Wie Geschichten Geschichte schreiben: Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität 9783161526343, 3161526341

Neuere sprachphilosophische und literaturwissenschaftliche Einflüsse auf die Geschichtswissenschaft fordern zu neuen Lek

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Wie Geschichten Geschichte schreiben: Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität
 9783161526343, 3161526341

Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
Hinführung
I. Auf dem Weg zu einer Theorie von Faktualität und Fiktionalität
Frank Zipfel: Fiktion und fiktionales Erzählen aus literaturtheoretischer Perspektive
1. Fiktion – ein problematischer Begriff
2. Probleme und Ziele literaturtheoretischer Bestimmungen von Fiktion
3. Die Fiktivität von Geschichten
4. Die Fiktionalität des Erzählens
5. Fiktionales Erzählen und der Produktionszusammenhang
6. Fiktionales Erzählen und Rezeptionszusammenhang
7. Fiktionales Erzählen als institutionalisierte Praxis
Abstract
Literatur
Vera Nünning: Unzuverlässiges Erzählen als Paradigma für die Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen
1. Erzählungen als Medium der Sinnstiftung: Narrativität vs. Literarizität und die Unterscheidung in drei Achsen des Erzählens
2. Die Bedeutung institutioneller Rahmenbedingungen für die Differenzierung zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen fiktionalen und faktualen Erzählungen
3. Textuelle Merkmale für die Unterscheidung zwischen zuverlässigem und unzuverlässigem fiktionalem und faktualem Erzählen
4. Schlussbetrachtung: Die Differenzen zwischen faktualen und fiktionalen (un)zuverlässigen Erzählungen mit Blick auf deren Funktionen
Abstract
Literatur
Jörg Röder: Schreiben Geschichten (wahre) Geschichte? Fiktionalität und Faktualität, Fakten und Fiktives im Diskurs neutestamentlicher Exegese
1. Waghalsige Konstruktionen und garstige Gräben
1.1 Waghalsige Konstruktionen neutestamentlicher Exegese
1.2 Lessings garstiger Graben als Herausforderung
1.3 Waghalsige Konstruktionen und der garstige Graben als Chance
2. Ein aristotelischer Graben als Grundlage von Fiktionalitätsforschung
3. Fiktionalität und Faktualität in theoretischen Entwürfen neutestamentlicher Exegese
4. Verfasserfiktion
5. Fiktionalität und Faktualität in exegetischen Applikationen
6. Geschichten und (wahre) Geschichte(n)
Abstract
Literatur
II. Frühchristliche Texte in der Diskussion
Olaf Rölver: Der Blick des Begeisterten. Die Schrift als symbolische Form der matthäischen Jesuserzählung
1. Einführung
2. Kursorischer Gang durch das Matthäusevangelium
a) Prolog (Mt 1,1–17)
b) Vorgeschichte (Mt 1,18–2,23)
c) Erster Auftritt Jesu (Mt 3,13–17)
d) Jesus als besserer Schriftausleger (Mt 4,1–11)
e) Das Programm der Bergpredigt (Mt 5,17–20)
f) Jesu schriftkundige Selbstauslegung (Mt 11,2–6)
g) Jesu Kommen nach Jerusalem (Mt 21,1–17)
h) Fazit
3. Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ und das Matthäusevangelium
Abstract
Literatur
Felix Albrecht: Herodes der Große und der Kindermord zu Bethlehem (Mt 2,16–18) aus historischer und narrativer Perspektive
1. Der historische Kontext
2. Die Funktion der Perikope in ihrem narrativen Kontext
2.1 „Wo wird der Christus geboren?“
2.2 Der wahre König
3. Fazit
Abstract
Literatur
Thomas Schumacher: Zur narrativen Funktion der Taufe Jesu im Markusevangelium
1. Der historische Jesus und die Johannestaufe
2. Beobachtungen zur markinischen Fassung der Taufe Jesu
2.1 Zu den syntaktischen Konstruktionen von βαπτίζω Markusevangelium
2.2 Zur Semantik von βαπτίζω in Mk 1,9
3. Zur Semantik von βαπτίζω im griechischen Sprachgebrauch
4. Beobachtungen zur markinischen Verwendung von βαπτίζω κτλ
4.1 Die Verwendung von βαπτίζω und βαπτισμός in Mk 7,4
4.2 Die Verwendung von βαπτίζω und βάπτισμα in Mk 10,38f.
4.3 Die übrigen Belege für βαπτίζω, βάπτισμα und βαπτιστής
4.4 Weitere Beobachtungen zur markinischen Fassung der Taufe Jesu
5. Die Taufe Jesu als Chiffre für Tod und Auferstehung Jesu
5.1 Die Taufe Jesu und die christliche Wassertaufe
5.2 Kompositorische Auffälligkeiten des Markusevangeliums
5.3 Rezeptionsästhetische Perspektiven
5.4 Zur sukzessiven Entfaltung von βαπτίζω
6. Fazit
Abstract
Literatur
Susanne Luther: „Jesus was a man, … but Christ was a fiction“. Authentizitätskonstruktion in der antiken narrativen Historiographie am Beispiel lukanischer Gleichniserzählungen
1. ‚Parables‘ und ‚megaparables‘ – versus Historiographie?
2. Historiographie, Narratologie, narrative Historiographie: Eine Verhältnisbestimmung
3. Fiktionalitäts- und Faktualitätsindikatoren in Erzähltexten
4. ‚Parables‘ und ‚megaparables‘ – Fiktion oder Historiographie?
Abstract
Literatur
Ruben Zimmermann: „Augenzeugenschaft“ als historisches und hermeneutisches Konzept – nicht nur im Johannesevangelium
Prolog in der Antarktis
1. Der Verfasser des vierten Evangeliums als Augenzeuge?
2. „Augenzeugenschaft“ – eine ‚phänomenologische‘ Annäherung
2.1 Die Renaissance der „Augenzeugen“ in der neutestamentlichen Wissenschaft
2.2 Das erkenntnisleitende Interesse und Erwartungen bei der Suche nach Augenzeugen
2.3 Semantik und Funktion der Augenzeugenschaft
3. Kritische Rückfragen zum Konzept der „Augenzeugenschaft“
3.1 Die psychologisch-empirische Rückfrage: Sind Augenzeugen zuverlässig?
3.2 Die hermeneutische Rückfrage: Sind Augenzeugen objektiv?
3.3 Die historiographische Rückfrage: Ist das Augenzeugenkonzept ein Beweismittel in der Antike?
3.4 Die geschichtstheoretische Rückfrage: Was können die Augenzeugen eigentlich bezeugen?
4. Das vierte Evangelium als Augenzeugenbericht oder Erzählzeugnis?
4.1 „Augenzeugenschaft“ unter dem Kreuz (Joh 19,35)
4.2 Die Motive „Sehen“ und „Zeugenschaft“ im Johannesevangelium
4.3 Die Doppelkonditionierung des (Augen-)Zeugenmotivs im Johannesevangelium
Epilog am Äquator
Abstract
Literatur
Paul Metzger: Der Lieblingsjünger und die normative Kraft des Fiktiven. Kanonische Fiktionalität als fundamentaltheologisches Problem
1. Pseudepigraphie als fundamentaltheologisches Problem
2. Der Lieblingsjünger und die Autorität des Evangeliums
2.1 Der Lieblingsjünger als Fiktion
2.2 Der Lieblingsjünger als historische Gestalt
3. Die fundamentaltheologische Bedeutung der Schrift
Abstract
Literatur
Nils Neumann: Rhetorik des Schiffbruchs. Apg 27 als ἔκϕρασις zwischen Fakt und Fiktion
1. Die Darstellung des Schiffbruchs in Apg 27
2. Die Schilderung von Apg 27 als ἔκϕρασις
3. Die Wirkung der Anschaulichkeit
4. Die Wirkung der Schiffbruch-Schilderung auf das Publikum der Apostelgeschichte
Abstract
Quellen
Literatur
Sandra Hübenthal: Erfahrung, die sich lesbar macht. Kol und 2 Thess als fiktionale Texte
1. Faktuales und Fiktionales Erzählen in der Literaturwissenschaft
2. Faktuales und fiktionales Erzählen in der neutestamentlichen Exegese
3. Exemplarische Lektüre: Die Wahrnehmung von Kol und 2 Thess in der Sekundärliteratur
3.1 Der Zweite Thessalonicherbrief
a) 2 Thess als authentischer Paulusbrief
b) 2 Thess als Pseudepigraphie
c) 2 Thess als doppelte Pseudepigraphie
d) 2 Thess als pseudepigraphe Brieffiktion
3.2 Der Kolosserbrief
a) Kol als authentischer Paulusbrief
b) Kol als Pseudepigraphie
c) Kol als doppelte Pseudepigraphie
d) Kol als pseudepigraphe Brieffiktion
4. Ergebnisse und Ertrag
Abstract
Literatur
Peter-Ben Smit: Back to the Future. Aspekte der Pseudepigraphie des Titusbriefes und ihre Bedeutung
0. Einführung
1. Mögliche Beweggründe für Pseudepigraphie in der Antike
2. Das Profil des Titusbriefes
3. Die Beweggründe für die Pseudepigraphie des Titusbriefes im Kontext der antiken Pseudepigraphie
4. Zur Problematik der moralischen Einschätzung der Pseudepigraphie des Titusbriefes anhand der Ämterfrage
5. Überlegungen zum Profil der theologischen Kybernetik des Titusbriefes
Abstract
Literatur
III. Metadiskurse und Wirkungszusammenhänge
Martin Bauspieß: Die Pragmatik der Geschichte. Der Metadiskurs zur Geschichtsschreibung in neutestamentlicher Zeit und die Diskussion nach dem „linguistic turn“
1. „Linguistic turn“ und antike Geschichtsschreibung: Die Frage nach dem „Paradigma“
2. Lukian von Samosata als Repräsentant des historiographischen Paradigmas
3. Die Anwendung des historiographischen Paradigmas bei Josephus
4. Die narrativen Texte des Neuen Testaments
5. Die „Fiktionalität“ und die „Faktualität“ der neutestamentlichen Texte
Abstract
Literatur
Eckart D. Schmidt: Ein aufgeklärter Jesus in der Neuen Welt. Methode und Intention in den Bibelkompilationen Thomas Jeffersons: Historische Faktualität als Paradigma der Aufklärungsexegese?
1. Einleitung und Aufbau
2. Thomas Jefferson im Kontext seiner Zeit
2.1 Jefferson als Aufklärer und seine Religiosität
2.2 Religiöse Angriffe in der Präsidentschaftswahl von 1800/1801
3. Thomas Jeffersons Schriften zu „Jesus“
3.1 Der Syllabus
3.2 The Philosophy of Jesus
3.3 The Life and Morals of Jesus of Nazareth
4. Ein „historischer Jesus“ bei Jefferson?
5. Rezipierte Geschichte bei Jefferson: Methode und Intention
Abstract
Literatur
Autorenverzeichnis
Stellenregister
1. Altes Testament
2. Neues Testament
3. Außerbiblische Quellen des antiken Judentums
4. Außerbiblische christliche Quellen der Antike
5. Pagane Quellen
Personenregister
Sachregister

Citation preview

Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)

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Wie Geschichten Geschichte schreiben Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität herausgegeben von

Susanne Luther, Jörg Röder und Eckart D. Schmidt

Mohr Siebeck

Susanne Luther, geboren 1979; Studium der Ev. Theologie und Anglistik an den Universitäten Erlangen und Durham (GB); 2004 M. A. an der Universität Durham (GB); 2012 Promotion; derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz. Jörg Röder, geboren 1980; Studium der Ev. Theologie, Germanistik und Geschichte an der Universität Mainz; bi-nationales Promotionsverfahren an den Universitäten Mainz und Lausanne (CH); derzeit Assistent an der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Eckart D. Schmidt, geboren 1969; Studium der Ev. und Kath. Theologie, der Diakoniewissenschaft und Musik an den Universitäten London, Freiburg i. Br., Heidelberg und Mainz; 2009 Promotion; derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz.

e-ISBN PDF 978-3-16-153381-5 ISBN 978-3-16-152634-3 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Inhaltsverzeichnis Hinführung ............................................................................................. 1 I. Auf dem Weg zu einer Theorie von Faktualität und Fiktionalität Frank Zipfel Fiktion und fiktionales Erzählen aus literaturtheoretischer Perspektive .. 11 Vera Nünning Unzuverlässiges Erzählen als Paradigma für die Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen ....................................... 37 Jörg Röder Schreiben Geschichten (wahre) Geschichte? Fiktionalität und Faktualität, Fakten und Fiktives im Diskurs neutestamentlicher Exegese .................................................................. 59 II. Frühchristliche Texte in der Diskussion Olaf Rölver Der Blick des Begeisterten. Die Schrift als symbolische Form der matthäischen Jesuserzählung .... 111 Felix Albrecht Herodes der Große und der Kindermord zu Bethlehem (Mt 2,16–18) aus historischer und narrativer Perspektive ......................................... 139 Thomas Schumacher Zur narrativen Funktion der Taufe Jesu im Markusevangelium ........... 155

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Inhaltsverzeichnis

Susanne Luther „Jesus was a man, … but Christ was a fiction“. Authentizitätskonstruktion in der antiken narrativen Historiographie am Beispiel lukanischer Gleichniserzählungen ..................................... 181 Ruben Zimmermann „Augenzeugenschaft“ als historisches und hermeneutisches Konzept – nicht nur im Johannesevangelium ........................................................ 209 Paul Metzger Der Lieblingsjünger und die normative Kraft des Fiktiven. Kanonische Fiktionalität als fundamentaltheologisches Problem ......... 253 Nils Neumann Rhetorik des Schiffbruchs. Apg 27 als e;kfrasij zwischen Fakt und Fiktion .................................. 273 Sandra Hübenthal Erfahrung, die sich lesbar macht. Kol und 2 Thess als fiktionale Texte ................................................... 295 Peter-Ben Smit Back to the Future. Aspekte der Pseudepigraphie des Titusbriefes und ihre Bedeutung ...... 341 III. Metadiskurse und Wirkungszusammenhänge Martin Bauspieß Die Pragmatik der Geschichte. Der Metadiskurs zur Geschichtsschreibung in neutestamentlicher Zeit und die Diskussion nach dem „linguistic turn“ ..................................... 363 Eckart D. Schmidt Ein aufgeklärter Jesus in der Neuen Welt. Methode und Intention in den Bibelkompilationen Thomas Jeffersons: Historische Faktualität als Paradigma der Aufklärungsexegese? ........... 391 Autorenverzeichnis ............................................................................... Stellenregister ....................................................................................... Personenregister ................................................................................... Sachregister .........................................................................................

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Hinführung Der vorliegende Band geht auf die Jahrestagung der „Arbeitsgemeinschaft neutestamentlicher Assistenten und Assistentinnen an theologischen Fakultäten“ zurück, die von den Herausgebern des Bandes vorbereitet und durchgeführt wurde und vom 13.–15. Mai 2011 unter dem Thema „Frühchristliche Literatur im Spannungsfeld von Fiktivität, Fiktionalität und Faktualität“ an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfand. Die Tagung war interdisziplinär an der Schnittstelle von Bibelexegese und Literaturwissenschaft angelegt. Sie hatte zum Ziel, ausgehend von Parametern in Narratologie und narrativer Historiographie, die für neutestamentliche Texte relevant sind, die Kategorien von Faktualität und Fiktionalität sowie Faktizität und Fiktivität auf ihre Abgrenzbarkeit, Identifizierbarkeit und Aussagekraft für die neutestamentliche Exegese sowie das theologische Urteil zu prüfen. Dabei war es ein zentrales Anliegen, literaturwissenschaftlich-theoretische Überlegungen und Ansätze vorzustellen und anhand der Analyse konkreter Beispieltexte zu erproben. Der Band enthält die überarbeiteten und erweiterten Beiträge dieser Tagung sowie einige weitere Aufsätze und dokumentiert damit das auch über die Tagung hinausgehende biblisch-exegetische sowie literaturwissenschaftliche Interesse am Thema. Wenn mit dem Titel des vorliegenden Bands die Frage gestellt wird, wie Geschichten Geschichte schreiben, sollen insbesondere historiographischund narratologisch-methodologische, religionsgeschichtliche und rezeptionsgeschichtliche Aspekte zum Verständnis frühchristlicher Literatur als „Geschichtsschreibung“ differenziert werden. Neutestamentliche Texte lassen immer wieder den Anspruch erkennen, sich auf historische bzw. faktuale Ereignisse, Motive oder Personen zu beziehen und legen in ihrer spezifischen Darstellung unterschiedliche diesbezügliche Deutungspotenziale frei. Doch im Gegensatz zu den Rekonstruktionszielen der konventionellen historisch-kritischen Methoden sind sie unter Einsicht der unhintergehbar literarischen Verfasstheit von Geschichtsschreibung auch aus literaturwissenschaftlichem Blickwinkel auf die Kategorien von Fiktionalität und Faktualität zu analysieren. Dabei muss für jeden Text individuell das Deutungspotenzial ausgeschöpft werden, das sich aus der Einordnung in dieses Spannungsfeld ergibt. Mit dieser Perspektive geht es

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Hinführung

nicht um eine Überprüfung des Repräsentationswerts der einzelnen „Geschichten“ zur Darstellung historischer Ereignisse. Stattdessen schreiben die (historischen) „Geschichten“ (aktuelle) „Geschichte“ und werden erinnertes Medium eines christlichen identitätsstiftenden kulturellen Gedächtnisses. Dies lenkt zu den anderen beiden Aspekten der Frage über, wie neutestamentliche Geschichten Geschichte schreiben. Denn die „Geschichten“ des Neuen Testaments schreiben als Erzähltexte wesentliche Aspekte einer als Heilsgeschichte verstandenen „Geschichte“, schließen also in „Geschichte“ eine existentielle Deutungskategorie mit ein. Und schließlich spielt diese existentiell gedeutete „Geschichte“ nicht nur in der Vergangenheit; vielmehr hat die Rezeption der Literatur des neutestamentlichen Kanons über die Jahrhunderte hinweg auf unterschiedliche Weise je und je neu dazu beigetragen, dass sie bis heute als Sammlung sinnund gemeinschaftsstiftender Texte wahrgenommen wird. Alle diese Aspekte werden in den Beiträgen dieses Bandes unterschiedlich kombiniert bearbeitet: In der ersten Sektion sind verschiedene forschungsgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Ansätze zum Thema zusammengestellt, die zweite Sektion bietet Beiträge zur Anwendung der Kategorien Faktualität und Fiktionalität auf viele der neutestamentlichen Bücher bzw. Buchgruppen (in kanonischer Reihenfolge), die dritte Sektion ergänzt schließlich epochenübergreifende bzw. auslegungsgeschichtliche Perspektiven. Der Beitrag „Fiktion und fiktionales Erzählen aus literaturtheoretischer Perspektive“ von Frank Zipfel setzt mit der Unterscheidung von Fiktion und Fiktionalität ein und stellt – im Gegensatz zu textimmanenten und intentionalistischen Konzepten – ein kommunikationstheoretisches Modell vor, das fünf Beschreibungsebenen für das Phänomen Text einbezieht: Text-Struktur, Text-Produktion, Text-Rezeption und Kommunikationskontext. In Bezug auf narrative Texte kommt es durch die zusätzliche Unterscheidung zwischen Geschichte und Erzählung zu fünf Kategorien, Geschichte, Erzählen, Produktion, Rezeption und Kontext, die in fiktionalen Texten interagieren. In Bezugnahme auf diese einzelnen Theorieebenen werden die Besonderheiten literarischer Fiktion beschrieben und somit das Modell als ein Instrument zur Darstellung der spezifischen Konventionen der Kommunikationspraxis fiktionalen Erzählens vorgestellt. Ausgehend von literaturwissenschaftlichen Tendenzen der Nivellierung aller Differenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen benennt Vera Nünning in ihrem Beitrag „Unzuverlässiges Erzählen als Paradigma für die Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen“ das unzuverlässige Erzählen als ein Paradigma, das eine Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen möglich macht. Eine Differen-

