dieser Lehre im übrigen feststehen muß, daß das Risiko sich erhöht und und die Risikoerhöhung im Erfolg realisiert hat (auch insoweit für eine Suspendierung des in dubio-Grundsatzes aber Roxin , Strafrecht, § 11 Rdnr. 78). Jedoch treten auch bei der kausalitätsergänzenden Risikoerhöhungslehre Friktionen mit dem materiell verstandenen Schuldprinzip auf: Soll wirklich ein Fahrlässigkeitsvorwurf schon dem gemacht werden können, der bei pflichtgemäßer Sorgfalt nur möglicherweise den Erfolg verhindert hätte, oder ist es nicht Sinn der Sorgfalt (und Hintergrund des Vorwurfs mangelnder Sorgfalt), daß Erfolge vermieden werden können? 1 & In: SK, Vor §13 Rdnr. 16a. 105 S. oben §5 14. 106 In: Gallas-FS, S. 231 ff. 107 Krit. auch Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (303 ff.). 108 S. oben §2 IV 1.

§ 5 Kausalität und Risikoerhöhung

167

darf das (naturwissenschaftlich) nicht Erklärbare nicht als strafrechtlich erklärbar angesehen werden 109. Der bei den Erfolgsdelikten erforderliche Kausalzusammenhang zwischen Verhalten und Erfolg kann dementsprechend auch nicht durch die "Realisierung eines realen Risikos" ersetzt werden. Abgesehen davon, daß das Konzept der Risikorealisierung durchaus verschiedene Bedeutungen haben kann110, kann es nicht gelingen, verschiedene Wahrscheinlichkeitserklärungen zu trennen und bestimmte Faktoren einer Wahrscheinlichkeitserklärung unabhängig von den gegebenen Tatsachen als notwendig zu erweisen, so daß die Aussage, ein bestimmtes von mehreren Risiken habe sich realisiert, nie zutreffend sein kann111: Es fehlt nämlich an einem Maßstab für die Vollständigkeit einer Wahrscheinlichkeitserklärung bzw. keine Möglichkeit (wie sie bei der Kausalerklärung gegeben ist), hinreichende Mindestbedingungen anzugeben. Wenn aus einem Wahrscheinlichkeitsgesetz eine Angabe gestrichen wird, so entsteht ein anderes Wahrscheinlichkeitsgesetz, wenn auch mit u.U. geringerer Wahrscheinlichkeit112. Es bleibt dabei, daß die Risikoerhöhungslehre auch unter Hinzufügung der Zusatzbedingung der Risikorealisierung die Kausalanalyse nicht zu ersetzen vermag. 3. Fälle großer Zahlen Allerdings hat Tiedemann auf einen möglichen Anwendungsfall statistischer Erklärung in solchen Fällen hingewiesen, in denen große Zahlen vorliegen113. Beispielsweise habe es der Betreiber einer Müllverbrennungsanlage es unterlassen, bestimmte Filter einzubauen114. In der Folge trete eine Krankheit, die sonst (und auch in der Umgebung von mit Filtern ausgerüsteten Müllverbrennungsanlagen) in der Bevölkerung mit einem "Sockel" von n Prozent auftritt, mit der höheren Quote von n plus x Prozent aus. Es lasse sich nun ausschließen, daß diese Erhöhung durch andere Ursachen als 109

S. oben §5 16. Nämlich: teleologische Restriktion aus dem Aspekt des generellen Schutzzwecks der Norm (dies ist ein Problem der Angemessenheit der Normanwendung, nicht des Norminhalts, s. unten § 6 I); Verursachung durch reale Risiken (dann liegt Kausalität vor); und das hier gemeinte Problem der "Ersatzwahrscheinlichkeiten"; eingehend Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (309 f.). 111 Sofern nicht eine der Vvaniacneinlichkeitserklärungen lOOprozentig, also eine Kausalerklärung, oder Oprozentig, also nicht kausal, ist. Diese Fälle sind aber unproblematisch; Beispiele: Jemand gibt einem anderen eine derartige Menge Gift, daß die (bloße) Wahrscheinlichkeit des Todeseintritts besteht; der andere wird später erschossen. - Jemand steckt einen anderen mit einer Krankheit an, die - sofern sie ein bestimmtes Stadium erreicht - tödlich sein kann; dieses Stadium wird nicht erreicht. 112 S. Puppe, ZStW 92 (1980), 867 (903 in Fn. 61) und eingehend ZStW 95 (1983), 287 (311 ff.). 113 Tiedemann , in: Schmitt-FS, S. 139 (144 ff.). 110

114

Zur Frage, ob hier wirklich ein Unterlassen (oder nicht vielmehr ein Tun) vorliegt, s. oben § 3 III 3.

168

ites Kapitel:

widrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

die schädlichen ungefilterten Emissionen (kausal) erklärt werden kann115. Damit steht fest, daß die Differenzquote von x Prozent als Ereignisklasse (kausal) durch den Nichteinbau der Filter bedingt ist. Freilich läßt sich eine Aussage über die Kausalität in keinem der konkreten Einzelfälle aus der Gesamtheit der Krankheitsfälle treffen; in keinem dieser Einzelfälle wird festgestellt werden können, ob er gerade durch die Emissionen oder durch andere - dem "Sockel" entsprechende - Ursachen bedingt ist. Gegen eine vordringende Auffassung in der Literatur 116 schließt es Tiedemann zu Recht aus, daß schon die abstrakt-generelle Fassung der tatbestandsmäßigen Erfolgsbeschreibung etwa in den Tatbeständen der §§ 212, 222, 223, 230 (Tod oder Verletzung "eines anderen") es erlaube, wegen der Tatbestandsverwirklichung in y, der Differenzquote von x Prozent entsprechenden Fällen zu bestrafen. Maßgebend hierfür sind prozessuale Erwägungen; grundsätzlich muß die konkret-individuelle Tat in allen Teilen (Simultaneitätsprinzip!) festgestellt werden. Allerdings erkennt die Rechtsprechung hierzu in den Fällen der sog. Wahlfeststellung - hier: als (unechte) "Opferwahlfeststellung" - eine Ausnahme an117. Ob eine derartige "Opferwahlfeststellung" aber wirklich zulässig ist, begegnet erheblichen Zweifeln, die sich materiell-rechtlich im Beispiel aus der Höchstpersönlichkeit der betroffenen Rechtsgüter, prozessual aus dem - bei Zulässigkeit der "Opferwahlfeststellung" zu unbestimmtem - Umfang der Rechtskraft ergeben. Unproblematisch sind freilich solche Fälle, in denen es nicht um höchstpersönliche Rechtsgüter geht. Beispielhaft ist hier ein - auf den ersten Blick abgelegenes - Urteil zum Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 67 Abs. 5 Nr. 2 WeinG 1971 a.F. zu nennen118, welcher das Inverkehrbringen von Wein unter irreführender Bezeichnung unter Geldbuße stellte. Hier hatte sich der angeklagte Betriebsleiter damit verteidigt, daß entgegen seinen Anweisungen gehandelt worden war und Mißstände auch durch Stichproben wahrscheinlich nicht hätten aufgedeckt werden können. Der 115 Was freilich große Zahlen voraussetzt (so daß das Strafrecht erst nach massenhaften Eintritt von Schäden eingreifen kann) und selbst dann zweifelhaft ist: Wenn es sich jeweils nur um statistische Gesetze handelt, so kann auch eine Differenzbildung nur mit einem gewissen Bestätigungs- ("Signifikanz"-)Grad zutreffen; zur mathematischen Theorie von Varianz und Signifikanz s. nur Enzyklopädie Mathematik, S. 626 ff., bes. 655 f. 116 Fincke , Arzneimittelprüfung, S. 120 ff.; Jordan , Therapiestudien, S. 57 f.; Kuhlen , Produkthaftung, S. 59 ff. 117 Möglicherweise können die Fälle RGSt 72, 246 und BGHSt 19, 37 (43) in diese Richtung gedeutet werden. Im ersten Fall hatte ein Wettermann um 5 Uhr 10 eine bedrohliche Ausbreitung eines Schlagwetters bemerkt und sich selbst in Sicherheit gebracht, ohne die anderen Bergleute zu warnen; um 5 Uhr 25 trat eine Explosion auf, durch die zahlreiche Bergleute verletzt und getötet wurden. In den Urteilsgründen fehlen Feststellungen darüber, welche der getöteten oder verletzten Bergleute eigentlich hätten gerettet werden können; offensichtlich ging das RG davon aus, daß jedenfalls einige sich hätten retten können. - Im zweiten Fall ging es um Betrug durch Vereitelung von Bezugsrechten Dritter an VW-Aktien; der BGH ließ ausdrücklich genügen, daß ein "Personenkreis " von - nicht namentlich festzustellenden - Geschädigten festgestellt werden könne. 118 BGHSt 25,158.

§ 5 Kausalität und Risikoerhöhung

169

Bundesgerichtshof führte aus, es könne nicht darauf ankommen, "ob durch Stichproben tatsächlich Mißstände aufgedeckt worden wären. Entscheidend ist allein, daß durch erkennbare Überwachung der mit der Weinherstellung befaßten Betriebsangehörigen der Gefahr einer Falschbezeichnung der verschnittenen Weine weitgehend vorgebeugt worden wäre. Das Unterlassen jeglicher Aufsichtsmaßnahmen ist jedenfalls unter keinem Gesichtspunkt gerechtfertigt" 119. Hier liegt offensichtlich der Gedanke zugrunde, daß jedenfalls einige der irreführend bezeichneten Weine bei pflichtgemäßem Verhalten nicht in den Verkehr gelangt wären, und sei es auch nur aus Furcht vor Kontrollmaßnahmen durch den Angeklagten. Insoweit erscheint es aber als unproblematisch, die Frage, welche konkreten Weine (oder Weinflaschen) nicht in den Verkehr gelangt wären, offenzulassen, sofern (mit Blick auf den Schuldumfang) angegeben werden kann, welche Mindestmenge nicht in den Verkehr gelangt wäre.

119

BGHSt 25,158 (163).

Drittes Kapitel

Die Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten § 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten (Zumutbarkeit, "erlaubtes Risiko", Selbstverantwortungsprinzip und "Vertrauensgrundsatz")

I. Zurechnungsprobleme bei den unechten Unterlassungsdelikten "Anwendungsangemes&enheit" als Pflichtengrenze

und

1. Situationsabhängigkeit der Gebotserfüllung Philipps1 hat auf ein logisches Grundsatzproblem der Zurechnung gebotswidrigen Verhaltens hingewiesen, das er mit dem Schlagwort "Situationsabhängigkeit der Gebotserfüllung" bezeichnet: Die Erfüllbarkeit eines Gebots sei von tatsächlichen Handlungs- oder Erfolgsabwendungsmöglichkeiten in gegebenen Situationen abhängig2; derartige Möglichkeiten können fehlen 3, es können aber auch mehrere vorhanden sein. Beispielsweise kann ein Vater das Leben seines zu ertrinken drohenden Kindes dadurch retten, daß er ihm einen an einer Leine angebrachten Rettungsring zuwirft und das Kind aus dem Wasser zieht, oder dadurch, daß er selbst ins Wasser springt und das Kind ans Ufer schleppt, oder dadurch, daß er einen Rettungsschwimmer alarmiert; oder - um ein aktuelleres und weniger konstruiertes 1

Handlungsspielraum, S. 63 ff., 66 ff. Dies gilt freilich auch für die Begehungsdelikte. Insbesondere bedarf es auch für die Zurechnung verbotswidrigen Handelns der Kenntnis des Täters (und des Richters) von "technischen Regeln" (sc. Kausal- und Naturgesetzen), die den Erfolg bedingen; dies ist entgegen Philipps , wie vorige Fn., kein proprium der Gebotserfüllung. - Auch nicht korrekt ist es, wenn Philipps , aaO., in diesem Zusammenhang Gebote als "hypothetische Imperative" bezeichnet. Im klassischen Sinne Kants sind hypothetische Imperative solche, die nur unter der Voraussetzung gelten, daß sich der Handelnde ein bestimmtes Ziel gesetzt hat; rechtliche Gebote gelten aber unabhängig von der Intention des Gebotsadressaten. - Zu Kindhäusers zweistufigem Zurechnungsmodell bei der Unterlassung s. bereits oben § 5 Fn. 70. 3 Wofür der Garant freilich ggf. einstehen muß, wenn es ihm oblag, für solche Möglichkeiten Vorsorge zu treffen; s. oben § 5 II 2. Hier handelt es sich um Fälle außerordentlicher Zurechnung qua Fahrlässigkeit. 2

172

Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Beispiel zu wählen4 Ein Hersteller, der - wie er mittlerweile erfahren hat fehlerhafte gefährliche Produkte in den Verkehr gebracht hat, durch welche Leibes- und Lebenschäden bei den Endverbrauchern drohen, kann in verschiedenen Medien - Zeitung, Rundfunk, Fernsehen - vor dem Produkt warnen; er kann aber auch Zwischenhändler anweisen, deren Kunden zu warnen, die Produkte selbst zurückrufen oder über die Zwischenhändler zurückrufen lassen. Des weiteren können mehrere Erfolgsabwendungsmöglichkeiten zeitlich gestaffelt sein; beispielsweise kann eine (unbehandelt lebensbedrohliche) Blinddarmentzündung in einem frühen Stadium konservativ durch Antibiotika behandelt werden, während in einem späteren Stadium jedenfalls beim Blinddarmdurchbruch - nur chirurgische Maßnahmen helfen können5. Hierin liegt ein maßgeblicher Unterschied zu den Verboten: Die Verbotsverwirklichung geschieht durch ein bestimmtes, tatsächliches Verhalten (Tun); es fragt sich nur, ob die eine Möglichkeit bestand, dieses Verhalten zu unterlassen, nicht aber, ob der Täter noch andere Handlungsmöglichkeiten hatte. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, daß - wie in dem Fall der Alarmierung des Rettungsschwimmers deutlich wird - Garantenpflichten nach allgemeiner Meinung6 anders als Unterlassungspflichten beim Begehungsdelikt auch im Falle der Alleintäterschaft 7 nicht höchstpersönlich erfüllt werden müssen. Vielmehr kann der Garant Dritte - die ggf. auch Garanten sind - in seine aktuellen Erfolgsabwendungshandlungen mit einbeziehen, und er muß es sogar, wenn er nicht selbst zur Erfolgsabwendung fähig ist, wie das Beispiel der Blinddarmentzündung eines Kindes verdeutlicht: Hier müssen Eltern ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen8. Auch gibt es Bereiche, in denen Erfolgsabwendung (zumindest: auch) dem Opfer obliegt, insbesondere dann, wenn das Opfer selbst über die Gefährdung entscheiden kann9.

4

Vgl. BGHSt 37,106. S. zu den hier bestehenden Handlungspflichten die grundlegende Entscheidung RGSt 68, 12 (18 ff.). 6 S. nur S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 152 m.w.N. 7 Zu den Beteiligungsfragen s. unten § 9. 8 Zu den hier bestehenden Grenzen RGSt 36, 78 (80). 9 Hierzu noch eingehend unten § 6 IV 3. - Daß die Opfermitverantwortung als pflicht(genauer: obliegenheits-) einschränkend oder sogar -ausschließend wirken kann, ist beim fahrlässigen Begehungsdelikt allgemein anerkannt. Beim vorsätzlichen Begehungsdelikt hingegen lehnt die h A . eine Berücksichtigung der Opfermitverantwortung (ausgenommen die Fälle des tatbestandsausschließenden Einverständnisses und der Einwilligung sowie der - noch zu besprechenden - vorsätzlichen Ermöglichung fremder vorsätzlicher Selbstverletzung) ab; hiergegen richtet sich freilich eine vordringende "viktimodogmatische" Lehre (die de lege lata v.a. bei der Mitverantwortung des Betrugsopfers ansetzt), vgl. nur Amelung, GA 1977, 1 ff.; Elimer, Opfermitverantwortung, passim; Hassemer, Schutzbedürftigkeit, passim; Hillenkamp, Opferverhalten, passim; krit. Seelmann, JZ1989, 670 ff. 5

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

173

2. Zurechnungsprobleme bei den (unechten) Unterlassungsdelikten Auf der Ebene der Normwidrigkeit resultieren hieraus keine besonderen Probleme: Ist der Erfolg - wie auch immer - abgewendet worden, so liegt kein (garanten-)gebotswidriges Unterlassen vor; ist der Erfolg eingetreten und läßt sich ein unterlassenes Verhalten (Tun) angeben, das kausal für die Erfolgsabwendung geworden wäre, so hat sich der Garant gebotswidrig verhalten10. Problematisch ist aber die Feststellung der Pflichtwidrigkeit und damit die Zurechnung erster Stufe zum Unrecht. Hierbei sei zunächst der Fall der mehreren Erfolgsabwendungsmöglichkeiten (der Einfachheit halber bei der "ordentlichen" Zurechnung qua Vorsatz) behandelt11. Wie auch beim Begehungsdelikt, wird hier (kontrafaktisch) unterstellt, der Garant habe die Intention gehabt, sich norm-, also gebotsgemäß zu verhalten, d.h., den Erfolg abzuwenden. In der Wissensprämisse sei zunächst wiederum der Einfachheit halber unterstellt, der Garant sei vollständig und richtig 12 über die sich bietenden mehreren Erfolgsabwendungsmöglichkeiten informiert; beispielsweise gehe der Vater davon zutreffend aus, er könne sein Kind erstens durch Zuwerfen des Rettungsringes, zweitens durch Abschleppen und drittens durch Herbeirufen des Rettungsschwimmers vor dem Ertrinken retten bzw. die aufgetretenen Blinddarmentzündung - sofort - durch Veranlassen einer Antibiotika-Behandlung oder später - spätestens beim Blinddarmdurchbruch - durch Veranlassen einer Operation heilen lassen. Es zeigt sich, daß der praktische Syllogismus hier mehrdeutig ist, was beim Begehungsdelikt nie der Fall sein kann, da dort nur gefragt wird, ob das eine, tatsächliche Tun aus der Sicht des Täters normwidrig gewesen wäre und deshalb hätte unterlassen werden müssen. Nun ist es hier zwar auf alle Fälle praktisch notwendig, daß der Garant eine der sich nach seinem Wissen bietenden Handlungsmöglichkeiten wahrnimmt; ergreift er gar keine, so handelt er in jedem Falle pflichtwidrig. Fraglich ist aber, was gilt, wenn (nur) eine (oder mehrere) der aus Tätersicht erfolgsabwendenden Verhaltensweisen unterlassen wurde(n), wenn der Täter also eine nach seiner Sicht erfolgsabwendungsgeeignete Handlung vornahm, ihm aber bewußt war, daß er andere solche Handlungen unterließ. Die Forderung, der Täter sei verpflichtet, stets kumulativ alle möglichen Verhaltensweisen zu ergreifen, ist aus zwei Gründen zu stark: Geht der Täter davon aus, daß jede der verschiedenen Verhaltensweisen den Erfolg abwenden wird, so ist es für ihn nicht praktisch notwendig, neben der einen vorgenommenen noch eine andere Verhaltensweise vorzunehmen; und es können sich verschiedene Verhaltensweisen wechselseitig ausschließen, so daß nach dem Grundsatz "impossibilium nulla obligatio" eine kumulative Verpflichtung ausscheidet (z.B. kann der Vater nicht das Kind an dem Rettungsring an 10 11 12

S. bereits oben § 3 III 4., 5 II 2. Zu den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten eingehend unten § 8. Zu den Irrtumsfragen s. unten § 71 3., 4.

1 7 4 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Land ziehen und es zugleich schwimmend ans Ufer schleppen). Andererseits erscheint eine streng distributive Verpflichtung - der Täter müsse stets nur eine der aus seiner Sicht erfolgsabwendenden Verhaltensweisen vornehmen13 - intuitiv dann als zu schwach, wenn die verschiedenen Erfolgsabwendungsmöglichkeiten aus der Sicht des Täters (wesentlich) unterschiedliche Sicherheit (Eignung) aufweisen: Handelt pflichtgemäß, wer sehenden Auges den weniger sicheren, schlechter geeigneten Weg wählt, wenn z.B. die Antibiotika-Behandlung sichere Heilung bedeutet, die Operation nach Blinddarmdurchbruch aber (wesentlich) schlechtere Heilungschancen bietet? Andererseits ist es problematisch, ob die Vornahme der aus Tätersicht besseren (geeigneteren) Erfolgsabwendungsmöglichkeit verlangt werden kann, wenn diese (wesentlich) höheren Aufwand bedeutet14. Aber auch bei den Fällen nicht höchstpersönlicher Erfüllung der Garantenpflichten stellen sich eigentümliche, bei den (vorsätzlichen) Begehungsdelikten so nicht auftretende Fragen. Hat z.B. ein Garant die Erfüllung seiner Garantenpflicht auf einen anderen übertragen, so ist es auch in den Fällen, in denen der Garant weiß, daß eine tatbestandsmäßige Situation vorliegt und er zur Abwendung des Erfolges fähig ist, für ihn nicht praktisch notwendig, etwas zu tun, und zwar nicht nur wenn er weiß, daß der andere das Erforderliche bereits tut (und sein Unterlassen somit schon nicht kausal für den Erfolg werden kann), sondern auch, wenn und soweit er sich darauf verlassen kann, daß der andere die gebotene Handlung noch rechtzeitig vornehmen wird; das vorhandene Wissen um die eigene Erfolgsabwendungsmöglichkeit ist auch im zuletzt genannten Fall nicht entscheidungsrelevant5. 3. Notwendigkeit der Präzisierung des "praktischen Syllogismus": Entscheidungsrelevanz und "praktische Notwendigkeit" nach dem Kriterium der "Anwendungsangemessenheit" Es zeigt sich mithin, daß das oben zur Bestimmung der Pflichtwidrigkeit eingeführte Konzept des praktischen Syllogismus zur Bestimmung der Pflichtwidrigkeit 16 der Präzisierung bedarf 17. Der praktischen Syllogismus

So aber Kindhäuser, Gefährdung, S. 54 f. in Fn. 17; wohl auch Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 109 f.: Jedes Handeln in Gebotserfüllungstendenz schließt die Tatbestandsmäßigkeit und Vorsatzstrafbarkeit aus. Freilich behandelt Armin Kaufmann nur solche Fälle, in denen die bessere Erfolgsabwendungsmöglichkeit (fahrlässig) verkannt wird; hierzu noch unten § 7 I 3. 14

Beispiel aus dem Bereich der strafrechtlichen Produkthaftung (s. oben b. Fn. 4): Muß ein Hersteller einen kostenintensiven Rückruf gefährlicher Produkte veranlassen oder genügt es, daß er über Medien vor dem Produkt warnt (und sich hiermit auf die Selbstverantwortung der Verbraucher verläßt)? - Zum Gesichtspunkt der Zumutbarkeit in diesen Fällen unten § 6 II 3. 15 Zu diesen Fällen s. vorerst Jakobs , Strafrecht, 29/52 und eingehend unten § 6 IV 6. 16 S. oben §2 III 3.

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

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verweist - insbesondere in seinem Schlußmodus, dem der praktischen Notwendigkeit - auf Entscheidungsvorgänge. Ein Wissen um die Normrelevanz (Erfolgs- oder Erfolgsabwendungsrelevanz) des Verhaltens im entscheidenden Zeitpunkt18 muß aber nicht immer auch entscheidungsrelevant sein. Ein vieldiskutiertes Schulbeispiel hierfür ist der Fall des Neffen, der seinen Erbonkel zu einer Flugreise im Wissen um die Gefahr auffordert, daß Flugzeuge (generell) abstürzen können19. Ähnlich fragt sich, ob die allgemein bekannte Tatsache, daß mit Handfeuerwaffen oder Automobilen vorsätzliche Straftaten begangen werden, Entscheidungsrelevanz für den Produzenten besitzt (so daß hier Beihilfevorsatz vorliegt) . Wann (aktuelles oder prästiertes 21) Wissen entscheidungsrelevant ist, kann weder aus dem Wissensinhalt selbst22 noch aus der Verhaltensnorm heraus, also aus Gedanken des Rechtsgüterschutzes heraus, bestimmt werden. Maßstab ist vielmehr das sinnvollerweise zu prästierende - also normative - Maß an handlungswirksamer Anerkennung der Norm 23. Allgemeiner kann gesagt werden, daß die Verpflichtungswirkung der Norm in einer konkreten Situation, d.h. ihre Anwendbarkeit als Grund einer Verpflichtung, der Situation "angemessen" sein muß. Angeme3senheit ist ein situationsbezogenes normatives Korrektiv der Zurechnung als Pflichtwidrigkeit, welches die "Verbesonderung" der abstrakt-generellen Norm zur konkretindividuellen Pflicht (mit-)bestimmt. 17 ••

Übrigens grundsätzlich auch bei den Begehungsdelikten, vgl. hierzu Kindhäuser, Gefährdung, 18 S. 55 mit Fn. 19 u. S. 102. Nämlich des Eintritts in die Tatbestandszone, sc. des Versuchsbeginns, s. oben §§ 1 IV 3., 219III 5. Vgl. nur Roxin, § 11 Rdnr. 58. - Aktuell ist die Problematik im Zusammenhang mit der Immunschwächekrankheit AIDS: Das Wissen eines Partners mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr um die (generelle) Möglichkeit einer AIDS-Infektion ist nicht entscheidungsrelevant, so daß keine Pflichtwidrigkeit vorliegt, auch wenn der Partner tatsächlich AIDS-infiziert sein sollte. Anders liegt es, wenn der Partner um seine AIDS-Infektion weiß, jedenfalls dann, wenn er "ungeschützten" oder sonstriskantenGeschlechtsverkehr vornimmt; zu diesen Fällen BGHSt 36, 1 u. 262 u. eingehend Dreher/Tröndle, § 15 Rdnr. 11 a.E.; § 223 Rdnrn. 6a f., § 223 a Rdnrn. 6 ff.; je mit umf. Nachw. aus der uferlosen Lit. 20 Ähnlich gelagert ist die Frage der (Begehungs-)Fahrlässigkeitshaftung (Vorsatzhaftung wäre freilich nur durch die Annahme mittelbarer Täterschaft erreichbar) des Produzenten von Automobilen, durch welche erfahrungsgemäß Tausende vom Menschen (fahrlässigerweise) im Straßenverkehr getötet werden; zur Lösung qua "erlaubtes Risiko" unten § 6 II 3. a.E. 21 Insoweit können keine unterschiedlichen Maßstäbe für die Pflichtwidrigkeit bei der Vorsatzzurechnung einerseits, bei der Fahrlässigkeitszurechnung andererseits gelten: Wenn ein aktuelles Wissen nicht entscheidungsrelevant ist, dann kann ein potentielles Wissen dies erst recht nicht sein. 22

So aber der Finalismus, der die "Erbonkelfälle" durch das Kriterium der fehlenden "finalen Tatmacht" löst, das nur scheinbar ontologischer Natur, in Wahrheit normativ durchtränkt ist. - Daß die hier in Frage stehenden Fälle nur durch eine normative Korrektur der (Vorsatz- und Fahrlässigkeits-)Zurechnung gelöst werden können, entspricht der h.L., s. nur S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnrn. 70 c u. 92. 23 Vgl. Puppe, ZStW 103 (1991), 1 ff.

1 7 6 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Daß in diesem Sinne bei den unechten Unterlassungsdelikten zwischen (abstraktem) Garantengebot und (konkreter) Garantenpflicht ein Korrektiv eingeführt werden muß, entspricht der h A., die zwischen "Garantenstellung" (sc. den entscheidenden Garantiebeziehungs-Merkmalen des Garantengebots) und "Garantenpflicht" unterscheidet, freilich letztere (erst) als Rechtswidrigkeitsproblem statt - wie es zutrifft - als Problem der Zurechnung erster Stufe als Pflichtwidrigkeit (zum tatbestandsmäßigen Unrecht) ansieht24. Während das (abstrakte) Garantengebot (bzw. die Garantenstellung) den "Grund" der Pflicht nennt, müssen im Einzelfall die "Grenzen" der Garantenpflichten noch entwickelt werden25. 4. "Anwendungsangemessenheit" (Klaus Günther) Methodisch kann das hiermit angesprochene Problem der "Verbesonderung" der (abstrakten) Norm zur (konkreten) Pflicht durch das von Klaus Günther vorgelegte Konzept der "Anwendungsangemessenheit" präzisiert werden. Mit diesem Konzept will Klaus Günther die alte, in der traditionellen Rechtsphilosophie unter den Stichworten der "Billigkeit" oder "Einzelfallgerechtigkeit" diskutierte Problematik26 lösen, ob und in welchen Grenzen die Legitimität der abstrakt-generellen Norm zugleich diejenige der konkret-individuellen Pflicht und somit die Entscheidung des - letztlich stets einzigartig gelagerten - Einzelfalles verbürgt. Während einige Autoren hier eine "Neutralitätsthese" vertreten - nach welcher die Anwendung des Rechts auf den Einzelfall zu diesem neutral ist - 17 , will die herrschende Methoden24

S. nur Fünfsinn , Aufbau, S. 96 mit umf. Nachw. - Im Ansatz zutreffend auch BGHSt 37, 106 (119): "Denn die Bejahung einer Garantenstellung entscheidet noch nicht darüber, ob er (sc. der Garant) sich strafbar gemacht hat, sondern rückt ihn zunächst nur in die Position des Normadressaten, an den sich das Verhaltensgebot ... richtet. ... (Strafrechtliche Haftung tritt erst ein), wenn er (sc. der Garant) dem Verhaltensgebot schuldhaft (und bereits: pflichtwidrig,2 5Anm. d. Verfs.) nicht nachkommt." Es kann aber Freund nicht zugegeben werden, daß beide Aspekte auf den letzteren reduziert werden können; s. bereits oben § 4 II 2. m.w.N. 26 Zus.fas. Hollerbach , Art. "Billigkeit", in: Staatslexikon, Bd. I, Sp. 810 ff. mit umf. Nachw. (insbes. zu Aristoteles, der in Nik. Eth. V 14 < 1137a - 1138a > die Diskussion eröffnet hat). Zum Problem aus neuerer Sicht Bydlinski , in: (Hrsg.) Starck , Allgemeinheit, S. 49 ff.; Weinberger , Norm und Institution, S. 231 f. 27 In der heutigen Methodenlehre wird die "Neutralitätsthese" in analytisch präziser Form namentlich von Koch und Rüßmann vertreten, s. Koch , in: (Hrsg.) Behrends , Rechtsdogmatik, S. 69 ff.; Rüßmann, aaO., S. 35 ff.; Koch/Rüßmann , Begründungslehre, bes. S. 63 ff. - Dem von diesen Autoren zugrundegelegten "Deduktivitätspostulat" - die Einzelfallentscheidung müsse stets von abstrakt-generellen Normsätzen abgeleitet werden - ist zwar grundsätzlich zuzustimmen. Jedoch gibt Koch (aaO.) selbst zu, daß derartige Normsätze nicht unmittelbar im Gesetz auffindbar sein müssen (Trennung von Deduktivitätspostulat und Gesetzesbindung; bei vagen Gesetzen und Generalklauseln seien vielmehr in einem "Nebenschema" das Gesetz zu präzisieren und zu ergänzen, und zwar unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Zielvorstellungen und "andere(r) vernünftige(r) Zielsetzungen" (Koch, aaO., S. 69 u.ö.). Es ist aber keineswegs zwingend, diese "vernünftigen Zielsetzungen" stets vom Einzelfall loszulösen; jedenfalls prima facie ist es auch eine "vernünftige Zielsetzung", den Einzelfall "billig"

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

177

lehre den im Einzelfall auf dem Spiele stehenden konkreten Interessen durchaus Bedeutung zumessen; hier wird auch ausdrücklich der Begriff der "Angemessenheit" - mit Blick auf die konkrete Rechtspflicht und Rechtsfolge - verwendet28. Freilich ist die Auffassung einer Normativität des (Einzelfalles gegen einen Einwand zu verteidigen, der zutreffend gegen die Lehren vom normativen "Typus" und von der "Natur der Sache" des Einzelfalls vorgebracht wird: Aus einem Sein - den im Einzelfall auf dem Spiele stehenden Bedürfnissen (Interessen) - kann nicht unmittelbar auf ein Sollen geschlossen werden. Hier muß vielmehr ein normativer Schlußmodus zugrundegelegt werden, der auf dem Universalisierungsprinzip basiert29. Hier setzt Klaus Günther ein. Jede fallentscheidende Pflichtennorm - etwa: Es war die (Garanten-) Pflicht des A, seinem ertrinkenden Kind K einen Rettungsring zuzuwerfen enthält Eigennamen. Derartige Eigennamen enthaltende "singuläre" Normen sind nie legitimierbar, weil Eigennamen nicht universalisierbar sind30. oder "angemessen" oder "on its own merits" zu entscheiden (jedenfalls wenn diese Entscheidung selbst universalisierbar ist), vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 150 ff. 28 Larenz, Methodenlehre, S. 277: "Die Beurteilung des Sachverhalts als eines solchen, wie ihn der ausfüllungsbedürftige Maßstab meint, läßt sich von der Frage, welche Rechtsfolge hier im Sinne des Gesetzes 'angemessen' ist, nicht trennen"; Herv. v. Verf. Rechtstheoretisch präzisiert wurde die Rolle des Einzelfalles bei der Rechtsanwendung insbesondere von Engisch, der das berühmte Bild vom "Hin- und Herwandern des Blickes" zwischen Sachverhalt und Norm geschaffen hat, s. ders., Konkretisierung, S. 178 ff.; Gesetzesanwendung, bes. S. 6 ff. (hier findet sich auf S. 15 das Bild); Einführung, S. 43 ff., 63 ff. u. 216 ff. in Fn. 54. Es ist freilich keineswegs selbstverständlich, daß dieses Bild für die hier untersuchte Fragestellung relevant ist. Engisch selbst unterscheidet nämlich - was häufig übersehen wird - streng zwischen den Aspekten der individualisierenden Bestimmung (Bildung) des Rechtsfalles und seiner individualisierenden Beurteilung, s. Konkretisierung, S. 194 ff. Im engeren Sinne gilt Engischs Diktum nur für den ersten Aspekt der Bildung des rechtlich relevanten Sachverhaltes. Hier spielen Sachverhalt und Norm ohne Zweifel zusammen: Der Rechtsanwender scheidet rechtlich unerhebliche Tatsachen aus seinem Blick aus und versucht, rechtlich erhebliche Tatsachen mit Blick auf ihre - (vorläufig) vorausgesetzte - rechtliche Bedeutung näher zu erforschen; dabei wird der Rechtsanwender zugleich zu den konkret fallentscheidenden Rechtsfragen geführt. Jedoch verändert dieser - hermeneutische - Prozeß zugleich das Bild des Rechtsanwenders von der Norm, zutr. Larenz, aaO., S. 268 f. (und - zum Aspekt des "Wandels der Normsituation" - 334 ff.) Darüber hinaus entscheidet die Beantwortung der konkreten Rechtsfrage eben auch über das rechtliche Gleichgewicht der Interessen im zur Entscheidung anstehenden Fall: "Also muß es doch ... im Recht, und auch im Normenrecht, auf die Individualität des Einzelfalles ankommen", Engisch, Konkretisierung, S. 203. Selbstverständlich ist allerdings, daß die im Einzelfall auf dem Spiele stehenden Interessen für eine "angemessene" Entscheidung nur im Rahmen der Gesetzesbindung des Rechtsanwenders berücksichtigt werden dürfen: "Das Streben nach Fallgerechtigkeit ist... ein legitimer Faktor im richterlichen Entscheidungsprozeß, solange er den Richter nicht dazu verführt, das Gesetz seinen Vorstellungen gemäß zu manipulieren", Larenz, aaO., S. 334. - Zur Rolle des Einzelfalls und zu Engisch auch Kriele, Rechtsgewinnung, S. 157 ff., bes. 197 ff.; näher und krit. zu Kriele wiederum Larenz, aaO., S. 143 ff. m.w.N. 29

Wie hier Bydlinski, in: (Hrsg.) Starck, Allgemeinheit, S. 49 (54 f.). Vgl. Klaus Günther, Angemessenheit, S. 29 f. (m.w.N. zu dieser auf Hare zurückgehenden Einsicht). 30

12 Vogel

1 7 8 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Singuläre Normen können freilich in nichtsinguläre "universelle"31 umgewandelt werden, indem nämlich die Eigennamen durch Allgemeinbegriffe ersetzt werden (etwa: Jedermann ist verpflichtet, seinem ertrinkenden Kind einen Rettungsring zuzuwerfen). In diesem Falle entsteht eine "spezifische" Norm, die zwar bestimmte spezifische Situationsmerkmale enthält, aber für jedermann in derselben Situation gilt und - semantisch - der moralischen Überprüfung durch Universalisierung zugänglich ist. Der Gegenbegriff zu "spezifisch" ist "generell"; diese Unterscheidung ist aber nur eine graduelle, weil es keine Norm gibt, die nicht einen - wenn auch noch so schwachen Situationsbezug aufweist. "Anwendung" einer generellen Norm bedeutet nun, den Übergang von ihr zu einer spezifischen und sodann zu einer singulären Norm vorzunehmen. Abgesehen von der logischen Problematik des zweiten Überganges32 interessiert hier insbesondere die Frage, ob der erste Übergang stets legitim ist. Dies wäre der Fall, wenn die Legitimität einer (relativ) generellen Norm die Legitimität jeder beliebig spezifischen Norm implizierte, wenn also die Hinzufügung spezifizierender Situationsmerkmale an der Legitimität einer einmal begründeten Norm nichts änderte. Hierzu müßten freilich (nach dem "starken" Universalisierungsprinzip) "die Folgen ... einer Normbefolgung (sc. der generellen Norm) in jeder besonderen Situation für die Interessen eines jeden einzelnen von allen akzeptiert werden könnte"33. Eine derartige Norm müßte jedoch entweder selbst hochspezifisch oder in ihren Rechtsfolgen so schwach sein, daß sie sinnlos wäre. Darüber hinaus könne eine einmal vorgenommene generelle Normenbegründung die Legitimität der Anwendung der Norm in jeder später eintretenden Situation schon deshalb nicht verbürgen, weil niemand alle möglichen künftigen Anwendungssituationen vorhersehen kann, da unser Wissen begrenzt und auch historisch bedingt ist ("Zeitindex"). Vielmehr kann nur dann entschieden werden, "ob es richtig ist, eine Norm in ... (einer bestimmten) Situation anzuwenden, ... wenn wir alle Merkmale der Situation berücksichtigen und daraufhin prüfen, ob sie der Situation angemessen ist"34. Der Anspruch einer Norm, für alle in allen Situationen zu gelten, muß gleichsam in zwei Richtungen eingelöst werden: in Hinsicht auf die Interessen aller Betroffenen mit der Unterstellung, in allen Situationen befolgt zu 31 Normen sind also dann universell, wenn sie keine Eigennamen enthalten, sondern All^uantoren; näher Alexy, in: (Hrsg.) Behrends, Rechtsdogmatik, S. 95 (104). 2 Diese Problematik hat Engisch (Einführung, S. 55 f.) mit Schärfe herausgearbeitet: Unter einen (Allgemein-)Begriff kann an sich immer nur etwas Gleiches, also wiederum ein Begriff, gefaßt bzw. "subsumiert" werden. Engisch will den Übergang vom (Allgemein-)Begriff zum Eigennamen bzw. zum hierdurch bezeichneten Gegenstand deshalb als "Subordination" bezeichnen, aaO. S. 212 in Fn. 42a. - Das Problem kann aber durch eine extensionale Bedeutungsbestimmung gelöst werden. Unter "Extension" versteht die Wissenschaftstheorie die Klasse von (realen) Gegenständen, welche unter den Allgemeinbegriff fallen. Daher wird "in der Sachverhaltsprämisse ... gesagt, ob das zur juristischen Beurteilung anstehende Ereignis zur Extension der Ausdrücke gehört, die die semantische Interpretation des gesetzlichen Tatbestandes darstellen", Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 131. 33 Klaus Günther, Angemessenheit, S. 50. 34 Klaus Günther, Angemessenheit, S. 55; Herv. v. Verf.

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werden, und in Hinsicht auf jede einzelne Situation mit der ... dazu komplementären Unterstellung, daß die in dieser einzelnen Situation angemessene Norm auch von allen Betroffenen ... akzeptiert werden könnte"35. Fragwürdig ist freilich, was mit der Wendung "alle Merkmale der Situation" gemeint ist, denn der "Mikrokosmos einer jeden einzelnen Situation ist ebenso unendlich wie der Makrokosmos aller Situationen, auf die eine Norm anwendbar ist"36: So wie im Begründungsdiskurs nicht alle künftigen Situationen berücksichtigt werden können, können nicht sämtliche Merkmale einer konkreten Situation - die Weltkonstellation dieser Situation - erfaßt werden. Über die "relevanten Merkmale" (und deren Gewichtung) muß selbst Einigkeit erzielt werden. Dies geschieht nach Klaus Günther im "Anwendungsdiskurs", in welchem "wir zunächst mit den Bedürfnissen und Interessen eines konkreten anderen sowie verschiedenen Situationsinterpretationen konfrontiert (sind), aus denen wir eine angemessene Handlungsnorm erst einmal bilden müssen ..."37. Hierzu müssen erstens sämtliche Situationsmerkmale tatsächlich richtig festgestellt werden; zweitens müssen aus diesen die rechtliche "relevanten" Merkmale herausgefiltert werden, d.h. all' diejenigen, die sich auf eine (mögliche Bedeutung einer gültigen38) Norm beziehen; und drittens müssen diese Merkmale bzw. die in Bezug genommenen Normen in eine für alle Beteiligten akzeptablen Weise in Vorrangbeziehungen gebracht worden sein39. Hierdurch entsteht eine gemeinsame Interpretation der Situation und eine singuläre Norm, in welcher "all things considered"40 sind. In einem zweiten Schritt ist nunmehr zu prüfen, ob diese Norm - gleichsam eine Art "Normhypothese"41 - auch über die konkrete Anwendungssituation hinaus verallgemeinerbar ist42. Hierzu müssen sich insbesondere die in der konkreten Situation gewählten Bedeutungsvarianten der in Bezug genommenen Normen und deren Vorrangrelationen als

35

36

Klaus Günther, Angemessenheit, S. 55.

Klaus Günther, Angemessenheit, S. 58. 37 Klaus Günther, Angemessenheit, S. 96 u. eingehend 257 ff., bes. 287 ff. 38 Juristisch gesprochen geht es also um (mögliche) Auslegungen; näher hierzu Klaus Günther, Angemessenheit, S. 290 ff. 39

Derartige Vorrangbeziehungen können nach Klaus Günther grundsätzlich nur einzelfallbezogen - situationsgebunden - bestimmt werden: "Die Normkollision läßt sich nicht als ein Konflikt von Geltungsansprüchen rekonstruieren, weil die kollidierenden Normen oder die konkurrierenden Bedeutungsvarianten erst in einer konkreten Situation in Relation treten", Angemessenheit, S. 300. Diese Einsicht ist für Juristen keineswegs neu: Insbesondere bei Grundrechtskollisionen kann die erforderliche "Abwägung" nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur so erfolgen, daß im Einzelfall alle kollidierenden Grundrecht optimal zur Geltung kommen, s. nur Hesse, Grundzüge, Rdnr. 72 m.w.N. 40 Zur Unterscheidung zwischen Verpflichtungen "unter gleichbleibenden Umständen" "things being equal" - und Verpflichtungen "unter Berücksichtigung aller Umstände" - "all things considered" - Searle, in: (Hrsg.) Raz, Practical Reasoning, S. 81 (88 f.). Klaus Günther, Angemessenheit, S. 257, auch 306. 42

Klaus Günther, Angemessenheit, S. 96. 12*

1 8 0 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

universalisierbar erweisen43. Ist dies der Fall, so geht die gewonnene singuläre in eine spezifische Norm über, in der die tatsächlichen relevanten Situationsmerkmale als Gattungsnamen erscheinen - gleichsam "hypothetisch" verwendet werden44 - und die auf andere konkrete Situationen nur unter dem Vorbehalt der Vergleichbarkeit ("things being equal") angewendet werden können. 5. Dogmatische Bedeutung der Anwendungsangemessenheit Dogmatisch gesprochen stellt die Anwendungsangemessenheit ein einzelfallbezogenes, normatives und damit objektives45 Korrektiv der Vorsatzzurechnung dar. Sie begrenzt damit aber auch zugleich die Fahrlässigkeitszurechnung: Wenn ein aktuelles Wissen oder Können nicht entscheidungsrelevant ist, so kann nichts anderes für ein potentielles, aber ggf. erreichbares Wissen oder Können gelten. Inhaltlich bietet das Konzept der Anwendungsangemessenheit einen Ansatzpunkt, die häufig im Bereich der objektiven Zurechnung angesiedelten zurechnungsausschließenden dogmatischen Figuren der Zumutbarkeit, des "erlaubten Risikos" sowie des Selbstverantwortungsprinzips und des "Vertrauensgrundsatzes" theoretisch zu verorten: Es handelt sich sämtlich um Fälle, in denen die Anwendung der Norm als Verpflichtungsgrund für Handlungen im Einzelfall unangemessen ist. Mit dieser Normativierung der Vorsatz- und Fahrlässigkeitszurechnung wird grundsätzlich ein ähnlicher Weg beschritten, wie ihn Frisch in seinen großen Monographien über "Vorsatz und Risiko" und "Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs" aufgezeigt hat46. In Übereinstim43

An dieser Stelle geht also der "Anwendungsdiskurs" wieder in den "Begründungsdiskurs" über, s. Klaus Günther, Angemessenheit, S. 267 f. Deshalb kann als vollständige diskursive Legitimation angegeben werden, aaO., S. 304 f: (K ) Eine Norm ist in einer bestimmten Situation angemessen, wenn sie mit allen in dieser Situation anwendbaren Bedeutungsvarianten und allen anderen anwendbaren Normen vereinbar ist und wenn die Gültigkeit jeder einzelnen Bedeutungsvariante und jeder einzelnen Norm in einem Begründungsdiskurs gerechtfertigt werden könnte. Freilich darf diese Fassung - auch im allgemein-praktischen (und erst recht im rechtlichen) Bereich - nicht dahin mißverstanden werden, daß wirklich jede hypothetisch denkbare Norm bzw. Bedeutungsvariante eine Rolle spielen kann; eine derartige Forderung wäre pragmatisch nicht realisierbar. Vielmehr ist das "vollständige" Kohärenzkriterium auf den pragmatischen "Raum" unserer "Lebensform" verwiesen und muß lauten: (K ) Eine Norm ist in einer bestimmten Situation angemessen anwendbar, wenn sie mit allen anderen in dieser Situation anwendbaren und zu unserer Lebensform gehörenden Normen in allen ihren nach unserer Lebensform möglichen Bedeutungsvarianten vereinbar ist und wenn die Gültigkeit der Normen und Bedeutungsvarianten relativ zu unserer Lebensform in einem Begründungsdiskurs gerechtfertigt werden könnte. 44 4 5 S.

Klaus Günther, Angemessenheit, S. 34. S. oben Fn. 22. 46 Eingehende Würdigung b. Wolter, GA 1991,531 ff. Das Konzept der "Anwendungsangemessenheit" hat auch Ähnlichkeiten mit der Tatverantwortungslehre von Maurach (Strafrecht, 4. Aufl. , S. 377 f., 379 ff.). Nach Maurach soll

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

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mung mit Frisch wird hierbei die Lehre von der objektiven Zurechnung, soweit sie den Zusammenhang zwischen Verhalten und Erfolg thematisiert, für kategorial verfehlt gehalten47: Es geht nicht (nur) um diesen Zusammenhang, sondern (vorrangig) um die Frage nach dem "tatbestandsmäßigen Verhalten", das rechtlich mißbilligt sein muß; in der hier verwendeten Terminologie: um die Pflichtwidrigkeit. Deshalb ist "Anwendungsangemessenheit" auch sachlich keine rechtsanwenderbezogtne Kategorie: Es geht darum, ob es aus der Sicht des Normadressaten "angemessen" war, die Norm als Verpflichtungsgrund für Handlungen "anzuwenden". Im Unterschied zu Frisch wird hier aber behauptet, daß das Verbotsurteil - das seinen Grund im Schutz von Rechtsgütern findet - von einer etwaigen Feststellung der "Unangemessenheit" unberührt bleibt. Demgegenüber meint Frisch, daß nicht jede - nicht einmal jede riskante - erfolgsbedingende Handlung verboten sein könne; hierin liege eine durch nichts zu rechtfertigende übermäßige Beschränkung der Handlungsfreiheit des einzelnen . Dem ist entgegenzuhalten, daß freiheitsbeschränkend eine Norm nur wirken kann, wenn sie zugleich und in jedem Falle als Verpflichtungsgrund für Handlungen angesehen wird 49. Darüber hinaus wird hier bestritten, daß der von Frisch für die Fundierung der Einschränkung der Verpflichtungswirkung der Norm herangezogene verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein adäquates Kriterium darstellt50. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt als Gebot praktischer Vernunft, daß ein gegebenes Ziel mit dem mildesten erforderlichen und geeigneten (und im engeren Sinne angemessenen) Mittel erreicht wird. Das Vorhandensein milderer Mittel ist nur ein Gesichtspunkt unter vielen bei der Bestimmung der Anwendungsangemessenheit, und es kann die strafrechtliche Pflichtenlehre nicht überhaupt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entwickelt werden. Dementsprechend verwendet Frisch bei der Ausarbeitung konkreter Pflichtenmaßstäbe51 auch zahlreiche weitere Kategorien, insbesondere das Selbstverantwortungsprinzip, welches nach hier vertretener Auffassung nicht auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder auf eine allgemeine Interessenab-

zwischen Unrecht und Schuld eine besondere Prüfungsstufe solcher - traditionellerweise der Schuld zugewiesenen - Strafbarkeitsvoraussetzungen vorgenommen werden, die einen generalisierenden Maßstab zugrundelegen ("Abfall vom Durchschnitt"), so z.B. die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens (aaO., S. 383 ff.) oder die Pflichtenkollision (aaO., S. 394). Im Unterschied zu Maurach spielen diese Kriterien - soweit sie nicht nur motivationsrelevant sind hier aber bereits bei der Bestimmung des tatbestandsmäßigen Unrechts als Pflichtwidrigkeit eine Rolle. 47 S. bereits oben § 2 I 3. 48 Frisch, Verhalten, S. 70, 75, 77 ff. u.ö. 49

Eine Norm kann generell legitim sein, ohne daß dies die Legitimität ihrer Anwendung in jedem Einzelfall begründet; die generelle Legitimation wird insoweit "entlastet"; s. oben § 6 I 4 zum "Anwendungs-" als Ergänzung und Entlastung des "Begründungsdiskurses". 50 Zust. aber Wolter, GA 1991,531 (551). 51 S. etwa Frisch, Verhalten, S. 193 ff., 425 ff., 478 ff.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

wägung reduziert werden kann52. Letztlich kann die normbezogene Sicht von Frisch auch nicht erklären, warum die fraglichen Kriterien "weich", "einzelfallbezogen" und aus rechtsgutsunabhängigen Verantwortungskriterien (z.B. dem Selbstverantwortungsprinzip) heraus entwickelt werden müssen. Speziell für die die hier in Frage stehenden (unechten) Unterlassungsdelikte bedeutet das Konzept der Anwendungsangemessenheit negativ, daß die Verpflichtungswirkung der Garantengebote (durch die genannten Figuren) begrenzt werden muß. Positiv bedeutet es, daß - um auf die eingangs geschilderten Fälle zurückzukommen - der Garant unter mehreren Erfolgsabwendungsmöglichkeiten die "angemessene" wählen muß. Ist also eine der mehreren Erfolgsabwendungen entscheidungsrelevant53 "besser" (oder "schlechter") als die anderen (und erkennt der Garant dies), so muß er, um pflichtgemäß zu handeln, diese wählen (oder darf sie nicht wählen)54. Umgekehrt muß er keine "Leistung bei äußerster Konzentration und (wörtlich) bis zum Umfallen erbringen und alle ihm verfügbaren Mittel einsetzen", wenn dies nicht angemessen ist55, und kann sich auf andere mit der Erfolgsabwendung Betraute verlassen, soweit dies angemessen ist. Diese Gesichtspunkte gilt es im folgenden mit dogmatischem Leben zu erfüllen. IL Zumutbarkeit und Garantenpflichten 1. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens Es ist in der Literatur bekanntlich umstritten, welche Rolle der Gesichtspunkt der "Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens" für die konkrete Reichweite von Garantenpflichten spielen soll. Einerseits werden Zumutbarkeitserwägungen bei den unechten56 Unterlassungsdelikten überhaupt keine besondere ("unterlassensspezifische") Rolle zugeschrieben57; andererseits wird dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit von der wohl h.L. bereits

52

53

S. sogleich § 6 IV 5.

Hier wird eine deutliche Differenz zu fordern sein; mehr oder weniger vergleichbare Erfolgsabwendungsmöglichkeiten müssen sub specie Pflichtwidrigkeit einander gleichstehen. 54 Zu den Folgerungen beim Versuch s. unten § 7 II. 55 So Jakobs, Strafrecht, 29/14; näher sogleich § 6 II. 56 Bei § 323 c ist die im Gesetzeswortlaut enthaltene Zumutbarkeit nach ganz hA. tatbestandseinschränkendes Merkmal; eingehend Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 90 ff. mit umf. Nachw. 57 So v.a. Jakobs, Strafrecht, 29/97 ff.; LK-Jescheck, Vor § 13 Rdnr. 91; ders., Lehrbuch, S. 573 f.

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

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tatbestandsbegrenzende58, von anderen allerdings auch (erst) rechtfertigende59 oder nur entschuldigende60 Funktion zugesprochen. Demgegenüber hat die ständige Rechtsprechung - freilich in durchaus wechselndem Umfang und mit wechselnder Begründung - den Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit auch bei den unechten Unterlassungsdelikten als bereits pflichtenbegrenzend anerkannt61. Neben zahlreichen Entscheidungen, die das Sonderproblem der Unzumutbarkeit bei Gefahr der Strafverfolgung betrafen 62, und neben der Vielzahl der die Begehungsfahrlässigkeit betreffenden Fällen63 sind paradigmatisch die Entscheidungen RGSt 36, 78 (81) und BGHSt 37, 106 (122) zu nennen. In der ersten Entscheidung ging es um die Frage, ob ein Vater, der seine an einer Kniegelenkentzündung erkrankte Tochter auf deren Bitte und derjenigen der (sodann verstorbenen) Mutter erst so spät ins Krankenhaus gebracht hatte, daß der Tod durch Sepsis nicht mehr abgewendet werden konnte, garantenpflichtwidrig gehandelt hatte. Das Reichsgericht führte aus, die Frage, was ein Vater in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht zu tun habe, sei "nicht überall allein (durch) die Erwägung, was objektiv zur besten Erreichung des Zwecks geschehen kann" zu beantworten, vielmehr gelte es "regelmäßig auch Rücksichten abzuwägen, die das Interesse der Lebensgemeinschaft in der Familie fordert" 64. - In der zweiten Entscheidung ging es um die Garantenpflicht des Herstellers lebens- und gesundheitsgefährlicher Ledersprays, diese nach dem Inverkehrbringen zurückzurufen, um Schäden an Leib und Leben der Endverbraucher abzuwenden. Zu der Frage der "Überspannung" der Garantenpflichten führte der Bundesgerichtshof aus: "Schließlich durfte der ... Rückruf nicht deshalb unterbleiben, weil eine solche Aktion Kosten verursacht, eventuell den Ruf (das "Image") der beteiligten Firmen beeinträchtigt und zu einem Absatzrückgang sowie zu Gewinneinbußen geführt hätte; bei einer Abwägung der in Rede stehenden Belange mußten wirtschaftliche Gesichtspunkte 58

S. nur S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnrn. 155 ff. mit umf. Nachw. So z.B. Küper, Pflichtenkollision, S. 97 ff.; Schmidhäuser, Studienbuch, 12/70 ff. (der freilich - i.E. wie hier - zudem eine entschuldigende Unzumutbarkeit anerkennt, s. 12/86). 60 So z.B. Baumann/Weber, Strafrecht, S. 236; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rdnr. 31. 61 RGSt 58, 97 (98) u. 226 (227); 69, 321 (324); 77, 125 (127); BGHSt 6, 46 (57 f.); 7, 268 (271); BGH NJW1964,731 (732) u.ö. - S. zu wichtigen Beispielen auch den folgenden Text. 62 Hierzu sogleich § 6 II 2. 63 Grundlegend hier RGSt 30, 25 ("Leinenfänger-Fall": Unzumutbarkeit, der Anweisung des Arbeitgebers zu einem gefährlichen Verhalten zu widersprechen); vgl. weiterhin 74, 195 (198 - Unzumutbarkeit, einer fehlerhaften Dienstanweisung zuwiderzuhandeln). - Vgl. Jeschecky Lehrbuch, S. 539 f. mit umf. Nachw. 59

64

Wobei das RG freilich in bedenklicher Weise auch angeblich "ethische" Erwägungen berücksichtigte; jedoch ging es in Wahrheit um die - rechtlichen! - Gesichtspunkte der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der (mit fünfzehn Jahren bereits einsichtsfähigen) Tochter sowie des Mit-Erziehungsrechts der Mutter. - S. des weiteren auch die Abwägung des BGH in St 32, 367 ("Fall Wittig") m. Bespr. Eser, MedR 1985, 6 ff.; Schmitty JZ 1984, 866 ff.; SchultZy JuS 1985, 270 ff. u. hierzu noch unten § 6 IV 3.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

zurücktreten: Dem Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsschäden gebührte hier der Vorrang ... Anders mag die Rechtslage zu beurteilen sein, wenn den Verbrauchern ... nur geringfügige Nachteile drohten, der Rückruf jedoch für das Unternehmen mit schwerwiegenden, womöglich existenzgefährdenden Folgen verbunden wäre ..." Es ist bemerkenswert, daß mit der zuletztgenannten Einschränkung § 34 umgekehrt angewendet wurde; hierauf wird zurückzukommen sein65. 2. Entschuldigende Unzumutbarkeit Soweit die tatbestands- und pflichteneinschränkende Wirkung der Unzumutbarkeit damit begründet wird, bei den unechten Unterlassungsdelikten sei (anders als beim Begehungsdelikt) ein besonderer Ressourceneinsatz vonnöten oder es seien die Unterlassungsdelikte grundsätzlich weniger strafwürdig als die Begehungdelikt, vermag dies freilich ebensowenig wie ein Analogieschluß von dem - gerade nicht begehungsgleichen - § 323 c auf die unechten Unterlassungsdelikte zu überzeugen66. Gleichwohl ergibt sich auf der Grundlage des hier entwickelten Straftatmodells in Verbindung mit dem dargelegten Konzept der "Anwendungsangemessenheit", daß die Auffassung der Rechtsprechung und wohl h.L. zumindest in Teilen zutrifft. Wird "Zumutbarkeit" als Angemessenheit der Normanwendung - d.h. der "Verbesonderung" der Norm, also des Garantengebots, zur Pflicht, also der Garantenpflicht - reformuliert, so betrifft sie bereits die Zurechnung erster Stufe zum (tatbestandsmäßigen) Unrecht. Entsprechend der Trennung von Zurechnung erster Stufe zum Unrecht und zweiter Stufe zur Schuld bleiben hierbei freilich all* diejenigen Umstände des Einzelfalles außer Betracht, welche die Fähigkeit betreffen, die Intention zu normgemäßem Handeln anderen Intentionen vorzuziehen (Motivationsfähigkeit); vielmehr werden nur diejenigen Umstände in Betracht gezogen, die die Fähigkeit betreffen, die normgemäße Intention in der konkreten Situation in die Tat umzusetzen beim (unechten) Unterlassungsdelikt insbesondere: der je nach Situation erforderliche Gütereinsatz und Freiheitsverlust 67. Es ist also eine Angemessenheit auf Unrechts- und auf Schuldebene zu unterscheiden und dementsprechend eine differenzierende Lösung - die bei den unechten

65

S. sogleich § 6 II 3. Jakobs , Strafrecht, 29/98 f. 67 Die hier getroffene Unterscheidung weist Parallelen mit der doppelten historischen Wurzel des strafbarkeitsausschließenden Notstands auf, vgl. hierzu Küper , Art. "Notstand", in: Handwörterbuch der Rechtsgeschichte. Während ursprünglich - etwa durch Pufendorff - der Notstand einheitlich durch die (psychologische) Zwangssituation des Täters begründet wurde (heute: entschuldigender Notstand, § 35), drang später die Einsicht vor, daß es um die Abwägung von Freiheitssphären und den Gedanken des Einsatzes angemessener Mittel in Verfolgung rechtlich anerkennenswerter Zwecke ging (heute: rechtfertigender Notstand, § 34). 66

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

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Unterlassungsdelikten zwischen Zumutbarkeit auf Tatbestands- und Schuldebene unterscheidet - die zutreffende 68. Auf dieser Grundlage läßt sich insbesondere die vieldiskutierte Frage, ob und inwieweit die Gefahr der Strafverfolgung - sei es betreffend den Garanten selbst, sei es betreffend Angehörige - eine Frage der tatbestandsbeschränkenden Unzumutbarkeit sein kann , eindeutig entscheiden: Hier geht es nicht um einen Güter- und Freiheitsverlust, der mit dem normgemäßen Verhalten für sich selbst verbunden ist, sondern um eine Motivations-, also Schuldfrage, die in entsprechender Anwendung des § 35 zu lösen ist. Dies bedeutet erstens, daß die Gefahr der Strafverfolgung von Angehörigen - kein Freiheitsverlust für den Garanten! - für die Annahme der entschuldigenden Unzumutbarkeit genügen kann70, was freilich dann nicht gilt, wenn - mit Blick auf die Erheblichkeit der Straftat - eine institutionelle Zuständigkeit, sc. eine Garantenstellung gegenüber den Angehörigen, besteht71. Diese Einschränkung lenkt zweitens den Blick auf die - ebenfalls entsprechend anwendbare - Verursachungs- und Gefahrtragungsklausel des § 35 Abs. 1 Satz 2. Daher ist es insbesondere dem Ingerenten - z.B. einem Unfallverursacher, der ohne Fahrerlaubnis oder alkoholbedingt fahruntüchtig gefahren ist - zuzumuten, auch dann den drohenden weiteren Erfolg - z.B. den Tod des Unfallopfers - abzuwenden, wenn hier die Gefahr der Strafverfolgung z.B. gem. § 21 StVG oder §§ 315 c, 316 - besteht72. Ähnlich müssen institutionelle Garanten - wie z.B. Ärzte und Amtsträger - auch dann für die Abwendung der von ihnen zu garantierenden Erfolge - z.B. Körperverletzungen oder Gewässerverschmutzungen - sorgen, wenn dies zur Aufdeckung eines eigenen vorherigen strafbaren Fehlverhaltens führen kann73.

68

S. bereits Verf., Art. "Fahrlässigkeit", in: HWiStR. Hierzu - mit umf. Nachw. aus Rspr. u. Lit. - S/S-Stree, § 13 Rdnr. 156. - Generell gegen die Berücksichtigung der Gefahr von Strafverfolgung beim Unterlassungsdelikt Jakobs, Strafrecht, 29/98 in Fn. 192: §§ 139 Abs. 3, 157, 258 Abs. 6 seien singuläre Ausnahmen, darin begründet, daß der Angehörigenstatus nicht typischerweise zur Eröhung von Prävention und Repression ausgenutzt werden solle. - Gegen eine (generelle) Analogie auch BGH NStZ 1984, 164. 70 St. Rspr., vgl. nur BGHSt 6,46 (57). 71 Ebenfalls st. Rspr., vgl. nur BGH NJW1964, 732; NStZ 1984,164. 72 Ebenfalls st. Rspr., vgl. die bekannten Fälle BGHSt 7, 287 u. VRS 13,120; s. weiterhin BGH 11, 353 (354 f. - zu § 323 c). 73 Friktionen zu dem strafprozessualen nemo tenetur-Grundsatz treten formal nicht auf, da es um Anzeigepflichten außerhalb des Strafverfahrens geht. Freilich könnte daran gedacht werden, daß diejenigen Erkenntnisse zu einem vorherigen strafbaren Fehlverhalten des Garanten, die gerade aufgrund seines späteren pflichtgemäßen Verhaltens gewonnen wurden, einem strafprozessualen Verwertungsverbot - etwa entsprechend dem in BVerfGE 56, 37 entwickelten - unterliegen. 69

1 8 6 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

3. Tatbestandseinschränkende Unzumutbarkeit und Garantenpflichten (Umkehrung von § 34) Die tatbestandseinschränkende "Unzumutbarkeit" betrifft also (nur) die These - die im Grunde einhellig und auch von denjenigen, welche eine "unterlassungsspezifische" Zumutbarkeit ablehnen, anerkannt wird -, daß ein unangemessener, mit der Gebotserfüllung selbst verbundener Gütereinsatz vom Garanten nicht verlangt werden kann. Es fragt sich freilich, was hier mit "unangemessen" gemeint ist. Nach Jakobs74 deckt sich das Problem soweit es nicht ohnehin um Fälle der Pflichtkollision gehe75 - mit demjenigen der Berücksichtigung von Sonderwissen - hier: Sonderkönnen bei der Bestimmung des erlaubten Risikos: Niemand müsse ein ihm nicht obliegendes Sonderkönnen zur Erfolgsabwendung einzusetzen, sofern er nicht hierzu institutionell verpflichtet sei. Ansonsten decke sich die Leistungspflicht des Garanten mit seiner Duldungspflicht für Rettungshandlungen Dritter gem. § 34: Der Abwendungspflichtige müsse zur Erfolgsabwendung nötige Materialien beschaffen, wo er sie finde, auch bei sich selbst, aber nur im Rahmen des Angemessenen i.S.v. § 34. Diesen Ajisatz hat Hruschka in seinem wegweisenden Aufsatz über "Rettungspflichten in Notstandssituationen"76 weiter entfaltet und differenziert. Rettungspflichten sind hiernach entweder Handlungspflichten zur tätigen Gefahrabwendung oder Duldungspflichten zur Duldung von Rettungsmaßnahmen des Opfers (oder Dritter zugunsten des Opfers). Handlungspflichten wiederum unterteilen sich in Sicherungshandlungspflichten - wenn der Rettungspflichtige, aus welchem Grund auch immer 77, für die Gefahr verantwortlich gemacht werden kann - und in Obhutshandlungspflichten - wenn der Rettungspflichtige, aus welchem Grund auch immer 78, für das zu schützende Interesse verantwortlich gemacht werden kann79. Rettungshandlungspflichten implizieren a forteriori Rettungsduldungspflichten: Wenn jemand schon verpflichtet ist, aktiv einen Erfolg abzuwenden, dann ist er erst recht verpflichtet, Rettungsbemühungen 74

Strafrecht, 29/14 (mit Verweis auf 7/49 ff., 15/12 ff.). Hierzu oben § 3 II 3. 76 JuS 1979, 385 ff. 77 Hruschka, JuS 1979, 385 (386 f.) sieht (aus Begehungsverboten folgende) Unterlassungspflichten - genauer: ein pflichtwidriges Vorverhalten - als axiologisch hinreichenden Grund für Sicherungshandlungspflichten gleichsam als "Restitutionshandlungspflichten" an; s. näher unten § 10IV 7. zu (1). 78 Hierzu sind von Hruschka nicht näher spezifizierte "nähere Beziehungen" erforderlich, JuS 1979, 385 (392), die sich als institutionelle Beziehungen präzisieren lassen, s. unten § 10 IV 7. zu (2). 79 Diese Unterscheidung deckt sich nicht ohne weiteres mit der (nur phänomenologischen) zwischen Überwachungs- und Obhutsgarantenstellungen, hierzu noch unten § 10 IV 3. m.w.N.; vgl. Hruschka, JuS 1979, 385 f. 75

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zu dulden, auch wenn sie mit Eingriffen in eigene Güter verbunden sind80. Den Rettungsduldungspflichten wiederum müssen sinnvoller- (wenn auch nicht notwendiger-81)weise Eingriffsrechte des Opfers oder Dritter entsprechen (Korrelationsgedanke) 82. Dieser Korrelationsgedanke wird durch das utilitaristische Verrechnungssystem modifiziert, nach welchem das (ggf.: wesentlich) gewichtigere auf dem Spiele stehende Interesse dem (ggf.: wesentlich) geringeren weichen muß. Hierdurch können die Rettungsduldungspflichten - und spiegelbildlich: die Eingriffsrechte des Opfers oder Dritter - beschränkt werden. Für das geltende Strafrecht - und insbesondere für die hier in Frage stehenden Garantenpflichten - bedeutet dies: § 34 enthält eine allgemeine Rettungsduldungspflicht, und zwar im Ausgangspunkt eine allgemeine Obhutsduldungspflicht, da nicht verlangt wird, daß der Betroffene für die vorausgesetzte Gefahr in irgendeiner Weise verantwortlich ist. Ihr entspricht die allgemeine Rettungshandlungspflicht in § 323 c, dessen Zumutbarkeitsklausel also spiegelbildlich zu § 34 zu konkretisieren ist: Hilfeleistung ist zumutbar, wenn das durch sie zu schützende das durch sie beeinträchtigte wesentlich83 überwiegt und die erforderlich Hilfeleistung zugleich ein angemessenes Mittel der Gefahrabwendung darstellt84. Bei Sicherungsduldungspflichten (insbesondere beim Aggressivnotstand) - und damit bei den Sicherungshandlungs-, d.h. Sicherungsgarantenpflichten - hingegen ist die Interessenrelation genau umgekehrt zu bestimmen85. Dies ergibt sich zum einen aus § 228 BGB, der kraft Einheit der Rechtsordnung auch im Strafrecht gilt und dort - ganz unbestrittenermaßen - Rettungsduldungspflichten begründet, denen axiologisch Rettungshandlungspflichten entsprechen. Zum anderen ergibt es sich daraus, daß Sicherungshandlungspflichten das axiologische Ergänzungsstück zu den Unterlassungspflichten der Begehungsdelikte darstellen; wenn diese aber nur - gem. § 34 - unter der Voraussetzung eingeschränkt werden können, daß das Erhaltungs- das Eingriffsgut wesentlich übersteigt, so kann bei jenen nichts anderes gelten: Sicherungsduldungs- wie -handlungspflichten bestehen also nur und genau 80

81

Hruschka, JuS 1979, 385 (386).

Dies wird insbesondere bei § 34 übersehen, der keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine Solidaritäts- oder Aufopferungspflicht für den Inhaber des jeweils wesentlich geringeren auf82 dem Spiele stehenden Rechtsguts beinhaltet; hierzu Lenckner, Notstand, S. 111 ff. Hruschka, JuS 1979, 385 (388); Hruschka nennt dies das "Basissystem". 83

"Wesentlich" bedeutet hier nicht bloß (formell) eindeutig, sondern (materiell) gewichtig; nur dann ist unter der Voraussetzung eines liberal-freiheitlichen Rechtssystems die solidarische Verpflichtung zur Aufopferung eigener Güter legitimierbar; a A. aber S/S-Lenckner, § 34 Rdnr. 45 m.w.N.; wie hier aber LK-Hirsch, § 34 Rdnr. 76. 84 Hruschka, JuS 1979, 385 (390). 85

A A aber S/S -Lenckner, § 34 Rdnr. 30 (dort auch umf. Nachw. zum Streitstand), wonach das Vorliegen eines Aggressivnotstandes nur die Interessenabwägung bei § 34 beeinflussen und ggf. umkehren soll. - Die Auffassung, gem. § 34 dürften "zum Schutz bloßer Sachwerte (auch) höchstpersönliche Güter wie Körperintegrität und Freiheit" (!) verletzt werden, läßt sich aber nach dem Wortlaut des § 34 kaum begründen.

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dann nicht, wenn das aufzuopfernde das gefährdete Interesse wesentlich überwiegt und die Sicherungshandlung schlechthin unangemessen86 ist - was mit der Auffassung von Jakobs übereinstimmt, freilich eben nur für die Sicherungsgarantenpflichten 87. Anders liegt es hingegen bei speziellen ObhutshandlungspfÜchten, also bei den Obhutsgarantenpflichten. Hier kann § 34 weder - wie bei den Sicherungsgarantenpflichten - "umgekehrt" angewendet werden, weil spezielle Obhutshandlungspflichten nicht das axiologische Gegenstück zu Unterlassungspflichten sind, noch kann § 34 unmittelbar angewendet werden, weil eben keine "allgemeinen", sondern "besondere" Obhutshandlungs- und -duldungspflichten vorliegen. Insofern entspricht es der h A., daß dem Obhutsgaranten jedenfalls "größere" Opfer als dem nur gem. § 323 c Obhutspflichtigen abverlangt werden können, und auch sonst nicht "verrechenbare" Interessen können verrechnet werden88. Nach Hruschka soll hier eine schematische Lösung in der Weise gefunden werden, daß Unzumutbarkeit beim Obhutsgaranten dann vorliegt, wenn das von ihm preiszugebende Interesse das zu garantierende überwiegt89; demgegenüber hat der Bundesgerichtshof die Unzumutbarkeit bereits dann angenommen, wenn das preiszugebende Interesse dem Gewicht des drohenden Erfolgs entspricht90. Jedoch verbietet sich bei Obhutsgaranten jede schematische Lösung. Da Obhutsgarantenstellungen - wie noch zu zeigen sein wird - heteronom qua Institution oder Rolle zu bestimmen sind, richtet sich das Maß des geforderten Gütereinsatzes ganz nach dieser Institution oder Rolle91. So wird von einem Arzt in einer Spezialklinik, in dessen Behandlung sich ein Kranker gegeben hat, institutionell garantiert der Einsatz vorhandener modernster und teuerster Geräte verlangt92. Es kann mithin nur gesagt werden, daß das Maß des geforderten Güterein86 Was nach Hruschka , JuS 1979, 385 (392) dann der Fall sein soll, wenn die zu verantwortende Gefahr nicht pflichtwidrig herbeigeführt wurde oder auf einem sonst - in analoger Weise - zu verantwortenden gefährlichen Vorgang beruht. Dies kann sogar bei gerechtfertigten Vorhandlungen der Fall sein; öffnet etwa jemand eine Schleuse, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten, wodurch eine Überschwemmung eintritt (§ 34!), so muß der Öffende weitere durch die Überschwemmung drohende Schäden abwenden, da das Sonderopfer der in Anspruch genommenen Dritten (z.B. der Hauseigentümer im Überschwemmungsgebiet) möglichst gering zu halten ist, Hruschka , JuS 1979, 385 (392 in Fn. 31). Der Sache nach vertritt Jakobs , Strafrecht, 15/12 ff. ebenfalls eine differenzierende Lös u n

i

Beispiel: Eltern müssen für ihre Kinder zur Lebensrettung Blut spenden, auch wenn für einen Jedermann keine Duldungspflicht gem. § 34 besteht, weil es mit Blick auf die Personenwürde nicht "angemessen" ist, jemanden als lebende Blutbank zu verwenden; s. hierzu Wessels , Strafrecht, S. 93. 89 Hruschka , JuS 1979, 385 (392). 90 BGH NStZ 1984,164. 91 Jakobs , Strafrecht, 15/15, s. auch 29/14. 92

Zur Obergrenze der Unverhältnismäßigkeit bei ärztlicher Behandlung vgl. S/S-Eser , Vorbem. §§ 211 ff. Rdnr. 30 mit umf. Nachw. u. dem zutr. Fazit, es dürften rein wirtschaftliche Gründe eine für den Patienten irgend sinnvolle Lebensverlängerung nicht ausschließen, es sei denn, es stünden Erwägungen aus dem Selbstverantwortungsprinzip und dem "Rechts auf einen menschenwürdigen Tod" entgegen.

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satzes zwischen demjenigen des § 323 c und demjenigen des (umgekehrten) § 34 liegen muß; was im Einzelfall nicht mehr angemessen ist, muß nach einem Anwendungsdiskurs im Sinne von Klaus Günther 93 bestimmt werden. III. "Erlaubtes Risiko" und Garantenpflichten 1. Dogmatische Relevanz des "erlaubten Risikos" bei den unechten Unterlassungsdelikten Im Bereich der Garantenpflichten wird die Rechtsfigur des "erlaubten" oder "maßvollen"94 Risikos vor allem bei der Frage relevant, inwieweit sich aus (Vor-)Verhaltensweisen, die sich im Rahmen des erlaubten Risikos bewegen, Garantenpflichten entstehen können. Des weiteren ist das erlaubte Risiko aber für den Pflichteninhalt relevant: Ist der Garant verpflichtet, jedes Risiko zu beseitigen, oder kann er sich - um pflichtgemäß zu handeln5 damit begnügen, solche Handlungen vorzunehmen, die das Risiko auf das erlaubte Maß begrenzen? 2. Zum Begriff des erlaubtes Risikos Bevor diese Fragen geklärt werden können, müssen freilich der - schillernde und nicht eindeutige - Begriff 6 und die Legitimation des erlaubten Risikos geklärt werden97. Wie Preuß98 gezeigt hat, gibt es nach hA. vier Fallgruppen des erlaubten Risikos: (1) dasjenige wegen überwiegenden sozialen Nutzens; (2) dasjenige bei unbeherrschbarer Kausalität; (3) dasjenige bei riskanten Rettungshandlungen und (4) dasjenige bei Einwilligung in Gefahr und Handlung. Die Fallgruppen (1), (3) und (4) tauchen bereits in dem berühmten "Memel-Fall" auf, in dem ein Schiffer bei stürmischem Wetter von mehreren Fahrgästen gedrängt wurde, überzusetzen (Fallgruppe !), welche dann ertranken und wo das Reichsgericht - im Grunde obiter 99 - ausführte: "Nicht jede Vornahme einer gefährlichen Handlung enthält 93

S. oben § 6 14. So die Bezeichnung b. Binding, Normen, Bd. IV, S. 432 (ff.). 95 Um normgemäß zu handeln, muß der Garant freilich den Erfolg (wirklich) abwenden. 96 Zur Dogmengeschichte Kienapfel, Risiko, S. 17 ff.; Preus, Risiko, S. 30 ff.; Roeder, Einhaltung, S. 28 ff.; Rehberg, Lehre, S. 18 ff. 97 Zus.fas. Jakobs, Strafrecht, 7/35 ff. mit umf. Nachw. - Krit. Bestandsaufahme auch b. Maiwald, in: Jescheck-FS, Bd. I, S. 405 ff. - Das "erlaubte Risiko" wird v.a. im Wirtschaftsbereich, z.B. bei der Sanierung eines in der Krise befindlichen Unternehmens (§ 283) sowie bei riskanten Geschäften (§ 266) praktisch; s. zu dieser - teils besonders gelagerten - Problematik LK-Tiedemann, Vor § 283 Rdnr. 111 u. die Monographie von Harneit, Überschuldung, passim. 98 Risiko, S. 20 ff. 94

99

Da der Fall eben ausschließlich die (nach anderen Regeln zu behandelnde) Fallgruppe (4) betraf; zum Sachproblem unten § 6 IV 3.

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aber schon als solche, nur um dieser ihr innewohnenden Gefährlichkeit willen eine Pflichtwidrigkeit, sie kann vielmehr je nach den Umständen pflichtgemäß oder, obschon durch keine Pflicht geboten, so doch auch keiner Pflicht widersprechend sein. So sind zahlreiche Operationen, die der Arzt zur Behebung einer Krankheit pflichtgemäß ausführen muß, mit Lebensgefahr für den Kranken verbunden (Fallgruppe !); ebenso erfordern Wissenschaft und Technik - man denke z.B. an chemische Versuche und solche mit Flugzeugen - häufig die Vornahme von Handlungen, die erhebliche Gefahren für Leib und Leben sowohl des Handelnden selbst als dritter Personen in sich schließen (Fallgruppe !) h10 °. Die Fallgruppe (2) liegt den zahlreichen Schulfällen zugrunde, in denen z.B. der Erbonkel zu einer Flugreise gedrängt wird in der - sich bestätigenden - Hoffnung, das Flugzeug werde abstürzen \ Nun ist längst erkannt worden, daß die Fallgruppen (3) und (4) in Wahrheit Probleme des Selbstverantwortungsprinzips (der Einwilligungslehre i.w.S.) sowie des Notstands (oder notstandsähnlicher Lagen) aufwerfen 102, die erst im folgenden zu behandeln sind103. Die Fallgruppe (2) läßt sich nach den Regeln über mittelbare Täterschaft über ein tatbestandslos - weil sich selbst verletzendes - Opfer lösen; sofern kein relevanter Wissensvorsprung des Neffen (etwa über eine an Bord deponierte Bombe) vorliegt, fehlt es an der Täterschaft. Wirklich problematisch ist allein die Fallgruppe (1): Ist es um eines prästierten sozialen - insbesondere eines wirtschaftlichen - Nutzens zulässig, Risiken für Dritte einzugehen? Führt dies nicht zii einer "Generalexkulpation des kapitalistisch produzierenden Unternehmers ... nach dem Grundsatz, es sei erlaubt, was dem Unternehmer nützt"104? Die Rechtsprechung hat ganz überwiegend daran festgehalten, daß wirtschaftliche und sonstige sozialnutzensorientierte Interessen - in den Grenzen des (umgekehrten) § 34105 - kein Argument für die Begrenzung von strafrechtlichen Pflichten - Garantenpflichten (in der Form von Verkehrssicherungspflichten) oder Sorgfaltsobliegenheiten - sein können. Gerade bei "an sich" gefährlichen Betrieben tendierte das Reichsgericht dazu, hohe Anforderungen an Sicherungsmaßregeln zu stellen: "Die Art des Betriebes eines Gewerbes muß sich der Rücksicht auf Menschenleben unterordnen und darf nicht in einer Weise geschehen, daß sie mit dem Strafgesetze in Kollision kommt"106. Im Anschluß an die Rechtsprechung des späten Reichs100

RGSt 57,172(173). Ein entsprechendes Schulbeispiel findet sich zuerst b. Ludwig v. Bar , Causalzusammenhang, S. 15. 102 S. nur S/S-Lenckrter, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnrn. 100 ff. (bes. 107 b) mit umf. Nachw. 103 S. unten § 6 IV. 101

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So die sozialistische Rechtskritik, vgl. Seidel , Risiko, S. 116 u. hierzu Preuss , Risiko, S. 17 und 55 ff. 105 S. oben § 6 II 1. zu BGHSt 37,106. 106 RGSt 10, 6 (7). - Ähnlich wies das RG (St 16, 290; 18, 74) die Berufung des Unternehmers auf eine "Betriebsstörung" oder auf Rentabilitätserwägungen ausdrücklich zurück.

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gerichts 107 ließ freilich der Bundesgerichtshof in seiner frühen Rechtsprechung die Gesichtspunkt der Nützlichkeit der je gefährlichen Tätigkeit und der unerträglichen Hemmung des jeweiligen (insbesondere: Individualstraßen- und Massentransport-) Verkehrs in weiterem Umfang zu108. Dieser Aufweichungstendenz setzte der Beschluß der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs vom 1.7.1961 ein Ende109. Die Vereinigten Großen Senate hielten - gegen die Ansicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Vierten Strafsenats am Bundesgerichtshof - an der "Goldenen Regel" des Fahrens auf Sicht auch auf Autobahnen110 fest und führten aus: "Das Menschenleben ist unantastbar. Sein Schutz ist die wichtigste Aufgabe der Rechtsgemeinschaft. Er beansprucht daher auch im Straßenverkehr den Vorrang vor dem Wunsch des einzelnen, besonders rasch vorwärts zu kommen. Der Einwand, daß der moderne Schnellverkehr ohne Blutopfer nicht denkbar sei und daß Verluste an Menschenleben und -gesundheit dort in Kauf zu nehmen seien, wo deren Verhütung eine der Zweckbestimmung von Schnellverkehrsstraßen zuwiderlaufende Drosselung der Geschwindigkeit erfordern würde, kann nicht anerkannt werden. Das Menschenleben und das Bedürfnis nach rascher Fortbewegung sind, von Notständen abgesehen, keine vergleichbaren Werte, auch dann nicht, wenn hinter dem Streben nach baldiger Erreichung des Fahrtzieles billigenswerte Beweggründe stehen"111. Abgesehen von Fällen des § 34 unterfallen daher (jedenfalls: lebens-)gefährdende Handlungen nie dem erlaubten Risiko. Seit dieser Entscheidung lehnt es die ständige Rechtsprechung ab, dem "Bedürfnis nach Steigerung der Zügigkeit und Flüssigkeit" des (insbesondere: Straßen-) Verkehrs Rechnung zu tragen; diese Bedürfnis habe seine Grenze in der Verkehrssicherheit .

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RG VkAbh 1936, 358; 1940,186.

Grundlegend hierzu war BGHSt 1, 192 (196), in welcher der BGH für Straßenbahnen eine Ausnahme von der Bremspflicht in unübersichtlichen Situationen mit der Erwägung zuließ, eine solche Pflicht "würde den Straßenverkehr ... unerträglich und fahrplanwidrig hemmen". Ähnlich wurde das Linksabbiegen auf ein Grundstück unter Einordnung in die Straßenmitte "zwm Vorteil der Kraftfahrpraxis und in Übereinstimmung mit einer bereits weit verbreiteten Übung" als verkehrsgerecht anerkannt (BGHSt 11, 296 gegen BGHSt 8, 285); auch sonst wurde die "Flüssigkeit des (Straßenverkehrs" als Argument für Restriktionen von1Sorgfaltspflichten verwendet, s. BGHSt 12,81 (84). - Herv. v. Veif. 09 BGHSt 16,145 = BGHZ 35, 400. 110 S. jetzt § 18 Abs. 6 StVO (der im Ergebnis dem in BGHSt 16, 145 Ausgeführten entspricht). 111 Vgl. BGHSt 16, 145 (149 u.). - Die fundamentale Bedeutung dieser Entscheidung wird in der Lit. verkannt; s. etwa die Darstellung b. S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr. 94. 112 Vgl. BGHSt 21,91 (96).

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3. Erlaubtes Gesamt- und erlaubtes Einzel-Risiko Die geschilderte strenge Rechtsprechung - der in vielen Bereichen der Vorwurf einer heillosen "Überspannung" von Rechts- und Sorgfaltspflichten gemacht wird 113 - trifft axiologisch zu. Denn außerhalb der zuvor behandelten Zumutbarkeits- und Angemessenheitserwägungen114 ist der von den Verhaltensnormen geforderte Rechtsgüterschutz keinen sozialen Utilitätserwägungen unterworfen; eine derartige "policy-Erwägung" ist dem Richter verwehrt 15. Es ist die Mindestbedingung für die Legitimität einer rechtlichen Verhaltensordnung, daß - jedenfalls unter der Voraussetzung allseits (objektiv) norm- und obliegenheitsgemäßen Verhaltens 116 und vorbehaltlich von Notstandseingriffen - nach dem Maßstab der praktischen Vernunft gar keine (verbotene) Rechtsgutsverletzungen eintreten können: Das erlaubte Risiko als Gesamtrisiko (sog. erlaubtes Gesamt-Risiko) in einem Lebensbereich muß - wie gesagt, unter der Voraussetzung allseits norm- und obliegenheitsgemäßen Verhaltens - nach dem Maßstab der praktischen Vernunft Null sein; nur dann ist die vom Recht prästierte wechselseitige Interessenabgrenzung geschlossen117. Genau dies ist der Sinn von § 1 Abs. 2 StVO (für den Straßenverkehr) 118. Umgekehrt gesprochen muß sich jede sich ereignende Rechtsgutsverletzung auf irgendein objektiv119 norm- oder 113 S. zum Verkehrsstrafrecht Arzt/Weber, Strafrecht Besonderer Teil, LH 1, Rdnr. 46; zum Lebensmittelstrafrecht Hufen, Maßstäbe, S. 42 ff. (dort weit. Nachw. der Rspr.) u. 135 ff. 114 S. oben § 6 II. 115 S. noch unten § 10 III 3. 116 Zum Vertrauensgrundsatz s. unten § 6IV. 117 Nur auf den ersten Blick widerspricht dieser Auffassung die Anerkennung eines erlaubten "Restrisikos" in der Rspr. des BVerfG zum Betrieb von Kernkraftwerken, vgl. BVerfGE 49, 89 (90 in LS 6 u. 141 ff.). Mit dem erlaubten "Restrisiko" meint das BVerfG aber nur solche Risiken, die nach "menschlichem Erkenntnisvermögen" nicht bestehen und nach dem "Maßstab der praktischen Vernunft" ausgeschlossen sind. - I.E. ebenso Jakobs , Strafrecht, 7/41a: "Ein erlaubtes Risiko, das aufgrund objektiv erkennbarer unglücklicher Bedingungen ... (Schäden herbeiführt), kann es nicht geben; denn bei so gearteter... Gefährlichkeit endet das erlaubte Risiko". - Zu Bereichen eines angeblich "tolerierten Restrisikos" - wohl auch im Sinne eines erlaubten Gesamt-Risikos - s. aber Frisch , Verhalten, S. 547 ff.

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S. bereits die frühen Entscheidung BGHSt 2, 227, in welcher ein Kraftomnibusfahrer bei der Ausfahrt aus dem Omnibusdepot eine "schlecht sehende und hörende, kleine und gebückt gehende 69jährige Frau", die sich im "toten Winkel" des Omnibusses befunden hatte, übersehen und getötet hatte. Hier war der Omnibusfahrer strafbar, weil er sich nicht so verhalten hatte, daß "die Gefährdung des Straßenverkehrs a u s g e s c h l o s s e n war", aaO., S. 227; Herv. i. Orig.; er hätte eine Hilfsperson zum Einwinken hinzuziehen müssen. 119 Derartige objektive Obliegenheiten können auch nicht (voll) verantwortlichen Personen zugewiesen werden, etwa Kindern und Geisteskranken, vgl. Kindhäuser , Gefährdung, S. 47 ff.; darüber hinaus können den Aufsichtspersonen über solche Personen Obliegenheiten zugewiesen werden, jene können dann auch subjektiv (individuell) verantwortlich sein (vgl. zur entsprechenden zivilrechtlichen Problematik bei §§ 254 Abs. 2 Satz 2, 278, 828 f. BGB BGHZ 37, 102; MünchKomm-Gn/zwAy, § 254 Rdnr. 21 m.w.N.; die z.T. abweichende Auffassung im Zivilrecht erklärt sich daraus, daß die h A. hier die Fahrlässigkeit ausschließlich als Schuldform ansieht, so daß § 828 BGB dann auch die Annahme einer objektiven Obliegenheit sperrt).