Hinführung

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zierung in drei verschiedene Achsen des Erzählens dient dazu, die Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit von Narrationen einstufen zu können. Die Unterschiede zwischen zuverlässigem und unzuverlässigem Erzählen lassen sich unter zwei Perspektiven darlegen: bezüglich institutioneller Rahmenbedingungen und die Leseerwartung prägender Vorgaben und bezüglich paratextueller und textueller Signale. Dies ermöglicht es, die unterschiedlichen Funktionen von unzuverlässigem Erzählen in fiktionalen und faktualen Texten zu erschließen. Jörg Röder wirft in seinem Beitrag eine provokante Frage auf: „Schreiben Geschichten (wahre) Geschichte?“ Zur Diskussion dieser Frage plädiert er dafür, zunächst den Begriff der historischen Wahrheit durch ein theologisches Wahrheitsverständnis zu ersetzen. Damit kann der Lessingsche garstige Graben durch das Eintauchen in die Textwelt, die verbindende Basis der beiden Abgründe tief im Graben, als Chance begriffen werden. Nach einer theoretischen Einführung mit Blick auf die aristotelische Unterscheidung von Poetik und Historiographie erfolgt eine forschungsgeschichtliche Diskussion, die auf theoretische Auseinandersetzungen von Exegeten mit geschichts- oder literaturwissenschaftlichen Ansätzen, Überlegungen im Bereich der Verfasserfiktion und auf Applikationen verschiedener Aspekte von Fiktionalität und Faktualität innerhalb der Exegese eingeht. Röder verteidigt die These, dass die in frühchristlichen Geschichten transportierten theologischen Wahrheiten zeitlich nicht gebunden sind. Jede Geschichte sollte individuell und differenziert gedeutet werden, denn bei den Kategorien Historiographie und Dichtung handelt es sich um Pole eines breiten und weit gefächerten Kontinuums. Tiefergehende Betrachtungen einzelner Aspekte von Fiktionalität und Faktualität bieten in diesem Zusammenhang ein vielfältiges exegetisches Potential. Nach diesen theoretisch-methodologischen Beiträgen beginnt Olaf Rölver die zweite Sektion des Bandes mit Untersuchungen zu einzelnen neutestamentlichen Schriften. Seine Studie zum Matthäusevangelium mit dem Titel „Der Blick des Begeisterten. Die Schrift als symbolische Form der matthäischen Jesuserzählung“ setzt mit der Beobachtung ein, dass in keinem kanonischen Evangelium die „Schrift“ eine so zentrale Rolle spielt wie in diesem. Wieder und wieder weist der Autor des Evangeliums darauf hin, dass seine Erzählung über Jesus von Nazaret als „Erfüllung“ der Schrift zu verstehen sei, und führt den Nachweis, dass der in der Schrift enthaltene Wille Gottes mit den erzählten Taten und Worten Jesu übereinstimmt. In einem kursorischen Durchgang durch das Evangelium zeigt Rölver, in welcher Weise diese spezifische, „schriftgemäße“ Wirklichkeitswahrnehmung für die fiktionale Darstellung der Ereignisse prägende Kraft erhält. Diese hermeneutische Funktion der Schrift lässt sich erkenntnistheoretisch in Aufnahme der „Philosophie der symbolischen Formen“ Ernst Cassirers als

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Hinführung

„symbolische Form“ bestimmen. Die Schrift ist jene Weise menschlichen „Weltverstehens“, durch die für Matthäus im Blick auf die Jesusgeschichte Bedeutung entsteht. Einen weiteren Beitrag zum Matthäusevangelium legt Felix Albrecht vor. In seiner Studie „Herodes der Große und der Kindermord zu Bethlehem (Mt 2,16–18) aus historischer und narrativer Perspektive“ setzt er mit zwei Beobachtungen ein: Auf der einen Seite stehe die Charakterisierung Jesu als messianischer König und Davidssohn, dessen Herkunft aus Bethlehem prophetisch bezeugt sei, auf der anderen die Abstammung Jesu aus Nazareth. Albrecht verweist darauf, dass Matthäus beide Perspektiven mittels jener Erzählung in Einklang zu bringen suche: Die Verfolgung durch den als grausam geschilderten Herodes veranlasse die Heilige Familie zur Flucht nach Ägypten und anschließender Rückkehr nach Israel. Im narrativen Kontext des Evangeliums komme der Erzählung vom Kindermord demnach eine spezifische literarische Funktion zu: Sie motiviere den Ortswechsel von Bethlehem nach Nazareth und kontrastiere den Tyrannen Herodes mit dem „Friedefürst, Herr Jesu Christ“. Thomas Schumacher zeigt in seinem Beitrag „Zur narrativen Funktion der Taufe Jesu im Markusevangelium“, wie ein allgemein als historisch hochplausibel bewertetes Ereignis, nämlich die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer, jenseits aller Fragen zu ihrem historischen Anspruch in einem figurativen Sinne theologisch signifikant gedeutet wird. Schumacher gründet seine Argumentation auf Markus’ differenzierte Verwendung des Verbs bapti,zw sowie auf dessen Semantik. In Bezug auf Jesu „Taufe“ sollte, so Schumacher, bapti,zw besser von der Grundbedeutung ausgehend nicht i.S.v. „taufen“, sondern i.S.v. „in den Tod sinken“, „sterben“ gelesen werden. Er sieht diese Bedeutung durch Mk 10,38f. gestützt, wo wiederum von ba,ptisma gesprochen wird, und dort mit klarem Verweis auf Jesu Passion, sowie auch durch Röm 6, wo der Ausdruck „in den Tod ‚hinabgetaucht‘ werden“ i.S.v. „mit Christus sterben“ verwendet wird. – Bei einer „zirkulären“ Lektüre des Markus-Evangeliums, bei der dessen offenes Ende mit seinem Anfang verlinkt wird, kann die markinische Tauferzählung – gelesen als Vorausverweis auf Jesu Passion und Tod – als narratives Verbindungsstück zwischen Anfang und Ende des Evangeliums verstanden werden. Der Beitrag „,Jesus was a man, … but Christ was a fiction‘. Authentizitätskonstruktion in der antiken narrativen Historiographie am Beispiel lukanischer Gleichniserzählungen“ von Susanne Luther geht von J. D. Crossans Unterscheidung zwischen „parables“ (Gleichnissen) und „megaparables“ (Evangelien) aus und fragt nach Indikatoren der Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Texten. Auf einen Überblick über die neueren Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft seit dem linguistic turn folgt eine

Hinführung

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kurze Darstellung literaturwissenschaftlicher Ansätze, die eine Positionierung der neutestamentlichen Texte zwischen Fiktionalität und Faktualität bzw. Faktualitäts- oder Authentizitätkonstruktion ermöglichen. Es wird betont, dass die Einbindung fiktiver Inhalte und die Verwendung fiktionaler Erzählstrategien gerade für die antike Historiographie konstitutiv sind und nicht auf die Fiktionalität eines Textes schließen lassen. Vielmehr kann die Verwendung dezidiert fiktionaler Textelemente, wie z.B. der Gleichnisse Jesu, als Strategie der Authentifizierung dienen, die den umgebenden narrativen Kontext frühchristlicher Geschichtskonstruktion als Historiographie validiert. In seinem Beitrag „‚Augenzeugenschaft‘ als historisches und hermeneutisches Konzept – nicht nur im Johannesevangelium“ untersucht Ruben Zimmermann, ausgehend von der Figur des Lieblingsjüngers im Johannesevangelium das Motiv der „Augenzeugenschaft“, dem in der neutestamentlichen Forschung eine große historisch-überlieferungsgeschichtlich sowie hermeneutisch-theologische Bedeutung zukommt. Das erkenntnisleitende Interesse der Debatte um dieses aus der antiken Historiographie entlehnte Konzept liegt in der Wahrheitsfrage, d.h. in der Frage nach der Gültigkeit und Objektivität der im Neuen Testament überlieferten Ereignisse begründet. Unter dieser Perspektive werden dann die Erwartungen an den Augenzeugen als „Garanten der Wahrheit“ – seine Zuverlässigkeit, Objektivität, die Beweiskraft der Autopsie – kritisch beleuchtet und die narrative Konstruktivität aller Geschichtsdarstellung in Bezug auf die gegenwärtigen geschichtstheoretischen Debatten betont. Die folgende textbezogene Applikation auf das Johannesevangelium führt zu einer Deutung des Motivs der „Zeugenschaft“ als Element der literarisch-hermeneutischen Komposition des vierten Evangeliums, das dem übergeordneten Ziel dient, sowohl Verstehen vergangener Ereignisse wie auch gegenwärtige Sinnstiftung zu ermöglichen. Die Frage der Pseudepigraphie im Kontext theologischer Theoriebildung steht in einem weiteren Beitrag zum vierten Evangelium von Paul Metzger mit dem Titel „Der Lieblingsjünger und die normative Kraft des Fiktiven. Kanonische Fiktionalität als fundamentaltheologisches Problem“ im Fokus. Er handelt von der historischen Einsicht, dass manche Texte der Bibel nicht von den Autoren geschrieben wurden, die als Verfasser angegeben sind. Was bedeutet dies für die Verlässlichkeit der Texte und darüber hinaus für die der ganzen Schrift? Indem die Forschung zum Evangelium nach Johannes und dem „Jünger, den Jesus liebte“ untersucht wird, soll nicht nur Licht in die Entstehung des Evangeliums gebracht werden, sondern es soll die Konsequenz betrachtet werden, die die historische Forschung für den christlichen Glauben beinhaltet, der auf die Verlässlichkeit und die Autorität der Schrift angewiesen ist.

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Hinführung

Nils Neumann stellt in seinem Beitrag mit dem Titel „Apg 27 als e;kfrasij zwischen Fakt und Fiktion“ fest, dass die Schilderung vom „Schiffbruch des Paulus“ eine Menge von erzählerischen Details aufweist. Das gesamte Geschehen wird Schritt für Schritt unter Erwähnung sinnfälliger Einzelheiten dargestellt. Nach den Definitionen der antiken Rhetoriker Theon und Quintilian erfüllt die lukanische Szene damit die Kriterien, die für eine anschauliche Ausgestaltung (gr. e;kfrasij, lat. demonstratio) gelten. Gemäß der rhetorischen Theorie eignet sich die Anschaulichkeit einer Schilderung dazu, ihre Adressatenschaft in die Position von Augenzeugen zu versetzen. Der Seitenblick auf die Rhetorik erlaubt somit Schlussfolgerungen auf die Wirkweise von Apg 27: Durch die Anschaulichkeit der Szene können die Lesenden die Rettung (swthri,a) aus Seenot innerlich miterleben – unabhängig davon, ob das Beschriebene sich tatsächlich zugetragen hat oder nicht. Die beiden folgenden Beiträge beschäftigen sich mit neutestamentlicher Briefliteratur. In ihrem Beitrag unter dem Titel „Erfahrung, die sich lesbar macht. Kol und 2 Thess als fiktionale Texte“ prüft Sandra Hübenthal die Vermutung, dass die literaturwissenschaftliche Taxonomie Faktualität, Fiktionalität und Fiktivität in ihrer hermeneutischen Differenzierung in der Bibelwissenschaft bislang kaum Anknüpfungspunkte gefunden zu haben scheint. Dabei wird zunächst der literaturwissenschaftliche Diskussionsstand aufbereitet und mit dem Diskussionsstand in der Bibelwissenschaft abgeglichen. In einem zweiten Schritt werden mit Kol und 2 Thess exemplarisch zwei neutestamentliche Texte aus dem notorisch schwierigen Interpretationsfeld des deuteropaulinischen bzw. pseudepigraphen Schrifttums betrachtet. Die Forschungsfrage ist dabei, wie sich die Lektüre der beiden Briefe ändert und welche Chancen sich für die Auslegung der Texte ergeben, wenn sie konsequent nach den Kriterien literaturwissenschaftlicher Fiktionalitätstheorie gelesen werden. Peter-Ben Smit untersucht am Beispiel des Titusbriefes die Funktion der durch die Pseudepigraphie entstehenden doppelten Fiktion (in Bezug auf den Verfasser und die Adressaten des Schreibens) für das in dem Brief enthaltene kybernetische Anliegen. Für Smit schreibt Deutero-Paulus (= „Paulus“) die proto-paulinische Tradition auf kreative, innovative Weise weiter, da er die Bedeutung des („historischen“) Paulus für den Gemeindeaufbau anerkennt, er vertritt paradoxerweise aber selbst ein eher statisches Traditionsverständnis. „Paulus“ kreiert ein fiktives Gemeindebild der Vergangenheit, um seine eigene Gemeinde für die Zukunft zu formen. Ausführlich untersucht Smit in diesem Kontext auch Kriterien der moralischen Wertung von Pseudepigraphie in der spätantiken Welt, doch lassen sich diese aufgrund unzureichenden historischen Hintergrundwissens nur schwer auf Tit übertragen.

Hinführung

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Martin Bauspieß beginnt die dritte Sektion des Bandes mit seinem Beitrag „Die Pragmatik der Geschichte. Der Metadiskurs zur Geschichtsschreibung in neutestamentlicher Zeit und die Diskussion nach dem ‚linguistic turn‘“. Bauspieß arbeitet heraus, wie die präzise Fassung der erzähltheoretischen Kategorien „fiktiv“, „fiktional“ und „faktual“ für die Unterscheidung von Historiographie und Dichtung von Bedeutung ist. Im Gegensatz zu einem gegenwärtigen Trend der Forschung lassen sich Historiographie und Dichtung sehr wohl voneinander unterscheiden, wenn berücksichtigt wird, dass sich diese Unterscheidung auf die Pragmatik der Texte bezieht. Sie unterscheiden sich im Anspruch des Autors, „tatsächlich Geschehenes“ darzustellen oder eine „mögliche Welt“ zu entwerfen. Dass auch Geschichtsdarstellungen fiktive Elemente enthalten, macht sie deshalb noch nicht zu fiktionaler Literatur. Anhand einiger Hinweise zu Lukian von Samosatas „Wie man Geschichte schreiben soll“ und Josephus „Bellum Judaicum“ wird gezeigt, dass die für Geschichtsschreibung charakteristische Textpragmatik bereits in neutestamentlicher Zeit präsent war. Die neutestamentliche Erzählliteratur hingegen fügt sich dieser Textpragmatik – wie wieder im Gegensatz zu einem Trend der gegenwärtigen Forschung begründet wird – nicht ein. In der bewussten Durchbrechung der Grenzen zwischen Historiographie und Dichtung zeigt sich vielmehr die theologische Einsicht, dass die Geschichte Jesu rein historiographisch nicht darstellbar ist, weil sie die Geschichte Gottes in der Geschichte eines Menschen beschreibt. Eckart D. Schmidt legt schließlich mit seiner Untersuchung „Ein aufgeklärter Jesus in der Neuen Welt“ einen wesentlich exegesegeschichtlich orientierten Beitrag zu den Evangelienkompilationen Thomas Jeffersons (1743–1826), des dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, aus der Epoche der Aufklärung vor. Anliegen ist, Verständnis dafür zu erlangen, warum Jefferson als typischer Repräsentant aufklärerisch-kritischer Beschäftigung mit der Bibel überhaupt eine historisch-kritisch anmutende Darstellungsform für „seinen“ Jesus wählte. Schmidts Antwort: Das optimistische Zutrauen in die Leistungsfähigkeit historischer Kriterien machte historische Kritik zu einem nützlichen Paradigma der Zeit, doch die Konstruktion von Jesus als großem Morallehrer war nicht wirklich Ergebnis dieser historischen Kritik, sondern umgekehrt folgten die historischen Kriterien dem Bild des moralischen Jesus, von dem Jefferson schon vorgängig überzeugt war. Schmidt endet mit der Überlegung, ob der bekannte Projektionsvorwurf Albert Schweitzers gegenüber den Ergebnissen der historischen Jesusforschung nicht auch auf die jeweils angewandte Methodik ausgedehnt, gleichzeitig aber als Teil einer „engagierten“, jeweils epochenabhängigen, kontextuellen Bibellektüre der Zeit – hier der Aufklärung – verstanden werden sollte.

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Hinführung

Unser herzlicher Dank gilt zunächst den Referenten der Tagung sowie den ergänzend angefragten Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge. Wir danken zudem ganz herzlich Herrn Prof. Dr. Jörg Frey für die Aufnahme des Bandes in die 2. Reihe der „Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament“ sowie Herrn Dr. Henning Ziebritzki, Frau Katharina Stichling, Herrn Simon Schüz und Herrn Matthias Spitzner für die verlässliche und geduldige Begleitung und Betreuung des Bandes von Seiten des Verlags. Für Korrekturarbeiten und die Erstellung der Register danken wir den studentischen Hilfskräften Jakobine Eisenach, Lydia Vöhl und Niklas Hahn. Schließlich gilt unser besonderer Dank Herrn Prof. Dr. Ruben Zimmermann für seine ermutigende Unterstützung und die Begleitung des gesamten Publikationsprozesses. Mainz, im März 2015

Susanne Luther Jörg Röder Eckart D. Schmidt

I. Auf dem Weg zu einer Theorie von Faktualität und Fiktionalität

Fiktion und fiktionales Erzählen aus literaturtheoretischer Perspektive* Frank Zipfel

1. Fiktion – ein problematischer Begriff Wie alle (geistes)wissenschaftlichen Grundbegriffe ist Fiktion ein semantisch äußerst komplexes Konzept. Neben alltagssprachlichen Bedeutungen, die in der Regel mit etwas Erdachtem oder nur Vorgestelltem zu tun haben, wobei die Grenze zur Lüge nicht immer klar gezogen ist, finden sich unterschiedliche Verwendungsweisen in verschiedenen Disziplinen: Man spricht von mathematischen Fiktionen, von logischen Fiktionen, von juristischen Fiktionen und zuweilen werden auch naturwissenschaftliche Hypothesen als Fiktionen angesehen.1 Ohne genauer auf die Bedeutungsnuancen des Begriffs in den verschiedenen Wissenschaften einzugehen, kann man wohl behaupten, dass der den unterschiedlichen Konzepten gemeinsame Bedeutungskern offenbar in der Designation einer gewissen Differenz der so genannten Fiktionen mit der physischen, empirisch nachprüfbaren *

Die Ausführungen dieses Artikels beruhen in der Struktur und den Grundaussagen auf den Überlegungen meiner Dissertation (2001) und einem daraus entstandenen Aufsatz in der Zeitschrift compass (2001). Seither ist eine große Anzahl von Monographien und Aufsätzen zum Thema erschienen und die internationale Diskussion um das Phänomen der literarischen Fiktion wurde in unterschiedliche Richtungen weitergeführt. Insofern wären heute zu vielen Aspekten weitere Aussagen und Thesen zu berücksichtigen. Es würde jedoch den Rahmen dieses Artikels sprengen, die vielfältigen Veröffentlichungen, die inzwischen zu den verschiedenen Aspekten der literarischen Fiktion erschienen sind, aufzuarbeiten und zu diskutieren. Ich weise allerdings an verschiedenen Stellen in den Fußnoten auf neuere Publikationen und abweichende Vorstellungen hin, allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit. An einigen wenigen Stellen geht der vorliegende Artikel auch über die Thesen meiner früheren Arbeiten hinaus. 1 Zu ausführlicheren Fiktions-Typologien vgl. z.B. H. VAIHINGER , Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Neudruck der 9./10. Auflage Leipzig 1927, Aalen 1986, 25–123, oder den neueren Klassifizierungsversuch in P. LAMARQUE/S. H. OLSEN, Truth, Fiction, and Literature, Oxford 1994, 175–190.

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Wirklichkeit zu liegen scheint, unabhängig davon, ob diese Abgrenzung von der Realität als Kontrafaktum, als Nicht-Existenz, als bloß Ausgedachtes, als Erfundenes, als nur in Gedanken Vorhandenes, als Imaginiertes oder als Phantasieprodukt konzipiert wird.2 Allerdings – und das macht die Sache noch komplizierter – wird gerade diese Differenz zwischen Fiktion und Wirklichkeit von postmodernen Theoretikern vehement bestritten. So ist z.B. Aleida Assmann der Ansicht, dass „nicht die Differenz, sondern die Indifferenz zwischen Fiktion und Realität“3 das Datum sei, von dem heute ausgegangen werden müsse; und Marquard geht davon aus, dass „das Fiktive das Reale unterwandert, die Wirklichkeit sozusagen durchfiktionalisiert wird und der Unterschied des Wirklichen und Fiktiven sich auflöst“.4 Solche Thesen führen letztlich zu dem, was inzwischen allgemein als „Panfiktionalismus“ bezeichnet wird, d.h. zu der Aussage ‚alles ist Fiktion‘.5 Allerdings erscheint mir dieser Versuch, die Differenz zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion zu unterlaufen, als wenig erkenntnisfördernd, denn Eibl paraphrasierend kann man sagen: Wenn alles Fiktion ist, hat das Wort seine Bedeutung verloren, weil es durch keine Differenz mehr gehalten ist.6 Die philosophische These von der Fiktivierung oder Fiktionalisierung der Wirklichkeit wird m.E. für literaturwissenschaftliche Betrachtungen dann problematisch, wenn damit eine theoretische Parallelisierung zwischen der so genannten realen Welt (die ihrerseits als fiktiv entlarvt wird) 2 Ein solcher Zusammenhang ist auch den gängigen Lexikoneinträgen zu entnehmen. So lautet die englischsprachige Wikipedia-Bestimmung zur Zeit: „Fiction is the form of any work that deals, in part or in whole, with information or events that are not real, but rather, imaginary and theoretical – that is, invented by the author“ (http://en.wikipedia. org/wiki/Fiction [26.01.2014]). Im Petit Robert ist als Hauptbestimmung zu lesen: „Construction de l’imagination (opposé à réalité)“ (Petit Robert [Online-Publikation, 26.01.2014]; Hervorhebung F.Z.) und der deutsche Duden gibt an: „(bildungssprachlich) etwas, was nur in der Vorstellung existiert; etwas Vorgestelltes, Erdachtes“ (Duden online [Online-Publikation, 26.01.2014]). 3 A. ASSMANN, Fiktion als Differenz, in: Poetica 21 (1989), 239–260, 239. Assmann geht davon aus, dass „Fiktion als Differenz“ für ein „verabschiedetes Paradigma“ steht, das man nun aus der historischen Distanz analysieren kann (a.a.O., 240). 4 O. MARQUARD, Kunst als Antifiktion – Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive, in: D. Henrich/W. Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983, 35–54, 35. 5 Vgl. M.-L. RYAN, Panfictionality, in: D. Herman/M. Jahn/M.-L. Ryan (Hg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London 2005, 417f.; J. GIBSON, Fiction and the Weave of Life, Oxford 2007, 147–157. 6 Eibl formuliert im Hinblick auf den Begriff Text: „Wenn alles Text ist [...], dann hat das Wort ‚Text‘ [...] seine Bedeutung verloren, weil es durch keine Differenz mehr gehalten wird“, so K. E IBL, Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte – und ‚Das Warum der Entwicklung‘, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 21 (1996), 2–26, 3.

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und den fiktiven Welten literarischer Texte einhergeht. Dabei erscheint mir das Problem mit der vorgeblichen Ununterscheidbarkeit zwischen Wirklichkeit und Fiktion für den vorliegenden Zusammenhang relativ leicht lösbar. Es genügt, die dabei vermengten unterschiedlichen Redeweisen von Fiktion auseinander zu halten. Spricht man von Fiktion in Bezug auf Wirklichkeit, so spricht man von solchen allgemeinen erkenntnistheoretischen Einsichten, wie z.B., dass die Kategorien unserer Beschreibungssysteme vom Betrachter eher erfunden als vorgefunden werden, dass nur relativ zu einem Beschreibungssystem oder einer Theorie klärbar ist, was als Gegenstand oder Tatsache angesehen wird, oder dass es zur Beurteilung von Erkenntnissen letztlich keine von allen Beschreibungssystemen unabhängigen Daten oder Fakten gibt. Die Rede von Fiktion in Bezug auf Wirklichkeit bezieht sich also auf eine philosophisch-epistemologische Position bezüglich der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Erkennens und bezüglich der aus der Beantwortung dieser Frage abzuleitenden ontologischen Konsequenzen. Die These, dass Tatsachen oder Erkenntnisse gemacht und in gewisser Weise erfunden werden, besagt jedoch etwas fundamental anderes als die Rede davon, dass die Figuren oder Ereignisse in einem Roman nicht-wirklich und – in einem anderen und engeren Sinne – erfunden sind. Spricht man von der Fiktionalität literarischer Texte, dann geht es (nicht nur, aber immer auch) um die Frage, inwieweit mit dem in diesen Texten Dargestellten in denotativer Art auf eine vorgegebene Welt-Version Bezug genommen wird. Und die Welt-Version, auf die wir uns beziehen, wenn wir literarische Fiktion von Wirklichkeitsdarstellung abgrenzen, ist unser Konzept der Alltagswirklichkeit, ein Konzept, das wahrscheinlich schwer in allen seinen Facetten zu explizieren wäre, das selber ein Konstrukt ist, aber ein ziemlich stabiles Konstrukt, mit dem wir tagtäglich ganz gut leben.7

2. Probleme und Ziele literaturtheoretischer Bestimmungen von Fiktion Auch wenn man die dargestellten philosophisch-erkenntnistheoretischen Fallstricke umgeht und sich auf literaturtheoretische Herangehensweisen konzentriert, muss man feststellen, dass die Verwendungsweisen und Bestimmungsversuche des Terminus „Fiktion“ sehr unterschiedlich sind. Die7

Zu einer ausführlicheren Darstellung dieses Arguments vgl. F. Z IPFEL, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 2), Berlin 2001, 69–76.

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se Differenzen sind zum Teil auf unterschiedliche Herangehensweisen verschiedener Zweige der Literaturtheorie bzw. der Ästhetik zurückzuführen und auf die unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen, die für diese verschiedenen Schulen charakteristisch sind. Rein textimmanent ausgerichtete Theorien der Literatur versuchen, die Fiktionalität von Literatur an spezifischen Textmerkmalen festzumachen (z.B. an fiktionsspezifischen Erzählstrukturen);8 intentionalistische Konzepte versuchen, Fiktionalität in der Autorintention zu verankern; in rezeptionsästhetisch orientierten Herangehensweisen wird Fiktion als eine ausschließlich die Leser betreffende Verarbeitungsweise von Texten beschrieben. Alle diese Bestimmungsversuche haben ohne Zweifel ihre Berechtigung. Der Nachteil der einzelnen Theorieansätze besteht jedoch darin, dass sie das Phänomen der literarischen Fiktion durch ihre Konzentration auf einen bestimmten Aspekt dieses Phänomens immer nur partiell in den Blick bekommen. Ich habe deshalb in meiner Dissertation ein Erklärungsmodell vorgeschlagen, das auf einem aus kommunikationstheoretischen Überlegungen abgeleiteten Verständnis von Texten allgemein und von literarischen Texten im Besonderen beruht.9 In einem solchen Modell wird das Phänomen Text als ein komplexes Zusammenspiel von Produktion, Rezeption, Textstruktur und Kommunikationskontext beschrieben. Auf dieser Grundlage wird es möglich, die Erläuterung des Phänomens der literarischen Fiktion in vier verschiedene Erklärungszusammenhänge aufzugliedern: Text-Struktur, Text-Produktion, Text-Rezeption und Kommunikationskontext. Eine solche systematische Unterscheidung verschiedener Theoriezusammenhänge liefert als eine Art Theorie-Topologie den theoretischen Rahmen für das Projekt einer unterschiedliche Erklärungszusammenhänge sowohl differenzierenden als auch integrierenden Theorie literarischer Fiktion.10 Allerdings kommt auch dieses Modell nicht ganz ohne Einschränkungen aus. Die im Folgenden dargestellten Erläuterungen zum Phänomen der literarischen Fiktion beziehen sich erst einmal nur auf narrative Texte. Diese Einschränkung ist zum einen durch die wissenschaftliche Praxis bestimmt, die unter künstlerischer Fiktion zumeist nur narrative literarische Fiktion versteht, und zum anderen durch die Tatsache, dass die Komplexi-

8 Vgl. die Ansätze von K. HAMBURGER, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 31977; A. B ANFIELD, Unspeakable Sentences. Narration and representation in the language of fiction, Boston u.a. 1982 und mit Einschränkungen D. COHN, Signposts of Fictionality. A Narratological Perspective, in: Poetics Today 11 (1990), 775–804. 9 Vgl. ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 7), Kap. 2.1. 10 Vgl. zur Theorie-Typologie K. WEIMAR , On Traps for Theory and How to Circumvent Them, in: Stanford Literature Review 3 (1986), 13–30, 16.

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tät der Schreibweise Erzählen die Voraussetzungen für eine möglichst umfassende Erläuterung der Rede von Fiktion in Bezug auf Literatur schafft.11 Die Konzentration auf Narration führt zu einer weiteren Unterscheidung in Bezug auf den Erklärungszusammenhang Text-Struktur. Diese Beschreibungsebene wird im Hinblick auf eine differenzierte Betrachtung von Erzähl-Texten in die zwei Bereiche aufgeteilt, die der klassischen narratologischen Unterscheidung zwischen Geschichte (das, was erzählt wird) und Erzählung (die Art und Weise, wie erzählt wird) entsprechen.12 So erhält man anstatt der vier Beschreibungsebenen deren fünf: Geschichte, Erzählen, Produktion, Rezeption und Kontext. An die erzähltheoretische Unterscheidung zwischen Geschichte und Erzählung schließt sich eine terminologische Unterscheidung an: die zwischen fiktiv und fiktional. In deutschsprachigen Untersuchungen wird diese Unterscheidung heute allgemein wie folgt getroffen: „Fiktiv“ steht quasi synonym für „erfunden“, „nicht-wirklich“ und deshalb wird von fiktiven Geschichten, fiktiven Ereignissen oder fiktiven Figuren gesprochen; „fiktional“ bedeutet so viel wie „auf einer Fiktion beruhend“, fiktional ist also eine Darstellung, die sich nicht unmittelbar auf die Realität bezieht, und deshalb wird von fiktionalen Erzählungen oder fiktionalen Texten gesprochen.13 Daraus ergibt sich auch: Der Gegenbegriff zu fiktiv ist real, der Gegenbegriff zu fiktional ist faktual.14 Interessanterweise wird in den meisten literaturwissenschaftlichen Bestimmungen versucht, die Frage der Fiktivität, also die Erläuterung von Fiktion als Darstellung von Nicht-Wirklichem, zu umgehen, nicht zuletzt aus dem durchaus nachvollziehbaren Grund, den ontologischen Problemen, 11 Inzwischen werden auch Fiktionalitätskonzepte entwickelt, die auf die beiden anderen Großgattungen der Literatur, Lyrik und Drama, anwendbar sind, sowie solche, die Fiktionalität in einer transmedialen Perspektive betrachten. Vgl. K. L. WALTON, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge/London 1990; M.-L. RYAN, Fiction, Cognition and Non-Verbal Media, in: M. Grishakova/M.-L. Ryan (Hg.), Intermediality and Storytelling, Berlin 2010, 8–26; F. ZIPFEL, Lyrik und Fiktion, in: D. Lamping (Hg.), Handbuch Lyrik, Stuttgart 2011, 162–166; F. ZIPFEL, Fiction across Media. Towards a Transmedial Concept of Fictionality, in: M.-L. Ryan/J. Thon (Hg.), Storyworlds across Media, Lincoln 2014, 103–125. 12 Vgl. z.B. M. MARTÍNEZ/M. SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, Kap I.2. 13 Vgl. die entsprechenden terminologischen Festlegungen bei G. GABRIEL, Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991, 136; L. RÜHLING, Fiktionalität und Poetizität, in: H. L. Arnold/H. Detering (Hg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, 25–51, 29; ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 7), 19 oder A. KABLITZ, Kunst des Möglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion, in: Poetica 35 (2003), 251–273, 262. 14 Mit „faktual“ wird also eine sich auf die Wirklichkeit beziehende Darstellung bezeichnet.

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welche eine solche Bestimmung nach sich ziehen könnte, auszuweichen.15 Problematisch hieran erscheint mir jedoch, dass die Elimination der Erfundenheit aus der Fiktionstheorie dazu führt, dass zunehmend unklar wird, welche spezifische Bedeutung das Wortfeld Fiktion/Fiktionalität haben soll bzw. welche differenzierende Funktion diese Bezeichnungen erfüllen sollen, wenn das damit Bezeichnete nicht in irgendeiner Weise mit einer Bestimmung des Verhältnisses zwischen Darstellungen von Realem und Darstellungen von Nicht-Realem verknüpft ist. Zudem möchte ich die These vertreten, dass das Anliegen der meisten Fiktionstheorien (auch) darin besteht, das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu erläutern – wie auch immer beide Begriffe im Einzelfall definiert und miteinander in Verbindung gebracht werden. Fiktionstheorien versuchen m.E. in der Regel, etwas darüber auszusagen, wie und warum fiktionale Darstellungen ernst genommen werden (können). Diese Versuche können sich sowohl auf Aspekte der Produktion wie auch auf Aspekte der Rezeption beziehen. Das Hauptziel der meisten produktionsorientierten Fiktionstheorien ist die Abgrenzung der literarischen Darstellung fiktiver Welten von anderen Arten der Präsentation von Nicht-Wirklichem, z.B. von Präsentationen mit Täuschungsabsicht (alle Arten lügenhafter Darstellung) oder von Darstellungen, die Erfundenes zur mehr oder weniger direkten Welterkenntnis benutzen (u.a. wissenschaftliche Hypothesen). So können produktionsbezogene Fiktionstheorien oft als Entgegnungen auf den alten, zumeist auf Platon zurückgeführten Vorwurf, dass alle Dichter lügen, angesehen werden. In Bezug auf die Rezeption versuchen Fiktionstheorien zu erklären, warum Rezipienten sich mit Erfundenem, Nicht-Realem beschäftigen, warum sie Zeit, Energie und Emotionen an Fiktionen „verschwenden“. So wird mit der Erklärung der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung als make-believe-Spiel oder als Imaginations-Spiel der Grund gelegt für allgemeine Überlegungen z.B. zum besonderen Wert von Imaginationen, zur ästhetischen Illusion, zur Partizipation und Immersion und zu anderen (positiven oder negativen) Aspekten, die mit der Rezeption von fiktionalen Darstellungen verbunden sein kön-

15 Vgl. zu älteren Theorien, die Erfundenheit oder Nicht-Wirklichkeit als Bestimmungsaspekt für Fiktionalität ablehnen, ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 7), 167; zu neueren Aussagen vgl. G IBSON, Fiction (s. Anm. 5), 160; D. DAVIES, Aesthetics and Literature, London 2007, 44–48; A. BAREIS, Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der literarischen Fiktion als Make-Believe, Göteborg 2008, 55–63; J. GERTKEN/T. KÖPPE, Fiktionalität, in: S. Winko/F. Jannidis/G. Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin 2009, 228–266, 234–236; R. B UNIA, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin 2007, 138; R. W ALSH, The Rhetoric of Fictionality. Narrative Theory and the Idea of Fiction, Columbus 2007, 45.

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nen.16 Diese Anliegen der Fiktionstheorie setzen in der einen oder anderen Weise voraus, dass Fiktion etwas mit Nicht-Wirklichem zu tun hat.17

3. Die Fiktivität von Geschichten Spricht man von Fiktion in Bezug auf die Geschichte eines Erzähl-Textes, meint man damit, dass die dargestellte Geschichte nicht wirklich stattgefunden hat. Das Prädikat ‚ist eine Fiktion‘ besagt in diesem Fall, dass das geschilderte Geschehen nicht auf tatsächlichen Ereignissen beruht. Die erzählte Geschichte ist fiktiv, d.h. nicht-wirklich in Bezug auf das allgemein gültige Wirklichkeits-Konzept. Eine Geschichte wird im Allgemeinen als eine Ereigniskette („events arranged in a time-sequence“18) beschrieben; Ereignisse wiederum können über die Bestimmungsfaktoren Ereignisträger, Ort und Zeit näher bestimmt werden. In erster Näherung könnte man sagen: Fiktive Geschichten sind Geschichten über nicht-reale Ereignisträger, die an nicht-realen Orten zu nicht-realen Zeiten spielen. Die Aussage ist nicht ganz falsch: Fiktive Geschichten handeln in der Regel von nicht in der Realität existierenden Ereignisträgern (Figuren), sie spielen zuweilen an erfundenen Orten und die Zeitverhältnisse entsprechen nicht immer der uns alltäglich vertrauten Zeitkonzeption. Die Aussage ist aber auch nicht ganz richtig: In fiktiven Geschichten kommen oft reale Orte (Länder, Städte, Straßen, Häuser) vor, sie spielen oft in realen (vergangenen oder zeitgenössischen) Zeitkontexten und zuweilen wird auch von realen Personen erzählt. Fiktive Geschichten sind nie ganz und gar fiktiv. In einer differenzierten Beschreibung der Fik16 Vgl. hierzu auch: „A truly meaningful theory of fiction should be more than an instrument by which to sort out all texts into fiction and non-fiction: it should also tell us something about how we experience these texts, what we do with them, why we consume them, and why it is important to make a distinction between fiction and non-fiction. It should, in other words, have a phenomenological and a cognitive dimension“, so RYAN, Fiction (s. Anm. 11), 8. 17 Vgl. hierzu die Aussagen von Schaeffer: „Invented entities and actions are the common stuff of fiction, and for this reason the idea of the non-referential status of the universe portrayed is part of our standard understanding of fiction“ (J.-M. SCHAEFFER, Fictional vs. Factual Narration, in: P. Hühn u.a. [Hg.], Handbook of Narratology, Berlin 2009, 98–114, 105–106) und von New: „the notion of invention […] is part of the notion of fiction“ (C. NEW, Philosophy of Literature. An Introduction, London 1999, 48). Weitere Theorien, welche die Erfundenheit des Dargestellten an mehr oder weniger zentraler Stelle berücksichtigen, sind z.B. D. Cohns Unterscheidung der Nicht-Fiktion von der Fiktion mithilfe einer Referenzstufe des Geschehenen, auf das sich die erzählte Geschichte bezieht, oder Theorien, die sich mit fiktiven Welten beschäftigen (L. Doležel, C. Crittenden, R. Ronen, M.-L. Ryan) oder auch die Arbeiten von Blume und Schmid. 18 E. M. FORSTER , Aspects of the Novel, hg. v. O. Stallybrass, London u.a. 1974, 44.

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tivität von Geschichten müssen beide Gesichtspunkte berücksichtigt werden: zum einen die Tatsache, dass die Fiktivität einer Geschichte mit der Nicht-Wirklichkeit der Ereignisse zusammenhängt, zum anderen die Beobachtung, dass in fiktiven Geschichten auch Elemente aus der Wirklichkeit vorhanden sind. Diese beiden Aspekte sollen im Folgenden etwas näher beschrieben werden. Die Beschreibung der Nicht-Wirklichkeit einer Geschichte kann durch die Bestimmung der Art und Weise der Abweichung von der Wirklichkeit weiter differenziert werden. Man kann nicht-wirkliche Geschichten dahingehend unterscheiden, ob sie nach der geltenden Wirklichkeitskonzeption als möglich angesehen werden oder als nicht-möglich gelten. Fiktive Geschichten können zum einen solche Geschichten sein, die sich im Prinzip hätten ereignen können, sich jedoch nicht ereignet haben, und zum anderen solche, die sich deshalb nicht ereignet haben können, weil es nach den Gegebenheiten der Wirklichkeitskonzeption nicht möglich ist, dass sie sich ereignen. Kombiniert man die drei Bestimmungskomponenten von Ereignissen (Ereignisträger, Ort und Zeit) mit dem Gegensatzpaar Möglich/ Nicht-Möglich19 kommt man zu einigen Unterscheidungen, welche die Rede von der Nicht-Wirklichkeit der Geschichte im fiktionalen ErzählText präzisieren. Nicht-wirkliche Ereignisträger und Orte kann man in mögliche und nicht-mögliche unterscheiden, so z.B. sind menschliche Figuren mögliche Ereignisträger, sofern sie keine übermenschlichen Fähigkeiten besitzen; sprechende Tiere hingegen, intelligente Roboter oder das Aleph aus der gleichnamigen Erzählung von Borges sind nicht-mögliche Ereignisträger. Desgleichen sind W. Faulkners Yoknapatawpha County oder U. Johnsons Jerichow (aus dem Roman Jahrestage) mögliche Orte (man kann sie auf einer Landkarte mehr oder weniger genau situieren), K. Vonneguts Planet Tralfamadore (aus seinem Roman Slaughterhouse 5) und interstellare Raumschiffe aus Science-Fiction-Romanen gelten als nicht-mögliche Orte. Nicht-wirkliche Zeiten sind zugleich auch nicht-mögliche Zeiten. Zeiträume in der Zukunft sind erkenntnismäßig problematisch, weil wir im Allgemeinen davon ausgehen, dass die Zukunft nicht festgelegt ist und sich insofern nichts Bestimmtes darüber aussagen lässt.20 Zeitpunkte und Zeiträume, die mit der herrschenden Zeiteinteilung nicht übereinstimmen, wie z.B. zusätzliche Kalendertage oder auch Tage mit mehr als 24 Stunden, 19

Die Kategorie der Möglichkeit schließt im Prinzip das Wirkliche ein, da alles, was wirklich ist, zwangsläufig auch möglich ist. Wenn im Folgenden von möglich im Hinblick auf fiktive Entitäten gesprochen wird, ist damit jedoch nur das im Hinblick auf die Wirklichkeit bloß Mögliche gemeint, d.h. das, was möglich, jedoch nicht wirklich ist. 20 Auch von einem deterministischen Standpunkt aus stellt sich die Frage, wie es möglich sein soll, etwas über die Zukunft zu wissen.