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obliegenheitswidriges Verhalten zurückführen lassen; gelingt dies nicht, so ist die rechtliche Verhaltensordnung für den in Frage stehenden Lebensbereich nicht legitim, weil das erlaubte Gesamt-Risiko nicht (nach dem Maßstab der praktischen Vernunft) Null ist120. Gleichwohl hat die Lehre vom erlaubten Risiko kraft sozialen Nutzens einen zutreffenden Kern, der freilich nicht die Verhaltensordnung innerhalb eines rechtlich geregelten Lebensbereichs, sondern dessen Erlaubtsein an sich betrifft. Es fragt sich nämlich einerseits, warum trotz der Einsicht, daß menschliches Versagen (statistisch gesehen) unvermeidbar ist, Entfaltungsmöglichkeiten nicht schlechthin abgeschnitten werden (z.B. der Straßenoder Luftverkehr nicht schlechthin untersagt wird); andererseits, warum unvermeidbare höhere Gewalt (ungewöhnliche121 Naturkatastrophen wie Erdbeben, außergewöhnliche Stürme usf.) nicht in Rechnung gestellt werden muß. Das erlaubte Risiko im Sinne des normativen erlaubten Gesamt-Risikos betrifft mithin die Frage nach der Behandlung des schlechthin Unvermeidbaren im Recht122. An dieser Stelle - freilich auch nur hier - hat der Gedanke der sozialen Utilität seinen Platz: Was schlechthin zu unserer Lebenswelt gehört - z.B. der Bau von Häusern, der Straßenverkehr oder die Warenproduktion -, kann nicht deshalb zur Gänze verboten werden, weil es mit dem "allgemeinen Lebensrisiko"123 befrachtet ist, daß es qua statistisch unvermeidbarem norm- und obliegenheitswidrigem Verhalten oder qua unvermeidbarer höherer Gewalt verletzungsrelevant wird, also Rechtsgüter beeinträchtigt; ein Verbot ist nur dann legitim, wenn sich kein (objektiv erfüllbares 1 ) Regelungssystem aus Normen und Obliegenheiten unter Berücksichtigung besonderer höherer Gewalt angeben läßt, welches das Gesamt-Risiko der Verletzung von Rechtsgütern auf Null reduziert. Daher läßt sich auch in der Fallkonstellation, daß ein Schuldunfähiger - z.B. ein fünfjähriges Kind - plötzlich und für einen Kraftfahrer unvorherseh- und unvermeidbar in die Fahrbahn läuft, stets ein (objektiv) Verantwortlicher ausmachen: Ist das Kind bereits (objektiv) handlungsfähig, so kann die objektive Verantwortlichkeit ihm selbst zugewiesen werden; ist das Kind hingegen noch nicht handlungsfähig, so darf es nicht ohne ständige Aufsicht den Gefahren des Verkehrs ausgesetzt werden. 120

Die Folge dieser Auffassung ist es, daß schlechthin unbeherrschbare Risiken überhaupt nicht eingegangen werden dürfen; Beispiel: Eine gentechnologische Produktionsanlage, die objektiv unvermeidbar - jährlich den Tod von fünf Arbeitern bedingt, darf nicht errichtet werden, selbst wenn durch sie lebensrettende Medikamente hergestellt werden: Verrechnungsverbot 121 bei § 34! Übliche oder aufgrund besonderer Umstände drohende Naturkatastrophen lösen hingegen Verhaltenspflichten und -Obliegenheiten aus. So wäre es rechtlich unzulässig, ein Kernkraftwerk nicht gegen übliche Erdbeben zu sichern oder es in einem besonders erdbebengefährdeten Gebiet zu errichten. 122 S. Jakobs, Strafrecht, 6/42a. 125

Zu dieser Lehre Frisch, Verhalten, S. 386 ff. mit umf. Nachw. Es ist diskutabel, ob hier gleichsam "institutionelle" Uberforderungen (in umgekehrter Anwendung des Vertrauensgrundsatzes) ein Verbot rechtfertigen: Wenn es nicht menschenmöglich ist, Kernkraftwerke norm- und obliegenheitsgemäß zu betreiben, könnte deren Verbot gerechtfertigt sein. 124

13 Vogel

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Des weiteren trifft die Lehre vom erlaubten Risiko insoweit zu, als - werden die Zuständigkeiten der je anderen mit der Verletzungsvermeidung Betrauten berücksichtigt - bestimmte Risiken im Vertrauen auf die Zuständigkeit der je anderen eingegangen werden dürfen (sog. erlaubtes EinzelRisiko). Insoweit ist die Lehre vom erlaubten Risiko im engeren Sinne des erlaubten Einzel-Risikos aber mit derjenigen vom Vertrauensgrundsatz identisch125. Umgekehrt liegt ein erlaubtes Einzel-Risiko genau dann nicht mehr vor, wenn bei Zugrundelegung norm- und obliegenheitsgemäßen Handelns der anderen mit der Reduzierung des Gesamt-Risikos auf Null Betrauten eine Rechtsgutsverletzung nicht mehr vermieden werden kann. 4. Erlaubtes Risiko als Legitimationsgrenze für Garantengebote Hieraus ergibt sich für die Garantenpflichten eine gewichtige Einschränkung: Wer sich im Rahmen des erlaubten Gesamt- oder Einzel-Risikos bewegt, kann nicht Garant zur Abwendung schädigender Erfolge sein126. Dies gilt zunächst mit Blick auf Obhutsgarantenstellungen kraft Institution127: Wer sich in eine Institution begibt - z.B. eine Familie gründet, die Ehe eingeht oder ein Amt oder allgemeine Obhut übernimmt - bewegt sich im Rahmen des erlaubten Risikos; deshalb können so Garantenpflichten nicht entstehen128. Des weiteren - und bedeutsamer - gilt die Einschränkung aber auch für Sicherungsgarantenstellungen (aus Ingerenz und Verkehrssicherung) 129. So kann aus der Tatsache, daß jemand (ordnungsgemäß) ein Haus erbaut hat, ein Kraftfahrzeug gefahren oder eine Waffe produziert hat, für sich keine Garantenpflicht entstehen130: Stürzt das Haus infolge eines Erdbebens ein, so ist der Erbauer (oder Eigentümer oder Besitzer) ebensowenig Garant für das Leben von in dem Haus eingeschlossenen Personen131 wie es der Kraftfahrer schon wegen der "Betriebsgefahr" für das von ihm 125

Hierzu unten § 6 IV 4., 5. Grundsätzlich wie hier Jakobs , Strafrecht, 29/19, freilich mit der Ausnahme, daß ein erlaubtes Risiko dann zur Rettung verpflichte, wenn erstens ein Sonderrisiko vorliege und zweitens der Gefährdete die seinerseits ihm obliegenden Sicherungsmaßnahmen getroffen habe (aaO., 29/42). In diesen Fällen kann aber keine Verletzung entstanden sein, wenn denn ein (legitimerweise) erlaubtes Risiko vorliegen soll. 126

127

Hierzu näher unten § 10 III 7. zu (2). Gallas , Studien, S. 87. - Dies gilt auch dann, wenn der sich in die Institution Begebende den dort gestellten Verhaltensanforderungen nicht genügen kann; dieses Ungenügen wird erst später relevant (Übernahmeverschulden). - Zu den Gegenansichten - insbesondere bei der angeblich gefahrerhöhenden Übernahme - s. unten § 10IV 5. 129 Hierzu noch u. § 8 III. 130 So in aller Klarheit bereits Ludwig v. Bar , Gesetz und Schuld, Bd. II, S. 268: "Der Kanalbauer, der den von ihm gegrabenen Schacht gehörig mit Warnungslampen versehen hat, ist rechtlich nicht verpflichtet, unvorsichtig Gehende oder Fahrende noch besonders zu warnen"; a.A. aber Welp, Vorangegangenes Tun, S. 235 ff., bes. 241 ff.; hiergegen zutr. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 284 ff. 131 S. Herzberg , Unterlassung, S. 301 f. 128

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schwer verletzte Unfallopfer oder der Waffenhersteller für das Opfer einer Straftat ist. All' dies gilt selbstverständlich nur dann, wenn im übrigen ein norm- und obliegenheitsmäßiges Verhalten vorliegt, wenn also der Hausbauer (oder Eigentümer oder Besitzer) nicht diejenigen Vorkehrungen unterlassen hat, die für übliche oder aufgrund besondere Umstände drohender Erdbebengefahren erforderlich waren, der Kraftfahrer sich nicht in jeder Hinsicht verkehrsgerecht verhalten oder der Kraftwagenhersteller nicht einen in jeder Hinsicht ordnungsgemäßen Kraftwagen produziert hat 132 . Nicht im Rahmen des erlaubten Risikos bewegt sich des weiteren, wer eine ihm zugeordnete Freiheitssphäre obliegenheitswidrig unerlaubt gefährlich werden läßt133. Im Ergebnis wird der erlaubt riskant Handelnde also immer, aber auch nur dann entlastet, wenn die Gefahr ausschließlich durch ein norm- oder obliegenheitswidrigen Handeln eines anderen entstanden ist. Die hier entwickelte Auffassung entspricht derjenigen des Bundesgerichtshofs. Hier sind zunächst die bekannten Gastwirts-Fälle zu nenneir 34. Während der Bundesgerichtshof in einer frühen Entscheidung noch generell die Pflicht des Gastwirts angenommen hatte, fahruntüchtige Gäste - notfalls durch Herbeirufen der Polizei - am Wegfahren zu hindern, weil "im Interesse der Allgemeinheit, die Verkehrsteilnehmer vor betrunkenen und völlig fahruntüchtigen Fahrern zu schützen", vom Gastwirt ein "angemessenes wirtschaftliches Opfer" - nämlich den Verlust eines Stammgasts - verlangt werden könne135, korrigierte sich das Gericht in einer späteren Entscheidung mit folgenden Erwägungen: Es sei davon auszugehen, daß nicht "jedes sozial übliche und von der Allgemeinheit gebilligte Verhalten" eine derartige Pflicht auslösen könne. Die aus dem sozialüblichen Ausschenken von Alkoholika erwachsenden Gefahren nehme "die Gesellschaft, was die Rechtspflichten des Gastwirts angeht, in erträglichen Grenzen in Kauf'; diese Grenzen seien erst dort erreicht, "wo die Trunkenheit eines Gastes offensichtlich einen solchen Grad erreicht hat, daß er nicht mehr verant-

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Dies bedeutet: einen Kraftwagen, der so ausgestattet ist, daß bei in jeder Hinsicht obliegenheitsgemäßer Benutzung (und bei Unterstellung obliegenheitsgemäßen Verhaltens anderer Verkehrsteilnehmer) die Gefahr für Leib oder Leben Dritter Null ist. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn neuartige (und nicht gesetzlich vorgeschriebene) Sicherheitsmaßnahmen (z.B. ABS-Bremsen, Prallsack usf.) nicht vorhanden sind. Erst wenn sich - etwa bei gesetzlicher Normierung - ein Kraftfahrer auf derartige Sicherungsmaßnahmen verlassen kann (Vertrauensgrundsatz!), wäre das Fehlen solcher Sicherungsmaßnahmen obliegenheitswidrig. 13 So die st. Rspr., s. nur BGH (ZS) LM Nr. 95 zu § 823 (De) BGB, S. 2: Es gelte der "Grundsatz, daß derjenige, der Gefahrenquellen 'schafft', d.h. sie selbst hervorruft oder andauern läßt, alle nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zum Schutze anderer Personen zu treffen hat"; Herv. v. Verf. - Krit. zum hierin liegenden Begründungswechsel (Verhaltenshaftung einerseits, Zustandshaftung andererseits) Weber, in: Oehler-FS, S. 83 (91, 93 ff.). - Zu den Verkehrssicherungspflichten eingehend unten § 8 III. 134 Eingehend Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 278 ff. mit umf. Nachw. 135 BGHSt 4, 20 (23). 13*

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wortlich handeln kann"136. Wegweisend war sodann die Entscheidung BGHSt 25, 218 zur Garantenstellung des Kraftfahrers aus Ingerenz mit dem Leitsatz: "Ein Kraftfahrer, der sich in jeder Hinsicht pflichtgemäß und verkehrsgerecht verhält, hat gegenüber dem allein schuldigen Unfallopfer keine Garantenstellung." In der Begründung wird sodann ausgeführt: Ein "sozial übliches und von der Allgemeinheit gebilligtes Vorverhalten (kann) regelmäßig nicht zu einer Garantenstellung führen ... Zu den allgemein als sozial üblich gebilligten Verhaltensweisen gehört die Benutzung des öffentlichen Verkehrsraums mit einem Kraftfahrzeug jedenfalls so lange , wie Fahrzeug und Fahrzeugführer nicht mit Mängeln behaftet sind, die andere Verkehrsteilnehmer über die ohnehin von einem in Bewegung befindlichen Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren hinaus gefährden, und solange das Fahrzeug in jeder Hinsicht verkehrsgerecht gehandhabt wird" 137. Umgekehrt leitet der Bundesgerichtshof die (Ingerenz-) Garantenstellung des Warenherstellers daraus her, daß - positiv - die Rechtsordnung die Gefahrschaffung verbiete und - negativ - ein Fall des erlaubten Risikos nicht vorgelegen habe138. Allerdings hat Welp gegen die hier vertretene Auffassung eingewendet, daß die Wahrnehmung eines "erlaubten Risikos" kein Eingriffsrecht begründe und unter dem Gesichtspunkt eines wechselseitigen Interessen- und Freiheitsausgleichs (dem "kompossibilen Maximum" von Handlungsfreiheit und Gutsintegrität) komplemetäre Rettungspflichten auch bei "recht136

BGHSt 19,152 (154 f.). - Bestätigt und konkretisiert wurde diese Entscheidung in dem bekannten Fall BGHSt 26, 35: Der Garantenpflicht des Gastwirts "liegt der Gedanke zugrunde, daß das Verabreichen berauschender Getränke von dem Punkt an nicht mehr sozial üblich ist und von der Allgemeinheit gebilligt wird, an dem es zu solcher Trunkenheit führt, daß der Trunkene sich selbst und andere, z.B. andere Verkehrsteilnehmer, gefährdet" (aaO., 38). - Näher hierzu Brammsen , Entstehungsvoraussetzungen, S. 208 f. mit umf. Nachw. Allerdings darf die Berufung auf ein "sozial übliches, von der Allgemeinheit gebilligtes Verhalten" nicht mißverstanden werden: Ganz im Sinne des soeben theoretisch Dargelegten geht es nur darum, einen qua unvermeidbarem Fehlverhalten (oder qua unvermeidbarer allgemeiner höherer Gewalt) gefährlichen "lebensformbildenden" Bereich vor dem Verdikt gänzlichen Verbotenseins zu retten. Keinesfalls meint der BGH, daß wegen der sozialen Üblichkeit und der Billigung der Allgemeinheit unter der Voraussetzung norm- und oblieg;enheitsgemäßen Verhaltens aller Restgefahren verbleiben dürfen. Vielmehr muß das sozial Übliche oder Adäquate für sich ungefährlich sein, vgl. BGHSt 26,35 (38): "Solches Vorgehen war nicht mehr ' sozialadäquat\ sondern gefährlich ..." (Herv. v. Verf.). 137 BGHSt 25, 218 (221); Herv. v. Verf. - In BGHSt 34, 82 wurde diese Rechtsprechung dahin präzisiert, daß im Falle nicht verkehrsgerechten Verhaltens genüge, daß das Verhalten "in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unfall stand"; der Nachweis des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges sei nicht erforderlich. Diese Auffassung ist unrichtig, weil es nicht der Sinn von Pflichten ist, daß Erfolge auch bei pflichtgemäßem Verhalten eintreten; abl. auch die Anm. v. Herzberg , JZ 1986, 986 ff.; Rudolphi , JR 1987,162 ff.; Ranft, JZ1987, 859 (864). 138

BGHSt 37, 106 (117 f.). - Bedenklich ist es freilich, wenn der BGH (aaO.) andeutet, "Ausreißer" - also solche gefahrlichen und schädigenden Einzelprodukte, die bei der Massenfertigung generell einwandfreier Produkte nicht zu vermeiden sind - könnten einen Fall des erlaubte Risikos darstellen; dies trifft nur dann zu, wenn mit Blick auf Obliegenheiten des Endverbrauchers das Gesamt-Risiko Null ist.

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mäßigen Risiko-Vorhandlungen" denkbar seien139. Hieran trifft zu, daß mit Rettungspflichten immer ein (reziprok legitimierender) Sicherheitsgewinn einhergeht140. Deshalb kann prima facie auch in jeder Weise rechtmäßiges Verhalten als legitimierender Grund von Garantenpflichten - insbesondere von Verkehrssicherungspflichten - in Betracht kommen141. Jedoch ist ein weiterer Gesichtspunkt zu beachten: Das erlaubte Risiko muß, wie ausgeführt, nur unter der Voraussetzung allseitig norm- und (objektiv) obliegenheitsgemäßen Verhaltens und somit nur als Gesamt-Risiko (nach dem Maßstab der praktischen Vernunft) Null sein. Damit ist es durchaus möglich, daß ein Täter im Rahmen des erlaubten Einzel-Risikos handelt und gleichwohl eine Rechtsgutsverletzung eintritt. Diese muß dann freilich notwendigerweise - und zwar allein - einem obliegenheitswidrigen Verhalten des Opfers zuzuschreiben sein. Es ist bemerkenswert, daß der Bundesgerichtshof in den berichteten Entscheidungen für die Garantenpflichtbegründung maßgeblich darauf abstellte, daß der Gast (bis zur Grenze erheblicher Trunkenheit) allein "verantwortlich" sei bzw. das Unfallopfer "allein schuldhaft die Ursache für den Verkehrsunfall" 142 gesetzt habe1 . Damit zeigt sich wiederum, daß die These, ein erlaubtes Risiko könne keine Garantenpflichten begründen, durch das Selbstverantwortungsprinzips und den Vertrauensgrundsatzes gestützt werden muß. Hierauf wird zurückzukommen sein144. 5. Erlaubtes Risiko als Grenze des Inhalts von Garantenpflichten Des weiteren ergibt sich aber, daß Garantenpflichten (in des Wortes rechtstheoretischer Bedeutung) nie mehr verlangen können als die Begrenzung der dem zu garantierenden Rechtsgut drohenden Gefahr auf ein erlaubtes Maß. Zwar muß das erlaubte Gesamt-Risiko Null sein. Es muß je139

Welp, Vorangegangenes Tun, S. 209 ff.; zu Welp noch unten § 10 IV 4. zu (2). S. noch unten § 101 3.

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141

So zuerst Ludwig v. Bar, Gesetz und Schuld, Bd. II, S. 268 in Fn. 33a: Es könne ein "an sich fehlerlos erscheinendes Handeln seiner Natur nach ein weiteres komplementäres Handeln" fordern. - In der Tat sollen nach h.L. Ingerenz und Verkehrssicherungspflichten dadurch unterschieden werden, daß diese aus Vorhandlungen im Rahmen des erlaubten, jene aus unerlaubtriskantenVorhandlungen folgen, s. nur LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 35; vgl. Lackner, § 13 Rdnr. 13; je m.w.N. Die daraus folgenden Harmonisierungs- und Begründungsprobleme sieht die h.L. nicht, dazu noch unten § 8 III. 142 So BGHSt 25, 218 (222 - Herv. v. Verf.)\ wenn Jakobs, Strafrecht, 24/93 zutreffend darauf hinweist, der BGH habe offengelassen, was gilt, wenn ein allseits korrektes Verhalten vorliegt, so kann eine derartige Konstellation nach dem hier zugrundegelegten Verständnis vom erlaubten Risiko nicht vorkommen. 143 Auch Seelmann, GA 1989, 241 (245) weist auf den Gesichtspunkt der Opferverantwortlichkeit hin. - Daher trifft die Deutung der BGH-Rspr. dahin, ein verkehrsrichtiges Verhalten des Täters als solches genüge, um die Ingerenzgarantenstellung auszuschließen, nicht zu, so aber z.B. Wessels, Strafrecht, S. 232. 144 S. sogleich § 6 IV.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

doch bedacht werden, daß die Normen und Obliegenheiten, welche Dritten oder dem Opfer selbst zur Vermeidung von (Fremd- oder Selbst-) Schädigungen auferlegt sind, auf deren Erfüllung der Garant vertrauen, also ein erlaubtes Einzel-Risiko eingehen darf. Damit erweist sich, daß die Frage der Pflichtenbegrenzung bei den unechten Unterlassungsdelikten auch an dieser Stelle mit derjenigen der Reichweite des Selbstverantwortungsprinzips und des Vertrauensgrundsatzes identisch ist. Um die Konsequenzen hier nur anzudeuten: Ein Vater handelt pflichtgemäß, wenn er den Bereitschaftsarzt zur Rettung seines akut lebensbedrohlich erkrankten Kindes alarmiert, da der Bereitschaftsarzt institutionell garantiert retten muß und der Vater hierauf vertrauen darf; ein Hersteller handelt pflichtgemäß, wenn er vor gefährlichen (und nicht wieder rückrufbaren) Produkten warnt, wenn und soweit er darauf vertrauen kann, daß die Warnung (alle) Gefährdeten erreicht und von ihnen mit hinreichender Deutlichkeit verstanden wird 145 . 6. Erlaubtes Risiko im Wortsinne (Notwehr und Ingerenz) "Erlaubtes Risiko" kann schließlich - ganz im Wortsinne - heißen, daß die Risikoschaffung durch ausdrückliche straf- oder außerstrafrechtliche Rechtsvorschriften oder auch durch verwaltungsrechtliche Genehmigungen erlaubt ist. Das Bestehen derartiger Erlaubnisse bedeutet zunächst bei der Fahrlässigkeitszurechnung, daß keine Obliegenheit besteht, für die Vermeidung von normwidrigen Verhalten Sorge zu tragen. Daher ist der Normverstoß (schon) nicht pflichtwidrig; eine nach Güterabwägungskriterien zu lösende Pflichtenkollision (im engeren, rechtstheoretischen Sinne146) liegt nicht vor, so daß auch eine nach Rang und Gewicht geringerwertige Erlaubnis - beispielsweise die sich aus der StVO ergebende Erlaubnis, auf freien, übersichtlichen Vorfahrtsstraßen innerorts 50 km/h schnell fahren zu dürfen - die Zurechnung einer Tötung qua Fahrlässigkeit ausschließen kann147. In diesem Sinne kann das erlaubte Risiko bei den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten eine Rolle spielen148. Zu bedenken ist freilich, daß derartige Risikoerlaubnisse nach dem hier vertretenen Legitimationsansatz 145

Anderes gilt freilich, wenn der Rückruf möglich und das wesentlich effizientere Mittel ist, 146 s. BGHSt 37,106 (119 ff.). Zu fallweisen Normenkollisionen - die die h.L. nicht sauber als "Pflichten"kollisionen bezeichnet - s. bereits oben § 3 II 3., 4. 147 Vgl. Kindhäuser , Gefährdung, S. 69 ff. - Auch die h.L. steht auf dem an sich zutreffenden Standpunkt, die Einhaltung des erlaubten Risikos gebe keine Eingriffsbefugnisse, sei also kein Rechtfertigungsgrund i.e.S., vgl. S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr. 11 m.w.N.; s. aber auch Welzel , Fahrlässigkeit, S. 24 ff. (bes. 29 f.) u. Schmidhäuser , Studienbuch, 6/118, der der Auffassung ist, ein Kraftfahrer, der bei Einhaltung des erlaubten Risikos ein Kind töte, habe "nüchtern formuliert - erlaubt" getötet. Das trifft nicht zu: Der Kraftfahrer hat sich normwidrig (verboten) verhalten, aber nicht "pflichtwidrig" und damit nicht "rechtswidrig" im Sinne der Deliktsstufe des Unrechts, s. bereits oben § 1 III b), IV. 148 S. auch noch u. § 8.

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überhaupt nur dann begründbar sind, wenn davon ausgegangen werden kann, daß mit Blick auf ergänzende Obliegenheiten Dritter (sowie des Opfers) das Gesamtrisiko Null ist. Insofern steht etwa die StVO auf dem - in § 1 Abs. 2 niedergelegten - Standpunkt, daß derartige Obliegenheiten überhaupt nicht in Anschlag kommen; ein Verkehrsteilnehmer muß sich so verhalten, daß eine Gefährdung anderer überhaupt ausgeschlossen ist; Einschränkungen sind hier ausschließlich über den - sogleich149 zu behandelnden - praeter legem entwickelten Vertrauensgrundsatz möglich. Darüber hinaus sieht die ständige Rechtsprechung außerstrafrechtliche Verhaltenserlaubnisse nicht als Risikoschaffungserlaubnisse an, sondern schränkt die Erlaubniswirkung - wiederum vorbehaltlich des Vertrauensgrundsatzes - qua Auslegung ein. So heißt es bereits in RGSt 5, 309 (311): "Denn, daß die allgemeine und öffentliche Rechtspflicht keine gemeingefährlichen Überschwemmungen herbeizuführen, unabhängig ist von dem zufälligen Umfange der einer Privatperson zustehenden Stauberechtigung, kann keinem Zweifel unterliegen"150; dieser Rechtsprechung hat sich der Bundesgerichtshof angeschlossen151. Zweifelhaft ist aber, ob diese Erwägung ohne weiteres auch die Vorsatzzurechnung begrenzen kann. Beim vorsätzlichen Begehungsdelikt ist dies nicht der Fall, da hier die Pflicht zum normgemäßen Verhalten in der Regel der Risikoerlaubnis vorgehen wird: Sieht etwa ein Kraftfahrer, wie ein Fußgänger (unvorsichtigerweise) auf die Straße tritt, und bremst er nicht, obwohl er das könnte (und hierum weiß), so geht die Pflicht, das Körperverletzungsverbot zu befolgen, der uno actu kollidierenden Erlaubnis zur Einhaltung der Geschwindigkeit von 50 km/h vor, was sich ohne weiteres aus § 1 Abs. 2 StVO ergib? 52. Bei den (unechten vorsätzlichen) Unterlassungsdelikten liegt nun in den problematischen Fällen der Ingerenz bei ausdrücklich erlaubtem, sogar gerechtfertigten risikoschaffenden Verhalten 153 nicht einmal eine derartige Pflichtenkollision vor: Die Notwehrerlaubnis deckt zwar die Verletzung von Rechtsgütern des Angreifers, nicht aber das nach abgewehrtem Angriff zur Vertiefung der Verletzung führende Unterlassen, ebenso wie eine Schankerlaubnis zwar den Ausschank alkoholi149

§6 IV 4., 5. In diesem Fall ging es übrigens auch um ein (garantenpflichtwidriges) Unterlassen, nicht nur um Begehungsfahrlässigkeit, denn das RG warf dem Angeklagten vor, "daß er das eine Mal, vor der Gefahr (sc. der Überschwemmung) besonders gewarnt, geflissentlich die rechtzeitige Öffnung der Schützen unterlassen, das andere Mal, die Überschwemmung unmittelbar vor Augen, in leichtfertiger Annahme, die Gefahr sei vorüber, die Schützen zu frühzeitig zum Abstauen geschlossen hat", RGSt 5, 309 (311 - Herv. v. Verf.). 1 1 S. die b. Tiedemann, Neuordnung, S. 58 ff. abgedruckte (ansonsten unveröff.) Entscheidung 4 StR 28/75 v. 13.3.1975; vgl. weiterhin (zum Untätigbleiben von Behörden) BGHSt 37, 106 (122). - Näher zum Fragenkreis "Fahrlässigkeit und Sondernorm" unten §812. mit Fn. 29. Kindhäuser, Gefährdung, S. 70. 153 Zusammenfassende Darstellung b. Jakobs, Strafrecht, 29/39 ff. mit umf. Nachw. 154 Vgl. § 20 Nr. 2 GaststG u. hierzu BGHSt 26, 35 (38). 150

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scher Getränke erlaubt, aber nichts über die Verantwortlichkeit für nachfolgende drohende (Selbst- oder Fremd-)Verletzungen sagt. In Übereinstimmung mit dem oben Gesagten ist es für die Entlastung des Garanten nicht allein genügend, daß dieser norm- und obliegenheitsgemäß gehandelt hat; vielmehr muß sich (zudem) ergeben, daß die Verantwortlichkeit für den (drohenden) Erfolg der norm- oder obliegenheitswidrig handelnden Opferseite zugeschrieben werden kann. Dies ist bei den Notwehrfällen unproblematisch der Fall, und ganz in diesem Sinne führte der Bundesgerichtshof aus: Der notwehrübende Ingerent befinde sich "in einer wesentlich anderen Lage ... als gewöhnlich der Urheber einer Gefahrensituation. Die Gefährdungshandlung des Angegriffenen ... beruht nicht auf seiner freien Entscheidung, sondern ist durch das rechtswidrige Verhalten des Angreifers herausgefordert und ausgelöst"; zudem könne der Angreifer nicht stärker - nämlich (nur) durch § 323 c - geschützt sein als ein ohne fremde Schuld Verunglückter 155. Dasselbe gilt beim Defensiv- 156, nicht aber beim Aggressivnotstand, bei welchem der Betroffene nur kraft seiner allgemeinen Obhutsduldungspflicht in Anspruch genommen wird 157 . IV. Selbstverantwortungsprinzip sowie "Vertrauensgrundsatz" und Garantenpflichten 1. Selbstverantwortung des anderen und Garantenpflichten Die praktisch und theoretisch wichtigste Begrenzung der Garantenpflichten - ebenfalls in der "Angemessenheit" zu verankern - ergibt sich schließlich aus dem Selbstverantwortungsprinzip und dem Vertrauensgrundsatz 158. Hier sind zwei Konstellationen zu unterscheiden: Zum einen kann pflichtenbegrenzend wirken, daß neben dem oder statt des Garanten Dritte für die Erfolgsabwendung zuständig sind; zum anderen kann das Verhalten des Opfers selbst garantenpflichtbefreiend oder -begrenzend wirken. Diese Unterscheidung entspricht der von Frisch 159 entwickelten zwischen "Verhaltensweisen, die rechtsgutsbeeinträchtigendes Verhalten Dritter ... ermöglichen, fördern oder veranlassen" und "Verhaltensweisen, die fremde Selbst155

BGHSt 23, 327 (328); abl. Herzberg, JuS 1971, 74 ff. (bes. 76); s. jetzt BGH NStZ 1987, 171 f. mit Bespr. b. Ranft, JZ1987,859 (865 f.). 156 Wird bedacht, daß der Defensivnotstand (§ 34) spiegelbildlich die Hilfeleistungspflicht des § 323 c wiedergibt (s. oben § 6 II 3.), so ergibt sich, daß Jakobs, Strafrecht, 29/44 damit recht hat, daß keine Rettungspflichten entstehen, wenn der in Anspruch genommene hilfeleistungspflichtig nach § 323 c war. 157

158 Hierzu

Wessels, Strafrecht, S. 233. Letzterer wird überwiegend im Rahmen der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit diskutiert, stellt aber ein allgemeines obliegenheits- und pflichtbegrenzendes Prinzip dar; eingehend unten § 6 IV 4., 159 5. Verhalten, S. 230 ff. einerseits, S. 148 ff. andererseits.

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gefährdungen oder Selbstschädigungen ermöglichen oder fördern". Mit der ersten Konstellation sind die Problemfälle der Arbeitsteilung in bezug auf Garantenpflichten sowie deren Übernahme angesprochen; mit der zweiten diejenigen der (möglichen) Begrenzung oder gar des Ausschlusses von Garantenpflichten bei Ermöglichung der Selbstgefährdung (oder -Verletzung) und der einverständlichen Fremdgefährdung (bzw. -Verletzung) sowie bei Verbots- oder obliegenheitswidrigem Handeln des Opfers selbst60. AIP diese möglichen Haftungseinschränkungen wurzeln in dem Prinzip der Selbstverantwortung des anderen161, strafrechtsdogmatisch gesprochen: der Haftung (nur) für eigene "Schuld" im Sinne zu verantwortenden Unrechts 162. Wie Frisch eingehend begründet hat, liefe eine durchgängige Haftung für fremdes Verhalten sowohl auf eine unerträgliche Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit des Täters wie auch auf eine unangemessene Einschränkung des Verantwortungs- und Entfaltungsspielraums des Dritten bzw. des Opfers hinaus163. Wie das Selbstverantwortungsprinzip in diesem Sinne garantenpflichtbegrenzend oder gar -ausschließend zu wirken vermag, verdeutlicht eine frühe Entscheidung des Bundesgerichtshofs 164, in der es um folgenden Sachverhalt ging: Der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Dienststellenleiter der Bundesbahn hatte auf bahneigenem Gelände Bauschutt ankippen lassen und dadurch rechtmäßigerweise den zu einem Behelfsheim führenden Weg zugeschüttet. Die Bewohner dieses Heims legten nun rechtswidrig und gegen ein ausdrücklich geäußertes Verbot auf dem Bahngelände einen Ersatzpfad an, der über einen gefährlichen, durch Bomben zerstörten Bachdurchlaß führte. Hier stürzte ein Kind ab und fand den Tod. Einleitend stellte der Bundesgerichtshof fest, daß ein Verkehr nicht einmal durch "Duldung" eröffnet wurde, sondern allein das Zuschütten des Bahndamms zu dem gefährlichen Verkehr geführt habe, so daß nur eine Haftung aus vorangegangenem Tun in Betracht komme. Zwar könne auch rechtmäßiges Tun, das eine Gefahrenlage schaffe, zu weiterem Eingreifen verpflichten. Dies sei jedoch dann nicht der Fall, wenn rechtswidriges Verhalten zur Gefahr geführt habe, weil sonst eine "Haftung für fremde Schuld" einträte. Gleichwohl erwog der Bundesgerichtshof eine Pflicht zum Einschreiten, wenn voraussehbar gewesen wäre, daß der neue Verkehr notwendigerweise lebensgefährlich sein würde; es habe aber der Dienststel160

Zur Opfermitverantwortung in der Garantenpflichtdogmatik vgl. Seelmann, GA 1989,

241 ff. 161 Grundlegend Schumann, Selbstverantwortung, passim; vgl. weiterhin (zum Zusammenhang zwischen Selbstverantwortungsprinzip und Vertrauensgrundsatz) Frisch, Verhalten, S. 189 ff.; Jakobs, Strafrecht, 7/51; Stratenwerth, in: Eb. Schmidt-FS, S. 383 ff.; Wehrle, Beteiligung, S. 52 ff. und näher unten § 6 IV e). 162 Welches entweder eigenes oder zugerechnetes, zu verantwortendes fremdes sein kann, vgl. oben § 2 IV zur Teilnahme u. noch unten § 9 II. 163 Frisch, Verhalten, S. 152 (für die Opferkonstellation) u. 240 f. (für die Drittäterkonstellation). 164 BGHSt 3, 203.

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lenleiter auf ein vernünftiges Verhalten der Bewohner vertrauen können. Allenfalls habe von dem Dienststellenleiter die Absperrung der Gefahrenstelle oder eine Meldung an die vorgesetzte Dienstbehörde verlangt werden können; diese Maßnahmen hätten aber nicht den konkreten Erfolg verhindert, weil nicht auszuschließen sei, daß die Bewohner sich über eine Absperrung hinweggesetzt hätten oder die Dienstbehörde nicht eingeschritten wäre. - Nun befriedigt die Entscheidung insbesondere deshalb nicht, weil ein Kind - und damit ein selbst nicht voll Verantwortlicher - zu Schaden kam165. Gleichwohl ist es - wie bereits zum erlaubten Risiko ausgeführt - zutreffend, daß die von der Rechtsprechung anerkannten Einschränkungen der Garanten» und insbesondere der Sicherungsgarantenpflichten aus Ingerenz und Verkehrssicherung sämtliche in dem Gedanken der Haftung nur für selbst zu verantwortendes - nicht aber für ausschließlich vom Opfer oder Dritten "verschuldetes", d.h. zu verantwortendes - Unrecht wurzeln 166: Ebenso wie der durch eine Notwehrhandlung gefährdete Angreifer oder derjenige, der eine Defensivnotstandslage ausgelöst hat, dies (i.d.R. allein) zu verantworten hat, muß es derjenige, der betrunken vor ein in jeder Weise korrekt betriebenes und gefahrenes Kraftfahrzeug torkelt oder (bis zur Grenze offensichtlichen Verantwortungsausschlusses) Alkoholika konsumiert oder sich durch Drogen, deren Gefährlichkeit ihm vollständig bekannt ist, selbst gefährdet. 2. Ermöglichung fremder Selbstgefährdung sowie einverständliche Fremdgefährdung und Garantenpflichten Der Gesichtspunkt der pflichtenbegrenzenden Selbstverantwortung des anderen wird nicht nur bei der - dem soeben behandelten Urteil zugrundeliegenden - "trespasser'-Problematik 167 relevant. Vielmehr liegt er ganz allgemein den vieldiskutierten Fällen der Ermöglichung fremder Selbstgefährdung (und: -Verletzung)168 sowie der einverständlichen Fremdgefährdung (und: -Verletzung)169 zugrunde. Soweit diese Fälle freilich ganz überwiegend unter dem Aspekt der Begehungsfahrlässigkeits(sowie: Begehungsteilnahme-)strafbarkeit diskutiert werden, fragt sich allerdings, was hier unternommene Eingrenzungen für die Garantenpflichtproblematik austragen können. Jedenfalls im Bereich der Ingerenzhaftung aus gefährdendem Vor165 166

Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 305. Vgl. AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnrn. 52, 118, 142 ff. m.w.N. aus der einschlägigen

Rspr. 167

Hierzu aus zivilrechtlicher Sicht Christian v. Bar, Verkehrspflichten, S. 186 ff. mit umf. Nachw.; allg. zum zivilrechtlichen Problem des "Handelns auf eigene Gefahr" Hans Stoll, Handeln, passim. - S. noch unten 8 III 5. 168

Hierzu - je mit umf. Nachw. aus Rspr. u. Lit. - Frisch, Verhalten, S. 148 ff.; S/S-Cramer, § 15169Rdnrn. 155 f. Hierzu - mit umf. Nachw. aus Rspr. u. Lit. - S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnrn. 102 ff.

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

203

verhalten fällt die Antwort der - jedoch problematischen - h.L. leicht, die dessen Pflichtwidrigkeit verlangt; damit sind allerdings die Fälle institutionell garantierter Obhutsgarantenpflichten noch nicht gelöst. Hier sucht eine Literaturansicht die Lösung darin, es sei - ausnahmsweise - die Ermöglichung der Selbstgefährdung des Rechtsgutsträgers, dem die institutionelle Garantie zugute kommt, bzw. dessen einverständliche Gefährdung pflichtwidrig 170. Noch weitergehend will die Rechtsprechung die Fragen nach der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens einerseits, nach dem Bestehen von Garanten(rettungs)pflichten andererseits gänzlich entkoppeln: Jedenfalls in dem Zeitpunkt, in dem die Handlungsfähigkeit des sich selbst Gefährdenden (oder Verletzenden) oder des einverständlich durch einen Dritten Gefährdeten wegfällt, werde derjenige, der - und sei es auch nicht pflichtwidrig - die fremde Selbstgefährdung (oder -Verletzung) ermöglicht oder einverständlich das Opfer gefährdet (oder verletzt) hat, erfolgsabwendungspflichtig, weil zu diesem Zeitpunkt die Tatherrschaft auf ihn übergehe (und der - pflichtenbegrenzende - die Gefährdung oder Verletzung hinnehmende Wille des Opfers in sich zusammenbreche, jedenfalls nicht mehr handlungsmächtig sei)171. Dies trifft nicht zu: Es kommt (nur) darauf an, ob die bestehende Gefahr (bzw. das Drohen der Verletzung) in der Weise dem Gefährdeten (bzw. potentiell Verletzten) zugeschlagen werden kann, daß dieser - ganz im Sinne der erwähnten Rechtsprechung - allein dafür verantwortlich gemacht werden kann. Insoweit geht, wie Jakobs zutreffend ausführt, die Unterlassungshaftung nicht weiter als die (objektive) Begehungshaftung; die Begrenzung dieser schränkt eo ipso jene ein172. Dies gilt unzweifelhaft für Sicherungsgarantenpflichten: Ebensowenig wie es pflichtwidrig ist, einem vollverantwortlichen Suizidenten Gift zu verschaffen, welches dieser einnimmt, kann ein nachfolgendes Unterlassen (garanten-) pflichtwidrig sein. Dasselbe gilt aber auch für (Obhuts-)Garantenpflichten aus institutionell garantierter Solidarität: Institutionen als gemeinsame Lebensformen (und geteilte Lebenswelt) beinhalten nicht, daß die Gemeinsamkeit über den außerhalb der Institution liegenden Freiheitsraum der Beteiligten zwangsweise hergestellt wird 173 ; die Wahrnehmung dieses Freiheitsraumes ist allein von dem sich Gefährdenden oder einverständlich Gefährdeten zu verantworten und geht die anderen Mitglieder der Institution nichts an. Besonders deutlich wird das bei der jederzeit und grundlos

170 So insbes. Geilen, JZ 1974,145 (154); Herzberg,, Unterlassung, S. 267; ders., JA 1985,177 (180 f.) u. JZ 1986,1024 ff.; näher Frisch, Verhalten, S. 177 ff. 171 Grundlegend BGHSt 2, 150 (153); 6, 147 u. 7, 268 (272) (beide zu § 323 c); s. zuletzt BGH NStZ 1984, 452 u. NStZ 1985, 319 (320 - insoweit nicht in BGHSt 33, 66 abgedruckt); krit. hierzu die Bespr. v. Fünfsinn, StV 1985, 57 ff.; Roxin, NStZ 1985, 320 ff.; Stree, JuS 1985, 179 (184). - Zum Problem S/S-Eser, Vorbem. §§§ 211 ff. Rdnrn. 39 ff.; Jakobs, Strafrecht, 29/63; beide mit umf. Nachw. 172 Jakobs, Strafrecht, 29/56; i.E. ebenso die h.L., vgl. Gallas, JZ 1960, 686 (688 f.); Roxin, in: Dreher-FS, S. 331 (347 ff.); S/S-Stree, § 13 Rdnr. 22 m.w.N. 173 Jakobs, Strafrecht, 29/63.

2 0 4 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

"kündbaren" Garantenstellung des Arztes 174; es gilt aber auch in den Fällen des (vollverantwortlichen) Suizidversuchs eines Ehegatten oder eines in Straf- oder Untersuchungshaft befindlichen Gefangenen 175. Insbesondere kann die Obhutsübernahme nicht aufgedrängt werden; hier wirkt die (vollverantwortliche) Entscheidung des zu Behütenden pflichtenbegrenzend176. - Soweit argumentiert wird, es sei häufig unklar, ob die Voraussetzungen eines wirksamen Einverständnisses oder einer vollverantwortlichen Selbstgefährdung gegeben sind, daher sei es angemessen, Erfolgsabwendungspflichten zu konstatieren177, ist einzuwenden, daß diese Fälle im Bereich der Garantenproblematik ggf. als Versuch178, im Bereich des § 323 c sogar - unter Zugrundelegung der Ansicht, das Vorliegen eines "Unglücksfalls" sei ex ante zu bestimmen179 - als vollendete unterlassene Hilfeleistung erfaßt werden können. Laufen also in den Bereichen der Ermöglichung fremder Selbstgefährdung (oder -Verletzung) und der einverständlichen Fremdgefährdung (oder -Verletzung) die Pflichtengrenzen bei der Begehungs(fahrlässigkeits)haftung und bei der (ggf. auch vorsätzlichen) Garantenunterlassungshaftung parallel, so ist in der gebotenen Kürze auf die hier maßgebenden Wertungskriterien einzugehen1 : Bei der Ermöglichung fremder Selbstgefährdung und -Verletzung ist zunächst die Frage der Disponibilität des Rechtsguts zu stellen. Hierfür spielen die §§ 216, 226 a freilich keine Rolle, da sie gerade nicht die Selbstverletzung (und erst recht nicht: die Selbstge-

174

S. hierzu BGHSt 32,367 ("Fall Wittig") u. Jakobs, Strafrecht, 29/70 in Fn. 141. Und zwar wohl selbst bei materieller Unschuld des Gefangenen. Vgl. zum Problem § 101 Abs. 1 Satz 1 u. 2 StVollzG u. näher - mit umf. Nachw. - Jakobs, Strafrecht, 29/75 in Fn. 151. 176 Allg.M., vgl. nur S/S-Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 154. - Unrichtig ist deshalb das Beispiel von Jakobs, Strafrecht, 29/56 a.E., wonach der Partner eines lebensmüden Akrobaten, der diesen - seinem Wunsch entsprechend - bei einem lebensgefährlichen Sprung nicht auffängt, gem. §§ 216, 13 haftet: keine Übernahme des Auffangens mehr. - Diese Auffassung führt dazu, daß § 216 (bei objektiv ernsthaftem Verlangen) generell gar nicht durch Unterlassen begangen werden kann; ebenso die h.L., vgl. S/S-Eser, § 216 Rdnr. 10 mit umf. Nachw.; anders impliziter der BGH, vgl. St 13,166. 177 Zu diesem Aspekt Frisch, Verhalten, S. 160 ff. 175

178

Nicht als Vollendung, wenn die Frage der Verantwortlichkeit auch ex post nicht geklärt werden kann (in dubio pro reo!). - Zweifelnd Frisch, Verhalten, S. 162 mit dem Argument, angesichts der (bekannten) statistischen Häufigkeit von Defekten sei praktisch immer Versuchsstrafbarkeit gegeben; jedoch ist das Wissen um die generelle Möglichkeit eines Defekts bei dem Opfer kein entscheidungsrelevantes Wissen, ebensowenig, wie es die (bedachte) Möglichkeit ist, das Opfer könne ja Bluter sein und durch die an sich harmlose Stichverletzung sterben. Daß das Irrtumsrisiko freilich immer beim Opfer liegen soll, kann Jakobs, Strafrecht, 179 29/70 in Fn. 141, nicht zugegeben werden. S. zum Problem S/S-Cramer, § 323 c Rdnr. 2 f. mit umf. Nachw. 180 Die Diskussion ist uferlos; vgl. - neben den oben Fn. 168 f. genannten Autoren - v.a. die prägnante Darstellung b. Jakobs, Strafrecht, 21/56 ff., 78 ff., 88 ff., 97 ff. u. 114 sowie bereits 7/126 ff.

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

205

fährdung) einschränken181; wohl aber beschränkt etwa § 109 die Dispositionsbefugnis des Wehrpflichtigen über seine körperliche Integrität. Bei disponiblen Rechtsgütern ist die Ermöglichung fremder Selbstverletzung und erst recht von fremder Selbstgefährdung straflos, was sich aus dem Akzessorietätsgrundsatz ergibt 182. Freilich fragt sich, wie Selbst- und Fremdgefährdung voneinander abzugrenzen sind. Während die h A . hier entweder danach fragt, ob die Schuldverantwortlichkeit des Opfers (§§ 19 f., 35) ausgeschlossen oder eingeschränkt ist, oder - vorzugswürdiger - danach, ob eine nach allgemeinen Grundsätzen mangelhafte Einwilligung vorliegt 183, sind im Ausgangspunkt die - im einzelnen unsicheren - Grundsätze über die Abgrenzung von Teilnahme und mittelbarer Täterschaft entsprechend anzuwenden: Hat das Opfer "Entscheidungsherrschaft", so liegt Selbstgefährdung (bzw. -Verletzung) vor; liegt die Entscheidungsherrschaft bei demjenigen, der die Selbstgefährdung (bzw. -Verletzung) ermöglicht hat, so liegt eine - nach anderen Regeln zu beurteilende - Fremdgefährdung (bzw. Verletzung) vor 184. Es kommt also darauf an, ob der Hintermann einen relevanten Wissens- oder Willensvorsprung hat. Freilich trifft die Einwilligungslehre insoweit zu, als das Opfer zudem über die tatsächlich bestehende Gefahr (hinreichend) informiert sein muß, weil nur dann die Gefahr - wie zu fordern - allein dem Verantwortungsbereich des Opfers zugerechnet werden kann: Verkauft ein Dealer an einen Drogenkonsumenten (für beide unerkennbar) mit Strychnin verunreinigtes Heroin, so kann ihn nicht entlasten, daß er mit Blick auf die Verunreinigung keinen Wissensvorsprung hatte; vielmehr überschritt der Dealer das (objektive) erlaubte Risiko. Dieses Risiko wäre nur dann irrelevant, wenn der Drogenkonsument von der Verunreinigung gewußt (oder später - vor der Drogeneinnahme - erfahren) hätte185. Keine Besonderheiten bestehen, wie soeben dargelegt, für Obhutsgaranten kraft institutionell garantierter Solidarität; insbesondere sind Eltern mit Blick auf i.S.v. § 19 schuldunfähige Kindern stets mittelbare Täter und daher Obhutsgaranten zur Verhinderung von Selbstverletzungen oder gefährdungen, mit Blick auf Jugendliche und Heranwachsende hingegen nur dann, wenn diese nicht gem. § 3 JGG verantwortlich sind186. - Hingegen 181 Für § 216 str.; daß die Selbsttötung tatbestandliches Unrecht sei, wird u.a. von Schmidhäuser, in: Welzel-FS, S. 801 (810 ff.) vertreten. 182 Des gängigen Arguments, daß - sei die Selbstverletzung straflos, "erst recht" deren Ermöglichung straflos sein müsse, so z.B. in BGHSt 32, 262 (264) - bedarf es hierfür nicht, zutr.183Frisch, Verhalten, S. 159. Zu diesen beiden gängigen Ansichten Frisch, Verhalten, S. 165 f. mit umf. Nachw., welcher184im Ausgangspunkt der Einwilligungslehre folgt. Jakobs, Strafrecht, 21/58a. 185 Wie hier Jakobs, Strafrecht, 29/54. 186

Vgl. Jakobs, Strafrecht, 21/96; im Widerspruch hierzu aber 29/106: Eine Rettungspflicht bestehe kraft Institution für alle - also auch für gem. § 3 JGG verantwortliche! - minderjährige, der elterlichen Sorge unterstehende Kinder - was der von Jakobs (s. oben Fn. 173) selbst erkannten Einsicht widerspricht, daß Institutionen nicht eigene Freiheitsräume abschneiden. - Auch hier trifft die Einwilligungslehre insoweit zu, als Wertungswidersprüche zu der Konstellation vermieden werden müssen, daß "natürlich" einsichts- und urteilsfähige

2 0 6 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

kommen bei einverständlicher Fremdverletzungen oder -gefährdung (ggf. qua mittelbarer Täterschaft) die §§ 216, 226 a in den Blick, die dem Wortlaut nach freilich nur den Fall (auch: bedingt187) vorsätzlicher Fremdverletzung betreffen. Bei bloß fahrlässiger Fremdverletzung - und ebenso bei fahrlässiger oder vorsätzlicher Fremdgefährdung - sind die §§ 216, 226 a hingegen nicht unmittelbar anwendbar. Insbesondere kann auch nicht zwischen der Einwilligung in einen als nur möglich gedachten Erfolg - die an §§ 216, 226 a gemessen werden kann - und der Einwilligung in die Vornahme eines möglicherweise erfolgsbedingenden Verhaltens - die diesen Grenzen nicht unterliegt - unterschieden werden188, da beide Formen ineinander logisch überführt werden können - ein für die Einwilligung rechtlich relevanter Erfolg kann nicht verhaltensunabhängig gedacht werden! - und der Unterschied nur das psychologische Element des (finalen) Wollens betrifft, das - wie bei allen Rechtfertigungsgründen - irrelevant ist 189 . Es ist aber umstritten, ob - um Wertungswidersprüche mit §§ 216, 226 a zu vermeiden - hier Grenzen für das (nicht rechtfertigende, sondern pflichtenbegrenzende und zurechnungsauschließende) Einverständnis in auch fahrlässige Fremdverletzungen bestehen190, die dann im Bereich der Garantenproblematik den Weg zur Annahme von Garantenpflichten eröffnen. Hierbei wird häufig übersehen, daß sich derartige Grenzen in erster Linie durch die erforderliche Auslegung des (häufig nur konkludent erklärten) Einverständnisses ergeben191: Wer an einem gefahrträchtigen Sport Kinder (unabhängig von ihrer Schuldfähigkeit) in den Grenzen einer "offensichtlichen Fehlentscheidung" insbesondere ärztliche Behandlung verweigern und hierzu nicht gezwungen werden können (vgl. hierzu S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr. 42 u. S/S-Eser, § 223 Rdnr. 38, je m.w.N.); insoweit ist die Garantenpflicht des Obhutsgaranten eingeschränkt. 187 Vgl. zu § 216 LK-Jähnke, § 216 Rdnr. 18; zu § 226 a S/S-Stree , § 226 a Rdnr. 4. 1 OB So aber S/S-Lenckner , Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr. 102; ähnlich auch der BGH (VRS 17, 277) mit der - unhaltbaren - Konsequenz, daß eine Einwilligung immer dann an §§ 216, 226 a scheitern soll, wenn ein Tod oder eine schwerwiegende Körperverletzung eintritt, die der Tat den189 Stempel der Sittenwidrigkeit aufdrückt; hiergegen zutr. Lenckner , aaO. Rdnr. 104. S. oben § 2 III 2. - Soweit Jakobs , Strafrecht, 7/129, sogar auf das Wissen um die Möglichkeit des Erfolges bzw. der Gefahrträchtigkeit des Verhaltens verzichten, d.h. ein Wissen, das unterhalb der Schwelle eines dolus eventualis anzusiedeln ist, genügen lassen und diese Fälle als solche eines "Handelns auf eigene Gefahr" axiologisch gleich behandeln will, ist dem zu widersprechen: Nicht erkannte Folgen können allenfalls in "trespasser"-Fällen (wie dem1QA oben § 6 IV 2. erörterten Fall BGHSt 3, 203) zum Haftungsauschluß führen. Die ganz h.A. bejaht solche Grenzen, sei es aus § 216 - so BGH VRS 17, 279; BayObLG NJW 1957,1245; Jescheck , Lehrbuch, S. 278; Zipf, Einwilligung, S. 70 ff. -, sei es aus § 226 a - hierzu unten im Text mit Fn. 194 -, sei es aus einer nach Gefahr, Zweck und Eigenverantwortung zusammengesetzten Gesamtabwägung - so Dötting, GA 1984, 71 (90); s. auch Roxin , in: Gallas-FS, S. 241 (252). 191

Vgl. hierzu Jakobs , Strafrecht, 7/126. - Die Notwendigkeit einer Auslegung ergibt sich daraus, daß Einverständnis und insbesondere die rechtfertigende Einwilligung als - im Rahmen der Privatautonomie gesetzte und strafrechtlich beachtliche - Erlaubnisnormen verstanden werden müssen. Damit stellt sich ganz wie bei der zivilrechtlichen Willenserklärung die Frage, ob das objektiv Erklärte oder das subjektiv Gewollte entscheidend ist. Wie im Zivilrecht muß der Ausgangspunkt das objektiv - nach Maßgabe des "objektiven Empfängerhorizonts" - Erklärte sein (h.L., vgl. Jakobs , aaO., 7/115 m.w.N.). Decken sich Erklärung und Wil-

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teilnimmt, erklärt hierdurch nicht sein Einverständnis in grobe Regelverstöße192; wer mit einem alkoholisierten Fahrer fährt, ist nicht mit jedem noch so gewagten Verkehrsmanöver einverstanden193. Darüber hinaus ist als Grenze für das Einverständnis (nur) - in entsprechender Anwendung der §§ 138 BGB, 226 a StGB - diejenige der Sittenwidrigkeit zu beachten1 . Nicht ohne weiteres ausgeschlossen ist daher das Einverständnis in aus der Mitfahrt bei einem alkoholisierten Kraftfahrer resultierende Verletzungen. Mithin können nur in Fällen eines unwirksamen Einverständnisses zu einer (vorgängigen) Fremdgefährdung Garantenpflichten des Gefährdenden entstehen. Auf die "Pflichtwidrigkeit" der Gefährdung kommt es insoweit nicht (unmittelbar) an. Zweifelhaft ist daher die Begründung der Verantwortlichkeit eines Vermieters für den Brandtod einer Familie, welche in einer in hohem Maße feuergefährlichen Wohnung im Dachgeschoß eines Fabrikgebäudes gewohnt hatte, durch das Reichsgericht: "Weil die Angeklagten (sc. die Fabrikinhaber als Vermieter) selbst pflichtwidrig gehandelt haben (sc. indem sie gegen feuerpolizeiliche Vorschriften verstießen), können sie sich auch nicht darauf berufen, daß die Familie M. das 'Risiko' des Wohnens in dem gefährdeten Hause übernommen hätte. Ein Fall der in RGSt Bd. 57 S. 172 behandelten Art (sc. der 'Memel-Fall') liegt nicht vor" 195. Vielmehr ergibt sich aus den Urteilsgründen, daß ein Einverständnis überhaupt nicht vorlag, weil die Familie keine andere Wohnungsmöglichkeit hatte196. 3. Vertrauensgrundsatz als Grenze von Garantenpflichten Schwieriger zu begründen, aber praktisch ebenfalls hochbedeutsam ist die pflichtenbegrenzende Wirkung des Vertrauens auf norm- und obliegenheitsgemäßes Verhalten Dritter oder des Opfers, der sog. Vertrauensgrundsatz. Dieser Grundsatz - der überwiegend (nur) im Fahrlässigkeitsbereich diskutiert wird - ist für die Garantenpflichten schon deshalb von größter len nicht, so muß freilich im Strafrecht die Erklärung nicht erst "angefochten" werden; vielmehr ist sie eo ipso nichtig. Vgl. - allg. zur Lehre von der strafrechtlichen Einwilligung - nur Lackner, Vor § 32 Rdnrn. 10 ff. m.w.N. IQ 1 Zur hiermit angesprochenen Problematik BayObLG NJW 1961, 2072; Eser, JZ 1978, 9 3 S/S-Stree, § 226 a Rdnr. 16; je m.w.N. 3681ff.; Zutr. S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr. 105. 194

Diese Lösung ergibt sich wiederum aus der dogmatisch fruchtbaren Parallelisierung der Einwilligung (bzw. des Einverständnisses) mit der Willenserklärung (oben Fn. 191), wobei allerdings etwa die Regeln über Geschäftsfähigkeit als spezifisch zivilrechtsteleologisch nicht (oder allenfalls im Zusammenhang mit Vermögensdelikten, s. zum Streit S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff. Rdnr. 39) angewendet werden können. - I.E. wie hier die hA., s. OLG Karlsruhe NJW 1967, 2321; LK-Hirsch, Vor § 32 Rdnr. 95; Lenckner, aaO., Rdnr. 104. 195 RGSt 61, 319 (322). - Zur These, pflichtwidriges Verhalten könne die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes ausschließen, unten § 6IV 5. 196 In diesem Falle lag ein "Zwang zur Gefahrenhinnahme" vor, vgl. Welp, Vorangegangenes Tun, S. 217 (im Anschluß an Esser).

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Wichtigkeit, weil diese nicht höchstpersönlich erfüllt werden müssen. So ist nur über den Vertrauensgrundsatz erklärbar, warum ein Vater seinem zu ertrinken drohenden Kind einen Rettungsring zuwerfen darf, den dieses obliegenheitsgemäß - ergreifen kann, oder warum er zur Rettung des schwererkrankten Kindes einen Arzt hinzuziehen darf, der - norm- 1 und obliegenheitsgemäß - die Behandlung durchführt. Des weiteren besteht aber unter Zugrundelegung der These, daß ein erlaubtes Einzel-Risiko keine Garantenpflichten auslösen kann, ein ganz unmittelbarer Zusammenhang: Wie dargelegt, muß das erlaubte Risiko zwar insgesamt Null sein; jedoch können die entsprechenden Gefahrverminderungspflichten und »Obliegenheiten auf verschiedene Personen (auch das Opfers selbst) verteilt sein198, und zwar nach Maßgabe des Vertrauensgrundsatzes, so daß jeder Person ein erlaubtes Einzel-Risiko zugute kommt, aus dem grundsätzlich keine Garantenpflichten entstehen können. In der Rechtsprechung ist die Wirkung des Vertrauensgrundsatzes bei den (insbesondere: fahrlässigen) unechten Unterlassungsdelikten zunächst in der Konstellation einhellig anerkannt, daß mehrere die Erfolgsabwendung (und: die Gefahrenvorsorge) arbeitsteilig schulden. Paradigmatisch hierfür sind die zahlreichen Entscheidungen im Bereich der Verkehrssicherungspflichten beim (Haus-)Bau mit seiner typischen Arbeitsteilung zwischen Bauherrn, Architekten und Bauunternehmer 199. In dem grundlegenden Urteil RGSt 19, 204 ging es darum, daß ein Bauherr L. (selbst ein Bauunternehmer) die Ausschachtung eines Bauplatzes auf den Bauunternehmer K. übertragen hatte, der eine Erdwand nicht abstützen ließ, die dann einen Erdarbeiter verschüttete, der starb. Das Reichsgericht hielt L. nur dann zu eigenen Maßnahmen verpflichtet, "wenn er im Hinblicke auf die Beschaffenheit der betreffenden Arbeiten während deren Ausführung nach den konkreten Umständen Veranlassung zur Kontrolle und Nachprüfung gehabt haben würde" 200. Diese Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof in seiner 197

Nämlich gem. § 323 c oder - wenn es sich um einen Bereitschaftsarzt handelt - gem. §§ 223,198230 usf., 13. Methodisch besonders bemerkenswert ist insofern BGHSt 20, 315 (s. bereits 18, 55 zu derselben Problematik bei § 47 WStG) zum "Scharfschießen mit verbundenen Waffen", bei welchem eine Fülle von Verletzungen der Sicherheitsbestimmungen durch verschiedene am Scharfschießen beteiligte Soldaten dazu führte, daß ein scharfer Mörserschuß in eine Zuschauergruppe einschlug und zehn Menschen tötete. Der BGH ermittelte hier nur mehr Pflichten- und Verantwortungsbereiche (aaO. 319) der einzelnen Angeklagten, mit denen deren tatsächliches Verhalten - weitgehend ungeschieden nach Tun und Unterlassen - verglichen wurde. 199 Eingehend hierzu Gallas , Bau, passim; insbes. zu § 323 Schünemann, ZfBR 1980, 4 ff., 1132 ff., 159 ff. 00 RGSt 19, 204 (206). - Nur teilweise zutreffend ist die zum Hausbau häufig angeführte Entscheidung RGSt 43, 326, in welcher die Verantwortlichkeit eines von der Bauherrin angestellter Bauführers für die fehlerhafte Auflagerung eines Blechträgers durch den Bauunternehmer und den hieraus folgenden Tod eines Arbeiters mit der Begründung abgelehnt wurde, der Bauführer habe überhaupt nur Vertragswidrigkeiten des Bauunternehmers gegenüber der Bauherrin beanstanden müssen: Hier wird das V>we/Jverhältnis zwischen Bau-

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Entscheidung BGHSt 19, 286 fortgeführt und präzisiert. Hier war ein neben einer Baugrube befindliches Wohnhaus eingestürzt; drei Menschen wurden getötet und zwei verletzt. Angeklagt war nun der vom Bauherren angestellte Architekt. Der Bundesgerichtshof hielt die Übertragung der Sicherung des Bauvorhabens auf den Bauunternehmer für zulässig, ja sogar für zwingend, weil andernfalls der Bauherr "kraft seiner allgemeinen Verkehrssicherungspflicht in eine mangels eigener Sachkunde und Erfahrung von vornherein besonders eindeutige Garantenstellung" gerate201. Allerdings verblieben dem Bauherrn Auswahl- und auch Überwachungspflichten: Nehme der Bauherr "wahr, daß der Bauunternehmer in bestimmter Weise nachlässig arbeitet oder daß eine neue Gefahrenquelle entsteht, welcher der beauftragte Bauunternehmer mit seinen Mitteln und Kenntnissen möglicherweise nicht gewachsen ist, so darf er nicht untätig bleiben. ... Daß der Bauherr hierzu einen Fachmann (sc. den Architekten) bestellt, wird im Rahmen der Erfüllung seiner Verkehrssicherungspflicht oft sogar erforderlich und notwendig sein, und zwar namentlich bei Arbeiten, die - wie etwa ein Abbruch - ihrer Natur nach unerwartete, mit der vorbereitenden Planung allein nicht zu bewältigende Schwierigkeiten zeitigen können"202. Aber auch in allen anderen Bereichen arbeitsteiliger Gefahrenvorsorge gilt Ähnliches203. So erwog der Bundesgerichtshof in einer frühen Entscheidung eine Mitverantwortung des Omnibusunternehmers und -halters für den Tod einer Frau, die von einem angestellten Omnibusfahrer bei der Ausfahrt aus dem Firmengrundstück getötet worden war: "Dadurch, daß er einen Omnibus im Betrieb hält, schafft er einen Gefahrzustand; für diese Verkehrsgefahr haftet er strafrechtlich zwar nicht als Verkehrsteilnehmer, aber nach allgemeinen Grundsätzen, also auch nach § 222 StGB, in der Weise, daß sich seine Sorgfaltspflicht, soweit er das Fahrzeug nicht selbst fährt, auf dessen vorschriftsherrin und Bauführer und das die Verkehrssicherungspflichten begründende Außenve,rhältnis verwechselt. Im Ergebnis war der Freispruch allerdings begründet, da der Bauführer keine weitergehenden Überwachungspflichten als die Bauherrin hatte und es an konkreter Veranlassung für die Überwachung fehlte (aaO. 328). - S. weiterhin RGSt 57, 205. 201 BGHSt 19, 286 (288). - Der Vertrauensgrundsatz kann also auch pflichten begründend wirken, und zwar genau dann, wenn der Garant triftigen Anlaß hat, seiner eigenen Erfolgsabwendungsfähigkeit zu mißtrauen. 20 BGHSt 19, 286 (289). - In dem Urteil findet sich noch eine interessante Überlegung zur Ausweitung von Garantenpflichten kraft Selbstbindung. Der BGH erwog, ob der Bauherr mit dem angeklagten Architekten eine Vereinbarung getroffen hatte, die "besonders verläßliche, den üblichen Rahmen überschreitende Vorkehrungen" zum Inhalt hatte. "Hierbei hätte es sich dann um eine Verpflichtung im Interesse der Bausicherheit gehandelt, die im Hinblick auf die für Dritte aus den Bauarbeiten fließende Gefahren begründet war und den Angeklagten ... in eine eigene, umfassende Garantenstellung brachte", aaO., 291. 203 Zusammenfassende Darstellung b. S/S-Cramer, § 15 Rdnrn. 148 ff. u. 211 ff. (zum Straßenverkehr) mit umf. Nachw. - Allerdings gibt es auch Bereiche, in denen der Vertrauensgrundsatz eine nur geringe Rolle spielt. Hierzu gehört insbesondere - wie Hufen (Maßstäbe, S. 49 f.) nachgewiesen hat - die Lebensmittelherstellung und -Verteilung; hier hat vielmehr jedes Mitglied der Verteilungskette in seinem Bereich und nach seinen Möglichkeiten selbständig den lebensmittelrechtlich einwandfreien Zustand der Ware sicherzustellen; s. insbes. BGH LRE 2,41. 14 Vogel

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

mäßige Instandhaltung und die Auswahl und Überwachung des Fahrzeugführers beschränkt. Daneben haftet er auch für das tägliche Ausfahren aus der eigenen (sc. bekanntermaßen gefährlichen) Einstellhalle auf seinem Grundstück ..., es sei denn, daß der Halter aus besonderen Gründen etwa nicht zu erkennen braucht, welche Verkehrsgefahr es bildet, wenn dazu keine Hilfskraft gestellt wird" 204. Ähnlich wurde in BGHSt 3, 91 (95) die Pflicht des Arztes, die richtige Notierung eines Rezepts durch eine Krankenschwester zu überwachen, mit der Erwägung bejaht, "eine geringe zusätzliche Mühe wie diese (kann) ohne weiteres verlangt werden ..., wenn es erforderlich ist, um große, lebensbedrohende Gefahren von anderen Menschen fernzuhalten". Eine bemerkenswerte Einschränkung des Vertrauensgrundsatzes bei arbeitsteiliger Gefahrenvorsorge enthält schließlich BGHSt 4, 360 mit dem Leitsatz: "Wer bei Dunkelheit mit einem Kraftfahrzeug ohne Rücklicht am Verkehr teilnimmt und deshalb von der Polizei angehalten wird, bleibt auch dann für das Auffahren eines anderen Kraftfahrzeuges verantwortlich, wenn die Polizei den Verkehr zunächst durch Aufstellen einer roten Lampe gesichert, diese Vorkehrung aber (sc. pflichtwidrig) vorzeitig wieder beseitigt hat". Hier durfte der Kraftfahrer nicht darauf vertrauen, daß die Polizeibeamten ihm vom - gefahrenerhöhenden Anhalten des Wagens ab die aussschließliche Verantwortung für die Sicherheit des Verkehrs übernehmen würden; vielmehr blieb der Fahrer auf Grund seines vorangegangenen, den Verkehr gefährdenden Tuns zu besonderer Sorgfalt - und damit auch zur Überwachung der Polizeibeamten - verpflichtet. In der Rechtsprechung umstrittener ist die (freilich meistens beim fahrlässigen Begehungsdelikt auftretende) Konstellation, daß der Verletzte selbst obliegenheitswidrig zum Erfolgseintritt beiträgt. Das Reichsgericht lehnte hier die Beschränkung der (Sorgfalts- und Garanten-)Pflichten mit "Rücksicht auf Unbedachtsamkeiten anderer" (vor allem im Bereiche des Straßenverkehrs) ab; vielmehr müsse jedes nicht ganz ungewöhnliche Fehlverhalten des Opfers generell in Rechnung gestellt werden 205. Im Anschluß 204

BGHSt 2, 226 (230). So wurde in einem Fall, in welchem ein Kraftfahrer innerorts mit 25 km/h (!) ein aus einem Vorgarten auf die Straße laufendes Mädchen erfaßt und getötet hatte, ausgeführt: "Was das Schöffengericht zur Verneinung der Schuldfrage veranlaßt hat, ist ersichtlich der Gedanke, es enthalte eine unerträgliche Verkehrshemmung, wenn der Kraftfahrer sehr langsam - vielleicht im Schritt - fahren müßte, obwohl der Straßenkörper selbst (vorerst) ohne Hindernis ist und der Fahrer auch neben der Straße - hier hinter den Vorgärtchen oder den Häusern - niemanden sieht. Wie aber das Reichsgericht wiederholt dargelegt hat, muß die Rücksicht auf Wünsche und vermeintliche oder wirkliche Bedürfnisse des Verkehrs zurücktreten hinter der Sicherheit des Menschenlebens auf der Straße. Das folgt daraus, daß die Straße dem allgemeinen Verkehr geöffnet ist. ... (Die Gegenansicht) liefe darauf hinaus, daß durch die sich hieraus für den Wegebenutzer ergebenden Gefahren der allgemeine Straßenverkehr zu einem stets sachgemäßen Verhalten erzogen und gezwungen werden müßte. ... (Dem Kraftfahrverkehr kann aber) nicht der Beruf oder die Befugnis zugestanden werden, den Straßenverkehr durch Gefährdung der körperlichen Sicherheit zu erziehen", RGSt 65,135 (141). Mit fehlerhaftem Verhalten müsse nur dann nicht gerechnet werden, wenn es "nach der 205

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

211

an ältere Stimmen206 erweiterte der Bundesgerichtshof in dem immer noch grundlegenden Beschluß der Vereinigten Großen Senate vom 12.7.1954207 diese Rechtsprechung: Derjenige, der sich selbst korrekt verhalte, müsse ein Fehlverhalten selbstverantwortlicher Anderer nicht generell in Rechnung stellen, selbst wenn dieses Fehlverhalten erfahrungsgemäß nicht ganz selten 208 vorkomme. Allerdings enthält die Argumentation der Vereinigten Großen Senate einige - bislang zu wenig beachtete - Besonderheiten. In der zu entscheidenden Rechtsfrage ging es darum, ob sich der auf einer vorfahrtsberechtigten Straße befindliche Kraftfahrer generell auf Verletzungen seines Vorfahrtrechts einrichten muß. Hier besteht also ein ausdrückliches Recht zu dem u.U. gefährdenden Verhalten, das - bei Nichtanerkennung des Vertrauensgrundsatzes - "weitgehend entwertet"209 wäre. Wenn sodann ausgeführt wird, es dürften keine Anforderungen an das Verhalten im besondern Gestaltung der Sachlage außerhalb jeder Lebenserfahrung" lag, aaO., 139 f. Einschränkend stellte RGSt 70, 71 (74) darauf ab, daß der Kraftfahrer "bei verständiger Überlegung aller gegebenen Umstände triftige Veranlassung" hat, mit Fehlverhalten zu rechnen; hiergegen - jedenfalls für Fälle "offen zu zutage liegenden" Fehlverhaltens - wiederum RGSt 72, 25 (28). Ähnlich entschied noch der frühe BGH, s. BGHSt 1, 309 mit dem Leitsatz: "Der Kraftfahrer muß damit rechnen, daß der Fahrer eines entgegenkommenden Fahrzeuges aufblendet, und muß seine Fahrweise rechtzeitig hierauf einrichten, namentlich die Geschwindigkeit entsprechend herabsetzen"; 2, 188 mit dem Leitsatz: "Der Kraftfahrer muß so fahren, daß er auch vor einem unvermuteten Hindernis auf seiner Fahrbahn, das in seinen Gesichtskreis tritt, noch anhalten kann ..."; a.A. aber bereits BGHSt 3, 49 (52): "Bietet es (sc. das Verhalten anderer Erwachsener) keinen Anlaß zu besonderer Vorsicht ..., so wird den Kraftfahrer im allgemeinen ... kein Verschulden treffen". 206 Insbesondere in der nationalsozialistischen Strafrechtslehre wurde die vom Reichsgericht abgelehnte "Erziehungsfunktion" des Vertrauensgrundsatzes ganz in den Vordergrund gestellt: "Ließe man gegenüber den Schwachen die Zügel locker, so förderte man diejenigen, welche ihre Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft mangelhaft erfüllen und dadurch ihr Volk schädigen, zum Nachteil der pflichtgetreuen Verkehrsgenossen. Entschiedener Kampf den Verkehrswidrigkeiten und Schluß mit jeder schwächlichen Nachsicht gegenüber den Verkehrssündern!", Guide, JW 1938, 2785; zust. LK-Schroeder, § 16 Rdnr. 168. 207 BGHSt 7,118 = BGHZ14, 232. 208 Ein Kraftfahrer muß sich also auf Verkehrswidrigkeiten einstellen, wenn sie "so häufig begangen werden, daß ein gewissenhafter Fahrer verständigerweise mit ihnen rechnen muß", BGHSt 12, 81 (83); 13, 169 (173); vgl. hierzu LK-Schroeder, § 16 Rdnr. 174 u. sogleich § 6 IV e). - Zudem schränkte der BGH die Erlaubnis, seltenes Fehlverhalten anderer nicht in Rechnung stellen zu müssen, durch den Verweis auf Verhaltensnormen der StVO ein: Da derartige Vorschriften das Ergebnis einer auf Erfahrung und Überlegung beruhenden umfassenden Voraussicht möglicher Gefahren seien, besagten sie schon durch ihr Dasein, daß durch ihre Übertretung die Gefahr eines Unfalles im Bereiche der Möglichkeit liege, und gestatteten deshalb häufig den Schluß auf die Voraussehbarkeit des Erfolges des Erfolges, selbst wenn die Verkehrslage einen bestimmten Anhalt für die Gefahr nicht enthalten habe. Ganz allgemein müssen "übliche" Gefahrvorsorgemaßnahmen auch ohne besonderen Anlaß getroffen werden: Wenn sich nach der "Verkehrserfahrung" ergibt, daß mit bestimmten Fahiweisen bestimmte "allgemein bekannte" Gefahren verbunden sind, so muß dem Rechnung getragen werden, vgl. BGHSt 5, 271 (274); 7, 307 (309 mit Verweis auf BGH VRS 6, 298); 17, 289 (291 S. BGHSt 7,118 (122 oben). - Zu den Fällen eines derartigen ausdrücklich Risikos s. bereits oben § 6 III 6. 14»

"erlaubten"

212

Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Verkehr gestellt werden, die "sich von der Auffassung der Verkehrspraxis weit entfernen und deren tatsächliche Durchsetzung von vornherein als sehr zweifelhaft erscheinen muß"210, liegt hierin weniger ein - methodisch zweifelhaftes - Bekenntnis zu einer faktischen Geltungslehre, sondern die Einsicht, daß die gesetzgeberische Entscheidung für bevorrechtigte Straßen nicht durch eine deliktsrechtliche Postulierung von gegenteiligen Verkehrspflichten unterlaufen werden darf. Schließlich wiesen die Vereinigten Großen Senate entscheidend211 auf die gefahrsteigernden Wirkungen eines "Mißtrauensgrundsatzes" hin, welcher zur Gefahr von Auffahrunfällen und von regelwidrigem Verhalten in Vertrauen auf die rechtlich prästierte Rücksicht führen könnte. Dieser Gedanke einer gesamtgefahr-steigernden Wirkung eines "Mißtrauensgrundsatzes" liegt auch weiteren Entscheidungen zugrunde. So wurde die Pflicht des Kraftfahrers, als Vorsichtsmaßregel gegen verfrühtes und verkehrswidriges Aufblenden eines entgegenkommenden Fahrzeugs die Geschwindigkeit herabzusetzen, nur deshalb aufgegeben, weil ein solches Fehlverhalten selten geworden war und ein Abbremsen Auffahrunfälle provozieren könnte212. Ähnlich lockerte BGHSt 14, 201 die Pflicht des Linksabbiegers, die rückwärtige Verkehrslage unmittelbar vor dem Abbiegen zu beobachten, nur unter größten Einschränkungen und in der Erwägung, daß die "verbesserte Verkehrserziehung" das verkehrswidrige Überholen eines Linksabbiegers zu einem "seltenen Vorfall" gemacht hätten. Selbst diese Lockerung wurde - in Folge zahlreicher Unfälle - in BGHSt 21, 91 wieder weitgehend aufgegeben 213. Insgesamt bietet der Vertrauensgrundsatz nach der heutigen Rechtsprechung folgendes Bild 214 : Auf norm- und obliegenheitsgemäßes Verhalten anderer - sei es des (potentiell) Verletzten, sei es Dritter - darf generell vertraut werden. Ausnahmen gelten, wo konkreter Anlaß besteht, daß dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt ist, insbesonders gegenüber nicht voll Verantwortlichen (Kindern, auch - im Straßenverkehr - Alten und Gebrechlichen). Auch ein häufiges, nicht schwerwiegendes norm- und obliegenheitswidriges Verhalten anderer muß in Rechnung gestellt werden. Schließlich kann sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, wer sich selbst normoder obliegenheitswidrig verhält, insbesondere wenn er die gebotene Überwachung anderer unterlassen hat.

210

211

BGHSt 7,118 (124).

S. BGHSt 7, 118 (124): "Unbegründet ist der Einwand, die hier vertretene Auffassung berücksichtige nicht genügend den Vorrang des Lebens vor Gesichtspunkten des Verkehrs ... Wäre in der Tat... zu erwarten, daß die Annahme ... (sc. des "Mißtrauensgrundsatzes") zu einer wesentlichen Verminderung von Verkehrsunfällen führte, so müßte allerdings sehr ernsthaft2 geprüft werden, ob nicht die strenge Auffassung den Vorzug verdient." 12 S. BGHSt 12, 81 (83 f.) - Aufgabe von BGHSt 1, 309. 213

In dieser Entscheidung findet sich wiederum die Erwägung, daß eine überspannte "Rückschaupflicht" den vorausfahrenden Verkehr gefährden könnte, BGHSt 21, 94 (100). 214 Zusammenfassend S/S-Cramer , § 15 Rdnr. 213 mit umf. Nachw.

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

213

4. Theoretische Begründung des Vertrauensgrundsatzes Wie der Vertrauensgrundsatz in dieser Gestalt theoretisch begründet werden kann, ist zweifelhaft. Mit Kuhlen215 können eine deontologische und eine axiologische Begründung unterschieden werden. Deontologisch kann der Vertrauensgrundsatz - im Anschluß an Schumann216 - in der Weise aus dem Selbstverantwortungsprinzip hergeleitet werden, daß "der dem Einzelnen zugewiesene Verantwortungsbereich und die ihn darin treffenden Verhaltenspflichten in der Weise zu begrenzen sind, daß man sich grundsätzlich nicht darauf einstellen muß, daß andere sich Dritten oder sich selbst gegenüber sorgfaltswidrig verhalten"217. Diese Herleitung ist nach Kuhlen jedoch nicht tragfähig. Zum einen lasse sich aus der Selbstverantwortlichkeit für eigenes Verhalten - dem Kern des Selbstverantwortungsprinzips - nicht notwendig die Nicht-Verantwortlichkeit für fremd- 218 oder selbstschädigendes Verhalten Dritter herleiten. Zum anderen könne das Selbstverantwortungsprinzip zwar die gängige Einschränkung des Vertrauensgrundsatzes gegenüber nicht voll Verantwortlichen, nicht aber diejenigen bei "triftigem Anlaß" oder genereller Verbreitung des unkorrekten Verhaltens rechtfertigen. Vielmehr müsse der Vertrauensgrundsatz axiologisch qua Interessenabwägung erklärt werden. Hierbei scheide freilich eine rein rechtsgutsbezogene Abwägung aus, weil sie letztlich zur Aufgabe der Vertrauensgrundsatzes führe: Jede jedenfalls ernsthafte Möglichkeit (Wahrscheinlichkeit) der Rechtsgutsverletzung - auch: qua Verhalten Dritter oder des Opfers - müsse hier pflichtenbegründend wirken; die Selbstverantwortung des anderen bleibe gänzlich außer Betracht 219. Zu fordern sei daher eine "erweiterte Interessenabwägung", die das Interesse an der durch den Vertrauensgrundsatz ermöglichten individuellen Handlungsfreiheit und den hierdurch ermöglichten sozialen Leistungen maßgeblich mit einbeziehe. Zu beachten sei, daß "bereichsspezifisch" durch Rollenerwartungen geradezu gefordert sein könne, für fremdes Fehlverhalten einzustehen. Dies sei etwa dann der Fall, wenn die Überwachung anderer geradezu zur Rollendefinition gehöre (z.B. beim ausbildenden Arzt, beim Wirtschaftsprüfer und beim Bergführer), wenn der andere nicht selbstverantwortlich sei ("paternalistischer Gedanke"220), aber auch, wenn bei "triftigem Anlaß" die konkrete Gefahr des Fehlverhaltens anderer besteht. Diese Rekonstruktion des Vertrauensgrundsatzes durch eine "erweiterte Interessenabwägung" erweist sich freilich als primär selbstverantwortungsorientiert; schon hierdurch - und nicht erst durch einen "paternalistischen 215 216 217

218

Produkthaftung, S. 123 ff. (bes. 130 ff.). Selbstverantwortung, S. 4 ff. So Schumann, Selbstverantwortung, S. 5.

2 1 9Wie 220

denn auch die Möglichkeit strafbarer Beteiligung zeigt; hierzu bereits oben § 2 IV. Hiergegen auch Bloy, Beteiligungsform, S. 139. Hier verweist Kuhlen auf Feinberg, Harm, S. 3 ff.

2 1 4 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Gedanken" - kann die Rücksichtnahme auf konstitutionell nicht (subjektiv) Vollverantwortliche und (individuell) Handlungsunfähige 221 erklärt werden. Einschränkungen ergeben sich zudem mit Blick auf das Verrechnungsprinzip und auf die in § 34 prästierte Mindestsolidarität222: Von jedermann kann verlangt werden, wesentlich geringere Güter zu opfern, um wesentlich gewichtigere zu schützen. Damit läßt sich zunächst zwanglos die Einschränkung des Vertrauensgrundsatzes bei "triftigem Anlaß"223 und bei besonders "häufigen" Verstößen auch gegenüber Vollverantwortlichen rechtfertigen: Stehen gewichtige Rechtsgüter (Leib oder Leben anderer) konkret auf dem Spiel, so fordert die Mindestsolidarität, daß die eigene Handlungsfreiheit (z.B. im der Stadt auf übersichtlichen vorfahrtsberechtigten Straßen 50 km/h fahren zu dürfen) teilweise preisgegeben wird 224 . Umgekehrt genügt es, daß ein genereller "Mißtrauensgrundsatz" jedenfalls gleichwertige Gefahren schafft, um den pflichtenbegrenzenden Vertrauensgrundsatz vor dem Verrechnungsprinzip zu legitimieren 225. 5. Insbesondere: Überwachungspflichten über Vollverantwortliche sowie Übernahme Im Bereich der Garantenpflichten sind freilich mit Blick auf den Vertrauensgrundsatz problematisch die Überwachungspflichten über vollverantwortliche andere (seien es Dritte, seien es die < potentiell Verletzten) 226. Sofern hier nicht das Verrechnungsprinzip mit umgekehrter Anwendung des § 34 herangezogen werden kann , gibt es - wie überhaupt bei den Garantenpflichten - nur zwei Gründe für derartige Überwachungspflichten: 221

Auch "Alte und Gebrechliche" sind individuell nicht in demselben Maß wie "Junge und Gesunde" verantwortlich; hierzu Kindhäuser, Gefährdung, S. 48 m.w.N. S. hierzu bereits oben § 6 II 3. Bei "triftigem Anlaß" wird übrigens häufig die (individuelle) Handlungsfähigkeit eingeschränkt sein: Wer mit überhöhter Geschwindigkeit an die Einmündung in eine vorfahrtsberechtigte Straße heranfährt, kann ggf. nicht mehr bremsen. 224

Ganz in diesem Sinne muß denn auch die oben § 6 IV 4. berichtete Entscheidung verstanden werden, es koste den Arzt "geringe" Mühe, die Krankenschwester zu überwachen, um Gefahren für Leib und Leben der Patienten abzuwenden. 225 Zur entsprechenden Auffassung des BGH s. oben § 6 IV 4. - Zudem könnte daran gedacht werden, die Fälle der Einschränkung des Vertrauensgrundsatzes bei häufigem Fehlverhalten nach den Grundsätzen über die Derogation von Rechtsnormen zu lösen. Hiernach dürfte dann nicht mehr auf norm- und obliegenheitsgemäßes Verhalten anderer vertraut werden, wenn eine längere Übung des Fehlverhaltens besteht und hieraus im Verkehr der Schluß gezogen wird, dieses Fehlverhalten sei erlaubt bzw. von anderen in Rechnung zu stellen. 226 Eingehende Analyse b. Freund, Unterlassen, S. 195 ff. 227 Paradigmatisch BGHSt 2, 384: Es soll kein Vertrauen des Bäckers bestehen, daß der Mehllieferant nicht mit Arsen gebeiztes Saatkorn verwendet hat, jedenfalls sofern die Kornbezugsquelle des Mehllieferanten nicht "einwandfrei bekannt" ist. Dies ist (nur) so erklärbar, daß die Freiheitsbegrenzung, nur Mehl aus Korn mit einwandfrei bekannter Bezugsquelle verwenden zu dürfen, unverhältnismäßig geringer wiegt als die (potentiellen) Gesundheitsgefahren aus arsenhaltigem Mehl.

§ 6 "Anwendungsangemessenheit" als Grenze der Garantenpflichten

215

Wahrnehmung von (Organisations-)Freiheit sowie Institution228. Hiermit ist der Ansatzpunkt für die Lösung der umstrittenen Frage 229 nach der sachlichen Reichweite des Vertrauensgrundsatzes gewonnen: Er greift dann ein, wenn und soweit die Organisation oder Institution auf dem Selbstverantwortungsprinzip aufbaut, es also insbesondere keine Kontroll- und Weisungsmöglichkeiten und -befugnisse gibt, sondern ein Gesamt-Risiko Null nur durch arbeitsteilige Aufspaltung von Gefahrbeherrschungspflichten und -Obliegenheiten erreicht werden kann230. Dies ist etwa im Straßenverkehr zwischen Kraftfahrern (auch: zwischen Fußgängern und zwischen Kraftfahrern und Fußgängern231) der Fall, auch bei zwischen Unternehmen arbeitsteiliger Produktion 232, nicht aber im Unternehmen selbst, im Verhältnis von Eltern zu Kindern und bei (manchen) Amtsträgern der Fall. Keine allgemeine Einschränkung des Vertrauensgrundsatzes resultiert hingegen aus dem Gesichtspunkt des selbst pflichtwidrigen Vorverhaltens dessen, der sich auf den Vertrauensgrundsatz beruft 233. Soweit dies nicht die Selbstverständlichkeit besagt, daß jeder norm- und obliegenheitsgemäß handeln muß (niemand darf auf einer vorfahrtsberechtigten, übersichtlichen Straße innerorts 100 km/h fahren, auch nicht im Vertrauen darauf, andere werden die Vorfahrt beachten), und soweit nicht qua Wahrnehmung von Organisationsfreiheit oder qua Institution ohnehin (Überwachungs-)Pflichten und -Obliegenheiten bestehen234, ist ein derartiger Satz nicht begründbar. Besondere Bedeutung hat der Vertrauensgrundsatz schließlich bei dem gleichermaßen bei den Sicherungs- wie bei den Obhutsgarantenpflichten kraft Institution auftretenden - Problem der pflichtenbefreienden und -begrenzenden Übernahme der Pflichten des Garanten durch Dritte 235 . Mit dem Verlust der Organisationsfreiheit oder der Zugehörigkeit zu der Institution bzw. Rolle wird der Garant grundsätzlich frei: Wer sein Haus veräußert und übergibt, ist nicht mehr Garant für die Verkehrssicherheit des Hauses236; und wer seine Stellung als Bereitschaftsarzt kündigt und aufgibt, 228

229

Hierzu unten § 10 IV 7.

Ganz allgemein wollen den Vertrauensgrundsatz "überall, wo sich im sozialen Leben die Verhaltensweisen mehrerer Personen berühren" (so Stratenwerth, Strafrecht, Rdnr. 1156) anwenden S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 151; Maurach-Gössel, AT 2, § 43 Rdnr. 72; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rdnr. 72; einschränkend aber Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 63; Herzberg, Unterlassung, S. 170 ff (174); Schmidhäuser, Studienbuch, 9/42. 230 Ähnlich Jakobs, Strafrecht, 7/52 in Fn. 93. 231

Dies ist streitig, vgl. Kirschbaum, Vertrauensschutz, S. 225 ff. m. umf. Nachw. Eingehend Kuhlen, Produkthaftung, S. 134 ff. Jakobs, Strafrecht, 7/55; eingehend Kirschbaum, Vertrauensschutz, S. 118 ff.; s. auch S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 215. 232 233

234

So in dem oben § 6 IV 4. angeführten Fall BGHSt 4, 360 (freilich zweifelhaft, da der Unfallverursacher gegenüber den Polizeibeamten keine Weisungs- und KontroUbefugnisse hatte) und u.U. auch in dem oben § 6 IV 3. angeführten Fall RGSt 61, 319. 235 S. hierzu Jakobs, Strafrecht, 29/52. 236

Eingehend zu diesen Fällen Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 298 ff. - In den Fällen rechtswidriger Okkupation des Freiheitsraumes gilt, daß spätere Gefahrenlagen allein

2 1 6 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

garantiert nicht mehr die Rettung von Notfallpatienten. Freilich gehört es noch zu der Organisationsfreiheit (und kann zu einer Institution gehören), für einen geeigneten Übernehmer zu sorgen. Hier wirkt der Vertrauensgrundsatz freilich insoweit pflichtenbegrenzend, als nicht generell mit dessen norm- oder obliegenheitswidrigen Verhalten gerechnet werden muß, wohl aber aus "triftigem Anlaß" (oder bei Übernahme durch einen nicht voll Handlungsfähigen oder Verantwortlichen): Wer ein Gewehr an einen Geisteskranken oder ein Kind verkauft, ist zur Abwendung von (Dritt-) Schäden verpflichtet 237. Wer hingegen die Organisationsgewalt bzw. die Zugehörigkeit zu der Institution bzw. Rolle behält, bleibt im Rahmen der oben geschilderten Grenzen mindestens überwachungspflichtig, hingegen voll pflichtig, wenn an einen nicht (voll) Handlungsfähigen oder Verantwortlichen übertragen wurde; zudem fallen die Pflichten bei "triftigem Anlaß" (konkret enttäuschtem Vertrauen) an ihn zurück.

dem Okkupierenden anzulasten sind, nicht aber, wenn die Okkupation selbst hätte verhindert werden müssen. Zu den hier besonders problematischen Fällen der ungenehmigten Abfallagerung durch Dritte auf fremdem Grundstück (§§ 326, 13) vgl. OLG Frankfurt/M. NJW 1974, 1666; LG Koblenz NStZ 1987, 281; Geidies, NJW 1989, 821 ff., Hohmann, NJW 1989,1254 ff.; Iburg, NJW 1988,2338 ff.; Lackner, § 326 Rdnr. 7. 237

Nichts anderes gilt, wenn der Ubernehmer zwar nicht konstitutionell, aber wegen fehlender Gefahrenkenntnis Gefahr läuft, sich oder Dritte zu schädigen; hierzu BGHSt 37, 106 (119 ff.) u. eingehend unten § 8 III.

§ 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt bei den unechten Unterlassungsdelikten (mit einem Exkurs zur Konkurrenzlehre)

L Vorsatz- und Irrtumsfragen

bei den unechten Unterlassungsdelikten

1. Unterlassungsvorsatz und finales Wollen Nach Kindhäuser1 ist die Zurechnung erster Stufe bei den (unechten) Unterlassungsdelikten zweistufig vorzunehmen: erstens Zuschreibung einer "Zulassungshandlung" mit einem faktischen Handlungsergebnis - dem Erfolg - als Handlungsresultat und zweitens Zuschreibung einer Unterlassungshandlung mit einer faktischen Handlung - der Zulassungshandlung als Handlungsresultat. Damit sind Unterlassungshandlungen nicht prinzipiell anders, sondern lediglich komplexer strukturiert als Begehungshandlungen2. Dementsprechend ist die ordentliche Vorsatzzurechnung erster Stufe zum tatbestandsmäßigen Unrecht, d.h. die Zurechnung als Pflichtwidrigkeit, bei den (unechten) Unterlassungsdelikten in derselben Weise strukturiert wie beim Begehungsdelikt: Es wird kontrafaktisch unterstellt, daß der Täter die Intention hatte, norm-, d.h. garantengebotsgemäß zu handeln. Geht er nach seinem Wissen erstens davon aus, daß er ein ihm mögliches Tun unterläßt (Zulassungshandlung)3, und zweitens davon, daß dieses Tun den Erfolg (als Handlungsergebnis der Zulassungshandlung) abgewendet hätte, so ist es für ihn - nach Maßgabe der "Anwendungsangemessenheit" - praktisch notwendig, dieses Tun vorzunehmen. Dann ist aber die Vorsatzzurechnung und die Annahme einer Unterlassungshandlung begründet. Damit erweist sich die unter Zugrundelegung des finalistischen Standpunkts umstrittene - und insbesondere von Armin Kaufmann verneinte Frage, ob ein Unterlassen "final gewollt" werden kann4, als irrelevant für die Vorsatzzurechnung bei den (unechten) Unterlassungsdelikten: Das "Wollen" taucht überhaupt nur als kontrafaktische Zurechnungshypothese, als unterstellte Intention zu (garanten-)gebotsmäßigem Handeln auf, was der hier 1

Handlung, S. 208. Kindhäuser, Handlung, S. 209. 3 Unrichtig wäre es, die Erkennbarkeit der Handlungsmöglichkeit genügen zu lassen; vgl. LK-Schroeder, § 16 Rdnr. 217 und sogleich § 71 3. 4 S. zum älteren Streitstand Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 66 ff. mit umf. Nachw.; ähnliche wie hier bereits Radbruch , Handlungsbegriff, S. 133 f. 1

218

Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

ganz allgemein vertretenen These entspricht, daß dem Vorsatz kein Willenselement eigen ist5. Im Ergebnis nicht anders sieht die Dinge aber auch Armin Kaufmann, nach welchem "mit der 'gewollten' Unterlassung gemeint ist: die 'bewußte Unterlassung, d.h. ein Unterlassen, das vom Wissen um die ( potentielle) finale Tatmacht begleitet ist" 6. Dieses Wissen ist aber - entgegen Armin Kaufmann - kein bloßer "Quasi-Vorsatz", sondern strukturell dasselbe wie beim Begehungsdelikt7. Im übrigen unterliegt es keinem Zweifel, daß Intentionen auch die Erreichung eines Handlungsziels oder -ergebnisses8 durch Unterlassen zum Gegenstand haben und insofern handlungswirksam sein können: Wer in ein überheiztes Zimmer tritt und das soeben geöffnete Fenster nicht schließt, intendiert hierdurch, daß die Temperatur sinken soll9. Daher entspricht es der ganz h.L., eine "Erfolgs-" oder "Zielabsicht" auch beim Unterlassen anzunehmen10. Diese Terminologie ist freilich gegen das Mißverständnis abzusichern, daß es vom Erfolg oder Ziel getrennte "Verhaltensabsichten" geben könne: Absichten beziehen sich stets auf Handlungsergebnisse11. Zudem verwechselt das Argument, beim Unterlassen liege eben ein Nicht-Wollen oder Nichts-Wollen vor 12, ähnlich wie bei der insoweit parallel strukturierten 5 S. oben § 2 III 3.; ähnlich für die Unterlassungsdelikte Schmidhäuser, Lehrbuch, 16/90 in Fn. 70. Eines - nicht immer nachweisbaren - Unterlassungse/ittcÄ/w55es bedarf es also für die Vorsatzzurechnung bei den (unechten) Unterlassungsdelikten nicht, vgl. Jescheck, Lehrbuch, S. 571 u. eingehend Grünwald, in: H. Mayer-FS, S. 281 (285 ff.). Allerdings kann nicht geleugnet werden, daß der Unterlassungsvorsatz und das -wissen psychologisch vom Begehungsvorsatz und -wissen - bei welchem der Entschluß, etwas zu tun, auch bei unerwünschten Folgen leicht zu identifizieren ist - zu unterscheiden ist. Dies könnte zu der Annahme führen, daß ein (aktuelles) Unterlassungswissen häufig nicht vorliegen wird. Dem hat aber neuerdings BGH NJW 1992, 583 (Bespr. b. Hassemer, JuS 1992, 524 f.) widersprochen: Im Gegenteil sei die "Hemmschwelle" gegenüber erfolgskausalem Verhalten beim Unterlassen im Vergleich zum Tun herabgesetzt. Deshalb komme insbesondere in Fahrerflucht-Fällen sogar Tötungsvorsatz bereits dann in Betracht, wenn sich der unfallflüchtige Fahrer mit dem an sich unerwünschten Tod des Opfers bewußt abgefunden hat. 6 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 79 m.w.N. zum älteren Schrifttum (Herv. i. Orig.); des weiteren S. 112 (speziell zum Vorsatz); ebenso BGHSt 19, 295 (299); OLG Köln NJW 1973, 861 (862); S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 91; Jakobs, Strafrecht, 8/8, 29/86 ff.; LK-Jescheck, Vor § 13 Rdnr. 89; ders., Lehrbuch, S. 571; Wessels, Strafrecht, S. 234 f. 7

Was nicht überraschend ist: Die Zurechnung ist strukturell und teleologisch bei allen Delikten einheitlich strukturiert, s. bereits oben § 2 I 5., II. 8 S. zu dieser Lehre oben §§ 1IV 2., 3 III 3. 9 S. Kindhäuser, Gefährdung, S. 50 f., 88 f. 10 S. S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 94; Herzberg, Unterlassung, S. 226 f.; Jescheck, Lehrbuch, S. 570 f. (mit Verweis auf OLG Köln NJW 1957, 1609: Der diensthabende Arzt, der einen Schwerverletzten nicht aufnimmt, weil keine Betten frei sind, will ihn nicht aufnehmen); SKRudolphi, Vor § 13 Rdnrn. 28 f.; Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 377; auch Jakobs, Strafrecht, 29/91 f. 11 Zu denen ggf. freilich auch "selbstzweckliche" Verhaltensweisen zählen können, nämlich - dogmatisch gesprochen - bei absichtlichen Tätigkeitsdelikten. So aber z.B. Jakobs, Strafrecht, 29/91; Schmidhäuser, Lehrbuch, 16/64.

§ 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt

219

Diskussion zur Kausalität des Unterlassens13 Negation und Negat: Ebenso wie negative Bedingungen kausal sein können, können sie gewollt werden; die auf das Unterlassen des Tuns (t) gerichtete Intention lautet nicht "nichtgewollt: t", auch nicht: "gewollt: nichts", sondern: "gewollt: nicht-t". Dogmatisch gesprochen bedeutet dies, daß auch Absichtsdelikte - wie z.B. Diebstahl oder Betrug - durch Unterlassen begangen werden können, was denn auch im Ergebnis der ganz h A. entspricht 4. 2. Irrtum über die Garantenstellung und -pflicht Der notwendige Wissensinhalt für die Vorsatzzurechnung ergibt sich aus dem Norminhalt. Freilich ist bereits im Gesetz - in § 16 - eine Unklarheit angelegt, die der bekannten Streitfrage zugrundeliegt, ob der Garant nur die seiner Garantenstellung zugrundeliegenden (tatsächlichen) Umstände oder auch die (erst hieraus resultierende) Garantenpflicht kennen muß: Während § 16 Abs. 1 von "Umständen" spricht, die "zum gesetzlichen Tatbestand gehören", erwähnt § 16 Abs. 2 "Umstände, welche den Tatbestand ... verwirklichen würden". Sprachtheoretisch gesprochen fragt sich daher, ob der Täter den "Sinn", d.h. die Intension des Tatbestandes erfaßt haben muß (so § 16 Abs. 1), oder ob er die Extension (den Wirklichkeitsbezug) des Tatbestandes, also dessen Wahrheitsbedingungen kennen muß, d.h. annehmen muß, die Aussage, das im Tatbestand beschriebene Verhalten liege vor, sei wahr 15. Zutreffend ist - entgegen Puppe16 - allein die zweite Deutung, da es nicht Aufgabe der Täters ist, über die Intension (Auslegung) des Tatbestandes zu räsonnieren 17. Jedoch hat die Ansicht von Puppe, die auf den "Sinn" des Tatbestandes abstellt, insoweit einen zutreffenden Kern, als die "Wirklichkeit", welche die Tatbestandsverwirklichung voraussetzt, auch normativ konstituiert sein kann, nämlich bei den normativen Tatbestandsmerkmalen wie der Fremdheit bei den Eigentumsdelikten oder der Beweisbestimmung beim strafrechtlichen Urkundenbegriff. Derartige Begriffe beschreiben konventionale Tatsachen, also solche, die ohne Konventionen rechtlicher oder außerrechtlicher Art - nicht gedacht werden können18: "Fremdheit" kann nicht ohne die Rechtsvorschriften über das Eigentum und "Beweisbestimmung" nicht ohne die entsprechende soziale Konvention gedacht werden. Hier muß das Vorsatzwissen die Konvention umfassen, und

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14

S. oben §5 II 2. m.w.N.

Vgl. Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 46 ff. mit umf. Nachw. 15 Zur (auf Frege u. Carnap zurückgehenden) sprachtheoretischen Unterscheidung zwischen Intension und Extension s. nur Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie, S. 207 ff., 245 ff.; Koch/Rüßmann , Begründungslehre, S. 129 ff., 145 ff.; je m.w.N. 16 GA 1990,145 (149 ff.). 11 Kindhäuser, GA 1990,407 (409 ff.). 18 Eingehend Kindhäuser , Jura 1984,456 ff. m.w.N.

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zwar nicht nur in einer laienhaften "Parallelwertung", sondern (dem Ergebnis nach) zur Gänze19. Bei der normentheoretischen Untersuchung des Verhältnisses von Garantenstellung und -pflicht hat sich nun aber ergeben, daß es um echte strafrechtliche Normbildung und nicht um die Anknüpfung - auch nicht in Art eines Blankettgesetzes - an (außer-)rechtlichen Konventionen geht20. Tatbestandsmerkmale sind nur die Merkmale, aus denen die Garantenpflicht folgt; diese Merkmale können wiederum - wie bei der Ingerenz - naturalistischer oder - wie bei der Ehe - konventionaler Art sein. Vorsatz setzt nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Kenntnis voraus, daß die Merkmale erfüllt sind, das heißt freilich bei der Garantenstellung aus Ehe und derjenigen des Amtsträgers auch: daß die Ehe oder die Amtsträgerschaft (rechtlich wirksam) besteht21. Dies entspricht der seit BGHSt 16, 15522 hA. 2 3 , nach welcher weder das abstrakte Garantengebot noch die konkrete Garantenpflicht zum Tatbestand gehören, sondern nur die Garantenstellung (sc. die Merkmale der Garantiebeziehung) Bezugspunkt des Vorsatzes ist. Die Kenntnis von der Garantenpflicht gehört nur zum Unrechtsbewußtsein; ihre irrtümliche Verkennung ist nach § 17 zu behandeln24. Umgekehrt liegt bei irrtümlichem Schluß von richtig erkannten (ggf. konventionalen) Tatsachen auf eine Garantenpflicht ein strafloses Wahndelikt vor 25. Freilich stellt sich hier noch ein - in anderem Zusammenhang, nämlich bei den Amtsdelikten und bei § 153 ff. vieldiskutiertes26 - Sonderproblem, das aus der Deutung der Garanten- als Sonderpflichtdelikte herrührt 27. Es entspricht hier einer vordringenden Auffassung, daß die Annahme einer Sonderpflicht - sei es im unzutreffenden rechtlichen Ergebnis, sei es auf19

Zu den insoweit äußerst umstrittenen Einzelfragen s. nur Jakobs, Strafrecht, 8/46 ff. (zu Blankettgesetzen) u. 48 ff. (zu den normativen Tatbestandsmerkmalen) mit umf. Nachw. 20 S. oben § 4 I m.w.N. 21

Zu diesem Aspekt Jakobs, Strafrecht, 29/90; zu den von Jakobs weiterhin als Irrtümer über Normatives angeführten Fällen des Irrtums über die Angemessenheit sogleich § 6 14. 22 S. weiterhin BGHSt 19, 295 m. Anm. Geilen, JuS 1965, 426 (zur entsprechenden Problematik bei § 138); anders aber die ältere Rspr., freilich teils der (überholten, a A Tischler, Verbotsirrtum, S. 349 ff.) Lehre vom "strafrechtlichen" und "außerstrafrechtlichen Irrtum verhaftet, vgl. BGHSt 2, 150 (155); 3, 82 (89), auch noch 14, 229 (232); s. jedoch auch BGHSt 3, 18 (Irrtum über die Garantenpflicht als unbeachtlicher "Strafrechtsirrtum"). 23 Wie hier S/S-Cramer, § 15 Rdnrn. 96 f.; LKJescheck, Vor § 13 Rdnr. 89; Armin Kauf mann, Dogmatik, S. 129 ff., 306 ff.; Arthur Kaufmann, JZ 1963, 504 ff.; s. auch Kuhlen, Irrtum, S. 230 ff. 24

Während nach der älteren Rechtsprechung der Irrtum über die Garantenpflicht als solche als vorsatzausschließend angesehen wurde, weil die Garantenpflicht Merkmal des Tatbestandes des unechten Unterlassungsdelikts wäre ; a.A. aber BGHSt 3,18 mit der (überholten) Begründung, der Irrtum sei als "Strafrechtsirrtum" unbeachtlich. 25 LK-Vogler, § 22 Rdnrn. 151 u. 159 f. m.w.N. 26 Eingehend Jakobs, Strafrecht, 25/43 ff.; LK-Vogler, § 22 Rdnrn. 153 ff.; je mit umf. Nachw. uo .

§ 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt

221

grund irriger Tatsachenannahmen, die eine Sonderpflicht rechtlich zutreffend begründen würden - nie Vorsatz- (und versuchsstrafbarkeits-)begründend wirken könne, da die Sonderpflicht nicht zur Disposition des Täters stehe28. Jedenfalls im Bereich des garantenpflichtwidrigen Unterlassens kann dem nicht in vollem Umfang gefolgt werden29: Bei den Sicherungsgarantengeboten - die "Preis" der Handlungs- und Organisationsfreiheit sind und axiologisch den Begehungsverboten entsprechen - handelt es sich nicht um Sonderpflichtdelikte i.e.S. von status- und institutionengebundenen Delikten, sondern um "täterschaftlich begrenzte Gemeindelikte", deren Sonderpflicht nur das Ergebnis einer "situativen Konkretisierung" ist30. Damit liegt dann (freilich auch nur dann) Vorsatz vor, wenn der Täter glaubt, er habe seine Handlungsfreiheit in pflichtenbegründender Weise in Anspruch genommen: Wer irrtümlich annimmt, einen Radfahrer mit überhöhter Geschwindigkeit gestreift zu haben, diesen in Lebensgefahr schwebend glaubt und gleichwohl die (vermeintlich erforderliche} Rettung unterläßt, hat Vorsatz (und ist ggf. wegen §§ 212, 22,13 strafbar) 3. - Anders liegt es bei Garantengeboten kraft institutioneller Solidarität, sofern der Täter die Institutionszugehörigkeit nicht "aus eigener Kraft", sondern nur durch einen (formalisierten) Rechtsakt Dritter - beispielsweise durch die Eheschließung vor einem Standesbeamten - erlangen kann32. Fehlt dieser Akt, so mag bei dem sich irrtümlich der Institution zugehörig erachtenden Garanten subjektiv eine (gleichwertige) Pflichtwidrigkeit vorliegen; jedoch ist zu bedenken, daß die Geltung einer Sondernorm i.e.S. einer institutionengebundenen Norm nicht durch Handlungen von Außenstehenden erschüttert werden kann (selbst wenn der Außenstehende als Mitglied erscheinen mag): In jedem Fall genügt es, den Täter als Nichtangehörigen zu entlarven, um das Normvertrauen wiederherzustellen 33. Dies muß auch in denjenigen Fällen gelten, in denen der Täter irrig von Umständen ausgeht, die seine Zugehörigkeit zu der Institution wirklich begründen würden: Wer etwa vor einem sich als Standesbeamten aufspielenden Schwindler geheiratet hat34, den treffen - vorbehaltlich einer Garantenstellung aus enger Lebensgemeinschaft - nicht die aus der Ehe resultierenden Garantenpflichten, selbst wenn er annimmt, die Ehe sei vor einem Standesbeamten und 28 S. nur SchlHOLG SchHA 1949, 297 (u. hierzu Bruns, Täter, S. 36); Langer, Sonderverbrechen, S. 498; Schmidhäuser, Lehrbuch, 15/59; Stratenwerth, in: Bruns-FS, S. 59 ff.; a.A. in st. Rspr. aber der BGH, s. nur St 5,112 (117); 10, 272 (275 f.), 12, 56 (58 - alle zu § 153 f.). 29 S. LK-Vogler, § 22 Rdnrn. 159 f. 30 Treffend LK-Vogler, § 22 Rdnr. 159. 31 A.A. aber Stratenwerth, Strafrecht, Rdnr. 699. 32 Zu diesem Kriterium "aus eigener Kraft" vgl. LK-Vogler, § 22 Rdnr. 159. 33 Treffend LK-Vogler, § 22 Rdnr. 158; s. weiterhin Jakobs, Strafrecht, 25/43. - Daß die irrige Annahme einer Sonderpflicht i.e.S. nicht versuchsstrafbarkeitsbegründend wirken kann, entspricht einer vordringende Ansicht,

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Es liegt hier eine Nicht-Ehe, nicht etwa bloß eine nichtige Ehe (§ 23 EheG!) vor, s. Palandt-Diederichsen, Vor § 16 EheG Rdnr. 2.

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somit wirksam geschlossen35. - In keinem Falle liegt Vorsatz vor (und ist in jedem Falle nur ein strafloses Wahndelikt gegeben), wenn das Bestehen oder die Grenzen einer Institution als solcher verkannt werden: Der Vater eines nichtehelichen Kindes, der - ohne in enger Lebensgemeinschaft mit dem Kind zu leben - meint, die Sorge für das Kind sei ihm gesetzlich zugewiesen, hat keinen auf garantenpflichtwidriges Unterlassen gerichteten Vorsatz, wenn er das bedrohte Leben des Kindes nicht rettet 36. 3. Irrtum über Erfolgsabwendungsmöglichkeiten Ein weiteres, besonders gelagertes Problem wirft der Irrtum über die Erfolgsabwendungsmöglichkeit (des Täters) auf 37. Ein derartiger Irrtum kann auftreten, wenn der Täter den Erfolg bereits für eingetreten hält oder wenn er seine Handlungsfähigkeit - also die ihm zur Verfügung stehenden Erfolgsabwendungsmögfichkeiten - verkennt. Während in der ersten Konstellation der Vorsatz nach allgemeiner Meinung entfällt 38 (ggf. aber eine Fahrlässigkeitszurechnung in Frage kommt), hat Armin Kaufmann für die zweite Konstellation bekanntlich eine differenzierende Lösung vorgelegt: Zu unterscheiden sei zwischen dem "fehlgeschlagenen Gebotserfüllungsversuch" und dem Irrtum über die Handlungsfähigkeit ohne einen derartigen Versuch39. Im ersten Fall handele der Täter "in Gebotserfüllungstendenz", auch wenn er eine gegebene Erfolgsabwendungsmöglichkeit übersehe; beispielsweise übersehe ein Nichtschwimmer den in der Nähe aufgehängten Rettungsring und alarmiere deshalb einen entfernt wohnenden Rettungsschwimmer, der wegen der Verzögerung das ertrinkende Kind nicht mehr retten kann. Hier liege bereits kein tatbestandsmäßig-normwidriges Verhalten vor, nicht etwa fehle - erst - der Vorsatz (was im Rahmen der finalistischen Normenkonzeption Armin Kaufmanns konsequent ist!). Gleichwohl sei die Fahrlässigkeitszurechnung möglich40. Wenn hingegen der Nichtschwimmer gar nichts tue, hält Armin Kaufmann die Vorsatzzurechnung für geboten: Der Täter könne potentiell final den Erfolg abwenden; tue er

Insoweit a A Jakobs, Strafrecht, 29/115; zu pauschal auch LK-Vogler, § 22 Rdnrn. 159 f., der alle Garantendelikte gleich, nämlich als (nur) "täterschaftlich begrenzte Gemeindelikte" behandeln will. 36 Beispiel nach Jakobs, Strafrecht, 29/115. 37 Eingehend Jakobs, Strafrecht, 29/83 ff. m.w.N. 38

Zu den hier anzulegenden Beweismaßstäben vgl. neuerdings BGH NJW 1992, 583: Insbesondere bei Unfällen im Straßenverkehr entspreche es nicht der Lebenserfahrung, daß das Opfer sofort getötet worden sei. 39 Armin Kaufmann, Dogmatik S. 109 ff. (zus.fas. 126 f. und 133 f.). - Zwar betreffen die Erörterungen echte Unterlassungsdelikte; sie werden aber von Armin Kaufmann selbst auf das unechte Unterlassungsdelikt übertragen, aaO. S. 309 ff. 40 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 172 ff.

§ 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt

223

nichts, so handele er gebotswidrig und auch vorsätzlich, da ihm bekannt sei, daß er durch sein Unterlassen den Erfolg herbeiführe 41. Gegen die Lösung des ersten Falles ist zunächst das normentheoretische Argument anzuführen, daß die Gebote auf Normebene Erfolgsabwendung und erst auf Pflichtebene angemessene - d.h. die nach dem (aktuellen oder prästierten) Wissensstand die entscheidungsrelevant besten - Rettungsbemühungen verlangen. Darüber hinaus erscheint es auch immanent kaum haltbar, ein nicht tatbestandsmäßig-normwidriges (!) Verhalten gleichwohl kraft Fahrlässigkeit zuzurechnen. Aber auch die Lösung des zweiten Falles vermag nicht zu überzeugen. Grundsätzlich gehört das Wissen um die Erfolgsabwendungsmöglichkeit zum Vorsatz42. Kann dieses Wissen freilich erst durch Zwischenschritte erlangt werden (muß z.B. das ohnmächtige Unfallopfer vom Bereitschaftsarzt untersucht werden, um die richtigen Maßnahmen einleiten zu können), so müssen auch diese Zwischenschritte verlangt werden; hier liegt aber letztlich ein hinreichendes - generelles Wissen um Erfolgsabwendungsmöglichkeiten vor 43. Fehlt es hingegen an einem solchen Wissen und bedenkt der Garant - sei es auch fahrlässigerweise, aus Gleichgültigkeit oder sogar Rechtsfeindlichkeit - nicht andere Erfolgsabwendungsmöglichkeiten, so liegt kein Vorsatz vor 44. Bedenkt er derartige Möglichkeiten, so ist zu differenzieren: Hätte ihre Ergreifung den Erfolg abgewendet (was ex post mit hinreichender Gewißheit festzustellen ist), so liegt eine (bloß) unwesentliche Abweichung des vorgestellten vom wirklichen Kausalverlauf vor. Wäre dies aber nicht der Fall gewesen, so kommt (nur) ein (ggf. strafbarer) Versuch in Betracht; es fehlt in diesen Fällen am Pflichtwidrigkeitszusammenhang 45.

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Hinter dieser Auffassung steht offensichtlich der Gedanke, daß der Täter nicht begünstigt werden soll, der gleichgültig oder gar rechtsfeindlich gesonnen sich Rettungsmöglichkeiten überhaupt nicht vergegenwärtigt. Abgesehen davon, daß hier axiologisch richtiger zwischen belastender und nicht belastender Unkenntnis unterschieden werden müßte (zutr. Jakobs, Strafrecht, 29/83 in Fn. 174), tritt dieses Problem aber auch bei den Begehungsdelikten auf (zutr. Jakobs, aaO. 29/87) auf; zur axiologischen Zweifelhaftigkeit der Begünstigung des Fahrlässigkeitstäters s. bereits oben § 2 in Fn. 110. Eine andere Frage ist es, ob die Auffassung Armin Kaufmanns - die für § 323 c entwickelt wurde, freilich (Dogmatik, S. 311) explizit auf die unechten Unterlassungsdelikte übertragen wurde, im Rahmen des § 323 c vertretbar ist, da "Hilfeleistung" auch dahin ausgelegt werden könnte, daß nach Tätersicht nicht erfolgversprechende Hilfe geleistet werden muß, was freilich mit Blick auf den auch durch § 323 c bezweckten Rechtsgüterschutz kaum einleuchtet; a.A. denn auch die heute h.A., vgl. S/S-Cramer, § 323 c Rdnrn. 19 und 28 a.E. m.w.N. 42 S. bereits oben bei und mit Fn. 3 sowie § 3 in Fn. 155. 43

Zu dieser Konstellation Jakobs, Strafrecht, 29/85. H.L., vgl. nur LK-Schroeder, § 16 Rdnr. 217 mit umf. Nachw.; ähnlich S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 94 m.w.N., der für Vorsatz verlangt, der Täter müsse sich der "konkreten" Handlung bewußt gewesen sein, die den Erfolg (wirklich) abgewendet hätte. 45 S. bereits oben § 5 II 3. m.w.N. 44

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

4. Irrtum über die Angemessenheit Die Vorsatzzurechnung wird schließlich, wie bereits ausführlich dargelegt46, durch das (objektiv-normative) Kriterium der Anwendungsangemessenheit begrenzt: Das Wissen des Täters muß "entscheidungsrelevant" sein. Dies bedeutet insbesondere, daß das Wissen um ein (noch) erlaubtes Risiko für das zu garantierende Gut kein die Vorsatzzurechnung begründendes Wissen sein kann, da die Eingehung eines erlaubten Risikos gerade nicht zur Unterlassung der Handlung (bzw. zur Vornahme einer Rettungshandlung) zwingt47. Insoweit folgt die hier entwickelte Lehre sachlich derjenigen von Frisch 48, wonach sich der Vorsatz stets auf ein "rechtlich mißbilligtes Risiko" beziehen muß; im Unterschied zu Frisch wird dies aber nicht damit begründet, daß das Vorsatzwissen normspezifisch sein müsse und die Verhaltensnormen nur die Schaffung rechtlich mißbilligter Risiken verböten, sondern aus der Teleologie der Zurechnung entwickelt. Dies führt aber zu der Folgefrage, inwieweit der Irrtum über die Angemessenheit in der entwickelten Bedeutung zum Vorsatzausschluß führt. Hier ist zwischen drei Irrtumskonstellationen zu unterscheiden: Erstens kann der Garant die objektiv angemessene Erfolgsabwendungsmöglichkeit überhaupt nicht gesehen oder bedacht haben; beispielsweise kann ein Vater, der als schlechter Schwimmer erfolglos (und ex ante chancenlos) yersucht hat, sein ertrinkendes Kind zu retten, den angebrachten Rettungsring übersehen haben. Zweitens kann der Garant die für die Angemessenheit entscheidenden Tatsachengrundlagen verkannt haben; beispielsweise kann ein Warenhersteller die Gefährlichkeit eines in den Verkehr gebrachten Produkts erheblich unterschätzt und die Kosten einer Rückrufaktion erheblich überschätzt haben (so daß ein Rückruf nicht mehr zumutbar gewesen wäre). Drittens kann sich der Garant - bei ansonsten zutreffender Wissensgrundlage - über die Angemessenheit selbst geirrt haben. In der ersten Konstellation muß das soeben zum Vorsatzausschluß bei fehlender Kenntnis der Erfolgsabwendungsmöglichkeit Ausgeführte entsprechend gelten: Es ist nicht praktisch notwendig, einen nicht gesehenen Rettungsweg zu beschreiten; daher scheidet die Vorsatzzurechnung aus (und bleibt allenfalls die Möglichkeit einer außerordentlichen Fahrlässigkeitszurechnung)49. Hingegen ist bei der zweiten und dritten Konstellation 46

47

S. oben § 6 I, bes. 5.

Folge für den Versuchsbeginn: Solange ein - nur - erlaubtes Risiko eingegangen wird, z.B. ein Elternteil ein Kind im erlaubten Rahmen sich selbst überläßt (sei es auch in der Absicht, es verhungern zu lassen), liegt kein (Unterlassungstötungs-)Vorsatz vor; ebenso, wenn die Rettungshandlung ohne gesteigerten Aufwand noch später vorgenommen werden kann; s. Jakobs , Strafrecht, 29/118 u. unten § 7 II 3. 48 Vorsatz, passim. 49 A A aber Eb. Schmidt , Arzt, S. 84 f., 89 f.; s. auch ders. y Niederschriften, Bd. XII, S. 270 f.: Bei erkannter Gefahr des Eintritts einer Verletzung des zu garantierenden Rechtsguts soll

§ 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt

225

aus der Ratio der Anwendungsangemessenheit heraus eine differenzierende Lösung zu entwickeln: Die Anwendungsangemessenheit stellt ein objektivnormatives Urteil über die Frage dar, ob ein gegebenes Wissen (und Können) bei kontrafaktischer Unterstellung der Intention, normgemäß handeln zu wollen, entscheidungsrelevant ist. Verkennt der Garant dieses Urteil nur im Ergebnis (dritte Konstellation), so liegt ein einem Subsumtions- und Verbotsirrtum vergleichbare Sachlage vor, da Geltung und Richtigkeit des Angemessenheitsurteils ebensowenig wie Geltung und Richtigkeit der Norm zur Disposition des Garanten stehen. Der diesbezügliche Irrtum ist also entsprechend § 17 zu behandeln. Führt hingegen eine irrig angenommene Tatsachenlage auch nach der objektiv-normativen Wertung dazu, eine Verpflichtungswirkung der Norm abzulehnen, so war es aus der für Zurechnungsfragen ausschließlich relevanten, ex ante zu beurteilenden Tätersicht nicht praktisch notwendig, das gebotene Verhalten vorzunehmen. Damit liegt eine einem Tatbestandsirrtum vergleichbar Situation vor; es kommt allenfalls eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Betracht (§ 16)50. Umgekehrt hat diese Auffassung allerdings zur Folge, daß - nimmt der Täter irrig Umstände an, welche die Anwendungsangemessenheit und damit die Verpflichtungswirkung der Norm begründen - ggf. wegen Versuchs zu bestrafen ist51. IL Der Versuch der unechten Unterlassungsdelikte (zu den Fragen des Versuchsbeginns und des Rücktritts) 1. Versuchsstrafbarkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten? Ob es eine Versuchstrafbarkeit bei den unechten52 Unterlassungsdelikten in der Weise geben kann wie beim Begehungsdelikt, ist umstritten. Hierbei jedes nicht sachgemäße Verhalten zur Vorsatzzurechnung führen, unabhängig davon, ob der Täter dessen Möglichkeit und Sachgemäßheit erkannte. 50 Im Ergebnis können deshalb die zum Irrtum über die Angemessenheit in § 34 und über "gesamttatbewertende" und "Komplex-Begriffe" entwickelten Grundsätze entsprechend herangezogen werden (vgl. S/S-Lenckner, § 34 Rdnr. 51; s. auch S/S-Cramer, § 16 Rdnr. 20; je m.w.N.), da das objektiv-normative Urteil der Angemessenheit als gesamttatbewertend verstanden werden kann und in diesem Sinne Komplexbegriff ist. 51 S. bereits § 6 13. a.E. 52 Bei den echten Unterlassungsdelikten gibt es de lege lata eine Versuchsstrafbarkeit bei § 41 Abs. 1 WStG (hierzu Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 204) sowie bei § 283 Abs. 1 Nr. 7 lit. b) i.V.m. Abs. 3 (hierzu LK-Tiedemann, § 283 Rdnr. 195). Daher sind die älteren Auffassungen, bei den echten Unterlassungsdelikten sei ein Versuch begrifflich undenkbar (Nach. b. Armin Kaufmann, aaO. in Fn. 254), de lege lata nicht mehr haltbar. Das Argument dieser Auffassungen lautete, den echten Unterlassungsdelikten entspreche stets nur ein Tätigkeitsgebot; daher enthalte das Unterlassen einer Tätigkeit stets bereits die Vollendung des Delikts (so z.B. Landsberg, Commissivdelikte, S. 171 ff.). Abgesehen davon, daß die Parallelisierung zwischen echtem Unterlassungsdelikt und Tätigkeitsdelikt nicht zutrifft (s. oben § 3 I 5.; ebenso Armin Kaufmann, aaO., S. 206 ff.), stellt sich die Versuchsfrage aber "denknotwendig" 15 Vogel

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

ist freilich allenfalls de lege ferenda der Einwand zu berücksichtigen, es handele sich um eine bloße "Gesinnungsstrafe" 53; schon de lege lata ergibt sich aus §§ 13, 22 i.V.m. den Begehungstatbeständen des Besonderen Teils, daß der Versuch eines unechten Unterlassungsdelikts strafbar sein kann54. Auch gewinnt die Frage, ob es nur einen beendeten oder (auch) einen unbeendeten Versuch des unechten Unterlassungsdelikts gibt, de lege lata erst im Rahmen des - noch zu erörternden 55 - Rücktritts vom Versuch des unechten Unterlassungsdelikts Relevanz. Eine Frage der - noch zu erörternden - Beteiligungslehre ist es schließlich, ob bestimmte Versuchskonstellationen, die sich nur als versuchte Beihilfe des Garanten darstellen, wie beim Begehungsdelikt straflos sein müssen56. Ausgehend von der These, unechte Unterlassungsdelikte seien minder strafwürdig als Begehungsdelikte, vertritt freilich Rudolphi57 die These, es sei nur der objektiv gefahrerhöhende (nicht "absolut" untaugliche) Unterlassungsversuch strafbar; darüber hinaus sollen nach Schmidhäuser58 sogar geeignete Rettungsmöglichkeiten objektiv zur Verfügung stehen müssen. Diese Auffassungen gehen fehl, da nicht nur eine prinzipielle Differenz zwischen der Strafwürdigkeit der Begehungs- und der unechten Unterlassungsdelikts nicht anzuerkennen ist59, sondern sich zudem § 22 im Ausgangspunkt auf den Boden einer subjektiven Versuchstheorie gestellt hat und Ausnahmen hiervon nur in den eng umgrenzten Fällen des § 23 Abs. 3 sowie des sog. "abergläubischen Versuchs"61 zu machen sind; insofern sind dem Versuch der unechten Unterlassungsdelikte so viel oder so wenig "Gesinnungselemente" eigen wie demjenigen der Begehungsdelikte62. Vielmehr gilt für bereits dann, wenn das Tätigkeitsgebot nur unter Zwang (z.B. i.S.v. § 35) und damit nicht zurechenbar) erfüllt wurde oder dann, wenn dem Unterlassungstäter nach Ablauf eines Teils der Frist die Gebotserfüllung unmöglich geworden ist (zu diesen Fällen zuerst Frank , in: Darstellung, Bd. V, S. 211). - Daß hingegen bei den unechten Unterlassungsdelikten ein Versuch zumindest denkbar sei, war auch früher nicht umstritten, s. zuerst Zachariä , Versuche, S. 66 f. 53 So aber Herzberg, MDR1973, 89. 54 Zutr. Herzberg , MDR 1973, 89 (90), der (nur) für § 43 a.F. die Möglichkeit eines Unterlassungsversuchs als mit dem Wortlaut dieser Vorschrift unvereinbar ablehnte. 55 S. sogleich § 7 II 4. 56 Zu diesem Aspekt Rudolphi , MDR 1967,1 (f.); s. noch unten § 9 II 6. 57 MDR 1967,1 (zus.fas. 7); ders. in: SK, Vor § 13 Rdnr. 55. 58 In: Gallas-FS, S. 81 (96 f.); ders., Lehrbuch, 17/27. 59 S. noch unten § 10 I 3. 60 Genauer gesagt ist - wie aus dem Wortlaut von § 22 erhellt - der vom Täter subjektiv zugrundegelegte Geschehensablauf (die "Vorstellung von der Tat") maßgeblich, innerhalb dessen des tatsächliche Verhalten freilich objektiv danach beurteilt wird, ob der Täter "unmittelbar angesetzt" hat; s. nur Ui-Vogler, § 22 Rdnr. 31 ("subjektive Beurteilungsgrundlage und objektiver Beurteilungsmaßstab"). 61 Vgl. hierzu nur LK-Vogler, § 23 Rdnrn. 28 ff. mit umf. Nachw. 62 I.E. ebenso Jakobs, Strafrecht, 29/114: "Die Objektivierung eines Verhaltens kann immer nur im Blick auf das vom Täter Gewollte bestimmt werden. Jedenfalls besteht kein Sonderproblem für Unterlassungen."

§ 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt

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die Strafbarkeitsbegründung des Versuchs der unechten Unterlassungsdelikte nichts anderes als das oben Ausgeführte: Es handelt sich um eine betätigte Nichtanerkennung der Norm als Verpflichtungsgrund für Handlungen, welche Nichtanerkennung Strafe grundsätzlich teleologisch rechtfertigt 63. 2. Unmittelbares Ansetzen bei den unechten Unterlassungsdelikten Prinzipielle Differenzen zwischen Begehungs- und Unterlassungsversuch ergeben sich aber bei der Bestimmung des Versuchsbeginns nach der im Gesetz verwendeten Formel vom "unmittelbaren Ansetzen" (§ 22)04. Wie dargelegt65, kann das pflichtwidrige Verhalten bei den unechten Unterlassungsdelikten nicht ohne weiteres eindeutig bestimmt werden; insbesondere können - immer beurteilt nach der Sicht des Täters - mehrere Rettungsmöglichkeiten gleichzeitig oder zeitlich gestaffelt gegeben oder kann die eine Rettungsmöglichkeit früher oder später vorzunehmen sein. Praktisch relevant wird die Frage etwa in Fallkonstellationen wie derjenigen des bekannten (zu § 221 ergangenen66) Urteils BGHSt 21, 44. Hier hatte eine Mutter ihre nur für die Nacht versorgten drei Kinder am Heiligabend 1964 verlassen, um "ungestört feiern" zu können; sie kehrte dann erst am 28.12. zurück und fand in der völlig ausgekühlten Wohnung das jüngste Kind tot, die beiden älteren unterkühlt vor. Hätte hier (bedingter) Tötungsvorsatz festgestellt werden können und wären die Kinder etwa am 27.12. von Nachbarn gerettet worden67, so hätte sich die Frage gestellt, zu welchem Zeitpunkt - beurteilt nach der Vorstellung der Mutter - ein "unmittelbares Ansetzen" vorgelegen hätte. Armin Kaufmann 68 hat - ausgehend von seinem "Umkehrprinzip" - bekanntlich hierzu vertreten, es komme nicht auf den Versuch des Unterlassens, sondern auf das Unterlassen des Versuchs der Gebotserfüllung an. Die Gebote verlangten aber nur, daß der Erfolg überhaupt - wie auch immer 63

Näher oben § 2 II, III 4. Die nach Jescheck, Lehrbuch, S. 577, generell untauglich zur Bestimmung des Versuchsbeginns beim Unterlassungsdelikt sein soll, da ein Unterlassen nicht - wie ein Tun in Teilakte zerlegt werden kann. Diese Auffassung trifft nicht zu (s. noch unten im Text) und ist zudem contra legem. 65 S. oben §611., 2. 66 Zur hier auftretenden Problematik des "Verlassens" durch Unterlassen (§ 221 Abs. 1 2. Alt.) eingehend Feloutzis, Aussetzung, S. 175; S/S-Eser, § 221 Rdnr. 9a; je mit umf. Nachw. Jüngst hat BGHSt 38, 78 = NStZ 1992, 231 m. Anm. Walther klargestellt, daß das Verlassen ein Begehungsdelikt darstellt (aA. LK-Jähttke, § 221 Rdnr. 14), das grundsätzlich durch Unterlassen begangen werden kann, freilich nur unter der Voraussetzung, daß es zu einer räumlichen Entfernung als Handlungsergebnis gekommen sei (anders aber RG DR 1941,193; S/S-Eser, § 221 Rdnr. 7 m.w.N.). 67 Insoweit hätte ein fehlgeschlagener Unterlassungsversuch vorgelegen, dessen (alleinige) Strafbarkeit Welzel, Strafrecht, S. 221 anerkennt. 68 Dogmatik, S. 221. 64

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abzuwenden sei. Deshalb sei rechtlich ausschließlich das Verstreichenlassen der (aus der Sicht des Täters) letzten Rettungsmöglichkeit relevant69. Demgegenüber meint Maihofer 70, die Gebote hätten den Zeitcharakter des "Jetzt", konkretisiert als des "Unverzüglich" (und spätestens: "Rechtzeitig"); mithin beginne der Versuch schon beim Unterlassen der (aus Sicht des Täters) ersten Rettungsmöglichkeit71. Beide Auffassungen sind unter Zugrundelegung des oben Entwickelten72 unrichtig 73: Die Lehre Maihofers kann schon deshalb nicht zutreffen, weil es für jemanden, der - zumindest ohne erhöhten Aufwand und mit gleicher Sicherheit - eine Rettungsmöglichkeit später vornehmen kann, es nicht praktisch notwendig ist, diese "unverzüglich" wahrzunehmen74. Umgekehrt wurde gezeigt, daß Armin Kaufmanns Lehre eine streng distributive Auffassung vom praktischen Syllogismus zugrundeliegt, die nicht zutreffen kann75. Im Ausgangspunkt zu Recht vertritt die h.L. deshalb eine differenzierende Lösung, die zuerst von Grünwald 76 entwickelt wurde. Hiernach soll jedenfalls dann ein pflichtwidriges Verhalten vorliegen, wenn der Garant billigend die Möglichkeit in Kauf nimmt, daß wegen der Verzögerung die Rettung nicht mehr möglich sein wird, m.a.W., wenn der Garant die "größte Erfolgschance" ungenutzt verstreichen läßt. Ebenso sei ein Versuch gegeben, wenn eine Rettungsmöglichkeit, die nur ein "geringes Maß an rechtlich positiver Energie" erfordert hätte, unterlassen worden sei; hier sei der Schluß gerechtfertigt, daß spätere, ein höheres Maß an Energieeinsatz erfordernde Handlungen unterlassen worden wären77. Lasse sich das Unterlassen in ver69 7 0Armin

Kaufmann , Dogmatik, S. 215. GA 1958, 289 (293 f., 297). I.E. ebenso Herzberg, MDR 1973, 89 (94); Lönnies, NJW 1962,1950 (f.). Eine eigenständige Bedeutung hat die von Tiedemann , Wirtschaftsstrafrecht, Bd. I, S. 224 im Anschluß an Maihofer entwickelte Formel der "Objektivierung des Tatentschlusses zur Nichtumkehr". Problematisch an dieser Formel ist es, daß die Kriterien der "Objektivierung" erst zu bestimmen sind: Sofern hier spätere Handlungs- bzw. Erfolgsabwendungsmöglichkeiten ausgeblendet werden - es äußere etwa der Buchführungspflichtige deutlich vor Ablauf möglicher Fristen, er werde die Bücher überhaupt nicht führen (§ 283 Abs. 1 Nr. 5) - , ist auch die Lehre von Tiedemann dem Einwand ausgesetzt, es sei in diesem Zeitpunkt noch nicht praktisch notwendig gewesen, die Bücher zu führen. 72 § 6 11., 2. 73 Grundsätzliche Bedenken auch b. Herzberg, MDR 1973, 89 (91), der in Frage stellt, daß der Versuchsbeginn mit Beginn der Handlungspflicht gleichgesetzt werden kann. Nach dem hier vertretenen Modell ist diese Gleichsetzung aber insoweit zutreffend, als die HandlungsHauptpflicht in Frage steht. 74 Wenn "unverzüglich" wie bei 121 BGB "ohne schuldhaftes Zögern" bedeuten sollte, so könnte auch argumentiert werden, daß ein schuldhaftes Zögern nicht vorliegt, solange gleichwertige Rettungsmöglichkeiten bestehen. 75 S. oben § 61 2. 76 JZ 1959,46 (48 f.). 77 Was freilich eine in dubio pro reo auszuschließende belastende Unterstellung ist! Zweifelhaft daher auch die Ansicht von Jakobs, Strafrecht, 29/117 (f.), es fehle nur dann am 71

§ 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt

229

schiedene gebotene Teilakte unterteilen (so z.B. im Fall der Mutter, die ihr Kind nicht ernährt), so komme es darauf an, daß "das Opfer wegen des Ausbleibens der Hilfe (sc. in der Vorstellung des Täters) erheblich zu leiden beginnt". In allen Fällen sei freilich erforderlich, daß der untätige Garant entschlossen sei, auch nicht später zu handeln78. - Insbesondere das Kriterium des Beginnes "erheblichen Leidens" hat die heute h.L. aufgegriffen und dahin präzisiert, daß der (in der Vorstellung des Garanten bestehende) Eintritt einer unmittelbaren-konkreten Gefahr des Erfolgseintritts die Versuchsgrenze markiert 79. Zu diesem "Gefährdungskriterium" hat Roxin80 allerdings ein weiteres Kriterium hinzugefügt: Auch ohne (bereits) unmittelbar-konkrete Gefährdung soll dann (und zwar einheitlich für Tun wie für Unterlassen) ein - und zwar bereits beendeter - Versuch vorliegen, wenn der Täter (Garant) den gefährdenden Verlauf nicht mehr steuern kann, weil er ihn "aus der Hand gegeben hat", so z.B., wenn ein Terrorist in einem fremden Wohnhaus eine "Höllenmaschine" installiert, die erst eine Woche später explodieren soll, oder wenn eine Mutter das Kleinstkind in der Absicht verläßt, es verhungern zu lassen. 3. Handlungstheoretische Lösung Allerdings ist das nach h.L. - auch für den Begehungsversuch81 - maßgebliche Kriterium der Gefährdung des zu garantierenden Rechtsguts (stets beurteilt aus der Sicht des Täters) nicht allen Zweifeln entzogen . Zum einen paßt dieses Kriterium nur auf Verletzungsdelikte, nicht auf Tätigkeits- oder (ggf. abstrakte) Gefährdungsdelikte. Zum anderen ist es rechtsgutsbezogen; nach hier vertretener Auffassung steht aber beim Versuch kein unmittelbar rechtsgutsbezogener Konflikt in Frage, sondern ein pflichtbezogener 83. Sodann ist auch das von Roxin eingeführte ergänzende Kriterium des "Aus-

unmittelbaren Ansetzen, wenn (bei gleichbleibender Rettungschance) der Aufwand zur Erfolgsabwendung nicht steige. 78 Dies trifft freilich nur dann zu, wenn der zur Untätigkeit entschlossene Garant überhaupt die Versuchsgrenze überschreitet. In diesem Fall macht sich dann aber auch der zur späteren Tätigkeit entschlossene Garant (vorbehaltlich eines Rücktritts) strafbar. Auf den ersten Blick scheint hier zwar nur ein bloß bedingter Tatentschluß vorzuliegen; jedoch kennt die h.L. - s. S/S-Eser, § 22 Rdnr. 20; LK-Vogler, § 22 Rdnr. 20; je m.w.N. - auch "unbedingte Tatentschlüsse mit Rücktrittsvorbehalt" oder unter "auflösender Bedingung", welche für § 22 genügen; so liegt es beim zur späteren Tätigkeit entschlossenen Garanten. 79 S. nur S/S -Eser, § 22 Rdnr. 50 f. mit umf. Nachw.; vertiefend Wolter, Zurechnung, S. 101 ff. (mit dem zusätzlichen Kriterium, daß nur "außergewöhnliche", unsichere Rettungsmöglichkeiten verbleiben). 80 In: Maurach-FS, S. 213 (226 f., 231 ff.). 81 S. nur Dreher/Tröndle, § 22 Rdnr. 11; S/S-Eser, § 22 Rdnr. 42. 82 Zutr. krit. Kühl, JuS 1980, 811 (814); LK-Vogler, § 22 Rdnrn. 54 ff.; und neuerdings Tiedemann, in: Baumann-FS, S. 7 (11 f.). - S. bereits oben § 2 III 4. 83 S. bereits oben § 2 III 4.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

der-Hand-Gebens" des gefährdenden Verlaufs Bedenken ausgesetzt84. Nach der hA. setzt nämlich derjenige, der alles tut, was seiner Ansicht nach hinreichend ist, den Erfolg zu bedingen, in jedem Falle zur Tatbestandsverwirklichung an, also auch dann, wenn er den gefährdenden Verlauf noch nicht "aus der Hand gegeben" hat85: Auch wenn der Terrorist die scharf gemachte "Höllenmaschine" jederzeit ausschalten könnte, wenn er das wollte, ist mit dem Scharfmachen hiernach ein unmittelbares Ansetzen gegeben86. Andererseits läßt - wie aus dem Beispiel erhellt - das Kriterium die entscheidende Frage, wann eigentlich ein "Aus-der-Hand-Geben" vorliegt, offen. Dies wird gerade beim Unterlassungsversuch bei jederzeit revozierbarem "Aus-der-Hand-Geben" deutlich: Verlassen die Eltern (und sei es auch in der Absicht, ihr Kind verhungern zu lassen) die Familienwohnung und begeben sich zu Freunden im Nachbarhaus, so fragt sich doch, ob (und ggf. ab welchem Zeitpunkt) der gefährdende Verlauf "aus der Hand gegeben" ist87. Zutreffend ist vielmehr der Ansatz, der das unmittelbare Ansetzen ganz allgemein als "Handlungs-Unmittelbarkeit" versteht88. Einen Ansatzpunkt für die theoretische Präzisierung dieses Kriteriums bietet die analytische Handlungstheorie mit den Begriffen der Basis-Handlung und der Unterscheidung zwischen Haupt- und Hilfshandlung 89. Handlungen werden, wie bereits gezeigt90, über (intendierte) Handlungsergebnisse definiert: Wirft z.B. ein Passant einen Stein gegen die Windschutzscheibe eines herannahenden Kraftfahrzeugs, so kann dies die Handlungsergebnisse der Zerstörung der Windschutzscheibe, der Verletzung des Fahrers oder des Schocks des Beifahrers zur Folge haben. Dementsprechend kann das Werfen des Steins als Handlung der Sachbeschädigung oder der Körperverletzung (an Fahrer oder Beifahrer) gedeutet werden91. Keiner solchen Deutung ist hingegen das Werfen des Steins zugänglich: Dieses Handlungsergebnis ist 84

Zum folgenden LK-Vogler, § 22 Rdnrn. 73 ff.; Wolter , Zurechnung, S. 104 ff. S. nur die Nachw. b. S/S-Eser, § 24 Rdnr. 14; klassische Formulierung b. LK-Busch , 9. Aufl. (1970), § 43 Rdnr. 33a. - Auf den hier auftretenden Widerspruch hat bereits Herzberg , MDR 1973, 89 (92), hingewiesen. 86 Der vieldiskutierte Lehrbuch-Fall, in welchem A das Kaffeepulver des verreisten B vergiftet, damit dieser, wenn er zurückkehrt und sich eine Tasse Kaffee zubereitet (oder zubereiten läßt), sterbe, liegt insoweit anders, als es hier um einen Fall mittelbarer Täterschaft mit tatbestands- (oder vorsatz-)los handelndem Werkzeug geht: Hier wird die Handlung des Werkzeugs dem Hintermann zugerechnet, so daß ein unmittelbares Ansetzen erst dann vorliegt, wenn (in der Vorstellung des Täters) das Werkzeug zu dessen Handlung ansetzt; so zutr. LK-Vogler, § 22 Rdnrn. 96 ff.; allgemein zum umstrittenen Problem des Versuchsbeginns bei mittelbarer Täterschaft BGHSt 30, 363; Lackner , § 22 Rdnr. 9 m.w.N. 87 Krit. auch Herzberg , MDR 1973, 89 (93); Wolter , Zurechnung, S. 106 f. 88 Kühl, JuS 1980, 650; zust. LK-Vogler, § 22 Rdnr. 39. 89 S. bereits oben § 2 III 5. m.w.N. 90 S. oben § 3 III 3. 85

91

Es lassen sich also "Handlungsbäume" mit "Akkordeon-Effekten" Handlungsergebnisse erstellen, s. Kindhäuser, Handlung, S. 209 f. m.w.N.

möglicher

§ 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt

231

"relativ einfach" dadurch bedingt, daß der Passant geworfen hat; es wäre pragmatisch nicht sinnvoll, das Werfen des Steins weiter zu zerlegen. Derartige Verhaltensweisen mit "relativ einfach" bedingten Handlungsergebnissen können Basis-Handlungen genannt werden92. Das Ansetzen zum Versuch ist nun mit dem Beginn einer Basis-Handlung in diesem Sinne gegeben; der Beginn einer Basis-Handlung stellt also den spätesten Zeitpunkt des Versuchsbeginns dar 93. Hingegen sind Hilfshandlungen auf andere Handlungen bezogen; sie setzen den Handelnden (oder Dritte) in den Stand, andere Handlungen zu vollziehen, bedingen also nicht ein weiteres Handlungsergebnis94: Wer etwa eine Bank überfallen will, muß sich Waffen besorgen, die Tatumstände auskundschaften und sich zur Bank begeben. Hilfs- (Vorsorge- oder Vorbereitungs-)Handlungen sind selbst noch nicht tatbestandsmäßig und normwidrig; der Abschluß aller nach Vorstellung des Täters nötigen Hilfshandlungen stellt also den frühesten Zeitpunkt des Versuchsbeginns dar. Wer (nach seiner Sicht) noch nicht imstande ist, eine (tatbestandsmäßige Haupt- und Basis-) Handlung zu begehen, setzt noch nicht zur Tatbestandsverwirklichung an, und zwar auch dann nicht, wenn er (noch) die letzte (nach seiner Sicht) erforderliche Handlung vornimmt, um sich in den Stand zur Vornahme der (tatbestandsmäßigen Haupt- oder Basis-)Handlung zu setzen95. Beim Unterlassen ist nun zu beachten, daß Handlungsergebnis der Unterlassungshandlung eine Zulassungshandlung ist, der wiederum (kontrafaktisch) eine (normgemäße) (Erfolgsabwendungs-)Handlung korrespon92

Näher Kindhäuser, RTh 11 (1980), 479 ff.; Merkel, Basis-Handlungen, S. 105 ff. Dies entspricht der oben bei Fn. 85 angeführten "klassischen" Lehre, daß jedenfalls zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt, wer alles tut, was (aus seiner Sicht) den Erfolg hinreichend bedingt. - Freilich muß hierbei Basis-Handlung tatbestandsspezifisch bestimmt werden. Daher ist beim Betrug gegenüber einem Makler (hierzu BGHSt 31, 178 m. Anm. Lenckner, NStZ 1983, 409 ff.) nicht schon die Täuschung über die Zahlungsfähigkeit und -Willigkeit, die in der Beauftragung des Maklers liegt, eine Basis-Handlung, da gem. § 652 Abs. 1 BGB der Anspruch auf Maklerlohn erst entsteht, wenn das vermittelte Geschäft (wirksam) abgeschlossen wird, sondern diejenige, die in dem Abschluß dieses Geschäfts liegt, zutr. LK-Vogler, § 22 Rdnr. 35. 93

94

91. 9 5

Sie stehen also mit späteren Handlungen nicht in einem "Handlungsbaum", s. oben Fn.

Hiergegen hat die Rspr. des öfteren verstoßen. Paradigmatisch RGSt 53, 217: Wegführen und Anketten des Hofhundes als Ansetzen zum Einbruchsdiebstahl; zutr. abl. LK-Vogler, § 22 Rdnr. 50. - Zu den "Schutzminderungsfällen" eingehend Roxin, JuS 1979,1 (6 f.). Eine Sonderproblematik stellen insofern die Fälle des "Auflauerns" dar, vgl. nur BGH NJW 1952, 514 (Warten an der Straßenbahnstelle, um das vermeintlich ankommende Raubopfer zu überfallen) u. BGHSt 26, 201 (Klingeln an der Haustür des vermeintlich anwesenden Erpressungsopfers): In diesen Fällen haben die Täter alle Hilfshandlungen vollzogen; es kommt aber nicht zu der Haupt- (Basis-)Handlung, weil das Opfer nicht erscheint. Hier kommt es darauf an, ob zur Haupthandlung bereits unmittelbar angesetzt wurde, so, wenn die nach dem Tatplan zur Drohung eingesetzte Pistole bereits in Anschlag gebracht wurde (richtig BGHSt 26, 201), nicht, wenn der zur Gewaltanwendung vorgesehene Pfeffer nur bereitgehalten wurde (unrichtig BGH NJW 1952, 514; abl. denn auch die Anm. v. Mezger, aaO.).

2 3 2 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

diert 96. Damit ergibt sich die Möglichkeit, die soeben entwickelten Grundsätze auf die Zulassungshandlung (und die ihr korrespondierende Erfolgsabwendungs-Handlung) anzuwenden97. Hiernach liegt ein unmittelbares Ansetzen beim Versuch der unechten Unterlassungsdelikte nur dann vor, wenn der Garant (nach seiner Vorstellung) erfolgsabwendende "Haupt-" und "Basis-Handlungen" - nicht aber bloße Hilfshandlungen - unterlassen hat. Damit genügt es insbesondere nicht für die Annahme des unmittelbaren Ansetzens, daß der Garant Hilfshandlungen wie z.B. die Überwachung seines kranken Kindes oder die Absperrung seiner gefahrenträchtigen Baustelle unterläßt, und sei es auch in der Absicht, ggf. nicht helfen zu können98. Dies bedeutet aber zugleich - um das von Roxin gebildete Beispiel aufzunehmen daß die Mutter, die ihr Kind - und sei es auch in der Absicht, es verhungern zu lassen - verläßt, zunächst nicht zu dessen Tötung ansetzt; das Füttern eines hungrigen, aber nicht geradezu verhungernden Kindes kann nicht als (Haupt- und Basis-)Handlung der Abwendung des Todes des Kindes verstanden werden99. Ebensowenig setzt der Schrankenwärter, der den Betrunkenen des Nachts auf den Gleisen liegen läßt, zu dessen (Unterlassungs-)Tötung unmittelbar an, wenn (nach seiner Vorstellung) nicht die Möglichkeit besteht, daß (außerplanmäßig) in der nächsten Zeit ein Zug kommen wird 100 . Insofern hat das Gefährdungskriterium der h.L. einen zutreffenden Kern: Als Haupthandlung der Erfolgsabwendung kann nur ein Verhalten verstanden werden, das in einer Situation vorgenommen wird, in welcher der Träger des zu garantierenden Guts den Schaden nicht selbst intentional vermeiden kann, ohne daß noch weitere Bedingungen eintreten müssen, in der also eine konkrete Gefahr für das Gut besteht101. An dieser Stelle liegt ein signifikanter Unterschied zum Begehungsdelikt vor: Bedingt der Täter (aus seiner Sicht) den Erfolg hinreichend durch ein 96 97

S . oben §711.

Unter dem Blickwinkel der Zulassungshandlung und der korrespondierenden Erfolgsabwendungs-Handlung kann ein Unterlassen daher in Teilakte zerlegt werden; zur gegenteiligen Auffassung von Jescheck s. oben Fn. 64. 98 Das Kriterium von Roxin hätte in den Verkehrssicherungspflicht-Fällen die untragbare Konsequenz, daß ein Verkehrspflichtiger, der im Wissen um die Gefährlichkeit der zu überwachenden Gefahrenquelle und um die unterlassenen Verkehrssicherungs-Maßnahmen sich ins Ausland begibt, zur Körperverletzung oder gar Tötung anderer ansetzt. - S. bereits oben § 3 III 3., 4. zur "omissio libera in causa": Selbst wenn es dem Garanten in diesen Fällen auf den (später wirklich eingetretenen) Erfolg ankommt , läge hier nur ein (unschädlicher) dolus antecedens vor. 99 SK-Rudolphi, Vor § 13 Rdnr. 54. 100 SK-Rudolphi , Vor § 13 Rdnr. 52; Wolter , Zurechnung, S. 103 (m.w.N. für die zust. h.L.). 101 Zur Unterscheidung zwischen abstrakter und konkreter Gefahr (und zwischen Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwendung) s. unten § 8 III 4. - Schon aus diesem Grunde kann bei dem Beispiel des sich am Abend sinnlos betrinkenden Schrankenwärters kein Ansetzen zum Versuch und keine "omissio libera in causa" vorliegen: Zu dem Zeitpunkt, in dem sich der Schrankenwärter betrinkt, liegt keine konkrete Gefahr für irgendjemanden vor; daher kann das Sichbetrinken nicht als Ansetzen zur Tötung eines Kraftfahrers am nächsten Morgen durch das Unterlassen des Herablassens der Schranken verstanden werden; s. bereits oben § 3 III 4.

§ 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt

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positives Tun, so liegt eine Haupt- und Basishandlung vor, auch wenn spätere Eingriffsmöglichkeiten gegeben sind. Das positive Tun setzt zwar den Täter hier ggf. in den Stand, eine spätere Unterlassungshandlung zu begehen, ggf. freilich auch gerade außer Stand, diese zu begehen102, ist also insoweit eine Hilfshandlung, was aber nichts daran ändert, daß bereits eine Haupt- und Basishandlung gegeben ist. Deshalb ist Herzberg 103 zu widersprechen, nach welchem der "Höllenmaschinen-" und der "SchrankenwärterFall" gleich behandelt werden müssen, weil sie dieselben Strukturen aufweisen: Wie oben gezeigt104, weist die Zurechnung als Pflichtwidrigkeit bei den Unterlassungsdelikten sub specie Situationsabhängigkeit und Eindeutigkeit gegenüber den Begehungsdelikten Besonderheiten auf. Andererseits ist es für das Ansetzen genügend, wenn der Garant annimmt, die jeweils - unter Berücksichtigung ihrer "Angemessenheit" pflichtgemäße Haupt- (und: Basis-)Handlung zu unterlassen. Bei den Erfolgsverletzungsdelikten bedeutet dies: Da Haupthandlung die intentionale Erfolgsabwendung ist, liegt ein Ansetzen dann vor, wenn (beurteilt nach den Vorstellungen des Täters) eine konkrete Gefahr für das zu garantierende Gut besteht und die intentionale Erfolgsabwendung nach der Vorstellung des Täters nicht mehr mit Sicherheit möglich ist, wenn m.a.W. entscheidungsrelevante Zweifel an ihrem Gelingen bestehen; unter mehreren mit solchen Zweifeln behafteten Handlungen muß der Garant die angemessene, d.h. entscheidungsrelevant beste wählen105. Gibt es freilich mehrere nach der Vorstellung des Garanten mit Sicherheit - d.h. ohne entscheidungsrelevante Zweifel - erfolgsabwendende Rettungshandlungen, so muß der Garant - und insoweit trifft die Lehre Armin Kaufmanns zu erst die letzte (und nicht schon eine vor diesem Zeitpunkt liegende) Rettungshandlung vornehmen. Dies gilt auch dann, wenn bereits - im Sinne von Grünwald 106 - "erhebliche Leiden" eingetreten sind; solche Leiden können allerdings mit Blick auf andere Tatbestände - etwa auf eine Körperverletzung durch Unterlassen - relevant sein. Beispielsweise dürfen Eltern sub specie Tötungsverbot bzw. Todesabwendungsgebot es so lange im Vertrauen auf eine (mögliche) spontane Selbstheilung unterlassen, ihr an einer Blinddarmentzündung erkranktes Kind ins Krankhaus einzuliefen, wie (nach ihrer Vorstellung) durch eine Operation die Lebensgefahr ohne entschei102

An dieser Stelle ist handlungstheoretisch das Kriterium Roxins vom "Aus-der-HandGeben" zu lozieren, s. hierzu oben im Text. 103 MDR 1973, 98 (91). 104 S. oben § 6 11., 2. 105 SK'Rudolphi, Vor § 13 Rdnrn. 52 f. - Ähnlich stellt Wolter, Zurechnung, S. 101 f. darauf ab, daß (nach der Vorstellung des Täters) "außergewöhnliche" Rettungsmaßnahmen ergriffen werden müssen. Freilich kann auch die Vorstellung, nur "außergewöhnliche" Rettungsmaßnahmen könnten helfen, dann nicht versuchsrelevant sein, wenn diese (nach der Vorstellung des Täters) den Erfolg mit Sicherheit (ohne entscheidungsrelevante Zweifel) abwenden können. 106 S. oben § 7 II 2.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

dungsrelevante Zweifel abgewendet werden kann107. - Bei den Tätigkeitsund Gefährdungsdelikten bedeutet das Kriterium, daß ein unmittelbares Ansetzen vorliegt, wenn (unter Zugrundelegung des Wissensstandes des Garanten) entscheidungsrelevante Zweifel daran bestehen, daß die pflichtgemäße Handlung (noch) vorgenommen werden kann. So beginnt der Versuch der Personenstandsfälschung durch Unterlassen (§§ 169 Abs. 2 i.V.m. 1, 13) erst dann, wenn der gem. §§ 16 ff., 39 ff. PStG Anzeigepflichtige nach seiner Vorstellung entscheidungsrelevante Zweifel daran hegt, die Anzeigepflicht noch später fristgerecht erfüllen zu können. Ein Sonderproblem ergibt sich freilich noch in den Fällen der "omissio libera in omittendo". Hier geht es um Fallkonstellationen, in welchen ein Unterlassen, das selbst nur als Hilfshandlung gewertet werden kann, dazu führt, daß der Garant die erfolgsabwendende Haupthandlung nicht vornehmen kann, so daß es ihm im (nach seiner Vorstellung) entscheidenden Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens am Unterlassungsvorsatz fehlt, der - wie gezeigt - die Fähigkeit zur Erfolgsabwendung umfassen muß108. Hier kann aber nichts anderes als bei der bereits behandelten "omissio libera in causa" durch positives Tun gelten: Die Vorsatzzurechnung ist ausgeschlossen; vielmehr bleibt nur - tritt der Erfolg doch noch ein - eine außerordentliche Zurechnung qua Fahrlässigkeit109. 4. Rücktritt vom Versuch der unechten Unterlassungsdelikte Modifikationen gegenüber den Begehungsdelikten ergeben sich auch bei der Anwendung der Rücktrittsvorschrift des § 24 Abs. 1 und insbesondere bei der Unterscheidung zwischen dem unbeendeten Versuch (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1) und dem beendeten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2) 110 . Diese Modifikationen ergeben sich daraus, daß der Garant von seinem Unterlassen stets nur im Wege des positiven Tuns zurücktreten kann111. Damit scheint aber stets nur der Rücktrittsweg des § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 bzw. Satz 2 gegeben zu sein, wenn nämlich der Garant die "Vollendung (sc. der Tat) verhindert" oder sich hierum "freiwillig und ernsthaft bemüht" hat. 107

d.

Anderes mag für eine etwaige Körperverletzung durch Unterlassen gelten; s. auch § 170

108

Die Beispiele müssen allerdings konstruiert werden: Die Mutter habe sich auf eine einsame Insel ohne Telefonanschluß begeben, um ihr Kind verhungern zu lassen; sie habe ein für den Fall - vorhersehbarer und vorhergesehener - lebensgefährlicher Krankheitskrisen, die sofort durch Gabe eines bestimmten Medikaments behandelt werden müssen, dieses Medikament 109nicht beschafft. Damit gibt es keinen Versuch der "omissio libera in causa (omittendo)", was dem Rechtsgefühl hart ankommen mag, jedoch der gesetzlich vorgesehenen Straflosigkeit des fahrlässigen Versuchs entspricht. 110 Zum Problem Lönnies , NJW 1962, 1950 ff.; zus.fas. S/S-Eser , § 24 Rdnrn. 27 ff.; LKVogler , § 24 Rdnr. 142; je m.w.N. 111 Allg.M., s. nur S/S-Eser , § 24 Rdnr. 30 m.w.N.

§ 7 Vorsatz und Irrtum sowie Versuch und Rücktritt

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Hieraus schließt eine Auffassung in der Literatur, es könne beim unechten Unterlassungsdelikt überhaupt nur einen beendeten Versuch geben; in jedem Falle seien § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 anwendbar, und das Fehlschlagsrisiko müsse in jedem Falle zu Lasten des Garanten gehen112. Demgegenüber differenziert die wohl überwiegende Ansicht113: Soll (noch) die Nachholung der "ursprünglich erforderlichen Handlung" ausreichen, so soll ein unbeendeter Versuch vorliegen mit der Folge, daß § 24 Abs. 1 Satz 2 nicht anwendbar ist und das Risiko des Fehlschlags des Rücktrittsversuchs nicht zu Lasten des Garanten gehen soll; soll hingegen eine weitere 114 Handlung zur Rettung erforderlich sein, so soll § 24 Abs. 1 Satz 2 anwendbar sein und das Fehlschlagsrisiko zu Lasten des Garanten gehen, so daß sogar Vollendungsstrafbarkeit eintritt. Nun ist zu dem Streit zunächst zu bemerken, daß es nicht die Wortlautgrenze möglicher Auslegung überschreitet (und zumindest als dem Garanten zugutekommende Analogie in bonam partem konstruiert werden könnte 5 ), ein positives Tun des Garanten als "Aufgeben der weiteren Ausführung der Tat" anzusehen. Zweifelhaft ist freilich, ob der Gesichtspunkt des "Fehlschlagsrisikos" hier für die Abgrenzung maßgeblich sein darf 116. Beim Begehungsversuch entspricht es der auf den Wortlaut des § 24 verweisenden11 hA., daß dieser Gesichtspunkt auch beim unbeendeten Versuch keine Rolle spielen darf: Hiernach trägt der Versuchstäter bei jedem Versuch das Risiko des Fehlschlags seiner Rücktrittsbemühungen (sofern nicht nach den Grundsätzen der Abweichung des wirklichen vom vorgestellten Kausalverlauf eine Vorsatzzurechnung des Erfolges ausscheidet)118. Der Streit muß aber nicht entschieden werden, da bei den (unechten) Unterlassungsdelikten der Gesichtspunkt des Fehlschlagsrisikos eine grundsätzlich andere Bedeutung als beim Begehungsdelikt hat: Wie dargelegt, muß der Garant seine Erfolgsabwendungspflicht - anders als der Begehungstäter seine Pflicht, den Erfolg nicht zu bedingen - nicht höchstpersönlich erfüllen und darf es sogar nicht einmal, wenn er zur Erfolgsabwendung nicht im112

So Roxin, in: Maurach-FS, S. 213 (232 in Fn. 54); SK-Rudolphi, Vor § 13 Rdnr. 56. S/S-Eser, § 24 Rdnr. 28 f.; LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 48; ders., Lehrbuch, S. 578; Lönnies, NJW 1962,1950 ff. 113

114

Teils wird auch verlangt: einerisikoträchtigere, so Jescheck, wie vorige Fn. Die grundsätzlich möglich wäre, s. nur LK-Tröndle, § 1 Rdnrn 38 f. mit umf. Nachw.; grundsätzlich gegen gesetzesüberschreitende Analogien in bonam partem freilich Krey (ZStW 101 < 1989 >, 838 ) unter Berufung auf die Gesetzesbindung (auch) des Strafrechtsanwenders. 116 Zust. Jakobs, Strafrecht, 29/116 mit der Maßgabe, daß nur das Fehlschlagsrisiko zählen darf, daß aufgrund der Verzögerung gegenüber dem unbeendeten Versuch zusätzlich entstanden ist. 117 S. SK-Rudolphi, § 24 Rdnr. 16 a.E. 115

IIS

A.A. insbes. S/S-Eser, § 24 Rdnrn. 22 ff. (mit umf. Nachw. zur h.A.): Sei der Erfolg noch nicht objektiv eingetreten und befinde sich der Täter subjektiv - irrig - im Stadium des unbeendeten Versuchs, so könne er (Freiwilligkeit vorausgesetzt) durch schlichtes Aufgeben des Weiterhandelns zurücktreten, auch wenn später der Erfolg eintrete.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

stände ist. Dies bedeutet aber zugleich, daß im Rahmen des erlaubten Risikos und des Vertrauensgrundsatzes das Risiko des Fehlschlags von Rettungsbemühungen grundsätzlich nicht zu Lasten des Garanten gehen darf, wenn er eine (kompetente) Hilfsperson zur Erfolgsabwendung eingeschaltet hat und einschalten durfte. Die Frage des Fehlschlagsrisikos ist also keine der Abgrenzung zwischen beendetem und unbeendetem Unterlassungsversuch, sondern eine de« Vertrauensgrundsatzes und des Pflichteninhalts. Damit aber erweisen sich die Ergebnisse der h.L. als ganz überwiegend zutreffend: Kann der Garant eine nach seiner Vorstellung mit Sicherheit, d.h. ohne relevante Zweifel zur Erfolgsabwendung führende Rettungshandlung vornehmen, so liegt noch gar kein Versuch vor 119 ; holt er dann die "ursprünglich gebotene" Handlung nach, so handelt er (sofern diese nach seinem Wissensstand mit Sicherheit zur Erfolgsabwendung führen wird) pflichtgemäß. Hat der Garant hingegen den in seiner Vorstellung noch angemessenen Zeitpunkt des Eingreifens versäumt, so kann ihn nicht entlasten, später das Angemessene getan zu haben, wenn der Erfolg gleichwohl eintritt 120 . Dies gilt freilich dann nicht, wenn Zweifel verbleiben, ob die nach den Vorstellungen des Täters angemessene Rettungshandlung den Erfolg tatsächlich abgewendet hätte; hier fehlt es am - auch für die Vorsatzzurechnung bei den unechten Unterlassungsdelikten erforderlichen121 - Pflichtwidrigkeitszusammenhang 122. Problematisch ist allerdings die Abstimmung der Konstellation des § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 mit derjenigen, daß der Garant zum (nach seiner Vorstellung) richtigen Zeitpunkt eine letztlich effektive Rettungshandlung vornimmt, obwohl es eine (nach seiner Vorstellung) entscheidungsrelevant sicherere gibt 123 . Beispiel: Ein Vater holt für sein an Blinddarmentzündung lebensgefährlich erkranktes Kind den nicht motorisierten Hausarzt, statt einen Rettungsdienst zu alarmieren, in der Hoffnung, das Kind würde durch die Verzögerung sterben; durch die von dem Hausarzt veranlaßte Notoperation wird das Kind aber noch gerettet. Hier liegt konstruktiv eine komplette Strafbarkeit gem. §§ 212, 22, 13 vor: Der Vater hat in Tötungsabsicht unmittelbar zur Tötung durch Unterlassen angesetzt; Rücktrittshandlungen sind nicht ersichtlich. Dies führt aber zu Wertungswidersprüchen mit der Auffassung, der Rücktritt vom beendeten Versuch setze nur die letztlich effektive Erfolgshinderung voraus: Läßt der Garant den (aus seiner Sicht) richtigen Zeitpunkt verstreichen - benachrichtigt der Vater den Hausarzt gar nicht -, setzt er mithin zum Versuch an und nimmt dann später eine letztlich effektive Rettungshandlung vor - bringt er das Kind selbst zur Not119

Zutr. SK-Rudolphi , Vor § 13 Rdnr. 56. Tritt er wegen des - wenn auch zu späten - pflichtgemäßen Handelns nicht ein, so liegt ein strafbefreiender Rücktritt vom (allerdings gegebenen) Versuch vor. 121 S. oben §5 II 3. 122 Jakobs, Strafrecht, 29/116. 120

123

Auf das Problem weist Jakobs , Strafrecht, 29/119 hin.

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operation ins Krankenhaus so wird er hiernach von der Strafbarkeit frei. Der Wertungswiderspruch kann nicht ohne weiteres dadurch behoben werden, daß in § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 das Erfordernis einer "ernsthaften" und damit (in der Vorstellung des Täters) angemessenen Rettungshandlung hineininterpretiert wird 124 : Zum Zeitpunkt des Rücktritts bei Zuwarten kann der (entscheidungsrelevant schlechtere) Rettungsweg der allein angemessene sein und muß dann, auch bei dem engerer Verständnis des § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, strafbefreiend wirken. Vielmehr muß eine Harmonisierung dadurch erreicht werden, daß in solchen Fällen § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 noch weitergehend restringiert wird, und zwar durch den Gedanken, daß mit Blick auf das durch das Zuwarten erhöhte Restrisiko ein fehlgeschlagener Versuch vorliegt, auf welchen sich der Rücktritt nicht erstreckt 125. III. Exkurs: Zur Konkurrenzlehre

bei den unechten Unterlassungsdelikten

1. Problemaufriß Die Handlungslehre nach dem Modell von Haupt-, Hilfs- und Basishandlung kann nicht nur zur näheren Bestimmung des Versuchsbeginns bei den (unechten) Unterlassungsdelikten dienen. Vielmehr bietet sie auch einen Ansatzpunkt, die umstrittenen Fragen der Handlungseinheit und mehrheit 126 bei den (unechten) Unterlassungsdelikten zu klären. Hier stellt sich zum einen das Problem des Zusammentreffens mehrerer (unechter) Unterlassungshandlungen, zum anderen dasjenige des Zusammentreffens von Unterlassungs- und Begehungshandlungen.

124

So BGHSt 31, 46 (49); die Rspr. ist aber uneinheitlich, vgl. BGH NJW 1985, 813; zum Problem weiterhin Bloy, JuS 1987,528 ff.; Herzberg,, NJW 1989, 862 ff.; Lackner, § 24 Rdnr. 19; je m.w.N. 125 So Jakobs, wie Fn. 123. 126 Es handelt sich hier nicht (nur) um ein Problem der Normwidrigkeit und der Normenkonkurrenzen, sondern (vorrangig) um eines der Handlungs- und Zurechnungslehre. Auf der Normenebene ist hingegen das Problem der Gesetzeskonkurrenz angesiedelt, bei der es darum geht, daß ein und dasselbe Delikt mehrfach ausformuliert wird; treffend spricht Jakobs (Strafrecht, 31/2) von "scheinbarer Konkurrenz". Im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte wird diese v.a. im Verhältnis zu dem echten Unterlassungsdelikt des § 323 c relevant, der nach hj\. (materiell) subsidiär ist; s. zu den Einzelfragen LK-Spendel, § 323 c Rdnrn. 199 ff. mit umf. Nachw. - Zu § 138 besteht hingegen formelle Subsidiarität, da der (auch: Unterlassungs-)Beteiligte schon nicht Täter des § 138 sein kann, vgl. S/S-Cramer, § 138 Rdnr. 20 m.w.N.

Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

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2. Konkurrenz bei mehreren Unterlassungen ("Lederspray-Urteil" und § 130 OWiG) Zu dem ersten Problem hat der Bundesgerichtshof neuerdings in dem "Lederspray-Urteil" zur strafrechtlichen Produkthaftung ausführlich Stellung genommen 27 . Hier hatten die Angeklagten es (ingerenz-)garantenpflichtwidrig unterlassen, ein gefährliches Lederspray vom Markt zurückzurufen, wodurch über eine längere Zeitspanne zahlreiche Benutzer des Sprays körperlich verletzt wurden; die einzelnen Schadensfälle gelangten den Angeklagten jeweils alsbald zur Kenntnis. Zur Frage, ob hier mehrere (Unterlassungs-)Handlungen128 oder nur eine vorliege, führte der Bundesgerichtshof aus: Tateinheit (§ 52) zwischen mehreren Unterlassungen setze voraus, daß diese eine (Unterlassungs-)Handlung darstellen. Die Einheit mehrerer Unterlassungen beurteile sich nun nach dem zur Pflichterfüllung und damit zur Schadensabwendung gebotenen Tun; stelle sich dieses Tun als nur eine, pflichtwidrig unterlassene Handlung dar, so liege auch nur eine Unterlassungshandlung und damit Tateinheit vor 129. Das gebotene Tun - der Rückruf der Ledersprays - wäre aber vor allen in Frage stehenden Schadensfällen vorzunehmen gewesen; es hätte alle Schadensfälle verhindert. Deshalb sei trotz der Tatsache, daß die Angeklagten "durch die Meldung des jeweils nächsten Schadensfalles stets von neuem an ihre Pflichtenstellung gemahnt wurden", Tateinheit gegeben. Hilfsweise führte der Bundesgerichtshof an,' daß - selbst wenn die zu den verschiedenen Zeitpunkten "fälligen" Handlungen getrennt betrachtet würden - es sich ergebe, daß alle insoweit zusammenträfen, als jede von ihnen zumindest den letzten Schadensfall abgewendet hätte. Wie auch beim Begehungsdelikt genüge es aber für die Annahme von Tateinheit beim (unechten) Unterlassungsdelikt, daß die gebotenen Handlungen (nur) teilweise denselben tatbestandsmäßigen Erfolg verhindert hätten 30 . Dies gelte sogar dann, wenn die Zurechnungsform (Vorsatz und Fahrlässigkeit) während der (einheitlichen) Unterlassung wechsle. Darüber hinaus hat sich die Rechtsprechung mit der Konkurrenz mehrerer Unterlassungen im Rahmen des § 130 OWiG (Unterlassen von Aufsichtsmaßnahmen) insbesondere bei mehreren Kartellverstößen in Unter-

127

BGHSt 37,106 (133 ff.). So die Vorinstanz (LG Mainz, Urt. v. 16.1.1989, 8 Js 3708/84-W-5 Kls, S. 194 f.) mit der Begründung, die Angeklagten seien "durch jeden neuen Schadensfall auf die von den einzelnen Ledersprays ausgehenden Gefahren hingewiesen und zugleich zu Überlegungen veranlaßt (worden), ob und in welcher Form man den Eintritt möglicher weiterer Schäden bei Lederspraybenutzern verhindern könne". 129 Im Anschluß an RGSt 76,140 (143); BGHSt 18, 376 (379); BGH NJW 1985,1719 (f.). 130 Zu RGSt 16, 290 (vom BGH als "a.A." zitiert) unten b. Fn. 146. 128

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nehmen (§ 38 GWB) befaßt 131. Auch hier soll nur eine Unterlassung vorliegen, wenn die (mehreren) Aufsichtspflichtverletzungen durch eine Aufsichtsmaßnahme - ggf. durch Einrichtung einer Revisionsabteilung - hätten vermieden werden können132. Insbesondere darf aus mehreren Unterlassungserfolgen - z.B. mehreren ordnungswidrigen Kartellabsprachen - nicht ohne weiteres auf mehrere Aufsichtspflichtverletzungen geschlossen werden133. Die (wie zu zeigen sein wird, zutreffende) Rechtsprechungsauffassung dürfte im wesentlichen der h.L. entsprechen1 . Allerdings ist es keineswegs unbestritten - und auch nicht logisch zwingend -, auf die (Teil-)Identität des gebotenen Tuns abzustellen. Hier hat vor allem Struensee135 für systematische Klarheit gesorgt: Einerseits könne für die Handlungseinheit auf das Unterlassen (als Nicht-Tun) abgestellt werden; hieraus folge, daß die bloße Gleichzeitigkeit mehreren Unterlassens genüge, um Handlungseinheit festzustellen 1 . Andererseits könne das unterlassene Tun in Bezug genommen werden. Hier gehe das eine Untermodell dahin, auf die notwendige Identität des die mehreren (Garanten-)Gebote erfüllenden Verhaltens abzustellen137. Das andere Untermodell gehe dahin, daß bereits die Möglichkeit der Erfüllung der mehreren (Garanten-)Gebote durch ein Verhalten genügen solle, um (Unterlassungs-)Handlungseinheit zu stiften. Nun kann aber die bloße Gleichzeitigkeit des Unterlassens schon deshalb kein Kriterium für die (Unterlassungs-)Handlungseinheit sein, weil die Pflichterfüllung zeitlich gestuft sein kann138 und gleichzeitig zu erfüllende Pflichten miteinander kollidieren können139. Problematisch ist aber auch die Lehre von der (nur) möglichen Identität gebotserfüllenden Verhaltens. Eine solche Identität kann nämlich (bloß) akzidentiell bestehen; warum hier i-ii

Näher Tiedemann, in: Immenga/Mestmäcker, Vor § 38 Rdnr. 54; ders., NJW 1988, 1169 (1173); vgl. weiterhin Brender, Verbandstäterschaft, S. 165 ff.; KK-OWiG-Cramer, § 130 Rdnr. 77. 1 3 2 BGH WuW 2205 ff. m. Anm. Göhler, wistra 1986,113. 133 BGHSt 32, 389 (391). 134

_

Vgl. nur Dreher/Tröndle, Vor § 52 Rdnr. 6; Jescheck, Lehrbuch, S. 647, 656 f.; Lackner, § 52 Rdnr. 7; SK-Samson, § 52 Rdnr. 8; S/S-Stree, Vorbem. §§ 52 ff. Rdnr. 28; LK-Vogler, § 52 Rdnr. 40. 135 Konkurrenzen, S. 46 ff. - S. weiterhin Geerds, JZ1964,593 ff. (Anm. zu BGHSt 18, 376); Herzberg, MDR 1971, 881 ff.; Höpfner, Einheit, Bd. I, S. 164 ff.; und die in den folgenden Fn. genannten Autoren. 136 So insbes. Beling Verbrechen, S. 381 f.; neuerdings auch Puppe, JR 1985, 245 (bes. 247) zu BGH NJW 1985,1719. 137

138 So insbes.

Maiwald, Handlungseinheit, S. 105 ff., bes. 107. Zu diesem Aspekt eingehend oben § 6 11., 2. Zu diesem Aspekt eingehend oben § 3 II 3. - Auch bei positivem Tun ist Gleichzeitigkeit kein Kriterium für Handlungseinheit: Wer einen anderen schlägt und gleichzeitig einen Dritten beleidigt, handelt nicht tateinheitlich; eingehend Jakobs, Strafrecht, 32/4 mit Verweis auf die bekannte Entscheidung RGSt 32,137 (139 f.). 139

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Handlungseinheit vorliegen soll, ist nicht immer begründbar 140. Beispielsweise kann in den bekannten Reichsgerichtsfall RGSt 76, 140 - wo der Täter, der ein Schwein notgeschlachtet hatte, es sowohl unterlassen hatte, die Notschlachtung der Steuerbehörde anzuzeigen, wie auch, das Ernährungsamt zu benachrichtigen - das gebotene Verhalten gleichermaßen in einem Tun - z.B. dem Beauftragen einer Sekretärin, beide Behörden zu benachrichtigen - wie in verschiedenem Tun liegen141. Damit trifft im Ausgangspunkt die Lehre zu, die für Unterlassungseinheit eine notwendig gemeinsame Gebotserfüllung verlangt 142. Diese Auffassung ist freilich dahin zu präzisieren, daß es auf die notwendige Einheit der Unterlassungshandlung ankommt. Mithin entscheidet (nur) die Einheit der Unterlassungs- als Basis - und /fawpfhandlung 143. Damit sind Unterlassungshandlungen, die vor dem Versuchsbeginn liegen, allgemeiner: solche, die sich als bloße /////yhandlungen darstellen, für die Beurteilung irrelevant 144. Dies bedeutet insbesondere bei den fahrlässigen Unterlassungsdelikten, daß nicht auf den Verstoß gegen das Sorefalts"gebot H zu einer Gefahrenvorsorgemaßnahme abgestellt werden darf 45 . Zu Recht hat daher RGSt 16, 290 (293 f.) in einem Fall, in dem drei Arbeiter im Mai 1885 bzw. im Januar und März 1886 in durch den Angeklagten verkehrssicherungspflichtwidrig ungeschützte Regenkanäle gefallen waren und sich hierbei verletzt hatten, Tatmehrheit angenommen: Das Anbringen von Absperrungen o.ä. kann nicht als Haupthandlung der Lebensrettung verstanden werden; auf die Einheitlichkeit der Obliegenheitserfüllung kommt es nicht an146. Anders liegt es freilich bei dem eingangs erwähnten Lederspray-Fall. Hier war 140 141 Struensee

, Konkurrenzen, S. 50 f. S. auch BGH NJW 1985,1719: Wer bezüglich verschiedener Steuern keine Steuererklärung abgibt, unterläßt nicht tateinheitlich, auch wenn es üblich ist, alle Steuererklärungen zusammen abzugeben, und der Täter dies unterlassen hat. 142 So - neben Maiwald , wie Fn. 137 - insbes. Jakobs , 32/30; s. auch Kindhäuser , JuS 1985, 100 (104): "Mehrere Normverstöße sind dann tateinheitlich begangen, wenn der Täter aufgrund seines konkreten Tuns oder Unterlassens keine der normspezifischen Rechtsgutsverletzungen hätte isoliert vermeiden bzw. verhindern können". 143

Weil diese Handlung (z.B. das Werfen eines Steins) als solche noch nicht tatbestandsmäßig-normwidrig ist (erst wenn der Stein die Fensterscheibe zerstört bzw. den Fahrer getroffen hat, liegt eine Sachbeschädigung bzw. Körperverletzung vor), geht es bei §§ 52 f. um die Handlung "im natürlichen Sinne" (zutr. Jakobs , Strafrecht, 32/2) - was nicht heißt, daß mehrere Handlungen "im natürlichen Sinne" eine "natürliche Handlungseinheit" darstellen können, s. nur Jakobs , aaO., 32/35 f. m.w.N. für die Gegenansicht der Rspr. (grundlegend RGSt 44, 144 223 ; 58,113 ; BGHSt 4, 219 ). Zutr. Jakobs , Strafrecht, 32/30. 145 Jedenfalls in der Formulierung unrichtig ist deshalb die hA., die darauf abstellt, "ob der Täter zwischen dem Eintritt der verschiedenen Erfolge jeweils erneut in der Lage gewesen ist, dem Sorgfaltsgebot zu genügen", so Jescheck , Lehrbuch, S. 646 (mit umf. Nachw.). Es kommt vielmehr darauf an, ob eine Basis-Handlung vorliegt, so z.B., wenn der ein ins Schleudern geratener Kraftwagen von der Straße abkommt und hierdurch unmittelbar nacheinander mehrere Personen verletzt werden; i.E. wie hier BayObLG NJW 1984, 68. 146 Hierzu noch unten § 8 III 4., 5.

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das Ausliefern der gefährlichen Ledersprays (ob vorsätzlich oder fahrlässig) bereits positive Setzung aller Bedingungen, die für den Erfolgseintritt bei allen Schadensfällen aus der Sicht des Herstellers notwendig waren. In solchen Fällen unerlaubt riskanten Tuns, das, läge Vorsatz vor, bereits Versuchsbeginn wäre, bleibt es bei der (Unterlassungs-)Einheit, auch wenn die Rettung nicht notwendig durch ein einziges Rettungsverhalten vollzogen werden konnte, da jedenfalls der Beginn handlungseinheitlich vollzogen wurde und Teilidentität zur Handlungseinheit hinreicht 147. Hinzuweisen bleibt noch auf die Möglichkeit der "juristischen Unterlassungshandlungseinheit" durch eine einheitliche (Garanten-)Gebotsverletzung. Hier genügt es, daß bei gegebener subjektiver Einheitlichkeit ein quantitativ steigerbarer und gesteigerter Erfolg (bei nicht höchstpersönlichen Rechtsgütern) eintritt; es liegt dann nur eine einheitliche (Garanten-) Gebotsverletzung vor 148 . Sieht z.B. ein Feuerwehrmann zu, wie die Flammen nach und nach mehrere fremde (auch: verschiedenen anderen Personen gehörende) Sachen verzehren, so liegt schon nur eine Verletzung des Sachbeschädigungs-Abwendungsgebots vor. 3. Konkurrenz beim zeitgleichen Zusammentreffen von Begehungs- und Unterlassungsdelikten Ebenfalls heikel ist das zweite der eingangs genannten Probleme, dasjenige des Zusammentreffens von Begehungs- und Unterlassungshandlungen. Problematisch sind hier zunächst die Fälle zeitgleicher149 Verbots- und Gebotszuwiderhandlung. So hat sich die Rechtsprechung mehrfach mit dem Problem befassen müssen, wie sich das unerlaubte Entfernen vom Unfallort (§ 142)150 zu hierdurch begangenen Unterlassungsdelikten - sei es § 323 c, sei es §§ 212, 13 - verhält, und hat hier überwiegend Tateinheit angenommen151. Hingegen geht die wohl h.L. dahin, daß Tateinheit nur in Frage kommt, wenn das Unterlassungsdelikt ein Dauerdelikt darstellt und das Begehungsdelikt der Aufrechterhaltung des durch das Dauerdelikt geschaffe-

147 148

149

Zutr. Jakobs, Strafrecht, 32/33. Vgl. Jakobs, Strafrecht, 32/31; Kindhäuser, JuS 1985,100 (103).

Zum Ungenügen des Kriteriums der Zeitgleichheit für die Annahme von Tateinheit soeben 150 § 7 III 2. Es ist allerdings umstritten, ob § 142 ein Begehungs- oder nicht vielmehr ein (echtes) Unterlassungsdelikt enthält; im letzteren Sinne die wohl h.L., s. nur S/S-Cramer, § 142 Rdnr. 2 mit umf. Nachw. Hiergegen ist mit Maurach-Schroeder, BT 1, § 49 Rdnr. 5 zu erinnern, daß die Tathandlung des § 142 das positive Tun des Sich-Entfernens vom Unfallort ist und das bloße Unterlassen der Erfüllung der (Vorstellungs-)Pflicht gerade keine Strafbarkeit begründet.1 5 1 Vgl. RGSt 75, 355 (360); BGH GA1956,120; BayObLG 1957,1485. oe

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

nen Zustandes dient, etwa wenn der säumige Unterhaltspflichtige (§ 170 b) eine Vollstreckungsvereitelung begeht (§ 288)152. Die h.L. hat insoweit recht, als in den Fällen des zeitlichen Zusammentreffens von Verboten und Geboten die verbotene Verletzungs-Basishandlung und die gebotene Rettungs-Basishandlung (das Spiegelbild der verbotenen Unterlassungshandlung) in der Regel auseinanderfallen: Geboten ist z.B. die Hilfeleistung für den Verunglückten, verboten das Sichentfernen vom Unfallort. Jedoch stehen Verbots- und Gebotszuwiderhandlung jedenfalls dann in einem inhaltlichen, nämlich Umkehrverhältnis, wenn der Handlungsspielraum durch sie erschöpft wird, wenn also die zur Gebotserfüllung zu vollziehende Basishandlung nicht neben der verbotswidrigen Basishandlung vorgenommen werden kann und diese jene verunmöglicht. In dieser Konstellation läßt sich die Vornahme der verbotswidrigen Basishandlung zugleich - und zwar zwingend - als Handlung des Unterlassens der Gebotserfüllung interpretieren. Daher ist es hier möglich, Tateinheit anzunehmen153; in allen anderen Fällen liegt Tatmehrheit vor. Beispielsweise liegt - entsprechend der allg.M. - Tatmehrheit vor, wenn sich der Täter trotz Aufforderung des Hausherrn nicht aus dessen Wohnung entfernt und statt dessen den Hausherrn beleidigt (§§ 123 Abs. 1 Alt. 2,185, 53), weil die Äußerung von herabsetzenden Werturteilen auch während des Hinausgehens möglich wäre; hingegen trifft die in den geschilderten Unfallflucht-Fällen Tateinheit annehmende Rechtsprechung zu, soweit das unerlaubte Entfernen vom Unfallort - wie es i.d.R. der Fall sein wird gerade die Gebotserfüllung verhindert. 4. Tun und nachfolgendes Unterlassen Die Frage der Konkurrenz zwischen Begehungs- und nachfolgenden Unterlassungsdelikten stellt sich zunächst im Rahmen der Beteiligungslehre, inwieweit Begehungs-Teilnahmehandlungen - insbesondere Anstiftung und Beihilfe - und nachfolgenden Unterlassungshandlungen - wegen u.U. (ingerenz-)garantenpflichtwidrig unterlassener Verhinderung der Haupttat - konkurrieren können. Jedoch ist diese Frage unter garantenpflicht- und teilnahmespezifischen Gesichtspunkten zu beantworten, die im Rahmen der Beteiligungslehre zu erörtern sind154. Außerhalb der Beteiligungslehre treten Konkurrenzfragen zwischen Tun und nachfolgendem Unterlassen freilich bei zeitgestreckter Deliktsverwirklichung auf, insbesondere bei BegehungsDistanzdelikten155: Wie verhält sich hier das vorgängige Tun - z.B. die Ver152 Jescheck, Lehrbuch, S. 657; S/S-Stree, § 52 Rndr. 19; s. auch RGSt 68, 315 (317 f.); BGHSt 6, 229 (230). 153 Jakobs, Strafrecht, 33/8; Kindhäuser , JuS 1985,100 (104 in Fn. 45); Lackner , § 52 Rdnr. 7. 154 S. unten § 9 II 2. 155 Eingehend Welp , Vorangegangenes Tun, S. 321 ff. mit umf. Nachw.

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Sendung einer Briefbombe - zu dem nachfolgenden Unterlassen - z.B. der unterlassenen Warnung des Opfers -? Handelt es sich bei diesem um eine tatmehrheitliche (Unterlassungs-)Handlung156 oder fällt dieses tateinheitlich mit dem Tun zusammen? Zur Lösung könnte daran gedacht werden, eine Parallele zu den Problemen der "sukzessiven Tatbestandsverwirklichung" durch mehrere aufeinanderfolgende Handlungen, z.B. durch mehrere Schläge (§ 223) oder durch mehrere geäußerte Schimpfworte (§ 185), zu ziehen. In derartigen Fällen soll nur eine Handlung vorliegen, wenn die mehreren Teilakten auf einem einheitlichen Entschluß beruhen; liegen hingegen neue Entschlüsse vor, so soll nach wohl h.L. 157 Tatmehrheit gegeben sein. Hiergegen hat Welp zu Recht eingewendet, daß ein nachfolgendes Unterlassen stets mit zur konkreten Tat gehört und daher nicht ohne Verlust für die vollständige Erfassung des Unrechts- und Schuldgehalts isoliert werden kann158. Deshalb kann ein tatmehrheitliches nachfolgendes Unterlassen auch dann nicht vorliegen, wenn der Täter eines Distanzdelikts den im Begehungsentschluß (z.B. Abschicken der Briefbombe) enthaltenen Unterlassungsentschluß (z.B. das Opfer nicht zu warnen) zunächst vergißt oder verdrängt und später erneut entscheidet, das - nach Postzustellung nunmehr konkret bedrohte - Opfer nicht zu warnen; ob der Unterlassungsvorsatz "durchgehalten" oder erneut gefaßt wird, ist unerheblich. Aus dieser Einheitsbetrachtung folgt weiterhin, daß die Rechtswidrigkeit der vorgängigen Begehung von der Rechtmäßigkeit eines nachfolgenden Unterlassens nicht beeinflußt wird. Dies bedeutet dann aber auch, daß in den Fällen, in denen der Rücktrittswillige eine höherrangige (Garanten-) Pflicht erfüllt - wenn etwa der Vater, der einen vergifteten Köder zur Tötung des Hundes des Nachbarn ausgelegt hat und den Köder später deshalb nicht beseitigt, weil er seinen plötzlich schwer erkrankten Sohn ins Krankenhaus bringen muß159 -, dem Rücktrittswilligen das Fehlschlagsrisiko des Rücktritts trotz eines (axiologisch vorgehenden!) pflichtgemäßen Handelns aufzuerlegen ist 160 .

Die freilich - sofern sich die Rechtfertigungs- und Schuldlage nicht ändert - nach den Grundsätzen über die (scheinbare) Gesetzeskonkurrenz als mitbestrafte Nachtat abgegolten ist, s. Welp, Vorangegangenes Tun, S. 325. 157 S. nur S/S-Stree, Vorbem. §§ 52 ff. Rdnrn. 17 ff. m.w.N. 158

Welp, Vorangegangenes Tun, S. 327. Beispiel nach Welp, Vorangegangenes Tun, S. 330. 160 A A Welp, Vorangegangenes Tun, S. 332 f.; allgemein zum Erfolgsabwendungsrisiko bei § 24 (Abs. 1) S/S-Eser, § 24 Rdnrn. 61 ff. mit umf. Nachw. - Allgemeiner gesprochen stellt der Rücktritt vom Begehungsversuch nicht eine garantenpflichtgemäße Handlung dar, da das nachfolgende Unterlassen eben nicht eigenständig in Anschlag kommt; daher ist die Strafbefreiung beim Rücktritt als gleichsam "überobligationsmäßigem Verhalten" axiologisch gerechtfertigt. 159

§ 8 Die fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte

L Die "Einheitlichkeitsthese" 1. Identität von Garanten- und Sorgfaltspflichten? Es entspricht der durchaus h.L., daß bei den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten die Garanten- und die Sorgfaltspflichten identisch sein sollen . Genauer formuliert sollen hier Garanten- und Sorgfaltspflicht zwar "zusammenfallen, aber doch unterschieden werden müssen, damit ihr Inhalt und ihr Ausmaß richtig bestimmt werden können"2. Nun ist hieran ohne Zweifel zutreffend, daß ein zurechenbares pflichtwidriges Unterlassen des Garanten im hier entwickelten Sinne nur vorliegen kann, wenn (bei fehlendem Vorsatz) die Verletzung einer Sorgfaltspflicht - genauer: einer Sorgfaltsobliegenheit - vorliegt3. Deshalb will die h.L. auch keineswegs darauf verzichten zu prüfen, ob der sorgfaltswidrig Unterlassende Garant ist, d.h. ob er eine Garantenstellung innehat4. Besonders deutlich wird dies an einem von Herzberg - der die These der h.L. zu Recht für mißverständlich hält gebildeten Beispiel: Ein an einem offenstehenden Fenster im sechsten Stock eines Hochhauses spielendes Kind stürzt in die Tiefe und stirbt, während sich im Nebenzimmer sowohl die Mutter als auch eine Nachbarin unterhalten. Hier kann (nur) der Mutter als Garantin für das Leben des Kindes überhaupt der Vorwurf unsorgfältigen Handelns gemacht werden; allgemeiner formuliert: "Die Garantenpflicht ist die aus einer Garantenstellung folgende soziale Sonderverantwortlichkeit für ein bestimmtes Geschehnis, die Sorgfaltspflicht bezeichnet die Pflicht des Garanten (und nur des Garanten), in begrenztem Umfang Sorgfalt zur Vermeidung des Geschehens aufzuwenden"5. Umgekehrt kann die Nachbarin nicht gem. § 323 c strafbar sein, da dieser keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit vorsieht6.

1

Fünfsinn, Aufbau, S. 98 ff.; Henkel, in: Mezger-FS, S. 249 (283); Niese, Finalität, S. 62. LKrJescheck, Vor § 13 Rdnr. 90; ähnlich ders., Lehrbuch, S. 573; s. weiterhin Gallas, Bau, S. 32; Stratenwenh, Strafrecht, Rdnr. 1167. 2

3

Richtig Fünfsinn, Aufbau, S. 101: "Nur bei Sorgfaltswidrigkeit eines Garanten in bezug auf4ein durch ihn zu schützendes Rechtsgut liegt eine Garantenpflichtverletzung vor". S. nur Fünfsinn, Aufbau, S. 99 f. 5 Herzberg, Unterlassung, S. 242; Herv. i. Orig. 6 Hierzu noch noch unten § 8 II 5.