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sind nach der gängigen Zeitkonzeption schlichtweg nicht möglich. Das gleiche gilt für Zeitverhältnisse, in denen die Zeit nicht linear abläuft, sondern z.B. Sprünge macht, oder Zeiträume sich wiederholen. Die Unterscheidung von möglichen und nicht-möglichen fiktiven Aspekten einer Geschichte erscheint literaturwissenschaftlich sinnvoll, um zwischen so genannten realistischen (im Sinne von: nach dem Wirklichkeitsmodell möglichen) und phantastischen Geschichten zu differenzieren. Allerdings zeigt sich beim Versuch der Ausformulierung dieser Unterscheidung noch einmal die grundsätzliche Problematik der Unterscheidung zwischen wirklich und nicht-wirklich sowie zwischen möglich und nichtmöglich. Die Zuweisung eines dieser Prädikate zu einem dargestellten Phänomen ist immer von der zugrunde gelegten Wirklichkeitskonzeption abhängig und damit auch vom jeweiligen historischen, kulturellen oder weltanschaulichen Kontext. Der zweite Aspekt, der bei der Betrachtung der Fiktivität von Geschichten eine Rolle spielt, ist nicht minder komplex. Ausgangspunkt ist hier die Beobachtung, dass fiktive Geschichten nie ganz und gar unwirklich sind. Geschichten, die in keiner Relation zu unserer Wirklichkeitskonzeption stehen, können wir uns überhaupt nicht vorstellen. Die Welt der Geschichte einer fiktionalen Erzählung, die so genannte fiktive Welt, basiert immer (wenn auch je nach Gattung in unterschiedlichem Maße) auf der Welt unserer Wirklichkeitskonzeption. Fiktive Welten sind, mit Eco gesprochen, „Parasiten“ der realen Welt.21 In der Fiktionstheorie wird versucht, den komplexen Zusammenhang zwischen der fiktiven Welt einer fiktionalen Erzählung und der realen Welt mit Hilfe von Überlegungen zu Rezeption und Interpretation fiktiver Welten zu rekonstruieren.22 Das Verhältnis zwischen der fiktiven Welt einer Erzählung und der realen Welt hat eine besondere Bedeutung für die Frage, welche Sachverhalte als Teil der fiktiven Welt angesehen werden können. Neben den Sachverhalten, die ausdrücklich in der Erzählung erwähnt werden (explizite fiktionale Wahrheiten), gehören zur fiktiven Welt einer Erzählung auch eine Reihe von Sachverhalten, die aus dem Erzähl-Text nur erschlossen werden können (implizite fiktionale Wahrheiten). Die Frage, nach welchen Konventionen implizite fiktionale Wahrheiten ermittelt werden können, ist eine grundlegende Frage für jede Interpretation einer fiktionalen Erzählung und

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Vgl. U. ECO, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. HarvardVorlesungen (Norton Lectures 1992–93), aus dem Italienischen von B. Kroeber, München/Wien 1994, 112. 22 Spätestens hier wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen verschiedenen Beschreibungsebenen eine heuristische ist und die verschiedenen Ebenen durchaus Berührungspunkte aufweisen.

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somit auch eines der meistdiskutierten Probleme der neueren Fiktionstheorie. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass fiktive Welten so nah wie möglich an der realen Welt angesiedelt werden, d.h. dass Leser nicht mehr Abweichungen von der realen Welt annehmen, als der Text ausdrücklich vorschreibt. Diese Konvention der Rezeption und Interpretation von fiktionalen Erzählungen wird zuweilen als „Realitätsprinzip“23 bezeichnet oder auch als „principle of minimal departure“: „This principle states that we reconstrue the world of a fiction [...] as being the closest possible to the reality we know. This means that we will project upon the world of the statement everything we know about the real world, and that we will make only those adjustments which we cannot avoid“.24

Ein grundsätzliches Problem entstünde bei der Anwendung dieses Realitätsprinzips auf fiktionale Erzähl-Texte aus einer anderen Epoche oder aus einem anderen Kulturkreis. Eine unreflektierte Verwendung könnte z.B. dazu führen, dass in die fiktive Welt einer Erzählung aus dem 18. Jahrhundert Sachverhalte aus der wirklichen Welt des 20. Jahrhunderts integriert würden. Deshalb soll in einem solchen Fall das Realitätsprinzip durch das Prinzip der allgemeinen Überzeugungen (mutual belief principle) ersetzt werden. „[T]he mutal belief principle [...] states that we ought to accept as true in the work-world any proposition which was mutually believed by artist and readers in the artist’s society […]“.25

Der Unterschied zwischen Realitätsprinzip und Prinzip der allgemeinen Überzeugungen beruht also wiederum auf der Berücksichtigung der historischen und kulturellen Bedingtheit und Variabilität dessen, was als Wirklichkeit aufgefasst wird. Anzumerken ist zudem, dass die Bedeutung der beiden Prinzipien für die Interpretation fiktionaler Erzählungen inzwischen kontrovers diskutiert wird; diese Diskussion, welche die adäquate Anwendung dieser Prinzipien betrifft, kann jedoch im vorliegenden Rahmen nicht im Einzelnen aufgerollt werden.26 Die Frage nach den Konventionen, welche die Inferenz impliziter fiktionaler Wahrheiten steuern, bleibt ohnehin ein äußerst komple23

Vgl. WALTON, Mimesis (s. Anm. 11), Kap. 4.4. M.-L. RYAN, Fiction, Non-Factuals, and the Principle of Minimal Departure, in: Poetics 9 (1980), 403–422, 406. Vgl. auch D. LEWIS, Truth in Fiction, in: American Philosophical Quarterly 15 (1978), 37–46; P. LAMARQUE, Reasoning to What is True in Fiction, in: Argumentation 4 (1990), 333–346. 25 U. MARGOLIN, The Nature and Functioning of Fiction: Some Recent Views, in: Canadian Review of Comparative Literature 19 (1992), 101–117, 110. 26 Vgl. F. ZIPFEL, Unreliable Narration and Fictional Truth, in: Journal of Literary Theory 5,1 (2011), 109–130, 109–117. 24

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xes und schwer beantwortbares Problem. Die konkrete Anwendung der erwähnten Prinzipien wird wohl durch Kriterien der Relevanz27 sowie Normen der Rationalität von Interpretationen28 geleitet. Zudem spielen Fragen der literatur- bzw. gattungsspezifischen Kohärenzerwartungen und Toleranzkonventionen eine wichtige Rolle: „For purposes of divining fictional truths there is no substitute for a good nose: a combination of imagination and common sense, leavened within limits by charity and informed by familiarity with the medium, genre, and representational tradition to which the work in question belongs as well as by knowledge of the outside world – all of this combined, of course, with sensitivity to the most subtle features of the work itself“.29

Hier wird deutlich, dass die Frage der Konstruktion fiktiver Welten nicht allein auf der Betrachtungsebene der Geschichte erläutert werden kann, sondern auch grundsätzliche Überlegungen zur Rezeption fiktionaler Erzähl-Texte umfasst. Insofern ist an dieser Stelle eine enge Verbindung der Erklärungsebene der Geschichte der fiktionalen Erzählung mit der Erklärungsebene der Textrezeption festzustellen.

4. Die Fiktionalität des Erzählens Die Fragen, die im Hinblick auf die Beschreibungsebene „Erzählung“ (also im Hinblick auf das Wie des Erzählens) gestellt werden müssen, lauten: Welche Auswirkungen hat die Fiktivität der Geschichte auf die Struktur fiktionalen Erzählens? oder Gibt es besondere Strukturen fiktionalen Erzählens? Man kann diese Fragen auf einer allgemein theoretischen Ebene und auf einer konkret praktischen Ebene stellen und beantworten. Interpretiert man die genannten Fragestellungen als allgemein theoretische, führt das in der Regel zur Analyse der Behauptungsstruktur von fiktionalen Erzählungen. Wie alle Erzählungen bestehen auch fiktionale Erzählungen zum größten Teil aus Behauptungssätzen. Es erschiene aber seltsam zu sagen, dass es der Autor selbst ist, der in der fiktionalen Erzählung etwas behauptet, denn sonst müsste man davon ausgehen, dass er Behauptungen aufstellt über Ereignisse, die sich nicht zugetragen haben, über Ereignisträger, die in Wirklichkeit nicht existieren.

27 Vgl. z.B. U. MARGOLIN, Nature (s. Anm. 25), 110; P. LAMARQUE, Fictional Points of View, Ithaca/London 1996, 61. 28 Vgl. T. KÖPPE, Prinzipien der Interpretation – Prinzipien der Rationalität. Oder: Wie erkundet man fiktionale Welten?, in: Scientia Poetica 9 (2005), 310–329, 323–326; T. KÖPPE, Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke, Paderborn 2008, 70–81. 29 WALTON, Mimesis (s. Anm. 11), 184.

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Erzähltheoretisch kann man das Problem dadurch lösen, dass man zwischen dem Autor und dem Erzähler unterscheidet und davon ausgeht, dass es nicht der Autor ist, der behauptet, sondern der Erzähler. Der Autor ist verantwortlich für den Text, weil er ihn produziert hat, aber der Erzähler zeichnet sozusagen verantwortlich für die Behauptungen. Die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler ist in diesem Zusammenhang als eine heuristische Annahme zu verstehen, von der man sich eine hilfreiche theoretische Beschreibung fiktionalen Erzählens verspricht. Der Erzähler wird in dieser Konstruktion als Teil der fiktiven Welt der Erzählung angesehen, und er äußert Sätze, die in Bezug auf diese fiktive Welt wahr sind bzw. wahr sein sollen, d.h. er erzählt eine Geschichte, die sich in dieser Welt ‚tatsächlich‘ zugetragen hat bzw. sich zugetragen haben soll.30 Der Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler entspricht dabei auf der Rezeptionsseite die Unterscheidung zwischen der dem Text eingeschriebenen Rezipientenrolle (Adressat31) und dem empirischen Leser. Diese Verdoppelung der produzierenden und der rezipierenden Instanzen führt des Weiteren zu einer Verdoppelung der Kommunikationssituation, d.h. zur Unterscheidung zwischen einer textexternen Kommunikation zwischen Autor und Leser und einer textinternen Kommunikation zwischen Erzähler und Adressat. So hat man in Bezug auf fiktionale Erzählungen auch von „kommunizierter Kommunikation“32 gesprochen.33 30

Im Falle eines so genannten unzuverlässigen Erzählers ist das Berichtete nicht unbedingt wahr in Bezug auf die fiktive Welt. Allerdings ist diese textinterne fiktive Welt das Beurteilungskriterium dafür, ob die in der Erzählung geäußerten Sätze wahr oder falsch sind. 31 Der Terminus Adressat ist in gewisser Weise eine Notlösung, weil das Deutsche keine dem englischen narratee oder dem französischen narrataire äquivalente Wortbildung hervorgebracht hat. 32 D. J ANIK, Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks. Ein semiologisches Modell, Bebenhausen 1973, 12. Weitere Hinweise auf ähnliche Formulierungen finden sich bei K. KASICS, Literatur und Fiktion. Zur Theorie und Geschichte der literarischen Kommunikation, Heidelberg 1990, 135 Anm. 50 und bei K. HEMPFER, Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100 (1990), 109–137, 122 Anm. 40. 33 Das Heranziehen der Autor-Erzähler-Unterscheidung zur Erläuterung von Fiktionalität wird inzwischen von einigen Theoretikern abgelehnt, besonders von solchen, die davon ausgehen, dass nicht in jeder fiktionalen Erzählung ein fiktiver Erzähler vorhanden ist bzw. dass es nicht in jedem Fall sinnvoll ist, einen solchen Erzähler vorauszusetzen. Vgl. z.B. B. GAUT, The Philosophy of the Movies: Cinematic Narration, in: P. Kivy (Hg.), The Blackwell Guide to Aesthetics, Malden 2004, 230–253; A. KANIA, Against the Ubiquity of Fictional Narrators, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 63,1 (2005), 47–54; K. THOMSON-J ONES, The Literary Origins of the Cinematic Narrator, in: British Journal of Aesthetics 47,1 (2007), 76–94; WALSH, Rhetoric (s. Anm. 15), Kap. 4; G. CURRIE, Narratives and Narrators, Oxford 2010; T. KÖPPE/J. STÜHRING, Against pannarrator theories, in: Journal of Literary Semantics 40,1 (2011), 59–80. Die Frage jedoch,

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Die textinterne Kommunikation kann nun in fiktionalen Erzähl-Texten auf unterschiedliche Art und Weise realisiert werden. Die Betrachtung dieser verschiedenen Realisationsmöglichkeiten liefert Antworten auf die zweite, konkret praktische Interpretation der Frage nach den spezifischen Strukturen fiktionalen Erzählens. Dabei lassen sich die unterschiedlichen Realisierungen der textinternen Kommunikation nach Art und Grad ihrer Übereinstimmung bzw. Abweichung von den Regeln und Bedingungen faktualen Erzählens beschreiben. In fiktionalen Erzählungen kann faktuales Erzählen simuliert werden, d.h. die Kommunikationsregeln faktualer Erzählhandlungen können eingehalten werden. In diesem Fall ist der fiktionale Erzähl-Text erzähllogisch nicht von einer faktualen Erzählung unterscheidbar. So ist man oft davon ausgegangen, dass homodiegetisches Erzählen34 sich zumeist an die Regeln autobiographischen Erzählens hält. D. Cohn z.B. meint, homodiegetisches Erzählen sei generell als autobiographischer Pakt innerhalb eines FiktionsRahmens zu verstehen, als „a discourse that mimics the language of a real speaker telling of his past experience“.35 Ein solcher autobiographischer Pakt wird oft von den Texten bereits auf der paratextuellen Ebene suggeriert, wenn z.B. wie bei Robinson Crusoe und vielen anderen Texten schon im Titel oder Untertitel behauptet wird, dass es sich bei dem Berichteten um historische Ereignisse handelt, die vom Protagonisten selbst niedergeschrieben wurden und allenfalls durch jemand anderen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.36 Allerdings wird man bei den meisten fiktionalen homodiegetischen Erzählungen sehr wohl Abweichungen von der Praxis autobiographischen ob und inwiefern es vernünftig ist, von erzählerlosem Erzählen zu sprechen, wird kaum abschließend beantwortbar sein; vieles hängt wohl vom jeweils zugrunde gelegten Konzept des Erzählens und des Erzählers ab. Vgl. z.B. G. M. W ILSON, Elusive Narrators in Literature and Film, in: Philosophical Studies 135.1 (2007), 73–88; B AREIS, Erzählen (s. Anm. 15), Kap. 3.3. 34 Ich verwende hier und im Folgenden die von Genette geprägten Begriffe, die sich auch international durchgesetzt haben: homodiegetisches Erzählen für Erzählungen, in denen der Erzähler eine Figur der erzählten Geschichte ist (Ich-Erzählung), heterodiegetisches Erzählen für Erzählungen, in denen der Erzähler keine Figur der erzählten Geschichte ist (Er-Erzählung). Vgl. z.B. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 12), 80–84. 35 COHN, Signposts (s. Anm. 9), 794. 36 Der Originaltitel von Daniel DEFOES Roman lautet: „The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, Of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pyrates. Written by Himself“. Und im Vorwort wird beteuert, dass es sich um „a just History of Fact“ handele und weiter: „neither is there any Appearance of Fiction in it“.

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Erzählens finden. Durchaus gängig ist z.B. eine das menschliche Erinnerungsvermögen übersteigende und nicht durch die Thematisierung von Erinnerungshilfen gerechtfertigte Detailfreudigkeit, insbesondere bei der Wiedergabe von Dialogen. So berichtet Adson von Melk, der Protagonist von Umberto Ecos Der Name der Rose, am Ende seines langen Mönchslebens von Ereignissen, die er als „blutjunger Benediktiner-Novize“ erlebt hat; sein Bericht umfasst minutiöse Detailschilderungen sowie die wörtliche Wiedergabe der schlagfertigen Antworten seines damaligen Meisters William, ohne dass eine Erklärung für ein solch übermenschliches Erinnerungsvermögen gegeben würde. In der Literaturgeschichte lassen sich unzählige homodiegetische Erzähler finden, die längst vergangene Begebenheiten mit der Distanzlosigkeit des unmittelbaren Erlebens beschreiben. Solche Abweichungen von der Logik faktualen Erzählens (so genannte fiktionspoetische Lizenzen) sind bei heterodiegetischen Erzählungen geradezu die Regel und unter dem Stichwort Perspektive oder Fokalisierung auch ausführlich beschrieben.37 Jeder Text, dessen Erzähler mehr Informationen vergibt, als in einem faktualen Text bereitgestellt werden können, beinhaltet solche fiktionspoetischen Lizenzen. Das geht von Erzählern, die davon berichten, was eine Figur allein in ihrem Zimmer tut, über solche, die auch die Gedanken einer oder mehrerer Figuren mitzuteilen wissen (interne Fokalisierung) bis zu so genannten allwissenden Erzählern, die potentiell alles über ihre Geschichte und ihre Figuren zu wissen scheinen. Die damit verbundenen Erzählstrategien scheinen insofern fiktionsspezifisch zu sein, als diese Art von Wissen jedem realen Erzähler von faktischen Ereignissen verwehrt bleibt. Allerdings lassen sich seit geraumer Zeit Texte finden, die behaupten, reale Geschichten zu erzählen, und trotzdem Techniken wie interne Fokalisierung benutzen. Ein klassisches Beispiel ist T. Capotes Buch In Cold Blood. A True Account of Multiple Murder and Its Consequences (1965). Capote erzählt eine wahre Geschichte über den sinnlosen Mord an einer Familie in der amerikanischen Provinz, über dessen Aufklärung und insbesondere über die Persönlichkeiten der beiden Mörder. Die Darstellung ist zum Teil intern fokalisiert und umfasst z.B. eine Schilderung der Mordszene sowie der Flucht der beiden Mörder, Ereignisse, bei denen Capote nicht dabei sein konnte. Man hat für diese Art von Roman die Bezeichnung non-fiction novel gefunden. Die Vermischung von realen Inhalten mit fiktionalen Erzählstrukturen ist jedoch keineswegs selbstverständlich, wie schon die paradoxe Bezeichnung ‚nicht-

37 Vgl. für eine erste Übersicht B. NIEDERHOFF, Focalization, in: P. Hühn u.a. (Hg.), the living handbook of narratology, Hamburg (http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/focalization, Zugriff am 27.01.2014).

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fiktionaler Roman‘ deutlich macht.38 So lässt sich auch beobachten, dass Autoren wie Capote in Vor- oder Nachworten erläutern, wie sie an ihre Informationen gekommen sind, und dass sie die ungewöhnliche Art der Präsentation ihrer realen Geschichte zumindest thematisieren, wenn nicht gar rechtfertigen.