§ 8 Die fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte

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2. Fahrlässigkeit als Rechtspflichtverletzung? Allerdings ist die "Einheitlichkeitsthese" der h.L. auch in ihrer modifizierten Form erheblichen Zweifel ausgesetzt. Ihr liegt nämlich die Auffassung zugrunde, sorgfaltswidrigem Verhalten sei ein "Unterlassungsmoment" eigen, welches - hier schließt sich der Kreis zur Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte - rechtlich relevant durch die Zuwiderhandlung gegen rechtliche Sorgfaltsgebote werde, und zwar einheitlich für (späteres) Tun und (späteres) Unterlassen7. Nach dieser Auffassung besteht zwischen fahrlässigen Begehungs- und Unterlassungsdelikten insofern kein Unterschied, als diese wie jene Pflichtdelikte sind und die Verletzung einer (auf Normen beruhenden) Rechtspflicht voraussetzen; es kann vom "Rechtspflicht-ModellM der Fahrlässigkeit gesprochen werden. So führte das Reichsgericht in dem berichteten8 "Memel-Fall" aus: "Immer bedarf es also für den Nachweis der Fahrlässigkeit der Darlegung, daß der Täter irgendwelche ihm durch die Rechtsordnung auferlegte Pflichten verletzt habe"9; und noch deutlicher heißt es in RGSt 68, 12 (19), für die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit sei erforderlich Diese Lehre geht bis auf Bartolus zurück, der die "culpa" (< Fahrlässigkeits-> Schuld) bestimmte als "deviatio ab eo, quod bonum est, sive in faciendo malum sive in omitiendo bonum scienter vel ignoranter" - "Abweichung von dem, was gut ist, bestehe es im Tun des Schlechten oder im Unterlassen des Guten", zit. nach Ziegler, Fahrlässigkeit, S. 41 in Fn. 25 m.w.N. (Herv. v. Verf.); ebenso Salicetus: "imprudenter omitiere vel facere, ex proposito vel sine, quod omitiere vel facere non debuit" - "(Schuld besteht im) unvorsichtigen Unterlassen oder Tun, aus einem Entschluß heraus oder ohne einen solchen, dessen, was nicht unterlassen oder getan werden darf", zit. nach Engelmann, Schuldlehre, S. 20 (Herv. v. Verf.). - Ähnlich bestimmte das ALR in seinem II. Teil, 20. Titel, § 691: "Ein Jeder ist schuldig, sein Betragen so einzurichten, daß er weder durch Handlungen, noch Unterlassungen Anderer Leben oder Gesundheit in Gefahr setzt", Herv. v. Verf.; vgl. hierzu Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 281 in Fn. 2. - Die Gleich-Strafbarkeit von "omissiver" und "commissiver" Culpa blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein eine Selbstverständlichkeit des gemeinen Rechts, s. noch Art. 64 bayStGB 1813 (aufgehoben 1848): "Jeder Unterthan ist schuldig, gefährliche Handlungen zu unterlassen, und in jedem Unternehmen mit gehöriger Aufmerksamkeit zu verfahren, damit er auch nicht unabsichtlich Andere an ihren Rechten verletze ... Wer dieser Verbindlichkeit zuwider etwas gethan oder unterlassen hat, woraus ohne seine Absicht eine in diesem Gesetzbuche enthaltene Uebertretung entstanden ist, wird deßhalb wegen Vergehen aus F a h r l ä s s i g k e i t verantwortlich", erste Herv. v. Verf.; vgl. hierzu Anmerkungen zum Strafgesetzbuche für das Königreich Baiern, S. 189 ff. - Sie ging schließlich noch in die Rechtsprechung des frühen Reichsgerichts ein: So warf das Reichsgericht dem Angeklagten in einem Urteil aus dem Jahre 1881 im Falle einer gemeingefährlichen Überschwemmung dem Angeklagten als "strafbare Fahrlässigkeit" gleichermaßen vor, "daß er das eine Mal, vor der Gefahr (sc. der Überschwemmung) besonders gewarnt, geflissentlich die rechtzeitige Öffnung der Schützen unterlassen, das andere Mal, die Überschwemmung unmittelbar vor Augen, in leichtfertiger Annahme, die Gefahr sei vorüber, die Schützen zu frühzeitig wieder zum Abstauen geschlossen hat", RGSt 5, 309 (311); s. weiterhin RGSt 6, 249 (250); 10, 6. Erst in dem bekannten - bereits oben § 3 III 3. berichteten - "Radleuchten-Fall" RGSt 63, 392 verlangte das Reichsgericht ausdrücklich, es müsse "die Unterlassung eine Rechtswidrigkeit gegenüber dem Verletzten enthalten, um als Verursachung seiner fahrlässigen Tötung oder Körperverletzung strafbar zu sein". 8 S. oben § 6 III 2. 9 RGSt 57,173 (174); Herv. v. Verf.

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"der Nachweis, daß der Angeklagte eine aus der Rechtsordnung sich ergebende Sorgfaltspflicht verletzt hat ... Die Beobachtung der vernachlässigten Sorgfalt kann geboten sein durch Rechtssätze oder durch die vom Recht anerkannte Verkehrssitte (vgl. § 276 BGB. 'die im Verkehr erforderliche Sorgfalt')". Ähnlich meint Jescheck - der für die heute wohl h.L. steht -, es verlange jede Rechtsnorm, die fahrlässiges Verhalten unter Strafe stelle, von jedermann die Anwendung der objektiv gebotenen Sorgfalt, die erforderlich ist, um durch richtiges Wollen die Verwirklichung des Tatbestandes zu vermeiden10. Im übrigen könnten die Sorgfaltspflichten "verschiedene Grundlagen" haben, nämlich Gesetze (wie die StVO und StVZO), Polizeiverordnungen und polizeiliche Verwaltungsakte, Betriebsordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, von der Rechtsprechung herausgearbeitete Berufspflichten, Gewohnheitsrecht, aber auch die Lebenserfahrung als solche, nämlich "die Fahrlässigkeitsvorschrift selbst, weil diese jedermann die Pflicht auferlege, sich in jeder Lage so zu verhalten, daß die Verletzung des geschützten Handlungsobjekts vermieden wird" 11. Kurzum, wie es Cramer zusammenfaßt: "Aus dem 'neminem laede' folgt das Verbot, für fremde Rechtsgüter ein ... Risiko zu schaffen, sie also in ihrem Bestand und ihrer Sicherheit zu gefährden" 12. Nun entspricht die zuletzt genannte Aussage schon nicht der ständigen Rechtsprechung (gerade zu den unechten Unterlassungsdelikten), nach welcher eine "allgemeine Rechtspflicht, fremdes Eigentum gegen Gefahr zu schützen", ebensowenig besteht wie die Rechtspflicht, "eine der Allgemeinheit (sc. für andere rechtlich geschützte Güter) drohende Gefahr abzuwenden"13. Sodann ist aber gegen das RechtspflichtModell der Fahrlässigkeit zuvörderst einzuwenden, daß eine Rechtspflicht, sorgfältig zu handeln, nicht besteht: Es gibt nur eine Pflicht, normwidriges Verhalten, das unsorgfältig vorgenommen wird und deshalb sorgfaltspflichtwidrig ist, zu unterlassen1 . Dieses Verhalten ist aber schon deshalb verboten, weil es der Norm widerspricht; der Konstatierung eines Sorgfaltsgebots und damit einer "Normenverdopplung" bedarf es nicht15. Des weiteren ist gegen das Rechtspflicht-Modell der alte Einwand zu erheben, daß - soweit der Fahrlässigkeitsvorwurf auf die Verletzung "innerer Sorgfalt" 16, also auf 10

Jescheck, Lehrbuch, S. 521. Jescheck, Lehrbuch, S. 525. 12 S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 131. 13 S. nur RGSt 64, 273 (276 mit umf. Nachw.). 14 Treffend Jakobs, Strafrecht, 9/1 ff., bes. 6; s. weiterhin Maurach-Gössel, AT 2, § 43 Rdnr. 19. - Umgekehrt gilt bei den unechten Unterlassungsdelikten nach der hier vertretenen Normentheorie, daß nicht etwa (nur) geboten ist, Sorgfalt zur Abwendung des Erfolgs aufzuwenden, sondern der Erfolg überhaupt abgewendet werden muß. 15 Treffend Maurach-Gössel, wie vorige Fn. 16 Grundlegend zu der alten Unterscheidung zwischen "äußere Sorgfalt" - äußerlich-objektiv richtigem Verhalten - und "innerer" oder "psychischer Sorgfalt" - Aufmerksamkeit, genügende Willensanspannung, "Erfüllung der Vorprüfungspflicht" - Engisch, Vorsatz und 11

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ungenügende Aufmerksamkeit und ungenügende Anspannung der Erkenntniskräfte geht - eine Rechtsgebot hierzu ein Ding der psychologischen und rechtstheoretischen Unmöglichkeit ist17. Aber auch im Bereich der "äußeren Sorgfalt", des verkehrsrichtigen, gefahrvermeidenden Handelns weist das postulierte Sorgfaltsgebot die Besonderheit auf, schon in seinem Tatbestand den Vorbehalt der Einzelfallangemessenheit zu enthalten18. Die Kategorie der Angemessenheit ist aber ausschließlich eine anwendungs- und zurechnungsbegrenzende, keine Norminhaltskategorie 19; ein schlechthin nicht typisierbares Gebot kann kein Rechtsgebot sein20. Das normentheoretische Grundproblem des Rechtspflicht-Modells der Fahrlässigkeit besteht freilich darin, wie die Sorgfaltsgebote mit den in den Begehungstatbeständen enthaltenen Verhaltensverboten (bzw. den in den Tatbeständen der unechten Unterlassungsdelikte enthaltenen Verhaltensgeboten) abgestimmt werden können. Grundlegend hierfür war die berühmte Untersuchung Engischs über "Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht" 21: Zur Frage der "Beziehung der Sorgfaltspflicht zur Rechtsordnung" hält Engisch im Anschluß an Binding22 drei Antworten für denkbar23: erstens die "Koordination" in dem Sinne, daß die Sorgfaltspflicht "selbständig und in größter Allgemeinheit" den einzelnen Normen zur Seite tritt; zweitens die "Akzessorietät" in dem Sinne, daß die Sorgfaltspflicht gerade der besonderen Verhaltensnorm als "spezielles Nebengebot, im Interesse der Fahrlässigkeit, S. 269 ff. (im Anschluß an Leonhard); s. heute noch Jescheck, Lehrbuch, S. 523 ff.; krit. Jakobs, Studien, S. 59 ff. "Äußere" Sorgfalt kann nach Engisch zum einen die Unterlassung der gesamten gefährlichen Handlung fordern, freilich nur in der Grenze des "erlaubten Risikos". Hierfür sei ausschlaggebend eine "Güterabwägung", in welche der erstrebte Zweck (Nutzen) einerseits, die drohende Rechtsgüterverletzung, jeweils bemessen nach (abstraktem) Wert und (konkretem) Umfang und (konkreter) Wahrscheinlichkeit, eingehen müsse, aaO., S. 288 f. Sodann verlange (äußere) Sorgfalt aber auch ein "Handeln in Gefahrensituationen". Hier verknüpfe sich das Problem der Sorgfalt sofort mit dem Unterlassungs- und Rechtspflichtproblem, aaO., S. 291. Gerade in den Fällen eines "erlaubten Risikos" werde dessen Gestattung zur Quelle von Sorgfaltspflichten, die in der Anwendung äußerer Mittel zur Vermeidung drohender Tatbestandsverwirklichungen bestehen. 17 S. bereits Almendingen, Untersuchungen, S. 51 ff., bes. 54: Es gibt "keinen Irrtum, welchen man, wenn man gewollt hätte, hätte einsehen können. Jeder Akt des Erkenntnisvermögens ist völlig unwillkürlich" (gegen die bekannte These von Feuerbach, die "obligatio ad diligentiam" gebiete auch die "innere Handlung,... von dem Erkenntnisvermögen ... Gebrauch zu machen", s. Bibl. f. d. peinl. Rw., Bd. I I / l , S. 193 ). - Immer noch gültige, sehr pointierte Kritik b. Binding, Normen, Bd: IV, S. 322 ff., 502: Eine Denkpflicht sei "im Rechtssinne einfach monströs". 18 1 9 Hierzu sogleich unten § 8 II. S. oben § 6 I. 20 Treffend LK-Schroeder, § 16 Rdnr. 157. 21

Die bereits deshalb besondere Beachtung verdient, weil sie in ihrem Abschnitt über "Fahrlässigkeit als äußeres Handeln in Gefahrensituationen" auch die Garantenproblematik in den2 Blick nimmt, s. Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 290 ff. 2 Normen, Bd. I I / l , S. 238 ff. u. Bd. IV, S. 501 ff. 23 Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 332 ff.

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Norm die Aufmerksamkeit anzuspannen", zur Seite tritt; und drittens die "Subordination" in dem Sinne, daß die Sorgfaltspflicht integraler und unselbständiger Teil der jeweiligen Hauptpflicht ist. Wie bereits Binding entscheidet sich Engisch für die dritte Lösung: Jede Norm gebiete Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung, also Sorgfalt. Die Anordnung der Strafbarkeit der Fahrlässigkeit besage nur mehr, daß "Unkenntnis der Tatbestandsverwirklichung nicht notwendig exkulpiert"24. Zusammengefaßt: "Eine Normv e r l e t z u n g muß daher auch immer dann vorliegen, wenn die geforderte Sorgfalt außer Acht gelassen ist. ... Die Tötungsnorm verletzt, wer eine lebensgefährliche Handlung vornimmt, wer in der von ihm selbst heraufbeschworenen Lebensgefahr für andere nichts tut, um die Gefahr abzuwenden"25. In diesem Sinne sei die Normverletzung unabhängig vom eingetretenen Erfolg; das Strafgesetz normiere in größerem Umfange als es strafe. - Es ist leicht zu sehen, daß die Auffassung von Engisch die normentheoretische Konzeption des Finalismus vorwegnahm26, nach welcher die Normen nicht die Erfolgsverursachung ver- oder, beim unechten Unterlassungsdelikt, die Erfolgsabwendung gebieten, sondern nur ein - nach welchem Maßstab auch immer - erfolgsverursachungsgeeignetes Verhalten ver- und ein erfolgsabwendungsgeeignetes Verhalten gebieten. Gegen die Auffassung von Engisch ist denn aber auch dasselbe einzuwenden wie gegen die finalistische Normenkonzeption: Sie entspricht nicht dem Gesetz und vermengt zudem die - streng zu trennenden - Gesichtspunkte der Normwidrigkeit eines Verhaltens und der Pflichtwidrigkeit eines Handelns27. Darüber hinaus sprechen gegen das Rechtspflicht-Modell der Fahrlässigkeit zwei weitere Gesichtspunkte28: Erstens lehnt es auch die RechtspflichtLehre - zutreffend - ab, daß ausdrücklich normierte Sorgfaltsgebote die Fahrlässigkeitszurechnung ohne weiteres begründen können, wie umgekehrt das Fehlen solcher Normen die (objektive) Fahrlässigkeit nicht ausschließen kann29; dies sprengt aber das Rechtspflicht-Modell 30. Zweitens ist Schroeder 24 25 Engisch, 26 27

28

Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 338 f. Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 341. Insofern bezieht sich denn auch Welzel, Fahrlässigkeit, S. 20 f., ausdrücklich auf Engisch. S. bereits oben § 114.

Auf eine weitere Unstimmigkeit hat Schmidhäuser (Studienbuch, 7/94) hingewiesen: In der Konstellation des erfolgsqualifizierten Delikts sei nach h.A. für den gem. § 18 erforderlichen Fahrlässigkeitszusammenhang zwischen Grunddelikt und Folge ausschließlich die Vorhersehbarkeit zu prüfen (so z.B. BGHSt 24, 213 ; auch BGHSt 31, 96 "Hochsitz-Fall"); der Verweis darauf, die Pflichtwidrigkeit liege bereits in der Erfüllung des Grundtatbestandes, sei eine "rein nominalistische" Festlegung. 29 Zum hiermit angesprochenen Fragenkreis "Fahrlässigkeit und Sondernorm" Bohnert, JR 1982, 6 ff.; Lenckner, in: Engisch-FS, S. 490 ff.; LYL-Schroeder, § 16 Rdnrn. 163 ff.; Schünemann, in: Lackner-FS, S. 367 ff. (bes. 388 f.); Volk, GA 1973,161 ff. - (Nicht veraltete) Sondemormen enthalten lediglich eine "Dokumentation der redlichen Praxis" und daher Beweisanzeichen für die im Verkehr legitimerweise erwartbare Sorgfalt, treffend Schünemann, aaO., S. 386. 0 K o , 1 .

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darin recht zu geben, daß es "gerade zu ans Groteske grenzt ..., daß die Lehre von der Sorgfaltspflichtverletzung ... ein aufwendiges dogmatisches Gebäude errichten mußte, nur um Fälle auszuscheiden, in denen das Verhalten gar nicht in den 'Schutzbereich' der von ihr zuvor ermittelten 'Sorgfaltspflicht' verletzt"31. 3. Fahrlässigkeit als von der Garantenpflicht- zu unterscheidende Obliegenheitsverletzung Sind also die Sorgfalts"pflichten" nicht Ansatzpunkt der Fahrlässigkeitszurechnung, so muß - in Anknüpfung an das bereits Ausgeführte 32 und an eine vordringende Lehre - dieser Ansatzpunkt im Begriff der Vermeidbarkeit gesucht werden33. Diese Auffassung geht auf Binding und Engisch zurück, die beide das Fahrlässigkeitsdelikt als "nach Auffassung der Rechtsordnung vermeidbares" oder "(bei Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt) vermeidbar tatbestandsmäßiges Unrecht" ansahen34. Fahrlässigkeit ist die Zurechnungsform, bei der das normwidrige Verhalten nicht intentional vermeidbar gewesen ist, die fehlende Vermeidefähigkeit aber selbst wieder vermeidbar gewesen wäre und der Täter dies zu vertreten hat. Grund der Zurechnung ist dann die zu verantwortende Enttäuschung des Vertrauens in die rechtlich erwartbare intentionale Vermeidefähigkeit des Täters35. Solche Erwartungen begründen keine Rechtspflichten, sondern bloße Obliegenheiten, die dazu führen, daß sich der Täter - falls es zu einem normwidrigen Verhalten kommt - nicht in zurechnungsausschließender Weise auf seine fehlende intentionale Vermeidefähigkeit berufen kann. Damit aber fallen Garantenpflicht und Sorgfalts"pflicht" endgültig auseinander. Die Garantenpflicht hat ihren Grund in dem Garantengebot; sie entsteht, wenn der Garant intentional vermeidefähig ist (Vorsatzzurechnung) oder wenn er dies zwar nicht ist, dies ihm jedoch kraft einer Obliegenheitsverletzung zurechenbar ist (Fahrlässigkeitszurechnung). Demgegenüber haben die Sorgfaltsobliegenheiten ihren Grund nicht in dem Garantengebot selbst36, sondern in den (normativen) Erwartungen, die an jemanden in der Rolle des Garanten 31

LK-Schroeder, § 16 Rdnr. 157. - Ob, wie Schroeder folgert, diese Einsicht dazu zwingt, die Fahrlässigkeit stets als fehlende Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung und damit als Irrtumsfall zu rekonstruieren, erscheint allerdings zweifelhaft: Zum einen ist es problematisch, auch die sog. bewußte Fahrlässigkeit als Irrtumsfall zu rekonstruieren (s. oben § 2 in Fn. 109). Zum anderen entbindet die Deutung der Fahrlässigkeit als Irrtum nicht von der - nur normativ, nämlich nach Maßgabe von Obliegenheiten zu beantwortenden - Frage, welches der Maßstab der Vermeidbarkeit des Irrtums sein soll. 32 S. oben § 2 III 6. 33 So Maurach-Gössel AT 2, § 43 Rdnrn. 17 ff.; auch Jakobs, Strafrecht, 9/4. 34

S. einerseits Binding, Normen, Bd. IV, S. 339; andererseits Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 267 f. 35 Kindhäuser, Gefährdung, S. 63. 36 A.A. Hruschka, Strafrecht, S. 397 ff. und 415 ff., der Sorgfaltsobliegenheiten als synthetische Implikation der Normen deutet.

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interaktionsspezifisch - unter Berücksichtigung der Zumutbarkeit, des erlaubten Risikos und des Vertrauensgrundsatzes legitimerweise gestellt werden können. Gleichwohl hat die Einheitlichkeitsthese einen zutreffenden materiellen Kern, der die Legitimation der Sicherungsgarantenpflichten (aus Ingerenz und Verkehrssicherung) betrifft. Bei der Wahrnehmung von Organisationsfreiheit können im eigenen Freiheitsbereich schädigende Verläufe durch positives Tun angestoßen oder hier - unabhängig von einem konkretisierbaren positiven Tun entstehende - schädigende Verläufe nicht gehindert werden. In derartigen Fällen - in denen "die Kategorien von Tun und Unterlassen zu zufälligen Spielarten der Herrschaft über die Maschine" - allgemeiner: der Wahrnehmung von Organisationsfreiheit - geworden sind, können aus der Differenz zwischen Tun und Unterlassen "keinerlei Bewertungsunterschiede" mehr hergeleitet werden37. In derartigen Fällen liegt ist es mithin gerechtfertigt, das positive Tun dem Unterlassen gleichzustellen und dann, mutatis mutandis, dieselben Sorgfaltsobliegenheiten zu konstatieren38. IL Bezugspunkte und Inhaltsbestimmung von Sorgfaltsobliegenheiten bei den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten 1. Bezugspunkte der Sorgfaltsobliegenheiten bei den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten Nach der bereits dargelegten und kritisierten Auffassung von Armin Kaufmann 39 setzt jedes Unterlassen begrifflich voraus, daß die tatbestandsmäßige Situation vom Unterlassungstäter (Garanten) tatsächlich erkannt worden ist. Damit scheiden die Fälle nicht erkannter, aber erkennbarer tatbestandsmäßiger Situationen aus der Strafbarkeit fahrlässigen Unterlassens aus; das Wissen um die Situation ist kein tauglicher Bezugspunkt von Sorgfaltsobliegenheiten. Wie Schöne gezeigt hat40, vermag diese Auffassung auch unter Zugrundelegung einer finalistischen Fahrlässigkeitstheorie nicht zu überzeugen: So wenig wie beim aktiven Tun die finale Handlung, die als sorgfaltswidrig verboten und tatbestandsmäßig ist, den Erfolg - die Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung - zum Handlungsziel haben muß, so wenig braucht im Bereich der Unterlassung die Handlung, die als sorgfaltsmäßig geboten ist und deren Nichtvornahme den Unterlassungstatbestand erfüllt, den Erfolg - die Rechtsgutserhaltung - zum Ziel haben.

37 38 39 40

Treffend Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 283. S. noch unten § 8 III 3. S. oben § 71 3. JZ1977,150 (bes. 158).

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Diesen Ansatz hat Struensee41 ausgebaut. Nach ihm kann die Fahrlässigkeitszurechnung bei den unechten Unterlassungsdelikten an drei Arten von Obliegenheitsverletzungen anknüpfen: erstens kann der in Richtung auf die Erfolgsabwendung tätig werdende Garant verkannt haben, welche Handlungsmöglichkeit erfolgversprechend ist (sog. unsorgfältiger Gebotserfüllungsversuch) 42; zweitens kann der Garant eine Vorsorgehandlung unterlassen haben, die ihn (oder einen anderen) befähigt hätte, den Erfolg zu vermeiden (sog. Unterlassen unfinaler Erfolgsabwendung) 43; drittens kann der Garant eine Handlung unterlassen haben, die ihm die Kenntnis der tatbestandsmäßigen Situation verschafft hätte44. Struensee hält diese drei Fälle für nicht einheitlich strukturiert, wofür er auf das "Umkehrprinzip" Armin Kaufmanns zurückgreift. Der erste Fall soll die Wertung des Versuchs umkehren: Während im Begehungsbereich bei finaler, erfolgloser Handlung Versuchs- und bei nichtfinaler, erfolgreicher Handlung Fahrlässigkeitsstrafbarkeit eintrete, soll im Unterlassungsbereich bei nichtfinaler, erfolgloser Handlung Versuchs- und bei finaler, erfolgloser Handlung Fahrlässigkeitsstrafbarkeit eintreten. Der zweite Fall kehre die Wertung der Begehungsfahrlässigkeit um: So, wie beim fahrlässigen Begehungsdelikt Handlungen beliebiger Finalität ,sorgfaltswidrig sein können, kann das Unterlassen einer "unfinalen" - d.h. nicht auf die (als möglich, wahrscheinlich oder sicher vorgestellte) Erfolgsabwendung bezogenen - Handlung zur Unterlassungsfahrlässigkeit führen. Und im dritten Fall gebe es gar keine Parallele im Begehungsbereich, da im Vorfeld vorgenommene kenntnisverschaffende Handlungen deliktisch nicht relevant seien. Spätestens das Ergebnis zum dritten Fall sollte allerdings zeigen, daß das "Umkehrprinzip" - das hier ersichtlich in seiner ersten, abzulehnenden Fassung angewendet wird 45 - zur Erfassung der Strukturen der fahrlässigen Unterlassungsdelikte wenig hergibt. Vom Standpunkt der hier vertretenen Normenkonzeption ist der Bezugspunkt der Fahrlässigkeitszurechnung bei den unechten Unterlassungsdelikten ein einheitlicher und nicht prinzipiell von den Begehungsdelikten unterschiedener: Sicherung der intentionalen Vermeidefähigkeit des Normadressaten durch Vorsorgehandlungen. Allenfalls kann nach den Unterkriterien des (norm- und gebotsrelevanten) "Wissens" und "Könnens" unterschieden werden: einerseits zwischen Vorsorgehandlungen, die das Wissen des Garanten um gebotsrelevante (und in gebotsrelevanten) Situationen sicherstellen, anderseits solchen, die 41

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JZ1977, 217 (zus.fas. 222).

Beispiel: Der schlechte Schwimmer stürzt sich ins aufgewühlte Wasser, um sein Kind zu retten, was er nicht schafft; er übersieht hierbei den am Ufer angebrachten Rettungsring, den er ohne weiteres dem Kind hätte zuwerfen können. 43 Beispiel: Ein Streckenposten unterrichtet den Schrankenwärter nicht davon, daß ein Zug vorzeitig eintrifft; deshalb schließt der Schrankenwärter nicht rechtzeitig die Schranke und ein Passant kommt zu Tode. 44 Beispiel: Der Rettungsschwimmer achtet nicht auf einen ertrinkenden Badegast. 45 S. oben § 3 II 2.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

die Fähigkeit des Garanten zur Erfolgsabwendung in gebotsrelevanten Situationen sicherstellen. 2. Einzelfallbezogenheit der Sorgfaltsobliegenheiten und Verkehrssicherungspflichten Wie jedem Fahrlässigkeitstäter, so obliegt auch dem fahrlässig handelnden Garanten die Sorgfalt, die der konkreten Situation angemessen ist; in diesem Sinne müssen Sorgfaltsobliegenheiten einzelfallbezogen entwickelt werden46. Dies gilt insbesondere für die sog. Verkehrssicherungspflichten, soweit mit ihnen die den entsprechenden Garantengeboten zugeordneten Sorgfaltsobliegenheiten gemeint sind47. In der hierzu grundlegenden Entscheidung RGSt 57, 148 (150 f.) ging es um folgenden Sachverhalt: O. Kl. hatte an einem Schacht auf dem Hof hinter der Gastwirtschaft seines Vaters P. Kl. Arbeiten vorgenommen und den Schacht nicht mit dem vorhandenen Gitter abgedeckt. Am folgenden Abend fand in der Gastwirtschaft eine Vereinsfeier statt; eine Teilnehmerin an der Feier stürzte auf der Suche nach einem Abort in den Schacht und verletzte sich tödlich. Zwar war der Hinterhof für Gäste an sich nicht zugänglich; jedoch hatte der Vereinsvorstand entgegen einer ausdrücklichen Abmachung mit O. Kl. die zum Hinterhof führende verschlossene Tür geöffnet. Das Reichsgericht führte aus: Für die Strafbarkeit des O. Kl. sei entscheidend, ob er sich auf die ihm bekannte Vereinbarung über das Abschließen der Tür hätte verlassen dürfen. Für diejenige des P. Kl. wäre zu beachten, daß ihm nicht zugemutet werden könnte, alle Verrichtungen der Gehilfen unausgesetzt zu überwachen; vielmehr müßte für genügend erachtet werden, wenn er die in concreto erforderliche Sorgfalt bei Auswahl und stichprobenhafter Überwachung eingehalten hätte. Zutreffend meint deshalb Schünemann48, es bestimme sich der konkrete Umfang der jeweiligen Verkehrssicherungspflichten "nach der im Verkehr Grundlegend Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 304: Die Sorgfaltspflicht sei nur insoweit eine "allgemeine", als sich das, was in concreto Sorgfalt sei, nur im Anschluß an die Umstände des einzelnen Falles ermitteln lasse: "Hier sind wir... an einem Punkt angelangt, wo die 'Werturteils- und Willensentscheidungen der Praxis' zum Urteil berufen sind .... Freilich ist auch hier die Entscheidung nicht der Willkür des Richters anheimgestellt. Sie wird sich wieder zurichtenhaben nach dem Wert der Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung (mit Rücksicht auf Bedeutung und Umfang der drohenden Tatbestandsverwirklichung) und der relativen Eignung des Mittels zu ihrer Verhütung einerseits, nach den Anforderungen, die das Mittel an Zeit, Geduld, Anstrengung des Täters andererseits". Die "Allgemeinheit" der Sorgfaltspflichten wird also nach Engisch durch ihre "Individualisierung" mit Blick auf die jeweilige konkrete Situation und den jeweils in Frage stehenden besonderen gesetzlichen Tatbestand aufgehoben; es gibt kein "crimen culpae", sondern nur ein "crimen culposum", aaO., S. 331 f. gegen Exner, Fahrlässigkeit, S. 76 ff., nach welchem dem Täter stets nur die Verletzung der allgemein-unbestimmten Sorgfaltspflicht vorgeworfen wird. 47 48

Hierzu noch unten § 8 III 2. Unterlassungsdelikte, S. 291 f., Heiv. i. Orig.; ebenso S/S-Stree, § 13 Rdnr. 44.

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erforderlichen Sorgfalt"; im einzelnen maßgeblich seien die Gesichtspunkte der Nützlichkeit, des Grades der Gefahr und der Üblichkeit in Korrelation zur "internalisierten Wachsamkeit der Allgemeinheit". In derartigen Kriterien kann unschwer das ebenfalls einzelfallbezogene Erfordernis der "Anwendungsangemessenheit" erkannt werden kann - was nicht überrascht: Ist sogar ein aktuelles Wissen oder Können nicht entscheidungsrelevant, weil die Norm im Einzelfall nicht angemessener Verpflichtungsgrund für Handlungen ist, dann kann es auch ein potentielles, hypothetisch zu prästierendes Wissen oder Können nicht sein49. 3. Rollen- und Interaktionsbezogenheit (insbesondere bei den Verkehrssicherungspflichten) Die These von der Einzelfallbezogenheit der Sorgfaltsobliegenheiten ist jedoch - allgemein und gerade bei den fahrlässigen Unterlassungsdelikten, insbesondere bei den hier relevanten Verkehrssicherungspflichten - auch Zweifeln ausgesetzt. Bereits Binding hat die Vorstellung von der "Sorgfalt, die der Einzelne dem Einzelnen schuldet" als "privatrechtliche Anschauungsweise" gerügt50; vielmehr sei bei "Personalverletzungen das verletzte Individuum als solches gleichgültig"51. Ganz in diesem Sinne formulierte eine frühe Reichsgerichtsentscheidung52 plastisch und zutreffend: "Für die fahrlässiges Thun verbietende Rechtsnorm ist aber lediglich der allgemeine Rechtsschutz in seiner generellen, gewisse Rechtsgüter in ihrer kategorischen Gestalt umfassenden Absicht von Bedeutung, nicht der besondere Mensch ... mit der gerade ihm zu teil gewordenen besonderen Beschädigung. Jedermann ist verpflichtet, sein Handeln so einzurichten, daß dasselbe nicht kausal werde für schädigende Ereignisse einer gewissen, vom Gesetz bezeichneten Gattung ..." Für die Frage der Vorhersehbarkeit sei daher "nur noch zu untersuchen, ob das konkret eingetretene Ereignis seiner Gattung, bezw. seiner allgemeinen Beschaffenheit nach in die Kategorie der vorhersehbaren und deshalb vermeidlichen Ereignisse hineinfällt". Dies entspricht der ständigen späteren Rechtsprechung, wonach bei der Fahrlässigkeitszurechnung nur der Erfolg in seinem Endergebnis und der Geschehensablauf als solcher vorhersehbar sein muß53. Jedenfalls wenn wie hier - als Zentralbegriff der Fahrlässigkeitszurechnung die Vermeidbar-

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S. oben § 6 I 5. - Zu Recht schränkt deshalb die hA. die Sorgfalts"pflichten" mit Blick auf die oben § 6 II bis IV erörterten Prinzipien der Zumutbarkeit, des "erlaubten Risikos" sowie50des Selbstverantwortungsprinzips und des "Vertrauensgrundsatzes" ein. Binding, Normen, Bd. IV, S. 200. 51 Binding, Normen, Bd. IV, S. 557. 52 RGSt 19,51 (53 f.). - Herv. i. Orig. 53 Umf. Nachw. b. Jescheck, Lehrbuch, S. 529 f.

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keit und nicht die Erkennbarkeit zugrundegelegt wird 54, trifft diese Rechtsprechung zu55. Dementsprechend neigt die Rechtsprechung in modernen konstitutionell gefährlichen Lebensbereichen - insbesondere im Straßenverkehr - stark zu einer generalisierenden Betrachtungsweise56. Instruktiv hierzu ist eine frühe Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Pflicht des Kraftfahrzeugführers, beim Überholen auf der Autobahn vor dem Spurwechsel trotz rechtzeitiger Betätigung der Fahrtrichtungsanzeige den rückwärtigen Verkehr im Rückspiegel zu beobachten: "Umfang und Maß der Sorgfaltspflicht richten sich in erster Linie nach der Verkehrserfahrung, aus der sich ergibt, daß bestimmte Fahrweisen mit bestimmten ihnen eigentümlichen Gefahren verbunden sind. Diese allgemein bekannten Gefahren muß der Kraftfahrer berücksichtigen. Dabei genügt es grundsätzlich nicht, daß er diesen Gefahren nur allgemein durch bestimmte mechanische Verrichtungen entgegen wirkt; er muß sich vielmehr im Einzelfall über die Gefahrlosigkeit der beabsichtigten Fahrweise vergewissern"57. Dem entspricht es, daß der Bundesgerichtshof in diesen Bereichen die entsprechenden Sorgfaltsobliegenheiten als Leitsätze in der Form echter Rechtsgebote formuliert und hier besonderen Wert auf deren Eindeutigkeit und Bestimmtheit legt58: Nur "einheitliche, leicht merkbare" und "klare und unbedingte" Regeln taugen hiernach als Sorgfaltsobliegenheiten; andernfalls bestehe die Gefahr der "Mißdeutung und Mißachtung". Es ist also weniger das verfassungsrechtliche Bestimmtheits- und Gleichheitserfordernis 59 denn der - zutreffende Gesichtspunkt effektiver faktischer Geltung von Normen, welcher die Generalisierung von Sorgfaltsobliegenheiten legitimiert. Umgekehrt kann nach der Rechtsprechung - entgegen dem Ausgangspunkt einer einzelfallorientierten Betrachtungsweise - der Verstoß gegen gesetzlich vertypte Ordnungsvorschriften (besonders der StVO und der StVZO) die Fahrlässigkeit indizieren, da derartige Vorschriften das Ergebnis einer auf Erfahrung und Überlegung beruhenden umfassenden Voraussicht möglicher Gefahren seien, somit schon durch ihr Dasein besagten, daß durch ihre Übertretung die Gefahr eines Unfalles im Bereiche der Möglichkeit liege, und gestatten deshalb häufig den Schluß auf die Voraussehbarkeit des Erfolgs, selbst wenn die Verkehrslage einen bestimmten

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S. oben § 8 I 3. Krit. aber die Lit.; s. nur S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 179; Maurach-Gössel , AT 2, § 43 Rdnrn. 129 ff. (bes. 133); Welzel , Strafrecht, S. 176; der Rspr. zust. jedoch Mühlhaus , Fahrlässigkeit, S. 47 f. 56 Dies ist bereits von Jakobs , Strafrecht, 9/13 in Fn. 22 hervorgehoben worden; dort weit. Nachw. zum Vorschlag, die Fahrlässigkeit hier bis in die Schuld hinein zu objektivieren. 57 BGHSt 5, 271 (274). 58 S. BGHSt 11, 296 (301); 16,145 (151). 59 Hierauf stellen aber die Verfechter einer objektiven (nichtindividualisierenden) Fahrlässigkeitslehre ab, s. nur Jescheck, Lehrbuch, S. 510 m.w.N. 55

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Anhalt für die Gefahr nicht enthielt60. Allgemein müssen nach der Verkehrsauffassung "übliche" Vorsorgemaßnahmen auch ohne besonderen Anlaß getroffen werden; wenn sich nach der "Verkehrserfahrung" ergibt, daß mit bestimmten Fahrweisen bestimmte "allgemein bekannte" Gefahren verbunden sind, so muß dem Rechnung getragen werden61. Strafbarkeitsbegründend wurde des öfteren darauf abgestellt, daß - situationsunabhängig - ein jedem Kraftfahrer bekannter Hauptgrundsatz eines sicheren Straßenverkehrs verletzt 62 oder die sich jedem sorgfältigen Kraftfahrer aufdrängende Sorgfalt vernachlässigt worden war 63. Letztlich wurzeln all' diese Einschränkungen der Einzelfallbezogenheit der Sorgfaltsobliegenheiten darin, daß diese rollen- und interaktionsgebunden sind64. Besonders deutlich wird diese Rollen- und Interaktionsgebundenheit bei der Untergruppe der Verkehrssicherungspflichten, die herkömmlich als Berufs- und Gewerbepflichten bezeichnet werden und ausdrücklich in §§ 222 Abs. 2, 230 Abs. 2 RStGB a-F.65 erwähnt waren 66. Nach diesen Vorschriften wirkte es bei der fahrlässigen Tötung bzw. Körperverletzung strafschärfend, wenn der Täter "zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet war" 67. Den Grund hierfür sah das Reichs6 0 B G H 4, 182 ( 1 8 5 ) . - Eingehend zu diesen "(vorstraf-)rechtlichen" und "vorrechtlichen" Risikolimitierungen Frisch, Verhalten, S. 90 ff. 61 BGHSt 5, 271 (274); 7, 307 (309 mit Verweis auf BGH VRS 6,298); 17, 289 (291 f.). 62 BGHSt 2,188 (189). 63 BGHSt 7, 307 (309). "ObengSIl 65 S. weiterhin § 232 Abs. 1 letzter HS RStGB a.F. (kein Strafantragserfordernis bei fahrlässiger Körperverletzung unter Verletzung von Berufs- und Gewerbepflichten). - Zur Geschichte dieser Vorschriften (insbes. zur Vorläufervorschrift des § 779 II 20 ALR) Binding, Normen, Bd. IV, S. 480 f. 66 Aus heutiger Sicht hierzu S/S-Cramer, § 15 Rdnrn. 219 (Heilberufe), 223 f. (produzierendes und Handelsgewerbe); 226 (Lehrer); je m.w.N. 67 Im einzelnen bereiteten diese Vorschriften der Praxis "die allergrösste Not durch eine Unmasse ganz unnötig provozirter schwierigster Auslegungsfragen", Binding, Normen, Bd. IV, S. 480. Nach dem Gesetzeswortlaut bezog sich die besondere Verpflichtung ausschließlich auf die erhöhte Aufmerksamkeit, also auf die - in den Worten Engischs - erhöhte innere Sorgfalt, nicht hingegen auf die zur Erkenntnis oder Abwendung der Gefahr verlangten besonderen Fähigkeiten, also auf die erhöhten Anforderungen an die äußere Sorgfalt. Hieraus zog das Reichsgericht den Schluß, daß auch die Verletzung von Jedermanns-Sorgfaltspflichten durch einen besonders Verpflichteten die Strafschärfung auslöse, denn auch die JedermannsSorgfaltspflichten seien kraft Berufs- und Gewerbepflicht mit erhöhter Aufmerksamkeit zu erfüllen; grundlegend RGSt 26, 54; vgl. weiter Binding, aaO., S. 484 f. mit umf. Nachw. Dies sollte sogar für außerhalb der konkreten Berufs- und Gewerbeausübung begangene Pflichtverletzungen gelten, wenn das Verhalten nur "äußerlich" in den Kreis der beruflichen Tätigkeit des Betreffenden fiel, RGSt 1, 203; 5, 75; st. Rspr. U.a. deshalb wurden die Vorschriften durch VO v. 2.4.1940, RGBl. I, S. 606 (amtl. Begründung in: DJ 1940, 508 f.; zu den alten Reformwünschen vgl. v. Bar, Gesetz und Schuld, Bd. II, S. 468; Binding, aaO., S. 492) gestrichen und wurde der Strafrahmen der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung generell auf das qualifizierte Maß angehoben.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

gericht darin, "dass mit der durch die Berufsausübung gegebenen grösseren Einsicht in die Gefahr auch die Verpflichtung zur Anwendung grösserer Vorsicht wächst"68. Hiergegen wendeten zu Recht schon Binding und vor ihm Leonhard ein, daß es auf die faktische Berufserfahrung nicht ankäme und auch der Berufsanfänger und sogar derjenige, der den Beruf ohne hinreichende Ausbildung beginnt, nach dem strengeren Maßstab haftete, so daß es in Wahrheit "nicht die Berufsausübung (sei), was ihn verpflichtet, sondern die Zusage, daß er ein Fachmann sei und sein Fach verstehe" oder "die freiwillige Erklärung an die Mitwelt, für Amt, Beruf und Gewerbe die nötigen Fähigkeiten zu besitzen, und das freie Versprechen, sie gewissenhaft zur Ausübung zu bringen"69. Ob allerdings, wie Binding insistiert, diese Übernahme "wirklich, nicht nur fiktiv" vorhanden ist70, mag fraglich erscheinen: Es geht ausschließlich um die Zuweisung von Verhaltensmaßstäben kraft Rolle und Interaktion. 4. Zur Funktion von Maßfiguren (induktiv-soziologischer oder deduktivnormativer Maßstab bei den Verkehrssicherungspflichten?) Während die Rolle (Interaktion) und die grundsätzliche Erwartung in rollen- (interaktions-)gemäßes Verhalten außerrechtliche gesellschaftliche Wirklichkeit sein muß, fragt sich allerdings, inwieweit der Pflichten- (bzw.: Obliegenheits-) Umfang selbst außerrechtlich bestimmt ist. Bekanntlich verwendet die Rechtsprechung hier "Maßfiguren" wie den "gewissenhaften Kraftfahrer" 71 oder den "mit einer gefahrvollen Führungsaufgabe betrauten Offizier" 72. Allgemein ist der Maßstab eines "gewissenhaften und besonnenen Menschen des Verkehrskreises, dem der Handelnde angehört"73 anzulegen, wie er sich in der konkreten Situation (Interaktion) verhalten hätte. Über den Wert solcher Maßfiguren herrscht freilich seit je her Streit 74; er hängt vor allem von ihrer methodischen Rekonstruktion ab. Hierzu hat bereits Tiedemann75 darauf hingewiesen, daß "Maßstabsfiguren" und am "Verkehr" orientierte Verhaltensmaßstäbe (wie eben die Fahrlässigkeit, vgl. § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB, auch § 347 Abs. 1 HGB) methodisch auf zwei Es ist bemerkenswert, daß das RG unter Berufung auf die genannten Vorschriften auch wirkliche Garantengebote entwickelte, so z.B. die Pflicht einer Wärterinnen in einer Irrenanstalt, den Selbstmord einer Irren zu verhindern, RGSt 7, 332, oder die des Straßenbahnschaffners, mit "Rücksicht auf die der Allgemeinheit drohende Gefahr" einen abgestellten Zug durch eine Lampe zu sichern, RGSt 75,195. 68 RGSt 3, 84; vgl. weiter RGSt 5, 74. 69 Binding, Normen, Bd. IV, S. 482. 70 Binding , Normen, Bd. IV, S. 482 in Fn. 8. 71 BGHSt 16,145 (161). 72 BGHSt 20, 315 (319); weit. Bsp. b. Jescheck , Lehrbuch, S. 523. 73 So die berühmte Formulierung von RGZ126, 329 (331). 74 Berühmte und pointierte Kritik bereits b. Binding , Normen, Bd. IV, S. 520 ff. 75 Wirtschaftsstrafrecht, Bd. I, S. 198 f.

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Weisen rekonstruiert werden können76: einerseits deduktiv-normativ durch eine von der Verkehrswirklichkeit unabhängige, an rechtlichen Maßstäben ausgerichtete Abwägung; andererseits induktiv-soziologisch durch Orientierung am im Verkehr Üblichen und nach der Verkehrsauffassung Geforderten. Gegen beide Wege bestehen freilich Bedenken: Während der deduktivnormative Weg letztlich auf jeden soziologisch-empirischen Bezug verzichtet und - wie es Armin Kaufmann 77 ausgedrückt hat - die Maßfigur letztlich die "Personifizierung der Rechtsordnung in der konkreten Situation" ist, so daß die Einführung einer Maßstabsfigur überflüssig erscheint78, gerät der induktiv-soziologische Ansatz in die Gefahr "einer kritiklosen Auszeichnung des Verkehrsüblichen als des im Verkehr Erforderlichen" 79. Kuhlen80 hat einen Mittelweg dahin vorgeschlagen, primär den "empirisch-soziologischen Bezug" des Verhaltens von im Verkehr als besonnen Angesehenen zu ermitteln und sekundär durch das Kriterium des "Mißstandes" zu korrigieren. Ein derartiger Mißstand im subjektiven Sinne liege vor, wenn die im Verkehr als besonnen Angesehenen selbst Unrechtsbewußtsein haben; im objektiven Sinne liege ein Mißstand vor, wenn bei interessenorientierter Abwägung die tatsächliche Übung besonders weit von dem angemessenen Ergebnis abweicht81. Nun geht die Rechtsprechung seit je her einen noch anderen Weg, indem sie zunächst nach im Verkehr bestehenden Erwartungen sucht und dann diese am rechtlichen Urteil mißt. Paradigmatisch kann hier auf eine Ent76

S. auch Larenz, Methodenlehre, S. 276 ff.; Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 13 ff. ZfRV 5 (1961), 41 (51). - Der maßgebliche Absatz lautet (Heiv. i. Orig.): "Die Sorgfaltstypen der Rechtsprechung werden nicht nur aus normativen Bezügen entwickelt, sie beurteilen auch normativ: Der Sorgfältige, das ist derjenige, der Sorge entfaltet, weil er besorgt ist um Rechtsgüter, um die Richtigkeit seines Verhaltens. Seine 'Gewissenhaftigkeit' resultiert aus rechtlichem Gewissen, seine Besonnenheit ist Besinnung auf das in der Sache Gerechte. Kurz: Der Sorgfaltstyp verkörpert den Standpunkt des Recht; er ist die Personifizierung der Rechtsordnung in der konkreten Situation". 77

78 79

an 81

Zutr. Donatsch, Sorgfaltsbemessung, S. 170 ff. Treffend Kuhlen, Produkthaftung, S. 102. Produkthaftung, S. 101 ff.

Die große inhaltliche und praktische Dimension der unterschiedlichen methodischen Ansätze läßt sich an einem von Kuhlen (Produkthaftung, S. 76, 104 ff.) diskutierten Beispiel aus der (Zivil-)Rspr. aufzeigen (OLG Düsseldorf NJW 1978,1693): Bei einer Nasenoperation brach ein sog. Septummeisel infolge eines Materialfehlers ab und gelangte in die Lunge des Patienten, der hierdurch Verletzungen erlitt. Der auf Schadensersatz verklagte Hersteller des Septummeisels hätte den Materialfehler nur durch Röntgen- oder Ultraschallkontrolle erkennen können; eines solche Kontrolle war freilich in der Operationsinstrumenten-Branche ganz unüblich. Das Gericht argumentierte deduktiv-normativ: Auch wenn eine Kontrolle unüblich sei, sei sie "mit Rücksicht auf die großen Gefahren, die von einem fehlerhaften Opferationsinstrument für den Patienten ausgehen, geboten". Die für eine Kontrolle verbundenen Kosten seien nur erheblich, wenn sie "unzumutbar hoch" seien. Kuhlen wendet hingegen ein, daß es "hochgradig plausibel" sei, daß in der Branche auch gewissenhafte und besonnene Hersteller vorhanden seien. Da auch diese Hersteller derartige Kontrollen nicht durchgeführt hätten und ein "Mißstand" nicht ersichtlich sei, habe - werde das "Maßfigur"-Modell ernstgenommen keine entsprechende Verkehrssicherungspflicht bestanden. 17 Vogel

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Scheidung des Reichsgerichts zu den Verkehrspflichten im Zusammenhang mit der Gewinnung und dem Inverkehrbringen von Milch bezug genommen werden82: Der Grad der hierbei zu fordernden Hygiene sei nicht "nach den einseitigen Gepflogenheiten des einen Teils der Verkehrsbeteiligten, hier eines mehr oder minder großen Kreises der sich mit der Erzeugung und dem Verkaufe der Milch befassenden Landwirte und ihrer Bediensteten" zu bestimmen, sondern nach den "allgemein zu beobachtenden Anforderungen des Verkehrs an ein sachgemäßes Verhalten. ... Eine Unsitte, welche den durch die allgemeinen Verkehrsrücksichten auferlegten Pflichten zuwiderläuft, kann ihre Berechtigung gegenüber dem allgemeinen Verkehre nicht darin finden, daß sie in einem mehr oder minder großen Kreise geübt wird". In einer anderen Entscheidung83 legte das Reichsgericht Wert darauf, daß "nirgends ein Gebot der Sorgfalt oder Vorsicht (statuiert wäre), welches über das gewöhnliche Maß der einem gewissenhaften Manne für normale Verkehrsverhältnisse zu imputierenden Diligenz hinausgeht"; der Handel dürfe nicht "durch Aufstellung mit gewöhnlichen Verkehrsverhältnissen und Verkehrsanschauungen unverträglicher Anforderungen" behindert werden. Allgemeiner gesprochen, sind soziale Verhaltenserwartungen kraft Rolle und Interaktion gegenläufig konturiert: Potentielle Opfer einer normwidrigen Verhaltensweise haben eine (ggf. sehr unspezifische) hohe Erwartung an die Handlungsfähigkeit der potentiell normwidrig handelnden Verletzer; umgekehrt haben potentiell normwidrig Handelnde i.d.R. zu geringe Erwartungen an sich selbst und ihresgleichen. Aus der Rolle bzw. Interaktion selbst lassen sich konkrete Verhaltensmaßstäbe deshalb nur entwickeln, wenn die gegenläufigen - freilich: empirisch nachzuweisenden - Interessen und Erwartungen in ein "kompossibiles Maximum" gebracht werden. Dies geschieht im methodischen Weg eines Angemessenheitsdiskurses im Sinne von Klaus Günther 84. Letztlich ist daher der konkrete Umfang von Sorgfaltsobliegenheiten - ganz im Sinne von Armin Kaufmann - rechtlich autonom zu bestimmen; die Rechtsordnung findet die Rolle bzw. Interaktion vor, bestimmt aber die konkreten Verhaltensmaßstäbe in deren Rahmen85 selbst. 5. Zum Problem des Sonderkönnens und -Wissens bei den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten Bekanntlich ist es ungemein umstritten, ob und auf welcher dogmatischen Stufe (Unrecht oder Schuld) es bei der Fahrlässigkeitszurechnung beacht82 83 84

85

RGSt 39, 2 (bes. 4 f.). RGSt 25, 251 (252 f.); Herv. v. Verf. S. oben § 6 I.

Das heißt: ohne die gesellschaftlichen Konturen der Rolle bzw. Interaktion zu sprengen. Beispielsweise darf von einem (zwingend und unverfügbar) wissenschaftlich vorgebildeten Arzt anderes als von einem Heilbehandler erwartet werden; hier ist das wissenschaftliche Studium Teil der Rolle; zum Problem RGSt 68,12.

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lieh ist, daß ein Täter entweder ein über- oder ein unterdurchschnittliches Können und Wissen aufweist. In den Fällen, in denen der Täter das geforderte Wissen und Können individuell nicht erreichen kann, besteht freilich im Ergebnis Einigkeit darüber, daß dies - vorbehaltlich einer Übernahmefahrlässigkeit 86 - nicht zu Lasten des Täters gehen kann; streitig ist nur, ob dies nach eine vordringenden Lehre bereits die tatbestandliche Zurechnung individualisierend begrenzt87 oder ob - so die h A . - hier ein objektiver Maßstab angelegt und eine individualisierende Prüfung erst auf Schuldebene vorgenommen werden soll88. Uneinigkeit besteht hingegen auch im Ergebnis, wenn der Täter überdurchschnittliches Sonderwissen und -können hat: Während es hier der vordringenden individualisierenden Lehre systemimmanent ist, derartiges Sonderwissen und -können schon tatbestandlich zu berücksichtigen, will es die hA. teils gar nicht89, teils durch eine systemimmanent problematische90 Korrektur der objektiven tatbestandlichen Fahrlässigkeitsmaßstäbe erfassen 91. Fraglich ist aber, ob bei den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten der Streit nicht schon deshalb zugunsten einer individualisierenden Betrachtungsweise zu entscheiden ist, weil der Garant immer nur - aber auch das tun muß, was ihm individuell möglich ist. Nach einer vordringenden Auffassung 92 soll es insofern schon auf Tatbestandsebene nicht möglich sein, individuell nicht erreichbares Wissen und Können dem Garanten kraft (ggf.: Übernahme-)Fahrlässigkeit zuzurechnen: Es sei die Garantenpflicht stets auf das in concreto und individuell Mögliche beschränkt. Beispielsweise soll ein Vater, der wegen Schwerhörigkeit die Hilferufe seines ertrinkenden Kinds nicht rettet, nie qua Fahrlässigkeit haften. Es fehle dann nämlich an der (konkreten) Handlungsfähigkeit, die Voraussetzung für jedes garantenpflichtwidrige Ünterlassen sei. Diese Auffassung ist konsequent, wenn einerseits die Handlungsfähigkeit (allgemein und auch bei den < unechten > Hierzu S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 136; Jakobs, Strafrecht, 9/14 ff.; Neumann, Zurechnung, S. 186 ff.; anschauliches Beispiel aus der Rspr. b. BGH JR 1986, 249 m. Anm. Ulsenheimer, aaO., S. 250 f. 87 Jakobs, Strafrecht, 9/5 ff.; Stratenwerth, in: Jescheck-FS, Bd. I, S. 285 ff.; SK-Samson, Anh. zu § 16 Rdnrn. 13 ff.; krit. Schünemann, JA 1975,575 (577). 88 S. zum Streit nur Jescheck, Lehrbuch, S. 509 ff., 521 ff. mit umf. Nachw. - Anderes soll allerdings beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt gelten, wo nach allgemeinen Grundsätzen schon die Garantenpflicht (Tatbestandsmäßigkeit) durch das individuelle Wissen und Können des Täters begrenzt sei, s. vorerst S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 143 u. noch unten im Text. 89

So insbes. Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 334 ff.; Maurach, Strafrecht, 4. Aufl. (1971), S. 572; ähnlich noch Maurach-Gössel, AT 2, § 43 Rdnr. 31; Jescheck, Lehrbuch, S. 510; weit. Nachw. b. S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 141. - Teils wird auch nach - zu berücksichtigendem Sonderwissen und - nicht zu berücksichtigendem - Sonderkönnen unterschieden, vgl. Hirsch, ZStW 94 (1982), 239 (273). 90 SK-Samson, Anh. § 16 Rdnr. 14b. 91 So insbes. S/S-Cramer, § 15 Rdnrn. 138 ff. m.w.N. 92 S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 143; s. weiterhin Hruschka, in: Bockelmann-FS, S. 421 ff. 17*

2 6 0 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Unterlassungsdelikten) zum Norminhalt gezählt, andererseits einer "Vorverlagerung" des Unterlassens - im Beispiel: daß der Vater es unterlassen habe, seine Hörfähigkeit zu überprüfen und sich auf eine dann ggf. entdeckte Schwerhörigkeit beim Baden etwa durch Bestellung einer Hilfsperson, die auf Hilferufe achtet, einzustellen - nach dem Modus der "omissio libera in causa" abgelehnt wird. Nach dem hier zugrundegelegten Normen- und Pflichtenkonzept zwingt allerdings nichts zu einer derart weitgehenden Berücksichtigung individuell fehlender Handlungsfähigkeit: Der Garant kann sich hierauf nicht berufen, wenn es ihm oblegen hätte, seine Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Derartige Obliegenheiten sind auch teleologisch gerechtfertigt, da der Garant eine besondere Verantwortlichkeit für den Erfolg innehat, die es unter der Voraussetzung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit (§ 15) auch rechtfertigt, daß er für seine Handlungsfähigkeit Vorsorge trägt 93. Hingegen muß der gem. § 323 c hilfspflichtige "Jedermann" derartige Vorsorge nicht treffen - etwa einen Rettungsschwimmerkurs besuchen, um im Falle einer Überschwemmungskatastrophe Menschen retten zu können -; deshalb ist es teleologisch zutreffend, daß § 323 c eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nicht vorsieht . Damit ist grundsätzlich auch bei den fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikten die Bestimmung der Sorgfaltsobliegenheiten normativ und damit "objektiv" oder "generalisierend" vorzunehmen. Allgemein gesprochen läßt sich die Frage nach dem individuellen Versagen des Täters überhaupt nur stellen, wenn das an Vorsorge zu Leistende als objektiver Maßstab vorgegeben ist95. Dies bedeutet aber, um auf das Eingangsproblem zurückzu93

94

I.E. ebenso Jakobs, Strafrecht, 29/93 f.

95 Kindhäuser

, Gefährdung, S. 68. Kindhäuser , Gefährdung, S. 67 f. Eine andere Frage ist es, ob die subjektiv-individualisierende Korrektur wirklich erst auf Schuldebene vorzunehmen ist. Gegen eine Tatbestandslösung spricht nach dem hier zugrundegelegten Normenkonzept nicht, es könne die Rechtswidrigkeit (im Sinne des Verbotenseins) der Handlung oder Unterlassung nicht von den individuellen Fähigkeiten des Täters abhängen (so aber z.B. S/S-Cramer , § 15 Rdnr. 142): Das Verbotensein ist unabhängig von der Kategorie der (aktuellen oder potentiellen) Handlungsfähigkeit des Täters. Damit ist grundsätzlich der Weg zu einer bereits im Bereich (tatbestandlichen Unrechts) individualisierenden Bestimmung der außerordentlichen Zurechnung qua Fahrlässigkeit eröffnet; es ist Jakobs (Strafrecht, 9/8 f.) darin recht zu geben, daß die "Zurechnung zum individuellen Täter" auch die Berücksichtigung seiner individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten bereits im Handlungs- und Tatbestandsbereich erfordert. Im Ergebnis ist daher mit der h.A. zweistufig (objektiv und subjektiv) zu prüfen, wobei freilich beide Stufen auf derjenigen der Zurechnung zum tatbestandlichen Unrecht angesiedelt sind. Konnte der Täter die objektiv prästierte Sorgfalt nach seinen individuellen Fähigkeiten und Kenntnissen nicht erreichen, so ist - kann ihm nicht insoweit eine Obliegenheitsverletzung höherer Stufe qua Übernahme vorgeworfen werden - bereits die Zurechnung zum tatbestandlichen Unrecht als Pflichtverletzung ausgeschlossen; konnte er sie erreichen, so ist die auch individuelle außerordentliche Zurechnung begründet. Eine zweistufige Prüfung auf einer Deliktsstufe - freilich derjenigen der Schuld - wurde bereits von RGSt 39, 2 (5); Frank, § 59 Anm. VIII 4); LK-Mezger, 8. Aufl. (1957/58), § 59 Anm. III 22 b); Eb. Schmidt , Arzt, S. 173 vertreten; krit. - insoweit das Schuldurtci 1 "objektiviert"

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kommen, nicht ohne weiteres, daß Sonderwissen und -können stets unbeachtlich sei; vielmehr ist eine zwischen Sonderwissen (1) und Sonderkönnen im Sinne von besonderen Fähigkeiten (2) differenzierende Lösung geboten. (1) Wird die Fahrlässigkeitszurechnung im hier vorgelegten Modell nochmals näher betrachtet, so kann sie entsprechend der Vorsatzzurechnung im Modell des "praktischen Syllogismus" konstruiert werden96: Als Intentionsprämisse wird vorausgesetzt, daß der Täter die nach seiner Rolle und nach dem Interaktionszusammenhang gebotenen Vorsorgehandlungen treffen will. Sodann ist seine Situationseinschätzung - sc. das Wissen um "vorsorgerelevante" Umstände - zu ermitteln 97. Ergibt sich hierbei, daß der Täter solche Umstände kannte und tat er gleichwohl nichts, um Vorsorge für spätere gefährliche Situationen zu treffen, so handelt er obliegenheits(sorgfaltspflicht-)widrig. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob ein aktuell vorhandenes Wissen um vorsorgerelevante Umstände selbst in der Rolle bzw. dem Interaktionszusammenhang erwartet werden konnte oder bloß akzidentiell erlangt worden ist, sofern es nur dem Normadressaten (Begehungstäter oder Garanten) obliegt, Vorsorge gegen (späteres) normwidriges Verhalten zu treffen: Entdeckt z.B. der verkehrssicherungspflichtige Hauseigentümer bei einer Begehung des Dachbodens - ohne daß ihn hierzu eine Obliegenheit träfe - lose Ziegel98, so muß er - seiner Obliewerden sollte - S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 131. Der Sache nach stimmt ein derartiges Modell des weiteren in weiten Teilen mit dem von Engisch (Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 358 ff.) im Anschluß an Binding (Normen, Bd. IV, S. 513 ff. ) vorgelegten überein: Wie hier (und wie es bereits Binding tat) bestimmte Engisch die Sorgfaltspflichten im Sinne desjenigen, was vom Standpunkt des Rechts aus - also insofern "objektiv" - nach den persönlichen Eigenschaften und Verhältnissen des Täters - also insofern "individuell" - zur Gefahrenvorsorge zu tun ist. Dem (materiellen) Schuldurteil hingegen wies Engisch in Auseinandersetzung mit den älteren Lehren von der Verstandes-, Willens- und Gefühlsschuld bei der Fahrlässigkeit (vgl. aaO. S. 451 ff. m.w.N.) das mangelnden Interesse an der Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung und an der Erfüllung der Rechtspflichten zu (aaO. S. 470). Mit "Interesse" sei hierbei die Besorgnis, kein Unrecht zu begehen, gemeint (aaO., S. 474). Hierdurch gelangte Engisch zu einer einleuchtenden materiellen Unterscheidung zwischen dem Urteil des Unrechts und dem der Schuld: Beim ersten werde das (Willens-)Verhalten des Täters am Maßstab der gesetzlichen Tatbestände (deren Teil nach Engisch die Sorgfaltspflicht ist) gemessen; beim zweiten werde ermittelt, "daß und in welchem Grad die (rechtswidrige) Tat in mangelndem Interesse an der Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung ihre Erklärung findet" (aaO. S. 477). Für die Schuldzurechnung beim Fahrlässigkeitsdelikt bleibt mithin (nur) die Frage, warum der Täter nicht die Intention hatte, ihm erreichbare Vorsorge zu treffen, etwa weil er sich über Bestand oder Reichweite der Sorgfaltsobliegenheit irrte (analog § 17) oder in einer Notstandslage befand (entschuldigende Unzumutbarkeit). Die Unkenntnis der obliegenheitsbegründenden Umstände - sc. die Erkennbarkeit der möglichen Tatbestandsverwirklichung - ist hingegen entgegen Engisch (aaO., S. 365 ff.) keine Schuld-, sondern eine Unrechtsfrage. Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 73 ff. 97 Dieses Wissen stellt den "subjektiven Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts" dar; eingehend Struensee, JZ1987,53 ff.; teilsweise krit. hierzu aber Roxin, Strafrecht, § 24 Rdnrn. 66 ff. 98

Beispiel nach Jakobs, Strafrecht, 29/30; ebenso OLG Braunschweig VRS 13 286; Jescheck, Lehrbuch, S. 509; Wessels, Strafrecht, S. 208; zur umgekehrten Konstellation des Vergessens von Sonderwissen BGHSt 14,52 (54).

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genheit entsprechend - diese unverzüglich sichern. Dies ist keine Besonderheit der Fahrlässigkeitdelikte, sondern gilt ebenso bei den Vorsatzdelikten: Wer "zufällig", also ohne daß die Kenntnis von ihm erwartet werden kann, um die Tatbestandsrelevanz seines Verhaltens weiß, ist nach ganz allgemeiner Auffassung verpflichtet, sein Verhalten hierauf einzurichten". Anders liegt es bei nur potentiell vorhandenem, nicht aber auf die aktuelle Situation bezogenem Sonderwissen, welches der Normadressat (Begehungstäter oder Garant) hätte aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten erreichen können. Hier kann eine Zurechnung nur durch eine Obliegenheitsverletzung "höherer Stufe" erreicht werden; es stellt sich das Problem des Sonderkönnens. (2) In welchem Umfang eine Obliegenheit zum Einsatz von Sonderkönnen - Sonderfähigkeiten - besteht, ist nach dem hier vorgelegten Konzept rollen- und interaktionsbezogen zu bestimmen100. Der Einsatz des Sonderkönnens kann hiernach bereits zur Rollendefinition und zur "Zuständigkeit" des Normadressaten (Begehungstäter oder Garant) gehören; beispielsweise muß ein Forscher, der eine besonders gefährliche Versuchsanlage (etwa ein Gen-Laboratorium) betreibt, seine Sonderfähigkeiten (Wissen um Gefahrvermeidungsstrategien, technische Umsetzung) zur Vermeidung von Schäden einsetzen, und ebenso kann sich der zum Rettungsschwimmer ausgebildete Strandwächter nicht darauf berufen, die gefährliche Rettung sei einem gewöhnlichen Schwimmer unmöglich gewesen. Hingegen gilt in Rollen- und Interaktionszusammenhängen, die ein Sonderkönnen nicht generell voraussetzen, daß ein solches Können nicht eingesetzt werden muß; deshalb muß der Berufskraftfahrer in seiner Rolle als Teilnehmer am allgemeinen Straßenverkehr - etwa bei einem Wochenendausflug - seine ggf. bestehenden besonderen Fähigkeiten nicht einsetzen, um Gefahren zu erkennen und zu vermeiden 101. III. Insbesondere zu den sog. Verkehrssicherungspflichten (Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge) 1. Sicherungs- oder auch Rettungspflichten? Es ist auffällig, daß in der Rechtsprechung diejenigen Fälle unechter Unterlassungsdelikte, die auf der Garantenstellung aus "Verkehrssicherung" Beispiel: Erfährt ein Koch bei der Zubereitung eines Pilzgerichts durch einen besonders sachkundigen Dritten - ohne daß es ihm oblegen hätte, diesen zu Rat zu ziehen daß ein ganz seltener, unbekannter Giftpilz verarbeitet wurde, so darf er das Gericht nicht ausgeben (ansonsten §§ 223 oder gar 212,211!). 100 Zutr. Jakobs , Strafrecht, 9/11 u. bereits 7/49 f. 101 Ähnlich Schmidhäuser , in: Schaffstein-FS, S. 131 (151); LK-Schroeder, § 16 Rdnr. 146 f.; Sc hünemann, JA 1975,511 (514).

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oder aus "Herrschaft über (sachliche) Gefahrenquellen" 102 beruhen, stets nur als Fälle der Fahrlässigkeitshaftung behandelt wurden 103. Für eine Vorsatzhaftung hat die Rechtsprechung hingegen stets - und bis in neueste Zeit 104 auf die Garantenstellung aus Ingerenz zurückgegriffen. Offensichtlich hat dieser Befund Schröder 15 dazu geführt zu postulieren, daß aus der Garantenstellung des Verkehrssicherungspflichtigen stets nur "Sicherungs-", nie aber "Rettungspflichten" folgen: Verkehrssicherungspflichten gehen hiernach (nur) auf die Sicherung einer Gefahrenquelle im "Vorfeld" drohender Schäden, nicht aber auf (ggf. qua Vorsatz zurechenbare) Rettung des Gefährdeten, wenn sich die Gefahr bereits in einer Verletzung realisiert hat, aber ein weiterer Schaden droht. Beispielsweise soll es dem Hauseigentümer zwar obliegen, für die sichere Befestigung von Ziegeln auf seinem Dach zu sorgen; stürzt jedoch ein Ziegel herab und verletzt einen Passanten, der zu sterben droht, so soll eine Rettungspflicht nur unter der Voraussetzung entstehen, daß ein vorhergehendes (pflichtwidriges) vorangegangenes Tun (oder Unterlassen) angegeben werden kann. Näher begründet worden ist diese Lehre vor allem von Schünemann106. Nach Schünemanns - noch zu kritisierendem 107 - Grundansatz, daß nur "gegenwärtige, in die Zukunft gerichtete Herrschaft über den Grund des Erfolges dessen Zurechnung rechtfertigen kann", ist zu fordern, daß die Herrschaft über den Gefahrenbereich noch im Zeitpunkt der Unterlassung vorhanden und dieser Herrschaftsbereich noch eine gegenwärtige Gefahrenquelle sein muß; mithin beschränken sich die Verkehrssicherungspflichten - wie sämtliche Überwachungsgarantenpflichten 108 - auf die "Eindämmung der Gefahrenquelle", die 102

Vgl. hierzu monographisch vertiefend: Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 235 ff.; Herzberg, Unterlassung, S. 315 ff.; Schünemann, Grund und Grenzen, S. 281 ff.; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 241 ff.; sowie aus der Lehrbuch- und Kommentarliteratur: Baumann/Weber, Strafrecht, S. 249 (s. auch vertiefend Weber, in: Oehler-FS, S. 83 ff.); Dreher/Tröndle, § 13 Rdnr. 12; Jakobs, Strafrecht, 29/29 ff.; LK-Jescheck, § 13 Rdnrn. 35 ff.; Jescheck, Lehrbuch, S. 566 f.; Lackner, § 13 Rdnr. 13; Maurach-Gössel, AT 2, § 46 Rdnr. 103; Otto, Grundkurs, S. 193 f.; SK-Rudolphi, § 13 Rdnrn. 27 ff.; Schmidhäuser, Studienbuch, 12/33 ff.; Stratenwerth, Strafrecht, Rdnrn. 1019 ff.; S/S-Stree, § 13 Rdnrn. 43 ff., Wessels, Strafrecht, S. 231. - Aus zivilrechtlicher Sicht zus.fas. Christian v. Bar, Verkehrspflichten, passim. 103 Grundlegend war RGSt 14, 362 (Pflicht des Hauseigentümers zur Beleuchtung des Treppenhauses); s. weiterhin RGSt 6, 64 u. 249; 15, 58; 16, 290; 19, 304; 33, 346; 56, 343; BGHSt 3, 203; 19, 286 (hier taucht auf S. 288 zum ersten Mal in der Amtl. Slg. der Begriff "Verkehrssicherungspflicht" auf); die strafrechtl. Rspr. zusammenfassend BGH NJW 1971, 1093 u. 1973,1279 m. abl. Anm. Hepp, NJW 1973, 2085 u. zust. Anm. Hummel, NJW 1974,170 ("Jenner Bergbahn"); s. auch BGHSt 37,106 (114 f."Lederspray"). 104 Zuletzt in BGHSt 37,106. 105 In: S/S, 9. Auf. (1959), Vorbem. vor § 1 VI 2 b) a.E.; ebenso noch S/S-Stree, § 13 Rdnrn. 43 ff. (mit der bemerkenswerten, aber nicht belegten und mit Beispielen veranschaulichten Aussage, die Verkehrssicherungspflichten könnten auch vorsätzlich verletzt werden dann bewußte Fahrlässigkeit oder wirklich Vorsatz?); im gleichen Sinne LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 35; SK-Rudolphi, § 13 Rdnr. 31. 106

Unterlassungsdelikte, S. 288 ff. m.w.N. S. unten §10IV 4. zu (4).

107

108

Zur hiermit gemeinten "Funktionenlehre" s. die Kritik unten § 10 IV 3.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

freilich nicht nur durch unmittelbar-mechanische Einwirkung auf die Gefahrenquelle, sondern durch jede Maßnahme zur Beseitigung ihrer Gefährlichkeit, z.B. auch durch "Abschirmung" kraft Warnung oder Hinweis109. Die Lehre Schröders und Schünemanns ist freilich auch auf Ablehnung gestoßen. Nach Welp kann Gefahrvermeidung - der Grundgedanke der Verkehrssicherungspflichten - durch "akzessorische", d.h. ein positives Tun begleitende, sowie durch "komplementäre", d.h. ihm nachfolgende (und damit ein Unterlassen begleitende) Sicherungsmaßnahmen geleistet werden. Im Anschluß an Engisch110 weist Welp111 darauf hin, daß es ganz von den Umständen des einzelnen Falles abhängt, ob akzessorische oder komplementäre Sicherungsmaßnahmen getroffen werden können oder müssen. Häufig bestehen sogar von Rechts wegen Wahlmöglichkeiten; so hätte in RG Rspr. 3, 641 das angeklagte Dienstmädchen das beim Spielen im Hausflur durch kochende Seifenlauge getötete Kind entweder vor dem Aufstellen der Wanne mit der Lauge fortschicken oder es danach beaufsichtigen können und müssen. Diese "fraglose Austauschbarkeit" bestehe aber auch dann weiter, wenn sich die zu vermeidende generelle (genauer: abstrakte) Gefahr zu einer konkreten verdichtet habe, wenn z.B. ein Passant in eine Baugrube gestürzt sei, sich lebensbedrohlich verletzt habe und zu sterben drohe 12 . In diesem Fall sei die Rettungspflicht ausschließlich "Funktion der tatsächlichen Veränderung, der die Situation inzwischen unterworfen war" 113. - Auch nach Herzberg verlangen die Verkehrssicherungspflichten, schadensträchtige Verläufe "an ieder noch möglichen Stelle zu unterbrechen" 114. Ähnlich meint Brammsen1 5 , die strafrechtliche Bedeutung eines Verhaltens werde wesentlich vom eingetretenen Erfolg mitbestimmt. Es handele sich bei den gemeinten Fällen lediglich um einen "Austausch des Herrschaftsobjekts" 116. Es sei für das Opfer irrelevant, ob die Verletzung qua Sorgfaltswidrigkeit herbeigeführt worden sei - dann liegt auch nach h.L. eine Rettungspflicht aus Ingerenz vor - oder nicht. 2. Normentheoretischer Lösungsansatz Eine Entscheidung des Streits setzt voraus, daß über den normentheoretischen Status der Verkehrssicherungspflichten Klarheit besteht. Hier besteht 109 1 1 0Schünemann,

Unterlassungsdelikte, S. 289. Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 294. 111 Vorangegangenes Tun, S. 212 ff. 112 Wobei es gleich ist, ob die Baugrube hinreichend gesichert war oder nicht, Welp , Vorangeganges Tun, S. 234 f. 113 Welp , Vorangegangenes Tun, S. 233. 114 Herzberg, Unterlassung, S. 323. 115 Entstehungsvoraussetzungen, S. 241 ff. 116 Gemeint ist: Die Hilflosigkeit des Opfers gegenüber zu vermeidenden Verkehrsgefahren wandelt sich in eine Hilflosigkeit, die aufgrund realisierter Gefahren (weiterhin) droht.

§ 8 Die fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte

265

aber eine - verdeckte - Unklarheit, die dem Streit um die an sich nur terminologische Frage, ob von "Verkehrssicherungs-" oder von "Verkehrspflichten" zu sprechen sei117, zugrundeliegt. So wendet sich Welp ausdrücklich gegen die (im Zivilrecht gängige) Bezeichung allgemeiner Sorgfaltspflichten - also auch derjenigen beim Begehungsdelikt - als Verkehrspflichten 118. Beim Unterlassungsdelikt will Welp unterscheiden: Gehe es um "physisch wirkende riskante Einzel-Handlungen" - m.a.W. um IngerenzFälle -, so könne von "Verkehrspflicht" gesprochen werden; gehe es hingegen um die Zustandshaftung kraft Verkehrseröffnung, so sei (nur) die Rede von "Verkehrssicherungspflichten" zulässig. Daher sei beispielsweise die Pflicht, eine Straße von herabgefallenen Lehmbrocken zu säubern, für den Fahrer des verschmutzten Ackerfahrzeuges Verkehrspflicht, für den (Straßen-)Unterhaltungspflichtigen hingegen Verkehrssicherungspflicht 119. Auch nach Brammsen dürfen die Verkehrssicherungspflichten nach Grund und Inhalt nicht mit den "sog. 'Verkehrspflichten', die lediglich die an Jedermann gerichteten Sorgfaltspflichten erfassen", verwechselt werden: So hätten Fußgänger wie Kraftfahrzeugführer zahlreiche Sorgfaltspflichten, jedoch sei nur letzterer aufgrund des ihm "überantworteten" besonderen sozialen Einflußbereiches zur "Verkehrssicherung" verpflichtet 120. Positives Tun sei stets "eingerahmt" von Sorgfaltspflichten, die das "Wie" eines Verhaltens bestimmen. Diese Pflichten zur Vermeidung rechtsgutsverletzender Erfolge lägen jedem Straftatbestand zugrunde und würden von diesem nicht konstituiert, sondern vorausgesetzt: "Alle Delikte (sc. sowohl das Unterlassungs- als auch das Fahrlässigkeitsdelikt) sind Pflichtdelikte, die sich lediglich im Täterkreis - Jedermann- oder Sonderpflichtdelikte - unterscheiden"121. 117 Die Terminologie ist umstritten. V.a. im Zivilrecht hat sich weitgehend die Rede von den Verkehrspflichten durchgesetzt. Zwar sprach das RG anfänglich von der "Fürsorgepflicht" für die "verkehrssichere Beschaffenheit" von dem öffentlichen Verkehr gewidmeten Sachen (RGZ 54, 53 ) und von der Verpflichtung, für die "Sicherheit der in einem Hause verkehrenden Personen zu sorgen" und die dem "allgemeinen Verkehre dienenden Räume so einzurichten, daß sie ohne Gefahr passiert werden können" (RGSt 14, 362 ). Einem Vorschlag von Josef (Gruch. 52 , 525 < 543>) folgend verwendete deshalb die ältere Lehre den Terminus der Verkehrssicherungshaftpflicht oder kurz: der Verkehrssicherungspflicht, ebenso noch heute - im Strafrecht - LK-Jescheck, § 13 Rdn. 35; Lackner, § 13 Rdnr. 11; Maurach-Gössel, AT 2, § 46 Rn. 79 und - im Zivilrecht - Palandt-Thomas, § 823 Anm. 8. Jedoch vollzog bereits das RG (in Z 102, 373 ) den sprachlichen Übergang von der Verkehrssicherungs- zur Verkehrspflicht, was Christian v. Bar (Verkehrspflichten, S. 43 f., 49) damit erklärt, daß es um Pflichten in bezug auf bewegliche Sachen - in casu: ein milzbrandinfiziertes Rind - gegangen sei, weshalb der Terminus der Verkehrssicherungspflicht in bezug auf unbewegliche Sachen beizubehalten sei; ähnlich heute - im Strafrecht - Jakobs, Strafrecht, 29/29 u.ö.; SK-Rudolphi, § 13 Rdnr. 29; Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 281 u.ö. u. - im Zivilrecht - Lorenz, Schuldrecht II, S. 611 ff.; MünchKomm-MiTims, § 823 Rdnrn. 83,177 u.ö. 118

119 120

121

Welp, Vorangegangenes Tun, S. 242 in Fn. 289. Welp, Vorangegangenes Tun, S. 241 f. Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 237 in Fn. 78 und bereits 111 f. Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 248.

2 6 6 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Es zeigt sich, daß der Streit und die Unklarheiten mit dem oben kritisierten 122 Rechtspflicht-Modell der Fahrlässigkeit zusammenhängen: Wenn Garanten- und Sorgfaltspflicht zusammenfallen, dann ist es konsequent, im Falle der auf Gefahrenvorsorge gerichteten Verkehrssicherungspflichten die Garantengebote auf Vorsorge- und Sicherungsmaßnahmen zu beschränken. Nach dem hier vorgelegten Modell beruhen aber "Sicherungsmaßnahmen" auf den Verkehrssicherungspflichten im Sinne derjenigen Obliegenheiten, die den Garanten kraft Verkehrssicherung treffen; insoweit trifft also die Rechtsprechung zu, die den Verkehrssicherungspflichten Garanten stets (nur) qua Fahrlässigkeit hat haften lassen. Das den Verkehrssicherungspflichtigen treffende Garantengebot ist hingegen - wie jedes Garantengebot 123 - ein Erfolgsabwendungsgebot. Von Erfolgsabwendung kann aber wie dargelegt124 - nur gesprochen werden, wenn eine konkrete Gefahr tatbestandsmäßig-normwidrigen Verhaltens besteht: Das Einzäunen einer Baugrube ist keine (Haupt-)Handlung der Lebensrettung, sondern eine (Hilfsund) Vorsorgehandlung zur Verhütung von Lebensgefahren 125. Damit sind Rettungsgebote geradezu normentheoretische Voraussetzung der Verkehrssicherungspflichten; es ist logisch ausgeschlossen, jene abzulehnen, diese aber zu postulieren. Rettungsgebote und Verkehrssicherungspflichten laufen also parallel; das Bestehen beider ist von dem Bestehen einer einschlägigen Garantenstellung abhängig. 3. Parallelität von Ingerenz und Verkehrssicherung Eine wichtige Implikation dieser normentheoretischen Auffassung ist es, daß nicht nur der Pflichteninhalt, sondern auch der Haftungsgrund bei Ingerenz und Verkehrssicherung parallel geartet sein muß. Diese - bekanntlich in der Literatur sehr umstrittene 126 - These liegt der Formel der ständigen Rechtsprechung zugrunde, es müsse "derjenige, der Gefahrenquellen 'schafft', d.h. sie selbst hervorruft oder andauern läßt, alle nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zum Schutze anderer 122 123 124

125

S. oben § 8 I 2. S. oben § 3 15. S. oben § 7 II 3. mit Fn. 98.

Daher muß Welp (Vorangegangenes Tun, S. 232) Vorsatzfälle (der Bauherr unterläßt die Einzäunung der Baugrube, damit ein Passant hineinfalle und sich verletze oder sterbe) als "omissio libera in omittendo" erfassen; gegen diese Möglichkeit aber oben § 3 III 4.; 7 II 3. mit Fn.1108 f. 26 Die h.L. sieht den Haftungsgrund der Ingerenz in einem pflichtwidrigen - objektiv sorgfaltswidrigen - Vorverhalten, den der Verkehrssicherung^pflichten hingegen in der "Sachherrschaft" oder der "Verantwortung für Gefahrenquellen im eigenen Herrschaftsbereich"; s. die Nachw. b. Lackner, § 13 Rdnr. 13; zutr. dagegen - und i.E. wie hier - hingegen ders. y aaO: "Dieser Ansatz (sc. das Abstellen auf die Pflichtwidrigkeit der Vorhandlung bei Ingerenz) gibt den Grund für die Haftung nicht zutreffend an ... was übrigens bei rechtmäßiger Eröffnung von Gefahrenquellen unter dem Gesichtspunkt der Sachherrschaft unbestritten ist".

§ 8 Die fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte

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Personen" treffen 127. Genauer gesagt liegt dieser einheitliche Haftungsgrund darin, daß durch (auch an sich rechtmäßige, jedenfalls nicht zwingend pflichtwidrige) Wahrnehmung von (Organisations-) Freiheit ein Risiko entsteht, welches das Maß des erlaubten Risikos überschreitet 128. Genau diese Auffassung liegt aber auch dem "Lederspray-Urteil" des Bundesgerichtshofs zur Rückrufpflicht des Warenherstellers zugrunde129: Hier wird zur Begründung der Ingerenz ein "objektiv pflichtwidriges" 130 Verhalten bereits aus der objektiven Gefährlichkeit der in Verkehr gebrachten Ledersprays hergeleitet, was teils aus einem "allgemeinen Gefährdungsverbot", teils aus § 30 Nr. 2 LMBG 1 3 1 abgeleitet wird. Nichts anderes kann aber bei den Verkehrssicherungspflichten gelten: Sofern ein unerlaubt gefährlicher Zustand eingetreten ist, haftet der Verkehrssicherungspflichtige (und zwar auch auf Rettung)132. Einschränkungen können sich hier - parallel bei Verkehrssicherung und bei Ingerenz - nur aus den bereits behandelten133 Gesichtspunkten außergewöhnlicher höherer Gewalt und der ausschließlich eigenen Schuld des Opfers oder eines Dritten ergeben. Daher besteht in der Tat - insoweit ist Schröder und Schünemann recht zu geben - keine Rettungspflicht (aber auch bereits keine Sorgfaltsobliegenheit!), wenn durch einen außergewöhnlichen Sturm Ziegel abgeworfen werden und Passanten verletzen (oder wenn ein rechtswidrig Eingedrungener vom Dach aus mit Ziegeln auf Pas-

127

So BGH (ZS) LM Nr. 95 zu § 823 (De) BGB, S. 2; ähnlich BGH NJW 1971, 1093: Es habe "deijenige, der eine Gefahrenlage schafft oder andauern läßt, in seinem Verantwortungsbereich die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, ... um eine Schädigung anderer tunlichst abzuwenden"; vgl. weiterhin LG Aachen, JZ 1971, 507 (515): "Es ist anerkannten Rechts, daß deijenige, der eine Gefahrenquelle schafft, auch die Pflicht hat, den Eintritt von Schäden zu verhindern". 128 S. unten § 10IV 7. zu (2). 129 BGHSt 37,106 (118 f.). 130

Dies ist freilich mißverständlich und zu Recht von der Lit. kritisiert worden; vgl. Bloy, DRspr. 1990, 1733 (1734 oben): Die Annahme eines "objektiv pflichtwidrigen" Verhaltens träfe nur dann zu, wenn die objektive Fahrlässigkeit ungeachtet von Erkennbarkeits- und Vermeidbarkeitsaspekten auf die Überschreitung des erlaubten Risikos reduziert würde. 131 Der es verbietet, "Gegenstände oder Mittel, die bei bestimmungsgemäßem ... Gebrauch geeignet sind, die Gesundheit durch ihre stoffliche Zusammensetzung ... zu schädigen", in Verkehr zu bringen. 132 Bloy hat in seiner Anm. zu dem Urteil (oben Fn. 130) gerügt, hier werde mit zivilrechtlichen ei/ö/gybezogenen Kategorien gearbeitet, selbst wenn es BGHSt 37, 106 (114 f.) ausdrücklich offengelassen habe, inwieweit die "schadensersatzorientierte" Haftungsbegründung bei den zivilrechtlichen Verkehrssicherungspflichten ins Strafrecht übertragbar sein könne. Demgegenüber, so Bloy, stehe im Strafrecht eine verhaltensbezogcne Pflichtenbegründung im Vordergrund. Dies trifft zu, aber nur für die Pflichten im engeren, rechtstheoretischen Sinne, nicht für die hier zu konstituierenden Erfolgsabwendungsgebote, die vorrangig rechtsguts- und damit erfolgsbezogen begründet werden müssen. - Zum Verhältnis strafrechtlicher Gebote zu außerstrafrechtlichen Geboten s. noch unten § 10 III 4. 133

S. oben § 6 III, IV.

2 6 8 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

santen wirft 134 ); es besteht dann nur die allgemeine Solidaritätspflicht des § 323 c 135 . Ebenso ist bei "trespasser"-Fällen - beispielsweise dem unbefugten Betreten eines in jeder Hinsicht ordnungsgemäß abgesperrten und gesicherten gefährlichen Geländes - keine Rettungspflicht gegeben, wenn sich der "trespasser" verletzt 136. In diesem Sinne können aber auch die gegen Schünemann gerichteten Ausführungen des Bundesgerichtshofs zu den strafrechtlichen Rückrufpflichten verstanden werden 137: Wenn hier maßgeblich auf die "Handlungsmöglichkeit ... des Gefahrverursachers" abgestellt wird, der als Produzent "den umfassendsten Überblick (habe)", so wird damit - im Umkehrschluß - bedeutet, daß die (End-) Verbraucher ein relevantes Wissensdefizit haben. Damit aber ist es ausgeschlossen, ihnen die alleinige Schuld an den aufgetretenen Schädigungen zuzuweisen; ein Fall allein zu verantwortender Selbstgefährdung der (End-)Verbraucher liegt gerade nicht vor 138 . 4. Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge In welchem Sinne Verkehrssicherungspflichten Sicherungsobliegenheiten sind (und in welchem ihnen Rettungsgebote zugrundeliegen), kann durch 134

So das treffende Beispiel von Jakobs, Strafrecht, 29/31 in Fn. 57; s. weiterhin Herzberg, Unterlassung, S. 299 f. 135 Nichts anderes gilt - um ein berühmtes Beispiel Traegers aufzugreifen -, wenn ein Luftschiffer auf einem Grundstück abstürzt und sich hierbei schwer verletzt. Hierbei ist die Begründung, der Grundstückseigentümer sei deshalb nicht rettungspflichtig, weil sich hier keine spezifisch auf Grundstücke bezogene Gefahr verwirklicht habe (so Herzberg, Unterlassung, S. 327), nicht immer zutreffend, wenn der Luftschiffer z.B. in eine ausgehobene Grube gefallen ist und sich deshalb besonders schwer verletzt hat. 136

Anderes gilt, wenn Dritte einen für sich verkehrsgefährlichen und generell in den "Zuständigkeitsbereich" des Verkehrssicherungspflichtigen fallenden Zustand schaffen. So bildet Herzberg (Unterlassung, S. 330) das Beispiel, daß Dritte den Hauszugang in einer Winternacht mit Wasser überfluten, so daß sich morgens eine spiegelglatte Eisfläche gebildet hat, für welche der Hauseigentümer verkehrssicherungspflichtig ist. Zweifelhaft ist freilich die weitere These von Herzberg (aaO., S. 331), daß durch bloßen Zeitablauf das Werk des Dritten zum eigenen des Verkehrssicherungspflichtigen werden kann. Wenn - so das Beispiel Herzbergs - ein Dritter jemanden in einen fremden Keller eingesperrt hat, was der Hauseigentümer bemerkt und zum Anlaß nimmt, den Eingesperrten verhungern zu lassen, liegt in Wahrheit ein Fall der zuerst genannten Fallgruppe vor. 137 BGHSt 37,106 (119 ff., 121). loa

Zutreffend erwägt der BGH (St 37, 106 ), daß bei entsprechend deutlichen und zutreffenden Warnhinweisen eine Rückrufpflicht u.U. entfällt, da dann eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung vorgelegen hätte. Der (verkehrssicherungs-)pflichtbegrenzende Aspekt des Selbstverantwortungsprinzips wird besonders deutlich bei dem Fall der "Jenner Bergbahn" (BGH NJW 1970,1093, bes. 1094 f.). Hiernach sollen keine Verkehrssicherungspflichten in bezug auf Gefahren bestehen, welche zwangsläufig mit dem Verkehr verbunden sind und von den Verkehrsteilnehmern - in casu: von Skifahrern - bewußt in Kauf genommen werden. Insofern können nur "atypische" Gefahren, die nicht ohne weiteres erkennbar und vermeidbar sind, pflichtenbegründend wirken. Daher lehnte der BGH auch eine Pflicht zu Sperrung der vereisten Piste ab und verlangte allein eine - freilich unterbliebene - Warnung vor der Vereisung.

§ 8 Die fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte

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das Begriffspaar "Gefahrenvorsorge" - "Gefahrenabwehr" verdeutlicht werden. Hierzu ist freilich in der gebotenen Kürze auf den hochumstrittenen Begriff der "Gefahr" selbst einzugehen139. Die ganz h A. bestimmt Gefahr als theoretischen Begriff, nämlich als die "nicht ganz fernliegende Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts" 140. Dabei wird auf ein objektives ex anteUrteil abgestellt, da ex post im Einzelfall - um den es bei der strafrechtlichen Beurteilung geht - immer feststeht, ob der Erfolg eingetreten ist oder nicht. Unter Zugrundelegung eines deterministischen Weltbildes steht freilich auch ex ante immer fest, ob der Erfolg eintreten wird oder nicht. Dies hat bereits v. Buri 141 und Finger 142 dazu geführt, auf einen subjektiven Wahrscheinlichkeits- und Gefahrbegriff zu rekurrieren: Wenn ex ante niemand prognostizieren kann, ob der Erfolg eintreten wird oder nicht, liege eine Gefahr vor. Da freilich die Tatbestandsverwirklichung stets ex post beurteilt wird, hat Horn 143 diese Lehre dahin präzisiert, daß eine Gefahr dann vorliege, wenn entweder der Erfolg eingetreten sei (und dies kausal durch das Täterverhalten erklärt werden kann) oder aber das Ausbleiben des Erfolgs - was nachzuweisen ist - nicht erklärt werden kann. - Entscheidend gegen diese Lehren, die einen theoretischen Gefahrbegriff zugrundelegen44, spricht aber, daß durchaus unklar ist, warum Wahrscheinlichkeiten oder Möglichkeiten des Erfolgseintritts in diesem Sinne irgend norm- oder zurechnungsrelevant sein sollen. Derartige Wahrscheinlichkeiten oder Möglichkeiten sind ubiquitär; jedes Verhalten steht unter der Bedingung der Unsicherheit über die Folgen. Es ist deshalb den vordringenden Lehren 145 recht zu geben, daß dem Gefahrurteil, soweit es strafrechtlich relevant sein soll, ein normativer Kern inne sein muß: Es gilt, einen praktisch-normativen Gefahrbegriff zu entwickeln. Auf der hier interessierenden Zurechnungsebene kann hierzu an dem Zentralbegriff der Zurechnung, der Vermeidbarkeit, angeknüpft werden 146. Das Gefahrprädikat kommt hiernach solchen Situationen zu, in denen ein Schadens- (Erfolgs-)Eintritt nicht intentional

139 Nach dem klassischen Diktum Bindings (Normen, Bd. IV, S. 374 f., 382 f.) ist "Gefahr" ein "Wechselbalg von Begriff", der in Theorie und Praxis eine "unheimliche Rolle" spiele und, wenn er zu weit gefaßt werde, selbst "gemeingefährlich" sei. 140 S. nur Maurach-Schroeder, BT 2, § 50 Rdnrn. 19 ff. mit umf. Nachw. 141 GS 40 (1888), 503 ff. u. 44 (1891), 323 ff. 142 In: Frank-FG, S. 230 ff. 143 Gefährdungsdelikte, S. 115 ff.

144

Eingehende wissenschaftstheoretische Kritik findet sich bei Kindhäuser, Gefährdung, S. 1891 ff. 45 S. Demuth, Gefahrbegriff, bes. S. 185 ff.; Schünemann, JA 1975, 787 (796 f.). 146

Zum folgenden eingehend Kindhäuser, Gefährdung, S. 201 ff.

2 7 0 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

(gezielt) vermieden werden kann147. Aus der Sicht des gefährdeten Rechtsguts (Opferperspektive) liegt hiernach genau dann eine Gefahr vor, wenn das Opfer einen Schaden nicht gezielt (intentional) abwenden kann; offensichtlich liegt keine Gefahr vor, wenn diese intentionale Vermeidefähigkeit gegeben ist und der Erfolg gleichwohl eintritt, insbesondere im Falle der bewußten Selbstverletzung. Aus der Perspektive des Gefährdenden (Täterperspektive) liegt ein gefährliches Verhalten genau dann vor, wenn der Täter nicht imstande ist, den Erfolgseintritt - z.B. die Verletzung eines anderen - intentional zu vermeiden148. Damit zeigt sich, daß der von der h.L. hergestellte Zusammenhang zwischen Sorgfalt und Gefahr in der Tat besteht: Fahrlässiges Verhalten wurde oben dadurch definiert, daß der Täter das normwidrige Verhalten nicht intentional vermeiden kann149. 147

In diesem Sinne erweist sich Gefahr - wissenschaftstheoretisch gesprochen - als sog. Dispositionsprädikat. Unter Dispositionsprädikaten werden Eigenschaften verstanden, die nicht "manifest" beobachtbar sind, sondern durch Hypothesen über typische Bedingungszusammenhänge definiert wird (eingehend - und mit weit. Nachw. - Kindhäuser, Gefährdung, S. 202 f.). Beispielsweise kann nicht beobachtet werden, ob eine Fensterscheibe zerbrechlich ist; die Zuschreibung des Dispositionsprädikats "zerbrechlich" impliziert vielmehr die Hypothese, daß die Scheibe zerbricht, wenn gegen sie ein Stein geschleudert wird. Dispositionsprädikate taugen nicht zu Erklärung eines Erfolgs; beispielsweise erklärt sich das Zerbrechen einer Scheibe nicht daraus, daß die Scheibe zerbrechlich ist, sondern daraus, daß gegen sie ein Stein geschleudert wurde und Scheiben unter bestimmten Bedingungen zerbrechen. Dispositionsprädikate sind deshalb auch nicht von dem Eintritt des Erfolgs abhängig: Eine Scheibe bleibt zerbrechlich, aucli wenn nie ein Stein gegen sie geschleudert wird und sie deshalb nie zerbricht. - Bezogen auf den Gefahrbegriff bedeutet dies: Das Gefahrurteil impliziert den Zusammenhang, daß unter bestimmten Bedingungen ein Erfolg nicht intentional vermieden werden kann. Die Gefahr ist keine Ursache des Erfolgs; vielmehr drückt sich die h.A. ganz zutreffend dahin aus, daß sich eine Gefahr in einem Erfolg "realisiert" hat, was meint, daß die Hypothese, der Schaden sei nicht intentional vermeidbar gewesen, bestätigt worden ist. Deshalb sind Gefährdungsverbote (und erst recht: Gefahrverminderungsgebote) keine (analytischen) Implikationen der Begehungsverbote; s. bereits oben §§ 1 IV 4., 2 III 6.). Auch schließt deshalb das Ausbleiben des Erfolgs die Annahme einer Gefahr - und zwar ex post betrachtet! keineswegs aus. Eine Gefahr muß schließlich auch keineswegs immer eine (zeitliche) Vorstufe eines Erfolgseintritts sein (so aber die h.A., die aus dem Vorliegen eines Erfolges stets auf dasjenige einer Gefahr schließt, s. nur S/S-Cramer, Vorbem. §§ 306 ff. Rdnr. 17.): Insbesondere in den Fällen der Selbstverletzung kann nicht die Rede davon sein, daß das Opfer sich in einer Gefahr befunden habe, da der Erfolg stets intentional vermeidbar gewesen ist. 148 Ganz in diesem Sinne S/S-Cramer, Vorbem. §§ 306 ff. Rdnr. 5 m.w.N.: "Dies (sc. das Vorliegen einer < konkreten > Gefahr) ist dann der Fall, wenn der Täter die Auswirkungen der149 Lage nicht beherrscht...". Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 179 f. - Freilich müssen stets Täter- und Opferperspektive zusammen betrachtet werden. Nach einer derartigen Gesamtbetrachtung liegt eine Gefahr dann nicht vor, wenn zwar nicht der Täter, wohl aber das Opfer den Schaden (intentional) vermeiden kann. Sieht z.B. ein Bergwanderer den von einem unachtsamen Mitwanderer losgetretenen Stein langsam und gerade auf sich zurollen, so besteht nicht die Gefahr einer Körperverletzung, wenn der Bergwanderer ohne weiteres ausweichen kann. Will der Bergwanderer dies nicht - aus welchen Gründen auch immer - so ist die (außerordentliche) Fahrlässigkeitszurechnung ausgeschlossen, da eine Einwilligung bzw. ein Einverständnis vorliegt (s. bereits oben § 6 IV 2.). Des weiteren kann sich das Opfer bewußt oder unbewußt seiner intentionalen Vermeidefähigkeit begeben haben. Hier stellen sich die bereits oben § 6 IV behandelten Fragen, ob es (auch) dem Opfer obliegt, sich zur Vermei-

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Aus der Opferperspektive definiert meint Gefahr im bezeichneten Sinne eine konkrete Gefahr, also eine Situation, in der das Opfer unfähig ist, die Schadensrelevanz einer vom Täter gesetzten Bedingung gezielt abzuschirmen150. Aus Täterperspektive wiederum kann von Gefahrenfliwe/ir gesprochen werden, wenn eine bereits gesetzte gefahrrelevante Bedingung "abgeschirmt" wird, von Gefahremwso/ge, wenn die Bedingung schon nicht als gefahrrelevant gesetzt wird 151 . Als Haupthandlung der Erfolgsabwendung kann nur die Gefahrenabwehr verstanden werden, nicht aber die Gefahrenvorsorge: Es widerspricht bereits alltagssprachlicher Intuition zu sagen, jemand rette das Leben anderer, wenn er an einem Regenkanal Geländer anbringt; diese Geländer beseitigen vielmehr die Lebensgefährlichkeit des Regenkanals für den Fall, daß sich Arbeiter in seiner Nähe aufhalten 152. In diesem Sinne fordern die Verkehrssicherungspflichten als Sorgfaltsobliegenheiten Gefahrenvorsorgemaßnahmen, als Rettungspflichten Gefahrabwendungsmaßnahmen. Nur das Unterlassen von Gefahrabwendungsmaßnahmen kann daher als (ggf. qua Vorsatz zurechenbare) garantengebotswidrige Haupthandlung verstanden werden 153, während das (bloße) Unterlassen von Gefahrvorsorgemaßnahmen nur zu einer (außerordentlichen) Zurechnung qua Fahrlässigkeit führen kann154. dung von (Selbst-) Schädigungen intentional vermeidefähig zu erhalten und welche Folgen dies für die Zurechnung als Pflichtwidrigkeit hat. 150

Eine abstrakte Gefahr für das Opfer kann nur in dem Sinne geben, als dessen "Daseinsgewißheit" - die sorglose Verfügung über seine Güter - erschüttert wird: Wer zum Zeitpunkt einer schweren Brandstiftung an seinem Wohnhaus (§ 306 Nr. 2) auf Besuch bei Verwandten weilt, wird nicht in seinem Leben gefährdet (auch nicht "generell" oder "typischerweise"); es wird aber die sorglose Verfügung um Leben und Wohnraum beeinträchtigt;1 näher Kindhäuser, Gefährdung, S. 277 ff. 51 Zu dieser Unterscheidung Kindhäuser, Gefährdung, S. 206 f.; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 232 f.; aus polizeirechtlicher Sicht Darnstädt, Gefahrenabwehr, S. 224 ff.; krit. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 291 in Fn. 54 u. bereits 95 f. (zur ähnlichen Unterscheidung von E. A. Wolff\ Kausalität, S. 37). - Das Begriffspaar Gefahrenvorsorge - Gefahrenabwehr liegt quer zu der bekannten Linterscheidung zwischen Überwachungs- und Obhutsgarantenpflichten (hierzu noch unten § 10 IV 3.). Sowohl der Überwachungs- wie auch der Obhutsgarant sind erfolgsabwendungs- und damit gefahrenabwehrpflichtig; unter der Voraussetzung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit obliegt ihnen zudem Gefahrenvorsorge. Zwischen Überwachung und Obhut besteht nur der Unterschied, daß bei dieser der Gefährdete bestimmt, die Gefahrenquelle unbestimmt ist, bei jener hingegen die Gefahrenquelle bestimmt und der Gefährdete unbestimmt ist. 152 Vgl. RGSt 16, 290. 153

Insoweit hat BGHSt 37, 106 (132) den Rückruf bereits ausgelieferter gefährlicher Ledersprays zu Recht als Gefahrenabwendungsmaßnahme angesehen, obwohl diese noch nicht beim Endverbraucher angelangt waren, da die schadensrelevante Bedingung bereits - aus der Sicht des Herstellers vollständig - gesetzt war. 154 Dies gilt auch, wenn Gefahrenvorsorgemaßnahmen vorsätzlich unterlassen wurden ("omissio libera in omittendo", s. bereits oben § 3 III 5.). Beispiel nach Hruschka, Strafrecht, S. 322 ff.: Ein Sicherheitsingenieur unterläßt es, einen Defekt an einer Maschine zu aufzuklären (und zu beseitigen), obwohl ihm klar war, daß ggf. ein erheblicher und dann lebensgefährlicher Schaden vorliegen könnte. Dieses Wissen ist noch nicht vorsatzkonstitutiv, aaO., S. 324 f., 334.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

In beiden Fällen kann der Ansatzpunkt der Gefahrenvorsorge und -abwehr freilich ein doppelter sein: Zum einen kann es darum gehen, eine (konkrete) Gefahr für das Opfer dadurch auszuschließen, daß dessen intentionale Vermeidefähigkeit (wieder) hergestellt wird. Deshalb stellen Wamund Aufklärungspflichten die eine - bedeutsame - Untergruppe der Verkehrssicherungspflichten dar 155. Freilich kommt es - jedenfalls soweit Sorgfaltsobliegenheiten in Frage stehen156 - nach dem oben Gesagten157 für den Pflichtumfang nicht auf den konkreten Einzelfall an; vielmehr wird die Reichweite der Pflicht durch den Vertrauensgrundsatz bestimmt: Es genügt die Warnung und Aufklärung, die (unter Berücksichtigung "häufigen" Mißbrauchs) die potentiell Gefährdeten in den Stand setzt, die (Selbst-) Verletzung intentional zu vermeiden. Zum anderen kann die (kausale) Schadensrelevanz der (zu setzenden oder gesetzten) Bedingung gleichsam "mechanisch" abgeschirmt werden. Deshalb stellen Gefahrenabschirm - sowie -beseitigungspflichten die andere große Gruppe der Verkehrssicherungspflichten dar. Auch hier verbleibt (mit Blick auf Mißbrauch) dem Vertrauensgrundsatz eine begrenzende Funktion: So muß eine Grube nicht derart eingezäunt werden, daß selbst mutwillige Betrunkene die Einzäunung nicht übersteigen können. Allerdings ist diese Unterscheidung noch differenzierungsfähig. Gefahrenvorsorge durch einen Garanten kann theoretisch auf vier Arten getroffen werden: (1) hält sich der Garant stets selbst fähig, den Erfolgseintritt intentional zu vermeiden (z.B. geht der Rettungsschwimmer am Schwimmbecken auf und ab und achtet beständig auf schlechte oder Nichtschwimmer); (2) schirmt er die schadensrelevante Bedingung selbst in ihrer kausalen Relevanz intentional ab (z.B. sperrt der Bauherr die Baustelle durch einen hohen Zaun ab); (3) sorgt der Garant dafür, daß potentielle Opfer diese Bedingung selbst in ihrer kausalen Relevanz intentional abschirmen können (z.B. bringt der Bauherr zahlreiche auffällige Schilder "Gefährliche Baustelle" an); (4) sorgt der Garant dafür, daß das (potentielle) Opfer den Schadenseintritt selbst intentional vermeiden kann (bringt zum Beispiel ein Arzneimittelhersteller den Hinweis auf einer Arzneimittelpackung an, daß für den Fall des Eintritts bestimmter Nebenwirkungen sofort bestimmte ärztliche Gegenmaßnahmen getroffen werden müssen). In Fall (1) besteht - gebotsgemäßes Verhalten des Garanten vorausgesetzt - nach einer Gesamtbetrachtung zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für das geschützte Rechtsgut; ist z.B. sichergestellt, daß der Rettungsschwimmer in allen Fällen beim ersten Anzeichen, daß ein Schwimmer 155

S. (aus zivilrechtlicher Sicht) Christian v. Bar , Verkehrspflichten, S. 8 ff. Die von den Verkehrssicherungspflichten als Sorgfaltsobliegenheiten geforderte Gefahrenvorsorge ist prospektiv, weil konkrete Gefahren per definitionem noch nicht eingetreten sind, und deshalb zwingend auf ein generalisierendes Urteil über mögliche konkrete Gefahrenlagen und über die Gefahrenvorsorge- und -abwehrfähigkeiten potentieller Opfer angewiesen. Nichts anderes dürfte freilich bei der Abwehr von Massengefahren - etwa durch Auslieferung gefährlicher Massenprodukte, die bereits zu den Endverbrauchern gelangt sind gelten. 157 § 8 II 3. 156

§ 8 Die fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte

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in eine bedrohliche Situation gerät, diesen rettet, so ist das Baden nach einer Gesamtbetrachtung ungefährlich 158. In den Fällen (2) bis (4) verbleibt hingegen aus der Sicht des Garanten ein Gefahrenrest, der sich aus der Möglichkeit des Versagens des Opfers ergibt; dieser Gefahrenrest darf aber nach Maßgabe des Vertrauensgrundsatzes hingenommen werden. Deshalb muß auch nicht immer der Weg (1) zur Gefahrenvorsorge beschritten werden; so kann von dem Eigentümer eines Unternehmens nicht verlangt werden, daß er sich selbst zum Rettungsschwimmer ausbildet und sich während der Arbeitszeit an gefährlichen Regenkanälen aufhält (oder einen Rettungsschwimmer einsetzt). Bei konkret enttäuschtem Vertrauen muß der Garant freilich zur Gefahrenabwehr von dem ihm verbleibenden Rest an intentionaler Vermeidefähigkeit Gebrauch machen, sofern keine Alleinverantwortung des Opfers vorliegt. Überklettert etwa ein Kind die (an sich hinreichende) Absperrung einer gefährlichen Baugrube und bemerkt dies zufälligerweise der Bauherr oder Bauunternehmer, so muß er im Rahmen des Zumutbaren das Kind warnen oder retten. 5. Zuständigkeit für Gefahrenabwehr und für Gefahrenvorsorge Die eingangs aufgeworfene Frage, ob Verkehrssicherungspflichten (auch) Rettungspflichten beinhalten, kann unter Zugrundelegung des Begriffspaars Gefahrenvorsorge - Gefahrenabwehr dahin reformuliert werden, ob und wann die Zuständigkeit für Gefahrenvorsorge diejenige für Gefahrenabwehr impliziert. Der Übergang von der Gefahrenvorsorge- zur Gefahrenabwehrpflicht entspricht, wie dargelegt, demjenigen von abstrakter zu konkreter Gefahr, und dies bedeutet wiederum: dem Eintritt der schadensrelevanten Bedingung. Es könnte daher angenommen werden, daß Zuständigkeit für Gefahrenvorsorge dann Zuständigkeit für Gefahrenabwehr bedeutet, wenn der Bedingungseintritt vom für Gefahrenvorsorge Zuständigen hausiert worden ist. Jedoch ist Kausalität eine wertfreie Kategorie 159; es kommt vielmehr auf die normative Zurechnung des Bedingungseintritts an: Kann dieser ausschließlich dem Opfer oder Dritten zugerechnet werden, so impliziert die Zuständigkeit für Gefahrenvorsorge nicht diejenige für Gefahrenabwehr. Gestattet etwa ein Bauherr seinen Freunden den Besuch in seinem Rohbau und stürzt einer der Freunde auf einer mangelhaft gesicherten Treppe, so daß er hilfebedürftig wird, so kann der Bedingungseintritt jedenfalls dann nicht dem Bauunternehmer zugerechnet werden und ist dieser nicht rettungspflichtig, wenn er von einem ordnungsgemäßen Verhalten des Bauherrn ausgehen durfte 160. Umgekehrt kann der Bedingungseintritt dem Gefahrvorsorgepflichtigen in jedem Falle dann zugerechnet werden, wenn ISA

Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 212. Insofern ist Schünemanns Kritik an der Ingerenz-Garantenstellung recht zu geben, vgl. ders., Unterlassungsdelikte, S. 317. 1 fft löü Vgl. BGH (ZS) NJW 1985,1078; ähnlich argumentierte der BGH in dem oben § 6 IV 1. geschilderten Fall St 3, 203 (205). 159

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Vogel

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

das Opfer in Wahrnehmung eines Rechts handelt161. Daher muß - entgegen Schröder und Schünemanrr 62 - auch der von dem herabstürzenden Ziegel getroffene verletzte Passant von dem Hauseigentümer gerettet werden, sofern er in Ausübung seines Rechts auf Gemeingebrauch an dem Haus vorbeiging. Besondere Probleme werfen insoweit freilich die vieldiskutierten "trespassing-Fälle" auf 163. Hier geht es darum, daß der der Verkehrssicherungspflicht unterliegende Kontakt rechtswidrigerweise aufgenommen wird, wenn etwa jemand nachts ein fremdes Grundstück betritt, um hier einen Einbruchsdiebstahl zu begehen. In diesen Fällen ist freilich zunächst zu beachten, daß dem trespasser in jedem Fall diejenigen Sicherungsmaßnahmen zugute kommen müssen, die auch sich rechtmäßig verhaltenden (potentiell) Gefährdeten zugute kommen; wer als Kraftfahrer ohne Fahrerlaubnis eine Straße benutzt (§ 21 StVG), hat ebenso Anspruch auf den verkehrssicheren Zustand der Straße wie jeder andere Kraftfahrer, und ähnlich bleibt der Produzent eines in den Handel gebrachten gefährlichen Produkts auch gegenüber unrechtmäßigen Besitzern (Dieben) ggf. warn- und rückrufpflichtig. Des weiteren ist zu bemerken, daß Gefahrenvorsorge auch insoweit getroffen werden muß, soweit nicht auf das Unterlassen des trespassing vertraut werden darf (insbesondere gegenüber Kindern) 164. Das eigentliche Problem der trespassing-Fälle besteht aber in der Konstellation, daß hinreichende Gefahrenvorsorge getroffen ist und der Verkehrssicherungspflichtige (akzidentiell) zur Gefahrenabwehr imstande ist. Ein markantes Beispiel findet sich in RG JW 1932, 2087165: Ein Schaffner öffnet einem Trittbrettfahrer, der entgegen hinreichenden Warnschildern auf eine Straßenbahn aufgesprungen ist, nicht die Tür; der Trittbrettfahrer stürzt daraufhin in einer Kurve ab und verletzt sich tödlich. Das Problem ist hierbei, daß in concreto das (die Gefahrenvorsorge einschränkende) Vertrauen in norm- und obliegenheitsgemäßes Verhalten nicht mehr besteht. Hier kann aber nichts anderes als beim positiven Tun gelten: Bei auch nur akzidenteller Vermeidefähigkeit ist der Garant (wiederum freilich in den Grenzen der Zumutbarkeit usf.) verpflichtet, den Erfolg durch gefahrenabwehrende Maßnahmen abzuwenden; deshalb meinte das Reichsgericht zu Recht, der Straßenbahnschaffner hätte die Tür öffnen müssen.

161 Dies wird besonders deutlich bei §§ 306 Nr. 2, 307: Wer ein Haus in Brand setzt (abstrakte Gefahr), ist zuständig für die konkrete Gefahr (und damit die Lebensrettung von im Haus wohnenden Menschen), da diese im Haus wohnen dürfen. Freilich wäre hier auch eine Garantenstellung gegenüber sich unbefugt im Haus aufhaltenden Personen (z.B. Landstreichern) zu bejahen. 162 S. oben §8 III 1. 163 S. - aus zivilrechtlicher Sicht - Christian v. Bar , Verkehrspflichten, S. 186 ff. m.w.N. 164 S. hierzu oben §6 IV 4., 5. 165 S. hierzu (i.E. zust.) Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 306.

§ 9 Die Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

/. Grundlagen nach dem hier zugrundegelegten Zurechnungsmodell der Beteiligung 1. Problemaufriß Nach Roxin stellt die "Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme bei Unterlassungen das heute wohl noch ungeklärteste Gebiet" der Beteiligungslehre dar1. Besonders umstritten ist hierbei die Konstellation der Beteiligung des unterlassenden Garanten an (Begehungs- oder Unterlassungs-) Delikten anderer 2. Nicht unproblematisch ist aber auch die Beteiligung an den unechten Unterlassungsdelikten, sei es durch Tun, sei es durch (selbst garantenpflichtwidriges) Unterlassen3. Die hierzu aufgeworfenen Fragen gehen vor allem dahin, ob und inwieweit das der ganz h.L. entsprechende Herrschaftskriterium der Täterschaft ("Tatherrschaft") auf den Unterlassungstäter anwendbar ist4 oder ob nicht vielmehr der (Sonder-)Pflichtcharakter der unechten Unterlassungsdelikte entscheidend sein muß5, sowie, ob und inwieweit ein Unterlassen akzessorisch zu fremder Tat sein kann6. Das den Streitfragen zugrundliegende Grundproblem besteht darin, ob und wie das Unterlassen des sich beteiligenden Garanten als täterschaftlich oder als bloß teilnehmend konstituiert werden kann7. Soweit sich die

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Roxin, Täterschaft, S. 661. Zum Streitstand Ranft, ZStW 94 (1982), 815 (817 ff.); Sowada, Jura 1986, 399 (401 ff.); Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 176 ff.; je mit umf. Nachw. - Zu den Einzelfragen s. sogleich § 9 II. 3 Zu den Einzelfragen s. sogleich § 9 III. 4 Verneinend die h.L., s. nur Bloy, Beteiligungsform, S. 214 f.; S/S-Cramer, Vorbem. §§ 25 ff. Rdnr. 88 ff.; Herzberg, Täterschaft, S. 83; Roxin, Täterschaft, S. 657; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rdnr. 40; Stratenwerth, Strafrecht, Rdnr. 1077; bejahend aber z.B. Busse, Täterschaft, S. 257 (ff.); Maurach-Gössel, AT 2, § 47 Rdnrn. 111,113; Schroeder, Täter, S. 106. 5 So - grundlegend - Roxin, Täterschaft, S. 458 ff.; a.A. aber Maurach-Gössel, AT 2, § 57 Rdnr. 114. 6 Bejahend v.a. Ranft, ZStW 94 (1982), 815 (828 ff.); verneinend die h.L., s. nur Bloy, JA 1987,490 ff.; Roxin, Täterschaft, S. 660 f. Der Gesetzgeber hat die Frage ausdrücklich offengelassen, s. BT-DrS. V/4095, S. 8; Roxin, Täterschaft, S. 573 f. 2

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276

Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Rechtsprechung hierzu auf den Boden der subjektiven Theorie stellt8, ist dies den bereits ausgeführten Einwänden gegen eine derartige Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme ausgesetzt. Wenig hilfreich erscheint aber auch die Tatherrschaftslehre 10. Dieser sind im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte vor allem diejenigen älteren Auffassungen verpflichtet, nach welchen im Regelfall der neben einem tatsächlich tatbeherrschenden 11 Begehungstäter beteiligte Garant als Gehilfen anzusehen sein soll; hiernach soll insbesondere eine Mittäterschaft zwischen Begehungs- und Unterlassungstäter nicht anzuerkennen sein12. Gerade beim Unterlassungsdelikt erweist sich jedoch die Problematik eines ontologisch bestimmten Tatherrschaftskriterium (und die Notwendigkeit einer durchgängigen Normativierung der Täterschaftskriterien) schon aus norm- und deliktstheoretischen Gründen als besonders augenfällig 13: Wird die Tatherrschaft mit der (individuellen) Erfolgsabwendungsmöglichkeit identifiziert, so wäre sie mit jedem pflichtwidrigen Unterlassen bereits gegeben, da die (individuelle) Erfolgsabwendungsmöglichkeit konstitutives Merkmal der Pflichtwidrigkeit ist. Wird die Tatherrschaft hingegen mit dem "sozialen Sinn" identifiziert der bei Vermittlung des abzuwendenden Erfolgs durch vorsätzlich rechtswidrig handelnde Dritte auf bloße Beihilfe und nur bei unvermeidbaren Verläufen auf Täterschaft gehe -, so wird einerseits übersehen, daß institutionell garantiert gerade das Einschreiten gegen derartiges Verhalten Dritter sein kann. Andererseits zeigt sich bei Gefahrenquellen in arbeitsteilig strukturierten Organisationsbereichen, in welchen Gefahrbeherrschung nur durch arbeitsteiliges Zusammenwirken mehrerer Personen erreicht werden kann, daß schon geringfügige Organisationsänderungen 8 So in BGHSt 13,162; LM Nr. 10 vor § 47 StGB; NJW 1966,1763; BGH StV 1986, 59 (m. Anm. Arzt, aaO., 337 ff.; Ranft, JZ 1987, 908 u. Bespr. b. Roxin, Täterschaft, S. 603 f.); zust. Baumann/Weber, Strafrecht, S. 538; Arzt, JA 1980, 553 (558); krit. LK-Roxin, § 25 Rdnr. 145. - Teilweise zieht die Rspr. freilich auch Tatherrschaftsgedanken zur Lösüng von Unterlassungs-Beteiligungsfallen heran, vgl. BGHSt 2,150; MDR1960, 939. Von besonderem Interesse ist die zuerstgenannte Entscheidung, in der es um das Unterlassen einer Ehefrau ging, die die Selbsttötung ihres Ehemanns nicht verhindert hatte. Es handelte sich also um einen Fall der mittelbaren Unterlassungstäterschaft mit einem (tatbestandslos handelnden, weil sich selbst verletzenden) Begehungstäter als Tatmittler (zu den hier auftauchenden Selbstverantwortungsgesichtspunkten s. oben § 6 IV 2.). Der BGH führte auf aaO. S. 157 aus: "Regelmäßig hat der Hilfspflichtige die volle oder doch einen großen Teil der Herrschaft über die Sachlage und kann ihr durch sein Eingreifen die entscheidende Wendung geben", Herv. v. Verf. 9 S. oben § 2 IV 1., 2. 10 Zu den grundsätzlichen Einwänden gegen das Täterschaftskriterium der Tatherrschaft s. oben § 2 I V 2. 11 Anderes soll gelten, wenn dieser - insbesondere als Tatmittler (besonders in den Selbsttötungsfällen) - den Einfluß über das Geschehen verloren hat; s. die Nachw. in der folgenden Fn. 12 Gallas , JZ 1952, 371 ff. u. 1960, 686 (687); Kielwein, GA 1955, 225 ff.; heute noch JeScheck, Lehrbuch, S. 579, 630; Lackner, § 27 Rdnr. 5; Ranft, ZStW 94 (1982), 815 (828 ff.); Schmidhäuser , Studienbuch, 13/12 ff.; in diese Richtung auch die überwiegende Rspr., s. nur RGSt 53, 292; 69, 349; 73,53 (54); BGH b. Dali . MDR 1951,144. 13 Zum folgenden Roxin, Täterschaft, S. 463 ff.; s. auch Bloy, JA 1987,490 (491).

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

277

genügen können, um eine Beteiligung durch positives Tun auszuschließen. Dann leuchtet aber nicht ein, daß die Beteiligung nach ihrem "Sinn" zu einer bloßen Teilnahme herabgestuft werden soll14. 2. Norm- und Pflichtwidrigkeit der Beteiligung der unterlassenden Garanten (zur "pflichtenorientierten Einheitstäterlösung") Nach den oben entwickelten Grundsätzen15 stellen sich bei der Beteiligungslehre im Ergebnis keine rechtsgutsbezogenen Norminhaltsfragen, sondern verantwortungsbezogene Pflichtinhaltsfragen. Täterschaft erweist sich hierbei als Hauptpflichtverletzung - wenn auch ggf. auf mehrere aufgespalten -, während akzessorische Teilnahmehandlungen Hilfshandlungen darstellen und in diesem Sinne die in §§ 26, 27 ausgesprochene Pflicht verletzen, nicht andere in den Stand zu setzen, pflichtwidrige Haupthandlungen zu begehen16. Es fragt sich allerdings, ob im Sinne einer auf Armin Kaufmann 17 zurückgehenden und von Roxin18 ausgebauten, einer vordringenden Lehre entsprechenden19 Auffassung der normative Grund täterschaftlicher Zurechnung bei den unechten Unterlassungsdelikten in jedem Falle mit der Feststellung der Garantenpflichtverletzung gegeben ist. Nach dieser Lösung - die als "pflichtenorientierte Einheitstäterlösung" bezeichnet werden kann - kommen Fälle bloßer Teilnahme eines unterlassenden Garanten nur ausnahmsweise in Betracht, nämlich bei verhaltensgebundenen20 und insbesondere eigenhändigen21 Delikten sowie beim Fehlen bestimmter täterschaftskonstituierender Merkmale (z.B. Absichten22).

Treffend Jakobs, Strafrecht, 29/105. - Beispiel nach RGSt 63, 211 (vgl. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 283 f.): Ist A mit der Desinfektion von Ziegenhaaren betraut und unterläßt er dies in Absprache mit B, um die Arbeiterinnen zu schädigen, so kann es für die Strafbarkeit des A nicht darauf ankommen, ob B die Ziegenhaare in die Verarbeitungsräume bringt oder ob B es pflichtwidrig unterläßt, die auf einem Transportband in die Verarbeitungsräume geförderten Ziegenhaare auszusondern. 15 § 2IV. 16 S. oben § 2 IV 2., 3. 17 Dogmatik, S. 291 ff. 18 Täterschaft, S. 419 ff., 459 ff. u. in LK, § 25 Rdnrn. 147 ff. 19 S. Bloy, Beteiligungsform, S. 214 ff.; Grünwald, GA 1959, 110 ff.; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 138 ff. u. in SK, Vor § 13 Rdnrn. 37 ff.; Stratenwenh, Strafrecht, Rdnrn. 1076 ff. 20 Hierzu Bloy, Beteiligungsform, S. 219 ff. 21 Hierzu Roxin, Täterschaft, S. 479 ff. - Das Hauptbeispiel ist die Beihilfe durch Unterlassen zu Aussagedelikten; Nachw. zu der reichhaltigen Rspr. zu diesem Problem b. Lackner, Vor § 153 Rdnr. 7. 22 Hierzu Roxin, Täterschaft, S. 481 f.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Eine derartige Auffassung erscheint im Rahmen des hier vorgelegten Beteiligungsmodells dann konsequent, wenn bei den (unechten) Unterlassungsdelikten die Möglichkeit verneint wird, Unterlassungshandlungen in Unterlassungshaupt- und -hilfshandlungen zu untergliedern . Hiergegen ist aber einzuwenden, daß das Handlungsergebnis einer Unterlassungshandlung, nämlich die Zulassungshandlung, in welcher kontrafaktisch ein Abwendungsverhalten mitgedacht ist24, durchaus nur eine solche sein kann, welche einen anderen (nur) in den Stand setzt, eine pflichtwidrige (Haupt-) Handlung zu vollziehen. Daß in diesem Sinne zwischen Unterlassungshauptund -hilfshandlung zu unterscheiden ist und - nach dem oben Ausgeführten 25 - eine täterschaftliche Haftung nur im ersten Fall in Betracht kommt, zeigt sich besonders deutlich bei folgendem, die Versuchsstrafbarkeit betreffenden Einwand gegen die pflichtenorientierte Einheitstäterlösung bei den unechten Unterlassungsdelikten26: Während im Falle positiven Tuns die Hingabe eines Tatwerkzeugs, das vom Haupttäter zu Versuchsbeginn nicht einmal mitgeführt wird, nach allg.M. straflose versuchte Beihilfe ist27, wäre unter Zugrundelegung der pflichtenorientierten Einheitstäterlösung bereits das garantenpflichtwidrige Geschehenlassen der Entwendung eines Tatwerkzeugs ein kompletter Beihilfeversuch, ohne daß es darauf ankommen könnte, ob das Werkzeug später zur Haupttat verwendet oder auch nur mitgeführt wird 28. Des weiteren gerät die pflichtenorientierte Einheitstäterlösung in die Gefahr, daß die Differenzierung von Täterschaft und Teilnahme bei positivem Tun "von der Unterlassungsseite her aufgerollt wird" 29. Wenn nämlich angenommen wird, daß Beihilfe und Anstiftung als pflichtwidrige und gefährdende Vorhandlungen eine Garantenstellung aus Ingerenz begründen, so wäre ein nachfolgendes Unterlassen - unter der weiteren Voraussetzung, daß die Deliktsverhinderung noch möglich und zumutbar ist30 - stets täterschaftlich und damit nach allgemeinen Konkurrenzerwägungen

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S. zu diesem Problem beim Versuch oben § 7 II 3. mit Fn. 97.

Hierzu bereits oben § 711. m.w.N. 25 § 2 IV 2. m.w.N. 26 S/S-Cramer, Vorbem. §§ 25 ff. Rdnr. 89; Jakobs, Strafrecht, 29/105. - S. bereits Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 293 f. Die von Armin Kaufmann vorgebrachten Gegenbeispiele betreffen einen Fall institutioneller Garantie, wo in der Tat die pflichtenorientierte Einheitstäterlösung gilt. 27 S. oben § 2 IV 3. mit Fn. 173. 28

Hier handelt es sich übrigens um ein Grundsatzproblem jedes Einheitstäterbegriffs, vgl. Bloy 29 , in: Schmitt-FS, S. 33 (37 f.) u. de lege lata § 14 Abs. 2 2. HS OWiG. Jakobs, Strafrecht, 29/105. 30 Zum Gesichtspunkt der Zumutbarkeit bei Gefahr eigener Strafverfolgung s. oben § 6 II b). - Zu beachten ist, daß bei erfolgreichen Verhinderungsbemühungen (sowie bei Neutralisierung des eigenen Tatbeitrags, zu den hier zu stellenden Anforderungen S/S-Eser, § 24 Rdnrn. 97 ff. m.w.N.) ohnehin die Strafbarkeit gem. § 24 Abs. 2 entfiele.

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

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vorrangig zu berücksichtigen31. Um dieser Gefahr zu entkommen, hat allerdings Welp 32 vorgeschlagen, die vorsätzliche Teilnahme nie als ingerenzbegründende Vorhandlung genügen zu lassen: Es wachse der nachfolgenden Unterlassung "offenbar kein neuer Unwert zu"33. Dies trifft zwar zu, erhellt aber, daß die nachfolgende Unterlassung nur den Unwert einer Beihilfe hat. Wird aber dies anerkannt, so kann die These der pflichtenorientierten Einheitstäterlösung, daß der beteiligte Garant grundsätzlich stets täterschaftlich, d.h. mit "täterschaftlichem Unwert" unterläßt, nicht richtig sein34. 3. Akzessorisches garantenpflichtwidriges Unterlassen Allerdings muß sich die Ablehnung der pflichtenorientierten Einheitstäterlösung noch mit teilnahmespezifischen Argumenten auseinandersetzen, wie sie bereits von Armin Kaufmann 35 vorgebracht wurden und neuerdings von Bloy36 in aller Schärfe zugespitzt worden sind. Nach Armin Kaufmann erfüllt "jeder Garant, der den Angriff auf das Rechtsgut abwehren k a n n , . . . a l l e Voraussetzungen eines 'Unterlassungstäters'" 7. Zudem könne - da Unterlassen nur hypothetisch kausal sei - eine Haupttat nicht "gefördert" werden. Auch axiologisch sei es gleichgültig, ob die Gefahr dem zu garantierenden Rechtsgut durch einen Vorsatztäter oder durch Zufall oder menschliches Versehen drohe: In jedem Fall sei der Garant erfolgsabwendungspflichtig. Bloy hat die Überlegungen Armin Kaufmanns dahin fortgeführt, daß in Frage stehe, ob ein Garantenunterlassen akzessorisch, also Zurechnung fremden Unrechts sein könne oder ob nicht vielmehr das Unrecht stets (ausgenommen die verhaltensgebundenen, eigenhändigen usw. Delikte) in der Person des Garanten entstehe. Zugunsten der zweiten und Zwar ist ein Unterlassen im allgemeinen subsidiär zu einem Tun, vgl. Roxin, ZStW 74 (1962), 411 (417 in Fn. 24). Dies gilt aber dann nicht, wenn das Unterlassen zu einer qualitativ anderen Strafbarkeit führt, etwa bei vorsätzlichem Unterlassen nach fahrlässigem Tun und auch bei täterschaftlichem Unterlassen nach teilnehmendem Tun; s. nur S/S~Stree y Vorbem. §§ 52 ff. Rdnr. 107 (u. § 13 Rdnr. 64 a.E.). 32

Vorangegangenes Tun, S. 280 ff.; s. zum Problem weiterhin S/S-Cramer, Vorbem. §§ 25 ff. Rdnr. 96; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 176. 33 Welp, Vorangegangenes Tun, S. 280. - Konsequenterweise läßt Welp (aaO., S. 283 ff.) auch die fahrlässige Ermöglichung fremder (und defektfreier) Vorsatztat nicht als ingerenzbegründend zu; ebenso Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 172 ff.; a A RGSt 73, 52; OGHSt 3, 1 (konsequent krit. zu diesen Entscheidungen Welp, aaO., S. 288 ff.); S/SCramer, Vorbem. §§ 25 ff. Rdnr. 96. 34

Insofern kann es auch nicht stets die Lösung sein, in den Fällen, in denen eine nur "Beihilfewert" besitzende täterschaftliche Unterlassung vorliegt, mit Hilfe von § 13 Abs. 2 zu korrigieren, so aber Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 300 ff.; zutr. krit. Jakobs, Strafrecht, 29/105. - S. bereits oben § 4 III 4. 35 Dogmatik, S. 291 ff. 36 JA 1987,490 (bes. 492 ff.). 37 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 294; Herv. i. Orig.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

gegen die erste Lösung führt Bloy38 an, Garantenpflichten seien Erfolgsabwendungspflichten; von der Tatverwirklichung des Begehungstäters bestehe nur eine faktische, keine normative Abhängigkeit39. Dies zeige insbesondere die Konstellation, daß der Garant eine Fahrlässigkeitstat nicht hindere 40. Allerdings könne ein akzessorisches Garantenunterlassen dann vorliegen, wenn über den Erfolgsunwert hinaus ein dem Teilnehmerhandlungsunwert entsprechender Unterlassungsunwert angegeben werden könne; das Problem liege ähnlich wie bei der Handlungsmodalitätenäquivalenz der verhaltensgebundenen Delikte. Eine Regel hierfür könne aber nicht formuliert werden, da der bei der Teilnahme durch Begehen vorausgesetzte personale Kontakt gerade fehle: Der Garant knüpfe durch sein Unterlassen keine Beziehung zum Begehungstäter und zu dessen Verhalten, sondern nur zum tatbestandsmäßigen Erfolg. In dem zuletzt genannten Argument liegt aber eine petitio principii: Es kann so sein, daß sich die Beziehung des Garanten ausschließlich in der Garantie des Rechtsguts erschöpft; es kann aber auch sein, daß in die Beziehung als Zwischenglied ein Mehr - etwa: die Folgen von wahrgenommener (Organisations-)Freiheit - eingeschaltet ist, in welches fremdes deliktisches Verhalten nicht einzugliedern ist41. Des weiteren ist zu beachten, daß der Garant nicht in jedem Falle eine nach dem Versuchsbeginn zu identifizierende pflichtwidrige Haupt-Unterlassungshandlung vornimmt, daß also nicht in jedem Falle (täterschaftlich-eigenes) perfektes Garantenunrecht vorliegt. Die Lehre von Armin Kaufmann und Bloy (wie auch die bereits oben kritisierte pflichtenorientierte Einheitstäterlösung) überspielen aber diese Differenzierung. Schließlich gerät die Lehre von der prinzipiellen Nichtakzessorietät des Unterlassensunrechts in den Fällen in Probleme, in denen - wegen mangelnder Täterqualifikation usw. - im Ergebnis doch eine Teilnahmestrafbarkeit angenommen werden muß42. Hier müßte entweder darauf rekurriert werden, daß die Teilnahmevorschriften Auffangtatbestände für solche Fälle darstellen, in denen keine Täterschaft vorliegt , oder aber es müßte auf eine "aushilfsweise" und analoge Anwendung der §§ 26 f. zurückgegriffen werden. Sub specie Art. 103 Abs. 2 GG überzeugen diese Hilfskonstruktionen nicht.

38

JA 1987, 490(493). Dieses Argument richtet sich gegen Ranft, ZStW 94 (1982), 815 (828 ff.), nach welchem die faktische Abhängigkeit des Erfolgseintritts von dem Begehungstäter genügen soll. Dies ist nur unter Zugrundelegung der "reinen Verursachungstheorie" der Teilnahme haltbar; hiergegen bereits oben § 2 IV 1. - Krit. zu Ranft auch Roxin, Täterschaft, S. 660 ff. 40 Hierzu Ranft, ZStW 94 (1982), 815 (838). 41 Ähnlich Herzberg, Täterschaft, S. 99. 42 Vgl. zum Problem Bloy, JA 1987,490 (494). 43 Wie es in der Tat im Verhältnis mittelbare Täterschaft - § 26 der Fall ist, s. oben § 2 IV 3. mit Fn. 181 f. 39

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

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4. Möglichkeit und Notwendigkeit der Differenzierung zwischen Täterschaft und Teilnahme bei garantenpflichtwidrigem Unterlassen (zu den "Pflichtinhaltslehren") Damit erscheint es aber als möglich und notwendig, auch bei garantenpflichtwidrigem Unterlassen zwischen Täterschaft und Teilnahme zu differenzieren. Hierbei ist zunächst das oben44 entwickelte "formale" Kriterium, wonach Täterschaft nur bei Hauptpflichtverletzungen, also bei solchen, die zeitlich nach dem unmittelbaren Ansetzen (Versuchsgrenze) liegen, entsprechend anzuwenden: Erschöpft sich das Garantenunterlassen im Unterlassen zu verhindern, daß ein anderer in den Stand gesetzt wird, (später) zur Tatbestandsverwirklichung anzusetzen, so kann eine täterschaftliche Beteiligung nicht vorliegen45. Allerdings kann, wie oben gezeigt46, auch eine Mitwirkung im Versuchsstadium nur Hilfshandlung und deshalb nur Teilnahme sein. Insoweit ist freilich auch auf den normspezifischen Pflichteninhalt abzustellen. In diesem Sinne können die vordringenden "Pflichtinhaltslehren" bei der Beteiligung durch garantenpflichtwidriges Unterlassen normentheoretisch rekonstruiert werden47. Derartige Pflichtinhaltslehren knüpfen häufig an die von Schröder 48 begründete und heute noch von Cramer 49 vertretene Auffassung an, daß Obhutsgaranten, die aufgrund besonderer Beziehung zu dem geschützten Rechtsgut für dessen Bestand einzustehen haben, grundsätzlich50 Täter des entsprechenden Garantendelikts sein sollen, während Überwachergaranten - insbesondere solche, die dafür verantwortlich sind, daß von bestimmten Personen keine deliktischen Angriffe ausgehen - grundsätzlich51 nur Teilnehmer sein sollen. Diese Lehre ist insbesondere von Herzberg 52 aufgegriffen und vertieft worden. Nach Herzberg ist "Prüfstein (sc. der Täterschaft) ... die Frage, ob der Garant Begehungstäter wäre, wenn er den nicht vermiedenen Kausalverlauf vorsätzlich-aktiv veranlaßt oder voran44

45

§ 2 I V 2.

Ahnlich will Rudolphi - an sich ein Anhänger der pflichtenorientierten Einheitstäterlösung - den Fall des garantenpflichtwidrigen Nichteinschreitens gegen Gehilfenbeiträge aus4der Täterschaftsbestrafung ausnehmen (in: SK, vor § 13 Rdnr. 42). 6 § 2 IV 2. 47

Wie soeben dargelegt, werden die Pflichtinhaltslehren - der treffende Ausdruck findet sich b. Bloy, JA 1987, 490 (491 mit umf. Nachw.) - aber nur relevant, soweit überhaupt eine Unterlassungshaupthandlung (im Versuchsstadium) vorliegt. 48 S/S, zuletzt 17. Aufl. (1974), Vorbem. § 47 Rdnrn. 106a ff. 49 In: S/S, Vorbem. §§ 25 ff. Rdnrn. 90 ff. 50

Eine Ausnahme soll bei den Fällen fehlender besonderer Täterqualitäten (insbes. Absichten) und eigenhändiger Delikte gelten, s. bereits oben § 9 I 2. zur pflichtenorientierten Einheitstäterlehre u. S/S-Cramer, Vorbem. §§ 25 ff. Rdnr. 92. 51 Eine Ausnahme soll in Fällen mittelbarer Täterschaft gelten, S/S-Cramer, Vorbem. §§ 25 ff. Rdnr. 93. 52 Unterlassung, S. 172 ff. u. Täterschaft, S. 97; krit. Bloy, Beteiligungsform, S. 216 ff.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

getrieben hätte"53. Beim Beschützergaranten sei nun stets der Erfolg - unabhängig von der Art und Weise seines Zustandekommens - zu hindern. Hingegen stellten Überwachergarantenpflichten das Äquivalent der Begehungsunterlassungspflichten dar 54; wie bei diesen der Handlungsunwert der Modifikation zwischen Täter- und Teilnehmerunwert zugänglich sei, sei es der Handlungsunwert bei jenen55. Gerade der von Herzberg vorgenommene Vergleich mit positivem Tun entspricht der hier vertretenen Auffassung, es komme auf die "Zulassungshandlung" und deren Einordnung als täterschaftlich oder nur teilnehmend an. Jedoch ist gegen die genannten Pflichtinhaltslehren einzuwenden, daß die Trennung zwischen Obhuts- und Überwachergarantenstellungen problematisch ist, da Obhuts- in Überwachergarantenstellungen umformuliert werden können und vice versa56. Vielmehr ist im Anschluß an Jakobs57 auf die - noch auszuführende 58 - Trennung zwischen Garantenpflichten kraft Wahrnehmung von (Organisations-)Freiheit und solchen kraft Institution zu rekurrieren: Letztere gewährleisten die Solidarität zu dem bedrohten Rechtsgut, die oben als Grund der Teilnahmestrafbarkeit identifiziert wurde , schon norminhaltlich und unabhängig davon, woher die Gefahr droht. Sofern ein pflichtwidriges Unterlassen nach Versuchsbeginn (also bei konkreter Gefährdung des zu garantierenden Rechtsguts) vorliegt, führt die Verletzung institutionsbezogener Garantenpflichten also zur Täterschaft, selbst wenn das Unterlassen einen anderen nur in den Stand gesetzt hat, eine (Haupt-)Verletzungshandlung vorzunehmen. Organisationsbezogene Garantenpflichten verlangen hingegen nicht mehr als die Abwendung solcher Erfolge, die bei Überschreitung des erlaubten Risikos als Folge der Wahrnehmung von (Organisations-)Freiheit entstehen; hierin liegt nicht unmittelbar eine Solidaritätspflicht zu fremden Rechtsgütern. Unterläßt der Organisationsgarant Hilfs- und Vorsorgehandlungen, die einen Dritten außerstande gesetzt hätten, die Haupttat zu begehen, so kann den Garanten 53

54

Herzberg , Täterschaft, S. 98.

Dies trifft axiologisch zu, nicht aber handlungstheoretisch; zu Herzbergs abzulehnendem negativem Handlungsbegriff s. bereits oben §§ 2 I 2., 3 III 2. mit Fn. 120. 55 Hiergegen hat Bloy (Beteiligungsform, S. 217 f.) eingewendet, von Herzberg werde die "Parallele zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt... überstrapaziert". Die Abgrenzung der Handlungsunwerte beim Begehungsdelikte geschehe nach dem Kriterium der Tatherrschaft, die beim Unterlassungsdelikt gerade nicht auffindbar sei. Dies trifft zwar zu; jedoch ist die Tatherrschaft nach dem oben § 2 IV 2. Ausgeführten auch beim Begehungsdelikt nur eine Chiffre für pflichten- und verantwortungsorientierte Argumente, die sich ebenso beim Unterlassungsdelikt finden. Wenn Bloy zudem rügt, es würden nach dem Ansatz von Herzberg situationsbetreffende - und nicht selbst verhaltensgebundene - Merkmale berücksichtigt, so ist dem der von Bloy selbst zugestandene Befund entgegenzuhalten, daß ein Unterlassen als Pflichtwidrigkeit überhaupt nur situationsgebunden bestimmt werden kann, s. oben § 6 11., 2. 56 Eingehend unten § 10IV 3. 57 Strafrecht, 29/101 ff. 58 S. unten §10 IV 7. 5 S. oben § 2 IV .

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

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spiegelbildlich zur Lage beim Begehungsdelikt - nur eine aus fremdem Unrecht abgeleitete Teilnahmeverantwortlichkeit treffen 60. Dies gilt - ganz im Sinne des von Welp zur Ingerenz Ausgeführten - dann aber auch für eine spätere Unterlassungs-Haupthandlung, die nur unter der weiteren Voraussetzung der mit- oder mittelbar-täterschaftlichen Beteiligung im Versuchsbereich täterschaftliche Haftung begründen kann; hier kann von einem 'Aufwertungsverbot" gesprochen werden. IL Die Beteiligung durch garantenpflichtwidriges

Unterlassen

1. Denkbare Fallkonstellationen De lege lata sind folgende acht Konstellationen der Beteiligung des unterlassenden Garanten konstruierbar: (1) Mittäterschaft zusammen mit einem Begehungstäter; (2) Mittäterschaft zusammen mit einem Unterlassungstäter (Garanten); (3) mittelbare Täterschaft mit einem Begehungstäter als Tatmittler; (4) mittelbare Täterschaft mit einem Unterlassungstäter (Garanten) als Tatmittler; (5) Anstiftung eines Begehungstäters; (6) Anstiftung eines Unterlassungstäters (Garanten); (7) Beihilfe zur Tat eines Begehungstäters; (8) Beihilfe zur Tat eines Unterlassungstäters (Garanten). Entgegen zahlreichen Gegenstimmen lassen sich für alle dieser Konstellationen dogmatisch relevante Anwendungsfälle aufzeigen. 2. Mittäterschaft zwischen Begehungstäter und unterlassendem Garanten Mittäterschaft zwischen einem unterlassenden Garanten und einem Begehungstäter ist im Bereich der Sicherungsgarantenpflichten (kraft Wahrnehmung von < Organisations-> Freiheit) nur dann möglich, wenn die Unterlassungshandlung "spiegelbildlich" einen (mit-)täterschaftlichen Tatbeitrag - und das heißt insbesondere: einen Tatbeitrag nach Eintritt ins Versuchsstadium - darstellen würde61. Wer z.B. eine ihm gehörende Waffe unzureichend verwahrt, damit sie von einem anderen zur Begehung einer Straftat gestohlen werde, ist nur Gehilfe zu dieser Straftat, und zwar unabhängig davon, ob er die Straftat noch (später) hindern könnte; eine Aufwertung zur Unterlassungsmittäterschaft findet auch bei später bestehender 60

Jakobs, Strafrecht, 29/101. Allerdings ist diese Auffassung noch mit der oben § 2 IV 1. vertretenen normentheoretischen These zu harmonisieren, daß §§ 26 f. keine Verhaltensnormen begründen und deshalb § 13 als "Transformationsnorm" für Verhaltensnormen konsequenterweise auf §§ 26 f. nicht unmittelbar angewendet werden kann. Da aber den Garanten gem. § 13 i.V.m. den Begehungstatbeständen eine Erfolgsabwendungspflicht trifft, kann diese i.V.m. §§ 26 f. auch weitergehende Solidaritätspflichten begründen, die aber eben - anders als bei den institutionsbezogenen Garantenpflichten - nicht unmittelbar norm- und hauptpflichtinhaltlich bestehen. 61 Jakobs, Strafrecht, 29/101.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

weiterer Erfolgsabwendungsmöglichkeit nicht statt. Anderes gilt beispielsweise dann, wenn es der für die Endkontrolle von Produkten Verantwortliche in Abstimmung mit dem Produktionsleiter unterläßt, bestimmte anweisungsgemäß produzierte gefährliche Produkte auszusondern: Aus der Sicht der Produktionsleiters liegt ein beendeter Versuch vor, weil er alles getan hat, was für ihn zur Kausierung schädigender Erfolge notwendig ist; der den Kausalverlauf nicht unterbrechende Unterlassungsbeitrag des für die Endkontrolle Verantwortlichen hat täterschaftliches Gewicht, freilich und insoweit ist der Kritik der pflichtenorientierten Einheitstäterlösung an der Notwendigkeit einer "Mittäterschaft" zwischen Begehungs- und Unterlassungstäter recht zu geben - ohne daß ein gemeinsamer Tatentschluß erforderlich ist. Hingegen gilt bei Garantenstellungen kraft Institution (die überwiegend mit den sog. Obhutsgarantenstellungen zusammenfallen), daß jede Beteiligung im Versuchsstadium unmittelbar-täterschaftlich ist, auch wenn sie der Sache nach nur eine Hilfshandlung darstellt62. Hindert beispielsweise ein Vater es nicht, daß seine Tochter vor seinen Augen von einem Dritten vergewaltigt wird, so ist (unmittelbare) Täterschaft gegeben, und zwar unabhängig davon, ob der Tatbeitrag sachlich nur als Teilnahme anzusehen ist oder ob der Dritte aufgrund eines mit dem Vater vorgefaßten Tatplans oder aufgrund dessen Aufforderung tätig wurde; im zuletzt genannten Fall gilt insbesondere das Verbot der Aufwertung der Tatbeiträge des Garanten nicht. Der Sache nach liegt also in diesen Fällen - in denen der Garant selbst alle Deliktsmerkmale in seiner Person erfüllt - in der Tat eine Art "Nebentäterschaft" vor; der §§ 25 ff. bedarf es für eine Zurechnung nicht63. Gleichwohl sind - entgegen der pflichtenorientierten Einheitstäterlösung im Bereich der institutionellen Garantenstellungen auch außerhalb der Fälle der eigenhändigen bzw. Absichtsdelikte ausnahmsweise Fälle der Anstiftung bzw. Beihilfe denkbar, welche sich aus der hier vertretenen Auffassung ergeben, daß die "omissio libera in causa" nicht anzuerkennen ist64 und die (mit-)täterschaftliche Strafbarkeit stets ein Mitwirken im Versuchsstadium, also bei einer Haupthandlung voraussetzen65. Hiernach erscheint die Konsequenz unabweisbar, daß ein Vater, der einen Mörder seines Kindes gedungen hat und sich einen Tag vor dem verabredeten Termin auf Reisen begibt, ebensowenig Unterlassungstäter sein kann wie derjenige, der sich in Kenntnis eines von ihm nicht veranlaßten Mordanschlags abreist; im entscheidenden Zeitpunkt hat der Vater ggf. keine Erfolgsabwendungsmöglichkeit (und

62

Jakobs , Strafrecht, 29/106. Zur Nebentäterschaft s. nur Jakobs, Strafrecht, 21/109; LK-Roxin, § 25 Rdnr. 106 f.; je m.w.N. 64 S. oben § 3 III 5. 65 S. oben § 2 IV 2.. 63

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

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weiß dies auch). Es bleibt also im ersten Fall bei einer bloßen Anstiftungs-, im zweiten bei einer bloßen Beihilfestrafbarkeit 66. Im Ergebnis ist der pflichtenorientierten Einheitstäterlösung allerdings insoweit recht zu geben, als die Mittäterschaft zwischen Garanten und Begehungstäter deshalb eine geringe Rolle spielt, weil entweder bereits unmittelbare (Neben-)Täterschaft oder aber nur bloße Teilnahme vorliegt. Die Annahme von Mittäterschaft ist freilich dann bedeutsam, wenn nicht feststeht, ob der Garant den durch den Begehungstäter herbeigeführten Erfolg wirklich hätte verhindern können. Bei der Mittäterschaft kommt es nicht darauf an, ob der konkrete Tatbeitrag erfolgskausal geworden ist; vielmehr muß nur gefragt werden, ob die Tat insgesamt den Erfolg kausal bewirkt hätte. Haben mehrere Mittäter den tatbestandsmäßigen Erfolg erst durch die Gesamtheit ihrer Beiträge kausiert, so ist jeder einzelne Beitrag schon deshalb kausal, weil die Beiträge auf Grund des gemeinsamen Tatentschlusses (i.V.m. einem Tatbeitrag im Ausführungsstadium) wechselseitig zugerechnet werden; des Rückgriffs auf die Figur der "kumulativen Kausalität" bedarf es nicht67. Wie bedeutsam dies sein kann, zeigt der Fall BGH NJW 1966, 1743. Hier hatten Gäste in einer Gastwirtschaft eine Frau dadurch mißhandelt, daß sie ihr das Haupthaar und einen Teil der Schamhaare abschnitten; dies hatte die Gastwirtin gebilligt und geduldet (und zudem das Tatwerkzeug, nämlich die verwendete Schere, zur Verfügung gestellt). Selbst wenn hier die Tat von der Wirtin nicht hätte insgesamt verhindert werden können - was der Bundesgerichtshof allerdings annahm -, so hätte wegen täterschaftlicher Körperverletzung durch Unterlassen bestraft werden können, da Mittäterschaft vorlag und deshalb das zweifellos kausale Handeln der Gäste der Wirtin zuzurechnen war. 3. Mittäterschaft mehrerer Garanten Gegen die Möglichkeit einer Mittäterschaft mehrerer unterlassender Garanten kann nicht schon eingewendet werden, es gebe keinen Unterlassungsvorsatz und somit erst recht keinen gemeinsamen Unterlassungsentschluß68. Es wurde bereits begründet, daß es intentionale Unterlassungshandlungen gibt69; deshalb ist auch die Möglichkeit eines gemeinsamen Unterlassungsentschlusses anzuerkennen70. Deshalb ist die Mittäterschaft mehrerer Garanten nach Grund und Grenzen nicht anders zu behandeln als 66 A.A. aber Jakobs, Strafrecht, 29/106; wie hier hingegen SK-Rudolphi, Vor § 13 Rdnr. 42; s. auch LK-Roxin, § 25 Rdnr. 151. 67 S. nur RGSt 19,141 (145); Jescheck, Lehrbuch, S. 253 in Fn. 22; S/S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 83 a.E.

68

So aber - konsequent - Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 189. S. oben § 711. a.E. 70 Wie hier die h.A., s. nur RGSt 66, 71 (74); Jescheck, Lehrbuch, S. 579; Roxin, Täterschaft, S. 469 f. 69

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

die soeben dargelegte zwischen Begehungs- und Unterlassungstäter. Insbesondere gilt auch hier für Sicherungsgaranten das Aufwertungsverbot: Wer in Abstimmung mit einem Vater eine Waffe schlecht verwahrt, damit sie von einem Mörder gestohlen werden kann, der das Kind des Vaters mit der Waffe töten will, bleibt Gehilfe, und zwar tateinheitlich einerseits zur Begehungstat des Mörders, andererseits zur Unterlassungstat des Vaters. Entsprechend dem soeben Dargelegten ist freilich ein mittäterschaftliches Unterlassen häufig rechtlich irrelevant, wenn nämlich alle beteiligten Garanten selbst täterschaftlich unterlassen: Werfen weder der Vater noch die Mutter dem ertrinkenden Kind den erreichbaren Rettungsring zu, so erfüllen beide selbst und unmittelbar den Tatbestand der §§ 212, 13, auch wenn sie sich nicht über die Tat abgestimmt haben71. Jedoch hat bereits Armin Kaufmann - der die Mittäterschaft bei mehreren Unterlassungen grundsätzlich ablehnt - die Notwendigkeit mittäterschaftlicher Zurechnung für einen Sonderfall angedeutet72: Können mehrere Unterlassungstäter nur gemeinsam den Erfolg abwenden, so unterlassen sie nach Armin Kaufmann, "als Mittäter zu handeln" - was nach dem Umkehrprinzip das Äquivalent zur (freilich ausgeschlossenen) Unterlassungs-Mittäterschaft ist. Die Notwendigkeit mittäterschaftlicher Zurechnung ergibt sich hier aus der Notwendigkeit der Kausalitätsfeststellung, da jeder einzelne der Unterlassungstäter für sich nicht kausal für den Erfolg wird (bzw. als pflichtgemäß Handelnder nicht kausal für die Erfolgsabwendung werden kann). Diesen Gesichtspunkt verdeutlicht das bereits mehrfach erwähnte "Lederspray-Urteil" des Bundesgerichtshofs 73. Hier lag es so, daß die Angeklagten in einer Sondersitzung als G^samigeschäftsführer beschlossen hatten, die gesundheitsgefährlichen Ledersprays nicht vom Markt zurückzurufen 74; keiner der Angeklagten wäre allein befugt gewesen, dies zu tun. Wird nun unterstellt, daß diese Befugniseinschränkung auch für die strafrechtliche Pflichtenlage relevant ist75, so fragt sich, ob der Einwand gelten kann, daß jeder der Angeklagten am Widerstand der anderen gescheitert wäre (bzw. das Gegenteil S. auch das - freilich § 323 c betreffende - Beispiel nach Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 189: "Wenn 50 Schwimmer dem Ertrinken eines Kindes zusehen, haben sie zwar alle die Rettung unterlassen, aber sie haben dies nicht 'gemeinschaftlich' unterlassen: Jeder für sich ist 'Unterlassungstäter', wenn man will: Nebentäter der Unterlassung." - Allerdings kann hier der Vertrauensgrundsatz relevant werden: Darf etwa die Mutter darauf vertrauen, daß der näher am Rettungsring stehende Vater diesen losbinden und dem Kind zuwerfen wird, so fehlt es an der Pflichtwidrigkeit, wenn sie zu spät erkennt, daß der Vater das Kind nicht retten will, und ihre Rettungsbemühungen deshalb nicht erfolgreich sind. 72 S.Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 189. 73 BGHSt 37,106 (126 ff.) 74 Dieser Beschluß stellte als organisationsinterner nicht etwa ein positives Tun - insbesondere nicht etwa: den Abbruch eines (bereits angelegten) rettenden Kausalverlaufs - dar, zutr. Jakobs, Strafrecht, 29/102 in Fn. 201a; s. bereits oben § 3 III 3. 75 So BGHSt 37, 106 (126 f.); dies entspricht der These, daß Handlungsverbote die Garantenpflichten ohne weiteres (bzw. allenfalls in den Grenzen des § 34) beschränken; Kritik hieran oben § 3 II 2.

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

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nicht erweislich ist). Dies verneinte der Bundesgerichtshof mit der - nach dem bereits oben zu 1. Ausgeführten zutreffenden - Erwägung, daß die Angeklagten Mittäter waren und deshalb "sich jeder von ihnen die Unterlassungsbeiträge aller anderen zurechnen lassen muß"76. Allerdings erwog der Bundesgerichtshof 77 eine Ausnahme für das überstimmte Mitglied eines Kollegialorgans, wenn es sich gegen das beschlossene Unterlassen gewendet hätte: "Von seiner strafrechtlichen Mitverantwortung wäre er (sc. das Mitglied) nur dann befreit, wenn er alles ihm Mögliche und Zumutbare getan hätte, um den gebotenen Beschluß zu erwirken". Es wird deutlich, daß hiermit aber keine Kausalitätsfrage angesprochen ist, sondern eine der Pflichtwidrigkeit: Wenn sich - wie postuliert - die Pflicht des Mitglieds eines Kollegialorgans darin erschöpft, im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren für die rechtlich gebotene Entscheidung einzutreten, dann liegt bereits kein pflichtwidriges Verhalten vor. Damit erweist sich die umstrittene Frage der Kausalität des Handelns in Kollegialörganen78 als eine Frage der Pflichtwidrigkeit (und zwar auch bei Beschlüssen, die ein positives Tun zum Inhalt haben). Freilich hat Brammsen79 auf zwei problematische Punkte des "Lederspray-Urteils" hingewiesen. Zum einen nimmt der Bundesgerichtshof eine sukzessive Unterlassungsmittäterschaft durch Geschäftsführer verschiedener Vertriebsfirmen an, welche an der fraglichen Sondersitzung nicht teilgenommen und sich später nicht für einen Rückruf eingesetzt hatten; hier wäre in der Tat ernsthaft zu erwägen gewesen, ob nicht bloße sukzessive Beihilfe vorlag. Des weiteren nahm der Bundesgerichtsführer für den Zeitpunkt, zu dem die Gefahr des Ledersprays noch nicht hinreichend bekannt und daher nur eine Zurechnung qua Fahrlässigkeit möglich war, eine kumulative Unterlassungskausalität an und führte aus, es gelte - wie beim Begehungsdelikt -, daß dort, "wo mehrere Beteiligte unabhängig voneinander den tatbestandsmäßigen Erfolg erst durch die Gesamtheit ihrer Haftungsbeiträge herbeiführen, jeder einzelne Beitrag im haftungsbegründenden Sinne ursächlich ist"80. Dies trifft zwar zu, führt aber gleichwohl in Probleme, wenn es um die Feststellung des - für die Fahrlässigkeitshaftung erforderlichen - Pflichtwidrigkeitszusammenhangs geht: Darf hier ein pflichtgemäßes Verhalten der anderen Geschäftsführer unterstellt werden? Brammsen meint, die Frage müsse durch Einführung der - überwiegend ab76

BGHSt 37,106 (129). Sachlich im Anschluß an OLG Stuttgart NStZ 1981, 27 f.; s. weiterhin S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 223. 77

78

Vgl. (allgemein) Schmidt-Salzer, Produkthaftung, Rdnr. 1.278 u. (im Zusammenhang gerichtlicher Kollegialentscheidungen bei § 336) BGH GA 1958, 204; LK-Spendel, § 336 Rdnr. 109.7 9 Jura 1991,533 (bes. 536 ff.). 80 BGHSt 37,106 (131). - Brammsen, Jura 1991, 533 (536) sieht hierin eine Anerkennung der Risikoerhöhungslehre für die Unterlassenskausalität (s. hierzu bereits oben § 5 III). Dies ist nicht zutreffend, da es um Sonderfragen der Mitverursachung geht.

2 8 8 D r i t t e s Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

gelehnten - Rechtsfigur der "fahrlässigen Mittäterschaft" gelöst werden81. Demgegenüber hat Bloy82 darauf hingewiesen, daß es dem Zweck des Rechtsgüterschutzes zuwiderlaufe, ein rechts- und pflichtwidriges Verhalten der anderen Garanten zu unterstellen; genauer gesagt ist auf Pflichtwidrigkeitsebene stets (ggf. kontrafaktisch) die normgemäße Intention der Beteiligten zu unterstellen83. 4. Mittelbare Täterschaft durch garantenpflichtwidriges Unterlassen Eine starke Literaturmeinung verneint die Möglichkeit, daß ein unterlassender Garant mittelbarer Täter sein kann84. Hierfür wird insbesondere angeführt, der Unterlassende stoße nichts an und habe den Tatmittler in keinem möglichen Sinne als "Werkzeug" in der Hand85. Hiermit wird aber auf einen unzutreffenden ontologischen Herrschaftsbegriff Bezug genommen86. Auch nicht zutreffend ist die These, in derartigen Fällen liege stets unmittelbare (Unterlassungs-)Täterschaft vor 87. Hier kann nämlich die Versuchsgrenze der unmittelbaren Täterschaft übersprungen werden: Läßt der Pfleger eines gefährlichen Geisteskranken des Abends dessen Tür offenstehen und begibt sich dann nach Hause, so liegt (noch) kein unmittelbares Ansetzen vor; vielmehr beginnt der Versuch nach hier vertretener Auffassung erst mit demjenigen des Geisteskranken, und zu diesem Zeitpunkt ist der Pfleger nicht (mehr) erfolgsabwendungsfähig. Daher kann auch ein unterlassender Garant mittelbarer Täter sein, und zwar - entsprechend dem oben Ausgeführten - genau dann, wenn er für den Defekt des Tatmittlers zuständig ist88. Hier kommen in erster Linie institutionelle Zuständigkeiten ins Spiel (der Eltern für ihre Kinder, des Pflegers für den Geisteskranken), jedoch kommen auch situationsbedingte Zuständigkeiten in den Blick: Der Hausmeister, der den im Gebäude versehentlich Eingeschlossenen nicht befreit, ist mittelbarer Täter durch Benutzung eines gerechtfertigten Werkzeugs, wenn der Eingeschlossene sich - gem. § 34 gerechtfertigt - durch die Zerstörung einer Tür Freiheit verschafft .

81

S. hierzu BGE 113 IV, 58 mit Bespr. b. Otto, Jura 1990,47 ff. In seiner Anm. DRspr. 1990, 1733 (1734) mit Verweis auf Samson, Kausalverläufe, S. 102 ff., 125 ff., 136 ff. 83 Vgl. § 2 III 2.; s. zum Problem bereits oben § 1IV 3. mit Fn. 149. 84 S/S-Cramer, § 25 Rdnr. 56; Jescheck, Lehrbuch, S. 579 f.; Roxin, Täterschaft, S. 471 f.; ders. y in: LK, § 25 Rdnr. 155; Stratenwenh, Strafrecht, Rdnr. 1066; Stree, GA 1963,1 (12). 85 Noch deutlicher wird dies in der Konstellation, in der auch der Tatmittler nur etwas (garantenpflichtwidrig) unterläßt; zu diesem Aspekt noch unten § 9 III 2. 86 S. bereits oben § 2 IV 2. 82

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So aber Jescheck, wie Fn. 84. Jakobs, Strafrecht, 29/103. Beispiel bei Jakobs, wie vorige Fn.

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

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5. Anstiftung durch garantenpflichtwidriges Unterlassen Ebenfalls hochumstritten ist die Frage, ob durch ein Unterlassen - sei es zur Begehungs-, sei es zur Unterlassungstat - angestiftet werden kann. Besonders problematisch ist es zunächst - wie bei allen Informations- und Kommunikationsdelikten -, wie ein konkludentes Tun von einem Unterlassen abgegrenzt werden kann90: Beinhaltet z.B. das Schweigen eines Rechtsanwalts, der eigens zu einem Gespräch hinzugezogen worden ist, in welchem der Mandant den Gesprächspartner mit Drohungen zu einer Vermögensverfügung veranlassen will, die konkludente - und für das weitere erpresserische Vorgehen des Mandanten bestimmende - Aussage, das Vorgehen sei rechtens91? Im Bereich des Betrugs92 geht die hA. bekanntlich dahin, daß ein schlüssiges, "stillschweigendes" positives Erklärungsverhalten bereits dann vorliegen soll, wenn dem Verhalten ein durch die Verkehrsanschauung zugewiesener "Erklärungswert" zukommt93. Ein solcher "Erklärungswert" ist jedoch bei allen Informations- und Kommunikationsdelikten erforderlich; ein Tun oder Unterlassen ohne "Erklärungswert" kann keine Täuschung bei § 263 und auch keine Anstiftungshandlung darstellen94. Die Abgrenzung ist vielmehr nach allgemeinen Regeln schlicht dahin zu bestimmen, ob ein Kommunikations- oder Informationsverhalten vorliegt (sei es auch unvollständig) oder nicht95. Im erwähnten Beispiel kann in der bloßen Anwesenheit des Rechtsanwalts daher kein Tun angenommen 90

Zum Problem Bloy, JA 1987, 490; s. weiterhin Loewenheim, Vorsatz des Anstifters, S. 32 f.; D. Meyer, Anstiftung, S. 161 ff.; Stein, Beteiligungsformenlehre, S. 273 ff. 91 S. BGH StV 1982, 517 m. Anm. Rudolphi, StV 1983, 518 ff.; Sieber, JZ 1983, 431 ff.; s. auch Ranft, JZ 1987, 859 (861). 92 Treffende Parallelisierung der Problematik b. Bloy, JA 1987,490. 93

Eingehend LK-Lackner, § 263 Rdnrn. 28 ff., bes. 51 u. 53 ff. betr. die problematische Abgrenzung zur Täuschung durch Unterlassen. Deshalb genügt die bloße Tatsachenmanipulation nie, um eine Täuschung bei § 263 anzunehmen, LK-Lackner, § 263 Rdnrn. 18 f., 25 m.w.N. Ebensowenig genügt es bei der Anstiftung, daß eine "tatprovozierende" Gelegenheit geschaffen wird; näher LK-Roxin, § 26 Rdnr. 12 mit umf. Nachw. in Fn. 8; s. weiterhin D. Meyer, Anstiftung, S. 34, 141 f.; Jescheck, Lehrbuch, S. 622; Schmidhäuser, Lehrbuch, 14/104; a.A. aber insbes. Bloy, Beteiligungsform, S. 328 f.; Lackner, § 26 Rdnr. 2; SK-Samson, § 26 Rdnr. 5. Bloy (Beteiligungsform, S. 222 f.) unterscheidet "Erklärungs-" und "Informationswert" und verlangt nur letzteren. Beispielsweise soll das durch den Nachbarn pflichtwidrig unterlassene Leeren des Briefkastens für potentielle Diebe den Informationswert haben, daß der Hausbewohner abwesend ist, und daher eine Anstiftung sein können. Aber auch der "Informationswert" geht nur dahin, daß die Tat sein kann, nicht aber, daß sie sein soll (hierzu noch unten b. Fn. 99). 95

Im Bereich des Betrugs bedeutet dies, daß zahlreiche Fälle der konkludenten Täuschung durch Tun - etwa das Schulbeispiel des Schweigens auf die Frage des Eisenbahnschaffners, wer zugestiegen sei - in Wahrheit Unterlassensfälle sind, bei denen eine Garantenpflicht nachzuweisen ist. Insoweit wird aber bedeutsam, daß § 263 - entgegen der hA. - ein "Recht auf Wahrheit" impliziert, was in der in der Rspr. entwickelten, in der Lit. freilich viel angefeindeten Sondergarantenstellung aus "Treu und Glauben" zum Ausdruck kommt. - Näher hierzu Kindhäuser, ZStW 103 (1991), 398 ff. 19 Vogel

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

werden, selbst wenn das Schweigen "beredt" gewesen sein sollte96. Anstiftung durch Unterlassen im bezeichneten Sinne muß also sowohl einen "Erklärungswert" haben als auch garantenpflichtwidrig sein97, und zwar in dem Sinne, daß in Bezug auf die Erklärung eine Garantenstellung besteht98. Genauer gesagt muß der "Erklärungswert" dahin gehen, daß die Tat sein soll (nicht nur: sein kann)99. Zu präzisieren ist auch, was mit dem Erfordernis gemeint ist, in Bezug auf die Erklärung müsse eine Garantenstellung bestehen. Die Garanten- als Erfolgsabwendungsgebote gebieten keineswegs unmittelbar die "Entschlußverhinderung" bei Dritten, zumal es insofern an Kausalgesetzen fehlt 100. Wie aber bereits dargelegt, geht es insofern nicht um Fragen der Normwidrigkeit, sondern um die Erweiterung der Solidaritätspflicht zum jeweils bedrohten Rechtsgut101. Deshalb ist auch der Ansatz, § 26 i.V.m. den Tatbeständen des Besonderen Teils als verhaltensgebundenes Delikt zu verstehen und auf die Modalitätenäquivalenz abzustellen102, nur im Ergebnis zutreffend, da die schlichte Zuständigkeit für fremde Tatentschlüsse (ohne ein weiteres, einen "Erklärungswert" beinhaltendes Unterlassen) nicht genügt, um eine Anstiftung durch Unterlassen anzunehmen103. Eine Zuständigkeit für fremde Tatentschlüsse kann zunächst institutionell begründet sein, insbesondere im Verhältnis von Eltern zu ihren (minderjährigen) Kindern. Allerdings liegt hier nur dann ein nicht bereits täterschaftliches Unterlassen vor, wenn nicht (auch) die Haupttat hätte im Ausführungsstadium verhindert werden können und das Unterlassen den "Erklärungswert" hatte, daß die Tat sein soll. Als Beispiel für eine derartige (seltene) Anstiftungssituation kann der Fall genannt werden, daß der Sohn und Hoferbe erklärt, er wolle den Hof abbrennen, werde dies aber nur tun, wenn der Vater das Sparbuch nicht wegschließe, damit es nicht ein Raub der Flammen werde; daraufhin läßt der Vater das bereits offen daliegende Sparbuch so liegen104. Zuständigkeiten für fremde Tatentschlüsse können aber durch auch Sicherungsgarantenstellungen begründet sein, vor allem in den vieldiskutierten Fällen der sog. "fahrlässigen Anstiftung" 105: Teilt ein Bankangestellter einem Bekannten vertrauliche Informationen über das 96 97

98

Rudolphi, wie Fn. 91. Ähnlich Jakobs, Strafrecht, 29/104.

A.A. Herzberg, Unterlassung, S. 81 (zum Betrug durch Unterlassen): Es genüge der Erklärungswert; eine besondere Garantenstellung sei nicht erforderlich. 99 So Jakobs, Strafrecht, 22/22 u. - speziell für die Anstiftung durch Unterlassen - 29/104; s. weiterhin Puppe, GA 1984, 101 (113); Schulz, Bestrafung des Ratgebers, S. 137 ff. u. JuS 1986, 933 ff. 100 Zutr. Bloy, JA 1987, 490 (494 f. m.w.N.). 101 Zu den hier auftretenden normentheoretischen Problemen s. oben Fn. 60. 102 So aber Bloy, JA 1978,490 (495 f.). 103 Treffend Jakobs, Strafrecht, 29/104. 104

Nach Jakobs, wie vorige Fn. Hierzu eingehend u. krit. Bloy, JA 1987,490 (496 f. m.w.N.).

105

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

291

Sicherungssystem der Bank mit und erkennt er, daß dies den Bekannten dazu bewegen könnte, den Tatentschluß zu einem Einbruchsdiebstahl zu fassen, so muß er dies verhindern, freilich nur bei Strafe als Anstifter (Aufwertungsverbot!). Das Unterlassen muß freilich dann keinen eigenständigen "Erklärungswert" haben, wenn es um Erklärungen Dritter geht, für die der Garant zuständig ist. Das dem Bereich institutioneller Zuständigkeiten entnommene Schulbeispiel geht dahin, daß ein Vater bemerkt, wie sich sein Sohn S anschickt, den X zu einer Straftat anzustiften 106. Aber auch im Bereich von Sicherungsgarantenstellungen sind Fälle der Anstiftung durch Unterlassen ohne eigenständigen "Erklärungswert" denkbar, etwa wenn ein Unternehmer nicht verhindert, daß ein als bloßer Entwurf gemeintes Schreiben, durch welches ein befreundeter Unternehmer zu einem Subventionsbetrug (§ 264) angestiftet werden soll, von der Sekretärin in die Post gegeben wird (oder bereits gegeben worden ist, ohne den befreundeten Unternehmer zu erreichen) 1 . Bemerkenswerterweise entspricht es hier auch der Auffassung derjenigen Autoren, welche grundsätzlich die Teilnahme durch Unterlassen als täterschaftlich werten (und Ausnahmen nur bei Sonder- und eigenhändigen Delikten usw. zulassen wollen), daß eine Anstiftung durch Unterlassen vorliegt, die selbst dann nicht zu einer täterschaftlichen Unterlassungsstrafbarkeit aufgewertet werden kann, wenn die Haupttat selbst zu verhindern ist108. Zu Recht weist Bloy aber darauf hin, daß hier nicht immer eine gleichsam "täterschaftliche" Anstiftung vorliegen muß, sondern auch nur eine als Beihilfe zur Anstiftung vorliegende Unterlassung und damit im Ergebnis eine bloße Beihilfe vorliegen kann109. Die Unterscheidung ist im hier vorgelegten System danach zu treffen, ob der Garant institutionell für die Information zuständig ist (so im Beispiel des Vaters) oder ob er nur Sicherungsgarant ist, sofern hier nicht die allgemeinen Regeln über (mittelbare) Täterschaft eingreifen. Daher bleibt es im zweiten Beispiel bei der Anstiftungsstrafbarkeit, wenn die Sekretärin unvorsätzlich handelt (mittelbare Täterschaft!); eine bloße Beihilfestrafbarkeit ist aber gegeben, wenn die Sekretärin vorsätzlich-eigenmächtig gehandelt hat. Schließlich ist noch auf eine wichtige - häufig übersehene - Grenze der Strafbarkeit wegen Anstiftung durch Unterlassen hinzuweisen, die sich daraus ergibt, daß ein omnimodo facturus nicht angestiftet werden kann110: Weder kann das unterlassene "Abstiften" von einem bereits gefaßten Tatentschluß noch - erst recht - die später unterlassene Tatverhinderung als Anstiftung durch Unterlassen strafbar sein111. Diese Fälle können freilich - im 106

Bloy, JA 1987, 490(497). Beispiel nach Jakobs, Strafrecht, 29/104. 108 S. Bloy, JA 1987, 490 (497); Herzberg, Unterlassung, S. 121; Jakobs, Strafrecht, 29/104; LK-Roxin, § 26 Rdnr. 13; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rdnr. 42. 1HQ Bloy, JA 1987,490 (497); ähnlich Otto, Grundkurs, S. 243. 110 Bloy, JA 1987,490(497). 111 A A . aber Jakobs, Strafrecht, 29/104: Wer als agent provocateur bemerkt, daß die Haupttat vollendet werden wird, muß sie verhindern; ähnlich Herzberg, Unterlassung, S. 124 f. 107

19*

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Falle von Sicherungsgarantenstellungen - qua (psychische) Beihilfe durch Unterlassen112, im Fällen von institutionell garantierte Garantenstellungen (und in Bezug auf die Haupttat gegebener Erfolgsabwendungsmöglichkeit) sogar qua Täterschaft strafbar sein. 6. Beihilfe durch garantenpflichtwidriges Unterlassen Die Reichweite der Beihilfe durch Unterlassen ergibt sich e contrario aus dem Dargelegten: Sie spielt insbesondere bei Sicherungsgarantenstellungen eine Rolle, wenn der Garant dadurch vorsätzlich Hilfe zur Tat des Begehungstäters113 leistet, daß durch den zu sichernden Gegenstand (der auch eine Information sein kann) die Haupttat vor Versuchsbeginn gefördert wird. Für die Beihilfestrafbarkeit erforderlich, aber auch genügend ist es, daß der Garant eine Garantenstellung mit Blick auf den Tatbeitrag - d.h. auf den zu sichernden Gegenstand - innehat114. Umstritten ist allerdings, inwieweit der Unterlassungsbeitrag des Gehilfen für die Haupttat kausal werden muß. Insbesondere diejenigen Autoren, welche die Beihilfe durch Unterlassen grundsätzlich täterschaftlich werten wollen, verlangen konsequent, daß feststehen müsse, daß die Tat bei pflichtgemäßem Verhalten nicht (oder zumindest: nicht so) ausgeführt worden wäre 115. Demgegenüber hat die ständige Rechtsprechung daran festgehalten, daß bereits die unterlassene Erschwerung der Haupttat eine pflichtwidrige Beihilfe darstellen könne116. Dieser Auffassung ist zuzustimmen, sofern - generell wie hier - auf das Erfordernis eines für den Erfolg der Haupttat kausalen Beitrags verzichtet wird: Hiernach genügt, daß der Unterlassungsbeitrag den Täter in den Stand setzt, mit der Ausführung der Haupttat zu beginnen; dies gilt aber auch, wenn die Haupttat nur erleichtert bzw. pflichtwidrig nicht erschwert wird 117 . Daß es um ein "nutzloses Eingreifen" 118 gehe, kann von daher nicht zugegeben werden: Ebenso wie derje112

S/S-Cramer , § 26 Rdnr. 7; Loewenheim , Vorsatz des Anstifters, S. 37 f. Zur Problematik der Beihilfe zum unechten Unterlassungsdelikt s. unten § 9 III 4.

113

114

Zweifelnd aber Roxin (Täterschaft, S. 485 ff.) mit dem Beispiel, daß ein Nachbar erkennt, daß Attentäter über sein Grundstück auf das gut bewachte Nachbarhaus vordringen wollen, in dem ein Politiker wohnt, und deshalb die Tür unverschlossen läßt. Hier liegt zwar keine (institutionelle Obhuts-)Garantenstellung zugunsten des Politikers vor. Der Nachbar hat aber eine Sicherungsgarantenstellung über das Grundstück, welche die Solidaritätspflicht begründet, nicht andere in den Stand zu setzen, von dem zu sichernden Gegenstand Gebrauch zur 115 Begehung von Straftaten zu machen: Unterlassungsbeihilfestrafbarkeit des Nachbarn. Grünwald , GA 1959, 110 (118 in Fn. 21); Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 293; Roxin , Täterschaft, S. 489; ders., in: LK, § 27 Rdnr. 27. 116 RGSt 71,176 (178); 73,52 (54); BGH NJW 1953,1838. 117 I.E. ebenso Jakobs , Strafrecht, 29/102a; Lackner , § 27 Rdnr. 5; Ranft , ZStW 97 (1985),

268 (288). 118

201.

So aber Grünwald , wie Fn. 115; gegen Grünwald auch Jakobs, Strafrecht, 29/102a in Fn.

293

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

nige, der dem Täter ein bestehendes überwindbares Hindernis aus dem Weg räumt (z.B. den Hofhund fortschafft, der ansonsten vom Täter unmittelbar vor der Tat vergiftet worden wäre), zwar letztlich mit Blick auf das geschützte Rechtsgut "nutzlos" eingreift, tut es derjenige, der ein nicht bestehendes überwindbares Hindernisse pflichtwidrig nicht schafft 119. Problematisch sind schließlich die Fälle "sozialadäquater" Beihilfe durch Unterlassen, etwa in den Fällen "fahrlässiger Anstiftung" durch Mitteilung gängiger Informationen und insbesondere durch Rechtsrat, wenn der Beratende (späterhin) erkennt, daß der Rechtsrat zum Anlaß genommen werden könnte, eine Straftat zu begehen. Die Problematik kann hier nicht allgemein behandelt werden 120; aus der Sicht der Garantenhaftung ist nur anzumerken: Grundsätzlich müssen hier Begehungs- und Unterlassungshaftung parallelisiert werden 121. Dabei ist zu beachten, daß nach dem oben Dargelegten122 aus erlaubt riskanten Vorhandlungen schon allgemein keine Garantenpflichten resultieren. Bei der Beihilfe durch Unterlassen nach "sozialadäquatem" vorangegangenen Tun kommt hinzu, daß weder die Vorhandlung noch die Unterlassung selbst einen Mangel an Solidarität mit dem bedrohten Rechtsgut indizieren 123. Soweit Frisch 2 4 hiervon eine Ausnahme mit Blick auf drohende Katalogtaten i.S.v. § 138 machen will, ist dies zweifelhaft: § 138 kann die hier in Frage stehenden Probleme schon deshalb nicht lösen, weil eine etwaige Beteiligungsstrafbarkeit die Anwendbarkeit des § 138 gerade ausschließt 125 und weil § 138 als echtes Unterlassungsdelikt gerade keine Garantenpflichten begründet126.

III. Die Beteiligung am garantenpflichtwidrigen

Unterlassen

1. Denkbare Fallkonstellationen - Abgrenzung zu Begehungsfällen An den unechten Unterlassungsdelikten sind de lege lata ebenfalls acht Beteiligungsformen denkbar: (1) Mittäterschaft durch Begehen; (2) Mittä119

Selbstverständlich gilt hier die Grenze der Zumutbarkeit. Daher ist das als argumentum ad absurdum gemeinte Beispiel von Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 293, ein Nachtwächter müsse sich nach der Rspr. von den einbrechenden Dieben fesseln lassen, um die Tat zu erschweren, leicht zu lösen: Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bzw. § 35. Deshalb scheidet auch - entgegen Armin Kaufmann - eine Versuchsstrafbarkeit aus. 120 S. neuerdings Schulz, Bestrafung des Ratgebers, passim. 121 Jakobs, Strafrecht, 29/105a. 122 §6 III 4. 123

Zum diesem Aspekt Schumann, Selbstverantwortung, S. 54 ff. Verhalten, S. 313 f. (für die Begehungsbeihilfe). 125 HA., s. nur Lackner, § 138 Rdnr. 6; aA. aber Schmidhäuser, in: Bockelmann-FS, S. 683 (694 ff.). 126 Allg.M., s. nur Lackner, § 138 Rdnr. 8. 124

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

terschaft durch (garantenpflichtwidriges) Unterlassen; (3) mittelbare Täterschaft durch Begehen; (4) mittelbare Täterschaft durch (garantenpflichtwidriges) Unterlassen; (5) Anstiftung durch Begehen; (6) Anstiftung durch garantenpflichtwidriges Unterlassen; (7) Beihilfe durch Begehen; (8) Beihilfe durch garantenpflichtwidriges Unterlassen. Nun sind die Konstellationen (1) und (2) bereits oben behandelt worden 127; desgleichen stellen sich bei den Konstellationen (4), (6) und (8) zugleich (und vorrangig) die ebenfalls bereits behandelten Probleme, inwieweit mittelbare Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe durch Unterlassen möglich ist. Eigenständige Probleme werfen vor allem die Konstellationen (3), (5) und (7) auf, in denen es um die Beteiligung durch positives Tun an einem Unterlassen geht. Das Grundproblem dieser Konstellationen liegt nicht darin, daß ein Unterlassen als Ausbleiben eines Verhaltens, also als Nicht-Ereignis, nicht auch nicht durch positives Tun - kausal herbeigeführt werden kann128, wie sich aus der hier vertretenen Kausalitätslehre ergibt 129: Wer einen Garanten in einer tatbestandsmäßigen Situation niederschlägt, wird für dessen Unterlassen als Nichts-Tun sehr wohl kausal. Hieraus ergibt sich aber wiederum, daß - wie es auch der h.L. entspricht - der Begehende in derartigen Fällen für den Erfolg kausal wird, und zwar nach den Grundsätzen über die Hinderung fremder rettender Kausalverläufe 130. Damit liegt (unmittelbare) Begehungstäterschaft vor: Wer den Vater, der zur Rettung seines ertrinkenden Kindes ansetzt, niederschlägt, tötet das Kind durch täterschaftliches positives Tun. Gleichwohl sind (auch außerhalb der Beteiligung an Sonderpflichtdelikten 131) Konstellationen denkbar, in denen - entgegen einer wohl h.L. 132 - eine derartige (unmittelbare) Begehungstäterschaft ausscheidet. Jakobs133 nennt das Beispiel, daß ein Bote des Betriebsleiters an den Techniker einer Kläranlage die Anweisung überbringt, das Abfließen von Chemieabfall in einen Fluß nicht zu hindern; hier liege nur Beihilfe zur Gewässerverunreinigung (§ 324) vor. Allgemeiner gesprochen scheidet eine unmittelbare Begehungstäterschaft genau dann aus, wenn die Einwirkung auf den unterlassenden Garanten nicht kausal für dessen Unterlassen wird, was insbesondere dann angenommen werden kann, wenn die Reaktion nur

127 12Ä

129

S. oben § 9 II 1., 2. So aber Jakobs, Strafrecht, 29/108.

S. oben § 5 II. - Jakobs (wie vorige Fn.) meint in derartigen Fällen darauf zurückgreifen zu müssen, daß tatbestandliches Unterlassen "nicht nur Fehlen eines Ereignisses, sondern auch Zuständigkeit für einen Verlauf" sei. Hieran sei aber Beteiligung mit der Folge der Beteiligungszuständigkeit möglich, wenn der Sich-Beteiligende seinen Organisationskreis mit demjenigen des Unterlassenden so verbindet, daß jener für den Verlauf auch zuständig wird. 130 Hierzu bereits oben § 3 III 3. 131 Zu diesem Aspekt s. sogleich § 9 III 2. S. nur Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 190 ff., 317; Welzel , Strafrecht, S. 206 f.; vgl. weiterhin - unklar - S/S-Cramer, Vorbem. §§ 25 ff. Rdnr. 86. 133 Strafrecht, 29/108.

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

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psychisch vermittelt ist 134 . In derartigen Fallkonstellationen ist mithin eine Zurechnung erforderlich, die sich als mittelbare Täterschaft, Anstiftung oder (psychische) Beihilfe darstellen kann. 2. Mittelbare Täterschaft über einen Garanten als Tatmittler Daß ein Begehungstäter einen Garanten als Tatmittler einsetzen könne, hat insbesondere Armin Kaufmann 135 für unmöglich gehalten: Wer einen Garanten zur Untätigkeit zwinge, sei unmittelbar kausaler Begehungstäter. Wie dargelegt, trifft dies dann nicht zu, wenn der Zwang (nur) psychisch vermittelt ist - Fälle des § 35 - bzw. wenn er auf einem - Vorsatz- oder schuldausschließenden - Irrtum beruht 136. Deshalb ist in diesen Konstellationen die mittelbare Täterschaft grundsätzlich anzuerkennen137. Allerdings fragt sich, ob es bei dieser Konstruktion darauf ankommen muß, ob den mittelbaren Täter selbst eine Garantenpflicht trifft - wenn z.B. der Vater die Mutter durch Drohung, er werde sie andernfalls töten, von der Rettung des Kindes abhält138 - oder nicht - wenn z.B. ein Dritter die Drohung ausspricht. Nach allgemeinen Grundsätzen muß der mittelbare Täter alle Täterqualitäten - ausgenommen die Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung aufweisen. Hieraus leitet Cramer ab, daß im Beispielsfall doch eine unmittelbare Begehungstäterschaft angenommen werden muß139. Jedoch hat Jakobs dagegen zutreffend eingewendet, bei der mittelbaren Täterschaft gehe es um die Zurechnung der Tat des Tatmittlers als eigene des mittelbaren Täters. Dies bedeutet für die Entscheidung, ob ein Tun oder ein Unterlassen des mittelbaren Täters vorliegt, nach der Qualität des (zurechnungsbegründenden) Verhaltens des mittelbaren Täters selbst zu entscheiden ist, nicht aber nach derjenigen des Verhaltens des Tatmittlers. Es liegt also im Beispielsfall eine mittelbare Täterschaft durch Tun - keine durch Unterlassen und auch keine unmittelbare Begehungstäterschaft - vor, so daß eine Garantenpflicht des mittelbaren Täters nicht erforderlich ist 140 . Freilich ist wiederum die Grenze des Versuchsbeginns zu beachten, der nach der hier vertretenen Auffassung (erst) mit dem unmittelbaren Ansetzen des Tatmittlers gegeben ist. Wer z.B. einen Garanten davon abhält, sich in den Stand zu versetzen, eine Rettungshandlung vorzunehmen - z.B. eine Mutter 134 135 136 137

138

§ 2 IV 1. Dogmatik, S. 190. Kaufmann/Hassemer, JuS 1964,151 (156); wohl auch Ranft, JuS 1963, 340 (342). Jakobs, Strafrecht, 29/110; Jescheck, Lehrbuch, S. 579.

Zu dieser Konstellation - in der freilich in der Regel eine unmittelbare Unterlassungstäterschaft des mittelbaren Täters vorliegen wird - S/S-Cramer, § 25 Rdnr. 55. 139 S/S-Cramer, § 25 Rdnr. 56. 140

Ebensowenig ist übrigens eine Garantenpflicht des Tatmittlers erforderlich; Jakobs, Strafrecht, 29/110. Daher liegt mittelbare Täterschaft durch Tun auch dann vor, wenn ein nur allgemein Hilfspflichtiger (§ 323 c) oder sogar ein freiwilliger Retter durch Täuschung oder Zwang veranlaßt wird, die Rettung eines bedrohten Guts zu unterlassen.

Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

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veranlaßt, einen Kaffee zu trinken, in der Hoffnung, das dann beim Baden unbeaufsichtigte Kind werde im Meer ertrinken -, ist schon deshalb nicht mittelbarer Täter eines Totschlags, weil sein Tatbeitrag vor Eintritt in das Versuchsstadium geleistet wurde1 \ 3. Anstiftung zum garantenpflichtwidrigen Unterlassen Daß ein Garant zu einem Unterlassen durch positives Tun angestiftet werden kann, entspricht der hA. 1 4 2 Allerdings hat insbesondere Armin Kaufmann 143 Zweifel hieran geäußert. Da ein Unterlassungsvorsatz nicht existiere, könne er auch nicht durch positives Tun hervorgerufen werden 144. Jedoch sei - entsprechend dem "Umkehrprinzip" - das "Abstiften" von der Gebotserfüllung denkbar. Dies könne durch Hinderung des Fassens eines Erfolgsabwendungsentschlusses geschehen, aber auch durch dessen (handlungswirksame) Rückgängigmachung. AIP diese Fälle seien aber Fälle eines Begehungsdelikts145. - Dies trifft jedoch nicht zu, da der Abstiftungserfolg nicht durch deterministische Gesetze vermittelt ist 146 . Darüber hinaus entstehen Strafbarkeitslücken bei Sonderpflichtdelikten, wenn ein Extraneus einen Intraneus anstiftet: Bei der Anstiftung durch positives Tun greift hier § 28 Abs. 1 ein, wohingegen bei der - angeblich nur täterschaftlich möglichen - Anstiftung durch Unterlassen mangels Täterqualität Straflosigkeit einträte 147. Mithin ist die Anstiftung zu einem (garantenpflichtwidrigen) Unterlassungsdelikt ohne jede Besonderheit möglich. Da es sich um akzessorisches Unrecht handelt, ist in allen Fällen erforderlich, daß der Angestiftete garantenpflichtwidrig unterläßt, wohingegen den Begehungs-Anstifter keine Garantenpflicht treffen muß148.

141

Vgl. Jakobs , in: H. Kaufmann-GS, S. 791 (806 mit Fn. 39). RGSt 48,18 (21 - Anstiftung des Gemeinschuldners zur Gläubigerbegünstigung cjetzt § 283 c> durch Nichtsteilung des Konkursantrags); BGHSt 14, 280; vgl. aus der Lit. S/S-Cramer , Vorbem. §§ 25 ff. Rdnrn 86 f.; Jakobs , Strafrecht, 29/109; Jescheck , Lehrbuch, S. 579 mit umf. Nachw. in Fn. 16. 143 Dogmatik, S. 190 ff. 144 Hiergegen zutr. Roxin , Täterschaft, S. 510 ff. 142

145

Krit. u. eingehende Auseinandersetzung mit den weiteren Argumenten Armin Kaufmanns b. Roxin , Täterschaft, S. 513 ff. 146 Jakobs, Strafrecht, 29/109 in Fn. 218. 147 S/S-Cramer , Vorbem. §§ 25 ff. Rdnr. 87; Roxin , Täterschaft, S. 524 f.; Stree , GA 1963,1 (3 ff. u. 9). 148

Zur Bedeutung des § 28 s. sogleich § 9 IV.

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

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4. Beihilfe zum garantenpflichtwidrigen Unterlassen Die durch positives Tun begangene Beihilfe zu einem Unterlassungsdelikt wird allgemein als psychische Beihilfe - in der Form des Bestärkens des Unterlassungsentschlusses des Garanten - für möglich gehalten149. Umstritten ist hingegen, ob es physische, durch positives Tun geleistete Beihilfe zu (unechten) Unterlassungsdelikten gibt. Hierzu werden nach einem Beispiel von Armin Kaufmann 1 Fälle der Beihilfe zum Rücktritt vom Gebotserfüllungsversuch diskutiert, wenn z.B. eine geplante Rückrufaktion in letzter Minute dadurch verhindert wird, daß ein eingeweihter Angestellter die bereits in Auftrag gegebenen, vor dem gefährlichen Produkt warnenden Anzeigen wiederum zurückruft. Insoweit fragt sich allerdings, ob hier nicht die begehungstäterschaftliche Verhinderung eines rettenden Kausalverlaufs vorliegt. Hiergegen hat Roxin151 zu Recht eingewendet, daß diese Lösung dem Gewicht des Tatbeitrags nicht gerecht wird. Allgemeiner gesprochen kann durch positives Tun begangene Beihilfe dann vorliegen, wenn der Unterlassungstäter (Garant) nur in den Stand gesetzt wird, die Unterlassungshandlung zu begehen, für welche die täterschaftliche Verantwortung bei ihm bleibt152: Wer z.B. dem Vater Beruhigungstabletten bringt, damit er die Klagen seines sterbenden Kindes besser erträgt, welches er - aus welchen Gründen auch immer - nicht ins Krankenhaus bringen will, setzt den Vater nur in den Stand, eine Unterlassungshandlung zu begehen, und ist deshalb nur Gehilfe, freilich durch einen (zwar psychisch wirkenden, aber) physischen Tatbeitrag. IV. Zur Sonderfrage der Bedeutung des § 28 bei den unechten Unterlassungsdelikten 1. Streitstand Es ist sehr umstritten, welche Bedeutung § 28 bei der Beteiligung durch garantenpflichtwidriges Unterlassen bzw. an demselben hat: Stellt die Garantenstellung - ähnlich wie die Amtsträgereigenschaft - ein "besonderes persönliches Merkmal" dar, d.h. ist sie durch "besondere persönliche Eigen149

S. nur RGSt 27, 157 (Bestärkung des Entschlusses, fahnenflüchtig zu werden); 51, 39 (41); 77, 268 (269); Jescheck, Lehrbuch, S. 579; Roxin, Täterschaft, S. 525; a.A. aber Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 190 f. mit ähnlichen wie den gegen die Anstiftung vorgebrachten Gründen. 150 Dogmatik, S. 195 mit Fn. 249a: Wer einen zur Verbrechensanzeige bereits abgesendeten Brief zurückholt, soll nur Gehilfe zu § 138 sein (freilich ggf. auch Täter des § 138, da er die 151 geplante Tat kennt); krit. hierzu Roxin, Täterschaft, S. 525 f. Roxin, Täterschaft, S. 526. 152 Jakobs, 29/111.

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Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

schaften, Verhältnisse oder Umstände"153 gekennzeichnet, oder muß entscheidend sein, daß es um den Jedermann-Begehungsdelikten entsprechende und insoweit nicht um "besondere" Normen geht? Immerhin beschränkt sich der Streit auf § 28 Abs. 1\ nach allgemeiner Ansicht kann § 28 Abs. 2 nicht in Betracht kommen kann, da die Garantenstellung nicht eine anderweitig begründete Strafe modifiziert, sondern - für den Fall des Unterlassens - die Strafbarkeit erst begründet154. Die Ansicht, daß die Garantenstellungen keine besonderen persönlichen Merkmale i.S.v. § 28 Abs. 1 sind, hat am eingehendsten Geppert 155 begründet. Da das bei der Teilnahme zugerechnete Unrecht von tatmäßig-sachlichen sowie von personal-täterschaftlichen Elementen konstituiert werde, hält Geppert das Kriterium der "Täterbezogenheit" der besonderen persönlichen Merkmale (im Unterschied zur "Tatbezogenheit" solcher besonderer Merkmale, die nicht unter § 28 fallen 156) für untauglich. Vielmehr müßten aus § 28 Abs. I 1 5 7 alle diejenigen Merkmale ausgeklammert werden, die die betreffende Handlung als Rechtsgutsverletzung charakterisieren 158. Da aber die Garantenstellungen genau die Funktion hätten, durch Bestimmung des jeweils geschützten Rechtsguts das in Betracht kommende Unterlassungsunrecht zu konkretisieren, stellten sie auch keine Merkmale i.S.v. § 28 Abs. 1 dar; der Unterschied zur Amtsträgereigenschaft liege darin, daß bei den (echten) Amtsdelikten vorrangig das öffentliche Vertrauen in die pflichtgemäße Erfüllung staatlicher Aufgaben geschützt sei, die grundsätzlich auch durch einen Extraneus verletzbar sei 59 . - Ähnlich gelangt Herzberg, der von seiner Unterscheidung zwischen wertbezogenen, dem § 28 unterfallenden, und wertneutralen, akzessorisch zu behandelnden Merkmalen 160 ausgeht, dazu, die Garantenstellungen aus dem Anwendungsbereich des § 28 auszuschließen: Es könne nicht richtig sein, daß ein unrechtskonstitutives Merkmal, das bereits zur Konstituierung einer objektiv-täterschaftlichen Handlung (d.h. Unterlassung) "verbraucht" worden sei, nochmals bei § 28 in Ansatz zu bringen sei161. - Die Gegenansicht, nach welcher § 28 Abs. 1 auf Garantenstellungen anwendbar ist, hat insbesondere 153

So die Legaldefinition in § 14 Abs. 1, auf welche § 28 verweist; zur inhaltlichen vanz dieser Verweisung s. nur LK-Roxin , § 28 Rdnr. 35. m.w.N.

Irrele-

1 , 68 < 109 mit Fn. 105 >) § 28 Abs. 2 insoweit anwenden, als dem Begehungsanstifter zum unechten Unterlassungsdelikt die fakultative Strafmilderung des § 13 Abs. 2 versagt werden soll. 155 ZStW 82 (1970), 40 ff.; ebenso S/S-Cramer , § 28 Rdnr. 19; Jescheck , Lehrbuch, S. 596; Lackner , § 28 Rdnr. Rdnr. 6; alle m.w.N. 156 Zu diesem auf Welzel zurückgehenden u. von der Rspr. (BGHSt 6, 260 < 262 >; 8, 70 ) und h.L. aufgegriffenen Kriterium LK-Roxin, § 28 Rdnrn. 20 f. mit umf. Nachw. 157 Bzw. der Vorläufervorschrift des § 50 Abs. 2 a.F. 158 Geppert , ZStW 82 (1970), 40 (63 f.). 159 Geppert , ZStW 82 (1970), 40 (70 ff.). 160 Hierzu eingehend LK-Roxin , § 28 Rdnrn. 27 f. 161 Herzberg , ZStW 88 (1976), 68 (108 f.).

§ 9 Beteiligungslehre bei den unechten Unterlassungsdelikten

299

Vogler 162 begründet. Gegen Geppert wendet Vogler 163 zutreffend ein, die Reduktion des strafrechtlichen Unrechts auf die Rechtsgutsverletzung übersehe das unrechtsbegründende Merkmal der (Sonder-)Pflichtwidrigkeit; gegen Herzberg bringt er den ebenfalls zutreffenden Einwand vor, der Gedanke des Verbrauchs objektiv-täterschaftlicher Merkmale sei nicht tragfähig, da eine "Doppelverwertung" dann geradezu geboten sei, wenn sich im Falle der Teilnahme des Extraneus an der Tat des Intraneus die Wertung als Teilnahme gerade aus dem Fehlen eines besonderen persönlichen Merkmals ergebe . Allgemein gesprochen sei der Grund der durch § 28 Abs. 1 gebotenen Strafmilderung, daß das Fehlen der besonderen Merkmale den Teilnehmer von der Haupttat "distanziere"165, was insbesondere der Fall sei, wenn eine spezifische Pflichtenstellung des Täters beim Teilnehmer fehle. Grund solcher Pflichtenstellungen sei allgemein und insbesondere bei den Garantenstellungen - das in Anspruch genommene Vertrauen, welches vom Extraneus eben nicht in Anspruch genommen werde 166. 2. Garantenspezifische Lösung Der Streit läßt sich nicht mitte///ta/zmespezifischen Argumenten entscheiden, weil § 28 mit keiner möglichen Teilnahmeauffassung voll harmoniert 167. Vielmehr muß er durch gara/itenspezifische Argumente entschieden werden: Die verschiedenen Garantenstellungen müssen mit dem feststehenden Kernbestand zu § 28168 harmonisiert werden, also einerseits mit den eindeutig § 28 unterfallenden Beispielen der Amtsträgereigenschaft bei den Amtsdelikten oder des Anvertrautseins bei § 246, andererseits mit den eindeutig nicht § 28 unterfallenden Beispielen "strafrechtlicher Jedermannsgebote", die nur akzidentiell mit bestimmten persönlichen Merkmalen verbunden sind, wie der Gewahrsamsinhaberschaft bei § 246 oder der Schiffmanneigenschaft bzw. der Mitwirkung am Bau bei der Schiffs- bzw. Baugefährdung (§§ 297, 323). Diese Beispiele legen es nahe, im Anschluß an die von 1

In: Lange-FS, S. 265 ff.; i.E. ebenso Baumann/Weber, Strafrecht, S. 584; Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 107 ff.; Roxin, Täterschaft, S. 515 u. in LK, § 28 Rdnr. 40; SKSamson, § 28 Rdnr. 21; Stratenwerth, Strafrecht, Rdnr. 935. 163 In: Lange-FS, S. 265 (270). 164 Vogler, in: Lange-FS, S. 265 (272 f.). 165 Vogler, in: Lange-FS, S. 265 (273) im Anschluß an Dreher, JR 1970, 146 f. (Anm. zu BGHSt 23, 39). 166 Vogler, in: Lange-FS, S. 265 (279 ff.). - Der Vertrauensgedanke vermag aber nicht alle Garantenstellungen zu begründen, s. unten § 10 IV 4. zu (2), 5. Deshalb trifft der Ansatz von Vogler zu, führt aber nur für die institutionell begründeten Garantenstellungen - die weitgehend mit den sog. Obhutsgarantenstellungen zusammenfallen - zum zutreffenden Ergebnis; zu der hier vorgeschlagenen differenzierenden Lösung s. sogleich § 9 IV 2. 167 S. oben § 2 IV 3. a.E. 168 S. die Beispiele b. LK-Roxin, § 28 Rdnr. 18.

300

Drittes Kapitel: Pflichtwidrigkeit bei den unechten Unterlassungsdelikten

Gerl 169 begründete und von Jakobs170 präzisierte Lösung zu differenzieren: Garantenstellungen, die auf einer institutionellen Zuständigkeit beruhen wie insbesondere diejenige der Eltern gegenüber ihren Kindern oder der Amtsträger - unterfallen dem § 28 Abs. 1; hingegen sind aus § 28 Abs. 1 diejenigen Garantenstellungen auszuscheiden, die nur der Preis der jedermann eingeräumten Handlungsfreiheit sind, d.h. insbesondere die Sicherungs- oder Überwachungsgarantenstellungen. Bei der zuletztgenannten Einschränkung wird nicht übersehen, daß es sich auch hier um Pflichtdelikte handelt und aus Verboten Gebote nicht normlogisch abzuleiten sind171; jedoch geht es hier um die axiologische, nicht um die normlogische Entsprechung.

169 170

171

Merkmale, S. 160. Strafrecht, 29/112.

S. oben § 3 I 2.; so aber die Kritik von Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 109 an Gerl.

Viertes Kapitel

Vorüberlegungen zur Legitimation von Garantengeboten § 10 Methodische und theoretische Probleme der Legitimation von Garantengeboten

/. Die Besonderheit der Legitimationsproblematik

bei den Garantengeboten

1. Die methodische Differenz zu den bislang erörterten Fragen Offen geblieben ist bislang die Frage nach der materialen Ausgestaltung der Garantenlehre, in den Worten der hier verwendeten Normentheorie: der Legitimation - im Sinne von Begründung und inhaltlicher Bestimmung von Garantengeboten und insbesondere von möglichen Garantiebeziehungen und damit von konkreten Tatbeständen der unechten Unterlassungsdelikte. Dies ist kein Zufall, sondern durch eine methodische Differenz bedingt: Die Legitimationsfrage ist von den bislang erörterten Strukturfragen, die bei den unechten Unterlassungsdelikten auftreten, logisch und teleologisch streng zu trennen. Eine strukturorientierte Normentheorie, wie sie im ersten Kapitel entwickelt und im zweiten und dritten Kapitel auf dogmatische Fragen der unechten Unterlassungsdelikte angewendet worden ist, taugt vorrangig zur Beantwortung dogmatischer Fragen im engeren, klassischen Sinne (Kausalität, Vorsatz, Irrtum usw.)1. Hingegen muß eine materiale Legitimationstheorie weiter ausgreifen; sie betrifft nicht die Struktur, sondern den (inhaltlichen) Grund der Normen2. Dementsprechend ist es nicht Ziel der folgenden Überlegungen, eine neue materiale Garantenlehre vorzulegen oder Grund und Grenzen der einzelnen Garantenstellungen zu erörtern; vielmehr sollen nur die sich insoweit stellenden methodischen und theoretischen Probleme - soweit sie auch für dogmatische Fragen relevant sind - erörtert werden.

1 2

S. hierzu unten Fn. 18. S. hierzu aber bereits oben §§ 1 III; 2 II.

302

Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

2. Garantenlehren als Lehren des (allgemeinen Teils des) Besonderen, nicht des Allgemeinen Teils des Strafrechts Besonders deutlich wird die soeben bezeichnete methodische Differenz an der These Armin Kaufmanns 3, die Ausformung der Garantengebotstatbestände gehöre zur Problematik des Besonderen Teils. Gestellt sei die Frage nach der Existenz eines jeden einzelnen Unterlassungsdelikts; die Frage beantworte sich weder nach den Regeln über Tatbestand, Rechtswidrigkeit oder Schuld noch über andere dogmatische Figuren. Die Problematik (strafwürdiger) Gebotsverletzungen sei vielmehr dort zu lösen, wo auch sonst über Existenz und Auslegung einzelner Strafbestimmungen befunden werde: im Besonderen Teil. Allgemeingültige und zugleich präzise Maximen könnten nie entwickelt werden; über das Bestehen von Garantiebeziehungen sei vielmehr "nach dem konkreten sozialen Lebensbereich und ... im Hinblick auf die verschiedenen Tatbestände verschieden zu entscheiden114. Des weiteren seien bestimmte Delikte (nämlich vor allem die eigenhändigen5) nicht (täterschaftlich) durch Unterlassen zu begehen, wie auch bestimmte Handlungsmodalitäten im Unterlassen keine Entsprechung fänden. Demgegenüber setzte sich freilich im Gesetzgebungsverfahren die Auffassung durch, es handele sich bei der Garantenproblematik um eine Frage des Allgemeinen Teils des Strafrechts. Diese Auffassung stützte sich einerseits auf die Erwägung, bestimmte Garantenstellungen hätten im gesamten Besonderen Teil Bedeutung und seien daher "allgemeine" Regeln, andererseits auf die pragmatische Befürchtung, "daß eine Regelung der Garantengebotstatbestände im Besonderen Teil dem Schicksal der Lückenhaftigkeit oder generalklauselhaften Formulierung nicht entgehen (könne)"6. Eine Entscheidung des Streits setzt eine theoretische Klärung des Verhältnisses des Allgemeinen Teils zum Besonderen Teil des Strafrechts voraus7. Hierzu hat neuerdings Tiedemann8 darauf hingewiesen, daß die "Allgemeinheit" des Allgemeinen Teils auf zwei prinzipiell verschiedene Arten bestimmt werden kann. Einerseits kann auf der Grundlage des begriffsjuristischen Denkens9 das "Allgemeine" als Ergebnis des graduellen Weglassens 3

Dogmatik, S. 287 ff.; auch Grünwald, Unterlassungsdelikt, S. 75 ff.; zustimmend Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 318 ff., 342 ff.; s. bereits Kraus, ZStW 23 (1903), 763 (793). 4 Vgl. das Welzel-ZitSLt b. Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 288. 5 S. oben § 4 III 3. 6 Bärwinkel, Garantieverhältnisse, S. 51. 7

Grundlegend Fincke, Verhältnis, passim. In: Baumann-FS, S. 7 (8 ff.); dort umf. Nachw. zu den einschlägigen historischen Wurzeln und zum gegenwärtigen Meinungsstand. 9 Welches auf die aristotelische Definitionslehre zurückgeht, vgl. Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie, S. 308 ff., 318 ff. - Zur Begriffsjurisprudenz s. Larenz y Methodenlehre, S. 20 f. m.w.N. 8

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

303

des "Besonderen" verstanden werden, mithin als Ergebnis des "Vor-dieKlammer-ziehens" des Gemeinsamen10; hiernach besteht zwischen Allgemeinem und Besonderen Teil nur eine quantitative Differenz. In diesem Modell wird das (straf-)rechtliche Begriffssystem also in der Form einer Begriffspyramide (mit einem Oberbegriff - etwa demjenigen des Verbrechens - und sich darunter baumförmig entfaltenden Unterbegriffen etwa Tatbestand, einzelne Tatbestände, deren Tatbestandsmerkmale; Rechtswidrigkeit, einzelne Rechtfertigungsgründe, deren Merkmale usw.) gedacht. Freilich stimmt dieses Verständnis der "Allgemeinheit" des Allgemeinen Teils keineswegs mit demjenigen der kodifizierten Allgemeinen Teile im gesetzestechnischen Sinne überein, welche sich üblicherweise einer Definition der Straftat gerade enthalten11 und vielmehr - neben den Rechtsfolgen der Straftat - die (grundsätzliche und zeitliche sowie räumliche) Geltung sowie die zurechnungsbegründenden und -ausschließenden Umstände (wie Irrtum, Notwehr, Zwang usf.) regeln. Tiedemann will daher - anknüpfend an die Rechtstheorie der Aufklärung - einen anderen Weg beschreiten, um den Begriff der "Allgemeinheit" zu bestimmen: Der im rechtstheoretischen (wie auch weitgehend im gesetzestechnischen) Sinne "besondere" Teil enthalte die strafrechtlichen Verhaltensnormen, der im rechtstheoretischen Sinne "allgemeine" Teil enthalte die Regeln über die Anwendung dieser Verhaltensnormen und die Konstituierung der Straftat, im einzelnen: Geltungs-, Vorrang- und Zurechnungsregeln, und sei somit vom Besonderen Teil qualitativ und teleologisch unterschieden. Schließlich sei von dem Allgemeinen Teil im engeren, rechtstheoretischen Sinne zu trennen der "allgemeine Teil des Besonderen Teils", der sich mit den Typen und gemeinsamen Merkmalen der Tatbestände des Besonderen Teils und der in ihnen enthaltenen Verhaltensnormen - etwa mit den Gefährdungsdelikten oder mit der Kausalität - befasse 12. - Das Konzept von Tiedemann trifft in weiten Teilen mit dem hier vorgelegten Modell zusammen. Insbesondere ergibt sich die zutreffende Ablehnung des begriffsdefinitorischen Ansatzes nach dem hier zugrundegelegtem Verständnis daraus, daß bei der Konstituierung der Straftat zwei Regelsysteme (nämlich Normen und Zurechnungsregeln) zusammenwirken, denen zwei unterschiedliche und inkompatible Sprachweisen, nämlich präskriptives und askriptives Sprechen, korrespondieren 13; damit ist es ausgeschlossen, das strafrechtliche Begriffssystem als (einheitliche) Begriffspyramide zu begreifen. Des weiteren sind unter teleologischen Gesichtspunkten in der Tat die Verhaltensnormen "besonders" und insbesondere die Zurechnungs10

S. nur Wieacker , Privatrechtsgeschichte, S. 486 ff. m.w.N. Zu Korsafcdefinitionen in ausländischen Kodifkationen (z.B. § 6 StGB-DDR; Art. 18 Abs. 1 brasilianischer CP n.F.) Jescheck , Lehrbuch, S. 262 f. in Fn. 6. 11

12

Die Idee eines allgemeinen Teils des Besonderen Teils geht auf Erik Wolf \ in: Pappenheim-FS, S. 379 (380 f.), zurück, der freilich von der "allgemeinen Lehre vom Besonderen Teil des1Strafrechts" sprach. 3 S. oben § 1 in Fn. 13.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

regeln "allgemein", so daß jene sinnvollerweise dem Besonderen, diese dem Allgemeinen Teil (im rechtstheoretischen Sinne) zugeordnet werden: Während Verhaltensnormen je unterschiedliche Rechtsgüter schützen, dienen Zurechnungsregeln der Begründung der Strafe, haben also alle denselben teleologischen Grund (und sind insofern auch "allgemein", nämlich auf alle Verhaltensnormen, anwendbar)14. Hieraus folgt aber, daß der Ausgangspunkt von Armin Kaufmann zutrifft: Da es bei der Garantenproblematik, wie dargelegt15, um eine echte Normen- und Tatbestandsbildung von "rein strafrechtlichen Sondernormen" geht, nicht aber um Zurechnungsfragen, handelt es sich um eine Frage des Besonderen und nicht des Allgemeinen Teils des Strafrechts im rechtstheoretischen Sinne; die Gegenauffassung ließe sich allenfalls auf der Grundlage eines - abzulehnenden - begriffsdefinitorischen Konzepts halten16. Freilich ist der an Armin Kaufmanns Auffassung geübten Kritik insoweit recht zu geben, als mit den Garantenlehren über Tatbestandsgruppen hinweg einheitliche und somit "relativ" allgemeine Prinzipien der Tatbestandsbildung ermittelt werden. Mithin gehört die Garantenlehre im engeren Sinne der Lehre von den möglichen (strafrechtlichen) Garantiebeziehungen zum erwähnten Bereich des "allgemeinen Teils des Besonderen Teils. Die Einsicht, daß es bei der Garantenproblematik um Normenbildung geht, weist schließlich darauf hin, daß hier der Bereich der klassischen Dogmatik als Arbeit "am" als unverrückbar, eben als "Dogma" angesehenen

14

S. hierzu oben § 2 I 5., II u. Kindhäuser, Gefährdung, S. 20: "Die Sanktionsnormen der einzelnen Deliktstypen sind ... dem Inhalt wie dem Zweck nach identisch". - Allerdings nimmt Tiedemann (in: Baumann-FS, S. 7 ) eine Rückwirkung des Besonderen Teils auf den Allgemeinen Teil dergestalt an, daß (wesentlich) unterschiedliche Verhaltensnormen - insbesondere solche des Kernstrafrechts einerseits, des Nebenstrafrechts andererseits - auch unterschiedliche Zurechnungsregeln fordern - insbesondere die Behandlung des Verbotsirrtums nach der dem § 17 zugrundeliegenden Schuldtheorie einerseits, nach der Vorsatztheorie andererseits. 15 S. oben § 4 I 3. 16 Dieses Konzept liegt offensichtlich dem Argument Bärwinkels, Garantieverhältnisse, S. 51 in Fn. 91, zugrunde, bestimmte Garantenstellungen hätten im Bereich des gesamten Besonderen Teils Bedeutung. 17 Was Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 287 durch die Verwendung des Ausdrucks "Prolegomena eines Besonderen Teils" selbst angedeutet hat. - Nach Tiedemann (in: Baumann-FS, S. 7 ) soll dieser "allgemeine Teil des Besonderen Teils" vorrangig oder ausschließlich Rechtsprechung und Wissenschaft überantwortet sein. Dieser These liegt ein Verständnis des "allgemeinen Teils des Besonderen Teils" als einer klassifikatorischen Kategorie zugrunde, welche die Verhaltensnormen analysiert und kategorisiert und hieraus Konsequenzen für die Anwendung der Zurechnungsregeln zieht. Insofern ist zu erinnern, daß es im hier untersuchten Bereich des § 13 doch auch um Normenbildung oder -ausdehnung geht und eine Überantwortung der anstehenden Fragen an Rechtsprechung und Lehre schon wegen Art. 103 Abs. 2 GG - der jedenfalls eine gesetzliche Vertypung der Verhaltensnormen verlangt erheblichen Bedenken begegnet.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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Gesetz verlassen wird 18. Wissenschaftstheoretisch gesprochen liegt die mit der Garantenproblematik gestellte Aufgabe daher näher bei einer Gesetzgebungslehre als bei der klassischen, "am" Gesetz arbeitenden Dogmatik19. Durch § 13 ist sie freilich de lege lata - entsprechend den Intentionen des Gesetzgebers20 - der Rechtsprechung und Lehre als Aufgabe gestellt und deshalb "wie" eine dogmatische Aufgabe zu behandeln. Als zentraler Unterschied zwischen (parlamentarischer) Gesetzgebung und (richterlicher) Schaffung von Garantengeboten ist des weiteren festzuhalten, daß jene ein weites Ermessen hat, in welches Zweckmäßigkeitserwägungen einfließen dürfen, diese jedoch auf immanent rechtliche (Rechtsprinzipien-) Erwägungen beschränkt ist. Hierin liegt der ganz zutreffende Kern der methodischen Einsicht von Schünemann, daß die Ermittlung der Garantengebote im Wege eines "analogischen", also ganz auf vorhandene rechtliche Regelungen bezogenen Verfahrens geschehen muß21. 3. Legitimationsprobleme in historischer Sicht (zur "Nachrangigkeit" von Geboten) Im Ausgangspunkt ist der Grund der Garantengebote kein anderer als derjenige aller Verhaltensnormen, nämlich der Rechtsgüterschutz. Damit wird aber problematisch, warum Garanten- als Erfolgsabwendungsgebote nicht wie Verletzungsverbote ohne weiteres und für jedermann gegenüber jedermann gelten sollen: Warum geht - nach der berühmten Formulierung Feuerbachs - "die ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers nur auf Unterlassungen"? Warum besteht ein äußerliches Übergewicht der Verboten und eine "Nachrangigkeit" der - insbesondere: Erfolgsabwendungs- - Gebote im Strafrecht? Warum gelten Garantengebote nur für besonders Verpflichtete gegenüber besonders Geschützten? 18

Ebenso Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 287: Die Garantenproblematik löse sich nicht "nach ... dogmatischen Figuren"; Herv. v. Verf. - Im einzelnen ist freilich umstritten, was unter Dogmatik zu verstehen sei und inwieweit die Jurisprudenz Dogmatik sein solle, vgl. Alexy , Argumentation, S. 307 ff.; Esser , AcP 172 (1972), 97 ff.; Krawietz , RTh Beih. 2 (1981), 299 ff.; Meyer-Cording , Dogmatiker; Rothacker , Denkform; Simitis, AcP 172 (1972), 131 ff.; Thul, ARS? 46 (1960), 241 ff.; Viehweg , in: Emge-FS, S. 106 ff. Als Ergebnis der Diskussion kann mit aller Vorsicht festgehalten werden: Dogmatik (genauer, dogmatisches Argumentieren) ist das gesetzesbezogene, seine Abhängigkeit vom Gesetz im Sinne eines durchgehenden Verträglichkeitspostulats anerkennende Argumentieren, welches in dem Sinne systematisch ist, als zwischen allen dogmatischen Sätzen die Postulate der (logischen) Widerspruchsfreiheit, der (pragmatischen) Konsistenz und des Reichtums an Folgerungsbeziehungen gelten, vgl. Alexy , Argumentation, S. 313. Im Unterschied hierzu verwendet außerdogmatisches - sc. allgemein-praktisches - Argumentieren Folgen- und Bedürfnisargumente sowie Gesichtspunkte der Kasuistik (Billigkeit). 19 Zur wissenschaftlichen Gesetzgebungslehre s. nur Noll , Gesetzgebungslehre, passim. 20 S. hierzu oben § 4 15. mit Fn. 50. 21 Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 229 ff. 22 Lehrbuch, § 24. 20 Vogel

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

Keine Antwort auf diese Grundfrage der Garantendelikte können zunächst die Lehren geben, die eine ontologische Differenz zwischen Tun und Unterlassen auszumachen wollen, etwa in der Formulierung, daß das Tun ein Seiendes, das Unterlassen aber ein Nichts sei, welches nur als Werturteil existiere23. Abgesehen davon, daß diese Lehren erkenntnistheoretisch problematisch sind24, können sie allenfalls begründen, daß beim Unterlassen ein wertender Rechtsgrund erforderlich ist - was aber mit der trivialen Feststellung zusammenfällt, daß den unechten Unterlassungsdelikten Garanten-, d.h. Erfolgsabwendungsgebote zugrundeliegen. Das Delikt ist ein teleologisches Konstrukt, ob es nun um Tun oder Unterlassen geht; in beiden Fällen sind Normen (und Zurechnungsregeln) erforderlich. Ebensowenig weiterführend sind die zahlreichen älteren Kausalitätslehren, die zwischen Unterlassen und Erfolg keine oder nur eine - eben durch besondere Rechtspflichten vermittelte - "Quasi-Kausalität" anerkennen, da Erfolge sehr wohl durch negative Bedingungen erklärt werden können25. Es ist das Verdienst von Jakobs, die Frage nach der "Nachrangigkeit" der Garanten- als Erfolgsabwendungsgebote in voller Schärfe aufgeworfen zu haben26. Daß Gebote vom Verpflichteten den Einsatz von "Energie" - von Ressourcen - verlangen, Verboten hingegen "nur" ein Unterlassen, Verbote mithin "eher" verpflichtend wirken könnten als Gebote27, trägt nach der zutreffenden Analyse Jakobs nicht, denn nach der in § 34 enthaltenen Maxime - dem allen Normen zugrundliegenden Prinzip der Abwägung zwischen dem geschützten Gut und der beeinträchtigten Handlungsfreiheit - ist so nicht begründbar, warum ggf. minimale Energieeinsätze - z.B. einen Arzt rufen bei drohenden essentiellen Rechtsgutsverletzungen - z.B. an Leib und Leben - nicht (bzw. nur gem. § 323 c) verlangt werden. Ebensowenig kann die "Nachrangigkeit" mit der intensiveren Freiheitsbeschränkung durch Gebote erklärt werden. Zwar trifft es generell zu, daß ein Gebot den Handlungsspielraum auf ein Verhalten verengt, während ein Verbot einen beliebig weitreichenden Verhaltensspielraum beläßt23. Dies ist aber ist jedenfalls fallweise widerlegbar: Wer sich in einem Tunnel befindet, in welchem Halteverbot herrscht, kann nichts anderes tun als weiterfahren; allgemein verlangen Verbote, ggf. individuell höchst nutzbringende Intentionen nicht zu verwirklichen, wenn sie mit der Intention, das Verbot nicht zu befolgen,

23

S. nur LK-Jescheck, Vor § 13 Rdnr. 85: "Die Unterlassung hat ontologisch keine Realität". - Jedoch ist nur die Umkehrung zutreffend (s. bereits oben § 3 III 1.): Das (rechtlich geforderte) Tun hat "ontologisch keine Realität". Wenn etwas unterlassen wurde, dann ist es der2Fall, daß es unterlassen wurde; der Satz ist wahr und beschreibt eine (negative) Tatsache. 4 Zur Unableitbarkeit des Sollens aus dem Sein (sog. naturalitischer Fehlschluß) s. nur Weinberger , Norm und Institution, S. 60. 25 S. bereits oben § 5 II. 26 Jakobs, Strafrecht, 28/13. 27 So z.B. Jescheck , Lehrbuch, S. 544. 28 W^l. Armin Kaufmann , Dogmatik, S. 86.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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widerstreiten 29. Schließlich sind Gebote auch nicht zwingend auf den Gedanken der "Solidarität" zurückführbar und widerstreiten somit nicht zwingend einem liberal-individualistischen Rechtsverständnis30. Auch Verbote verlangen die Berücksichtigung fremder Existenz und sind insoweit über-individualistisch zu begründen, besonders wenn bedacht wird, daß auch rechtswidriges (nichtangreifendes) Handeln niemanden rechtlich schutzlos stellt31. Solidarität ist nicht der einzige Grund für Gebote, wie sie umgekehrt den Grund jedenfalls bestimmter Verbote darstellt. Es scheint also Feuerbachs Diktum nicht begründbar zu sein. Zu seiner Widerlegung muß freilich zunächst auf Kant - den philosophischen Gewährsmann Feuerbachs - zurückgegriffen werden. Kant kennt Hilfegebote nur als Moral-, nie aber als Rechtspflichten 32. Dies wiederum wird damit erklärt, daß es sich bei den Hilfspflichten nur um "unvollkommene Pflichten" handelt. Diese "Unvollkommenheit" ergebe sich daraus, daß die Verletzung von Hilfspflichten nicht in die Freiheit anderer eingreife und von den Mitteln abhänge, die dem je Hilfspflichtigen zur Verfügung stünden. Auch sei das gebotene Verhalten nicht klar; Hilfsgebote seien bloße "Maximen" oder "Zwecke" und ließen damit für die Ausführung einen gewissen Spielraum. AIP dies schließe aber die Möglichkeit aus, unvollkommene Pflichten als Rechtspflichten zu betrachten. Nach Kant nennt das Recht die Bedingungen, unter denen die äußere Freiheit des einen mit derjenigen des anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmen kann. Recht bezieht sich mithin nur auf äußeres und eingreifendes Verhalten. "Maximen" zu gebieten ist Sache der Moral und nicht des Rechts. Auch muß das Recht durch Zwang durchsetzbar sein - wie umgekehrt die Moral nicht erzwingbar ist, da moralisches Handeln freies Handeln sein muß. Anschaulicher gesprochen: Erzwungene Wohltätigkeit für andere wäre keine mehr. - Ganz abgesehen von der Frage, ob Kants Abgrenzung zwischen Recht und Moral generell überzeugt, trägt sie im Bereich der Handlungs-(Hilfs-)gebote aber deshalb nicht, weil auch Gebote auf äußere Handlungen gehen und auch unter diesem Aspekt erzwungen werden können; Kant selbst zählt das Gebot der "Wohltätigkeit" als "Verbindlichkeit zu äußeren Handlungen"33. Die Unterscheidung zwischen "vollkommenen" und "unvollkommenen" Pflichten liegt mithin quer zu der zwischen "Rechts-" und "Tugend"pflichten 34. Auch der 29

Jakobs (Strafrecht, 28/19) nennt das schlagende Beispiel des Verbotes des gewaltsamen Ausbruchs mehrerer Gefangener aus der Haft (§ 121 Abs. 1 Nr. 2). 30 A.A. aber Baumann/Weber, Strafrecht, S. 234. 31 Vgl. Jakobs , ZStW 89 (1977), 1 (2 f. in Fn. 4) mit dem Beispiel, daß auch ein rechtswidrig auf ein Grundstück eingedrungener und die Garage versperrender Betrunkener nicht überfahren werden darf. 32

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 57; ders ., Metaphysik der Sitten Rechtslehre, A 49 und Tugendlehre, A 18 f. - S. zum Hilfegebot bei Kant auch Wimmer , Universalisierung, S. 350 ff. 33 Kant , Metaphysik der Sitten - Rechtslehre, AB 25. 34 Eingehend Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 75 ff. 20*

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

weitere von Kant herangezogene Gesichtspunkt, die "Unvollkommenheit" der Gebote und damit ihr außerrechtlicher Status ergebe sich daraus, daß Gebote (anders als Verbote) angeblich nicht kollidieren könnten, vermag nach dem bereits Dargelegten nicht zu überzeugen35. Tiefergehend hängt die fehlende "Ursprünglichkeit" der Hilfeverpflichtungen als Verbindlichkeit zu positivem Tun freilich mit der damaligen Konzeption des rechtsbegründenden Gesellschafts- und Staatsvertrages zusammen. Es wurde nämlich unterstellt, daß die Beteiligten dieses Vertrages Verantwortliche und - vor allem - Handlungsmächtige seien36. Handlungsmächtige sind aber nicht hilfsbedürftig, sondern müssen sich nur gegen Eingriffe in ihre Freiheitssphäre durch andere Handlungsmächtige absichern. Hierin liegt aber eine grundsätzliche Defizienz der aufklärerisch-liberalen Staats- und Rechtstheorie. Handlungsmächtigkeit ist eine akzidentielle Größe; es ist nicht einzusehen, warum der rechtsbegründende Vertrag nur von Handlungsmächtigen geschlossen wird. Das Konzept des "Vertragsschlusses" - modern gesprochen: des Rechtsbegründungsdiskurses - setzt allein Verantwortlichkeit voraus; auch Handlungsohnmächtige können ihre Interessen verantwortlich einbringen. Wird nunmehr die Rekonstruktion des Vertragsmodelles durch Rawls berücksichtigt, der als zentrale Bedingung den "Schleier des Nichtwissens" über die künftigen Fähigkeiten und die Chancen in der zu konstituierenden Gesellschaft nennt, der über jeden Vertragsschließenden geworfen wird 37 , so erweist sich, daß zweckrational Handelnde auch die nicht auszuschließende Möglichkeit berücksichtigen müssen, handlungsohnmächtig und auf Hilfe angewiesen zu sein. Da diese Hilfeleistung als äußere Handlung auch von Rechts wegen garantiert sein muß, geht die ursprüngliche Verbindlichkeit der Bürger auch auf Hilfe für Handlungsohnmächtige durch Tun. Dabei muß die "Handlungsohnmacht" nicht konstitutionell sein - wie dies z.B. bei Kindern und körperlich Gebrechlichen der Fall ist -; sie kann auch akzidentiell sein - z.B. falle ein Erwachsener in eine nicht zugedeckte Grube und breche sich ein Bein. Sind also Hilfegebote grundsätzlich ebensogut wie Verletzungsverbote begründbar, so muß nochmals auf den Einwand der h.L. zurückgegriffen werden, daß wenigstens im Regelfall das Rettungsgebot die Freiheit des Verpflichteten stärker beschränkt als das Verletzungsverbot 38, welches ggf. zum Ressourceneinsatz zwingt und überdies (im Falle der FahrlässigkeitsstrafS. oben § 3 II 3. m.w.N. - Überhaupt war die Theorie der Normenkollision im Vernunftrecht noch nicht weit entwickelt. Dies zeigt u.a. das berühmte "Lügebeispiel" Kants, wonach jeder die Wahrheit sagen muß, auch wenn dies zu einem - rechtswidrigen - Mord führt. Nach Kant folgt dies daraus, daß das Lügenverbot universalisierbar ist und deshalb universell - ausnahmslos - gilt. Kant übersieht, daß dasselbe von dem Tötungsverbot gilt, welches hier fallweise mit dem Lügeverbot kollidiert und nach einer - natürlich ebenfalls dem Universalisierunjperfordernis unterliegenden - Metanorm gelöst werden muß. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 4. 37 Rawls, Gerechtigkeit, S. 159 ff. 38 S. auch Hruschka, in: Larenz-FS (1983), S. 257 (270 in Fn. 26).

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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barkeit) Obliegenheiten begründet, sich rettungsfähig zu erhalten39. Kann aus diesem Mehr an Freiheitsverlust für den Verpflichteten eine Begrenzung der Reichweite der Garantenpflichten 40 oder die Forderung hergeleitet werden, daß Erfolgsabwendungsgebote nur bei drohenden Beeinträchtigungen gewichtiger Rechtsgüter angeordnet werden dürfen 41? Die Frage muß verneint werden. Die durch Erfolgsabwendungsgebote Belasteten geben nicht bloß Freiheit auf, sondern gewinnen auch etwas, nämlich Sicherheit. Die Geltung der Erfolgsabwendungsgebote kommt nicht nur dem konkreten Opfer ("Berechtigten"), sondern - unter dem Gesichtspunkt, daß kein Handlungsmächtiger ausschließen kann, selbst Opfer zu werden - dem Verpflichteten selbst zugute42. Besonders deutlich wird dieser "Gewinn aus (potentieller 43) Reziprozität" bei der (Obhuts-)Garantenstellung zwischen Ehegatten; dasselbe gilt aber auch - diachron44 - zur Garantenstellung der Eltern gegenüber ihren Kindern, weil Eltern selbst Kinder waren. Die Überlegung, daß die zusätzliche Freiheitseinschränkung bei Erfolgsabwendungsgeboten stets durch den zusätzlichen Sicherheitsgewinn begründbar ist, der kraft (potentieller) Reziprozität auch dem Pflichtigen zukommt, scheint nun vollends zur Einebnung des Unterschiedes zwischen Ver- und Geboten zu führen. Werden jedoch Erfolgsabwendungsgebote von jedermann für jedermann den Verletzungsverboten gleichgesetzt, so wird ein gravierender Unterschied zwischen der Situation der Verletzungsverbote und der Erfolgsabwendungsgebote übersehen: Verletzungsverbote vermögen freiheitssichernd nur dann zu wirken, wenn jedermann gegenüber jedermann verpflichtet ist; niemand könnte seiner eigenen "Friedlosigkeit" zustimmen, wie auch niemand wollen kann, daß auch nur ein anderer von den Verletzungsverboten entpflichtet ("legibus solutus") ist. Hingegen ist das System der Rettungsgebote schon dann "geschlossen", wenn jeder einzelne potentiell Rettungsbedürftige (in jeder Situation) auf nur einen anderen handlungsfähigen - Rettungspflichtigen zurückgreifen kann. Die Forderung, daß jedermann für jeden potentiell Rettungsbedürftigen verantwortlich sein soll, ist nicht nur praktisch unerfüllbar, sondern auch weit über - und geradezu dysfunktional und somit rational nicht begründbar: Verschiedene Erfolgsabwendungsversuche können sich durchkreuzen; des weiteren ist auf 39

Zu diesem Aspekt Kindhäuser , Gefährdung, S. 68 f. In diesem Sinne Rudolphi , Gleichstellungsproblematik, S. 84 f. mit dem Hinweis, daß die Reichweite der Garantenpflichten vor dem Hintergrund einer Koordinierung des Interesses an Erhaltung von Rechtsgütern mit dem Interesse, nicht mit der Pflicht zur Erfolgsabwendung belastet zu sein, bestimmt werden muß. 41 Zu § 323 c StGB s. sogleich im Text. 40

42

Deshalb hielt Kant übrigens das Hilfegebot für nach dem Universalisierungsprinzip moralisch (wenn auch nicht rechtlich) begründbar. 43 Im Reziprozitätsgedanken ist der moralische Standpunkt des Rollentauschs impliziert. Deshalb kann der Gedanke auch bei de facto unvertauschbaren Rollen angewendet werden: Wer sich von einem Bergführer führen läßt, kann von diesem die Hilfe erwarten, die dieser in der Rolle als Geführter legitimerweise in Anspruch nehmen wollte. 44

Zur diachronen Legitimierung in diesen Fällen Höffe

,

Gerechtigkeit, S. 426 f.

310

Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

das Phänomen der Verantwortungsabschwächung durch Verantwortungsvervielfachung hinzuweisen45; schließlich wäre es eine pragmatisch sinnlose Überforderung, jedermann für das Wohl der Welt verantwortlich zu machen. Werden die mit Rettungsgeboten verfolgten Ziele aber durch "Eins-zu-eins"-Verpflichtungen erreicht, so läßt sich zwanglos der den Garantengeboten zugrundliegende Sonderpflichtgedanke - welcher, wie dargelegt, nicht allein den Täterkreis, sondern für diesen auch den Opferkreis beschränkt - und damit das Erfordernis einer Garantiebeziehung begründen. Das Prinzip der "Eins-zu-eins"-Verpflichtungen - dogmatisch gesprochen: der Garantie- als Sonderbeziehung - darf freilich nicht dahin mißverstanden werden, daß zwischen Geschütztem und Garanten ein dauerhaftumfassendes Schutzverhältnis bestehen müsse. Vielmehr gibt es unter den Bedingungen komplexer Gesellschaften funktionale, zeitliche und räumliche Arbeitsteilungen, die erst zusammengenommen einen umfassenden Schutz geben. Beispielsweise ist der Arzt für die Gesundheit seines Patienten, nicht aber - wie ggf. der Steuerberater - für sein Vermögen Garant (funktionale Arbeitsteilung); die Mutter ist für die Beaufsichtigung des Kindes in dessen Freizeit, der Lehrer in der Schulzeit verantwortlich (zeitliche Arbeitsteilung); ein Straßenbaulastträger ist nur in bezug auf die ihm unterstehenden Straßen verkehrssicherungspflichtig (räumliche Arbeitsteilung) 46. Es sind nun sicherlich Situationen denkbar, in welchen nur ein "Jedermann" die Rettung des Handlungsohnmächtigen bewirken kann. Zum einen ist hier an das Versagen des Garanten zu denken. Dieses Versagen ist jedoch kein Grund, andere mit Erfolgsabwendungspflichten zu belasten; die normative Erwartung, der Garant werde und solle norm- und pflichtgemäß handeln, wird nicht preisgegeben, da es legitim ist, daß - jedenfalls außenstehende - Dritte an der Erwartung auch kontrafaktisch festhalten. Des weiteren sind Fälle denkbar, die sich aus der Sicht des "Jedermann" als Notund Unglücksfälle darstellen. Hier greift § 323 c ein, der allerdings nur "Hilfeleistung", nicht aber Erfolgsabwendung verlangt47; dies trifft axiologisch zu, weil Hilfeleistung "gestaffelt" und koordiniert erfolgen kann, so daß die Gefahr der "Überkreuzung" von Abwendebemühungen und der "Verantwortungsvervielfachung" nicht besteht. Problematisch ist schließlich der Fall der "Monopolstellung", wenn z.B. ein Erwachsener im Meer zu ertrinken droht und ein einziger als Rettungsschwimmer ausgebildeter Passant - dem die Rettung gefahrlos möglich wäre - dies am Ufer fühl- und tatenlos beobachtet. Die Lösung der h.L., die "Monopolstellung" nicht als garantenpflichtbegründend anzuerkennen, kommt dem Rechtsgefühl hart an48. Sie verweist darauf, daß mit dem Erfordernis des - auch situativ45

Hierzu - im Zusammenhang der Unternehmenskriminalität - Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 18 ff. 46 Zu den Verkehrssicherungspflichten s. bereits oben § 8 III. 47 S. oben § 3 11. 48

A.A. denn auch z.B. Bockelmann, Niederschriften, Bd. XII, S. 100,477.

311

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

akzidentiell möglichen - "Eins-zu-eins"-Verpflichtung zur Rettung eben noch nicht ausgesagt ist, wer verpflichtet sein soll; hier bedarf es zusätzlicher Kriterien. Im Gegenschluß zu § 323 c kann vorläufig gesagt werden, daß sich die Handlungsohnmacht aus der Sicht des Pflichtigen eben nicht bloß als Unglück darstellen darf; es ist eine engere Beziehung erforderlich 49.

IL Begehungsgleichwertigkeit

als legitimationstheoretischer (Freund)

Schlüsselbegriff

1. Die komparative Methode Freunds "So ungereimt das auf den ersten Blick scheinen mag - eine grundlagenorientierte Untersuchung zum unechten Unterlassungsdelikt, genauer: zum begehungsgleichwertigen Unterlassungsdelikt, kann nicht umhin, zunächst zunächst ... das Begehungsdelikt ... genauer in Augenschein zu nehmen ... Ohne genaue Kenntnis des interessierenden Vergleichsgegenstandes erscheint ... ein sinnvoller Vergleich von vornherein ausgeschlossen"50. Mit dieser Aussage schließt sich Freund der Auffassung an, die die materiale Garantenproblematik als Wertungsproblem ansieht, das in der Begehungsgleichwertigkeit - und damit in § 13 Abs. 1 letzter HS - loziert ist51. Vorrangig sind hiernach die norm- und legitimationstheoretische Grundfragen der Begehungsdelikte zu klären. Dies tut Freund auf der Grundlage der von Frisch erarbeiteten Normentheorie, der Lehre vom "tatbestandsmäßigen Verhalten" 52. Verhaltensnormfundierendes Datum sei zunächst der Nutzen der Normeinhaltung 53, für welchen die Eignung zum Güterschutz - beurteilt aus der Perspektive des Normadressaten - maßgeblich sei54. Daneben sei aber als zweites verhaltensnormfundierendes Kriterium - auch beim Begehungsdelikt - eine "besondere Verantwortlichkeit" zum "Grund des Rechtsgüterschutzbedarfs" 55 erforderlich; das "naturalistische Datum" der Gefahrschaffung genüge nicht. Der potentielle Adressat von Gefahrenabwendungsgeboten könne zum einen in einem "besonderen Bezug" zum Ursprung der abzuwendenden Gefahr, zum anderen zum Zielort dieser Gefahr stehen56. Im ersten Falle sei der "besondere Bezug" grundsätzlich 49

Zu dieser "Negativfunktion" des § 323 c StGB s. bereits Pfleiderer

, Garantenstellung, S.

116.

50

Freund , Unterlassen, S. 7. S. oben § 4 III 2. mit Fn. 49 u. bereits Schünemann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 233; s. auch Sangenstedt , Garantenstellung, S. 213 ff., 370 ff. 52 S. oben § 1 V I . 53 Freund, Unterlassen, S. 54 (ff.). 54 Zur Kritik an dieser Verhaltensnormauffassung s. bereits oben § 1 V 2. 55 Freund , Unterlassen, S. 68 ff. 56 Freund, Unterlassen, S. 71 f. 51

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

darin begründet, daß schadensträchtige Verläufe dem eigenen Organisationskreis zu entspringen drohten: "Denn als selbstverständliche Kehrseite der in der Innehabung eines für andere möglicherweise gefährlichen Organisationskreises liegenden Freiheit ist hier die Inpflichtnahme ... vielfach in besonderer Weise zu fundieren" 57. Im zweiten Fall hingegen sei der Gedanke der Unfähigkeit des (potentiellen) Opfers zur adäquaten Gefahrenbewältigung der maßgebliche "besondere" Grund: "So gibt ... in Anbetracht der gegenwärtigen rechtlichen Organisationsstrukturen von Familie und Gesellschaft die Elterneigenschaft ... (gegenüber Kindern drohenden Gefahren) den in besonderer Weise legitimierenden Grund ab, ... das gefahrenvorsorgliche "Dasein-Müssen" der Eltern wird gemeinhin ... als die geradezu selbstverständliche Kehrseite der ElternrecAte empfunden..."58. 2. Methodenkritik Die methodische Einsicht Freunds, daß die eine Strafbarkeit unechter Unterlassungsdelikte legitimierende Begehungsgleichwertigkeit nur dann bestimmt werden kann, wenn eine Legitimationstheorie des Begehungsdelikts vorliegt und gleiche - genauer: gleichwertige - legitimierende Strukturen beim jeweiligen unechten Unterlassungsdelikt auftreten, leuchtet unmittelbar ein. Damit erweist sich die "Begehungsgleichwertigkeit" in der Tat als legitimationstheoretischer Schlüsselbegriff für die Garantengebote. Auch ist Freund darin zuzustimmen, daß die crux der Garantenproblematik die Sonderverantwortlichkeit des Garanten ist. Problematisch ist dann aber, welches die Kriterien dieser Sonderverantwortlichkeit sein sollen. Die Lösung Freunds - besonderer Bezug zum Ursprung oder zum Zielort der Gefahr - ist freilich zunächst tautologisch, da erst anzugeben wäre, worin die "Besonderheit" dieses Bezugs eigentlich besteht59. Wenn Freund sodann die materialen Kriterien der Sonderverantwortlichkeit (Innehabung des Organisationskreises und "Kehrseite" eingeräumter Freiheit einerseits, "rechtliche Organisationsstruktur" und "Kehrseite" von derartigen Strukturfreiheiten andererseits) einführt, so fragt sich - gerade unter Zugrundelegung der Methodik Freunds -, ob und inwieweit diese Kriterien bei den Begehungsdelikten in gleicher - genauer: gleichwertiger - Weise die Sonderverantwortlichkeit fundieren 60. 57

Freund, Unterlassen, S. 72; zur Konkretisierung und zu Ausnahmefällen S. 161 ff. (§§ 12 bis 58 15 der Arbeit). Freund, Unterlassen, S. 72 f.; zur Konkretisierung und zu Ausnahmefällen S. 265 ff. (§§ 16 bis 59 19 der Arbeit). Daß es sich um hierbei um ein Hrein normatives Problem" (Freund, Unterlassen, S. 72) handeln soll, fördert die Lösung nicht. 60 Daß Organisationsverantwortung und institutionelle Zuständigkeit auch bei den Begehungsdelikten Grund der Verantwortlichkeit sind, hat Jakobs gezeigt; hierzu näher unten § 10 V. - Zum Sonderproblem des § 323 c im Konzept von Freund s. oben § 4 Fn. 58.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

313

Kritisch gegen Freund zu erinnern ist schließlich, daß in seinem Bemühen um eine tragfähige materiale Legitimation der Garantengebote die Frage der formellen Legitimation der Strafbarkeit "begehungsgleichen" Unterlassens - nämlich das Rechtsquellenproblem und das Problem des strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip - vernachlässigt wird. Daß die Straftatbestände des Besonderen Teils Rechtsquelle der Verhaltensnormen sein sollen 61 , trifft zwar vom hier zugrundegelegten Normenkonzept aus zu, erscheint aber dann zweifelhaft, wenn die Verhaltensnormen mit den - doch kaum gesetzlich vertypten! - Kriterien der Schaffung eines rechtlich mißbilligten Risikos und der Sonderverantwortlichkeit aufgeladen werden. Damit wird aber zweifelhaft, ob die Bedenken gegen die Strafbarkeit unechten Unterlassens sub specie Art. 103 Abs. 2 GG schon dann ausgeräumt sein sollen, wenn es gelingt, anhand beider Kriterien die Begehungsgleichwertiekeit exakt aus den Tatbeständen des Besonderen Teils zu entwickeln 2 . Wenn auch Freund zuzugeben ist, daß die Bedenken, die gegen die Strafbarkeit begehungsgleichen Unterlassens etwa unter dem Gesichtspunkt der Tatbestandsbestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) erhoben werden können, umso geringer sind, je klarere Kriterien für die "Begehungsgleichheit" angegeben werden können63, entbindet dies doch nicht von der de lege lata vorrangig vorzunehmenden verfassungsrechtlichen Prüfung.

III. Zur formellen Legitimation: Rechtsquelle der Garantengebote und Vereinbarkeit von § 13 mit Art. 103 Abs. 2 GG 1. Die Frage nach der Rechtsquelle der Garantengebote und -pflichten (Sachgehalt und mögliche Antworten) Die Frage nach der Rechtsquelle der Garantengebote und -pflichten wird in Rechtsprechung und Lehre nur selten ausdrücklich gestellt . Indirekt findet sich eine Antwort in der älteren (und überholten) These, die Strafbarkeit des unechten Unterlassungsdelikts gründe sich auf Gewohnheitsrecht65. 61

Freund, Unterlassen, S. 119 ff. So aber Freund, Unterlassen, S. 143 f.; s. bereits S. 1 mit Fn. 2, 26 mit Fn. 4. 63 Auch hier wird die Vereinbarkeit der Strafbarkeit unechter Unterlassungsdelikte mit Art. 103 Abs. 2 GG bejaht, soweit § 13 in bestimmter - nicht notwendig restriktiver - Weise gehandhabt wird; s. unten § 10 III 4. 64 S. aber (allg. zur Rechtsquellenfrage) Stratenwerth, Strafrecht, Rdnr. 96. 65 So zuerst Traeger, Unterlassungsdelikte, s. 104; vgl. weiterhin RGSt 58,132; Granderath, Rechtspflicht, S. 128 ff.; Jescheck, Lehrbuch, 1. Aufl. (1969), S. 405; Maurach, Strafrecht, 3. Aufl. (1965), S. 511; S/S-Eser, § 1 Rdnr. 15. - Eine überzeugende und eingehende Auseinandersetzung mit der "Gewohnheitsrechtsapologie" findet sich b. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 61 ff. mit umf. Nachw. Im einzelnen: Sub specie Art. 103 Abs. 2 GG ist es ausgesprochen problematisch, strafbegründendes Gewohnheitsrecht bei den unechten Unterlassungsdelikten anzuerkennen. Insbesondere trifft es nicht zu, daß die Garantenpflichten außerstrafrechtliche (und damit dem Art. 103 Abs. 2 GG entzogene) Pflichten seien; bei 62

314

Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

Auch erklärt sich die "formelle Rechtspflichttheorie" der Rechtsprechung und älteren Lehre aus dem Bestreben, die Garantengebote bzw. die Erfolgsabwendungspflichten einer der anerkannten Quellen des (Straf-) Rechts zuzuordnen . Schließlich wurde gezeigt, daß sich das ganz anerkannte Erfordernis, die Garantenpflicht müsse eine rechtliche und keine bloß sittliche sein, umformulieren läßt als Postulat, die Garantenpflicht müsse einer der Quellen des positiven Rechts zuzuordnen sein67. Umgekehrt verweisen diejenigen Ansichten, die in der Schaffung von Garantengeboten eine richterliche Rechts"schöpfung" sehen68, auf die - umstrittene - Rechtsquelle der "richterlichen Rechtsfortbildung". Aus heutiger Sicht liegt es nahe, als Rechtsquelle der Garantengebote entweder unmittelbar § 13 (i.V.m. den Straftatbeständen des Besonderen Teils 69 ) anzusehen. Es erscheint freilich geboten, zunächst den Blick auf den Begriff der Rechtsquelle und die hiermit verbundene Sachfragen selbst zu richten. Die h A . versteht unter einer Rechtsquelle den "Entstehungsgrund einer Rechtsnorm, die normative Geltung im Sinne der Verbindlichkeit beansprucht"70. Als Rechtsnormen werden bei dieser Definition in Anlehnung an den staatsrechtlichen Normenbegriff 71 nur abstrakt-generelle Rechtssätze angesehen. Hiernach sind Rechtsquellen des innerstaatlichen Rechts das Gesetzesrecht im weitesten Sinne - also Verfassung, einfaches Gesetz, Verordnung und Satzung - sowie das Gewohnheitsrecht, also die von einer allgemeinen Rechtsüberzeugung getragene längerdauernde Übung 72 , nicht aber der Richterspruch und die ihm zugrundeliegenden (einzelfallbezogenen) Begründungen, Normkonkretisierungen und Prinzipienargumentationen. Von diesem Standpunkt aus reduzierte sich der Sachgehalt der Frage nach der Rechtsquelle der Garantengebote und -pflichten darauf, ob es gelingt, die Verkehrspflichten auf die anerkannten Rechtsquellen - auf das Gesetz, etwa § 13, oder auf das Gewohnheitsrecht - zurückzuführen. Mit anderen

den Garantengeboten geht es um die Bildung rein strafrechtlicher Sondernormen (s. oben § 4 I 3.). Schließlich ist zu bestreiten, daß es sich um Gewohnheitsrecht handelt, da über die Vereinbarkeit der Strafbarkeit der unechten Unterlassungsdelikte mit dem Gesetzesvorbehalt seit je her Streit bestand - also eine Nopinio iuris" nie bestand - und verfassungswidriges Gewohnheitsrecht ohnehin ungültig wäre. 66 S. die berühmte Formulierung in RGSt 64, 272 (275): HOb eine Rechtspflicht zum Handeln besteht, ergibt sich aus den ausdrücklichen oder stillschweigenden Geboten der Rechtsordnung." 67 S. oben § 4 11. m.w.N. 68 S. oben § 4 mit Fn. 46 ff. 69 So Freund, Unterlassen, S. 119 ff. 70 Larenz, Methodenlehre, S. 415; s. weiterhin Pawlowski, Methodenlehre, Rdnr. 158, auch 80, 99,105. 71 S. oben § 1 in Fn. 39. 72

Umstritten ist hier freilich, ob das Gewohnheitsrecht nur unter der Bedingung der Anerkennung durch die staatlichen Gerichte oder eo ipso Rechtsquelle ist, vgl. nur Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 234.

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§ 10 Methodische und theoretische Probleme

Worten ginge es ausschließlich um die Ableitbarkeit und -pflichten aus den anerkannten Rechtsquellen.

der Garantengebote

Eine derart eingegrenzte Fragestellung engte jedoch die Problematik der "wilden Wurzel" 73 der Garantenpflichten vorschnell ein. Wie die Definition der h A . an sich zutreffend zum Ausdruck bringt, geht es bei der Rechtsquellenfrage um den Entstehungsgrund des positiven und als solchen verbindlichen Rechts. Anders gewendet stellt sich die Frage, wie sich dem positiven Recht angehörende, verbindliche Sätze von solchen normativen Sätzen unterscheiden, die nicht dem positiven Recht angehören, also von rechtlich unverbindlichen, allgemein-praktischen oder moralischen (sittlichen) Sätzen. Es gilt also, ein Unterscheidungskriterium zwischen rechtlichen und außerrechtlichen - d.h. allgemein-praktischen oder moralischen bzw. sittlichen - normativen Sätzen anzugeben. Damit erweist sich die Rechtsquellenfrage als Kern- und Ausgangsfrage der Garantenproblematik. Wie bereits dargelegt, kann ein derartiges Unterscheidungskriterium zwischen bloß sittlichen und positiv-rechtlichen Rechtssätzen kein inhaltliches sein, da Recht und Ethik dasselbe fordern können, wie auch das Recht auf die Sitte verweisen kann74. Vielmehr muß es sich um ein bloß formales Kriterium handeln, welches nach der an sich zutreffenden Auffassung der h A . eben in dem besonderen Modus der Entstehung des jeweiligen normativen Satzes nach Form und Verfahren liegt. Wie Recht entsteht, läßt sich aber auf zwei prinzipiell unterschiedliche Arten beantworten, denen ein doppeltes Verständnis des Begriffs "Rechtsquelle" entspricht: Es ist zwischen einem soziologischen und einem normativen Rechts- und Rechtsquellenverständnis zu unterscheiden75. 2. Soziologisches und normatives Rechtsquellenverständnis bei den Garantengeboten und -pflichten Wer Recht als soziales Phänomen versteht, welches im sozialen Raum entsteht, muß den eine Rechtsquelle kennzeichnenden "Entstehungsgrund" von Recht in den Bedingungen erblicken, die einem Rechtssystem und den es konstituierenden Rechtssätzen zur Existenz verhelfen, also in den (Macht-)Interessen, Gewohnheiten, Traditionen, moralischen und gesellschaftlichen Vorstellungen usf.; allgemeiner kann von den Faktoren gesprochen werden, die bei der Schaffung und der Fortentwicklung des Rechts realiter "mitwirken"76. Wie das Recht hiernach überhaupt soziale Praxis ist, 73 So die berühmte - auf die zivilrechtlichen Verkehrssicherungspflichten bezogene - Wendung von Esser , JZ1953,129 (132 in Fn. 38). S. oben § 411. 75 Zu dieser - in der herrschenden Methodenlehre ganz anerkannten - Unterscheidung Lorenz , Methodenlehre, S. 415; vgl. weiterhin Pawlowski , Methodenlehre, Rdnr. 158 (und auch 80, 99,105) und bereitsten, Reine Rechtslehre, S. 239; Ross, Rechtsquellen, S. 291 ff. 76 Vgl. Lorenz , Methodenlehre, S. 415. Dieser Ansatz läßt sich letztlich bis auf v. Savigny zurückverfolgen, der bekanntlich (in: System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, S. 11

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

beantwortet sich auch die Rechtsquellenfrage pragmatisch, nämlich nach der (gesellschaftlich bedingten) Praxis des Rechtsstabes, also der mit der Schaffung, Anwendung und Durchsetzung des Rechts befaßten Personen 77 . Hingegen geht ein normatives Rechtsquellenverständnis davon aus, daß "in einem positivrechtlichen Sinne Quelle des Rechts nur Recht sein kann" 78 . Das Recht entscheidet hiernach autonom (und nicht heteronom, d.h. abhängig von sozialen Tatsachen), welche normativen Sätze ihm angehören, also positive Rechtssätze darstellen, gibt also selbst die Entstehungsgründe von Rechtssätzen (nach Form und Verfahren) an. Gerade an der Auseinandersetzung um die Entstehungsgründe der strafrechtlichen Garantenpflichten läßt sich nun unschwer zeigen, daß die Differenz zwischen einem normativen und einem soziologischen Rechtsquellenverständnis im Strafrecht von größter Bedeutung ist . D e r Seite eines soziologischen Rechtsquellenverständnisses sind diejenigen Ansichten zuzuordnen, welche den Grund der Garantenpflichten in realen sozialen Verhältnissen - sozialen Funktionen, Erwartungen oder Vertrauensverhältnissen - erblicken 80 . I n neuerer Zeit hat es vor allem Brammsen unternommen, eine in diesem Sinne "soziologische" Garantenlehre zu entwickeln 8 1 . Brammsen geht von der empirischen Realität einer bestimmten sozialen Position aus und fragt, ob sich in dieser Position die gesellschaftli-

) den Entstehungsgrund des Rechts in dem "in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende(n) und wirkende(n) Volksgeist" - also in einer sozialen Tatsache - erblickte; ebenso Puchta, Gewohnheitsrecht, S. 139. 77

Insofern kann das von Hart, Concept, S. 97 ff. entwickelte Konzept der "rule of recognition" als soziologisch-pragmatische Neuformulierung des Rechtsquellenproblems verstanden werden. Nach Hart wird der Bereich des Rechts nach bestimmten, vom Rechtsstab praktisch anerkannten Erkenntnisregeln - eben den "rules of recognition" - abgegrenzt. Z.B. lautet eine dieser im Vereinigten Königreich, genauer in der Praxis des House of Lords anerkannten Erkenntnisregeln: "Law is whatever the Queen in Parliament enacts". 78 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 239. 79 Hervorgehoben wird dies bislang vor allem b. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 15 ff. und 180 ff., der die Begriffe "Soziologismus" bzw. "Normativismus" verwendet und hierunter - freilich sehr eng - eine an faktisch-gesellschaftlichen Erwartungen bzw. eine an zivilrechtlichen Rechtspflichten orientierte Garantenlehre versteht. - In weitgehender sachlicher Übereinstimmung mit den hier vorgetragenen Überlegungen unterscheidet Otto, Grundkurs, S. 174 ff. zwischen "formell-rechtlichen", "sozialethischen", "soziologischen" und "ethnomethodologischen" Begründungsansätzen für Garantenpflichten. 80 Genaugenommen muß zwischen einer soziologischen Position i.e.S. - nach welcher die faktischen Seins-Verhältnisse maßgeblich sein sollen - und einem Sozialethizismus - welcher auf die faktisch vorhandenen Bewußtseins-Verhältnisse, etwa auf das "gesunde Volksempfinden" abstellt - unterschieden werden. Im letzten Sinne argumentierte insbesondere die Kieler Schule, vgl. Schaffstein, in: Gleispach-FS, S. 70 (71); s. weiterhin Honig, in: SchaffsteinFS, S. 89 ff., der unter Berufung auf RGSt 69, 321 Garantenpflichten maßgeblich auf sozialethische Vorstellungen gründen wollte; krit. hierzu Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 51, 60 ff. (mit der zutreffenden Bemerkung, daß letztlich die tatsächliche, in der Volksgemeinschaft vorgefundene Lebensordnung zugunsten einer pervertierten Sozialethik in den Hintergrund trat). 81 Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 114 ff.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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che Erwartung auf Vornahme der erfolgsvermeidenden Handlung wechselseitig kontrafaktisch stabilisiert hat, ob also eine "Muß-Erwartung" im "Gegenseitigkeitsverhältnis" zwischen Garanten und Opfer realiter besteht. Zwar will Brammsen solche Erwartungen nicht ungefiltert ins Recht übernehmen und mit Garantenpflichten geradezu gleichsetzen; seine nur scheinbar normative Korrektur mit Blick auf "allgemein anerkannte rechtliche und soziale Wertvorstellungen" und die "Funktionstüchtigkeit des gesamtgesellschaftlichen Ordnungssystems" sprengt freilich die innere Logik eines soziologischen Ansatzes nicht, da Wertvorstellungen und Funktionstüchtigkeit hierbei selbst als sozial-reale Fakten verstanden werden 82. Wie Brammsen darlegt 83, knüpft eine derartige soziologische Garantenlehre an eine gewichtige Tradition der Unterlassungsdogmatik an, die sich zumindest bis auf den Kausalisten Kohler zurückführen läßt, der die Kausalität des Unterlassens genau dann bejahte, wenn eine "von der sozialen Ordnung eingeßgte Tätigkeit, auf welche die soziale Ordnung behufs Erreichung ihrer Interessen baut", unterlassen wurde 84. Einen wichtigen Schritt zur Weiterentwicklung leistete dann Kissin, welcher die Erfolgsabwendungspflicht auf die "rechtlich-soziale Position des Unterlassenden im gesellschaftlichen Gesamtorganismus" stützte85. Geradezu zum Grundansatz strafrechtlichen Denkens wollte sodann Vogt die "soziologische Methode" erheben 86. Explizit hat es auch Bärwinkel 87 unternommen, die modernen soziologischen Instrumente (Theorie der sozialen Rolle, der sozial-funktionellen Stellung) zur Begründung von Garantenstellungen einzusetzen; ausgehend von einem systemtheoretischen Ansatz in der Nachfolge von Parson und Luhmann folgt ihm hierbei Philipps88. Bis heute ist die "soziale Stellung" des Garanten

82

Ganz ähnlich sah Heinrich Stoll , in: Heck-FG, S. 60 (67 in Fn. 1) die "allgemeinen abstrakten Zweckideen, wie Rechtssicherheit, Billigkeit" als faktische Interessen an. Zu Recht rügt Larenz , Methodenlehre, S. 117, daß hiermit der Begriff des "Interesses" verunklart wird: Ursprünglich als den Gesetzgeber motivierender Kausalfaktor und Gegenstand der gesetzgeberischen Bewertung verstanden, soll das Interesse nunmehr den Bewertungsmaßstab selbst darstellen. 83 84 Entstehungsvoraussetzungen, S. 45 ff. Kohler , Studien, Bd. I, S. 45 (f. - Herv. v. Verf.), wo sich auch die berühmte Formel findet, der Garant sei von der Gesellschaft zum Schutze des jeweiligen Rechtsguts "auf Posten gestellt". - Zu Kohler eingehend Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 49 ff. m.w.N. 85 Kissin, Rechtspflicht, S. 107 f. Vogt, ZStW 63 (1951), 381 ff.; zur Kritik Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 158 f. 87

Garantieverhältnisse, bes. S. 91 ff.; zur Kritik Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 55 88 ff.; Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 128 ff. Philipps, Handlungsspielraum, bes. S. 151 f., 157; zur Kritik Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 57 f.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

bei fast allen Autoren, die sich mit der Garantenproblematik befassen, eines der maßgeblichen Begründungselemente für Garantenpflichten geblieben89. Hingegen kann die Rechtsprechung und können die Anhänger einer formellen Rechtspflichtlehre, welche die Garantenpflichten nach ihrem Entstehungsgrund - Gesetz, Vertrag oder Ingerenz - einteilen, grundsätzlich als Vertreter eines normativen Rechtsquellenverständnisses bezeichnet werden 90 . Freilich wurde längst bemerkt, daß die formelle Rechtspflichtlehre ungeachtet ihrer inhaltlichen Defizienz 91 - keineswegs reibungslos mit dem üblichen normativen Rechtsquellenverständnis abgestimmt werden kann92: Es ist zumindest ungewöhnlich, Verträge als Rechtsquellen zu bezeichnen; und die weder unmittelbar gesetzlich begründete noch wirklich im Gewohnheitsrecht verankerte Ingerenz scheint überhaupt nicht in das tradierte System der Rechtsquellen hineinzupassen. Es ist nicht zu verkennen, daß der soziologische Rechtsquellenbegriff geeignet erscheint, den Ausgangspunkt einer Theorie der (strafrechtlichen) Garantengebote und -pflichten zu bilden. Offensichtlich spielt die soziale Position des jeweiligen Garanten bei der Begründung seiner spezifischen Pflichtenstellung eine gewichtige Rolle. Auch ist zuzugeben, daß hierdurch sachgerechte Lösungen erzielt werden können, die im Rahmen des sozial Gewachsenen liegen, deshalb leicht akzeptiert werden und effektiv sind. Umgekehrt scheint ein normatives Rechtsquellenverständnis in größte Probleme zu führen, da sich viele anerkannte Garantenstellungen (enge Lebensgemeinschaft, Gefahrengemeinschaft usf.) jedenfalls nicht unmittelbar aus dem Gesetz nachweisen lassen und keinesfalls bereits Gewohnheitsrecht darstellen93. Gleichwohl ist gegen ein soziologisches Rechts89

So ist nach Rudolphi (Gleichstellungsproblematik, S. 96) Garant derjenige, der "im sozialen Leben eine Schutzfunktion" ausübt, "kraft derer ... ihm die maßgebliche Entscheidung über den Eintritt der drohenden Rechtsgutsverletzung obliegt" (Herv. v. Verf.); dediziert auch Jakobs , Strafrecht, 29/28: "Die förmliche Rechtsquelle ist ... nebensächlich. Insbesondere schafft ein Gesetz nicht ex nihilo eine Garantenstellung, sondern kann allenfalls die Grenzen einer Organisationszuständigkeit oder einer Institution klären"; vgl. weiterhin Herzberg , Unterlassung, S. 215, nach welchem "die im sozialen Leben anerkannte , besondere Verantwortlichkeit ..., die einem Menschen zum Zwecke der Schadensverhinderung auferlegt ist" (Herv. v. Verf.) für die Garantenpflicht entscheidend sein soll. 90 Hier ist auch Armin Kaufmann einzuordnen, der häufig wegen seiner rein phänomenologisch gemeinten Einteilung der Garanten- in Obhuts- und Uberwachungsgarantenstellungen (hierzu noch unten § 10 IV 3.) für eine soziologische Position in Anspruch genommen wird. Das Gegenteil ist der Fall, wie aus der folgenden Aussage erhellt (Dogmatik, S. 284): "Es muß ein Gebot existieren, das die Abwendung ... (sc. des Erfolges) zum Inhalt hat. Die Verletzung dieses Gebotes muß an Unrechtsgehalt und im Maß des Schuldvorwurfs und damit in der Strafwürdigkeit dem Begehungsdelikt ... wenigstens annähernd gleichen". Soweit Armin Kaufmann - im Anschluß an Welzel - dem "konkreten sozialen Lebensbereich" eine erhebliche Bedeutung einräumen wil, sind die normativ gewichteten Interessen im jeweiligen Lebensbereich gemeint. 91 S. oben 4 I 3. 92 S. nur Welp , Vorangegangenes Tun, S. 28 m.w.N. 93 S. oben Fn. 64.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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quellenverständnis wie gegen jede Rückführung der Normativität des Rechts auf Tatsachen einzuwenden, daß es - methodisch gesprochen - dem naturalistischen Fehlschluß vom Sein aufs Sollen unterliegt 94. U m dies zu verdeutlichen, ist das soziologische Rechtsquellenverständnis im hier zugrundegelegten Sinne theoretisch zu präzisieren. Seine Eigenart liegt nicht darin, daß zur Begründung von Rechts- und Garantennormen überhaupt auf soziale Fakten zurückgegriffen wird; es ist selbstverständlich, daß Fakten bei der Bildung und Begründung von - ja wirklichkeitsbezogenen - Normen, Werten und anderen Rechtsregeln berücksichtigt werden müssen. Die Besonderheit des soziologischen Rechtsquellenverständnisses liegt vielmehr darin, daß im Kern (soziale) Fakten - zu denen auch Werte, allerdings im Sinne von faktischen Wertüberzeugungen zählen - als unmittelbar rechtsbegründend angesehen werden 95. Damit gerät der soziologische Ansatz leicht in Abhängigkeit von Gewachsenem und Bestehenden und konterkariert damit die Steuerungsfunktion des Rechts96. Es kommt also vom rechtlichen Standpunkt aus entscheidend darauf an, daß zwischen Faktum einerseits und Norm, Wert oder Rechtsregel andererseits ein Schlußmodus liegen muß, der wiederum selbst normativ begründet sein muß. Ein soziologisches Rechtsquellenverständnis ist nur vom Standpunkt eines externen Beobachters aus legitim; es erklärt, aber begründet nicht. Deshalb ist es nicht geeignet, dem intern nach dogmatischen Lösungen und Legitimationsansätzen Suchenden Hilfestellung zu geben. Wer sich überhaupt dafür entscheidet, rechtsintern mitzuargumentieren, muß sich auf den rechtlichen Standpunkt einlassen97. Zudem ist auf das pragmatische Methodenproblem eines soziologischen Rechtsquellenverständnisses bei den Garantenpflichten hinzuweisen: Der methodisch einwandfreie Nachweis der Rechtsquelle - Interessen, sozialer Rollen, Erwartungen usf. - bedürfte konsequenterweise auch soziologischer Methoden (Umfragen usf.), die zwar in manchen Rechtsgebieten verwendbar und anerkannt, bei der Fülle von "garantenpflichtigen" Lebensbereichen aber kaum praktikabel sind98. Mithin ist dem Ausgangspunkt der

94

Grundlegend Moore , Principia Ethica, bes. S. 15 f., 21; näher Ricken, Ethik, Rdnm. 55 ff. In diesem Sinne gibt es entweder eine soziologische Position (i.e.S.) oder eine normative, tertium non datur. Damit sind vermittelnde Positionen - die etwa aus der "Natur der Sache" oder aus "sachlogischen Strukturen" argumentieren wollen - denkunmöglich; so aber insbes.9 Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. S. 229 ff. 6 Hierzu grundlegend Luhmann, ARSP Beiheft N.F. 8 (1974), 31 ff. 95

97

Ebenso (speziell für die Garantenpflichten) Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 19 ff.; Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 18. - Die Möglichkeit eines derartigen "rechtlichen" Standpunkts wird nicht durch die oft betonte Tatsache in Frage gestellt, daß Recht ein sprachlich vermitteltes Phänomen ist und die Sprache selbst unsere Lebenswelt prägt, s. Ransiek , Gesetz, S. 87 ff., 94 ff. Es muß nämlich zwischen der durch eine strategisch verzerrte Kommunikation und Sprache geprägten "kruden" Lebenswelt und dem "wahren" Bild der Lebenswelt - ein Bild, welches seine Richtigkeits- und Geltungsansprüche auch einlösen kann, 98 und zwar im Diskurs - unterschieden werden. Vgl. aber den b. Röhl, Rechtssoziologie, S. 88 ff. mitgeteilten Fall, in welchem die Frage der Instruktionspflichtverletzung eines Herstellers von Elektroherden aufgrund einer Um-

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

formellen Rechtspflichtlehre zuzustimmen, daß der Nachweis, daß Garantenpflichten positives Recht sind, nach "rechtlichen Grundsätzen" genauer gesagt: durch einen normativen" Schlußmodus - geführt werden muß 100 . 3. "Interpretation des (Straf-)Rechts als eines Sinnganzen" als Rechtsquelle von Garantengeboten Worin der gesuchte normative Schlußmodus bestehen könnte, kann an den Garantenstellungen aus Verkehrssicherung und enger Lebensgemeinschaft und an den Entscheidungen, in welchen das Reichsgericht diese Garantenstellungen erstmals begründet hat, verdeutlicht werden. Eine Betrachtung dieser Entscheidungen ergibt, daß ihnen ein ganz eigentümlicher Umgang mit dem Gesetz eigen ist: eine Interpretation des geschriebenen Gesetzesrechts nicht als Summe singulärer Rechtssätze, sondern als eines Ganzen. So heißt es in dem grundlegenden Urteil zur Verkehrssicherungspflicht: "Allein aus dem Eigentum ist zwar eine solche Pflicht nicht herzuleiten. An und für sich ist der Eigentümer von dem Gebrauche seiner Sache, soweit es die Gesetze nicht ausdrücklich verordnen, niemandem Rechenschaft zu geben schuldig (§. 13 1.8 A.L.R.'s). Wenn aber ein Hauseigentümer in Ausnutzung seines Eigentumes Mitbewohner aufnimmt und dadurch ... einen Verkehr in dem Hause herstellt, so hat er die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, daß bei dem von ihm hergestellten Verkehr andere durch die Anlagen des Hauses nicht Schaden erleiden; denn niemand darf sein Eigentum zur Herstellung gemeingefährlicher Einrichtungen benutzen"101; bemerkenswerterweise zitierte das Reichsgericht für die letzte Aussage Vorschriften des ALR nicht102. Ebenso führte das Reichsgericht in seinem Urteil

frage entschieden wurde. - Allgemein zur Verwendung soziologischer Methoden im Recht (insbes.: im Markenschutzrecht) Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 14 ff. 99 Freilich nicht notwendig - wie Kelsen dies behauptete - durch einen rechtsautonomen Schlußmodus; zur Verwiesenheit des Rechts auf die Moral s. sogleich § 10 III 3. 100

Wie hier auch Freund, Unterlassen, S. 138 ff. RGSt 14, 362 (363 - Herv. v. Verf.). - Ähnlich führte das Reichsgericht in der grundlegenden zivilrechtlichen Entscheidung (RGZ 54, 53 ) aus: "Das Berufungsgericht hat nun darin zwar Recht, daß aus reichsrechtlichen Bestimmungen über das Eigentum nicht (sc. unmittelbar) die Verpflichtung, für den verkehrssicheren Zustand eines dem öffentlichen Verkehr überlassenen Weges zu sorgen, sich entnehmen läßt; dasselbe verkennt jedoch die Bedeutung des § 823 Abs. 1 B.G.B., wenn es die Lösung der streitigen Frage lediglich in den gesetzlichen Bestimmungen über das Eigentum sieht. Das Eigentum hat für di Frage nach der Haftung nach § 823 B.G.B, die Bedeutung, daß es eine Verfügungsmacht über eine Sache gewährt, vermöge deren der Inhaber mit dem Rechtskreise anderer in Berührung kommt, und deren Ausübung ihm die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen der anderen auferlegen kann". 101

102

Neben dem - allerdings z.Zt. der Entscheidung längst außer Kraft getretenen - oben in § 8 Fn. 7 erwähnten § 691 II 20 ALR wären vor allem die - freilich weit engeren - §§ 28, 28 I 8 ALR zu nennen gewesen: "Niemand darf sein Eigenthum zur Kränkung oder Beschädigung

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

321

zur Garantenstellung des nichtehelichen Vaters gegenüber seinem Kind (mit welchem jener nach damaligem bürgerlichen Recht nicht verwandt war) aus, es sei nicht nur entscheidend, welche Ausgestaltung "in den Einzelheiten" das einschlägige Gesetzesrecht habe, sondern auf welchen "Vorstellungen vom Recht" es aufgebaut sei und welche "tragenden Rechtsgedanken"103 ihm zugrundelägen1 . Bei der Entwicklung der Garantenpflichten ging es der Rechtsprechung also in den Worten Welps 105 darum, die in singulären Rechtssätzen (wie z.B. der Garantie des Eigentums des Verkehrspflichtigen oder - negativ - des Fehlens einer Betreuungs- und Erziehungspflicht des nichtehelichen Vaters) verbürgte Handlungsfreiheit des Garanten mit dem ebenfalls in singulären Rechtssätzen (wie z.B. der Garantie von Leib und Leben durch GG, StGB und auch BGB) verbürgten Gutsintegrität des Opfers in ein - nicht selbst in expliziten Rechtssätzen aufzufindendes - "kompossibiles Maximum" zu bringen. Methodisch gesprochen unterwarf sich die Rechtsprechung damit dem Postulat der Herstellung der Einheit der Rechtsordnung, und zwar - über das streng normlogische Einheitskonzept hinaus - dem Sinn und den Wertungen der Rechtsordnung nach. Ganz im Sinne des bekannten Rechtsquellenkonzepts von Ross legte die Rechtsprechung also zur Ermittlung von Rechtssätzen ein Konzept des Rechts als "System" oder als eines Ganzen zugrunde; sie anerkannte über die singulären, aus der anerkannten Rechtsquelle des Gesetzes fließenden Rechtssätze hinaus ein "Mehr" an Recht, welches sich aus aus einer richterlichen Gesamtinterpretation der je singulären Rechtssätze als eines Sinnganzen ergab. Die hiermit implizierte These, daß zu den anerkannten Rechtsquellen diejenige der "richterlichen Interpretation des Rechts als eines Sinnganzen" hinzutritt und die Garantengebote und -pflichten genau aus dieser Rechtsquelle fließen, mag allerdings kühn erscheinen und sprengt ohne Zweifel die herkömmliche Rechtsquellenlehre. Sie entspricht jedoch - bis in die Formulierung hinein - der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, in dessen bekanntem "Soraya-Beschluß" es heißt: "Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann ... ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der ... Rechtsordnung als einem Sinnganzen findet...; es zu finden

Anderer missbrauchen." - "Mißbrauch heißt ein solcher Gebrauch des Eigenthumes, welcher vermöge seiner Natur nur die Kränkung eines Anderen zur Absicht haben kann." 103 Die in casu bis auf Art. 132 PeinlGO zurückgeführt werden. 101 1 RGSt 66, 71 (73 f.); s. bereits oben § 4 11. 105 Vorangegangenes Tun, S. 224. 106 Rechtsquellen, bes. S. 309 (ff.). - Ross wendet sich gegen das berühmte logisch-deduktive Rechtsquellenkonzept Kelsens vom "Stufenbau der Rechtsordnung" (Reine Rechtslehre, S. 196 ff.). Gegen Kelsen führt Ross an, daß nicht nur die transzendental-logische "Grundnorm", sondern zugleich die relativ-konkrete Anwendung des Rechts dessen Totalität als System verbürge. 21 Vogel

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und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung' 107. W e n n das Bundesverfassungsgericht sodann der Rechtsprechung zugesteht, "Wertvorstellungen, die der ... Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommenen zum Ausdruck gelangt sind, in einem A k t des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren", so trifft diese Darstellung die dargestellte Argumentationsweise des Reichsgerichts mit bemerkenswerter Genauigkeit 1 0 8 . M i t h i n erweist sich die bereits mehrfach zitierte, anstößig erscheinende These des Reichsgerichts, die Garantengebote seien nach der "aus dem W i l len der Gemeinschaft heraus entwickelten Vorstellung vom Recht" 1 0 9 zu entwickeln, als rechtstheoretisch zutreffend, wie denn auch das Bundesverfassungsgericht richtig meint, der Richter müsse die Rechtsquelle der Interpretation des Rechts als eines Sinnganzen "nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den 'fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft , " ausfüllen 110 . Gerade im Strafrecht - dem wegen Art. 103 Abs. 2 G G positivistischsten aller Rechtsgebiete - muß eine derartige These freilich mit vehementem Widerspruch rechnen, der eine schleichende "Moralisierung" des Strafrechts - gerade qua Garantengebote -

107

BVerfGE 34, 269 (287); Heiv. v. Verf. Der "Soraya-Beschluß" ist freilich in der Literatur auf Ablehnung gestoßen; vgl. nur F. Müller, in: Heidelberg-FS, S. 65 (73 ff.) mit umf. Nachw. Die Kritik hebt hervor, der Beschluß beinhalte eine Entscheidung contra legem (nämlich gegen § 253, 847 BGB), vgl. die Nachw. b. F. Müller, aaO., S. 75 in Fn. 41. So liegt es aber bei der Garantenproblematik - jedenfalls seit Einfügung des § 13 in das StGB - nicht. Auch das BVerfG selbst hat in späteren Entscheidungen die Reichweite der richterlichen Rechtsfortbildung eingeschränkt. Als Wendepunkt wird insbesondere die Entscheidung zur Frage angesehen, ob entsprechend der Rechtsprechung des BAG Ansprüche aus einem Sozialplan im Konkurs des Unternehmens entgegen der in §§ 59 ff. KO vorgesehenen Rangordnung bevorzugt befriedigt werden dürfen (BVerfGE 65, 182). Die Verneinung der Frage begründete das BVerfG freilich keineswegs mit einer grundsätzlichen Verwerfung der im "Soraya-Beschluß" entwickelten methodischen Erwägungen, sondern damit, daß die gesetzliche Ordnung des Konkursrechts "keinen Anhaltspunkt" geboten habe, zu dem vom Bundesarbeitsgericht gefundenen Ergebnis zu gelangen; es sei vielmehr um eine Entscheidung "aus im wesentlichen sozialpolitischen Erwägungen" gegangen, bei welcher ein "rechtlich einleuchtendes Differenzierungsmerkmal" gefehlt habe und die nicht "von einer allgemeinen Rechtsüberzeugung gestützt" worden sei, BVerfG aaO. S. 194 f. (Herv. v. Verf.). Hieraus kann der Schluß gezogen werden, daß die "richterliche Interpretation des Rechts als eines Sinnganzen" auf rechtliche (Gerechtigkeits-)Erwägungen beschränkt ist, nicht aber politische (Zweckmäßigkeits-)Erwägungen berücksichtigen darf (s. noch unten § 10 III 5.) und im geschriebenen Recht stets einen "Anhaltspunkt" finden muß. Nach diesen Maßstäben kann aber keinesfalls angenommen werden, daß die Garantengebote verfassungswidrig sind: Sie finden einen Anhaltspunkt im Gesetz (§ 13), sind politischen (Zweckmäßigkeits-) Erwägungen entzogen und entsprechen wenigstens in weiten Teilen einer allgemeinen Rechtsüberzeugung. 108

109 110

RGSt 66, 71 (73). BVerfGE 34,269 (288).

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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anprangert 1 1 1 . D i e hiermit implizit ins Feld geführte positivistische "Trennungsthese" besagt strenggenommen freilich nur, daß kein begrifflich notwendiger Zusammenhang zwischen Recht und M o r a l bestehe 1 1 2 ; ein derartiger allgemeiner Zusammenhang wird hier keineswegs behauptet, vielmehr wird nun angenommen, daß das Erkennen und die Interpretation des Rechts aus erkenntnistheoretischen Gründen von einem außer-rechtlichen Standpunkt aus erfolgen müssen. Ferner könnte aber eingewendet werden, daß in einer pluralistischen Gesellschaft der Inhalt der "Gerechtigkeit" und moralische Inhalte umstritten sind und nicht mit A n spruch auf Verbindlichkeit angegeben werden können. I m Bereich der Ga111 Gegen (sozial-)ethische Ansätze in der Garantenlehre (aus neuerer Zeit v.a. Bärwinket) etwa Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 142 f.; allgemein zur Frage von Recht und Moral bei der Garantenproblematik AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnrn. 47 ff. m.w.N. Die These vom notwendigen Aufeinanderverwiesen-Sein von Recht und Ethik hat freilich gerade in der neuesten Methodenlehre und Rechtstheorie prominente Vertreter. Hinzuweisen ist vor allem auf die "Sonderfallthese" von Alexy, Argumentation, S. 32, 38, bes. 263 ff. und auf den wegweisenden Aufsatz von Habermas über "Legitimität durch Legalität" in KritJ 1987, 1 ff.; s. weiterhin Alexy , ARSP Beiheft 37 (1990), S. 9 (24 f.); Dreier , Rechtsbegriff und Rechtsidee S. 30 f. Alexy , aaO. S. 221 ff., rekonstruiert die Systeme Moral bzw. Recht bekanntlich als allgemein-praktische bzw. juristische Diskurse. Der juristische Diskurs sei nun ein Sonderfall des allgemein-praktischen und zu diesem hin notwendig offen . Im einzelnen unterscheidet Alexy fünf Konstellationen, in denen allgemein-praktische Argumente erforderlich werden: (1) bei der "Sättigung" dogmatischer Argumente - z.B. müsse bei der Ermittlung des (historischen) "Willens des Gesetzgebers" auf die (historische) allgemein-praktische Diskussion um das Gesetz zurückgegriffen werden; (2) bei der Begründung der Wahl zwischen verschiedenen, zu verschiedenen Ergebnissen führenden dogmatischen Begründungen; (3) allgemein bei der Begründung dogmatischer Sätze, die nicht infinit auf dogmatische zurückgeführt werden können; (4) bei der Begründung einer Rechtsfortbildung; und (5) bei der Begründung von "internen Rechtfertigungen". Dies bedeute nicht, daß juristische Argumentation mit allgemeiner praktischer identisch sei oder auf diese reduziert werden könne. Allgemein-praktische Argumente dürfen nach Alexy nur "in besonderen Formen und nach besonderen Regeln und unter besonderen Bedingungen" in den juristischen Diskurs eingebracht werden, aaO. S. 355. Diese besonderen Formen, Regeln und Bedingungen werden wiederum durch ein Zusammenspiel zwischen den rechtlichen Regeln - der juristischen Argumentation - mit dem Konzept des Rechts - der allgemeinen praktischen Argumentation - bestimmt. Auch nach Habermas , aaO., kann die - von ihm unbestrittene - "Autonomisierung" des Rechtssystems keine vollständige Entkoppelung des Rechts von Moral einerseits, Politik andererseits bedeuten. Die Autonomie des Rechts durch ersatzlose Streichung jeder Unverfügbarkeit - durch Positivität im Sinne der Instrumentalität - gewährleisten zu wollen, sei selbstwidersprüchlich: Recht löse sich dann in Politik auf; diese wiederum verliere den Charakter von Herrschaft und löse sich in blanker Gewalt auf. Autonomie des Rechts müsse durch ein Moment der Unverfügbarkeit gesichert werden. Dieses Moment durch ein Vernunft- oder Naturrecht zu begründen, sei nicht nur philosophisch gescheitert, sondern durch die Verhältnisse - die "Dynamik einer über Märkte integrierten Gesellschaft" - überholt. Inhaltliche Vorgaben für Unverfügbarkeit seien ausgeschlossen; vielmehr hätten legitimierende Kraft nur mehr "Verfahren, die Begründungsanforderungen und den Weg zu ihrer argumentativen Einlösung institutionalisieren". Das Recht verteile Argumentationslasten und institutionalisiere Begründungswege, die zu moralischen Argumentationen hin geöffnet sind; hierdurch wandere die - nur mehr prozeduralen Charakter tragende - Moral "ins positive Recht ein, ohne darin aufzugehen". 112

2

Hoerster , NJW1986, 2480; insoweit übereinstimmend Dreier , NJW 1986, 890.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

rantenproblematik kann hierfür das vieldiskutierte Beispiel angeführt werden, ob es Eltern (moralisch bzw. strafrechtlich) geboten sei, Straftaten ihrer Kinder - insbesondere nach dem alten Kuppeleitatbestand (§ 180 a.F.) den außerehelichen Geschlechtsverkehr ihrer, auch volljährigen oder gar verlobten, Kinder zu verhindern 113. Nun geht es aber bei der vorgetragenen These schon nicht um eine mit absolutem Verbindlichkeitsanspruch auftretende, sondern nur um diejenige Moral, welche relativ zum geltenden Recht in den Worten Dworkins die "soundest theory of law" darstellt und im Recht einen "institutional support" besitzt; dies wäre im Beispiel - u.a. wegen der rechtlichen Anerkennung des Verlöbnisses und des Selbstverantwortungsprinzips - nicht der Fall. 4. Rechtsquellenfrage und Autonomie, Akzessorietät oder "Sekundarität" des Strafrechts bei Garantengeboten Die These, Rechtsquelle der Garantengebote sei eine "Interpretation des (Straf-)Rechts als eines Sinnganzen", könnte die Antwort auf die von Schünemann 115 gestellte Frage erleichtern, ob die strafrechtlichen Garantenpflichten im Verhältnis zum übrigen Recht autonom, akzessorisch oder "sekundär" entwickelt werden müssen. Unter Rückgriff auf Bindings berühmte Formel vom Strafrecht als einem "akzessorischen Rechtsteil" meint Schünemann, das Strafrecht sei grundsätzlich auf die Pönalisierung solcher Handlungen beschränkt, deren Rechtswidrigkeit sich aus den übrigen Rechtsgebieten ergebe. Dies bedeute freilich nicht, daß das Strafrecht in der Weise strikt akzessorisch sei, daß es keine eigene Begriffsbildung anstrebe 117; vielmehr stellten die übrigen Rechtsgebiete eine "vorstrafrechtliche Wertordnung dar, auf welche sich das Strafrecht, wenn auch teilweise unter Modifizierung oder Substituierung der Wertakzente, mannigfach bezieht"118. Strafrecht sei in dem Sinne sekundär, als es aus den nach der vorstrafrechtlichen Wertordnung" rechtswidrigen Verhaltensweisen diejenigen herausgreife, die strafbedürftig und -würdig seien. Für die Garantengebote und -pflichten bedeute dies insbesondere, daß nach der vorstrafrechtlichen "engeren Ordnung" erlaubte (richtig: freigestellte 119)

113

114

S. bereits oben § 4 III 1. mit Fn. 73.

1 1 5Taking 116

117

Rights Seriously, S. 68. Unterlassungsdelikte, S. 221 ff. Binding, Handbuch, S. 9 f.