5. Fiktionales Erzählen und der Produktionszusammenhang Wenn im vorigen Abschnitt die These aufgestellt wurde, dass der Autor zwar Behauptungssätze formuliere, aber damit in fiktionalen Texten keine Behauptungen aufstelle, weil er sonst die Unwahrheit sagen würde,39 dann stellt sich die Frage, was der Autor tatsächlich tut. Oder anders gefragt: Welche Sprachhandlung vollzieht der Autor eines fiktionalen ErzählTextes? Und: Welche Kommunikationsintention verfolgt der Autor mit einer fiktionalen Erzählung? Angemerkt werden muss bei der letzten Frage, dass, wenn fiktionstheoretisch von der Intention und damit von der spezifischen Absicht des Autors gesprochen wird, es sich dabei dann nicht um die Intention des Autors handelt, durch seinen Text bestimmte Inhalte oder gar eine bestimmte ‚Botschaft‘ zu vermitteln, sondern um die fiktionsspezifische Kommunikations-Intention des Autors. Eine der einflussreichsten Theorien hierzu hat der amerikanische Philosoph und Sprechakttheoretiker John R. Searle in seinem vieldiskutierten Artikel The Logical Status of Fictional Discourse von 1975 vorgelegt. Searles Lösung des Problems lautet wie folgt: Der Autor eines fiktionalen Textes macht keine ernsthaften Behauptungen, er gibt nur vor (pretends), Behauptungen zu machen. Er äußert zwar Behauptungssätze, aber ohne damit tatsächlich den illokutionären Akt40 des Behauptens zu vollziehen bzw. vollziehen zu wollen. Vorgeben, eine Behauptung zu vollziehen, bedeutet in diesem Zusammenhang ein So-Tun-Als-Ob, jedoch ohne Täu38

Die Bezeichnung ist paradox, weil die Bezeichnung Roman eigentlich die Fiktivität des Dargestellten besagt. 39 Vgl. hierzu auch Sidneys viel zitierte Aussage: „Now, for the poet, he nothing affirms, and therefore never lieth“, so P. SIDNEY, An Apology for Poetry, hg. v. G. Shepherd, London u.a. 1965, 123. 40 Zur Theorie der illokutionären Akte vgl. J. R. SEARLE, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge u.a. 1969. Für den vorliegenden Zusammenhang kann man „illokutionärer Akt“ mit „Sprachhandlung“ umschreiben. Die Kommunikationskonventionen legen fest, dass unterschiedliche Arten von illokutionären Akten mit jeweils spezifischen Äußerungsbedingungen verknüpft sind. Zum illokutionären Akt des Behauptens gehört u.a., dass der Sprecher von der Wirklichkeit und Richtigkeit des dargestellten Sachverhalts überzeugt ist, vgl. J. R. SEARLE, The Logical Status of Fictional Discourse, in: New Literary History 6 (1974–75), 319–332, 322.

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schungsabsicht: „to pretend to do or to be something is to engage in a perfomance which is as if one were doing or being the thing and is without any intent to deceive“.41 Zeitgleich entwickelt der deutsche Philosoph und Literaturtheoretiker Gottfried Gabriel eine in manchen Punkten ähnliche Theorie, in der er fiktionale Rede als Rede ohne Anspruch auf Referenzialisierbarkeit bestimmt.42 In gewisser Weise ähnlich erscheint auch die These von D. Weber, der meint, es sei zwar falsch zu sagen, dass der Autor die fiktiven Sachverhalte der erzählten Geschichte im Ernst behaupte, möglich sei jedoch, dass er diese Behauptungen im Spiel aufstelle.43 In den letzten 40 Jahren ist Searles Theorie ausführlich diskutiert und kritisiert worden. Die Darstellung dieser Diskussion und der einzelnen Kritikpunkte würde jedoch den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Darstellen möchte ich einen neueren Versuch der Erläuterung der fiktionsspezifischen Autorintention, der aus zwei Gründen besondere Beachtung verdient: Erstens ist er mit den erzähltheoretischen Ausführungen aus dem vorigen Abschnitt vermittelbar und zweitens verwendet er ein Konzept, das inzwischen einer der Zentralbegriffe in der internationalen Diskussion um Fiktion geworden ist: make-believe. Der Begriff make-believe wurde in den 1980er Jahren in die englischsprachige Literatur- und Fiktionstheorie eingeführt und wurde durch das 1990 erschienene und extrem einflussreiche Buch Mimesis as MakeBelieve des amerikanischen Philosophen K. Walton zu einem Schlüsselbegriff der internationalen Diskussion. Make-believe wird bei Walton als eine Art Spiel bestimmt. So wird mit make-believe die Haltung bezeichnet, sich selber bzw. die Gruppe, mit der man zusammen spielt, etwas glauben zu machen. In Analogie zum make-believe von Kinderspielen kann man die Bedeutung von make-believe als Rezeptionshaltung gegenüber fiktionalen Erzähl-Texten ungefähr wie folgt formulieren: So wie Kinder für die Zeit des Spiels in einer gewissen Weise daran glauben, dass die einen Cowboys und die anderen Indianer sind, dass ein halbwegs adäquat geformter Baumast ein Gewehr ist, dass derjenige, der bei dem Ruf ‚Bäng‘ des Gewehrinhabers in der Schusslinie steht, getötet wird, usw., so soll und wird der Leser für die Zeit der Lektüre in einer ähnlichen Weise daran glauben, dass das, was er liest, eine wahre Geschichte ist.44 Das Konzept des makebelieve kann in gewisser Weise als eine Ausformulierung von Samuel Co41

SEARLE, Status (s. Anm. 40), 324. Vgl. G. GABRIEL, Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, Stuttgart-Bad Cannstatt 1975. 43 Vgl D. WEBER, Der Geschichtenerzählspieler. Ein Begreifbuch von höheren und niederen Erzähl-Sachen (Wuppertaler Broschüren zur Allgemeinen Literaturwissenschaft 3), Wuppertal 1989, 12. 44 Vgl. WALTON, Mimesis (s. Anm. 11), Kap. 1. 42

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leridges bekannter Umschreibung von Fiktion bzw. Fiktionsrezeption als „willing suspension of disbelieve“45 (willentliches Einklammern des Unglaubens) angesehen werden. Der englische Theoretiker G. Currie geht nun davon aus, dass der Autor genau diese Rezeptionshaltung des Lesers intendiert. Der Autor verfolgt die Absicht, dass der Leser sozusagen in ein make-believe-Spiel mit dem Text eintritt und seinen Unglauben für die Zeit der Lektüre beiseite schiebt: „We are intended by the author to make believe that the story as uttered is true“.46 Der Zusammenhang mit den erzähltheoretischen Erläuterungen des vorigen Abschnitts kann wie folgt hergestellt werden: Der Autor intendiert, dass der Leser den Erzähl-Text als eine von einem Erzähler dargebotene Erzählung über eine innerhalb der Welt des Erzähl-Textes wahre Geschichte rezipiert. „Our make-believe is not merely that the events described in the text occurred, but that we are being told about those events by someone with knowledge of them. Thus it is part of the make-believe that the reader is in contact, through channels of reliable information, with the characters and their actions, that the reader learns about their activities from a reliable source. To make-believe a fictional story is not merely to make-believe that the story is true, but that it is told as known fact“.47

6. Fiktionales Erzählen und Rezeptionszusammenhang Die Betrachtung der Rezeption fiktionaler Erzählungen lässt sich auf zwei Fragen konzentrieren. Erstens: Wie lässt sich die fiktionalen Texten adäquate Rezeptionsweise allgemein beschreiben? Zweitens: Woran erkennen die Rezipienten, dass sie es mit einem fiktionalen Text zu tun haben? Die erste Frage lässt sich mit Hilfe des im vorigen Abschnitt vorgestellten Konzepts des make-believe erläutern. Fiktionale Erzählungen werden in den an Walton orientierten Fiktionstheorien sozusagen als Requisiten in einem make-believe-Spiel angesehen. Wichtig ist hierbei, dass Walton sich nicht nur auf das Konzept des make-believe stützt, sondern dass er zudem das Konzept des Spiels in die Fiktionstheorie einführt. Ein spezifisches Merkmal von Spielen ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Spiele sind durch die charakteristische Doppelstruktur des SichEinlassens auf das Spiel einerseits und des Spielbewusstseins andererseits gekennzeichnet. Die Teilnehmer am Spiel nehmen dieses insofern ernst, 45

S. T. COLERIDGE, Biographia Literaria, ed. with his Aesthetical Essays by J. Shawcross, 2 Bde., London u.a. 1967, II/6. 46 G. CURRIE, The nature of fiction, Cambridge u.a. 1990, 18. 47 CURRIE, Nature (s. Anm. 46), 73. Inzwischen ist Currie jedoch von dieser Art der Formulierung abgerückt, da er nicht mehr davon überzeugt ist, dass alle fiktionalen Erzählungen einen fiktiven Erzähler aufweisen (vgl. oben Anm. 33).

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als sie nach den Spielregeln handeln, sie sind sich aber gleichzeitig der Tatsache bewusst, dass es sich nur um ein Spiel handelt und dass die SpielWelt nicht die wirkliche Welt ist. Im Hinblick auf fiktionale Werke formuliert Walton diesen Zusammenhang wie folgt: „Appreciators of paintings and novels and also players of ordinary games of makebelieve typically have a kind of dual perspective. They both participate in their games and observe them“. 48

Die doppelte Perspektive des Lesers auf den fiktionalen Text lässt sich auch kommunikations- und erzähltheoretisch erläutern. Der reale (Spiel beobachtende) Leser hält die fiktive Geschichte nicht für wahr, da der Autor sie nicht als wahre Geschichte behauptet. Gleichzeitig gilt: Der fiktive Adressat liest die Geschichte als wahr, weil der fiktive Erzähler sie als eine innerhalb der fiktiven Welt tatsächlich passierte Geschichte erzählt. Die Tatsache, dass der Leser eine fiktive Geschichte in der Haltung des makebelieve sozusagen für wahr hält, könnte man also auch mit der Formulierung umschreiben, dass der (am Spiel teilnehmende) Leser bei der Lektüre versucht, die Position des (im Text eingeschriebenen) fiktiven Adressaten einzunehmen. In dieser Doppelstruktur sehen Lamarque und Olsen eine spezifische Qualität von fiktionalen Texten: „Being ‚caught up‘ in fictional worlds and at the same time recognizing their fictionality involves a delicate balance – even a tension – which certainly accounts for much of the pleasure and value of imaginative works of art“.49

Das fiktionsspezifische Vergnügen an fiktionalen Erzählungen könnte also aus der Spannung zwischen dem Eintauchen in die Fiktion und dem gleichzeitigen Fiktions-Bewusstsein bestehen. Solche Erläuterungen der fiktionsspezifischen Textrezeption spielen eine große Rolle bei der Diskussion des so genannten Fiktionsparadoxes. Dieses Paradox bezieht sich auf emotionale Beteiligung von Lesern bei der Rezeption fiktionaler Texte. Es wird die Frage gestellt, warum Leser überhaupt Emotionen entwickeln gegenüber Geschichten, Sachverhalten und Figuren, die gar nicht existieren. Warum haben Leser Gefühle wie Angst, Rührung, Mitleid in Bezug auf Geschichten, von denen sie wissen, dass sie erfunden sind? Es ist nicht möglich in diesem Zusammenhang auf die sich an diese Fragen anschließende komplexe Diskussion einzugehen.50 Literaturtheoretische Antworten auf diese Frage werden jedoch in der Regel auf 48

WALTON, Mimesis (s. Anm. 11), 49. LAMARQUE/OLSEN, Truth (s. Anm. 1), 144. 50 Vgl F. ZIPFEL, Emotion und Fiktion. Zur Relevanz des Fiktions-Paradoxes für eine Theorie der Emotionalisierung in Literatur und Film, in: S. Poppe (Hg.), Emotionen in Literatur und Film, Würzburg 2012, 127–153. 49

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der Grundlage des erläuterten make-believe-Spiels formuliert. Es gibt jedoch auch Ansätze, die solche Erklärungen in Zweifel ziehen. Der amerikanische Psychologe Gerrig z.B. geht davon aus, dass Leser nicht ihren Unglauben in einem make-believe-Spiel erst überwinden müssen, sondern dass die normale Art der Verarbeitung beim Lesen auch von fiktionalen Texten die des Für-Wahr-Haltens ist und dass diese Haltung erst durch eine beträchtliche Anstrengung, einer „willing construction of disbelieve“,51 überwunden werden kann. Wie dem auch sei, um einen Text als fiktionalen zu lesen, muss der Leser zuerst erkennen, dass er es mit einer fiktionalen Erzählung zu tun hat. Damit kommen wir zur zweiten Frage, die im Zusammenhang mit der Rezeption von fiktionalen Texten diskutiert wird, nämlich zu der Frage: Woran erkennt der Leser, dass ein Text fiktional ist bzw. als fiktionaler gelesen werden soll? Diese Frage wird in der Regel mit Hilfe des Begriffs der Fiktionssignale diskutiert. Als Fiktionssignale werden im Allgemeinen Phänomene bezeichnet, die dem Leser auf mehr oder weniger eindeutige Weise anzeigen oder nahe legen, dass ein Text fiktional ist.52 Dabei wird zwischen textuellen (textimmanenten) und paratextuellen (extratextuellen) Fiktionssignalen unterschieden. Unter textuellen Signalen versteht man dabei solche, die man allein am Text erkennen kann, unter paratextuellen Signalen solche, die sozusagen am Rande des Textes zu finden sind (Titel, Untertitel, Vorwort, Nachwort, Klappentext usw.).53 Als Fiktionssignale werden also alle Werk-Informationen verstanden, mit Hilfe derer man im konkreten Fall die Entscheidung, einen Text als fiktional anzusehen, begründen kann.54 Textuelle Fiktionssignale sind in der Regel solche Aspekte einer Erzählung, die in fiktionsspezifischer Weise von den Konventionen und Normen faktualer Sachverhaltsdarstellung abweichen. Alle in den Abschnitten 2 und 3 dargestellten fiktionspoetischen Lizenzen können somit als potentielle Fiktionssignale gelten, z.B. die Phantastik der Geschichte, allwissende Erzähler, innere Fokalisierung, nicht-realistische Erzählsituationen. Als textuelle Fiktionssignale gelten aber beispielsweise auch sprechende, d.h. ihre Träger kennzeichnende Namen55 oder strukturelle Intertextualität.56 51 R. J. GERRIG, Experiencing Narrative Worlds. On the Psychological Activities of Reading, New Haven/London 1993, 240. Vgl. auch R. J. GERRIG/D. N. RAPP, Psychological Processes Underlying Literary Impact, in: Poetics Today 25 (2004), 265–281. 52 Vgl. C. J ACQUENOD, Contribution à une étude du concept de fiction, Bern u.a. 1988, 84; ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 7), 232. 53 Vgl. G. GENETTE, Seuils, Paris 1987. 54 Vgl. KÖPPE, Literatur (s. Anm. 28), 39; GERTKEN/KÖPPE, Fiktionalität (s. Anm. 15), 240. 55 In der wirklichen Welt ist es höchst unwahrscheinlich, dass Namen etwas über deren Träger aussagen.

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Anzumerken ist jedoch, dass in einem konkreten Fall die Bewertung der Differenzqualität bestimmter Textmerkmale und damit ihr Potential, als Fiktionssignal angesehen zu werden, sich gegebenenfalls als komplexe Interpretationsleistung erweisen kann, da diese Bewertung von diversen Kontexten (insbesondere Gattungszugehörigkeit oder Zusammenspiel unterschiedlicher als Fiktionssignale angesehener Merkmale) abhängig sein kann. In der Praxis sind für das Erkennen der Fiktionalität durch den Leser die nicht-textuellen Fiktionssignale oft wichtiger als die textuellen. Die Rezeption von Texten wird immer durch den Kontext, in den sie gestellt sind, konditioniert. Dieser Kontext kann durch die bereits erwähnten Angaben an den Rändern des Textes hergestellt werden oder – insbesondere bei unselbständig veröffentlichten Texten – durch den Erscheinungsort (z.B. Art der Textsammlung, Reputation einer Zeitschrift, bestimmte Rubrik in einer Zeitung).

7. Fiktionales Erzählen als institutionalisierte Praxis Die bisher in den Erklärungszusammenhängen Geschichte, Erzählung, Produktion und Rezeption dargestellten Besonderheiten fiktionalen Erzählens sind letztlich unterschiedliche Aspekte ein und desselben Phänomens. Die theoretische Integration dieser verschiedenen Aspekte kann auf der Ebene des so genannten Kommunikationskontextes durchgeführt werden. Unter Kommunikationskontext wird dabei die soziale, kulturelle, in gewisser Hinsicht institutionalisierte, etablierte Praxis verstanden, die fiktionales Erzählen definiert und ermöglicht. Lamarque/Olsen definieren eine soziale institutionalisierte Praxis wie folgt: „An institutional practice, as we understand it, is constituted by a set of conventions and concepts which both regulate and define the actions and products involved in the practice. [...] An institution, in the relevant sense, is a rule-governed practice which makes possible certain (institutional) actions which are defined by the rules of the practice and which could not exist as such without those rules“.57

Im Falle des fiktionalen Erzählens ist diese soziale, kulturelle Praxis eine Kommunikationspraxis, d.h. eine durch bestimmte Kommunikationskonventionen geleitete Praxis, welche die Produktion und Rezeption fiktionaler Erzählungen ermöglicht, die wiederum durch diese Konventionen definiert werden und die ohne diese nicht möglich wären. 56 Strukturelle Intertextualität bedeutet im vorliegenden Fall, dass die Geschichte einer Erzählung Parallelen zu einer anderen (erfundenen) Ereignisabfolge aufweist. 57 LAMARQUE/OLSEN, Truth (s. Anm. 1), 256.

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„Any attempt to explain how fictive stories are told and enjoyed in a community, without deceit, without mistaken inference, and without inappropriate response, seems inevitably to require reference to co-operative, mutually recognized, conventions“.58

In dieser Sichtweise können die auf den einzelnen Theorieebenen Geschichte, Erzählung, Produktion und Rezeption beschriebenen Besonderheiten literarischer Fiktion als die spezifischen Konventionen der Kommunikationspraxis fiktionales Erzählen angesehen werden. So lässt sich die kulturelle Praxis fiktionales Erzählen in einer Kurzversion wie folgt erläutern: Der Autor produziert einen Erzähl-Text mit nicht-wirklicher Geschichte, die von einem Erzähler dargestellt wird, und der Autor tut dies mit der Intention, dass der Rezipient diesen Text mit der Haltung des make-believe aufnimmt bzw. in der Haltung des fiktiven Adressaten, und der Rezipient erkennt diese Absicht des Autors und lässt sich aus diesem Grunde darauf ein, den Erzähl-Text unter den Bedingungen eines makebelieve-Spiels zu lesen. Ein solches Verständnis fiktionalen Erzählens als institutionalisierter Praxis liegt auch Theorien zugrunde, die von einem Fiktionsvertrag oder Fiktionspakt sprechen: „Die Grundregel jeder Auseinandersetzung mit einem erzählenden Werk ist, daß der Leser stillschweigend einen Fiktionsvertrag mit dem Autor schließen muß, der das beinhaltet, was Coleridge ‚the willing suspension of disbelieve‘, die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit nannte. Der Leser muß wissen, daß das, was ihm erzählt wird, eine ausgedachte Geschichte ist, ohne darum zu meinen, daß der Autor ihm Lügen erzählt“.59

Die Formulierung, dass Autor und Leser einen Fiktionsvertrag schließen, besagt letztlich nicht viel anderes, als dass fiktionale Texte unter den Bedingungen der institutionalisierten sozialen und kulturellen Praxis Fiktion produziert und rezipiert werden. Die Art und Weise, wie der Fiktionsvertrag realisiert wird, ist von Gattung zu Gattung, aber auch von Einzeltext zu Einzeltext verschieden. Dass es sich bei fiktionalem Erzählen um eine komplexe, aus verschiedenen Komponenten bestehende institutionalisierte Praxis handelt, wird besonders deutlich, wenn die Konventionen der Praxis verletzt werden. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist der Fall Esra. In dem 2003 veröffentlichten Roman Esra sah sich eine frühere Lebensgefährtin des Autors Maxim Biller erkennbar und in ehrenrühriger Weise porträtiert. Die weitere Verbreitung des Buches wurde auf gerichtlichem Wege untersagt und dieses Verbot wurde in mehreren Instanzen bestätigt. Vor dem dargestellten theoretischen Hintergrund kann man die Kontroverse wie folgt beschreiben: Der Autor intendiert einen Fiktionsvertrag, aber er hält sich insofern 58 59

LAMARQUE/OLSEN, Truth (s. Anm. 1), 37. ECO, Wald (s. Anm. 21), 103.