Schünemann (Unterlassungsdelikte, S. 222) verweist hier auf die berühmte Untersuchung von Bmns über die "Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken" (1938), welche118 freilich die Garantenproblematik nicht näher behandelt. Schünemann, GA 1969,46 (53); Herv. i. Orig. 119 S. oben § 1 II 1.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

325

Unterlassungen nicht als (strafrechtlich) rechtswidrig, nämlich einer Garantenpflicht widerstreitend, angesehen werden dürfen 20 . Nun folgt das von Schünemann gefundene Ergebnis bereits aus dem Gedanken der Einheit der Rechtsordnung; insofern ist zu ergänzen, daß erst recht ein verbotenes Verhalten von dem Garanten nicht verlangt werden kann 121 . Die (Auslegungs-)Frage ist aber doch regelmäßig, inwieweit die außerstrafrechtliche Rechtsordnung ein Verhalten (abschließend) erlaubt. Zu Recht weist Schünemann darauf hin, daß aus der zivilrechtlichen Nichtigkeit eines Vertrags, der Erfolgsabwendungspflichten überträgt - z.B. mit einem minderjährigen Kindermädchen -, keinesfalls geschlossen werden kann, das Unterlassen einer relevanten Erfolgsabwendung sei außerstrafrechtlich erlaubt; hier können (auch) zivile deliktsrechtliche Pflichten bestehen122. Ähnlich entspricht es der hA., einer verwaltungsrechtlichen 'Verhaltensbezogenen" Genehmigung - z.B. einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung zur Luftverunreinigung - jedenfalls dann keine "erfolgsbezogene" - z.B. auf Gesundheitsschädigungen bei Anwohnern bezogene - Erlaubnis zu entnehmen, wenn die tatbestandsmäßigen Erfolge nicht in den Abwägungsprozeß bei der Genehmigungserteilung eingegangen sind123. In diesen Bereichen wird das (auch außerstrafrechtliche) Gebot ohnehin nach einer Gesamtheit von Rechtsprinzipien und unter Einbeziehung des "Konzepts" des jeweiligen Rechtsgebiets entwickelt; nichts prinzipiell anderes gilt aber im Strafrecht. Im Ergebnis sind daher die Begründungszusammenhänge stets über die gesamte Rechtsordnung (und unter Beachtung der dieser zugrundeliegenden außerrechtlichen Konzepte) zu entwickeln, und zwar mit Blick auf strafrechtliche Gebote stets unter Berücksichtigung der Anforderungen an das "Gewicht" strafrechtlicher Normen 124 . Kurzum: Das Strafrecht ist zwar bezogen auf die gesamte Rechtsordnung, in diesem Rahmen aber autonom. Insofern ist auch der gängigen, zuletzt von Kuhlen vorgetragenen These zu widersprechen, strafrechtliche Pflichten müßten stets enger als außerstrafrechtliche bestimmt werden 125. Dies läßt sich am Beispiel zivilrechtliDiskutable Beispiele: Meineidsbeihilfe durch Unterlassen durch den schweigeberechtigten Angeklagten? Garantenpflicht des nichtehelichen, nur unterhaltspflichtigen Vaters? vgl. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 199 f., 208 f. u. 224 f.; 347 f.; je m.w.N. zu der gegenteiligen hA. Vorbehaltlich einer Rechtfertigung nach § 34, wodurch der Raum für ein Garantengebot wieder eröffnet wird; s. oben § 3 II 5. 122

123 Schünemann,

Unterlassungsdelikte, S. 226 f., 347 f. Jakobs , Strafrecht, 16/28 ff.; vgl. weiterhin das b. Tiedemann, Neuordnung, S. 58 ff. mitgeteilte BGH-Urteil 4 StR 28/75 v. 13.3.1975. 124 S. oben § 1 III 3. 125

Kuhlen , Produkthaftung, S. 151 (für Sorgfaltspflichten); ähnlich wohl Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 225 (für Garantenpflichten). Kuhlen (aaO. in Fn. 355) stellt seine Auffassung freilich unter den Vorbehalt, daß der Strafrichter von entsprechenden zivilrechtlichen Judikaten ausgehen kann. Dies übersieht

326

Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

eher und strafrechtlicher Verkehrssicherungspflichten zeigen: Hier kann etwa der spezifisch zivilrechtliche (Prinzipien-)Gesichtspunkt der Versicherbarkeit eines Haftungsrisikos durchaus auch dazu führen, daß das (potentielle) Opfer - etwa in Produkthaftungsfällen: der Verbraucher - sich versichern soll, so daß aus zivilrechtlicher Sicht eine Verkehrssicherungspflicht - etwa des Warenherstellers - abzulehnen ist; im Strafrecht darf dieser Aspekt aber keine Rolle spielen126. 5. Vereinbarkeit des § 13 mit Art. 103 Abs. 2 GG AIP diese rechtsquellentheoretischen Erwägungen entbinden allerdings nicht von der Frage, ob die Garantengebote und -pflichten im Strafrecht de constitutione lata schon deshalb keinen Platz haben, weil Art. 103 Abs. 2 GG bestimmt, daß eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit "gesetzlich bestimmt" war, bevor die Tat begangen wurde. Die Frage kann hier allerdings nicht unter dem Aspekt diskutiert werden, wie sich das hier vorgeschlagene Rechtsquellenkonzept in Art. 103 Abs. 2 GG einfügt. Immerhin sei darauf hingewiesen, daß ein vordringender Teil der Lehre sein Augenmerk auf die methodische Erkenntnis richtet, wonach im Grunde jede Auslegungsänderung (vor allem im Bereich mehr oder weniger unbestimmter Strafrechtsbegriffe) als richterliche Rechtsfortbildung verstanden werden kann, aber nicht schlechthin an Art. 103 Abs. 2 GG scheitern darf 127 . Hieraus leitet etwa Stratenwerth ab, daß "die ständige Praxis der Gerichte ... die konkrete Gestalt des geltenden Rechts unabhängig davon (bestimmt), ob sie der allgemeinen Rechtsüberzeugung entspricht ... Sie muß daher (sc. auch im Strafrecht) prinzipiell als Rechtsquelle anerkannt werden." 128 Ähnlich meint Krey, das geltende Strafrecht sei "ein Produkt arbeitsteiligen Zusammenwirkens von Gesetzgebung und Rechtsprechung" und bereits die einfache Auslegung, erst recht die Konkretisierung von unbestimmten und normativen Rechtsbegriffen und von Generalklauseln seien "Rechtsfortbildung" intra legem, zu welcher der Richter - grundsätzlich ohne Verstoß

freilich, daß nach allgemeinen Grundsätzen Präjudizien als solche keineswegs binden und der Strafrichter in der Beurteilung außerstrafrechtlicher Fragen frei ist, also sehr wohl dazu kommen kann, die zivilrechtliche Rechtsprechung auch als solche für zu eng zu halten; so auch - in gewissem Widerspruch zu seinem Ausgangspunkt - Schünemann, aaO., S. 228 in Fn. 67. Zur Frage, ob Art. 103 Abs. 2 GG zu einer restriktiven Handhabung der Garantenpflichten zwingt, s. unten § 10 III 6. 126 Zutr. Schumann, Selbstverantwortung, S. 117; auch Kuhlen, Produkthaftung, S. 151 mit Fn. 354. - Ob die Versicherbarkeit des Risikos freilich überhaupt ein qua Rechtsprinzip legitimer - oder nicht vielmehr ein als "policy"-Erwägung illegitimer - Gesichtspunkt der Haftungsbegründung (auch im Zivilrecht!) ist, kann bezweifelt werden; bejahend aber die h.A., vgl. MünchKomm-Mertens, § 823 Rdnr. 279 m.w.N. 127

A.A. wohl die h.L., die nur das (Parlaments-)Gesetz als Rechtsquelle gelten lassen will, s. nur S/S-Eser, § 1 Rdnr. 6; Schmidhäuser, Studienbuch, 3/6. 12Ä Stratenwerth, Strafrecht, Rdnr. 96.

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gegen Art. 103 Abs. 2 GG - ermächtigt sei129. Eine derartige Ermächtigung könnte sich aber gerade in § 13 - mit seinen bewußt sehr allgemeinen Formulierungen - finden. Damit stellt sich aber das Problem des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots , das zu Recht als die verfassungsrechtliche crux der Garantenproblematik angesehen wird 130 . Überwiegend wird § 13 sub specie des Bestimmtheitsgebots als verfassungsmäßig angesehen, wenn auch Bedenken keineswegs geleugnet werden 3 1 . Die Gegenauffassung hat neuerdings Schürmann mit aller Schärfe vertreten: Der Richter sei zu einer "Festlegung" der Garantenpflichten weder demokratisch legitimiert noch funktionell-rechtlich kompetent; die Entscheidung wäre "seinem Rechtsgefühl und damit seiner Willkür anheimgegeben"132. Schürmann ist zuzugeben, daß einige der in der Lehre vertretenen Rechtfertigungen des § 13 sub specie Art. 103 Abs. 2 GG von vorn herein nicht zu überzeugen vermögen. Die ältere Auffassung, nach welcher Art. 103 Abs. 2 GG auf Regelungen des Allgemeinen Teils überhaupt nicht anwendbar sein soll133, kann für die Garantenproblematik schon deshalb nichts austragen, weil diese eine Frage des (allgemeinen Teils des) Besonderen Teils ist; gegen sie spricht weiterhin der klare Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 G G ("Strafbarkeit") . Auch kann nicht zugegeben werden, daß Verfassungsrecht durch Gewohnheitsrecht derogiert werden kann; eine einseitig historische Auslegung der Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG etwa des Inhalts, daß dieser die Bestimmtheit nur in dem Umfang garantiere, die das Grundgesetz im 1949 oder 1933 geltenden Strafrecht vorgefunden habe, entspricht weder der verfassungsrechtlichen Methodenlehre noch der Recht129

Krey , ZStW 101 (1989), 838 mit dem Hinweis, das Strafrecht kenne darüber hinaus legitime - Fälle derrichterlichen gesetzesergänzenden Lückenfüllung praeter legem sowie der richterlichen Korrektur geschriebenen Gesetzesrechts contra legem. - S. weiterhin Küper , in: Heidelberg-FS, S. 451 (ff.) m.w.N. 130 S. nur Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 155 f. m.w.N. - Jüngst hat Seebode , in: Spendel-FS, S. 317 ff., ausführlich zum Problem Stellung genommen. Seebode weist - hiermit stimmt Verf. überein - "Alles-oder-nichts-Lösungen" zurück. Wenn Seebode dann allerdings im Rückgriff auf Feuerbach § 13 in der Weise auslegen will, daß nur gesetzliche oder vertragliche Rechtspflichten - nicht aber solche aus faktischer Übernahme, enger Lebensgemeinschaft, Ingerenz usf. - Garantenpflichten begründen können, so ist dies als Rechtsquellenkonzept zu eng (s. oben § 10 III 2.) und einem abzulehnenden "Veiweisungsmodell" des § 13 (s. oben § 4 I 3.) verpflichtet. 131 So Jakobs, Strafrecht, 29/4 f.; Jescheck, Lehrbuch, S. 549 ff.; ders. in LK, § 13 Rdnr. 14, Lackner , § 13 Rdnr. 21; SK-Rudolphi, § 13 Rdnrn. 2 f.; Maurach-Gössel , AT 2, § 46 Rdnrn. 38 ff.; AK-StGE-Seelmann, § 13 Rdnr. 2 (und Rdnrn. 3 ff. mit interessanten Überlegungen, ob auch - der verfassungsrechtliche Schuldgrundsatz restriktiv wirken müsse); Stratenwerth , Strafrecht, Rdnr. 988. - Zum älteren Streit (vor Erlaß des § 13) eingehend Nickel , Unterlassungsdelikte, passim. 132

Schürmann , Unterlassungsstrafbarkeit, S. 188; für Verfassungswidrigkeit auch Grünwald , ZStW 70 (1958), 412 (420, 431 f. - zu § 13 E 1962); Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 355 f. 133 Vgl. LK-Tröndle, § 1 Rdnrn. 26 f., 38 m.w.N. 134

Vgl. allg. S/S-Eser , § 1 Rdnrn. 15, 26 f. u. - speziell zur Garantenproblematik Sangenstedt , Garantenstellung, S. 90 ff.; je m.w.N.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

sprechung des Bundesverfassungsgerichts 135. Des weiteren vermag die freilich vom Bundesverfassungsgericht selbst vertretene 136 Ansicht nicht zu überzeugen, eine ständige, gefestigte Auslegung durch die Rechtsprechung könne eine (zu) unbestimmte strafrechtliche Regelung verfassungsrechtlichen Bedenken entziehen: Abgesehen davon, daß durchaus zweifelhaft ist, wie gefestigt die Rechtsprechung zur Garantenproblematik im einzelnen ist, ist richterlich hergestellte Bestimmtheit eben keine gesetzliche137. Normentheoretisch nicht überzeugend ist auch die Auffassung, es handele sich bei § 13 letztlich um eine begünstigende, die Strafbarkeit einschränkende Regelung 138 ; wie dargelegt, kann den Straftatbeständen des Besonderen Teils in den hier interessierenden Fällen die Strafbarkeit des Unterlassens nicht entnommen werden 139. Zu verwerfen ist schließlich auch die Auffassung, der Gesetzgeber sei nach dem Grundsatz "impossibilium nulla obligatio" nicht verpflichtet, schlechthin nicht Präzisierbares bestimmt zu regeln 140. Ganz abgesehen von der Frage, ob nicht jedenfalls einige Garantenstellungen wie z.B. diejenige aus Ingerenz sehr wohl vertypbar wären, kann eine derartige Einschränkung des Art. 103 Abs. 2 GG nicht anerkannt werden: Ein nicht konkretisierbarer Gegenstand ist der (Straf-)Gesetzgebung eben entzogen 141 . Umgekehrt geht allerdings die verbreitete - und ohne Zweifel zur Verfassungswidrigkeit des § 13 führende - Auffassung fehl, es sei der "Idealfall" einer strafrechtlichen Regelung, daß der Gesetzgeber bei deren Formulierung lediglich deskriptive, eindeutig erfaßbare Merkmale verwendet und auf ausfüllungsbedürftige Wertbegriffe und Generalklauseln völlig verzichte 142. Hiergegen spricht nicht nur der pragmatische Gesichtspunkt, daß "ohne derartige Begriffe ... der Gesetzgeber der Vielgestaltigkeit des

135

Zum Gesichtspunkt des Verfassungswandels bei Art. 103 Abs. 2 GG eingehend Dannecker, Intertemporales Strafrecht, 3. Teil 4. Kap. mit umf. Nachw. 136 S. nur BVerfGE 26,41 (43); 45, 363 (372); 48,48 (56). 137

Eingehend Krahl, Bestimmtheitsgrundsatz, S. 258 ff., 402 ff.; Sangenstedt, Garantenstellung, S. 95 ff. 138 So Maurach-Gössel, AT 2, § 46 Rdnrn. 40, 42; zust. Baumann/Weber, Strafrecht, S. 241; Fuhrmann, GA 1962,161 (172). 139 Abi. auch die h.L., vgl. nur Jakobs, Strafrecht, 29/4; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 143 f. 140 S. nur LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 14: Man müsse sich mit der "generalklauselartigen Regelung" begnügen, da eine Npräzisere Erfassung der Merkmale des unechten Unterlassungsdelikts im Allgemeinen Teil nach dem Stand der gegenwärtigen Dogmatik nicht möglich sei"; ganz allgemein ebenso Kohlmann, Bestimmtheit, S. 252 ff. 141 S. Maunz/Dürig-Herzog, Art. 20, VI, Rdnr. 48 in Fn. 2.; Starck, W D S t L 34 (1976), 43 (80); auch Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 128. 142 Grundlegend Maunz/Dürig-Dürig, Art. 103 Abs. 2 Rdnr. 107; vgl. weiterhin Kohlmann, Bestimmtheit, S. 252 ff., Krahl, Bestimmtheitsgrundsatz, S. 4 f., 81 ff.; Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 158 f.; zutr. dagegen Sangenstedt, Garantenstellung, S. 114 ff.; Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 263 ff.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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Lebens nicht Rechnung tragen" könnte 1 4 3 . Vielmehr führt, wie Dürig - der prominenteste Vertreter der "Idealfall-These" - selbst zutreffend sagt, "der R u f nach einem schlechthin durchtypisierten Kriminalunrecht oft zu einem gesetzgeberischen Perfektionismus ..., der gerade vom Verfassungsstandpunkt aus dann wiederum sehr bedenkliche Ergebnisse zeitigt" 144 . Diese Bedenken ergeben sich daraus, daß eine (zu) kasuistische Regelung zur willkürlichen Nichtbestrafung gleich strafwürdigen Verhaltens führen kann 1 4 5 . Vielmehr ist es verfassungsrechtlich jedenfalls zulässig, wertausfüllungsbedürftige Begriffe und selbst ausdrückliche spezialisierte Analogieerlaubnisse (auch) in Straftatbeständen einzuführen 1 . Insofern sind "teleologisch durchsichtige relative Generalklauseln" keineswegs strafrechtsfremd, j a sogar wünschenswert 147 .

143 144 145

BVerfGG 4, 352 (358). Wie Fn. 142.

Treffend Haft , JuS 1975, 477 (483 f.); ähnlich Sangenstedt , Garantenstellung, S. 117; Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 265 f. ? Dürig , wie Fn. 142, verweist beispielhaft auf die in § 88 Abs. 2 StGB a.F. (jetzt § 92 Abs. 2) enthaltene kasuistische Legaldefinition der "Verfassungsgrundsätze" i.S.v. §§ 87 Abs. 1 a.E., 88 Abs. 1 a.E., 89 Abs. 1 a.E., 90 b Abs. 1 a.E., die - schwerlich einsehbar! - auch die keineswegs schlechthin demokratiekonstitutiven Elemente der Unmittelbarkeit der Wahl und der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament enthalten. - Allerdings hat es das BVerfG (E 71, 206 mit Anm. HoffmannRiemi, JZ 1986, 494) abgelehnt, in derartigen Fällen - in casu: § 353 d Nr. 3 (öffentliche Mitteilung einer Anklageschrift "im Wortlaut") - geradezu die Verfassungswidrigkeit einer Strafvorschrift anzunehmen, jedenfalls, wenn noch irgendwelche sachlich einleuchtenden Gründe für die Differenzierung vorliegen. Allgemeiner hat der Gesetzgeber ein vom BVerfG nur eingeschränkt überprüfbares Regelungs#7wesse/j, welches dem alten Postulat von der "fragmentarischen Natur" des Strafrechts entspricht. 146 Bekanntes Beispiel: § 315 b Abs. 1 Nr. 3 ("ebenso gefährlicher Eingriff"). 147 Daß Unbestimmtheit in diesem Sinne und die - oft gerade im Strafrecht gerügte "Flucht des Gesetzgebers in die Generalklausel" sinnvoll und wünschenswert sein kann, ist aus theoretischer (und soziologischer Sicht) von Luhmann, Teubner und Klaus Günther , Angemessenheit, S. 318 ff. (dort auch Nachw. zu den beiden zuerstgenannten Autoren) begründet worden. Nach Luhmann ermöglicht Unbestimmtheit die Herstellung "adäquater Komplexität" und gewährleistet die Autopoiesis - die beständige selbstreferentielle Erneuerung - des Rechts. Für Teubner ist Unbestimmtheit der dritte Weg im "regulatorischen Trilemma" zwischen zu schwachen - irrelevanten - und zu starken - den gesellschaftlichen Lebensbereich desintegrierenden oder im Rückschlag das Recht selbst zersetzenden - regulatorischen Eingriffen. Klaus Günther schließlich versteht Unbestimmtheit als Bedingung dafür, daß das unter den Bedingungen eines sich beschleunigenden sozialen Wandels sich verstärkende Defizit an Anwendungsangemessenheit (hierzu eingehend oben § 6 I 3.) aufgefangen werden kann. Unbestimmtheit verhelfe der Idee der "unparteilichen Anwendung universalistisch begründeter Normen" zum Durchbruch und weise zugleich mehr und mehr der Rechtsprechung die Aufgabe zu, im Wege von Anwendungsdiskursen Unparteilichkeit herzustellen, aaO., S. 338 f. Mittels dieses Unparteilichkeitspostulats könnten aber zugleich Anwendungsdiskurse inhaltlich gebunden werden, aaO., S. 339 f.: Einerseits gehöre die Idee der Rechtssicherheit - der Gleichbehandlung des wesentlich Gleichen und des Vertrauens hierauf - zu den leitenden Prinzipien, die fallweise berücksichtigt werden müßten. Andererseits seien nicht alle Argumente, die in Angemessenheitsargumentationen auftauchen (z.B. "policy"-Erwägungen), mit der Idee unparteilicher Anwendung vereinbar.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

Insgesamt überzeugen die bislang geschilderten Ansätze freilich schon deshalb nicht, weil sie die Verfassungsmäßigkeit des § 13 unabhängig von dessen Auslegung und Anwendung bestimmen wollen (und dementsprechend zu "Alles-oder-nichts"-Antworten gelangen). Im Ausgangspunkt ist vielmehr den Ansichten zu folgen, die differenzierend vorgehen und eine aus Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 2 GG entwickelte - gleichsam verfassungskonforme Handhabung des § 13 verlangen. Hierbei sind vor allem die Analogiemodelle von Schünemann148 und Sangenstedt149 sowie die neuartigen Modell von Jakobs150 und Ransiek151 zu erwähnen 152. Die zuerstgenannten Autoren gehen davon aus, daß Art. 103 Abs. 2 GG nicht maximale (optimale) Bestimmtheit, sondern nur eine "hinreichende Bestimmbarkeit" des Strafbaren verlange. "Hinreichend" soll hier bedeuten, daß im Wege eines analogistischen, auf die gesamte (Straf-)Rechtsordnung bezogenen Verfahrens der gemeinte Norminhalt mit hinreichender Sicherheit zu ermitteln sei. Dies soll für § 13 im einzelnen positiv bedeuten, daß auf die "sachlogischen" oder rechtlichen Strukturen der (Begehungs-)Verantwortlichkeit zurückgegriffen werden müsse, negativ, daß der Rückgriff auf moralische, soziale, sozial-ethische oder sonstige außer(straf)rechtliche Kriterien ausgeschlossen sei; unter dieser Voraussetzung sei aber § 13 verfassungsgemäß. Nach Jakobs meint Bestimmtheit, daß das Gesetz den Mißbrauch seines Regelungszweckes selbst sperrt 153. Deshalb sei Bestimmtheit relativ zum Regelungsbereich; insbesondere die Zurechnungs148

Unterlassungsdelikte, S. 229 ff., speziell zur Vereinbarkeit mit dem nulla poena sine lege-Satz S. 255 ff.; krit. aber Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit S. 145 (mit Nachw. in Fn. 101)149 u. 106 (mit Nachw. in Fn. 67). 150 Garantenstellung, S. 102 ff., auch 372. Strafrecht, 4/13 ff. u. (speziell zum Unterlassungsdelikt) 29/4 f. 151 Gesetz, bes. S. 68 ff. 152

Eine hier schwierig einzuordnende Bedeutung hat des weiteren das von Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 183 ff. vorgelegte Modell. Tiedemann geht - in weitgehender Übereinstimmung mit dem hier vorgelegten Modell von Norm und Pflicht - von der Unterscheidung zwischen abstrakter (freilich nicht notwendig genereller) Norm und konkret-individuellem "Sollensbefehl" der konkreten Gestaltungs- oder Verhaltensnorm aus. Die von Art. 103 Abs. 2 GG geforderte Erkennbarkeit des Rechts müsse sich in jedem Falle auf die abstrakte Norm beziehen, hier jedoch nicht nur auf die Handlungsdeskription, sondern auch auf den Wert, dessen Schutz der Tatbestand gelte: "Wo ... die Handlungsbeschreibung keinen Bezug auf das ... typische Unrecht erkennen läßt, besteht... nicht die Möglichkeit sinnvoller Ableitung der konkreten Verhaltensnorm" (aaO. S. 207). Zusammengefaßt bedeute die von Art. 103 Abs. 2 GG gemeinte Garantiefunktion des Strafgesetzes Festlegung der abstrakten Grundlage der Strafbarkeit im Gesetz; insoweit gehe die Garantiefunktion des Strafgesetzes nicht über den allgemeinen Gesetzesvorbehalt hinaus. Zudem beziehe der Vertrauensschutz in Bezug auf die konkreten Sollensbefehle die Tatbestandsgarantie auf die Unrechtsvertypung. - Gerade bei der Pflicht zur Nichtbeeinträchtigung von Rechtsgütern sind nun freilich beide Komponenten der Garantiefunktion identisch (so auch Tiedemann, aaO., S. 231). Und ob eine bloß "generische" Beschreibung wertbeeinträchtigender Verhaltensweisen in § 13 erblickt werden kann (die Tiedemann, aaO., S. 259 genügen läßt), ist mehr als zweifelhaft, wird von Tiedemann (aaO.) allerdings auch nicht behauptet oder behandelt. 153 Jakobs, Strafrecht, 4/24 mit Verweis auf AK-StGB-Hassemer, § 1 Rdnrn. 19 ff.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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Voraussetzungen154 könnten aber "aus der Sache selbst" als gültig demonstriert werden, seien schwer politisierbar (und gerade wegen ihrer Allgemeinheit auch nicht mißbrauchsanfällig 155). Insofern fiele aber die Regelung des § 13 nicht hinter den im Allgemeinen Teil erreichten Bestimmtheitsstandard zurück. Nach Ransiek156 schließlich meint Bestimmtheit nicht die bestimmte Umschreibbarkeit, sondern den gemeinsamen, intersubjektiv geteilten Gebrauch; Sprache schaffe (und sei Teil von) Wirklichkeit. Daher seien normative und wertausfüllungsbedürftige Begriffe dann bestimmt, wenn gemeinsame Anschauungen und Bewertungsregeln vorhanden seien; dies zeige sich freilich nur am Anwendungs- und Einzelfall 157 . So sei es keineswegs zweifelhaft, ob ein schwer betrunken operierender Chirurg "fahrlässig" und "sorgfaltswidrig" handele, wiewohl die "Sorgfaltswidrigkeit" kaum abstrakt zu umschreiben sei 158 . Hieraus folge, daß § 13 genau dann verfassungsgemäß sei, wenn er auf (im Einzelfall) eindeutige, intersubjektiv anerkannte "entsprechende" Erfolgsabwendungsgebote beschränkt werde. Letztlich kranken freilich die im Ansatzpunkt zutreffenden differenzierenden Modelle daran, daß sie zu wenig auf die - gem. § 31 BVerfGG in ihrem tragenden Kern gesetzesgleich bindende - Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingehen. Bekanntlich spricht das Bundesverfassungsgericht dem Bestimmtheitsgebot eine doppelte Funktion zu: Erstens soll Bestimmtheit sicherstellen, daß der Bürger sich am Strafgesetz orientieren und die jedenfalls möglichen Fälle strafbaren Handelns, das Risiko der Strafbarkeit 159 vorhersehen kann (freiheitssichernde Funktion des 154

Daß Zurechnungsregeln nicht so bestimmt wie Verhaltensnormen sein müssen, trifft auch nach dem hier vorgelegten Modell zu: Zurechnungsregeln haben keine präskriptive, sondern nur askriptive Funktion; sie sind für die Handlungsorientierung des Einzelnen ohne Bedeutung (mit der dogmatischen Folge, daß der diesbezügliche Rechtsirrtum unbeachtlich ist, insbesondere keinen Verbotsirrtum darstellt). Daher gehören sie nicht zum "Garantietatbestand" im engeren Sinne, treffend Tiedemann , Tatbestandsfunktionen, S. 200 f. Freilich hat der Bürger unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes und der Berechenbarkeit staatlicher Eingriffe ein Interesse daran, auch den Inhalt von Zurechnungsregeln kennen zu können; hier reduziert sich aber das Bestimmtheitsgebot auf den Ausschluß der Möglichkeit schlechthin willkürlicher Bestrafung. - S. zum ganzen bereits oben § 2 in Fn. 35. So Jakobs, Strafrecht, 4/43. 156 Gesetz, S. 69 ff. 157

Ob diese "Anwendungslösung" - die sprachphilosophisch Ludwig Wittgenstein sowie dem Konzept von Meads und Habermas von der "Lebenswelt" verpflichtet ist, vgl. Ransiek , Gesetz, S. 87 ff. - überzeugt, ist freilich zweifelhaft. Erstens kann die Lebenswelt strategisch verzerrt sein und dem Maßstab des rechtlichen Standpunkts nicht entsprechen (für eine normative Korrektur qua "Reziprozität" denn auch Ransiek , Gesetz, S. 96 f.). Zweitens wird sich auch in den Schulbeispielen mit Sicherheit unbestimmter Gesetze ("Verstoß gegen revolutionäre Grundsätze", vgl. Jakobs , Strafrecht, 4/28) ein intersubjektiv bestimmter Anwendungskern ergeben. Hier will Ransiek , Gesetz, S. 86 f., freilich über sein Erfordernis der (bei derartigen ICOGesetzen fehlenden) "kriminalpolitischen Dezision" helfen; näher sogleich im Text. Zur Bestimmtheit der Fahrlässigkeitsdelikte Bohnert, ZStW 94 (1986), 68 ff. 159 So BVerfGE 75, 329 (341): "in Grenzfällen geht er (sc. der Normadressat) dann, für ihn erkennbar, das Risiko einer Bestrafung ein".

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

Bestimmtheitsgebots); zweitens soll sichergestellt werden, daß der Gesetzgeber über die (wesentlichen) Voraussetzungen der Strafbarkeit entscheidet (gewaltenteilungssichernde Funktion des Bestimmtheitsgebots)160. Nun ist die erste Funktion durch § 13 nach der - freilich diskutablen161 - Formel von der Vorhersehbarkeit des "Risikos der Strafbarkeit" nicht verletzt: Wegen § 13 ist das Risiko der Strafbarkeit für denjenigen, der es unterläßt, einen tatbestandsmäßigen Erfolg abzuwenden, ohne weiteres vorhersehbar, da er Garant sein könnte. Im Grunde gibt die freiheitssichernde Funktion jedenfalls in ihrer Formulierung von der Vorhersehbarkeit des "Risikos der Strafbarkeit" - nicht mehr als die Erfordernisse einer lex scripta, verbunden mit der Wortlautgrenze der Auslegung, her. Materielle Einschränkungen können sich daher allein aus der gewaltenteilungssichernden Funktion des Bestimmtheitsgebots ergeben. Hier fragt sich freilich, was der Gesetzgeber selbst entscheiden muß und was er dem Strafrichter (oder der Exekutive) überlassen kann. Eine Antwort findet sich in der bislang einzigen Entscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht eine Strafvorschrift wegen Unbestimmtheit verwarf und in der es um die Strafbarkeit gem. § 15 Abs. 2 lit. a FAG ging, der das Betreiben von Fernmeldanlagen unter Verletzung von - gesetzlich nicht weiter konkretisierten - Verleihungsbedingungen unter Strafe stellte: "Es genügt hier festzustellen, daß es jedenfalls mit Art. 103 Abs. 2 GG ... nicht vereinbar ist, wenn - wie dargetan - § 15 Abs. 2 lit. a FAG jeden Verstoß gegen die im Verwaltungsinteresse festgelegten und festzulegenden Verleihungsbedingungen unter Strafe stellt und es damit im Ergebnis der Exekutive überläßt y im Wege der Ausgestaltung der Verleihungsauflagen bestimmenden Einfluß auf Inhalt und Grenzen der Strafbarkeit zu nehmen"162. Zugespitzt formuliert: Das Bestimmtheitsgebot in seinem - materiell entscheidenden - gewaltenteilenden Gehalt soll sicherstellen, daß die kriminalpolitische Dezision vom Gesetzgeber getroffen wird 163 . BVerfG, wie vorige Fn., mit umf. Nachw. aus seiner älteren Rspr. - Damit stellt das BVerfG implizit die sog. staatsrechtliche Begründung des Bestimmtheits- und Gesetzlichkeitsprinzips in den Vordergrund und mißt der sog. strafrechtlichen Begründung keine Bedeutung zu; zu dieser Unterscheidung insbes. Schreiber, Gesetz, S. 110 ff.; Schünemann, Nulla poena, S. 13 ff. Diese strafrechtliche Begründung beruht auf der verhaltensdeterminierenden Aufgabe des Strafrechts (Bestimmungsfunktion) bzw. auf dem "psychologischen Zwang", den die schriftliche und promulgierte Strafdrohung auf die potentiellen Täter ausüben soll (Feuerbach). Eine Neuformulierung hat Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte, Bd. I I I / l , S. 998 f., 1006 ff.; zust. etwa Hamann, Strafgesetzgebung, S. 45, vorgelegt, nach welchem das Gesetzlichkeitsprinzip den Schuldgrundsatz - den Vorwurf einer "Fehlentscheidung zur Verwirklichung straftatbestandsmäßigen Unrechts" - sichern soll. Das Schuldprinzip impliziert jedoch nicht, daß das Unrecht gerade gesetzlich und straftatbestandsmäßig vertypt ist, s. nur Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 192 m.w.N. 161

Krit. Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 45. BVerfGE 78, 374 (388 f.). 163 Ebenso BVerfGE 71, 108 (115): "Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich (und notwendig) erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrecht verteidigen will", Herv. v. Verf.; Ransiek, Geset S. 45 ff.; Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 46 ("Grundentscheidung über den 162

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Freilich mag eingewendet werden, es sei durchaus unklar, was unter "kriminalpolitischer Dezision" zu verstehen sei. Ausgehend von der gängigen Unterscheidung zwischen "Recht-" und "Zweckmäßigkeit" kann hier präzisierend auf die von Dworkin 164 vorgelegte Unterscheidung zwischen "policy-" und "Prinzipien"-Erwägungen rekurriert und eine Brücke zu der hier vertretenen Rechtsquellenlehre geschlagen werden. Nach Dworkin müssen individuelle Rechte ("rights") von kollektiven Wohlfahrtszielen ("goals") unterschieden werden: Während "goals" nichtindividualisierte Ziele seien, die nach einem Zustand zu streben verlangen, der nicht mit bestimmten Gelegenheiten, Ressourcen oder Freiheiten für bestimmte Individuen verbunden ist (etwa Verteilungsziele, wirtschaftspolitische Ziele usf.), geben Rechte Ansprüche auf derartige Gelegenheiten, Ressourcen oder Freiheiten und können nicht unter Berufung auf jedes beliebige165 Wohlfahrtsziel eingeschränkt werden. Deutlicher formuliert: Bei "Rechten" ist der "rechtliche Standpunkt" des wechselseitig akzeptablen Interessenausgleichs mitgedacht, bei "Zielen" nicht. Rechtsprinzipien sind nach Dworkin nun ausschließlich solche, die Argumente für Rechte (und die ihnen entsprechenden Pflichten) sind; demgegenüber nennt Dworkin Prinzipien, die der Verfolgung kollektiver Wohlfahrtsziele dienen, "policies". Die Festsetzung kontingenter "policies" sei nun Aufgabe der (parlamentarischen) Gesetzgebung. Der Richter dürfe "Kohärenz" im Falle lückenhafter oder offener rechtlicher Regelungen nicht dadurch herstellen, daß er Ziele im Sinne von "policy-Erwägungen" zur Begründung von Rechten und Pflichten heranziehe 6 6 . Mithin ist Rahmen der Strafbarkeit"). - Soweit in der Lit. - vgl. insbes. Schreiber , Gesetz, S. 215 ff. - darüber hinaus auf die objektiv-rechtsstaatliche, freiheitssichernde Komponente des Gesetzlichkeits- und Bestimmtheitsprinzips hingewiesen wird, ist hierzu zu sagen: Sind sämtliche Fälle, die (im Rahmen des möglichen Wortsinnes) nach einer rechtsprinzipienorientierten Argumentation Anwendungsfälle des Strafgesetzes (und vor dem Hintergrund der Bestrafung vollständig legitimiert) sind, so ist nicht einzusehen, warum die Freiheit objektiv übermäßig beschränkt sein soll. Ergeben sich hingegen Fälle, die kein strafwürdiges Unrecht mehr darstellen, so ist die Freiheit "übermäßig" beschränkt und das Übermaßverbot bzw. im Strafrecht der Grundsatz schuldangemessenen Strafens verletzt; in diesem Sinne BVerfGE 78, 374 (388): "Nahezu jede - auch die geringfügigste - Verletzung der Verleihungsbedingungen, sei es durch Tun oder durch Unterlassen, steht in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang mit solchen (sc. gem. § 15 Abs. 2 lit. a FAG unter Strafe gestellten) Tätigkeiten. Eine ... rechtsstaatlicher Gewichtung entsprechende und insgesamt sachgerechte Beschränkung der mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen kann aus diesen Tatbestandsmerkmalen im Wege der (sc. mit Blick auf das Schuldprinzip verfassungskonformen) Auslegung nicht gewonnen werden". - Gegen eine derartige "objektive" Aufgabenrichtung von Art. 103 Abs. 2 GG auch Ransiek , Gesetz, S. 33 ff., 38 ff. 164

Taking Rights Seriously, S. 81 ff.; präzisierend Alexy, Grundrechte, S. 98 f. in Fn. 79. Ein "Recht", das schlechthin unter Berufung auf jedes "Ziel" eingeschränkt werden kann, ist für Dworkin (Taking Rights Seriously, S. 92) gar keines. 166 Daher trifft die im deutschen Recht ganz h.A. zu, daß aus dem Sozialstaatsprinzip - einem "Ziel" im Sinne einer "policy" - keine subjektiven Rechte (und Pflichten) hergeleitet werden können, s. nur Jarras/Pieroth , Art. 20 Rdnrn. 79 f. mit umf. Nachw. - Selbstverständlich bedeutet dies nicht, daß der Richter Gesetze, die "policies" verfolgen - wie z.B. ein Subventionsgesetz - nicht anwenden darf, vgl. Dworkin , Taking Rights Seriously, S. 83. Allerdings darf er hier nicht nach eigenen "policy-Erwägungen" erweiternd oder beschränkend auslegen, 165

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

die Herstellung von "Kohärenz" und somit die Rechtsquelle der "richterlichen Interpretation des Rechts als eines Sinnganzen", d.h. die richterliche Rechtsfortbildung, auf Prinzipienargumentationen verwiesen; gesellschafts-, wirtschafts-, staats- und sozialpolitische "policy-Erwägungen" sind ihr verwehrt 167 . Im Ergebnis ist daher festzuhalten, daß es Art. 103 Abs. 2 GG dem Strafrichter nicht verwehrt, das Strafrecht innerhalb des möglichen Wortsinnes nach Rechtsprinzipien im bezeichneten Sinne - nicht aber: nach "policyErwägungen" - fortzubilden; erst recht (und damit zusammenhängend) ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, den Strafrichter hierzu - explizit, wie in § 13, oder implizit, wie in allen wertausfüllungsbedürftigen Wendungen - zu ermächtigen 6Ä. Dies entspricht in weiten Teilen und im Ergebnis der von Roxin vorgetragenen und eindrucksvoll belegten These, die Unbestimmtheit von Strafgesetzen führe dann nicht zu deren Verfassungswidrigkeit gem. Art. 103 Abs. 2 GG, wenn die die Unbestimmtheit ausfüllenden Maßstäbe (wenigstens im Wege der verfassungskonformen, restriktiven Auslegung) "aus der gesamten Rechtsordnung" abgeleitet werden können169. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht eine derartige These explizit noch nie ausgesprochen; sie liegt aber vollauf in der Konsequenz seiner Rechtsprechung: Wenn hier auch im Strafrecht auslegungsfähige und (relative) Generalklauseln zugelassen werden, soweit sie einer "wertenden Sinnermittlung" zugänglich sind, kann diese "wertende" Sinnermittlung zwanglos als eine "prinzipienorientierte" verstanden werden. Ähnlich ist die Verwerflichkeitsklausel bei § 240 einer prinzipienorientierten Auslegung zugänglich und deshalb zu Recht vom Bundesverfassungsgericht für bestimmt genug gehalten worden 170 . Insoweit erschließt sich auch die Bedeutung der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach welcher eine "gefestigte" Fachgerichtsrechtsprechung verfassungsrechtliche Bedenken ausräumen kann: Im Bestehen einer derartigen Fachgerichtsrechtsprechung liegt ein Indiz für eine mögliche prinzipienorientierte Auslegung des in Frage stehenden Tatbestandsmerkmals171. selbst dann nicht, wenn z.B. eine Gruppe von Subventionsdestinatären willkürlich ausgeschlossen wird, vgl. nur BVerfGE 8,28 (36 ff.); 61,43 (68); Jarras/Pieroth, Art. 3 Rdnr. 26. 167 Ebenso das BVerfG, s. oben Fn. 107; a.a. aber wohl Alexy, Grundrechte, S. 98 f., mit der freilich kurzschlüssigen Begründung, Rechtsprinzipien als Gründen für Individualrechte und "policy"-Prinzipien als Gründen für wünschenswerte gesamtgesellschaftliche Zustände hätten dieselbe logische Struktur. 168

I.E. ebenso Nickel, Unterlassungsdelikte, S. 172 ff. Roxin, Grundlagenprobleme, S. 193 f.; ders., JR 1983, 333 ff.; krit. aber Ransiek, Gesetz, S. 59 f. 170 BVerfGE 73, 206 (238 f.) - diese Ansicht war im Senat unbestritten. 169

171

Allerdings war in der diese Lehre begründenden Entscheidung BVerfGE 26, 41 zur Strafbarkeit des "groben Unfugs" zweifelhaft, ob hier wirklich eine gerade nach Prinzipienargumentationen gefestigte Fachrechtsprechung vorlag: Was "grober Unfug" ist, läßt sich wohl kaum durch Rechtsprinzipien erfassen, sondern ist - zumal in einer pluralistischen Gesellschaft - eine Frage schlichter Gesellschaftspolitik.

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Für die Garantenproblematik bedeutet dies: Da es keineswegs selbstverständlich ist, daß die unechten Unterlassungsdelikte wie Begehungsdelikte bestraft werden, da hier also ein kriminalpolitischer Spielraum besteht172, ist die in § 13 getroffene Grundsatzentscheidung verfassungsrechtlich notwendig173. Unter der weiteren Voraussetzung, daß die einzelnen Garantenstellungen in Prinzipienargumentationen entwickelt werden können, ist § 13 jedoch mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar. Gegen diese Auffassung kann natürlich eingewendet werden, es sei keine Prinzipienargumentation, sondern eine "policy-Erwägung", bestimmte Täterkreise als bestimmten Opferkreisen einstandspflichtig auszuzeichnen; dies deckt sich freilich mit dem - erst im folgenden zu behandelnden - Problem, ob es Rechtsprinzipien zur Ermittlung von Garantiebeziehungen gibt. Jedoch ist darauf hinzuweisen, daß der Gesetzgeber durch die Erfordernisse des "rechtlichen" Einstehenmüssens und des "Entsprechens" in § 13 dem Rechtsanwender gerade keine eigenständige "kriminalpolitische Dezision" einräumen wollte; eine verfassungskonforme Anwendung ist also bereits de lege lata gefordert, so daß es nur um die richtige, nicht um eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 13 geht. Und daß Garantenstellungen im einzelnen unsicher und umstritten sein können, ist kein Einwand gegen das Vorliegen einer Prinzipienargumentation; wie überall im Recht, können auch hier Streitfragen entstehen. 6. Art. 103 Abs. 2 GG und restriktive Handhabung des § 13 Es ist oft bemerkt worden, daß die Rechtsprechung seit Ende der sechziger Jahre dazu tendiert, die - vor allem durch das späte Reichgericht - sehr extensiv gehandhabte Garantenverantwortlichkeit einzuschränken174. Hierin könnte die Bestätigung der These einer vordringenden Lehre zu sehen sein, unbestimmte "wertausfüllungsbedürftige" Begriffe müßten wegen Art. 103 Abs. 2 GG verfassungskonform restriktiv ausgelegt und auf das ihnen "eindeutig" Unterfallende beschränkt werden 175. In diesem Falle könnten aber auch die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen einen an sich (zu) unbe172

Insbesondere das französische (wie auch das belgische) Strafrecht kennt bis heute keine Strafbarkeit des unechten Unterlassens nach den Strafrahmen der entsprechenden Begehungs-Vorsatzdelikte, sondern deutet unechte Unterlassungsdelikte als Fahrlässigkeitsdelikte um, grundlegend Cour de Poitiers, 20.11.1901, D.P. 1902, II, 81, oder spannt die Hilfeleistungspflicht gem. Art. 63 Abs. 2 CP sehr weit, vgl. Cour de Cassation, 15.3.1961, D.P. 1961, 610;173s. weiterhin. Jescheck , Lehrbuch, S. 553 f. m.w.N. u. eingehend in ZStW 77 (1965), 109 ff. A.A. wohl Otto , Grundkurs, S. 134, der § 13 für "sinnlos" hält. 174 S. nur Schünemann, GA 1985, 341 (374 f.); ders. , ZStW 96 (1984), 287 (304 ff.); je mit umf. Nachw. aus der Rspr. 175 So insbes. Lenckner , JuS 1968, 304 (308 f.); s. weiterhin Ransiek , Gesetz, S. 74 f.; Tiedentann , Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 41 ff.; je m.w.N. - Die Rspr. hat ähnlich entschieden in BGHSt 2, 194 (196) u. 17, 329 (331) - Verwerflichkeit gem. § 240 Abs. 2 als "allgemeines Urteil" und "allgemeine Volksüberzeugung" - u. 4, 24 (32) - keine "eindeutige" Sittenwidrigkeit der Schlägermensur gem. § 226 a -.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

stimmten Rechtsbegriff - hier: gegen § 13 - ausgeräumt werden. Allerdings wird die Forderung nach Beschränkung auf das "Eindeutige" auch bewußt nicht materiell-rechtlich - durch Art. 103 Abs. 2 GG sondern strafprozessual - durch den Grundsatz "in dubio pro reo" - begründet 176. Grundsätzlich gegen eine derartige Beschränkung wird (für die rechtsnormativwertausfüllungsbedürftigen Begriffe) angeführt, die "bewußte und gezielte Verwendung normativer Begriffe durch den Gesetzgeber würde ... (hierdurch) verengt werden. Ein solches Vorgehen läßt sich durch das Mittel verfassungskonformer Auslegung nicht rechtfertigen" 177. Eine kritische Würdigung des Streites muß daran ansetzen, was mit "wertausfüllungsbedürftig" gemeint ist. Wissenschaftstheoretisch exakt gesprochen sind "wertausfüllungsbedürftige" Begriffe solche, die keine natürlichen, sondern konventionale Tatsachen bezeichnen, also unter Hinzuziehung von Konventionen zu bestimmen sind178. Die Subsumtion unter einen "wertausfüllungsbedürftigen" Begriff geschieht daher durch Anwendung einer sprachlichen Verwendungsregel, die Konventionen in Bezug nimmt 179 . Im einzelnen kann diese Bezugnahme in dreifacher Weise geschehen: erstens durch Bezugnahme auf Rechtsnormen (rechtsnormativ-wertausfüllungsbedürftige Begriffe); zweitens durch Bezugnahme auf außerrechtlichsoziale Konventionen ohne rechtliche Korrekturmöglichkeit (eigentliche sozial-wertausfüllungsbedürftige Begriffe); und drittens durch Bezugnahme auf außerrechtlich-soziale Konventionen mit rechtlicher Korrekturmöglichkeit (uneigentliche sozial-wertausfüllungsbedürftige Begriffe) 180. Beispiele für die erste Konstellation sind die "Fremdheit" bei § 242 und - hier interessierend - das "rechtliche" Einstehenmüssen sowie das "Entsprechen" bei § 13; Beispiele für die zweite Konstellation sind die "Überschuldung" bei § 283 und der sog. wirtschaftliche Vermögensbegriff bei § 263; für die dritte die "guten" Sitten bei § 226 a, § 138 BGB. In der ersten Konstellation ist die Frage, ob die in Bezug genommene Konvention besteht, eine Rechtsfrage, in der zweiten und dritten eine Tatfrage (und in der dritten stellt sich zudem die Rechtsfrage, ob die vorgefundene Konvention nach rechtlichen Maßstäben anzuerkennen ist). Das Verständnis wertausfüllungsbedürftiger Begriffe als auf Konventionen verweisend impliziert zunächst, daß in keinem Falle der Richter ermächtigt ist, die Wertausfüllung subjektiv-willkürlich vorzunehmen, da er 176

So BGHSt 30,285 (288) zur Frage, welche Tatsachen "(kredit-)erheblich" sind; krit. Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 41. 177 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 187, s. aber auch S. 39 ff. i.V.m. 90, 197; anders wohl ietzt ders. y wie vorige Fn. Kindhäuser, Jura 1984,465 (470 ff.) m.w.N. 179

Sprachliche Verwendungsregeln sind im Recht allerdings in jedem Falle - auch bei sog. deskriptiven Begriffen wie dem des "Menschen" - teleologisch bestimmt und haben insofern einen 180 "konventionalen" Charakter. Vgl. Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 14; vgl. auch Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 90 f.

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die in Bezug genommenen Konventionen nicht selbst setzen kann. Insbesondere in der zweiten und dritten Konstellation der sozial-wertausfüllungsbedürftigen Begriffe ist er an die tatsächlich im Verkehr bestehende Konvention, in der ersten der rechtnormativ-wertausfüllungsbedürftigen Begriffe an die (außerstrafrechtliche) Rechtsordnung und zumindest an deren "Interpretation als eines Sinnganzen" nach Rechtsprinzipien gebunden. Hieraus ergibt sich aber, daß die Forderung, die in Bezug genommene Konvention müsse "eindeutig" bestehen, zwar in der zweiten und dritten Konstellation zutrifft, sich hier jedoch nicht aus Art. 103 Abs. 2 GG, sondern aus dem in dubio pro reo-Grundsatz ergibt, nach welchem Zweifel bei einer Tatfrage nicht zu Lasten des Täters ausgehen dürfen 181. Demgegenüber geht es bei der ersten Konstellation nur um Rechtsfragen. Hier gilt aber der Grundsatz, daß es - auch - im Strafrecht keine restriktive oder extensive, sondern nur eine richtige Auslegung gibt 182 ; etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 103 Abs. 2 GG 1 8 3 . Mithin ist die eingangs bezeichnete vordringende Lehre zu verwerfen. Eine über das Verbot "kriminalpolitischer Dezisionen" hinausgehende restriktive Handhabung des § 13 wird durch Art. 103 Abs. 2 G G nicht gefordert.

IV. Zur materiellen Legitimation: Formale und materiale, monistische und dualistische Modelle 1. Das methodische Raster Die Fülle der Ansätze, die zur materiellen Legitimation von Garantengeboten verwendet werden, können methodisch danach eingeordnet werden, 181

Ein klares Beispiel hierfür ist die "Überschuldung" bei § 283: Der Wert eines Vermögensgegenstandes bzw. einer Verbindlichkeit ist eine außerrechtlich-soziale, nämlich im Markt festgelegte, Konvention. Besteht hierüber unter den Sachverständigen Streit (etwa durch verschiedene Bewertungsmodelle), so ist die dem Angeklagten günstigste Version zugrundezulegen; so i.E. die hA., vgl. nur LK-Tiedemann, Vor § 283 Rdnr. 147 mit umf. Nachw., freilich mit der These, dies folge (vorrangig) aus Art. 103 Abs. 2 GG. 182 Vgl. S/S~Eser, § 1 Rdnrn. 51 ff.; Jescheck, Lehrbuch, S. 141; je mit umf. Nachw. 183 Insbesondere kann - entgegen Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 42 nicht etwa die Entscheidung BGHSt 24, 54 (61 f.) m. Anm. Faller, DB 1972, 1757 ff. für die These herangezogen werden, das Bestimmtheitsgebot verlange im Strafrecht eine enge (und eine engere als die außerstrafrechtliche) Auslegung. In der Entscheidung ging es um die Frage, ob außerstrafrechtliche Analogien im Strafrecht angewendet werden dürfen (in casu: ob die zivilrechtliche Auffassung, "gentlemen agreements" seien in analoger Anwendung von § 1 GWB a.F. verboten, im Rahmen des auf § 1 GWB verweisenden Ordnungswidrigkeitentatbestands des § 38 Abs. 1 Nr. 1 GWB maßgeblich sein dürfe). Der BGH verneinte dies zu Recht, freilich nicht mit Bezug auf das Bestimmtheitsgebot, sondern auf das Analogieverbot (!). Dies trifft allerdings nur dann zu, wenn das Strafrecht - wie in § 38 Abs. 1 Nr. 1 GWB der Fall - außerstrafrechtliche Normen als solche in Bezug nimmt, nicht aber, wenn das Strafrecht einen außerstrafrechtlichen "Regelungseffekt" - wie die "Fremdheit" - schützt, vgl. Jakobs, Strafrecht, 4/42a. 2

Vogel

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

ob sie inhaltliche Prinzipien zugrundelegen oder nicht. In jenem Fall kann von formalen, in diesem von materialen Konzepten gesprochen werden. Materiale Konzepte wiederum können als monistische bezeichnet werden, wenn ihnen ein inhaltliches Prinzip zugrundeliegt, als dualistische, wenn sie sich aufzwe/ derartige Prinzipien stützen184. 2. Formale Konzepte "Formal" in diesem Sinne ist zunächst die (ältere) formelle Rechtspflichtlehre, soweit sie dahin rekonstruiert werden kann, daß das Erfolgsabwendungsgebot einer (außerstrafrechtlichen) Rechtsquelle entspringen muß, dann aber auch - unabhängig von ihrem Inhalt - ein Garantengebot darstellt. Die gängige Kritik der inhaltlichen Defizienz dieser Lehre muß hier nicht wiederholt werden, zumal ihr durch die Entsprechensklausel des § 13 teilweise das Fundament entzogen ist. Ebensowenig muß gezeigt werden, daß die Rechtsprechung letztlich nur dem Lippenbekenntnis nach Vertreterin einer derartigen Lehre ist und bereits die Ingerenz, weitergehend aber auch die Fülle der vom späteren Reichsgericht entwickelten Garantenstellungen "aus enger Lebensgemeinschaft", aus faktischer "Übernahme" usf. ein (klassisches) Rechtsquellenkonzept gesprengt haben185. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß die hier postulierte Rechtsquelle der "Interpretation des Rechts als eines Sinnganzen" material-inhaltliche Erwägungen zur Legitimität zwingend voraussetzt, so daß die Zuordnung zu einer Rechtsquelle gerade noch kein genügendes Kriterium zur materiellen Legitimation von Garantengeboten darstellt. - Bedeutsamer erscheinen diejenigen formalen Konzepte, die von einer feststehenden, nicht weiter hinterfragten inhaltlichen Basis aus im Wege der Induktion auf (ungeschriebene) Garantenpflichten kommen wollen. Hierbei sind Modelle zu unterscheiden, die vom Gesetz ausgehen (legalistische Induktionsmodelle), und solche, die von inhaltlich nicht weiter hinterfragten Topoi ausgehen. Den zuletztgenannten Weg ist insbesondere Pfleiderer gegangen, der von "Grundfällen" ausgeht, bei denen die Unterlassungsstrafbarkeit außer Diskussion steht186. Aus diesen Grundfällen - die der Sache nach Topoi im Sinne von Viehweg darstellen 187 - entwickelt Pfleiderer je nach der "Entfernung" vom Grundfall weitere Garantenstellungen. Nun krankt die Lehre Pfleiderers nicht nur daran, daß die Grundfälle sehr wohl (normativ) begründet werden müssen. Vielmehr vermag Pfleiderer schon immanent nicht anzugeben, wo die Grenze einer noch zulässigen Induktion liegen soll. Da Induktion - der Sache nach: Analogie - stets ein tertium comparationis voraussetzt, dieses 184

185

Ähnlich AK-StGB-See/ma/w, § 13 Rdnrn. 37 ff.

186 Wortgewaltige

Kritik b. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 195 ff. So z.B. bei der Mutter, die ihr Kind verhungern läßt; dem Schwimmlehrer, der den Schüler ertrinken läßt; dem Hersteller, der gesundheitsschädliche Lebens- oder Arzneimittel vertreibt (!); Pfleiderer, Garantenstellung, S. 76, 96,133. 187 So zu Recht Schünemann, Grund und Grenzen, S. 79.

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doch aber nur in dem materialen Kern des jeweiligen Topos liegen kann, kommt Pfleiderers Lehre nicht ohne materiale Erwägungen aus1 . - Damit ist zugleich der Stab bereits über all' diejenigen Lehren gebrochen, die aus gesetzlich vertypten unechten Unterlassungsdelikten1 im Wege der Induktion Garantenstellungen herleiten wollen; als bloß formale Konzepte lassen sie sich jedenfalls nicht halten190. Allerdings können sich die formalen Konzepte ganz grundsätzlich auf die in der modernen praktischen Philosophie vorherrschende Verfahrensorientierung und Ablehnung materialer Ethiken berufen. Daß Legitimität nur qua "fairness", "herrschaftsfreien Diskurs" oder "Universalisierung" hergestellt werden kann, jedoch materiale Annahmen über Werte (ausgenommen bestimmte Verfahrensprinzipien) ausgeschlossen sind, scheint einer rechtlichen Legitimierung unter der Bedingung eines pluralistischen Wertesystems durchaus angemessen zu sein, wie auch der Gedanke der "Legitimation durch Verfahren" der modernen Rechtstheorie keineswegs fremd ist 191 . Für die Forderung, daß es jedenfalls im Bereich der Garantengebote und pflichten nicht ausreicht, nur auf Verfahren - etwa die ausgedehnte wissenschaftliche Diskussion oder die Rechtsprechungstätigkeit verschiedener (Unter- und Ober-)Gerichte - zu verweisen, muß freilich nicht auf die Annahmen zurückgegangen werden, ein Diskursmodell sei dem Recht grundsätzlich nicht angemessen oder es sei wegen des Wertbezugs des Rechts hier eine materiale (Rechts-)Ethik vonnöten. Vielmehr ergibt sich bereits aus Art. 103 Abs. 2 GG - der nach einer von Sax begründeten und von Tiedemann ausgebauten Auffassung auch verlangt, daß das Unrecht als Unwert bestimmt ist 192 daß materiale, also inhaltlich-wertbezogene Kriterien zur Legitimation der Garantengebote und -pflichten herangezogen werden müssen. Letztlich verfehlen nur formale Theorien den entscheidenden materialen Gesichtspunkt der Begehungsgleichwertigkeit193. 3. Materiale dualistische Konzepte auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen Obhuts- und Überwachergaranten? In einem materialen Sinne bestimmen denn auch die neuere Rechtsprechung und die ganz überwiegende Literaturansicht die Garantengebote und 188

Eingehende Kritik b. Sangenstedt , Garantenstellung, S. 161 ff.; Sc hünemann, Unterlassunpdelikte, S. 81 ff. So zuerst Böhm, Rechtspflicht, S. 94 f.; eingehende Darstellung und Kritik b. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 188 ff.; in neuerer Zeit Wagner , Amtsverbrechen, bes. S. 256 (§§ 340 ff. als Grundlage der Garantenstellung von Amtsträgern). 190 Ebenso Sangenstedt , Garantenstellung, S. 199 ff. 191 Grundlegend Luhmann, Legitimation, passim. 192 Tiedemann , Tatbestandsfunktionen, S. 208; Sax , in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte, Bd. III/2, S. 1008 ff. 193 S. oben § 10 II (zu Freund ). 2

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien. Hierbei ist freilich umstritten, ob es ein alle Garantenstellungen umfassendes materiales Prinzip gibt (monistische Konzepte) oder ob nicht vielmehr zwei Gruppen von Garantenstellungen unterschieden werden müssen, denen unterschiedliche Haftungsprinzipien zugrundeliegen (dualistische Konzepte)194. Dualistische Konzepte knüpfen teilweise an die auf eine eher beiläufige Bemerkung von Armin Kaufmann 195 zurückgehende sog. Funktionenlehre bei den Garantenstellungen an. Nach dieser - der inzwischen wohl h.L. entsprechenden196 Auffassung müssen die sog. Überwachergaranten eine bestimmte Gefahrenquelle überwachen, gleichgültig, welchen Rechtsgütern Gefahren drohen; die sog. Obhutsgaranten sind hingegen zum Schutz eines bestimmten Rechtsguts gegen alle Angriffe, gleich aus welcher Richtung, auf Posten gestellt. Eine Tendenz in der Lehre geht nun dahin, die Überwachungsgarantenstellungen dem Gefährdungsprinzip, die Obhutsgarantenstellungen dem Vertrauensprinzip zu unterstellen 197; ähnlich unterteilt Schünemann sein - an sich monistisches - Konzept der "Herrschaft über den Grund des Erfolges" in die "Herrschaft über eine wesentliche Erfolgsursache" - diese liegt den Überwachungsgarantenstellungen zugrunde - und in die "Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers" - diese liegt den Obhutsgarantenstellungen zugrunde 198. Jedoch trägt die Unterscheidung zwischen Obhuts- und Überwachungsgarantenstellungen bzw. -pflichten weder phänomenologisch noch axiologisch199. Zum einen gibt sie den Umfang der Zuständigkeiten nicht immer zutreffend wieder: Obhutsgarantenpflichten können sich nur auf Gefahren aus bestimmten Richtungen beziehen (beispielsweise ist ein Arzt nicht Garant dafür, einen Mordanschlag auf einen seiner Patienten zu verhindern 200); umgekehrt können sich Überwachungsgarantenpflichten nur auf bestimmte Rechtsgüter bzw. Rechtsgutsträger beziehen (beispielsweise ist derjenige, der einen anderen fahrlässig getäuscht hat, nur diesem gegenüber aus Ingerenz zur Vermeidung späterer schädigender Vermögensdispositionen aufklärungspflichtig, nicht aber gegenüber Dritten, denen der Getäuschte die 194

Zutreffende Beobachtung b. AK-StGB-See/ma/m, § 13 Rdnrn. 38 ff. Armin Kaufmann , Unterlassungsdelikte, S. 283; zuvor bereits Ulrich Mayer , Unterlassungsdelikte, S. 80 f.; Nagler, GS 111 (1938), 60 (ff.); vgl. Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 50 f. - Armin Kaufmann , der die Unterscheidung nur phänomenologisch meinte, ordnete Gesetz und Übernahme den Obhuts-, Ingerenz und Verkehrssicherungspflicht den Überwachungsgarantenstellungen zu. 196 S. nur Maurach-Gössel , AT 2, § 46 Rdnrn. 65 ff.; SK-Rudolphi, § 13 Rdnrn. 24 f.; je m.w.N. 197 Vgl. AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnr. 41. 195

198

Eingehend zu Schünemann unten § 10 IV 7. zu (4). Krit. Jakobs , Strafrecht, 29/27; AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnr. 34 f.; einschränkend auch Jescheck , Lehrbuch, S. 562; LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 19; S/S-Stree , § 13 Rdnr. 9. 200 Beispiel b. Geilen , Strafrecht, S. 238; zust. AK-StGB-See/ma/w, § 13 Rdnr. 34. 199

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falsche Information weitergegeben hat 201 ). Zum anderen läßt sich die identische Aufgabe gleichermaßen als Überwachungs- wie als Obhutsaufgabe formulieren, da Überwachung von Gefahren Schutz der Gefährdeten und umgekehrt Obhut Schutz des Behüteten durch Überwachung der diesem drohenden Gefahren sein kann: Der Bademeister kann als Beschützer der Badegäste vor den Gefahren des Wassers oder als Überwacher dieser Gefahr angesehen werden 202; und - sofern eine Garantenpflicht des einen Ehegatten zur Verhinderung von Straftaten des anderen angenommen wird - es kann eine Ehegatte als Überwacher des anderen oder als Beschützer des anderen vor der Gefahr eventuell eintretender Bestrafung angesehen werden 203 . Unrichtig wäre es insbesondere, aus der Einordnung einer Garantenstellung als Überwachungsgarantenstellung zu schließen, daß nur Sicherung (im Sinne der Abschirmung der Gefahrenquelle als Gefahrenvorsorge) und nicht Rettung gefordert sei204: Garantengebote sind stets Erfolgsabwendungsgebote; daher gebieten sie stets Rettung des gefährdeten Rechtsguts(trägers) 5 . 4. Materiale monistische Konzepte Dementsprechend bemüht sich die wohl überwiegende Lehre, monistische materiale Konzepte zu entwickeln. Welcher materiale Gesichtspunkt den Garantengeboten und -pflichten allerdings zugrundeliegen soll, ist ungemein umstritten. Der Meinungsstand ist vielfach und eingehend darstellt worden 206 . Im folgenden sollen deshalb - ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit - nur ausgewählte Legitimationsansätze dargestellt werden, und zwar unter vorrangig methodischem Blickwinkel und nach den vier übergeordneten Gesichtspunkten "Gefährdung" (1), "Vertrauen" (2), "Erwartung" (3) und "Herrschaft" (4). (1) In fast allen Untersuchungen zur Garantenproblematik taucht der Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit für die Gefährdung anderer auf. Mit besonderer Klarheit hat diesen Standpunkt Arzt 2 0 7 verfochten, nach welchem in jeder Garantenstellung das (Begehungs-)Element "rudimentärer Gefahrschaffung enthalten ist, sei es unmittelbar, sei es mittelbar, indem der 201 202 203

204

Vgl. Maaß, Schweigen, S. 36 ff., der aber eine Obhutsgarantenstellung annimmt. Treffend Jakobs , Strafrecht, 29/27. Beispiel nach AK-StGB-Seelmann , § 13 Rdnr. 35.

So aber Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 289 (f.). S. oben §§ 3 III 5., 8 III 1., 2. 206 Prägnant Jakobs , Strafrecht, 29/28 in Fn. 53; s. ausführlicher Sangenstedt , Garantenstellung, S. 123 ff.; Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 77 ff.; AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnrn. 31 ff.; je mit umf. Nachw. 207 JA 1980, 553 ff., 647 ff., 712 ff. - S. weiterhin Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 136 ff. u. JuS 1985, 271 ff.; Stree, in: H. Mayer-FS, S. 145 ff.; eingehende Kritik b. Sangenstedt , Garantenstellung, S. 262 ff. 205

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

Täter Gefahrabwendungsaufgaben an sich ziehe, die er dann nicht erfülle" 208. Ähnlich argumentiert Schultz, bei zurechenbarer Gefährdung solle sich die Pflichtenstellung nach den Grundsätzen von der objektiven Zurechnung ergeben; wie beim Begehen nur verantwortlich sei, wer zurechenbar eine sich verwirklichende Gefahr geschaffen habe, sei derjenige, der eine Gefahr geschaffen hat, zur Abwendung ihrer Realisierung verpflichtet 209. Nun ist das "Gefährdungsprinzip" insofern eine Selbstverständlichkeit, als konkrete Garantenpflichten in des Wortes rechtstheoretischer Bedeutung nur dann entstehen, wenn das Opfer als Rechtsgutsträger eine drohende Selbstverletzung nicht selbst intentional vermeiden kann (oder zur Bildung einer derartigen Intention nicht imstande ist) 210 : Wer sich selbst helfen kann, bedarf nicht der Erfolgsabwendung durch einen Garanten. Dieser Gesichtspunkt liegt jedoch auf der Ebene der Zurechnung als Pflichtwidrigkeit, nicht derjenigen der Legitimation von Normen. Hier beruht vielmehr die intuitive Überzeugungskraft des Gefährdungsprinzips darauf, daß es um des Rechtsgüterschutzes willen sinnvoll und legitim erscheint, Ver- und Gebote nicht (erst) im Stadium der Verletzung, sondern bereits in deren Vorfeld, der Gefährdung, anzusiedeln. So führt Cramer aus, aus dem generellen Gebot, fremde Rechtsgüter zu respektieren ("neminem laedere") folge das Verbot, für fremde Rechtsgüter ein (nicht mehr erlaubtes) Risiko zu schaffen, sie also in ihrem Bestand und ihrer Sicherheit zu gefährden 211. Stellt aber die Gefährdung ein hiernach verbotenes Verhalten dar, so liegt es nahe, gleichsam "kompensatorisch" demjenigen, der die Gefährdung zu verantworten hat, zu gebieten, schädigende Auswirkungen der Gefahr zu verhindern, sei es durch Abschirmung der Gefahr, sei es durch Rettung des bedrohten Rechtsguts, wenn sich die Gefahr bereits realisiert hat und noch weiterer Schaden droht 212 . Es ist aber bereits die Prämisse dieser Argumentation unrichtig: Zunächst gibt es im Strafrecht keinen Grundsatz "neminem laede", sondern - wegen Art. 103 Abs. 2 GG - nur einzelne gesetzlich vertypte Verletzungsverbote 213. Aber auch aus diesen können nach der hier vorgelegten Normenkonzeption Gefährdungsverbote und Gefahrabwen208 Arzt, JA 1980, 712 (714). - Zur Kritik dieser Lehre als einer "monistischen" s. oben § 11 II c) m.w.N.

209

S. Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 145, 147 u. passim; zu Schultz' Lehre von der "Außen-" und der "Innengefahr" eingehend Sangenstedt, Garantenstellung, S. 265 ff. - Was freilich die Lehre von der objektiven Zurechnung (als pflichtenbegrenzende Lehre, s. oben § 6 15.)2 1für die Legitimation von Garantengeboten austragen soll, ist schwerlich ersichtlich. 0 S. oben § 8 III 4. 211 S/S-Cramer, § 15 Rdnr. 131; ebenso Jescheck, Lehrbuch, S. 521; Stratenwerth, Strafrecht, Rdnr. 212 1100. Einen derartigen Schluß zieht explizit AK-StGB-See/ma/i/i, § 13 Rdnr. 49 mit der normlogischen Begründung: "Gegenstand eines Verletzungsverbots ist es nämlich, die unerwünschten Ergebnisse eines verbotswidrigen Handelns des Pflichtigen zu vermeiden". Diese Auffassung ist aber unrichtig, s. oben § 1IV 3 u.ö. 213 Nichts anderes gilt im System des Zivilrechts, das gerade keine allgemeine Gefährdungshaftungsklausel kennt.

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dungsgebote schon deshalb nicht analytisch abgeleitet werden, weil sie nicht Inhalt der Normen sind und eine Erweiterung des strafrechtlichen Norminhalts verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist 214 , und zwar auch im Wege der von Hruschka 215 favorisierten "synthetischen Implikation". Zudem ist eine Gefahr nicht Ursache einer Verletzung und muß dieser keineswegs zwingend (zeitlich) vorangehen, so daß Gefahren auch keineswegs (notwendige) Zwischenschritte zwischen Verhalten und Erfolg darstellen2 6 . Allgemein gesprochen, müssen Gefährdungsverbote (und Gefahrabwendungsgebote) anders als unmittelbar durch die von den Erfolgsverletzungsdelikten geschützten Rechtsgüter legitimiert werden 217. Entscheidend gegen ein "Gefährdungsprinzip" spricht aber, daß es genau die Frage offenläßt, die es zu beantworten gilt: nämlich diejenige, wer für bestimmte Gefahren nach welchen Kriterien zuständig ist. Bekanntlich ist hier der Rückgriff auf das Kausaldogma - Zuständigkeit qua Verursachung einer Gefahr - durchaus zweifelhaft; er ist nämlich einerseits zu eng, wie die strafrechtlichen Verkehrssicherungspflichten zeigen, andererseits möglicherweise zu weit, wie die zahlreichen Versuche, die Ingerenz in ihrer klassischen Formulierung einzuschränken, zeigen218, und versagt bei zahlreichen Obhutsgarantenstellungen (wie derjenigen der Eltern für ihre Kinder). Hier muß auf zusätzliche Kriterien der Sonderverantwortlichkeit zurückgegriffen werden 219 . (2) Wird bedacht, daß es nach dem Prinzip der "Eins-zu-eins-Verpflichtung" bei der Bestimmung von Garantengeboten um die Bestimmung von Garantiebeziehungen geht 220 , so erscheint es naheliegend, diese Beziehungen als solche eines Vertrauens oder Vertrauendürfens zu bestimmen. Dabei besteht Einigkeit darüber, daß Vertrauen nicht als subjektiv-psychologischer Befund zu bestimmen ist 221 . Vielmehr geht es um das "Normvertrauen", welches sich freilich nicht auf Sozialnormen, sondern nur auf Rechtsnormen 214 2 1 5Ebenso Sangenstedt 216

217

Strafrecht, S. 397 ff. S. oben §8 II.

, Garantenstellung, S. 270.

Einen wegweisenden Ansatz hierzu hat Kindhäuser , Gefahrdung, zus. fas. S. 353 ff. vorgelegt: Konkrete Gefährdungen können deshalb legitimerweise verboten werden, weil ein Rechtsgut - wird es als Mittel zur freien Entfaltung des einzelnen begriffen - schon dann beeinträchtigt ist, wenn es konkret gefährdet ist, d.h. die Kontrolle über die Unversehrtheit des Guts dem Rechtsgutsträger entzogen ist; abstrakte deshalb, weil sie die sorgelose Verfügung über 218Rechtsgüter beeinträchtigen. Eingehende Kritik b. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 284 ff. einerseits (zu Welps Versuch, die Verkehrssicherungspflichten auf ein kausales vorangegangenes gefährdendes Tun219 zurückzuführen), S. 313 ff. andererseits (zur Kritik des Kausaldogmas bei der Ingerenz). S. bereits oben § 10 II (zu Freund ). 220 S. oben §4 II 3. 221

S. nur Sangenstedt , Garantenstellung, S. 221 f.

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beziehen kann 222 . Insofern haben es E. A. Wolff 223 und vor allem Welp 2 2 4 unternommen, das Vertrauensprinzip als eigentliche (und monistische) Grundlage zu etablieren. Welp sieht als Schlüssel der Gleichstellungsfrage die Strukturanalyse der Beziehung zwischen positiven Tun und Erfolg an. Aus der Sicht des Täters ("Täterposition") sei diese Beziehung durch das (finale) "Determinationsvermögen" gekennzeichnet; aus derjenigen des Opfers ("Opferposition") sei kennzeichnend die "besondere Verletzbarkeit", die "Anfälligkeit" oder "Abhängigkeit" des geschützten Rechtsgut, auf dessen Integrität das Opfer vertrauen dürfe. Der Haftungsgrund der unechten Unterlassungsdelikte liege mithin in einem durch finale Initiative des Täters überspielten Vertrauen des Trägers eines deshalb gegen Einwirkungen anfälligen (Opfer-)Guts. Dieses Vertrauen sei letztlich im Rechtsprinzip selbst begründet: "Dem Nicht-Tun-Dürfen entspricht auf Seiten des Rechtsgutsträgers wegen der rechtlichen Geltung des Verbots ein Vertrauendürfen auf das Ausbleiben des Verbotenen. Erst dieses erlaubt es dem Menschen, die Waffen des Naturzustandes abzulegen und in den status civilis einzutreten" 225. Für die Ingerenz - der Welps Untersuchung gilt - sei daher zwischen verbotenem und erlaubtem vorangegangenen Tun zu unterscheiden226. Im ersten Falle 227 sei die Garantiebeziehung unschwer zu begründen: Aus Opfersicht bestehe die Abhängigkeit - nicht bloß eine "Fragilität" - auch dann fort, wenn der angestoßene Gefährdungsverlauf vom Täter aus der Hand gegeben wurde: "Da die Vorhandlung nur unter dem Aspekt der späteren Abwendungsmöglichkeit des Täters als Vor-Handlung erscheint ..., ist dessen (sc. des Opfers) Situation mit dem Durchgangsstadium jeder Begehung identisch und mithin nicht bloße Fragilität, sondern Abhängigkeit vom Nichteintreten des Erfolges, der durch die rechtsverletzenden Voraktivität des Täters bereitet worden ist"228. Aus Tätersicht versetze "die Übertretung des Verbots (sc. der Kausierung der Verletzung) ... das Opfer in einen Zustand konkreter Abhängigkeit... Diese ist das Werk des Täters, für das er einzustehen hat"229. Aber auch bei "rechtmäßigen Im ersten Sinne aber Nickel, Bestimmtheit, S. 24 f., 181 ff.; zutr. Kritik b. Sangenstedt, Garantenstellung, S. 228 ff. - Die Untauglichkeit eines derartigen Ansatzes ergibt sich bereits aus der oben § 10 III 3. erhobenen Forderung nach einer normativen, nicht soziologischen Rechtsquelle der Garantenpflichten. 223 Kausalität, bes. S. 38 ff.; eingehende Darstellung und Kritik b. Sangenstedt, Garantenstellung, S. 234 ff. -E. A. Wolff will die Garantenbeziehung als ein "rechtlich begründetes ursprüngliches Abhängigkeitsverhältnis" bestimmen. Die Kritik hieran stimmt mutatis mutandis mit den im folgenden Text zu Welp angestellten Erwägungen überein. 224 Welp, Vorangegangenes Tun, S. 172; zum folgenden 173 ff. 225 Welp, Vorangegangenes Tun, S. 176. 226 Welp, Vorangegangenes Tun, S. 177. 227 Welp, Vorangegangenes Tun, S. 194. - Es ist zu bemerken, daß Welp mit der h.M. Verbots-, also Normwidrigkeit, und Pflichtwidrigkeit gleichsetzt; "Verbotswidrigkeit" setzt also nach Welp zumindest (objektiv) sorgfaltspflichtwidriges Verhalten voraus. 228 Welp, Vorangegangenes Tun, S. 181; Herv. i. Orig. 229

Welp, Vorangegangenes Tun, S. 191. - Zweifelhaft ist freilich das zusätzliche normentheoretische Argument, welches Welp aaO. anführt: "Wenn die Verbotsnorm auf den

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Risiko-Vorhandlungen" gelte nichts anderes, da das erlaubte Risiko keine Eingriffsbefugnisse gebe30 und nur bei Annahme eines dem erlaubten Risiko korrespondierenden Erfolgsabwendungsgebots das rechtliche Ziel, Handlungsfreiheit und Gutsintegrität in ein "kompossibiles Maximum" zu bringen, erreicht werden könne231. Ähnliches gelte für (bestimmte) gerechtfertigte Vorhandlungen 232. Das Vertrauenskonzept Welps, nach dem Urteil Schünemanns der "gründlichste und scharfsinnigste Entwurf einer ... Problemlösung (sc. der Unterlassungsdogmatik) aus der Natur der Sache", hat insbesondere von Schünemann selbst gewichtige und ebenso scharfsinnige Kritik erfahren 233. Der grundlegende (und immanente) Fehler Welps liegt hiernach darin, daß die von Welp entscheidend herangezogene "konkrete Abhängigkeit" des gefährdeten Opfers durch das Vertrauen gerade in Strafrechtsnormen begründet wird, nicht aber außer- oder vorstrafrechtlich. Damit gerät Welp aber in einen gedanklichen Zirkel, den er durch die - normlogisch unhaltbare 234 Ableitung von Rettungsgeboten aus den Verletzungsverboten nicht durchbrechen kann 235 . Gerade bei den "rechtmäßigen Risikovorhandlungen" muß Welp auf einen gewaltig erweiterten Abhängigkeitsbegriff verweisen, der untauglich ist 236 . Tiefergehend ist anzumerken, daß bereits der Ansatzpunkt des Vertrauensprinzips von Welp nicht trägt: Da die Verletzungsverbote nur ein verletzendes Verhalten verbieten und dies erst ex post festgestellt werden kann 237 , kann ein Vorverhalten nie als solches verboten sein und nie als Enttäuschung eines auf normgemäßes Verhalten gerichteten Vertrauens gedeutet werden. Das von Welp gemeinte "Normvertrauen" kann allenfalls auf ein pflichtgemäßes Handeln gerichtet sein, welches aber wiederum ganz von der Täterperspektive aus zu bestimmen ist 238 und somit als abstrakt-genereller Schutz des Gutes vor Angriffen gerichtet ist, die sich seine Verletzung initiativ zum Zweck setzen oder diese pflichtwidrig bei der Verfolgung anderer Zwecke nicht vermeiden, so liegt es in ihrer auf Gutsintegrität abzielenden Intention, die geschehene subjektive Verbotsverletzung so lange mit einem komplementären Abwendungsgebot zu versehen, wie mit der Abwendungsmöglichkeit des Täters eine Chance für die Erhaltung des Guts besteht". Abgesehen davon, daß Welp hier die Norm- mit der Pflichtwidrigkeit gleichsetzt, können aus Verboten Gebote nicht deduziert werden; s. bereits oben § 3 I 2. sowie Schünemann, Grund und Grenzen, S. 109 f. 230 S. bereits oben § 6 III 4. 231

Welp , Vorangegangenes Tun, S. 224. Näher Welp , Vorangegangenes Tun, S. 265 ff.

232

233

Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 104 (ff.). Eingehend Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 109 f. - Die normlogische Unhaltbarkeit ergibt sich hier zwanglos aus dem oben § 3 I 2. Gesagten. 235 Ebenso AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnr. 43. 234

236 ••

2 3 7Ahnlich 238

Sangenstedt , Garantenstellung, S. 254 f. S. oben §§ 1IV 3., 2 III. S. oben §§ 1 III, 2 II.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

Bezugspunkt eines Vertrauens nicht in Betracht kommt. Dementsprechend leitet Welp denn auch - besonders deutlich bei den "rechtmäßigen RisikoVorhandlungen" - die Erfolgsabwendungsgebote letztlich aus freiheitstheoretischen Erwägungen her. Dies trifft zu: Normen sind dann legitim, wenn sie zweckrational, nützlich und allseitig vorteilhaft im Sinne des von Höffe entwickelten Prinzips des distributiven Vorteils sind239. Das Vertrauen auf Normeinhaltung ist hingegen allenfalls eine Folge legitimer Normen, bei deren Begründung (Legitimation) aber ein redundanter Faktor. (3) Die Problematik des Vertrauensprinzips - verstanden als ein normatives Prinzip - hat dazu geführt, die tatsächlichen sozialen Erwartungen zur Legitimation von Garantengeboten und -pflichten heranzuziehen. Diesen Ansatz hat Brammsen in seiner Untersuchung über "Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten" (1986) ausgebaut240. Brammsen ist der Luhmann'schen system-funktionalen Normentheorie verpflichtet, nach welcher Normen kontrafaktisch stabilisierte - also enttäuschungsfeste wechselseitige Erwartungen sind, die der Verminderung von Kontingenz und der Reduzierung der immer zunehmenden Komplexität der Handlungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft dienen . Auf eine alte Tradition zurückgreifend, welche die Garantenpflichten aus der "sozialen Stellung" ableitet242, will Brammsen eine "am sozialen Alltagsleben orientierte Garantenlehre" entwickeln. Hierfür zieht er das "Erwartungsprinzip" heran: Erstens müsse in der Realität eine soziale Position des Garanten existieren, in der sich die Erwartung der Vornahme der erfolgsvermeidenden Handlung verfestigt habe; hierbei könnten rollen- und systemtheoretische Untersuchungen von Nutzen sein. Diese Erwartung müsse zweitens eine 239

Vgl. Höffe, Gerechtigkeit, S. 69 ff.; des weiteren Kindhäuser, Gefährdung, S. 25 mit Fn. 18. 2 4 0 Vgl. weiterhin Otto/Brammsen, Jura 1985,530 ff., 592 ff., 646 ff. Ähnlich ist es der Ausgangspunkt der Garantenlehre Herzbergs, das Rechtspflicht-Modell gänzlich zugunsten eines sozial-faktisch bestimmten "Garantenprinzips" abzulehnen: "Seinem materiellen Inhalt nach bedeutet (das Garantenprinzip), daß entscheidend die im sozialen Leben anerkannte\ besondere Verantwortlichkeit ist, die einem Menschen zum Zwecke der Schadensverhinderung auferlegt ist. Diese soziale Verantwortlichkeit wird ... durch den einschlägigen Straftatbestand zur Rechtspflicht", Herzberg, Unterlassung, S. 215 (Herv. v. Verf.). Hierdurch (und durch die Verbindung mit seinem negativen Handlungsbegriff) kann Herzberg etwa die Ingerenz in weitestem Umfange - also auch bei rechtmäßigem Vorverhalten - begründen: "(Dies) dürfte auch der natürlichen Betrachtung ... entsprechen. Man fühlt sich für vorhersehbare, unerwünschte Auswirkungen seines eigenen Tuns verantwortlich, einerlei, ob das Voiverhalten erlaubt oder pflichtwidrig war. ... Wer ein fremdes Rechtsgut beeinträchtigen darf, ist doch gleichwohl gehalten, das 'kompossible Maximum' der entgegenstehenden Interessen zu wahren. Er soll also ... auch, wo möglich und nötig, dem Eingriff Schutzmaßnahmen folgen lassen, die schlimmen und überflüssigen Weiterungen vorbeugen", aaO., S. 295 (Herv. v. Verf.). - Mutatis mutandis sind gegen Herzberg dieselben Einwände vorzubringen wie gegen Brammsen. 241

Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 95 ff.; grundlegend Luhmann, Rechtssoziologie, S. 42 ff., 54 ff. u.ö.; s. hierzu bereits oben § 1 Fn. 39. 242 S. bereits oben § 10 II 2.

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"Muß-Erwartung" im "Gegenseitigkeitsverhältnis" darstellen, es müsse also auch der Garant die Erwartungsverhältnisse erkennen können; hierfür könnten ethno-methodologische oder soziologische Untersuchungen einen Fingerzeig geben. Drittens aber sei zu prüfen, ob die "Muß-Erwartung" der Erhaltung elementarer Rechtsgüter oder wesentlicher Strukturen des gesamtgesellschaftlichen Sozialgefüges - "allgemein anerkannte rechtliche und sozialethische Wertvorstellungen" - zum Inhalt habe 2 4 3 . Es ist evident, daß diese Lehre bei zahlreichen Obhutsgarantenstellungen (Ehe, Familie usf.) zu überzeugenden Ergebnissen führen kann. Problematisch sind die Überwachungsgarantenstellungen. Bei diesen bedarf es nach Brammsen einer "besonderen ... sozialen Position, die ... (den Garanten) die tatsächliche Möglichkeit gewährt, auf eine in dem ihnen 'überantworteten' besonderen sozialen Einflußbereich befindliche Gefahrenquelle unmittelbar einzuwirken" 2 4 4 . "Einfluß" und "Herrschaft" seien zwar keinesfalls inhaltsgleich; jedoch verlange eine Überwachungsgarantenstellung eine "konkrete H e r r schaftsbeziehung" in bezug auf die Gefahrenquelle 2 4 . 243

S. Brammsen , Entstehungsvoraussetzungen, S. 114 ff.; Zusammenfassung auf S. 129 ff. Brammsen , Entstehungsvoraussetzungen, S. 134. - In gewissem Widerspruch hierzu verlangt Brammsen in derselben Passage eine "Befugnis" zur Gefahrenabwehr. 245 Brammsen , Entstehungsvoraussetzungen, S. 135 f. - Besonders originell sind die Schlußfolgerungen, die Brammsen hieraus für die Garantenstellung aus Ingerenz zieht. Diese sei grundsätzlich abzulehnen: Es fehle an dem grundlegenden Erfordernis eines in einer bestimmten sozialen Position verfestigten gegenseitigen Erwartungsverhältnisses, da weder der Ingerent ex ante wissen könne, wann, wo und wem er helfen müsse, noch der Gefährdete ex ante einen Adressaten seiner Hilfserwartungen bestimmen könne, Brammsen , aaO., S. 387 ff., zus.fas. 392. - Ob das Argument innerhalb des soziologischen Ansatzes Brammsens Stand hält, ist mehr als zweifelhaft. Daß Rollen und Rollenerwartungen durch Einzelhandlungen begründet werden können, ist in der soziologischen Literatur anerkannt (vgl. Röhl, Rechtssoziologie, S. 540 f. mit der Unterscheidung zwischen handlungsunabhängig zugeschriebenen und durch Aneignungshandlungen erworbenen Rollen). Letztlich stellt Brammsen die unbewiesene These auf, daß Garantenstellungen nie (allein) handlungsbezogen und damit "dynamisch", sondern stets handlungsunabhängig und damit "statisch" begründet werden müssen. Daß aber im Gegenteil Einzelhandlungen für die Begründung von Garantenstellungen von größter Bedeutung sind, wird etwa bei der Übernahme augenfällig; und selbst eine derart "statische" Garantenstellung wie diejenige der Eltern gegenüber ihren Kindern hat den Handlungsbezug der Zeugung der Kinder. Umgekehrt sind handlungsunabhängige und gleichsam gesellschaftlich aufoktroyierte Garantenstellungen besonders begründungsbedürftig; so genügt die Tatsache, Arzt zu sein, nie für sich, um eine Garantenstellung gegenüber Kranken zu begründen, grundlegend RGSt 75, 68 (72 ff.; anders für den BereitschaftszrzX aber BGHSt 7, 211). Auch überrascht es, daß Brammsen der ständigen Rechtsprechung ohne weitere empirische Absicherung keine rollen- und erwartungsprägende Wirkung beimißt. - Vor allem aber ist das Argument dogmatisch und normentheoretisch verfehlt: Jede Norm beschreibt das geforderte Verhalten abstrakt-generell. Das Erkennenkönnen und -müssen der tatbestandsmäßigen Situation ist eine Frage der Pflichtwidrigkeit und des Verschuldens, nicht aber des Norminhaltes. Abstrakt-generell kann aber der Ingerent sehr wohl die - nach ständiger Rechtsprechung an ihn gerichtete - Verhaltenserwartung erkennen, ebenso wie - um einige von Brammsen genannte Beispiele zu nennen - Polizisten erkennen können, daß von ihnen die Verhinderung existenzbedrohender Straftaten, oder Hausbesitzer, daß von ihnen Streuen bei Glatteis erwartet wird. 244

Sodann aber ordnet Brammsen die Ingerenz - unter Berufung auf ältere Auffassungen (vgl. insbes. Lampe, ZStW 72 , 93 ff.; zu den älteren Ingerenzlehren eingehend

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

N u n kann es sich eine Kritik an Brammsen leicht machen und - mit Blick auf die hier unternommene Rechtsquellenanalyse - das funktionale Erwartungsprinzip schon deshalb ablehnen, weil es den Anforderungen an eine § 13 und Art. 103 Abs. 2 G G entsprechende Rechtsquelle nicht genügt 2 4 6 . A l l gemeiner gesprochen kann eine im Sinne von Brammsen bestehende M u ß Erwartung rechtliche Anerkennung finden oder auch nicht; welcher normative Schlußmodus hier anzuwenden sei, legt Brammsen nur in gröbsten A n sätzen dar. Umgekehrt unterschätzt Brammsen die Wirkungen von Rechtsnormen für die Konstituierung von "Muß-Erwartungen" 2 4 7 . Auch ist bemerkenswert, daß Brammsen zu den verfassungsrechtlichen Problemen der Bezugnahme auf soziale Tatsachen kein Wort verliert, was einem modernen verfassungsorientierten Strafrechtsverständnis kaum entspricht 248 . Tiefergehend ist freilich mit Jakobs 249 gegen Brammsen einzuwenden, daß dieser Garantenstellungen letztlich nicht herleitet, sondern beschreibt. Brammsen bleibt mithin das schuldig, was von einer materialen Legitimation zu erwarten ist, nämlich inhaltliche Gesichtspunkte für die Begründung von Garantenstellungen zu geben. Es entpuppt sich also Brammsens Ansatz als eine verdeckte "formale" Legitimation der Garantenlehren. Damit ist freilich noch keineswegs der Stab über eine Herleitung von Garantenpflichten aus

Brammsen, aaO., S. 223 ff.) - als Fall eines BegehungsteMkts ein und kommt hierdurch im Ergebnis doch zur (ggf. Vorsatz-)Strafbarkeit bei gefährdendem Vorverhalten. Grundlegend für die Bestimmung des Begriffs der tatbestandsmäßigen Handlung seien nämlich das Gefährdungs- und Steuerbarkeitsprinzip (,Brammsen, aaO, S. 39 ff.). Insbesondere das letztere Prinzip besage, daß die Handlung so lange fortdauere, wie der Erfolg Steuer-, d.h. vermeidbar sei. Deshalb könne auch das der Vorhandlung nachfolgende Dazutreten von Vorsatz oder Fahrlässigkeit die Haftung wegen des auf die Vorhandlung gegründeten Begehungsdelikts begründen; das Koinzidenzprinzip und das Verbot der Anrechnung des "dolus subsequens" greife nicht ein, eingehend Brammsen, aaO., S. 404 ff. (mit dem Ergebnis, daß das Verbot des dolus subsequens auf die Fälle beschränkt sei, in denen bei Entstehung des Tatentschlusses eine Möglichkeit zur Geschehenssteuerung fehle, S. 412). Diese Auffassung geht fehl, wie bereits Rudolphi, Gleichstellungsproblematik, S. 11 f. in Fn. 25 gezeigt hat (insofern krit. auch die ansonsten zust. Bespr. von Behrendt, GA 1986, 472 ). Wiederum zeigt sich die verhängnisvolle Auswirkung einer unklaren Normenkonzeption: Steuerbarkeit ist Zurechnungsvoraussetzung, nicht aber Norminhalt! - Die Frage nach der Qualität des Vorverhaltens bei der Ingerenz ist nach Brammsen, aaO., S. 423 f., von der Frage der Rechts- oder Pflichtwidrigkeit zu lösen und vielmehr durch eine "Gesamtinteressenabwägung" auf der dogmatischen Stufe der Rechtswidrigkeit der Gesamttat beantwortet, in welche nicht nur gesetzlich anerkannte Rechtfertigungsgründe eingehen, sondern sämtliche Individual- und Allgemeininteressen, aaO. S. 427 ff.. Im Ergebnis dürfte diese Gesamtabwägung - entsprechend der Rspr. des BGH, hierzu oben § 6 III 3. - darauf hinauslaufen, daß nur, aber auch schon eine Überschreitung des "erlaubten Risikos" die Rechtswidrigkeit begründet. 246 247

S. oben §10 II 2.

Treffend Jakobs, Strafrecht, 29/28 in Fn. 53 unter (7) a.E.: "Was wären, ohne rechtliches Band gedacht, Ehe, Polizei, Justiz etc.?" 248 Vgl. zu den diesbezüglichen Defiziten in der Strafrechtswissenschaft Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 57 f. 340 Strafrecht, 29/28 in Fn. 53 unter (7).