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nicht an die Regeln, als er nicht fiktive Figuren, sondern wirkliche Personen darstellt; die Rezipienten oder einige Rezipienten verweigern deshalb, den Text nach den Regeln des make-believe zu lesen, lesen ihn nach den Regeln für faktuale Texte und sehen ihre Persönlichkeitsrechte verletzt.60 Ein solches Beispiel ist nicht nur ein Beleg dafür, dass fiktionales Erzählen eine komplexe institutionalisierte Praxis voraussetzt, sondern auch dafür, dass die skizzierte Beschreibung dieser Praxis es nicht nur ermöglicht, die Fiktionalität von Texten differenziert zu beschreiben, die zum Kerngebiet fiktionalen Erzählens gehören (also mit den fiktionsspezifischen Konventionen kongruent sind),61 sondern auch die Mechanismen solcher Texte zu erläutern, die versuchen diese Konventionen zu sprengen – und zwar durch die möglichst genaue Beschreibung ihrer Abweichung von den fiktionsspezifischen Konventionen. Abschließend bleibt zu erwähnen, dass das hier vorgestellte Konzept des fiktionalen Erzählens sich an einer wohl spätestens im Laufe des 18. Jahrhunderts in der abendländischen Literaturtradition herausgebildeten Praxis orientiert. Die Frage, ob und inwiefern die dargestellten Aspekte der institutionalisierten Praxis fiktionales Erzählen für andere Epochen und kulturelle Räume relevant sind, bleibt dabei offen. Zu erwarten wäre jedenfalls, dass die Konventionen der Institution Fiktion und gegebenenfalls sogar die Existenz einer solchen Institution dem historischen und kulturellen Wandel unterliegen.62

Abstract This essay considers fictional narrative from a literary perspective and distinguishes between fiction and fictionality. Over against textimmanent and intentional approaches this contribution presents a conception based on 60 Vgl. zu Fall Esra u.a. C. EICHNER/Y.-G. M IX, Ein Fehlurteil als Maßstab? Zu Maxim Billers Esra, Klaus Manns Mephisto und dem Problem der Kunstfreiheit in Deutschland, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32,2 (2007), 183–227; R. B UNIA, Fingierte Kunst. Der Fall Esra und die Schranken der Kunstfreiheit, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32,2 (2007), 161– 182; A. MEIER, Kunstfreiheit vs. Persönlichkeitsschutz: Maxim Billers Esra zwischen Poesie und Justiz, in: H.-E. Friedrich (Hg.), Literaturskandale, Frankfurt a.M. 2009, 217– 230; V. C. DÖRR, Verhandelte Identitäten. Maxim Billers verbotenes Buch Esra, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 129,2 (2010), 271–283. 61 Zur Frage von Kern- und Randgebieten fiktionalen Erzählens vgl. LAMARQUE/OLSEN, Truth (s. Anm. 1), 29–30; ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 7), Kap. 2.3. 62 Zu Ansätzen für eine historische Differenzierung vgl. ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 7), 285; zur Frage der kulturellen Differenzierung vgl. F. LAVOCAT/A. DUPRAT (Hg.), Fiction et cultures, Paris 2010.

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communication theory, which establishes four aspects that serve to describe the phenomenon of ‚text‘: text-structure, text-production, textreception and the communicative context. With regard to narrative texts, the additional distinction between story and narration results in five analytical categories interacting within fictional texts: story, narration, production, reception and context. Taking the descriptive levels into account, the characteristics of literary fiction are described. In this way, the theory is presented as an instrument to describe the specific conventions of the communicative praxis of fictional narration.

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Unzuverlässiges Erzählen als Paradigma für die Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen Vera Nünning

Die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen wird in letzter Zeit nicht nur theoretisch in Frage gestellt, sondern scheint auch in der Praxis immer weiter zu verwischen. Während es zunächst einleuchtend erscheint, Erfundenes von Faktischem zu trennen, so sind in den letzten Jahrzehnten klare Tendenzen zur Nivellierung dieses Unterschieds zu erkennen; in immer mehr Bereichen wird die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen in Frage gestellt. Dies zeigt sich sowohl in dem, was früher einmal ‚Hochliteratur‘ genannt werden konnte, als auch in der Populärkultur; im Fernsehen und im Internet wird zunehmend schwerer erkennbar, was denn nun Fakt und was Fiktion ist. Ganze Sendeformate beruhen auf info-tainment, einer Vermischung von Information und Unterhaltung, innerhalb derer kaum sichtbar wird, was nun gerade für die Zwecke der Sendung fingiert wurde und was eine dokumentarische Darstellung des Geschehens sein soll; docufiction und reality-soaps sind mittlerweile auch ins deutsche Fernsehen eingezogen. Ähnliche Hybridisierungsprozesse prägen die Literatur, in der verschiedene Gattungen vermischt werden, und Fakten und Fiktionen etwa in fiktionalen und faktualen (Auto-)Biographien in bunten Mischungen auftreten.1 Die Zeiten, in denen fein säuberlich zwischen realen und erfundenen (Auto-)Biographien unterschieden werden konnte, gehören der Vergangenheit an. In der Theoriebildung sind ähnliche Prozesse der Nivellierung zwischen Fakten und Fiktionen zu verzeichnen. Insbesondere seit den Veröffentlichungen von Hayden White, die in viele Sprachen übersetzt wurden und 1 Dass Hybridisierungsprozesse zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen fast schon als Regelfall angesehen werden können, betont auch M. FLUDERNIK, Factual Narrative: A Missing Narratological Paradigm, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 63/1 (2013), 117–134, 129. Allerdings fügt sie zu Recht an, dass sich diese Hybridität „within restricted limits“ (ebd.) vollzieht.

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eine große Wirkung ausübten, steht die These im Raum, dass selbst Geschichtsschreibung nichts anderes ist als Fiktion. Schon der Titel des einschlägigen Bandes Auch Clio dichtet oder die Fiktion des Faktischen ([1986] 1991)2 ist Programm: Geschichtsbücher könnten die früheren Ereignisse unter anderem deshalb nicht getreu wiedergeben, weil sie fiktionale Gestaltungsmittel verwendeten. Diese Konfundierung von Fakten und Fiktionen ist nicht auf die Geschichtstheorie beschränkt; unlängst hat der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke in einem Werk mit dem aufschlussreichen Titel Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie (2012) betont, dass das Erzählen epistemologisch indifferent ist; Wahrheit und Erfindung können in Erzählungen nicht klar voneinander unterschieden werden. Die Sachlage scheint also eindeutig zu sein: Es können keine Differenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen bestimmt werden. Wenngleich viele der theoretischen Grundannahmen der genannten Theoretiker sehr einleuchten, so möchte ich im Folgenden doch die These aufstellen, dass trotz der vorliegenden Hybridisierungstendenzen deutliche Unterschiede zwischen beiden Erzählweisen ausgemacht werden können. Dass diese Distinktionen in der gegenwärtigen Theoriediskussion nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sondern eher marginalisiert werden, hat eine Reihe von guten Gründen: So ist etwa der Fiktionalitätsbegriff notorisch schwer zu bestimmen – ganze Bibliotheken sind zu dem Thema geschrieben worden, ohne dass eine eindeutige Antwort zutage gefördert worden wäre. Auch trifft sicherlich zu, dass Erzählungen ebenso Fakten wie Fiktionen beinhalten können und dass eine objektiv richtige Sicht der Wirklichkeit in Erzählungen nicht vermittelt werden kann. Erzählungen sind geprägt von Selektionsprozessen, von Perspektivierungen und von den kognitiven Fähigkeiten der Erzählenden; sie sind ein Mittel der Sinnstiftung. Objektive Wahrheit kann in ihnen ebenso wenig formuliert werden wie in naturwissenschaftlichen Theorien; die jeweils verwendeten Konzepte, Begriffe und Verfahrensweisen prägen den semantischen Gehalt von Erzählungen ebenso wie die Einsichten, die durch die Verwendung von abstrakten Theorien gewonnen werden können. Trotz dieser Einschränkungen ist es jedoch möglich, auf der Basis des jeweils zugänglichen Wissensstandes und in Bezug auf den jeweiligen Gegenstandsbereich zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Erzählungen zu unterscheiden; und diese bescheidenere Distinktion mag dazu dienen, einige grundsätzliche Unterschiede zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen stärker hervortreten zu lassen. Da die literaturwissenschaftliche Forschung sich detailliert 2 Der Titel des englischen Originals lautet Tropics of Discourse ([1978] 2003). Vgl. auch: H. WHITE, Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, Baltimore 1973.

Unzuverlässiges Erzählen als Paradigma

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mit dem unzuverlässigen Erzählen auseinandergesetzt hat,3 können Einsichten aus der Literaturtheorie hinzugezogen werden, um diese Differenzen sichtbar zu machen. Daher sollen im Folgenden zunächst einige für die Sinnstiftung wichtige Merkmale des Erzählens vorgestellt werden, um auf diese Weise darzulegen, inwiefern es nicht möglich ist, die erzählten Ereignisse objektiv zu spiegeln, gleichwohl aber zwischen faktualen und fiktionalen Narrationen zu unterscheiden. Im Anschluss daran werden die Unterschiede zwischen zuverlässigem und unzuverlässigem Erzählen in Bezug auf zwei miteinander verbundene Bereiche erörtert: in Bezug auf institutionelle Vorgaben und die Regeln, die Erwartungshaltungen von Lesern beeinflussen auf der einen Seite, sowie in Bezug auf paratextuelle und textuelle Signale auf der anderen. Grundlegend für die folgenden Überlegungen ist eine Differenzierung in verschiedene Achsen des Erzählens, auf denen spezifische Narrationen jeweils auf Skalen zwischen den Polen der Zuverlässigkeit und der Unzuverlässigkeit eingeordnet werden können. Eine kurze Schlussbemerkung wird zudem auf unterschiedliche Funktionen von unzuverlässigem Erzählen in der Literatur und in faktualen Werken eingehen.

1. Erzählungen als Medium der Sinnstiftung: Narrativität vs. Literarizität und die Unterscheidung in drei Achsen des Erzählens Die Frage danach, worin die Unzuverlässigkeit von Erzählen liegt, verlangt zunächst nach einer Antwort darauf, was Erzählungen auszeichnet; erst auf dieser Basis kann erläutert werden, inwiefern Erzählen zuverlässig sein kann. Dabei ist zu differenzieren zwischen zuverlässigem Erzählen und objektiv richtigem, die Tatsachen spiegelndem Erzählen. Letzteres ist ebenso wenig möglich wie es Menschen möglich ist, von ihrer Standortgebundenheit, von ihrem Sprachgebrauch und von den ihnen zur Verfügung stehenden kognitiven Fähigkeiten abzusehen. Erzählen ist ein Medium der Sinnzuweisung, das geprägt ist durch eine Reihe von Faktoren, die den jeweiligen semantischen Gehalt formen. Das betrifft zum einen die Adressaten- und Situationsgebundenheit; wenn Erzählen gelingen soll, so muss es in einer Weise gestaltet sein, die im jeweiligen Zusammenhang angemessen und für Zuhörer verständlich ist. Darüber hinaus haben die Auswahl von Anfang und Ende maßgeblichen Einfluss auf die Sinnstiftung. 3 Zu einem neueren Sammelband zu unzuverlässigem fiktionalen Erzählen vgl. etwa E. D’HOKER/G. MARTENS (Hg.), Narrative Unreliability in the Twentieth-Century FirstPerson Novel (Narratologia 14), Berlin 2008.

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Was als Ursprung präsentiert wird und wann ein Geschehen als abgeschlossen betrachtet wird, ist entscheidend für die Bedeutung, die den Ereignissen zugeschrieben wird.4 Nicht zuletzt ist das Erzählen in besonderem Maße geprägt durch Perspektivität: Die Auswahl des Standpunkts des Erzählenden;5 die Entscheidung darüber, welche Stimmen in der Geschichte zu Wort kommen und welche nicht; die Positionierung des Erzählenden gegenüber diesen ‚eingebetteten‘ Perspektiven und Figuren sowie den jeweiligen Werten, die diese verkörpern – all dies ist geformt durch die gewählten erzählerischen Verfahrensweisen. Die Auswahl und Kombination der formalen Konventionen entscheidet darüber, wie ein Ereignis dargestellt und implizit bewertet wird. Die Ereignisse, die dargestellt werden, spielen natürlich eine Rolle; sie sind aber nicht entscheidend; grundsätzlich kann jedes Geschehen in einer Weise erzählt werden, die es als positiv oder negativ, als destruktiv oder heilsbringend erscheinen lässt. Die Erzählweise entscheidet darüber, ob etwa ein gewalttätig herbeigeführter Tod eines anderen Lebewesens nun als gerechte Sühne, als Opfer oder schlicht als Mord dargestellt wird. Hinzu kommt, dass menschliche Erzähler innerhalb der allgemeinen epistemischen und biologischen Vorgaben handeln. Dazu zählt insbesondere die Erinnerung, die, wie eine Fülle psychologischer Studien gezeigt hat, ein konstruktiver Prozess ist, der beeinflusst wird von dem jeweiligen Wissensstand, den Überzeugungen, den Zielen und den Wünschen des Betreffenden. Eine wichtige Rolle spielt auch das dem Erzähler zur Verfügung stehende Wissen, das er von den Ereignissen hat – sei es aus eigener Anschauung, sei es aus mehr oder weniger zuverlässigen anderen Quellen – und seine emotionale Involviertheit, die es ihm ggf. nicht erlaubt, ein einigermaßen distanziertes oder nüchternes Bild des Geschehens zu entwerfen. Aus dieser kurzen Zusammenfassung einiger Faktoren, die das Erzählen zu einem Mittel der Sinnzuweisung machen, ergibt sich, dass jede Geschichte grundsätzlich perspektivisch gebrochen ist und abhängt von den jeweiligen subjektiven sowie situativen Voraussetzungen, in denen sie erzählt wird. Und doch ist beileibe nicht jedes Erzählen unzuverlässig oder gar fiktional oder literarisch. Vielmehr sollte unterschieden werden zwischen der Narrativität von Erzählwerken, an der Geschichtsbücher ebenso teilhaben wie Romane oder mündliche Alltagserzählungen, und der Fiktionalität bzw. Literarizität von Erzählungen. Erstere ist geprägt von den 4

Die vorangegangenen Merkmale sind Bestandteil vieler narratologischer Definitionen des Erzählens. Zu einem Überblick vgl. M. FLUDERNIK, Erzählung aus narratologischer Sicht, in: B. Engler (Hg.), Erzählen in den Wissenschaften. Positionen, Probleme, Perspektiven, Fribourg 2010, 5–22. 5 Die maskuline Form wird jeweils im generischen Sinne verwendet und schließt auch Frauen und Kinder mit ein.

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oben skizzierten Faktoren und allen Erzählungen zu eigen; letztere ist ein Merkmal einer spezifischen Gruppe von literarischen Prosawerken.6 Entgegen aller Annahmen, die die Grenze zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen verwischen, lässt sich anhand der Beurteilung von Unzuverlässigkeit zeigen, dass im Alltag ein implizites Wissen über die Unterschiede zwischen fiktiv und faktisch unzutreffend vorliegt, das unter Bezug auf einschlägige literaturwissenschaftliche Theorien explizit gemacht werden kann. Um die Distinktionen zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen zu verdeutlichen, sollten drei Achsen des Erzählens voneinander unterschieden werden: faktuales Erzählen, fiktives Erzählen (im Sinne eines weiten Fiktionalitätsbegriffs) und fiktionales, literarisches Erzählen. In Bezug auf faktuales Erzählen können Geschichten angesiedelt werden auf einer Skala zwischen zuverlässigem Erzählen auf der einen und unzuverlässigen, schlicht unzutreffenden bzw. falschen und unglaubwürdigen Erzählungen auf der anderen Seite. Zutreffend bzw. nicht zutreffend stellen hier jeweils Pole einer graduellen Einteilung dar, die primär (wenngleich nicht nur) die (In)Korrektheit der Fakten betrifft. Der Begriff der Korrektheit der Wiedergabe soll – im Sinne von Jürgen Habermas – verdeutlichen, dass es sich nicht um eine Form von allgemein gültiger Wahrheit handelt, sondern um die Übereinstimmung der erzählten Ereignisse mit dem, was dem jeweiligen Wissensstand einer Gesellschaft entspricht.7 Einen objektiven Gradmesser für die Bewertung von dem, was der Fall ist, – das haben die vielen Paradigmenwechsel in den verschiedenen Wissenschaften über die Jahrhunderte hinweg gezeigt – gibt es nicht; stattdessen zeichnen sich zuverlässige faktuale Erzählungen dadurch aus, dass sie mit den jeweiligen geltenden Normen und Überzeugungen einer Gesellschaft übereinstimmen. Von dieser Achse des faktualen Erzählens unabhängig ist die Unterscheidung zwischen fiktivem und nicht fiktivem Erzählen sowie zwischen literarischem und nicht literarischem Erzählen. Denn das Erzählen einer Fiktion ist nicht notwendig mit literarischem Erzählen gleichzusetzen. Im Gegenteil, wenn man einen weiten Fiktionalitätsbegriff verwendet und Fiktionen als Konstrukte betrachtet, auf die sich Gesellschaften verständigt haben, um Regeln des Umgangs aufzustellen (dies betrifft etwa die Fik6 Wie genau diese Gruppe von Werken von anderen Texten abgegrenzt werden kann, wird kontrovers diskutiert; einige Wissenschaftler bevorzugen Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeiten; andere benennen spezifische literarische Stilmittel; andere gründen ihre Definitionen auf Konventionen im Umgang mit den Werken. Zum Fiktionalitätsbegriff vgl. insbesondere Frank Zipfels Beitrag in diesem Band. 7 Vgl. J. HABERMAS, Was heißt Universalpragmatik?, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1984, 353–440, 431f.

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tion, Kooperationen vor dem Gesetz als Personen zu verstehen, die entsprechend für ihre Handlungen so zur Verantwortung gezogen werden können, als ob es sich um Menschen handele), so sind Fiktionen sehr nützliche Instrumente, die gemeinschaftliches Handeln ermöglichen und nicht per se als falsch abgetan werden können. Das literarische Erzählen ist auf einer Achse angesiedelt, für die andere Regeln gelten als für das faktuale oder im weiten Sinne fiktive Erzählen. Akzeptiert man die Eigenheiten, die Literatur von anderen Diskursen unterscheidet, so macht es keinen Sinn, die in fiktionalen Werken beschriebenen Ereignisse als nicht übereinstimmend mit dem gesellschaftlichen Wissen zu bezeichnen bzw. als unzutreffend zu brandmarken. Hingegen kann auch innerhalb der Literatur zwischen den Polen des zuverlässigen und unzuverlässigen Erzählens unterschieden werden. So gibt es eine Fülle von Erzählern, denen, innerhalb der literarischen Konventionen beurteilt, zu trauen ist und die ein zutreffendes Bild der fiktionalen Welt zeichnen, während andere Erzähler sich selbst als unzuverlässig entlarven, indem sie eine inkorrekte Darstellung der fiktionalen Fakten liefern. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen die erste und die letzte Achse vom Erzählen, wobei sowohl innerhalb von faktualem als auch fiktionalem Erzählen zwischen zuverlässig und unzuverlässig unterschieden wird. Immer vorausgesetzt ist dabei die Einsicht, dass Erzählen keine getreue Abbildung der Wirklichkeit liefern kann, sondern als Medium der Sinnstiftung fungiert.

2. Die Bedeutung institutioneller Rahmenbedingungen für die Differenzierung zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen fiktionalen und faktualen Erzählungen Um die Zuverlässigkeit einer Erzählung zu beurteilen, muss vorab entschieden werden, ob sie fiktionaler oder faktualer Natur ist. Erst aufgrund dieser Einschätzung kann bestimmt werden, ob es sich um eine zuverlässige oder eine unzuverlässige Geschichte handelt, denn für die Identifizierung von (Un-)Zuverlässigkeit gelten für literarische Werke andere Kriterien als für die Beurteilung der Korrektheit faktualer Erzählungen. Institutionelle und systemtheoretische Rahmenbedingungen spielen bei dieser Einordnung eine große Rolle; im Literatursystem herrschen andere Regeln als in anderen gesellschaftlichen Subsystemen.8 8

Zu den Besonderheiten des Literatursystems, vgl. S. J. SCHMIDT, Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft, I: Der gesellschaftliche Handlungsbereich Literatur, Braunschweig/Wiesbaden 1980, dessen Darlegungen auf Niklas Luhmanns Systemtheorie beruhen.