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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dem Gesichtspunkt von Rolle und Institution gebrochen; hierauf wird zurückzukommen sein250. (4) Es bleibt zu untersuchen, ob das ebenfalls häufig genannte Herrschaftsprinzip als taugliches materiales Legitimationsprinzip für Garantengebote und -pflichten in Betracht kommt. Neben Rudolphis Lehre vom Garanten als der "Zentralgestalt des zur Rechtsgutsverletzung hinstrebenden Geschehens"251 ist hier vor allem die Lehre von Schünemann zu nennen252. Methodisch Arthur Kaufmann und dessen Argumentation kraft "analogem Denken" und aus der "Natur der Sache" verpflichtet, sucht Schünemann nach einer materiell-vörstrafrechtlichen 253 Gemeinsamkeit zwischen Tun und Unterlassen, welcher er die gesamte Garantendogmatik unterstellen will, und findet diese Gemeinsamkeit in der "Herrschaft über den Grund des Erfolges" 254: Grund der Strafbarkeit als "Zurechnung des Erfolges (nicht) zur Handlung ,... (sondern) zur Person" 75 5 sei im Falle positiven Tuns ("Körperbewegung") die absolute Herrschaft der Person über den Körper. Da nun die Körperbewegung unmittelbarer Grund des Erfolges ist, und die unmittelbarer Herrschaft hierüber wiederum Grund der Zurechnung, sei das allgemeine Prinzip der Zurechnung die "Herrschaft über den Grund des Erfolges", freilich nur als "normative Richtlinie"256. Konkreter sei unter Herrschaft nicht die Willensmacht zu verstehen, sondern entweder die "existentiell vorgegebene" oder "aus einem Willensakt erwachsene" Herrschaft 257; und unter "Grund des Erfolges" sei einmal eine "wesentliche Station des Kausalverlaufes", zum anderen die "Hilflosigkeit des Opfers" zu verstehen258. Paradigma der ersten - im wesentlichen mit der Gruppe der Überwachungsgarantenstellungen zusammenfallenden 259 - Fallgruppe sind 250

251

S. unten § 10 IV 7. zu (2).

Vgl. Rudolphi , Gleichstellungsproblematik, S. 98 f.; differenzierend ders. in SK, § 13 Rdnr. 21 f.; krit. Sangenstedt , Garantenstellung, S. 281 ff. - Die im folgenden gegen Schünemann vorgebrachten Einwände gelten mutatis mutandis für Rudolphi. 252 Entwickelt in: Unterlassungsdelikte, bes. S. 229 ff.; s. weiterhin ders., Unternehmenskriminalität, S. 84 ff.; ZStW 96 (1984), 287 (293 ff.). 253

So ausdrücklich Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 124. Eingehend Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 229 ff.; vgl. weiterhin ders., ZStW 92 (1984), 287 (293 f. mit Fn. 26). Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 234. 254

256

257 Schünemann,

Unterlassungsdelikte, S. 241. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 243. 258 259 Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 241. Aus denen Schünemann freilich die Ingerenz generell ausscheiden will. Diese - nach Herzberg (Unterlassung, S. 191) "geradezu sensationelle" - Konsequenz ergibt sich aus Schünemanns Herrschaftsbegriff, vgl. Unterlassungsdelikte, S. 316: "Die Herrschaft des Unterlassenden liegt bei den Ingerenzfällen vollständig in der Vergangenheit und weist daher nicht die nach unseren Überlegungen erforderliche, in die Zukunft gerichtete Aktualität auf. ... Eine Herrschaft bedarf eines gegenständlichen Substrats, in dem sie wirkt; der bloße Kausalverlauf kommt dafür nicht in Frage ...". Der berechtigte Kern der Ingerenz liegt nach Schünemann freilich darin, daß bestimmte Vorhandlungen - z.B. die Verkehrsöffnung durch den Sachherrn

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

für Schünemann die Verkehrssicherungspflichten 260, deren Behandlung insbesondere Aufschluß über den von Schünemann gemeinten Herrschaftsbegriff gibt. Nach Schünemann kommen sachlich beherrschte Gefahrenquellen schon auf den ersten Blick als "wesentliche Ursachen" eines unerwünschten Erfolges in Frage 261 . Daß hier freilich nicht der Ingerenz-, sondern der Herrschaftsgedanke maßgebend sei, zeige die Konstellation des derivativen Besitzerwerbs an einer Gefahrenquelle: Weder ließe sich die Pflichtenentlastung des Vorbesitzers im Kausaldenken einleuchtend begründen, noch finde der - von Welp herangezogene - pflichtenbegründende Akt einer intentionalen Pflichtenübernahme mit objektivem Erklärungswert durch den Besitzerwerber hier einen Platz 262 . Aus dem Herrschafts-Ansatz zieht Schünemann nun - wie bereits dargelegt - den Schluß, daß Verkehrs- nur Sicherungs-, nie aber Rettungspflichten begründen und der (auch: pflichtwidrige) Herrschaftsverlust jegliche ihm nachfolgende Pflichten beende. Freilich kennt auch Schünemann eine "Herrschaftsbehauptungspflicht", die - vorsätzlich oder fahrlässig - verletzt werden kann und dann die Zurechnung eines später eingetretenen Erfolges - jedoch nicht wegen unterlassener Hinderung des nach Herrschaftsverlust eingetretenen Erfolges, sondern wegen des pflichtwidrigen Herrschaftsverlusts als solchen - begründet 263. "Herrscher" und damit Verpflichteter soll grundsätzlich der "Inhaber der Gefahrenquelle" sein, auch wenn diese Innehabung rechtswidrig ist. "Innehabung" sei "im wesentlichen" gleichzusetzen mit Gewahrsam 264 und erfordere einen - auch generell möglichen - Herrschaftswillen. Bei geteilter gleichstufiger Sachherrschaft soll jeden Mitgewahrsamsinhaber die gleiche Verantwortlichkeit treffen; bei Verhältnissen der Über- und Unterordnung obliegen dem "Sachnächsten" die unmittelbaren Verkehrssicherungspflichten, den Oberbesitzer aber entsprechend seiner "vergeistigten" Herrschaft nur Überwachungs- und Kontrollpflichten. An den "Grenzen der Herrschaft" befinden sich nach Schünemann zwei (von der Rechtsprechung entschiedene) Fälle 265 : Verliert einen Lastwagenfahrer unvermeidbar (sie!) einen Teil der Ladung und wird hierdurch ein Unfall verursacht, so sei die Zurechnung dieses Unfalles kraft sorgfaltswidriger Herrschaftsaufgabe (sie!) begründet 266; anders aber, wenn ein Kraftfahrer einen Baum so unglücklich anfährt, daß dieser auf die Straße fällt und ein Hindernis bildet 267 . - den Gefahrenpegel in einem Herrschaftsbereich verändert und daher den konkreten Pflichteninhalt bestimmt, aaO., S. 287 f. 260 S. bereits oben § 8 III. 261 Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 281. 262 Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 251 f., 284 f. 263 Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 299 f. 264

265 Schünemann,

Unterlassungsdelikte, S. 293. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 300 ff. OLG Düsseldorf (ZS) DR 1939,1892 f. 267 A.A. OLG Celle NJW 1969, 1184 f. - Während der zweite Fall durchaus in Schünemanns Herrschaftskonzept paßt, muß der erste Fall damit erklärt werden, daß die "Herrschaftsbeziehung" nicht schon durch das - ja unvermeidbare - Herabfallen der Ladung 266

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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Trotz ihres Anspruchs, "für unser geltendes Strafrecht die sachlogischen Bedingungen einer Handlungsäquivalenz des Unterlassens" 7** beschrieben zu haben, hat sich Schünemanns Lehre bislang nicht durchsetzen können. D e r Haupteinwand lautet, daß - wie bei den Pflichtdelikten deutlich wird Herrschaft weder bei allen Begehungsdelikten der tragende Gedanke ist noch der Herrschaftsgedanke ohne weiteres in den Unterlassungsbereich übertragen werden kann 2 6 9 . Gegen Schünemanns Grundformel sind aber zudem zwei weiteren Einwände zu erheben. D e r erste Einwand betrifft den Begriff der Herrschaft selbst 270 . Bereits Höpfner wies - gegen Traeger 2 7 1 , den von Schünemann kaum erwähnten gedanklichen Schöpfer des Herrschaftsgedankens beim Unterlassungsdelikt - darauf hin, "daß der Ausdruck , Herrschaftsbereich , doch wohl sehr der wünschenswerten Gewißheit entbehren möchte" 272 . W i e sehr dies zutrifft, zeigt bereits der soeben erörterte erste Fall "an den Grenzen der Herrschaft": Ist der Herrschaftsverlust bereits durch Herunterfallen der Ladung oder erst durch das Wegfahren eingetreten? Das Problem ist aber fundamentaler 2 7 3 . Nach Schünemann ist der "Herrschaftsbereich" (auch) eine "normative Leitlinie", ein "Typus", wird also letztlich normativ bestimmt und begrenzt. Diese A n sicht trifft sicherlich zu, wie vor allem aus Fällen unterlassener Aufsicht oder mangelhafter Organisation erhellt: H i e r besteht der Vorwurf gerade darin, auf die Straße, sondern erst durch das Weiterfahren (das als sorgfaltswidrig bezeichnet werden kann, wenn der Fahrer das Herabfallen hätte bemerken können) beendet wurde. 268

269 So

Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 245; Herv. i. Orig. Brammsen , Entstehungsvoraussetzungen, S. 69 ff.; Herzberg , Unterlassung, S. 189; Jakobs , Strafrecht, 28/28 in Fn. 53 unter (2).; Maiwald , JuS 1981, 473 (480); Gegenkritik zu Maiwald durch Schünemann in ZStW 96 (1984), 287 (294 in Fn. 26). 270 Vgl. hierzu auch Brammsen , Entstehungsvoraussetzungen, S. 75 m.w.N. 271 Unterlassungsdelikte, S. 109. 77 2 Höpfner, ZStW 36 (1915), 103 (124 in Fn. 23). 273 Scharfsinnige Kritik am Herrschaftsgedanken übt auch Welp, Vorangegangenes Tun, S. 249 ff.: Mit "Herrschaftsbereich" könne im hier interessierenden Zusammenhang erstens gemeint sein, daß der "Gefahrenursprung" dem "sozialen Herrschaftsbereich" des Unterlassenden zugeordnet sein muß. Eine solche Forderung sei jedoch "ohne sachliches Gewicht und willkürlich", Welp, aaO., S. 251: Nur unter Vergewaltigung des Herrschaftsbegriffs könne z.B. das Entzünden eines Feuers im Wald oder das Öffnen eines Schachtdeckels auf einer Straße als unter der Herrschaft des Täters liegend angesehen werden. Zweitens aber könne Herrschaft als konstitutives Zurechnungskriterium in der Weise verwendet werden, daß die Schutzaufgaben auf die "Einwirkung auf die Gefahrenquelle selbst" begrenzt werden. Jedoch sei Inhalt der Garantenpflichten schon grundsätzlich der Schutz des bedrohten Guts, und zwar - bei den hier interessierenden Überwachungsgarantenstellungen - nicht nur "sekundär, als Reflexwirkung" (so aber Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 283), sondern primär und als einziger Inhalt: Geholfen werden müsse "in jeder geeigneten Weise", nicht nur durch Einwirkung auf die Gefahrenquelle selbst, Welp, aaO., S. 253. Werde aber drittens die Berufung auf die Sachherrschaft zur Begründung einer reinen - von jedweder (riskanten oder verbotenen) Vorhandlung getrennten - "Zustandshaftung" verwendet (so erstmals Traeger, Unterlassungsdelikte, S. 107 ff.), so werde der Bereich der Unterlassungshaftung unerträglich weit ausgedehnt: Die Garantenlehre könne mit dem Satz "Eigentum verpflichtet" ob seiner Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit nichts anfangen, Welp, aaO., S. 262; zust. die heute hA., s. Jescheck, Lehrbuch, S. 567; Stratenwenh , Strafrecht, Rdnr. 1020.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

daß die erforderliche Herrschaft nicht ausgeübt wurde. Auch kann die von Schünemann zutreffend angenommene "Herrschaftsbehauptungspflicht" keinesfalls selbst aus dem Faktum Herrschaft - aus der Willensmacht, die stets auch die Macht zur Herrschaftsaufgabe umfaßt - abgeleitet werden. Der "Herrschaftsbereich" erweist sich also als normativ zu bestimmender "Verantwortungsbereich". Damit erweist sich aber als eigentliches Problem des Herrschaftsbegriffs, die normativ relevanten Merkmale für die Abgrenzung des Herrschafts- als Verantwortungsbereich zu liefern. Hierzu führt Schünemann aber unvermittelt die - von ihm an sich zutreffend abgelehnte faktische Betrachtungsweise ein 274 ; so soll in manchen Fällen - z.B. bei der auch pflichtwidrigen Dereliktion von Sachen - der faktische Verlust der Willensmacht maßgeblich sein. Daß dies normativ relevant sein soll, wäre erst nachzuweisen. Die Eingängigkeit des Begriffs Herrschaft - der mehr ein Bild denn eine dogmatisch oder theoretisch exakte Rechtsfigur darstellt 275 liegt darin begründet, daß der Herrschaftsbegriff zwischen Faktum und Norm pendelt; ein Phänomen, das - insofern ist Schünemann methodische Konsequenz nicht abzusprechen - der "typologisch-analogistischen Denkweise" und der Argumentation aus der "Natur der Sache" immanent ist 276 . Zweitens aber ist durchaus unklar, was Schünemann unter "Grund" des Erfolges versteht. Wie Herzberg - einer der schärfsten Kritiker Schünemanns zutreffend ausführt, werden mit den Unterfällen "wesentliche Station des Kausalverlaufs" und "besondere Hilflosigkeit des Opfers" zweierlei axiologisch durchaus unterschiedliche Begriffsinhalte unter denselben Begriff gefaßt 277. Schon der Begriff der Herrschaft paßt auf die "Hilflosigkeit" nicht: Ist jemand in eine konkrete Situation der Hilflosigkeit geraten, so beherrscht der Garant nicht die Hilflosigkeit als solche, sondern schirmt die drohenden Gefahren ab, indem er hilft . Aus der Sicht des Opfers beseitigt der Garant i.d.R. nicht die Hilflosigkeit, sondern rettet das - nach wie vor hilflose - Opfer. Aus rechtstheoretischer Sicht ist der Einwand Herzbergs wie folgt zu präzisieren: "Grund" im Sinne von "Erklärungsgrund" oder "Ursache" kann nur eine "wesentliche Station des Kausalverlaufs" sein. "Hilflosigkeit" ist hingegen ein Dispositionsprädikat, das nicht den Erfolg erklärt, sondern die Hypothese involviert, daß das Opfer sich in bestimmten Situationen nicht helfen konnte279: Nicht die Hilflosigkeit des in den ungesi274

Wie Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 241, denn auch generell - und in gewissem Widerspruch zu anderen Stellen - von einer "weitgehend entnormativierten" Leitlinie spricht. 275 Zur ähnlichen Kritik an der "Tatherrschaftslehre" s. oben § 2 I V 2. 276 Krit. zur Argumentation aus der "Natur der Sache" auch Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 71 f. 27 7 Herzberg, Unterlassung, S. 193 f. 278

Im übrigen muß auch der Begriff der "Herrschaft über die Hilflosigkeit" normativiert werden, nämlich in den Fällen der "Monopolstellung": Auch derjenige, der als zufällig anwesender einziger Passant den im Meer Ertrinkenden retten kann, herrscht - ein einem faktischen Sinne - über die Hilflosigkeit des Opfers, treffend Schürmann, Unterlassungsstraftaten S. 106. 279 Zur Logik von Dispositionsprädikaten am Beispiel der "Gefahr" s. oben § 8 Fn. 147.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

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cherten Brunnen gefallene Kindes erklärt seinen Tod, sondern die Tatsache, daß es hineinfiel (wofür die fehlende Sicherung wiederum eine "negative" Bedingung war) und niemand half. Noch allgemeiner gesprochen liegt das Problem des Abstellens auf die Herrschaft darin, daß der von Schünemann postulierte "normative Restbestand" gerade den Kern der Herrschaft darstellt. Im praktisch-philosophischen Sinne ist Herrschaft Verfügungsgewalt in einer konkreten (Normen-) Ordnung, bedeutet also - im Unterschied zur Macht, d.h. der Chance, etwas faktisch durchzusetzen - institutionalisierte und legitimierte Macht 280 . Zwar kann Herrschaft der Macht nicht grundsätzlich entraten: Wer sogar im Regelfall unfähig ist, Macht auszuüben, herrscht nicht legitim, schon weil er die Vorteile von Herrschaft für die gerechte Verteilung von Ressourcen und die gerechte Befriedigung von Interessen nicht garantieren kann. Jedoch setzt Herrschaft über das generelle Steuernkönnen auf der Seite des Herrschenden und die generelle Unterworfenheit auf der Seite des Beherrschten maßgeblich die wechselseitige Verantwortlichkeit (des Herrschenden für die Herrschaftsausübung und des Beherrschten für die Herrschaftsbefolgung) voraus. Der Grund derartige wechselseitiger Verantwortlichkeit muß aber ein normativer sein. 5. Grundsätzliche Defizienz monistischer Ansätze Über die Einzelanalyse hinaus bestehen aber grundsätzliche Bedenken gegen monistische Ansätze. Insbesondere ist die These, jeder Garantenstellung liege eine rudimentäre Gefahrschaffung (ggf. durch vorangegangenes Tun) zugrunde 281, problematisch. Die Frage ist vor allem 282 bei der Garantenpflichten kraft Übernahme diskutiert worden: Hier wird argumentiert, die Übernahme der Obhut über ein Rechtsgut bewirke, daß Dritte oder der Rechtsgutsträger selbst im Vertrauen auf die Übernahme eigene Schutzund Überwachungsmaßnahmen unterließen, so daß die Übernahme mittelbar Gefahren schaffe 283. Jedoch ist diese Gefahrschaffung erstens ja erst 280

S. nur Krause , Art. "Herrschaft", in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III, S. 685 ff. 281 So insbes. Arzt, JA 1980, 553 (560) u. 712 (714, 717). - Ähnlich geht Schmidhäuser , Studienbuch, 12/18, davon aus, daß jede Garantenstellung "eine besonders nahe Beziehung des Täters zu der Gefahrenlage" voraussetzt; wenn dann freilich zwischen der Gefahrenzuordnung qua Vorverhalten und qua "sozialer Zuordnung" unterschieden wird, erweist sich Schmidhäuser in Wahrheit als Vertreter einer dualistischen Position. 282

Vollends fiktiv wird die pflichtenbegründende Gefahrschaffung etwa bei der Elternschaft oder der engen Lebensgemeinschaft: Soll die Zeugung oder das Zusammenleben Gefahrschaffung sein? Für die Lebensgemeinschaft im Sinne einer Gefahrschaffung (durch Ausschaltung Dritter) aber Arzt, JA 1980,647 (650). JM So Stree, in: H. Mayer-FS? S. 145 (158); S/S-Stree, § 13 Rdnr. 27; differenzierend Jakobs, Strafrecht, 29/46; je m.w.N. - Ähnlich geht Schultz , Amtswalterunterlassen, S. 140, 142 f. u. JuS 1985, 271 (272) davon aus, es bestehe bei der Übernahme zwischen der durch die Hilfezusage begründeten "Innengefahr" und der späteren "Außengefahr" ein "Gefahrveiwirklichungs2

Vogel

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

vermittelt durch Vertrauen (oder Enttäuschung einer Erwartung) und besteht zweitens, genau besehen, in der "Unterdrückung" gefahrenvermindernder Maßnahmen Dritter oder des Opfers; die Gefahr wird nicht also durch die Übernahme (als Eingehen einer Vertrauensposition) selbst, sondern erst durch ein späteres Unterlassen (bei gleichzeitigem Unterlassen der Dritten oder des Rechtsgutsträgers) geschaffen 284. Bereits die Übernahme als Gefährdung einzustufen, ließe dieses Kriterium "ins unverbindlich Floskelhafte verschwimmen"285. Umgekehrt verschwömme der Begriff des Vertrauens bei den Sicherungsgarantenstellungen ins unverbindlich Floskelhafte, wenn etwa bei der Ingerenz ein Vertrauen dahingehend unterstellt würde, von schädlichen Auswirkungen anderweitiger (und sei es auch nur: rechtswidrig hervorgerufener) Gefahren verschont zu bleiben286. Tiefergehend ist gegen monistische Ansätze einzuwenden, daß es schon grundsätzlich zwei Arten gibt, Pflichten zu begründen, nämlich autonom oder heteronom, durch Selbstbindung oder durch Vertrauenshaftung 287. Unter autonomer Selbstbindung wird hierbei diejenige verstanden, die sich auf die (ggf. auch übermäßige) Inanspruchnahme von Handlungsfreiheit gründet; unter heteronomer Vertrauenshaftung diejenige, die sich aus den Erwartungen ergeben, die an jemanden als Mitglied einer Institution (und kraft des hierdurch in Anspruch genommenen normativen Vertrauens) gerichtet werden. 6. Das materiale dualistische Konzept von Jakobs Eine Garantenlehre, die der hier erhobenen Forderung nach einer dualistischen, nach Rechtsprinzipien entwickelten materialen Theorie genügt, hat insbesondere Jakobs entwickelt288. Ausgangspunkt der Argumentation von Jakobs ist, daß es "Gebote gibt, die keine Solidarität voraussetzen, und Verbote, die nur bei Solidarität Bestand haben"; daher dürfe der Wechsel der Haftungsbegründung nicht zwischen allen Unterlassungen einerseits, allen Begehungen andererseits stattfinden, sondern quer zu dieser Unterscheidung . Im einzelnen unterscheidet Jakobs nun zwei Haftungsgründe: den der Rücksichtnahme, sc. daß "niemand den eigenen Organisatizusammenhang"; der Übernahmeakt könne des weiteren zu einer Herrschaft über die "Außengefahr" führen, wie bei den Verkehrssicherungspflichten. 284 AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnr. 38; ähnlich bereits Binding, Normen, Bd. II, S. 532 f.; 561 f.; vgl weiterhin Blei, in: H. Mayer-FS, S. 119 (137 f.); Sangenstedt, Garantenstellung, S. 265 f.; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 41 f. 285 Treffend Blei, in: H. Mayer-FS, S. 119 (137). 286 AKSxGB-Seelmann, § 13 Rdnr. 39. 287 S. Kindhäuser, Gefährdung, S. 43; ders., ZStW 103 (1991), 398 (404). 288 Jakobs, Strafrecht, 28/13 ff. u. 29/26 ff.; ähnlich Hüwels, Gesetzesvollzug, S. 121 ff.; AKStGB-Seelmann, § 13 Rdnr. 50, 98 ff.; Timpe, Strafmilderungen, S. 171 ff.; krit. aber Sangenstedt, Garantenstellung, S. 347 ff. (zu dessen Kritik s. noch unten § 10IV 7.). 289 Jakobs, Strafrecht, 28/14 u. bereits 7/56 ff.

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onskreis oder sonst einen von ihm verwalteten Organisationskreis ohne Rücksicht auf die Organisationskreise (anderer) ausdehnen soll", und den der institutionell garantierten Solidarität. Der erste Haftungsgrund liege den Garantenstellungen aus Ingerenz und Verkehrssicherung, aus bestimmten Formen der Übernahme sowie aus der "Organisationszuständigkeit zur Hinderung von Selbstverletzungen" zugrunde, stelle aber zugleich den Haftungsgrund der Herrschafts-Begehungsdelikte dar; der zweite liege den Garantenstellungen aus dem Eltern-Kind-Verhältnis und aus der Ehe (sowie deren Ersatzverhältnissen), des weiteren denen aus besonderem Vertrauen und aus genuin staatlichen Pflichtenstellungen zugrunde. Wird der zuerstgenannte Haftungsgrund näher betrachtet, so geht es um "Auswirkungen eines Organisationskreises auf andere" oder - umgekehrt formuliert - um die "Begrenzung des eigenen Lebenskreises"290. Den hiermit zentralen Begriff des "Organisationskreises" definiert Jakobs291 zum einen durch (Begehungs-) Handlungen, des weiteren über sächliche Entfaltungsmittel und schließlich über bereits vollzogenes Verhalten (Tun oder Unterlassen); im zuletztgenannten Falle bestimmen die potentiellen Wirkungen dieses Verhaltens den Umfang der Organisationszuständigkeit. Die Grenzen des Organisationskreises definiert Jakobs auch über die (rechtlich zugewiesene) Organisationsgewalt: "Soweit das notfalls per Notrecht durchsetzbare Recht auf ungehinderte Gestaltung geht, reicht auch der Organisationskreis"; insbesondere begrenze die Duldungspflicht aus § 34 Organisationskreise, und zwar unabhängig davon, ob der Duldungspflicht keine, eine eigene oder eine Handlungspflicht Dritter korrespondiere 292. Näheren und paradigmatischen Aufschluß über den Begriff des Organisationskreises gibt Jakobs' Darstellung der Verkehrssicherungs- und Ingerenzproblematik . Jakobs unterscheidet hier zwischen Sicherungsund Rettungspflichten. Die ersten seien dadurch begründet, daß der Garant für die innere Organisation unter Ausschluß der Zuständigkeit der in ihren Gütern bedrohten Personen zuständig sei 294 . Es gehe also um die 290 291

Jakobs, Strafrecht, 28/13 a.E. Strafrecht, 29/29.

292 Jakobs , Strafrecht, 7/63. - Beispiel (bei positivem Tun): Wer sein eigenes Fahrrad wegschließt, mit dem der Vater eines lebensgefährlich erkrankten Kindes zur Lebensrettung notwendige Medikamente holen will, haftet gem. § 212 (oder 222), ob ihn nun eine Hilfspflicht nach § 323 c trifft oder nicht. - Umgekehrt wird gesagt werden müssen, daß schädliche Auswirkungen in fremdem Organisationskreis jedenfalls dann abzuwenden sind, wenn hier ein Notstandsrecht Dritter gem. § 34 besteht. 293 Jakobs, Strafrecht, 29/29 ff. Jakobs, Strafrecht, 29/30. - Soweit Jakobs (aaO., 29/31) hier den Organisationskreis freilich auch durch jeden "Gefahr auslösender Organisationsakt" bestimmen will und hierin Fälle der Ingerenz sieht - Beispiele: Kauf oder Errichtung eines Hauses; Schaffung eines Marktmonopols; Okkupation eines herrenlosen Tieres -, so ist dem entgegenzuhalten, daß nicht der Organisationsakt die Gefahr auslöst, sondern das Unterlassen, Organisationspflichten wahrzunehmen (nicht die Errichtung des Hauses ist die Ursache seiner späteren Baufälligkeit, sondern dessen unterlassene Unterhaltung). 2*

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

Vermeidung schädlicher Außenwirkungen, und zwar - da es um eine "konkurrenzlose Zuständigkeit" gehe - ohne Rücksicht auf ein Verhalten dessen, der von der Gefahr bedroht werde 295 . Die Grenze der Zuständigkeit sei (erst) bei "sozialadäquaten" schädlichen Auswirkungen erreicht, insbesondere wenn fremde Organisationskreise selbst erfolgsbezogen organisiert oder (erst) von dritter Seite bedroht seien296. Werde freilich das "Sicherungspotential" eines fremden Organisationskreises ausgeschaltet, so gehöre dies (noch) zum Organisationskreis des Täters 297 . Umgekehrt sei es Inhalt der Sicherungspflichten, Risiken "bis hinab zum erlaubten Risiko" auszuschalten, ohne daß es darauf ankomme, ob die Gefahren "typisch" seien298. Bei den Rettungspflichten hingegen gehe es darum, die Realisierung von Gefahren abzuwenden, die an sich bereits den Organisationskreis Dritter erreicht hätten. Hier bedürfe es eines besonderen Grundes, "um die Pflicht des Sicherungspflichtigen ... bis in den fremden Organisationskreis hinein verlängern zu können". Die gängige Begrenzung der Rettungspflichten auf solche aus pflichtwidrigen Vorhandlungen 300 hält Jakobs für zu eng: Zwar beanspruche der rechts- und pflichtwidrig Handelnde stets einen besonderen Gebrauch seiner Freiheit, so daß der Aufwand zur Begrenzung der Folgen ihm eher anzulasten sei als dem (potentiellen) Opfer, in dessen Organisationskreis er mit dem Gebrauch der besonderen Freiheit einbricht; jedoch gebe es auch einen erlaubten Gebrauch besonderer, also die allgemeine Freiheit übersteigender Freiheit, und es bestehe kein Grund, den Begrenzungsaufwand dem Opfer 295

Jakobs, Strafrecht, 29/90. - Konkret: Auch gegenüber "trespassers" sollen Verkehrspflichten bestehen. Diese Ansicht ist immanent zweifelhaft, denn bei der Gestaltung seines Organisationskreises bedeutet die "Konkurrenzlosigkeit" auch, daß der Inhaber nicht damit rechnen muß, daß Dritte in diesen Kreis eindringen. 296 Jakobs, Strafrecht, 29/90 (u. bereits 7/60 ff.) mit den Beispielen: Ortsüblicher Laubfall muß auch dann nicht verhindert werden, wenn hierdurch des Nachbars Klimaanlage beschädigt zu werden droht. - Überquert ein Mörder auf der Suche nach seinem Opfer das Grundstück eines Dritten, so muß dieser nicht den Mörder aufhalten. 297

Jakobs, wie vorige Fn. - Freilich überzeugt das von Jakobs angegebene Beispiel nicht: Es soll, wenn ein Notarzt in eine Grube fällt und deshalb dem Patienten nicht helfen kann, der Verkehrssicherungspflichtige auch gegenüber dem Patienten Garant sein. Besser ließe sich der Gesichtspunkt des "eingeschränkten Sicherungspotentials" im Produkthaftungsbereich fruchtbar machen: Erfährt der Hersteller von einer Produktgefahr, die Verbraucher nicht kennen können, so muß er durch Warnung das fremde "Sicherungspotential" wiederherstellen. 298 Auch durch andere Personen vermittelte Gefahren seien auszuschalten, und zwar in folgenden Fällen (s. Jakobs, Strafrecht, 29/34 ff.): beim Inverkehrbringen (dritt-)gefährdender Gegenstände, deren allgemeine freie Verfügbarkeit nicht mehr im Rahmen des erlaubten Risikos liegt (z.B. strahlendes Material; Waffen; Gifte); bei Personen, die unter der Gewalt eines anderen stehen (Kinder, Strafgefangene - zweifelhaft, sofern Erwachsene und damit Vollverantwortliche in Frage stehen); insbesondere bei Betriebsinhabern mit Blick auf den Umgang mit gefährlichen Sachen und Handlungen im Rahmen des Betriebes. Jakobs, Strafrecht, 29/38. Auch hier geht es nach Jakobs nicht um "solidarisch(e) Hilfe", sondern um das "Einstehenmüssen für Konsequenzen der eigenen Organisation". 300 S. bereits oben § 8 III 2., 3.

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aufzubürden, das sich seinerseits nicht im Rahmen besonderer Risiken bewegt habe 301 . Bei Vorhandlungen im Rahmen des erlaubten Risikos folge mithin eine Rettungspflicht unter einer doppelten Voraussetzung: Das erlaubte Risiko müsse ein Verhalten mit "höherem Risiko sein als bei unumgehbaren alltäglichen Verhalten", und der Gefährdete müsse die ihm seinerseits obliegenden Sicherungen getroffen haben302. Indiz für das Bestehen eines derartigen "Sonderrisikos" sei das Bestehen einer zivilrechtlichen Gefährdungshaftung und Pflichtversicherung, aus denen folge, daß die in Frage stehenden Gefahren des Betriebs rechtlich nicht als Gefahren eines jeden Lebens gewertet werden 303. Weniger deutlich ist, was Jakobs mit dem der zweiten Haftungsgrund zugrundeliegenden Begriff der "Institution" meint. Auch Organisationsfreiheit und Folgenverantwortung seien in dem Sinne "institutionell", als sie ohne normative Ordnung - eben: der (rechtlichen) Freiheitsordnung - nicht gedacht werden können . Sie stellten aber "unspezifische" Institutionen dar, die allein negativ auf Trennung von Organisations- und Lebenkreisen gerichtet seien; demgegenüber sei mit Institution i.e.S. die positive Verbindung von Lebenskreisen, idealiter eine gemeinsam zu gestaltende Welt gemeint 30 . Daher seien keine Institutionen i.e.S. "isolierte" Pflichtenlagen wie z.B. die Schuldnereigenschaft bei § 370 AO; hier erschöpfe sich die Verbindung im "positiven Erhalt des Guts", sei also nur über die Pflicht definiert, während bei Institutionen ein "Bündel von Beziehungen" vorliege: Eltern würden nicht über die Pflicht definiert, Kinder nicht verhungern zu lassen, Beamten nicht über die, sich nicht bestechen zu lassen306. Derartige Institutionen i.e.S. seien dem Gesetzgeber vorgegeben, er könne allenfalls ihre Grenzen klären 307 . Freilich seien für Garantenstellungen und -pflichten nur solche Institutionen maßgeblich, die "elementares Gewicht"308 hätten, zu denen als - generell, nicht im Einzelfall - keine von der Gesellschaft zur Verfügung ge-

301 302

303

Jakobs , Strafrecht, 29/39. Jakobs, Strafrecht, 29/42.

Damit kann Jakobs die strafrechtliche Rückrufpflicht des Warenherstellers (vgl. BGHSt 37, 106) zwanglos begründen, da hier seit Erlaß des ProdHaftG v. 15.11.1989, BGBl. I 2198 (Umsetzung der EG-Produkthaftungs-Richtlinie v. 25.7.1985, AB1EG L 210 v. 7.8.1986, S. 29) eine304Gefährdungshaftung besteht. Jakobs, Strafrecht, 29/57 mit Fn. 114. 305 Jakobs, Strafrecht, 29/58; s. bereits 1/7. 306 Vgl. Jakobs , Strafrecht, 25/45 f.; weiterhin 6/91, 7/70. 307 Jakobs, Strafrecht, 29/28. - Umgekehrt meint Jakobs (aaO., 29/28 in Fn. 53), ohne auch - rechtliches Band seien Institutionen nicht denkbar. Die Institution als solche müsse rechtlich anerkannt sein, was nicht bedeute, daß sämtliche Pflichten positiviert sein müßten. 308 **

Ahnlich Hüwels , Gesetzesvollzug, S. 145 für die Garantenstellung von Amtsträgern, die dann bejaht wird, wenn in staatlichen Verfahren Leistungen zu erbringen seien, die für die Gesellschaft von "existentieller Wichtigkeit" sind. - Eingehende Darstellung und Kritik b. Sangenstedt, Garantenstellung, S. 362 ff.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

stellte Organisationsalternative bestehe. Allgemein garantieren Institutionen nach Jakobs nur einen "Mindeststandard"309. 7. Versuch einer Reformulierung der Lehre von Jakobs auf der Basis eines "klassischen" Legitimationskonzepts Eine eingehende Kritik der Lehre von Jakobs hat Sangenstedt vorgelegt 310 . Betreffend den ersten Haftungsgrund - der Organisationszuständigkeit - wirft Sangenstedt Jakobs vor, er nehme zwischen den Sicherungs- und den Rettungspflichten einen verdeckten Begründungswechsel vor: Habe die Gefahr "ein fremdes Herrschaftsterrain" erreicht, so sei der gem. § 13 maßgebliche Grund für die Gleichstellung von Tun und Unterlassen - nämlich: "speziell ... dem unmittelbar Interventionsmächtigen eine qualifizierte Pflichtenbindung aufzuerlegen" 311 - entfallen. Diese Kritik vermag aber nicht zu überzeugen: Erstens geht Sangenstedt hier von der - unrichtigen - Prämisse des Herrschaftsgedankens aus312 und unterstellt - unrichtigerweise -, es komme Jakobs auf "soziale Erwartungen" oder "Anschauungen"313 an. Zweitens aber geht es Jakobs gerade darum zu zeigen, daß in den Fällen der Rettungspflichten der Organisationskreis des Unterlassenden sich in den nur "an sich" - fremden des Opfers (oder Dritter) erstreckt. Betreffend den zweiten Haftungsgrund - der institutionellen Zuständigkeit - meint Sangenstedt, es sei zunächst der Begriff der Institution unklar 314 und insbesondere nicht von den "isolierten" Pflichtenlagen zu unterscheiden: Bei jedem Vertragsverhältnis sei ein "Bündel" von (Haupt- und Neben-)Pflichten gegeben, wie umgekehrt sich die institutionelle Bindung eines Feuerwehrmannes in der Garantie des positiven Erhalts von Gütern erschöpfe. Des weiteren sei aber das Erfordernis, es müsse um "elementare" Institutionen gehen, unscharf; insbesondere gelinge es Jakobs nicht, ein - sub specie Art. 103 Abs. 2 GG erforderliches - normatives Kriterium anzugeben. Tiefergehend ist gegen Jakobs einzuwenden, daß sein Legitimationskonzept auf einer system-funktionalen Grundlage beruht, bei welcher zweifelhaft ist, ob sie wirklich als Argumentation aus Rechtsprinzipien oder nicht vielmehr aus "policies" beruht; im letzteren Fall wäre die Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG problematisch315. Deshalb soll im folgenden der Versuch 309

So Jakobs, Strafrecht, 29/60 für das Eltern-Kind-Verhältnis; 29/63 für die Ehe; 29/67 für das besondere Vertrauen; 29/77 c für staatliche Fürsorge. 310 Sangenstedt, Garantenstellung, S. 350 ff.; Gegenkritik von Jakobs an Sangenstedt in Strafrecht, 29/76 in Fn. 153. - Vgl. weiterhin die Kritik von Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 141 ff., der freilich die Garantenlehre von Jakobs nicht wirklich rezipiert. 311

Sangenstedt, Garantenstellung, S. 352. S. oben §10 IV 4. zu (4).

312

313

So Sangenstedt, Garantenstellung, S. 351. Ebenso Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 146 f. 315 S. oben § 10 III 3. 314

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unternommen werden, die Lehre von Jakobs mit einem gleichsam "klassischen" Legitimationskonzept zu verbinden, und zwar getrennt für die Organisationsverantwortlichkeit (1) und diejenige kraft Institution (2). (1) Die Wendung von Jakobs: "Wer Handlungsfreiheit so gebraucht, daß ohne Aufwand Schäden bei anderen nicht vermieden werden können, soll den Aufwand tragen" 316 verweist darauf, daß einer der beiden theoretisch denkbaren Legitimationsansätze für Garantengebote und -pflichten ein freiheitstheoretischer ist. Dieser Ansatz wurde in bis heute vorbildlich klarer Form von Merkel entwickelt und liegt auch der modernen Lehre von Welp soweit sie dessen Abhängigkeits- und Vertrauensprinzip transzendiert - zugrunde. Merkel - dessen Kausallehre eine durchaus eigenständige317 Rolle spielte und über v. Hippel einen bis heute fortwirkenden Traditionsstrang der Garantenlehre begründet hat 318 - sah das "isolierte Nichthandeln" als für die Strafbarkeit stets ungenügend an, weil hier das Geschehen "von unserem gesamten Dasein unabhängig" wäre 319 . Allerdings wären zahlreiche positive Handlungen nur darum erlaubt, daß ihnen bestimmte andere Handlungen zur Seite gingen, nachfolgten oder vorangingen: "So ist die Übernahme der Obsorge für ein Kind oder einen Kranken, die Bewachung eines Feuers, die Leitung eines Schiffes oder eines Eisenbahnzuges, die Stellung eines Bahnwärters usw., Bestandteil eines mit den Zwecken des Rechts harmonierenden Vorgangs nur unter der Voraussetzung, daß dieser Handlung gewisse weitere Handlungen folgen, von welchen es abhängt, daß nicht aus jener verderbliche Wirkungen für andere sich entwickeln. In diesen anderweitigen Handlungen des Genannten liegen die ergänzenden Bedingungen der Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens" 320. Deswegen kam es für Merkel auf eine gesonderte Prüfung der Rechts-(Gebots-)widrigkeit beim unechten Unterlassen nicht an: "Wir bedürfen daher für die Pflicht zur Vornahme jener ergänzenden Handlungen keiner, außerhalb dieses Zusammenhanges liegender Begründung. Dieselbe hat ihr ausreichendes Fundament in den Eigenschaften 316

317

Jakobs, Strafrecht, 28/14.

Die Eigenständigkeit Merkels wird auch b. Brammsen , Entstehungsvoraussetzungen, S. 3673f., hervorgehoben. 18 Vgl. v. Hippel , Strafrecht, Bd. II, S. 163 und 164 mit Fn. 2; ders ., Lehrbuch, S. 111 ff.; sodann Mezger , Strafrecht, S. 143; und schließlich S/S , 9. Aufl. (1959), Vorbem. VI 1 b). 319 Merkel , Lehrbuch, S. 96 f. 320 Merkel , Lehrbuch, S. 111 f.; Herv. v. Verf. - Ganz ähnlich bestimmten §§ 3, 4 I 3 ALR: "Wer eine Handlung begeht, der übernimmt auch alle daraus folgenden Pflichten. Er ist also verpflichtet, alles zu tun, durch dessen Unterlassung die Handlung selbst unerlaubt würde." Für das Zivilrecht fand diese Lehre ihren partikulargesetzlichen Niederschlag in § 1486 sächsBGB, der lautete: "Die Verpflichtung zum Schadensersatz setzt eine Begehungshandlung voraus ... Die Verpflichtung ... tritt auch ein, wenn Jemand dadurch Schaden verursacht, daß er eine begonnene erlaubte Begehungshandlung nicht vollendet, obwohl er zur Vollendung verbunden war, oder zur Abwendung der schädlichen Folgen einer erlaubten Begehungshandlung ihm obliegende Vorsichtsmaßregeln zu treffen unterläßt"; vgl. hierzu Christian v. Bar , Verkehrspflichten, S. 8 m.w.N. in Fn. 16.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

des thätigen Verhaltens der betreffenden Personen, darin, daß das letztere ohne jene Ergänzung Verletzungen rechtlich geschützter Interessen und der diese Verletzungen betreffenden Verbote mit sich führt" 321. - Nun ist die hierin implizierte normentheoretische These, es verstieße der "unechte" Unterlassungstäter in Wahrheit gegen ein im Begehungstatbestand enthaltenes Verbot, nicht richtig 322. Auch ist längst bemerkt worden, daß Merkel Lehre von den "Bedingungen der Rechtswidrigkeit" in unauflösbare dogmatische Schwierigkeiten führt: Denn für die Schuldfrage bei einem vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikt muß nach Merkel entweder auf den Zeitpunkt der Vorhandlung rekurriert werden - bei welchem die (Vorsatz-)Schuld, wie Merkel selbst zugibt, nicht wirklich, sondern nur als "eventuelle" existiert 323 oder es muß der dolus subsequens anerkannt werden; darüber hinaus bleibt das Rechtswidrigkeitsurteil zur Zeit der Vornahme der Vorhandlung ganz in der Schwebe, denn abgesehen von dem Fall, in welchem der Täter zu diesem Zeitpunkt zur Unterlassung späterer rettender Handlungen entschlossen ist - ein Fall, der u.U. bereits als Begehungsversuch zu erfassen ist -, hängt die Rechtswidrigkeit davon ab, ob der Täter später die "ergänzenden" Handlungen unterlassen wird; ein derart bedingtes Schuldoder Rechtswidrigkeitsurteil ist aber eine dogmatisch unhaltbare Konstruktion 324 . Jedoch ist die Lehre Merkels als Legitimationsansatz - im Gegensatz zu den anderen, durchweg formalen Kausallehren - vollauf überzeugend: Merkel stellte nämlich einen überzeugenden Bezug zu dem Rechtsprinzip der wechselseitig verträglichen Abgrenzung von Freiheitssphären her, aus dem er einige überraschende - durchaus "moderne" - Schlußfolgerungen zog, insbesondere diejenige, daß nur - modern gesprochen - die Überschreitung des "erlaubten Risikos" eine Folgenverantwortlichkeit begründet: "Wenn ... die der Unterlassung vorausgehende Tätigkeit aller Voraussicht nach Interessen Dritter nicht gefährdet, wenn nach dem allgemeinen Maßstabe, nach welchem wir die Grenzen unserer Rechts- und Freiheitssphäre zu beurteilen haben, eine rechtliche Verantwortlichkeit sich in ihr nicht begründet, wie sollen da ihre Folgen den Handelnden zum Verbrecher stempeln können?"325 Diese Aussage ist dahin zu präzisieren - und war von Merkel auch (nur) so gemeint -, daß eine Vorhandlung, die unter der Voraussetzung der Vornahme der zu diesem Zeitpunkt zu fordernden weiteren Handlungen - welche ja die Bedingung der Rechtmäßigkeit der Vorhandlung darstellen - die Interessen Dritter aller Voraussicht nach nicht gefährden wird, eine spätere Handlungspflicht bei außergewöhnlichen Umständen 321 Merkel, Lehrbuch, S. 112 f.; vgl. weiterhin Merkel, Abhandlungen, Teil 1/1, S. 76 (89): "Allein die verbrecherische Urheberschaft begründet sich hier nicht in der Rechtspflicht, sondern umgekehrt die Rechtspflicht in der eventuellen verbrecherischen Urheberschaft." 322 S. oben § 3 I 2. 323 Merkel, Abhandlungen, Teil 1/1, S. 76 (84 f., 86 f.). 324 So Welp, Vorangegangenes Tun, S. 44; krit. auch Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 372 f. und bereits Landsberg, Commissivdelikte, S. 9. - Für eine "bedingte Rechtswidrigkeit" bei § 323 a aber Jakobs, Strafrecht, 10/2,17/61. "WS Abhandlungen, Teil 1/1, S. 76 (83); vgl. auch Lehrbuch, S. 115 f.

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361

(Erdbeben etc.) nicht auslöst 326 . Dies bedeutet umgekehrt, daß das erlaubte M a ß an Risiko zu jeder Zeit - also vor, während und nach irgendwelchen bestimmten Handlungen - aufrechterhalten werden muß; nur dann "harmonisiert" die Ausgestaltung des Lebensbereichs 327 mit den "Zwecken des Rechts": "(Es) ist gleichgültig, ob die betreffenden vorbeugenden M a ß nahmen (sc. des Chirurgen) der Operation selbst voranzugehen oder nachzufolgen oder zeitlich zur Seite zu gehen hatten" 328 . M i t h i n kommt es nach M e r k e l nicht entscheidend auf den Bezug zu einer Forhandlung an; hierin liegt der zutreffende Ansatz für die Begründung der Verkehrssicherungspflichten 329 . Auch W e l p 3 3 0 greift - unter ausdrückliche Bezugnahme auf Krug und Glaser - auf die Lehre von den erforderlichen "Sicherungsmaßregeln" als Bedingungen der Rechtmäßigkeit zurück. Diese Sicherungsmaßregeln teilt W e l p in "akzessorische" - also solche, die vor oder während der Handlung zu treffen sind, m.a.W. die Sorgfaltspflichten beim Fahrlässigkeitsdelikt - und "komplementäre" - also solche, die nach Vornahme der Handlung zu treffen sind, m.a.W. die Sicherungsgarantenpflichten beim unechten Unterlassungsdelikt - ein. I m Anschluß an Engisch 331 weist Welp nun darauf hin, daß es ganz von den "Umständen des einzelnen Falles" abhängt, ob akzessorische oder komplementäre Sicherungsmaßregeln getroffen werden können oder

326 Dies ergibt sich daraus, daß der Umstand, daß ein Haus ordentlich (!) erbaut ist oder ein Chirurg lege artis (!) operiert hat und deshalb an sich "nach aller Voraussicht Interessen Dritter nicht gefährdet", nach Merkel (Lehrbuch, S. 113) selbstverständlich nicht von der Pflicht entbindet, das Haus ordnungsgemäß zu erhalten oder die ärztliche Nachsorge zu betreiben. Vielmehr soll nur eine "nachträglich auf Grund einer zufälligen Verkettung von Umständen hervortretende Gefahr" die Einstandsverpflichtung nicht begründen (Lehrbuch, S. 115 f.; Herv. v. Verf.), wobei mit zufällig "nicht zurechenbar" gemeint ist. Mit Merkels mißverständlicher Formulierung beginnt eine verfehlte Entwicklung, die wohl darauf beruht, daß der Schuldvorwurf - wie bei Merkel explizit - auch auf die Korhandlung bezogen wird. Dies führt dazu, daß Umstände, die mit der Vorhandlung nicht in einem Fahrlässigkeitszusammenhang stehen, keine Garantenpflichten auslösen sollen, was dogmatisch und axiologisch nicht stimmt, s. sogleich im Text. 327 S. Merkel , Lehrbuch, S. 112, 116: Bau und Unterhaltung eines Hauses; Vornahme einer Operation einschließlich der Nachsorge. 328 Merkel, Lehrbuch, S. 113.

329

Ein weiterer bemerkenswerter dogmatischer Fortschritt Merkels läge in der Differenzierung zwischen den Polizei-Geboten (v.a. des Polizeistrafrechts) und den (nach seiner Ansicht die rechtswidrige Erfolgsverursachung bedingenden) gebotenen Begleit-Handlungen im Rahmen der unechten Unterlassungsdelikte: Die Polizei-Gebote dienten unmittelbar der Schadensprävention und nicht zur Begründung des im Rahmen der unechten Unterlassungsdelikte erforderlichen Kausalzusammenhanges, vgl. Lehrbuch, S. 115 u. bereits 114. Abgesehen von dem verfehlten dogmatischen Punkt der Kausalität ist hiermit bereits erkannt, daß die strafrechtlichen (Sicherungs-)Garantenpflichten strukturell und sachlich eigenständig im Verhältnis zu gesetzlich oder sonstwie vertypten öffentlich-rechtlichen Pflichten zu bestimmen sind. 330 Vorangegangenes Tun, S. 209 ff. 331 Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 294.

362

Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

müssen, daß sogar häufig von Rechts wegen Wahlmöglichkeiten bestehen332. Zur Legitimation "komplementärer" Sicherungsmaßregeln nimmt Welp darüber hinaus auf die von Esser begründete Lehre 333 vom "sozialen Zwang zur Gefahrenhinnahme" bezug. Diese Hinnahme sei ein "Gewaltverhältnis"334, das legitim nur bei Verpflichtung jedes eine - auch: erlaubte - Risikohandlung Vornehmenden zu "komplementären" Rettungshandlungen sei: "Wenn es aber auf Seiten der Gutsintegrität kein Komplement der Gefährdungserlaubnis gibt, so wird das Opfer von den Wirkungen eines riskanten Tuns qualitativ in derselben Weise wie von den Folgen eines fahrlässigen Tuns getroffen" 335. Auch beim erlaubten Risiko bestehe kein Eingriffsrecht, daher verbleibe ein Erfolgsunwert, der nur durch "komplementäre" Rettungspflichten im Sinne der "größtmögliche(n) Gutsintegrität" und des "'kompossiblen Maximum(s)' des Interessenausgleichs, der mit der Gefährdungserlaubnis erzielt werden soll" aufgefangen werden könne336. Der zuletzt genannten Ausweitung bei Welp - die sich bei Merkel nicht findet - ist allerdings im Anschluß an das oben zum erlaubten Risiko Ausgeführte 337 zu widersprechen. Ein "unerlaubtes Risiko" liegt genau dann vor, wenn das Gesamt-Risiko auch dann nicht Null ist, wenn ein (unter Berücksichtigung des Selbstverantwortungsprinzips und des Vertrauensgrundsatzes) obliegenheitsgemäßes Verhalten des Opfers bzw. Dritter vorausgesetzt wird; daher ist beispielsweise das Abstellen kochender Seifenlauge in der Nähe eines Kindes ein unerlaubtes Risiko, was nicht gilt, wenn die Seifenlauge in der Nähe eines (hinreichend aufmerksamen) Erwachsenen abgestellt wird. Ist das Gesamt-Risiko nicht Null, so liegt auch zugleich ein unerlaubtes Einzel-Risiko auf Seiten des für die Gefahr Verantwortlichen vor. In allen Fällen eines nach diesen Maßstäben erlaubten Einzel-Risikos kann aber eine Garantenpflicht freiheits- und verantwortungstheoretisch nicht begründet werden. Zu weitgehend ist auch der Ansatz von Jakobs338, nach welchem "erlaubte Sonderrisiken" - im Unterschied zu allgemeinen Lebensrisiken - auch dann eine Sicherungsgarantenstellung des für das Sonderrisiko Zuständigen begründen, wenn ein allseits norm- und obliegenheitsgemäßes Verhalten vorliegt. Gegen diese Auffassung ist einzuwenden, daß nach der hier vertretenen These, das erlaubte Gesamt-Risiko müsse (vorbehaltlich des schlechthin Unvermeidbaren) immer Null sein339, solche Konstellationen nicht denkbar sind. Nicht zu überzeugen vermag auch der Hinweis von Jakobs auf die in zivilrechtlichen Gefährdungshaftungstatbe332

S. das oben § 8 III 1. diskutierte Beispiel RG Rspr. 3, 641. Esser, Gefahrdungshaftung, S. 103. 334 So bereits Esser, Gefährdungshaftung, S. 99. Welp, Vorangegangenes Tun, S. 220.

333

336

3 3 7Welp, 338 3

Vorangegangenes Tun, S. 224. S. oben § 6 III. Strafrecht, 29/42; zust. AK-StGB-Seelmann, § 13 Rdnr. 117. S. oben § III 3.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

363

ständen (wie §§ 7 StVG, 1 HaftPflG, 1 ProdHaftG, 25 ff. AtomG, 84 A M G oder 33 LuftVG) enthaltene Sonderwertung des je gesetzten Risikos. Gefährdungshaftungstatbestände enthalten keine Verhaltensnormen 340, sondern aus dem Gedanken der "austeilenden Gerechtigkeit" herzuleitende Schadensverteilungsnormen 341. Insbesondere dispensieren Gefährdungshaftungstatbestände keineswegs davon, Risiken auszuschließen, wie die (freie) Konkurrenz zum zivilen Deliktsrecht (insbesondere zu § 823 BGB) zeigt; insoweit gilt immer noch der berühmte Satz des OAG München, daß die Konzession zum Betrieb einer Eisenbahn, die trotz unvermeidlicher Gefahren erteilt wird, nicht ausschließe, daß eine schädigende Handlung "vom rein zivilrechtlichen Standpunkt aus als eine unerlaubte qualifiziert werde" 342. Umgekehrt ist nach h A . eine Gefährdungshaftimg dann ausgeschlossen, wenn der Schaden auf schlechthin Unvermeidbares insbesondere auf Naturkatastrophen - zurückgeht 343. Damit passen sich die Gefährdungshaftungstatbestände ganz in die hier vertretene Auffassung von der Reichweite des unerlaubten Risikos ein: Es geht darum, einen unvermeidbar gefährlichen Lebensbereich als solchen zu erlauben, was mit Blick auf dessen Nützlichkeit legitim ist; zudem dispensieren die Gefährdungshaftungstatbestände von dem Haftütigskriterium der (auch nur: objektiven) Vermeidbarkeit, weil nur so die soziale Gesamtnützlichkeit anerkannt werden kann. Andererseits ist es aber zu eng, eine (zumindest objektiv) pflichtwidrige Schaffung eines unerlaubten Risikos zu verlangen, wie es die h.L. zur Garantenstellung aus Ingerenz tut 344 . Bei der Normlegitimation bleiben Vermeidbarkeits- und Erkennbarkeitsgesichtspunkte jedoch als (bloße) Zurechnungsgesichtspunkte außer Betracht 345. Wie auch der Norminhalt ex post festgestellt wird, wird die Frage, ob eine Gefahr bzw. ein unerlaubtes Risiko vorgelegen hat, ex post entschieden, und zwar nach dem Maßstab, ob in der gefährlichen Situation die Rechtsgutsverletzung von einem potentiellen Opfer hätte intentional vermieden werden können346. Deshalb trifft die Bemerkung von Lackner zu, die Pflichtwidrigkeit gebe den "Grund für die Haftung (sc. des Ingerenten) nicht zutreffend an"347. Ahnlich kann die Garantenstellung aus Ingerenz nicht deshalb abgelehnt werden, weil es an

340

Vgl. Deutsch , Haftungsrecht, Bd. I, S. 367. Larenz , Schuldrecht, Bd. II, S. 699. 342 Urt. v. 14.4.1861, zit. b. Christian v. Bar , Verkehrspflichten, S. 103. 343 S. § 1 Abs. 2 Satz 2 HaftPflG, § 7 Abs. 2 StVG; auch § 33 Abs. 2 LuftVG; RGZ101, 95; Larenz, Schuldrecht, Bd. II, S. 709. 341

344

S. nur LK-Jescheck , § 13 Rdnr. 33; ders., Lehrbuch, S. 565; Rudolphi , Gleichstellungsproblematik, S. 157 ff.; ders. in SK, § 13 Rdnr. 39; Schmidhäuser , Lehrbuch, 16/54; S/S-Stree, § 13 Rdnr. 35. 345 S. oben § 1IV. 346 Eingehend zu diesem praktisch-normativen Gefahrenbegriff oben § 8 III 3. 347 Lackner, § 13 Rdnr. 13; i.E. ebenso Freund, JuS 1990, 213 (216); Herzberg, JZ1986, 986 ff.; Jakobs, Strafrecht, 29/39; Rengier, JuS 1989, 802 (807).

364

Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

der Herrschaft über den Grund des Erfolgs 348 oder an hinreichend verfestigten sozialen Erwartungen 349 fehle. Insbesondere nach Schünemann stellt die Ingerenz einen "dubios-archaischen Kausalansatz" dar, der die strafrechtliche Zurechnung auf eine "primitive und mechanistische Grundlage" stelle350. Vielmehr sei eine "Veranlasserhaftung" im Strafrecht abzulehnen, weil es wegen des im Strafrecht geltenden Prinzips personaler Verantwortlichkeit einer "willentlich ergriffenen" und "aktuellen" Herrschaft über den Grund des Erfolgs bedürfe . Mit diesen Wendungen wird deutlich, daß Schünemann nicht hinreichend zwischen der Ebene der Zurechnung - welche in der Tat nach dem Prinzip der personalen Verantwortung vorzunehmen ist - und derjenigen der Normlegitimation und Normwidrigkeit unterscheidet; nach dem hier zugrundegelegten Normenverständnis ist aber (Verletzungs-)Kausalität sehr wohl geeignet, Normen zu legitimieren, und zwar ohne daß es (faktisch-sozialer) wechselseitiger Verhaltenserwartungen, die auf ex ante feststehende Personen bezogen ist, bedürfte 352. Mithin kann als das freiheitstheoretische Prinzip der Sicherungsgarantengebote festgehalten werden: Sicherungsgarantengebote entstehen als Preis der Einräumung von Handlungsfreiheit und beinhalten eine "Zuständigkeit" für unerlaubte Gesamt-Risiken, die aus der Wahrnehmung von Handlungsfreiheit folgen und nicht ausschließlich dem norm- oder obliegenheitswidrigen Verhalten eines anderen zugewiesen werden können, also zugleich ein unerlaubtes Einzel-Risiko durch den Garanten darstellen. Wahrnehmung von Handlungsfreiheit im bezeichneten Sinne kann nun einerseits durch ein Verhalten geschehen, das unerlaubte Risiken für andere setzt; hierin liegt der axiologische Grund der Garantenstellung aus Ingerenz. Aber auch ein Unterlassen kann sich als Wahrnehmung von Handlungsfreiheit darstellen: Wer sein Haus verfallen läßt, nimmt ebenso seine (Eigentums-)Freiheit wahr wie derjenige, der auf eigenem Grundstück Bauarbeiten vornimmt, wenn durch diese Verhaltensweisen Passanten gefährdet werden; hierin liegt der axiologische Grund der Garantenstellung aus Verkehrssicherung. Diese im Anschluß an Merkel entwickelte Lehre hat nichts mit der These zu tun, die Innehabung eines Rechts schaffe ipso iure Pflichten (sog. Kehrseitenargument). Dieses - aus der Grundpflichtendiskussion im Verfassungsrecht 353 geläufige - Argument wurde in der strafrechtlichen Dis348

So aber Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 317 ff. sowie auch Sangenstedt, Garantenstellung, S. 318 ff. 349 350 So aber Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 385 ff., zus.fas. 392. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 298, 317. 351 Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 317. - Eingehend zur Veranlasserhaftung im Zivilrecht und zu den strafrechtlichen Implikationen, welche van Gelder (Erfolgsabwendungspflicht, bes. S. 131) hieraus hergeleitet hat, Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 293 f. 352 S. bereits oben Fn. 244. 353 S. bereits Dürig, ZgesStW 109 (1953), 326 (334 ff., 337); eingehende Darstellung u. umf. Nachw. b. Maunz/Zippelius, Staatsrecht, S. 169 ff.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

365

kussion von Kissin354 und Böhm 355 aufgegriffen, wird heute noch insbesondere von Blei 356 vertreten und hat vor allem 357 bei der umstrittenen Garantenstellung des Hausrechtsinhabers eine Rolle gespielt358: Es soll aus den besonderen Abwehrbefugnissen des Art. 13 GG die Pflicht folgen, Straftaten in dem räumlichen Bereich, der dem Hausrecht (und dem Schutz des Art. 13 GG) unterliegt, zu verhindern. Hiergegen hat - teilweise zu Recht - Bärwinkel 359 eingewendet, es gebe kein Grund-Folge-Verhältnis Recht zu Pflicht, sondern es sei vielmehr umgekehrt so, daß zur Wahrnehmung auferlegter Pflichten Rechte eingeräumt werden; beispielsweise müsse der Polizeivollzugsbeamte die öffentliche Sicherheit und Ordnung garantieren und sei zur Erfüllung dieser Pflicht mit besonderen hoheitlichen Rechten ausgestattet. Gewichtiger ist der Einwand von Schünemann360, es bestehe zum einen der Schutz des Hausrechts bei dringenden Gefahren und damit bei unmittelbar bevorstehenden Straftat schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht, wie aus Art. 13 Abs. 2 GG erhelle, zum andern sei schlechterdings kein gesetzlicher Anhaltspunkt dafür ersichtlich, das Individual-Abwehrrecht des Art. 13 GG in eine Pflichtnorm umzudeuten. Dem hat sich der Bundesgerichtshof in seiner grundlegenden Entscheidung BGHSt 30, 391 (394 f.) angeschlossen: Das Kehrseitenargument zwinge "jeden Wohnungsinhaber ohne weiteres in die Rolle des Beschützers in seiner Wohnung befindlicher Menschen und in die einer Aufsichtsperson gegenüber denjenigen von ihnen ..., die andere in ihrer körperlichen Unversehrtheit angreifen, ohne daß hierfür eine alle gleichermaßen verpflichtende Rechtsgrundlage ersichtlich wäre und ohne daß der Wohnungsinhaber etwas anderes dazu beigetragen hätte als das Anmieten oder Innehaben seiner Wohnung"; hierin sei eine unzulässige Ausdehnung bloß sittlicher in rechtliche Handlungspflichten zu sehen. Freilich hat Landscheidt361 in seiner differenzierenden Auseinandersetzung mit dem Kehrseitenargument darauf hingewiesen, daß dieses einen "unbestreitbar

354

Rechtspflicht, S. 121. Rechtspflicht, S. 67 ff. 356 Strafrecht, S. 329. 357 Des weiteren spielt das Kehrseitenargument bei den Verkehrssicherungspflichten eine Rolle: Können diese aus der Pflichtenbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) hergeleitet werden? Nach der zutr. h A. ist der Satz "Eigentum verpflichtet" aber viel zu nichtssagend, um hieraus Garantenpflichten herzuleiten, s. nur Schiinemann , Unterlassungsdelikte, S. 254; Welp, Vorangegangenes Tun, S. 262. Auch nach der Gegenansicht von Landau (Eigentum, S. 115 ff. sollen die aus Art. 14 Abs. 2 GG herzuleitenden Verkehrssicherungspflichten auf Gefahrbeherrschungspflichten zu reduzieren sein; krit. hierzu Landscheidt , Garantenpflichten, S. 64 ff. 355

35Ä

Zum Problem Herzberg, Unterlassung, S. 332 ff.; LK-Jescheck, § 13 Rdnr. 44; SK-Rudolphi , § 13 Rdnr. 37; S/S-Stree, § 13 Rdnr. 54; zus.fas. die Dissertation von Landscheidt , Garantenpflichten, passim. 359 Garantieverhältnisse, S. 86 ff. 361 Unterlassungsdelikte, S. 362. Garantenpflichten, S. 58 f., s. auch 61 f. 360

366

Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

richtigen Kern" habe: Wenn Blei sage, der Genuß der dem Wohnungsinhaber gewährten Abwehrbefugnisse sei mindestens auf Dauer nicht ohne die entsprechende Auferlegung von Erfolgsabwendungspflichten denkbar, so intendiere dies die Garantie der Existenz und des Erhalts des Freiheitsrechts; es handele sich um notwendige Schranken aus dem Gedanken der praktischen Konkordanz - in den Worten Welps: des "kompossibilen Maximums" - der Freiheitsrechte. Das Kehrseitenargument gestatte freilich keine Differenzierung nach dem je abzuwendenden Erfolg. - Die zuletzt genannte Kritik trifft zu und ist dahin zu präzisieren, daß das Kehrseitenargument der Sache nach nur haltbar ist, wenn der abzuwendende Erfolg Resultat eines unerlaubt gefährlichen Zustands ist, der auch dem Rechtsinhaber zuzurechnen ist. Ganz in diesem Sinne hielt der Bundesgerichtshof in der erwähnten Entscheidung Erfolgsabwendungspflichten nur dann für möglich, "wenn die Wohnung wegen ihrer besonderen Beschaffenheit oder Lage eine Gefahrenquelle darstellt, die er (sc. der Wohnungsinhaber) so zu sichern und zu überwachen hat, daß sie nicht zum Mittel für die leichtere Ausführung von Straftaten gemacht werden kann"362. (2) Daß aus Institutionen Garantengebote und -pflichten herzuleiten seien, ist in neuerer Zeit mit aller Schärfe von Gallas bestritten worden. Nach Gallas entstehen Garantengebote dann, wenn eine Vorhandlung des Garanten gegeben ist, durch welche Wohl und Wehe des zu garantierenden Rechtsguts in Abhängigkeit von dem weiteren Verhalten des Garanten geraten; hierin' kann eine Reformulierung des soeben entwickelten Haftungsgrundes der Wahrnehmung von Handlungsfreiheit erblickt werden 364. Dieser Haftungsgrund sei aber im wesentlichen der einzige begehungsgleiche. Zwar könne die Vorhandlung noch durch ein vor der Notsituation bestehendes existentielles Abhängigkeitsverhältnis ersetzt werden, wie es bei ElternKind-Verhältnis der Fall sei. Soweit die Rechtsprechung darüber hinaus Garantenpflichten aus Ehe, Angehörigkeit, enger Lebensgemeinschaft und anderen Institutionen anerkenne, werte sie unzulässigerweise moralische zu rechtlichen Pflichten auf. Wie Jakobs365 bemerkt hat, liegt dieser einschränkenden Auffassung die These zugrunde, daß außerhalb von durch Vorhandlungen begründeten Gefährdungs- und Abhängigkeitsverhältnissen "Nähe" stets eine moralische (und nie eine rechtlich-normative) Kategorie ist 366 . Hiergegen ist aber einzuwenden, daß die Herstellung von Gemein362

BGHSt 30, 391 (396). - Eingehend zur Inhalt und Grenzen der Garantenpflichten aus verantwortlicher Stellung in bestimmten Räumlichkeiten Landscheidt, Garantenpflichten, S. 73 ff. 363 Studien, S. 91 ff. 364

Allerdings mit dem Unterschied, daß Gallas (Studien, S. 78 ff.) die UbernahmeGarantenstellung als Fall der Wahrnehmung von Handlungsfreiheit, nicht als Sich-Begeben in die 3Institution des (faktischen) Vertrags, versteht. 65 Strafrecht, 29/28 in Fn. 53 zu (4). 366 Vgl. Gallas, Studien, S. 93: "Die 'Nähe* des Garanten zum geschützten Rechtsgut, auf die man sich dabei beruft, ist hier eine moralisch bedingte und grundverschieden von der, die

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

367

samkeit und Solidarität seit je her eine rechtliche Aufgabe gewesen ist, die von den rechtlichen Basis-Institutionen wie Familie, Ehe, Vertrag und Staat geleistet wird. Klärungsbedürftig - und abzuschichten von der Wahrnehmung der (Handlungs- und Organisations-) Freiheit - wird damit allerdings der Begriff der Institution367. Institutionen sind Handlungsrahmen, durch die Möglichkeiten, sich in bestimmter Weise zu verhalten, erst eröffnet werden. Beispielsweise kann "heiraten" nur derjenige, der in einer Gesellschaft lebt, welche die Institution Ehe kennt, "wählen" nur derjenige, der in einer Gesellschaft lebt, die sich in den Formen der Institution einer (im weitesten Sinne) demokratischen Staatlichkeit organisiert hat. Institutionen vermitteln zwischenmenschliche Interaktion und schaffen gemeinsame Lebensformen, stellen also gleichsam Mittlerinstanzen zwischen Individuum und Gesellschaft dar. Sie streben als Leitidee Gemeinsamkeit (und nicht, wie Freiheitssphären, bloße Trennung) an 368 . Kennzeichnend für Institutionen im Unterschied zu Organisationen ist es, daß es um vorgegebene und nicht oder nur bedingt zu gestaltende Normenkomplexe geht: Das Individuum ist einer Institution "unterworfen" 369. Diese "Unterwerfung" bedeutet nicht, daß die Mitgliedschaft in einer Institution stets zwangsweise oktroyiert wird: Niemand darf gegen seinen Willen zum Beamten ernannt werden oder muß heiraten 370; insoweit handelt er in Wahrnehmung von Handlungsfreiheit. Wer sich aber in eine Institution begibt, muß sie ihrem vorgegebenen Inhalt nach hinnehmen; insoweit ist er der Institution "unterworfen", ohne daß es darauf ankommt, mit welchen Intentionen und welchen Vorbehalten er sich in die Institution begeben hat. Hierin hegt ein weiterer wesentlicher Unterschied zur prinzipiell unbegrenzten Wahrnehmung von (Handlungs- und Organisations-)Freiheit: Wie eine Organisation zu gestalten sei, steht im Belieben des Individuums, sofern nur - wie soeben zu (1) dargelegt - schädigende Außenwirkungen verhindert werden 371.

wir mit der Abhängigkeit des Rechtsguts von der Schutzfunktion des Garanten meinen"; Herv. i. Orig. 367

Die folgenden Ausführungen rekurrieren auf die Darstellung b. Weinberber , Norm und Institution, S. 28 ff. - S. weiterhin Scheuch/Kutsch , Soziologie, S. 201 ff. mit umf. Nachw. zur soziologischen Diskussion. 368 Jakobs, Strafrecht, 29/58. 369

S. Dubiel, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV, Art. "Institution", Nr. 5; König, in: Fischer Lexikon Soziologie, Art. "Institution", S. 146. 3 0 Es trifft - entgegen Jakobs, Strafrecht, 29/58 mit Fn. 115 - nicht zu, daß "generell" keine Organisationsalternative zur Institution bestehen darf; es wird nicht generell erwartet, daß Menschen heiraten. 371 Zum Unterschied zwischen Organisation und Institution vgl. Scheuch/Kutsch, Soziologie, S. 222 m.w.N.

368

Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

An dieser Stelle ist nochmals372 und vertiefend auf die These einzugehen, daß institutionelle Garantenstellungen - insbesondere diejenige der Übernahme - letztlich auf einer durch freie Handlung - und damit durch Wahrnehmung von (Handlungs- und Organisations-)Freiheit gesetzten Gefahrerhöhung durch Schutzaufgabe Dritter begründet werden können. Konsequenzen dieser - besonders klar bei Jakobs entwickelten - Lehre sind es, daß bei der derivativen Übernahme vom ursprünglichen Garanten keine Garantenstellung des Übernehmenden entstehen sollen, wenn (erkennbar) der Garant seinen Pflichten nicht genügt hätte 373 und daß andererseits z.B. der Bergführer bei "schwerwiegendem Interesse" auch ohne tatsächliche Übernahme wegen der "faktischen Möglichkeit" der Gefahrvermeidung haften soll 374 . Deshalb soll der Bereitschaftsarzt "schon wegen der Ersetzung einer ansonsten effektiven Hilfe Garant" sein375. Insgesamt soll freilich nur eine Gefahrerhöhung von "rechtlich relevanter Dichte" genügen376. Es ist nun bemerkenswert, daß Jakobs die Gefahrerhöhung keineswegs von einer gefahrerhöhenden Disposition des Gefährdeten abhängig machen will: So soll der Bademeister auch Garant kraft Übernahme für diejenigen Badegäste sein, die von seiner Existenz nichts wissen377; es soll vielmehr genügen, daß der Bademeister nach einem objektiven ex ante-Urteil irgendwelchen effektiven Schutz Dritter verhindert hat 378 . Hier fragt sich freilich, warum die Verdrängung akzidentiell (und nicht pflichtgemäß) gewährter Hilfeleistung Dritter pflichtenbegründend wirken soll: Es kann so sein, daß der Schutz durch Dritte, von Anfang an nicht rechtlich garantiert ist3 . Umgekehrt ist nicht einzusehen, warum in den - praktisch nicht seltenen - Fällen alternativer und kumulativer Übertragimg von Schutzfunktionen auf mehrere Personen, beispielsweise auf mehrere Ärzte, vorbehaltlich des Vertrauensgrundsatzes Garantenstellungen nicht entstehen sollen380. Nicht haltbar ist es auch, die institutionell begründete Garantenstellung des Polizeivollzugsbeamten auf eine - etwa private Bürgerwehren oder Leibwächter verdrängende - Gefahrerhöhung zu stützen \ Die Garantenstellungen des Polizeivollzugsbeamten und des Leibwächters sind voneinander unabhängig; 372

S. bereits oben §19IV 5. Jakobs, Strafrecht, 29/47; zutr. a A. Herzberg , Unterlassung, S. 353 f.; SK-Rudolphi, § 13 Rdnrn. 59 f. 374 Jakobs , Strafrecht, 29/48 in Fn. 104. 375 Jakobs, Strafrecht, 29/47 in Fn. 102. 27 6 Jakobs, Strafrecht, 29/50; hiergegen Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 185. 377 Jakobs, Strafrecht, 29/49. 378 Ebenso Stratenwerth , Strafrecht, Rdnr. 1002; a.A. aber - nämlich gegen eine derartige Einschränkung - zutr. SK-Rudolphi, § 13 Rdnr. 59; Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 350 ff. 379 .. Ahnlich die Kritik b. Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 186 mit in Fn. 206. 380 Zutr. Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 187 in Fn. 214; a A aber Schultz, JuS 1985, 270 (273). 373

381

So aber insbes. Schultz, Amtswalterunterlassen, S. 161 mit Fn. 101; wohl auch Jakobs, Strafrecht, 29/48 in Fn. 105.

§ 10 Methodische und theoretische Probleme

369

daß die Erfüllung polizeilicher Aufgaben eine Gefahrschaffung durch Verzicht auf anderweitige Gefahrabwendungsmöglichkeiten sein soll, leuchtet nicht ein 382 . In all' diesen Fällen ist die angebliche Gefahrerhöhung erst vermittelt durch das (berechtigte und kontrafaktische) Vertrauen in die institutionell geforderte Solidarität; diese ist der unmittelbare Grund der Garantenstellung3®. Damit aber stellt sich in aller Schärfe die Frage, warum institutionell begründete Solidarität Garantenpflichten (und damit begehungsgleiche Haftung) begründen soll und welche Institutionen hierfür genügen sollen. Institutionen können in normative und /tea/institutionen unterteilt werden 384 . Normative Institutionen - wie das Rechtssystem als Ganzes, dessen Subsysteme (z.B. die Verfassung des Bundesrepublik Deutschland oder eines Bundeslandes) oder bestimmte rechtliche Institute (z.B. Eigentum, Erbrecht) - sind Systeme praktisch-normativer Informationen, insbesondere rechtliche Normensysteme, die grundsätzlich unabhängig von den Realien existieren, auf die sie sich beziehen: Eine Eigentumsordnung ist denkbar, auch wenn niemandem ein ihr unterworfener Gegenstand gehört. Hingegen sind bei Realinstitutionen (wie die Familie, die Bundesrepublik Deutschland als solche oder ein Bundesland als solches) die institutionellen Realien (wie die Familienmitglieder, das Staatsvolk, -gebiet sowie die Staatsgewalt) der Ausgangspunkt der Betrachtung; aus der Beobachtung der Funktion dieser institutionellen Realien ergeben sich in einer verstehenden Betrachtung die die Institution als solche kennzeichnenden normativ abgesicherten Gemeinschaftlichkeiten. Mit Hilfe dieser Unterscheidung kann nun aber der Weg von der formellen Rechtspflichtlehre hin zu einer "Materialisierung" der Garantenstellung neu gedeutet und zugleich eine erste Antwort auf eingangs 382

Ebenso Brammsen , Entstehungsvoraussetzungen, S. 187 in Fn. 214. S. bereits oben § 10 IV 5.; i.E. ebenso Blauth , "Handeln für einen anderen", S. 115; Brammsen , Entstehungsvoraussetzungen, S. 133, 184 ff.; LKrHeimann-Trosien , Einl. Rdnr. 184; Maiwald , JuS 1981, 473 (481 f.); Ulrich Mayer , Unterlassungsdelikte, S. 85; MeyerBahlburg , Unterlassungsdelikte, S. 70 f.; Stratenwerth , Strafrecht, Rdnr. 1002; wohl auch Otto, Grundkurs, S. 139. Tiefergehend kann aus sprachphilosophischer Sicht die Notwendigkeit einer institutionellen Begründung der Übernahme-Garantenstellung durch die Unmöglichkeit begründet werden, die Bindungswirkung eines Versprechens deduktiv aus der Tatsache (Äußerung) des Versprechens - ohne Bezugnahme auf eine (existierende) Institution - zu entwickeln. Einen solchen Versuch hat allerdings Searle (Sprechakte, S. 261 ff., bes. 264 ff.) unternommen, und zwar durch folgende Umformungsakte: (1) Jones hat geäußert: "Hiermit verspreche ich, dir, Smith, fünf Dollar zu zahlen. (2) Jones hat versprochen, Smith fünf Dollar zu zahlen. (3) Jones hat sich der Verpflichtung unterworfen, Smith fünf Dollar zu zahlen. (4) Jones ist verpflichtet, Smith fünf Dollar zu zahlen. (5) Jones muß Smith fünf Dollar zahlen. Hiergegen ist jedoch mit der h.L. einzuwenden, daß der Schritt von (3) zu (4) kein sprachlich-logischer, sondern ein auf Institutionen Bezug nehmender ist; vgl. nur Kutschera, Ethik, S. 29 ff. 383

384

Vgl. Weinberger , Norm und Institution, S. 31. 24 Vogel

370

Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

aufgeworfenen Fragen gegeben werden: Während die formelle Rechtspflichtlehre auf normative Institutionen (z.B. auf das "Gesetz" wie das Ehe- und das Familienrecht oder auf "Vertrag") abstellte, ist im wirklichkeitsbezogenen Strafrecht richtigerweise im Ausgangspunkt die wirklich gelebte Realinstitution entscheidend (z.B. die wirklich gelebte eheliche oder familiäre Lebensgemeinschaft, das wirklich in Funktion gesetzte Handlungsübernahmeverhältnis) 385. Allerdings können die hier zunächst nur außerrechtlich - nämlich in der sozialen Wirklichkeit bestehenden - institutionellen Solidaritätsgarantien nicht ohne weiteres und insbesondere nicht ohne einen genuin rechtlichen Schlußmodus als (straf-)rechtlich relevante Pflichtenlagen anerkannt werden 386 . Vielmehr können - allgemein gesprochen - nur "rechtlich anerkannte" Realinstitutionen zu einem "rechtlichen" Einstehenmüssen i.S.v. § 13 führen. Für das rechtliche Anerkanntsein ist das Bestehen einer der Realinstitution entsprechenden rechtlich-normativen Institution Voraussetzung387. Dies bedeutet freilich nicht, daß die Realinstitution stets zugleich in vollem (inhaltlichen) Umfang als rechtlich-normative Institution anerkannt sein müsse: Ebensowenig wie die strafrechtliche Einwilligung den - teleologisch aus zivilrechtsspezifischen Gründen wie der Rechtssicherheit im Geschäftsverkehr entwickelten - Wirksamkeitsvoraussetzungen einer zivilrechtlichen Willenserklärung unterliegt, ist beispielsweise (unbeschränkte) Geschäftsfähigkeit Voraussetzung für eine wirksame Übernahme. Auch hier ist Strafrecht zwar auf die ganze Rechtsordnung bezogen, aber nicht sekundär, sondern auto388

nom . Heikel ist freilich die Frage der Begehungsgleichheit der Garantenpflichten, die auf rechtlich anerkannten Realinstitutionen beruhen. Nach Jakobs sollen nur solche Institutionen genügen, welche "für den gesellschaftlichen Bestand von demselben elementaren Gewicht ... (sind) wie Organisationsfreiheit und Folgenverantwortung" 389. Wie diese Leitlinie konkretisiert werden könnte, hat insbesondere Hüwels 390 am Beispiel der Garantenstellungen der Amtsträger verdeutlicht. Neben dem allgemeinen Schutz "fiskalischer" Güter (etwa durch § 266 391 ) soll eine Garantenstellung dann in Betracht kommen, wenn und soweit "rechtmäßiges Verhalten (sc. des Amtsträgers) ein Verfahren darstellt, das einer als Rechtsgut des Individuums oder der Gesellschaft beschriebenen Funktionseinheit planmäßige 385

Ebenso im Ausgangspunkt die heute h.A.; vgl. nur Jakobs , Strafrecht, 29/28; Stratenwerth , Strafrecht, Rdnr. 996. 386 S. bereits oben § 10 III 2. a.E. 387

S. Jakobs , Strafrecht, 29/28 in Fn. 53 zu (7): "Was wären, ohne rechtliches Band gedacht, etwa Ehe, Polizei, Justiz etc.?" 388 S. bereits oben § 10 III 4. 389

390 391

Jakobs , Strafrecht, 29/58; sehr krit. hierzu Sangenstedt , Garantenstellung, S. 358 ff. Gesetzesvollzug, bes. S. 145 ff.; krit. Sangenstedt , Garantenstellung, S. 363 ff. Zur Untreue im öffentlichen Dienst Neye , Untreue, passim.

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Zuwendung erbringt"; schon hierdurch konstituiere sich eine Leistung als "unverfügbares Merkmal des Staates" und damit als von "elementarem Gewicht" im Sinne von Jakobs392. Daher sollen Garantenstellungen zum einen mit Blick auf diejenigen Staatsaufgaben anzuerkennen sein, die als werthafte Funktionseinheiten tatbestandlich erfaßt sind (wie z.B. die Landesverteidigung, §§ 109 ff., oder die Strafrechtspflege, §§ 258, 258 a); zum anderen mit Blick auf diejenigen "öffentlichen" Rechtsgüter, die notwendig durch den Staat bereitgestellt werden (wie z.B. in §§ 316 b, 317 und auch - mittelbar in §§ 315 ff. 9 3 ); schließlich in den Bereichen, in denen staatliche Verfahren einen gefährlichen Sachbereich ordnen (wie z.B. in §§ 64 BSeuchG, 40 SprengstoffG, 51 f. LMBG oder 148 GewO, jeweils i.V.m. den entsprechenden Vorschriften zum Erlaubnis-, Genehmigungs- oder Gestattungsverfahren). Während diese Konkretisierung im Bereich der Amtsträgerpflichten zu überzeugen vermag, treten Schwierigkeiten auf, etwa die Garantenstellungen aus Übernahme bzw. "besonderem Vertrauen" 394 auf diese Weise zu konstituieren 395: Bei "besonderem Vertrauen" ist die Schutzwürdigkeit dieses Vertrauens noch (eigens) begründungsbedürftig, zumal es (primär) die Aufgabe des Zivilrechts sein dürfte, enttäuschtes "besonderes Vertrauen" - etwa in eine vertragliche Übernahme - zu schützen. Als - freilich selbst konkretisierungsbedürftige - Leitlinie für strafrechtliche Relevanz von Institutionen im bezeichneten Sinne kann vielmehr angegeben werden, daß die Enttäuschung der (rechtlich anerkannten) Erwartung institutionell garantierter Solidarität kein bloß institutionsinterner, sondern ein die als rechtlich verfaßte gesellschaftliche Ordnung als solche betreffender, also institutionsexterner Konflikt sein muß 396 . Hierfür ist die "monopolartige" Zuweisung der solidarischen Aufgabe - etwa der Pflege und Erziehung von Kindern an die Eltern oder der präventiv-polizeilichen Gefahrenabwehr an staatliche Behörden - ein gewichtiges Indiz. Des weiteren liegt ein institutionsexterner Bezug bei solchen rechtlich anerkannten Institutionen vor, welche Drittschutz bezwecken (insoweit ähnlich den Grundsätzen von Handlungsfreiheit und Folgenverantwortung); dies betrifft etwa Fälle der derivativen Übernahme des Schutzes von Dritten (z.B. Kindermädchen) oder der Übernahme gegenüber der Allgemeinheit (z.B. private Hilfsdienste, Bereitschaftsarzt). Unter der Bedingung der rechtlich anerkannten Möglichkeit der Arbeitsteilung durch institutionelle Einbindung Dritter besteht aber ganz allgemein ein institutionsexternes Interesse an der Funktion dieser institutionellen Einbindung; hierdurch sind weite Teile der übrigen Übernahmegarantenstellungen begründbar.

392

HüwelSy Gesetzesvollzug, S. 148. S. Hüwels, Gesetzesvollzug, S. 172 f. 394 Hierzu Jakobs, Strafrecht, 29/67 ff.

393

395

Krit. auch Sangenstedt , Garantenstellung, S. 359 f. Ähnlich die Unterscheidung von Hsü, Garantenstellung, S. 244 ff. zwischen "offenen" und "geschlossenen" Beziehungen. 396

24*

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Festzuhalten ist allerdings, daß Reichweite und Inhalt institutionell begründeter Solidaritätsgebote nicht ein für allemal feststehen, sondern relativ zu der rechtlichen Verfassung einer Gesellschaft (und zu deren zugrundegelegten Rechtsprinzipien) entwickelt werden müssen und sich mit den Entwicklungen dieser Verfassung verändern. Während für die zuvor behandelten Sicherungsgarantengebote als "Preis" von Handlungsfreiheit nur vorausgesetzt wird, daß Handlungsfreiheit eingeräumt wird (und im übrigen die Reichweite der entsprechenden Pflichten eine Funktion der auftretenden Gefahrenpotentiale ist, die freilich mit technischem Fortschritt zunehmen oder sich differenzierter gestalten können), sind institutionell begründete Solidaritätsgebote wesentlich dynamischer. In diesem Zusammenhang ist neben dem bekannten Beispiel der Garantenstellung des nichtehelichen Vaters 397 - vor allem die Frage der Garantenpflichten aus Ehe - und zwar auch derjenigen Pflichten, die auf Obhut (Schutz) gerichtet sind - problematisch. Zu Recht weist etwa Jakobs398 darauf hin, daß durch die Eherechtsreform im Jahre 1976 (vgl. §§ 1564 ff. BGB) die Ehescheidung zur "formalisierten Kündigung" geworden und die Ehe damit eine bloße Organisationsalternative zu anderen Formen der Lebensgemeinschaft zwischen den Geschlechtern geworden sein könnte, so daß die Nichterfüllung ehespezifischer (Obhuts-)Pflichten außerhalb des Aspekts der Übernahme keinen institutionsexternen Konfliktsbezug mehr aufweisen und somit keine begehungsgleiche Haftung mehr begründen könnte.

V. Folgerungen ßr die Begehungsdelikte 1. Garantenstellung auch bei den Begehungsdelikten (Jakobs)? Nach Jakobs ist der Haftungsschnitt zwischen Pflichten kraft Wahrnehmung von (Handlungs- oder Organisations-)Freiheit und solchen kraft institutionell begründeter Solidarität der "material bedeutsamere" als derjenige zwischen Unterlassungs- und Handlungspflichten 399. Auch bei den Begehungsdelikten lasse sich nämlich die Unterscheidung zwischen Pflichten kraft Wahrnehmung von (Handlungs- oder Organisations-) Freiheit und solchen kraft institutionell begründeter Solidarität treffen; letztere lägen den (echten) Sonder(pflicht)delikten wie vor allem den (echten) Amtsdelikten, aber auch beispielsweise §§ 223 b, 266 zugrunde, erstere den meisten Begehungsverletzungs- oder -gefährdungsdelikten. 397

Verneinend noch RGSt 58, 168; bejahend dann aber RGSt 66, 71; vgl. weiterhin (bejahend) Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 157 ff.; S/S-Stree, § 13 Rdnr. 18; (differenzierend nach dem Kriterium, ob eine enge Lebensgemeinschaft mit dem Kind besteht oder nicht) Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 342 ff., 347 f., 357; verneinend Jakobs, Strafrecht, 29/62. 398 Strafrecht, 29/58 in Fn. 117. 399 Jakobs, Strafrecht, 7/71; ebenso Volk, in: Tröndle-FS, S. 219 (237).

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Aus dieser Einsicht leitet Jakobs nun eine überraschende Schlußfolgerung her, die eine materiale Aufrollung des Begehungsdelikts von der Unterlassungsseite her darstellt: Es müsse nicht nur der Unterlassungstäter, sondern grundsätzlich auch der Begehungstäter Garant sein400. Zwar ergebe sich hier in der Regel eine Garantenstellung schon der Begehung wegen (kraft Organisationszuständigkeit), dies sei aber keineswegs immer so, nämlich insbesondere nicht in Fällen des Abbruchs eigener Rettungsbemühungen401 sowie wegen des Regreßverbots in bestimmten Fällen, in denen der Erfolgseintritt allein dem Verhalten eines Dritten (oder des Opfers selbst) zugeschlagen werden könne. 2. Zur Rolle der Anwendungsangemessenheit bei den Begehungsdelikten Nun ist nach der hier vorgelegten Normenkonzeption die kategoriale und dogmatische Verschiedenheit von Tun und Unterlassen nicht zu bestreiten: Es würde die Aufrollung der Kategorien und der Dogmatik der Begehungsdelikte von den (unechten) Unterlassungsdelikten aus - etwa auf der Grundlage eines negativ-internen Handlungsbegriffs 402 - "die Dinge auf den Kopf' stellen403. Jedoch trifft der Ausgangspunkt von Jakobs material-axio logisch zu und liegt in der Konsequenz der methodischen Erkenntnisse von Freund 404 , wonach Begehungsgleichwertigkeit der legitimationstheoretische Schlüsselbegriff für die unechten Unterlassungsdelikte ist, die hier verwendeten Legitimationskriterien also auch bei den Begehungsdelikten aufweisbar sein müssen. Trotz dieser material-axiologischen Parallelisierung ist jedoch die Forderung von Jakobs, es müsse auch beim Begehungsdelikt eine Garantenstellung vorliegen, zu weitgehend. Werden die von Jakobs angeführten Fallgruppen näher betrachtet, so geht es um Fälle, die auch sub specie Garantenstellung durchaus problematisch sind: Wenn z.B. der Eigentümer eines Grundstücks seine Berieselungsanlage abstellt, so daß die Blumen auf einem tieferliegenden, zuvor von dem ablaufenden Restwasser der Berieselungsanlage profitierenden Grundstück verdorren 405, so wäre durchaus an eine Garantenstellung aus Ingerenz - jedenfalls unter Zugrundelegung des klassischen weiten Verständnisses der Ingerenz - zu denken. Ähnlich problematisch ist der von Jakobs genannte Fall des Arztes, der bei einem komatösen Patienten eine automatisch weiterlaufende (Intensiv-)Behandlung durch positives Tun (Abschalten der Geräte) abbricht; hier ist durchaus umstritten, wie weit die Garanten- und Behandlungspflicht reicht. 400 401

402 403

Jakobs, Strafrecht, 7/52 (ff.). Hierzu bereits oben § 3 III 3.

S. hierzu bereits oben § 3 III 2. S/S-Lenckner , Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 36. S. oben 10 II.

404

405

So das Beispiel b. Jakobs , Strafrecht, 7/61.

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Viertes Kapitel: Zur Legitimation von Garantengeboten

Der zutreffende Kern der Auffassung von Jakobs liegt vielmehr darin, daß die hier unter dem Oberbegriff der "(Anwendungs-)Angemessenheit" entwickelten Pflichtengrenzen 406 zwar beim Unterlassungsdelikt eine besondere Rolle spielen, da die Handlung, zu welcher der Garant verpflichtet ist, häufig nicht eindeutig bestimmt werden kann (was beim Begehungsdelikt anders ist), jedoch grundsätzlich die Anwendungsangemessenheit - insbesondere nach den Gesichtspunkten der Zumutbarkeit sowie des Vertrauens- und des Selbstverantwortungsprinzips - auch beim Begehungsdelikt die Verpflichtungswirkung der Verhaltensverbote begrenzt. Daher trifft es in dem Berieselungs-Fall zu, eine Haftung gem. § 303 abzulehnen, da der Grundstücksnachbar selbst für die Bewässerung seiner Blumen zu sorgen hat und nicht darauf vertrauen kann, dies werde der Nachbar übernehmen. In den Fällen des Abbruchs rettender Kausalverläufe in der praktisch relevanten Konstellation, daß ein Arzt eine (Intensiv-) Behandlung durch positives Tun abbricht 407, ist allerdings zu beachten, daß § 216 bei positivem Tun die Berücksichtigung des Selbstverantwortungsprinzips und des (wirklichen oder bei unrettbar komatösen Patienten mutmaßlichen) Willens des Patienten de lege lata ausschließt; daher kann hier nur eine verfassungskonforme Restriktion des § 216 (etwa unter Berufung auf das "Recht auf einen würdigen Tod", Art. 1, 2 Abs. 2 GG) weiterhelfen 408 .

406 407

408

S. oben §61. S. hierzu oben § 3 Fn. 129.

I.E. ebenso Bockelmann, Strafrecht des Arztes, S. 112 (ff.), 125 in Fn. 45; Jescheck, Lehrbuch, S. 546; Maurach-Gössel, AT 2, § 45 Rdnrn. 32 f.; Samson, in: Welzel-FS, S. 579 (601 ff.); Sax, JZ 1975,137 ff.; AK-StGB-Se