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In der alltäglichen Kommunikation – am Arbeitsplatz, bei ökonomischen Transaktionen oder bei Instanzen, die Informationen vermitteln – gilt zunächst die Vorgabe, dass von Erzählern erwartet wird, Geschichten zu vermitteln, die mit den Fakten übereinstimmen. Eine Gesellschaft, in der jede Kommunikation unter dem Vorbehalt geführt wird, dass der andere lügt und ihm daher grundsätzlich mit Misstrauen zu begegnen ist, kann nicht funktionieren. Menschliches Zusammenleben, von den Begegnungen innerhalb der Familie über den Kauf von Gütern bis hin zum Umgang mit Kollegen beruht auf dem Standardfall, dass man anderen grundsätzlich Vertrauen schenken kann. Wie Niklas Luhmann bereits 1968 betont hat, dient dieses Vertrauen, diese Annahme, man könne so handeln, ‚als ob‘ der andere zuverlässig sei, der Komplexitätsreduktion. Dies macht rasches, standardisiertes Handeln erst möglich; ansonsten entstünde unnötiger Zeitund Reibungsverlust. Gleichzeitig liegt es in der Natur der Sache, dass mit diesem Vertrauen in die Zuverlässigkeit des anderen immer auch ein Risiko verbunden bleibt – ansonsten wäre es kein Vertrauen, sondern Wissen; und das ist, wenn es um die Vorhersage des künftigen Handelns anderer Menschen geht, nicht möglich. Kommunikation kann fehlschlagen, und unter bestimmten Umständen muss die Annahme der Zuverlässigkeit des anderen revidiert werden. Zudem ist zu unterscheiden zwischen verschiedenen Arten von Kommunikation; rollengeprägtes Verhalten ist anders einzustufen als ein freundschaftlicher Umgang; auch gelten jeweils unterschiedliche Konventionen, was die Maßstäbe für sowie die Sanktionierung von Vertrauensbrüchen bzw. nachgewiesener Unzuverlässigkeit angeht.9 So hat sich in westlichen Gesellschaften herumgesprochen, dass man bei Versicherungsvertretern von vornherein vorsichtig sein und auf das Kleingedruckte schauen muss; bedingungsloses Vertrauen einem nicht persönlich bekannten Verkäufer gegenüber würde hier der sozialen Konvention widersprechen. Selbst dieses Beispiel zeigt jedoch, dass der ‚Standard‘ der Erwartungshaltung auch hier gilt: Wenn das Kleingedruckte mit dem mündlich Zugesicherten übereinstimmt, so wird Zuverlässigkeit erwartet – oder man sieht sich vor Gericht wieder. Zuverlässigkeit fungiert daher als

9 Zu einer jüngeren, knappen Darstellung des Vertrauensbegriffs, die auch auf die Theorien von Niklas Luhmann und Georg Simmel eingeht, vgl. etwa G. MÖLLERING, Leaps and Lapses of Faith: Exploring the Relationship between Trust and Deception, in: B. Harrington (Hg.), Deception. From Ancient Empires to Internet Dating, Stanford 2009, 137–153. Einen Überblick über die disziplinäre Spannbreite von Vertrauen und Glaubwürdigkeit verleihen B. DERNBACH/M. MEYER (Hg.), Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2005. Meine Überlegungen zum Vertrauen gründen auf Forschungsbeiträgen aus Disziplinen wie Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie und Philosophie; jedoch nicht auf der theologischen Debatte.

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eine Art Standard, an dem Verhalten gemessen wird; als eine Norm, die gelungene Kommunikation ebenso voraussetzt wie sie aus ihr resultiert.10 Nun könnte eingewendet werden, dass sich diese Überlegungen auf alltägliche mündliche Kommunikation beziehen, auf eine Fülle von Faktoren, in denen orale Erzählungen eine Rolle spielen mögen; dass dies jedoch zu unterscheiden sei von komplexeren schriftlichen Narrationen, etwa von Geschichtsbüchern oder von journalistischen Berichten oder Autobiographien, in denen man nicht zwischen zuverlässigem und unzuverlässigem Erzählen unterscheiden könne. Dennoch zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass selbst im Bereich der journalistischen Berichterstattung und der Autobiographie, in denen jeweils starke Hybridisierungsprozesse zu beobachten sind, mit Enttäuschung, Ablehnung und sogar mit massiven Sanktionen reagiert wird, wenn gegen die Norm der Zuverlässigkeit des Erzählens verstoßen wird. Auch im zeitgenössischen Journalismus, in dem zunehmend Literarisierungstendenzen zu verzeichnen sind, spielt Zuverlässigkeit als Norm weiterhin eine Rolle. Dies zeigt sich schon an der harschen Kritik an Journalisten, die vorgaben, einen Augenzeugenbericht verfasst zu haben, obwohl sie selbst bei der fraglichen Szene nicht anwesend waren. So wurde nicht nur der renommierte Journalist Heribert Prantl scharf für eine – gut recherchierte – Geschichte kritisiert, weil er den Eindruck erweckt hatte, selbst dabei gewesen zu sein; der Schweizer Journalist René Pfister bekam in einem ähnlichen Fall im Nachhinein sogar den bekannten Henri-Nannen-Preis aberkannt.11 Auch im Journalismus werden als unzuverlässig entlarvte Geschichten sanktioniert. Die Bedeutung der institutionellen und systemtheoretischen Rahmenbedingungen wird noch deutlicher, wenn man die Zuverlässigkeit faktualer Autobiographien in den Blick nimmt. Diese gehören einerseits nicht in den Bereich des Literatursystems; sie machen sich anheischig, von Fakten zu berichten. Andererseits sind insbesondere im Bereich der Autobiographie deutliche Hybridisierungstendenzen zu verzeichnen. So verwenden faktua10

Darüber hinaus fällt auf, dass die Frage nach der Übereinstimmung mit ‚den Fakten‘ in der multidisziplinären Diskussion nur eine sehr geringe Rolle spielt; signifikant sind hingegen Kriterien wie die Konsistenz, die Kompetenz und die Moral desjenigen, der als zuverlässig beurteilt wird. Diese Kriterien, die bei der Beurteilung von faktualen Erzählungen eine Rolle spielen, finden sich etwa in M. K. W. SCHWEER/B. T HIES, Vertrauen durch Glaubwürdigkeit – Möglichkeiten der (Wieder-)Gewinnung von Vertrauen aus psychologischer Perspektive, in: Dernbach/Meyer, Vertrauen und Glaubwürdigkeit (s. Anm. 9). 11 Für Heribert Prantls Darstellung entschuldigte sich die Süddeutsche Zeitung, in der der Artikel erschienen war, im Nachhinein. Beide Fälle werden (neben anderen einschlägigen Beispielen) erörtert in B. DERNBACH, (Un)reliable Narration in Journalism: The Fine Line between Fact and Fiction, in: V. Nünning (Hg.), Unreliable Narration and Trustworthiness (Narratologia 44), Berlin u.a. 2015, 305–328.

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le Autobiographien oft vermeintliche Privilegien der Fiktion. Autoren beschreiben häufig, was sie als Kinder dachten und fühlten, oder geben wörtliche Dialoge wieder – obgleich doch jeder weiß, dass dies schon aufgrund der Grenzen der menschlichen Erinnerung nicht mit den damaligen Ereignissen übereinstimmen kann. Ein Literatur-Nobelpreisträger wie John M. Coetzee geht im dritten Band seiner (faktualen) Autobiographie noch weiter und verwendet eine Fülle von Signalen, die das Buch als Fiktion kennzeichnen müssten; so besteht es aus vermeintlichen Interviews, die nach dem vorgeblichen Tod des Autors mit Leuten geführt wurden, die ihn gut kannten. Dennoch ist das Buch nicht nur aufgrund der Tatsache, dass es von Coetzee selbst geschrieben und veröffentlicht wurde, zugleich als faktuale Autobiographie erkennbar. Angesichts solcher Vermischungen von Fakt und Fiktion scheint es müßig, eine Grenze zwischen beiden ziehen zu wollen und das eine als faktisch (un)zuverlässig zu bezeichnen, das andere als erfunden. Und dennoch zeigen Verstöße gegen die Norm der Zuverlässigkeit innerhalb des faktualen autobiographischen Erzählens, dass mit empfindlichen Sanktionen zu rechnen ist, wenn die Grenze überschritten wird. Neben vielen anderen Beispielen, die angeführt werden könnten, verdeutlicht dies der Fall von James Freys angeblicher Autobiographie, A Million Little Pieces (2003), die in den USA große Popularität erlangte. Als herauskam, dass diese Lebensbeschreibung in wesentlichen Punkten nicht mit den Fakten übereinstimmte, entbrach ein Sturm der Entrüstung: In den Medien wurden Freys „Lügen“ einhellig verdammt und mehr als tausend Leser verlangten den Kaufpreis vom Verlag Random House zurück. Schließlich hatten sie das Buch unter der Voraussetzung gekauft, dass es eine Autobiographie darstelle und Fakten vermittelt würden. Diese Argumentation wurde vor Gericht ernst genommen; der Verlag musste über eine Million Dollar für Rechtsanwälte und vergleichbare Kosten aufbringen.12 John Paul Eakin folgert aus diesem und anderen Beispielen in seinem Buch über Autobiographien meines Erachtens zu Recht, dass der autobiographische Pakt, demzufolge in einer Lebensbeschreibung eine Identität zwischen Protagonist, Erzähler und Autor vorliegen muss und die geschilderten Ereignisse mit den damaligen Fakten übereinzustimmen haben, trotz aller gegenteiligen Anzeichen immer noch seine Geltung hat.13 Trotz aller Literarisierungstendenzen herrschen anscheinend ziemlich genaue Vorstellungen 12

Vgl. J. P. EAKIN, Living Autobiographically: How We Create Identity in Narratives, Ithaca 2008, 17–23, bes. 22. 13 Neben anderen Beispielen erörtert EAKIN auch Rigoberta Menchùs Autobiographie (2008) (a.a.O., 31–37), und Binjamin Wilkomirskis Fragments (1995) (a.a.O., 37–40). Die Überlegungen zum ‚autobiographischen Pakt‘ stammen aus P HILIPPE LEJEUNES Werk Le Pacte autobiographique (dt.: Der autobiografische Pakt), Frankfurt a.M. 1994.

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darüber vor, wann eine Autobiographie zuverlässig erzählt, und wann nicht – und diese Annahmen sind so verbindlich, dass Verstöße gegen sie nicht nur zu einem Verlust der Reputation, sondern auch zu empfindlichen finanziellen Einbußen führen und teilweise sogar vor Gericht verklagt werden können. Die Sanktionen, die aus diesen Verstößen gegen die Norm der Zuverlässigkeit resultieren, verdeutlichen, welche Erwartungshaltungen vorherrschen, sofern es um faktuales – nicht um literarisches – Erzählen geht. Diese Erwartungshaltungen weichen im Bereich des Journalismus nur geringfügig von dem ab, was im Bereich der Autobiographie als Norm gilt. Von beiden Erzählungen wird erwartet, dass es sich um Augenzeugenberichte handelt: Der Autor muss vor Ort gewesen sein und von dem erzählen, was er selbst gesehen und erfahren hat. Anscheinend verbürgt allein dies eine Art von Authentizität – subjektive Brechungen bzw. Interpretationen werden in diesem Rahmen toleriert. In Bezug auf Autobiographien herrscht die Annahme vor, Autor, Erzähler und Protagonist seien die gleiche Person; im Journalismus müssen Autor und Erzähler übereinstimmen. Wie die Beispiele aus dem Bereich des Journalismus nahe legen, reicht die bloße Übereinstimmung mit den Fakten nicht aus, sofern Autor und Erzähler auseinanderklaffen. Die Empörung und die Sanktionen resultierten daraus, dass der Autor nicht, wie vorgegeben, am entsprechenden Ort als Augenzeuge dabei war. Für Autobiographien gelten, wenn man die Reaktion des Publikums in Betracht zieht, ähnliche Regeln. Auch hier zählt die Bedeutung des Augenzeugenberichts, und wenn das Bemühen um faktische Darstellung erkennbar wird, so werden auch literarische Strategien (etwa die Wiedergabe von Dialogen) honoriert.14 Obgleich die Erwartungshaltungen bezüglich dessen, was als zuverlässig bzw. unzuverlässig – oder falsch – eingestuft wird, je nach Textsorte geringfügig voneinander abweichen, so herrschen weitgehende Kongruenzen vor. Festzuhalten ist daher, dass sogar im Bereich von faktualen Geschichten, bei denen Hybridisierungstendenzen mit literarischen Erzählungen zu verzeichnen sind, sehr wohl zwischen zuverlässig und unzuverlässig unterschieden werden kann. Innerhalb der institutionellen Rahmenbedingungen des Literatursystems gelten völlig andere Regeln für die Kreation und Rezeption von Erzählungen. Eine Übereinstimmung mit Fakten wird nicht erwartet; ob ein Autor etwa den Stadtplan von London in seinem Werk verändert oder ob er eine fiktive Stadt als Ort seiner Handlung wählt, ist für die Beurteilung von literarischen Werken irrelevant. Insofern erscheint zunächst fraglich, inwieweit auch in der Fiktion zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen 14 Zudem müssen die dargestellten Ereignisse mit dem jeweiligen Wissensstand des Publikums übereinstimmen.

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Erzählungen differenziert werden kann. Da für diese Unterscheidung die Anerkennung der Fiktionalität einer Geschichte von großer Bedeutung ist, möchte ich an dieser Stelle aus der Fülle von Bestimmungen der Fiktionalitäts- und Literarizitätsbegriffe einige wenige herausgreifen, die für die Ausarbeitung des Kontrasts zwischen den institutionellen Erwartungshaltungen zu literarischem und faktualem Erzählen besonders aussagekräftig sind. Aufbauend auf einer Tradition, die bis auf Immanuel Kant zurückgeht, hat S. J. Schmidt zwei Konventionen hervorgehoben, die innerhalb des literarischen Feldes gelten: die Aufhebung der Faktizitätskonvention, d.h. das Akzeptieren von Erzählungen, die den bekannten Fakten widersprechen, sowie die Aufhebung der Monovalenzkonvention, d.h. der Erwartung, dass die Ereignisse in einer klaren, eindeutigen Weise geschildert werden. In literarischen Werken herrscht stattdessen die Polyvalenzkonvention vor: Es wird erwartet, dass literarische Erzählungen mehrdeutig sind und in unterschiedlicher Weise sowie auf verschiedenen Ebenen interpretiert werden können.15 Einige empirische Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass eine Reihe von Lesern von Literatur eine Art ‚höhere Wahrheit‘ erwartet, die über die Repräsentation eines Geschehens hinausgeht. In einem grundlegenden Werk zur Fiktionalität hat Kendall Walton darüber hinaus vorgeschlagen, Literatur als eine Art von Spiel zu verstehen, in dem die Texte dazu dienen, fiktionale Welten zu entwerfen, die für die Zeit des Spiels für real gehalten werden.16 Leser akzeptieren für die Dauer der Lektüre, dass die Figuren in der jeweiligen fiktionalen Welt existieren und in der Weise denken und fühlen, die in dem Werk beschrieben wird. Vor diesem Hintergrund betrachtet, hängt die Frage danach, ob Erzähler in literarischen Werken als zuverlässig eingestuft werden oder nicht, davon ab, ob die erzählte Geschichte mit den fiktionalen Fakten übereinstimmt. Wie mögliche Diskrepanzen zwischen fiktionaler Welt und der erzählten Geschichte ermittelt werden können, lässt sich unter Rückgriff auf textuelle Merkmale näher bestimmen.

15 Vgl. u.a. SCHMIDT, Grundriß (s. Anm. 8). Zu einem knappen Überblick über einige auf Schmidt aufbauende Fiktionalitätstheorien vgl. M. SCHREIER, Belief Change through Fiction. How Fictional Narratives Affect Real Readers, in: S. Winko/F. Jannidis/G. Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York 2009, 315–337. 16 Vgl. K. L. W ALTON, Mimesis as Make-Believe: On the Foundations of Representational Arts, Cambridge 1990. Zu den empirischen Untersuchungen vgl. z.B. M. CHARLTON/C. PETTE/C. B URBAUM, Reading Strategies in Everyday Life. Different Ways of Reading a Novel which Make a Distinction, in: Poetics Today 25/2 (2004), 241–263.

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3. Textuelle Merkmale für die Unterscheidung zwischen zuverlässigem und unzuverlässigem fiktionalem und faktualem Erzählen Die unterschiedlichen Regeln, die das Erzählen in faktualen und fiktionalen Kontexten leiten, bestimmen auch den Umgang mit dem Produkt: In den Regalen der Buchhandlungen wird unterschieden zwischen Fiktion und Geschichte, und die Werbung für die Werke fällt entsprechend unterschiedlich aus. Diese Distinktion prägt auch die sogenannten Paratexte, d.h. jene Texte, die in dem jeweiligen Buch (bzw. auf dem Buchumschlag) zu finden sind, ohne doch zu der Erzählung im engeren Sinne zu gehören. Dies betrifft etwa die Kurzbeschreibung auf der Rückseite des Buches oder im Klappentext; eine ähnliche Funktion haben Titel, Vor- oder Nachworte, die den Leser einstimmen auf die jeweilige Art der Konventionen, die im Werk gelten. Insbesondere in realistischen Romanen finden sich häufig kurze Vorworte, die betonen, dass die Figuren nicht mit lebenden Persönlichkeiten übereinstimmen (und insofern die Faktizitätskonvention ebenso wie die Monovalenzkonvention außer Kraft gesetzt ist). Ähnliche, wenngleich vom Inhalt her sehr unterschiedliche, Paratexte heben in faktualen Werken hervor, dass Autoren die Ereignisse selbst erlebt haben und das Geschehen der Realität entspricht. Damit wird jeweils verdeutlicht, welche Erwartungshaltungen an die Bücher herangetragen werden müssen, was der jeweilige „Pakt“ zwischen Autor und Leser ist und auf welche Weise die Werke rezipiert werden sollen. Entsprechend werden zwar grundsätzlich ähnliche, in der inhaltlichen Ausgestaltung jedoch völlig unterschiedliche Kriterien für die Zuverlässigkeit von faktualem und fiktionalem Erzählen verwendet. Generell wird Erzählen dann als zuverlässig eingestuft, wenn der semantische Gehalt der Geschichte mit dem jeweiligen Wissensstand der Leser übereinstimmt.17 Bei faktualen Narrationen wird erwartet, dass der Erzähler das Geschehen durch seine eigene Erfahrung verbürgt oder dass er sein Wissen aus Quellen bezieht, deren Zuverlässigkeit gewährleistet ist; die im Text präsentierten Fakten müssen anhand des Vergleichs mit anderen wirklichkeitsbezogenen Darstellungen überprüfbar sein. Bei fiktionalem Erzählen ist es etwas komplizierter, da keine Übereinstimmung zwischen dem Inhalt und 17 Bei historischen Werken sind Erzähler dann als zuverlässig einzustufen, wenn sie dem zur Entstehungszeit verbreiteten Wissen entsprechen. Zur historischen Variabilität von Unzuverlässigkeitsurteilen vgl. meinen Aufsatz: Unreliable Narration und die historische Variabilität von Werten und Normen: The Vicar of Wakefield als Testfall für eine kulturgeschichtliche Erzählforschung, in: A. Nünning (Hg.), Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998, 257–285.

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dem historischen Geschehen erwartet werden kann; aber auch hier gibt es klare Kriterien dafür, was innerhalb der fiktionalen Welt als Fakt etabliert wird.18 Wenn der Diskurs des Erzählers diesen Fakten widerspricht, wenn seine Erzählung maßgeblich von diesen im Werk etablierten Fakten abweicht, so ist dieses als unzuverlässig einzustufen. Zunächst mag schwer vorstellbar sein, wie ein Erzähler, der die einzige Informationsquelle der Leser ist, eine fiktionale Welt etablieren und zugleich eine Erzählung anfertigen kann, die maßgeblich von dieser Welt abweicht. In fiktionalen Werken kann jedoch eine ganze Reihe von textuellen Signalen auf diese Diskrepanz hinweisen. Zu diesen textuellen Merkmalen gehören etwa mögliche Inkonsistenzen zwischen den Handlungen und Beschreibungen bzw. Bewertungen des Erzählers; Widersprüche zwischen expliziten und impliziten Selbstcharakterisierungen oder Diskrepanzen zwischen den Aussagen des Erzählers und denen der Mehrzahl der anderen Figuren. Auch stilistische Anzeichen, etwa obsessive Leseransprachen oder die Wiederholung von Beteuerungen sowie ausschweifenden Erklärungen können auf die Unzuverlässigkeit eines Erzählers hinweisen. Grundsätzlich wird zudem zwischen verschiedenen Arten von Widersprüchen zwischen Erzählerdiskurs und fiktionaler Welt unterschieden: Bei der Darstellung der fiktiven Fakten können Erzähler entscheidende Ereignisse entweder verschweigen oder verzerrt darlegen; und bei der Interpretation sowie Bewertung dieser Fakten können sie entweder zu kurz greifen oder völlig inadäquate Maßstäbe verwenden.19 Den Einsichten der kognitiven Narratologie zufolge spielen auch textexterne Faktoren bei der Ermittlung von Unzuverlässigkeit eine Rolle. So sollten etwa die kulturellen Werte und Normen sowie das implizite Wissen der jeweiligen Entstehungszeit des Werkes hinzugezogen werden, um zu 18

Zur Problematik der Bestimmung fiktionaler Fakten vgl. etwa U. MARGOLIN, The Nature and Functioning of Fiction: Some Recent Views, in: Canadian Review of Comparative Literature 19 (1992), 101–117; sowie T. KÖPPE, Prinzipien der Interpretation – Prinzipien der Rationalität. Oder Wie erkundet man fiktionale Welten?, in: Scientia Poetica 9 (2005), 310–329. Zu einer Auflistung von Signalen für die Erkennung von unzuverlässigen Erzählern, bei der insbesondere textinterne und textexterne Diskrepanzen eine große Rolle spielen, vgl. A. NÜNNING, ‚But why will you say that I am mad?‘ On the Theory, History, and Signals of Unreliable Narration in British Fiction, in: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 22 (1997), 83–105. 19 Zur Unterscheidung von unterschiedlichen Arten von Unzuverlässigkeit, die sich jeweils in Bezug auf die Darstellung der fiktionalen Fakten, deren Interpretation und deren Bewertung (bzw. die ‚ethics‘) des Erzählers bezieht, vgl. J. P HELAN/M. P. MARTIN, „The Lessons of Weymouth“: Homodiegesis, Unreliability, Ethics and The Remains of the Day, in: D. Herman (Hg.), Narratologies: New Perspectives on Narrative Analysis, Columbus 1999, 88–109. Ähnliche Regeln bezüglich der Selektion und Interpretation gelten auch bei faktualen Texten; vgl. dazu etwa DERNBACH, (Un)reliable Narration (s. Anm. 11).

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beurteilen, ob ein Erzähler als unzuverlässig einzustufen ist. Ein Psychopath oder ein Mörder mag in sich völlig konsistent und anschaulich davon berichten, wie er andere quält und umbringt – aber trotz dieser textinternen Konsistenz können solche Erzähler aufgrund der Diskrepanzen mit dem, was jeweils alltagspsychologisch als verständlich und normal eingestuft wird, als unzuverlässig entlarvt werden. Solche textexternen Inkonsistenzen betreffen häufig nicht die Ebene der fiktionalen Fakten, sondern die der Interpretationen und Bewertungen. Sie können zum Beispiel die Erzählungen von Kindern prägen, die von komplexen Ereignissen berichten, die sie noch nicht kognitiv verarbeiten können und daher in inadäquater Weise darstellen. Bei solchen Geschichten dient die Entscheidung von Lesern, den Erzähler als unzuverlässig anzusehen, als eine Art Naturalisierungsstrategie, mit der sie die jeweiligen Widersprüche auflösen können. Wenn der Rekurs auf die Persönlichkeit des Erzählers und dessen Schwächen es erlaubt, textinterne oder textexterne Diskrepanzen zu erklären und zu einem kohärenten Modell der Welt zu gelangen, so handelt es sich literaturwissenschaftlichen Maßstäben zufolge um unzuverlässiges Erzählen. Die Unzuverlässigkeit fiktionaler Erzählungen zeigt sich daher vor allem in der Ermittlung unvereinbarer Diskrepanzen. Gleichzeitig deuten textinterne oder -externe Inkonsistenzen nicht in jedem Fall auf Unzuverlässigkeit hin. Zuverlässig erzählte fiktionale und faktuale Werke weisen teilweise ebenfalls interne Widersprüche auf; diese sind jedoch anderer Art. Etwa können geringfügige interne Unvereinbarkeiten darauf zurückgeführt werden, dass sich Erzähler naturgemäß nicht genau an alles erinnern können oder Inkonsistenzen in ihren Werten bestehen. Zudem kommen in den meisten Erzählungen sehr unterschiedliche Figuren zu Wort, und es ist nicht zu erwarten, dass diese Figuren für dieselben Werte einstehen, die gleiche Sicht auf die Ereignisse haben oder die gleichen Erfahrungen teilen. In einem Werk mit einer Fülle von Figuren werden häufig eine Fülle von Perspektiven erkennbar, und einige dieser Perspektiven mögen (im oben beschriebenen Sinne) unzuverlässig sein, d.h. in Bezug auf die Darstellung oder Bewertung von Fakten nicht mit dem übereinstimmen, was innerhalb des Werks als Fakt akzeptiert wird.20 In multiperspektivischen Erzählungen beeinträchtigen solche Diskrepanzen auf Figurenebene die Konsistenz und Kohärenz des Werks als Ganzes nicht; im Gegenteil dienen

20 Zum multiperspektivischen Erzählen vgl. A. NÜNNING/V. NÜNNING (Hg.), Multiperspektivisches Erzählen: Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. und 19. Jahrhundert, Trier 2000; sowie F. MENHARD, Conflicting Reports. Multiperspektivisches Erzählen und unzuverlässiges Erzählen im englischsprachigen Roman seit 1800, Trier 2009.

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sie teilweise didaktischen Zwecken, indem sie verdeutlichen, wie das Geschehen nicht gedeutet werden soll.21 Ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung von (Un-)Zuverlässigkeit bildet – sowohl in faktualen wie auch in fiktionalen Erzählungen – die Genrezugehörigkeit und, damit eng verbunden, die Intertextualität. Für fiktionale Erzählungen ist dies offensichtlich: In einem Science-FictionRoman, in einem Schauerroman oder in einem Fantasy-Roman sind Erzähler nicht bloß deshalb als unzuverlässig einzustufen, weil sie wundersame Waffen benutzen, Vampire sehen oder auf Besenstilen reiten.22 Die Übereinstimmung mit den Gattungskonventionen reicht aus, um diese Besonderheiten zu erklären. Auch wenn es bislang keine erzähltheoretische Forschung zur Unzuverlässigkeit bei faktualen Erzählungen gibt, so scheinen Genrekonventionen und die intertextuelle Übereinstimmung mit einem oder mehreren Prätexten auch bei ihnen eine große Rolle zu spielen. So wäre etwa ein Erzähler einer mittelalterlichen Heiligenlegende nicht als unzuverlässig einzustufen, wenn er eine exemplarische Geschichte erzählt, die mit in der Bibel vorgegebenen Mustern übereinstimmt. Ähnliches könnte für die Erzählungen auf ägyptischen Stelen gelten, in denen von den Siegen des Pharao berichtet wird: Hier könnte sich die Übereinstimmung mit den historischen Fakten als ebenso irrelevant erweisen wie im Falle von mittelalterlichen Heiligenerzählungen – oder fiktionalen Texten. Diese Fragen sind jedoch noch nicht geklärt; sie wären einer weiteren Untersuchung wert. 21 Zu einer genaueren Erörterung von verschiedenen Arten sowie Graden von Unzuverlässigkeit vgl. V. NÜNNING, Reconceptualising Fictional (Un)reliability and (Un)trustworthiness from a Multidisciplinary Perspective: Categories, Typology and Functions, in: dies. (Hg.), Unreliable Narration and Trustworthiness (Narratologia 44), Berlin u.a. 2015, 83–108. 22 Die Frage, ob bzw. inwieweit ein Werk ‚realistisch‘ sein muss, damit der jeweilige Erzähler als unzuverlässig bezeichnet werden kann, wird kontrovers diskutiert. Auch in Genres wie Schauerromanen oder Science-Fiction-Romanen kann es unzuverlässige Erzähler geben – diese müssen jedoch auf eine Weise identifizierbar sein, die nicht auf die Gattungskonventionen zurückzuführen ist. Zudem kann ein postmodernes Werk, das eine Fülle von Diskrepanzen und von ‚impossible events‘ enthält, in der Regel nicht als ‚unzuverlässig‘ bezeichnet werden; dafür müssten die Diskrepanzen unter Rückgriff auf die Psyche des Erzählers auflösbar sein. Vgl. etwa J. ALBER , Unnatural Narratology: The Case of the Retrogressive Temporality in Martin Amis’s Time’s Arrow, in: V. Nünning (Hg.), New Approaches to Narrative: Cognition – Culture – History, Trier 2013, 41–54, zur unterschiedlichen Behandlung von Diskrepanzen in im weiteren Sinne realistischen und ‚unnatural narratives‘. Das Problem der genauen Bestimmung von textuellen Merkmalen wird dadurch noch komplexer, dass verschiedene Typen unzuverlässiger Erzähler aufgrund unterschiedlicher Signale identifizierbar sind. Hier konzentriere ich mich auf solche menschlichen Erzähler, die als Augenzeugen des Berichteten fungieren (d.h. auf homodiegetische Erzähler).

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Bei der Beurteilung von Zuverlässigkeit sind Genrekonventionen auch deshalb zu berücksichtigen, weil unterschiedliche Textsorten unterschiedliche Schreibweisen erfordern: Was im einen Fall als angemessen und korrekt (d.h. übereinstimmend mit den jeweils geltenden Konventionen) erscheint, kann im anderen Fall Anlass dazu geben, die Zuverlässigkeit einer Erzählung ebenso wie die Kompetenz des Erzählers zu bezweifeln. Dies betrifft etwa die Ausführlichkeit, mit der bestimmte Aspekte erzählt werden (z.B. die detaillierte Darstellung von Perzeptionen und Gefühlen vs. die Beschränkung auf äußere Ereignisse), sowie den Stil. Zwischen den Textsorten herrschen ebenso feine wie relevante Unterschiede; selbst innerhalb der Gattung ‚journalistisches Schreiben für eine Wochenzeitschrift zu Beginn des 21. Jahrhunderts‘ kommt es darauf an, für welche Zeitschrift der Beitrag intendiert ist. Trotz dieser Unterschiede lässt sich festhalten, dass im faktualen Erzählen die Faktizitätskonvention ebenso gilt wie die Monovalenzkonvention; es muss klar erkennbar sein, worum es jeweils geht. Darüber hinaus muss der kognitive Aufwand, den Leser für das Verständnis des Textes aufbringen müssen, abgestimmt auf die Komplexität des Sachverhalts, so gering wie möglich sein.23 Langatmige, repetitive Ausführungen führen zumindest in westlichen Gesellschaften heute meist zu einer Verringerung der Aufmerksamkeit bzw. dazu, dass der jeweilige Erzähler nicht ernst genommen wird. Aber auch kryptische Aussagen, die von Lesern erst mühsam gedeutet werden müssen oder blumige Bilder, die nur vor dem Hintergrund des Gesamttexts verstanden werden können, widersprechen den Konventionen der meisten faktualen Erzählsorten. In literarischen Texten gelten hingegen andere stilistische Konventionen: Hier ist Komplexität ebenso erwünscht wie Mehrdeutigkeit; es wird erwartet, dass sich ein Text auf mehreren Ebenen deuten lässt und dass es sich lohnt, sich näher mit ihm zu beschäftigen. Während Leser bei der Lektüre von faktualen Texten Situationsmodelle aufbauen und sich ein Bild von der Sachlage verschaffen, reagieren sie auf fiktionale Werke anders. Dem Stil wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Fakten; vielleicht auch deshalb, weil in literarischen Erzählungen bis zur letzten Sekunde grundlegende Wendungen erfolgen können und sich etwa herausstellt, dass der vermeintliche Bösewicht „in Wirklichkeit“ ein guter Mensch ist, während der strahlende Held sich als der gesuchte Verbrecher entpuppt.24 Die Verwendung von Leitmotiven, von Wiederholung und Variation oder von 23 Vgl. D. W ILSON/D. SPERBER , Relevance Theory, in: L. R. Horn/G. Ward (Hg.), The Handbook of Pragmatics, Oxford 2004, 607–632, bes. 608–610. 24 Vgl. z.B. R. A. Z WAAN, Effect of Genre Expectations on Text Comprehension, in: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 20/4 (1994), 920–933, 921–925.

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Bildern, die auf einer tieferen Ebene miteinander verknüpft sind, ist typisch für viele literarische Werke.25 Der erhöhte kognitive Aufwand, der mit der Lektüre vieler fiktionaler Erzählungen verbunden ist, wurde in einem einflussreichen Essay von Viktor Shklovsky sogar als herausragendes Merkmal von Kunst bezeichnet. Literarische Texte stellen alltägliche Gegenstände, die wir kennen, ohne sie wirklich zu sehen, in einer komplexen Weise dar: Sie de-automatisieren die Wahrnehmung und geben uns dadurch einen Teil unserer Erlebnisfähigkeit zurück, die im von Routine und unbewussten Handlungen bestimmten Alltag abhandenkommt.26 Neben diesen textbezogenen Kriterien spielt die Einschätzung der Persönlichkeit des Erzählers für die Beurteilung der Unzuverlässigkeit eines Textes eine große Rolle. Auch in diesem Bereich stellt sich die Sachlage in Bezug auf faktuale und fiktionale Erzählungen unterschiedlich dar. Im Falle von fiktionalen Werken sind unzuverlässige Erzähler ein innertextuelles Phänomen: Die Erzähler sind zu unterscheiden von den jeweiligen Autoren und können daher nur in Bezug auf die Fakten und Wertungen beurteilt werden, die im Text zu finden sind. Auch die Frage danach, ob sie Leser bewusst hinters Licht zu führen versuchen oder selbst an ihre irrigen Vorstellungen glauben und sich unfreiwillig selbst entlarven, ist ausschließlich durch Rückgriff auf den Text zu entscheiden. Bei fiktionalen unzuverlässigen (Ich-)Erzählern kann daher auch nicht entschieden werden, ob es sich um eine punktuelle und temporäre Einschränkung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit handelt, die sich nur in dieser einen vorliegenden Geschichte niederschlägt, oder ob es ein Charakterzug des Erzählenden ist. Bei faktualen Erzählungen ist dies völlig anders: Hier erweist sich die Beurteilung der Zuverlässigkeit des Erzählers als wesentlich komplexer, denn neben dem Text sind andere Faktoren zu berücksichtigen. Hierzu zählen insbesondere die Reputation des Autors (und damit zugleich des Erzählers), die Zuverlässigkeit seiner früheren Erzählungen sowie die Frage danach, ob seine Handlungen mit seinen im Text zur Schau getragenen Überzeugungen übereinstimmen; auch das Wissen um Persönlichkeitsattribute, etwa um Ehrlichkeit oder moralische Grundeinstellungen, spielt eine Rolle. Da25 Obgleich eine ganze Reihe von stilistischen Merkmalen identifiziert worden sind, die als typisch für Literatur gelten (und von der Einsicht in das Bewusstsein der Figuren über die Verwendung von Reimen und Sprachbildern bis hin zum epischen Präteritum reichen), scheint es doch unmöglich, ein einziges dieser Merkmale als notwendig und hinreichend für die Definition von ‚literarischem Stil‘ zu erklären. Dennoch kann die Kombination einer Reihe von Merkmalen – zusammen mit dem Aufheben der Faktizitätskonvention – dazu führen, ein Werk als ‚fiktional‘ zu definieren. Vgl. etwa J. GERTKEN/T. KÖPPE, Fiktionalität, in: S. Winko/F. Jannidis/G. Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York 2009, 228–266. 26 Vgl. V. SHKLOVSKY, Art as Technique, in: L. T. Lemon/M. J. Reis (Hg.), Russian Formalist Criticism. Four Essays, Lincoln 1965 (1917), 3–24, 12f.

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durch wird es in Bezug auf faktuale Texte möglich, die Zuverlässigkeit eines Erzählers unabhängig von der Erzählung einzuschätzen und diese Einsichten zu verwenden, um die Glaubwürdigkeit des Betreffenden als Augenzeuge entsprechend zu gewichten.27

4. Schlussbetrachtung: Die Differenzen zwischen faktualen und fiktionalen (un)zuverlässigen Erzählungen mit Blick auf deren Funktionen Trotz der vorherrschenden Tendenz zur Nivellierung zwischen faktualen und fiktionalen Erzählungen lassen sich daher eine Reihe unterschiedlicher Kriterien verwenden, die die jeweiligen Eigenheiten der Erzählweisen deutlich machen. Diese Kriterien treten bei der Beurteilung von zuverlässigen bzw. unzuverlässigen faktualen bzw. fiktionalen Erzählungen besonders deutlich hervor. Nicht nur kann theoretisch unterschieden werden zwischen Fakten und Fiktionen; es kann auch innerhalb der Erzählungen von Fakten und Fiktionen jeweils differenziert werden zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Narrationen. Aufgrund epistemologischer Beschränkungen ist es zwar nicht möglich, zu objektiven Darstellungen zu gelangen. Dennoch kann man – auf einer wesentlich bescheideneren Ebene – recht deutlich zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Erzählungen unterscheiden. Auch hier gilt, dass keine binäre Opposition aufgestellt und kategorisch zwischen wahr/zuverlässig und falsch/unzuverlässig differenziert werden kann. Es ist jedoch ebenso möglich wie sinnvoll, eine Reihe von Skalen zu etablieren, auf denen Erzählungen anhand unterschiedlicher Kategorien eingeordnet werden können. Die Anwendung der Kriterien führt im Einzelfall nicht immer zur gleichen Positionierung auf den jeweiligen Skalen; es ist durchaus möglich, dass die Zuverlässigkeit einer Erzählung mit Blick auf die verschiedenen kontextuellen, textinternen bzw. paratextuellen Kriterien unterschiedlich einzustufen ist. Auch kann eine Erzählung zuverlässig in Bezug auf die (fiktionalen oder faktualen) Fakten sein, aber unzuverlässig in Bezug auf deren Interpretation und Wertung. Dennoch ist eine recht differenzierte Einschätzung des jeweiligen Grades der Unzuverlässigkeit einer Erzählung möglich, wenn die einzelnen Kriterien zueinander in Bezug gesetzt und gewichtet werden.

27 Bei faktualen Erzählungen können daher die oben bereits genannten Merkmale von Konsistenz, Moral und Ehrlichkeit, die in der multidisziplinären Forschung zum Vertrauen eine große Rolle spielen, angewendet werden. Zusätzlich sind die anhand von Autobiographien und journalistischen Berichten genannten Kriterien (z.B. Übereinstimmung zwischen Autor und Erzähler) zu beachten.

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Zudem haben faktuale und fiktionale unzuverlässige Erzählungen unterschiedliche Konsequenzen und Funktionen für die Betroffenen. Während schon die Beispiele der vermeintlichen Autobiographie von Frey sowie die angeführten journalistischen Berichte darauf hinweisen, dass getäuschte Leser mit Ärger und Sanktionen reagieren, wenn sie erkennen, dass es sich um unzuverlässige faktuale Erzählungen handelt, wird diese Form der Darstellung in fiktionalen Texten als Stilmittel eingesetzt, das eine ganze Reihe von Funktionen erfüllen kann. Ihnen gemeinsam ist, dass das Entdecken von Unzuverlässigkeit in literarischen Texten sowohl Spannung als auch Vergnügen weckt und verschiedene kognitive Prozesse aktiviert. In epistemologischer Hinsicht erlaubt die Konfrontation mit unzuverlässigen Erzählern die Erfahrung und Beurteilung von Subjektivität; dies impliziert die Konfrontation mit der Individualität von Perzeptionen ebenso wie die Frage danach, ob, und wenn ja wo, eine Grenze zwischen subjektiver Sinnzuweisung und inkorrekter sowie inakzeptabler Deutung und Wertung zu ziehen ist. Insofern wirft unzuverlässiges Erzählen auch ethische Fragen auf. Wenn Leser den Text verstehen wollen, so müssen sie sich zu ihm – und zu den devianten Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen – positionieren. In kognitiver Hinsicht erfordert die Lektüre unzuverlässiger Erzählungen die Überprüfung und Revision der anfangs aufgestellten Thesen sowie Flexibilität bei der Suche nach neuen Naturalisierungsstrategien, die zur Auflösung der festgestellten Diskrepanzen führen können. Darüber hinaus bleibt oftmals offen, was sich denn in einigen Fällen genau zugetragen hat und was die anderen Figuren über die Erzähler denken; das Nachvollziehen der Gedanken unzuverlässiger Erzähler impliziert das Anerkennen von Nicht-Wissen und die Akzeptierung von Komplexität. Auch erlaubt es Einblick in Denkweisen, die Lesern zunächst völlig fremd erscheinen mögen, die aber oft genug beunruhigende Parallelen zu den eigenen Bewusstseinsprozessen aufweisen. Durch das Verfolgen der Gedanken und Gefühle des Erzählers wird ein Verständnis seiner Eigenheiten möglich, die nicht selten zu einer Verringerung der Distanz führen: Der vermeintlich radikal Andere entpuppt sich als ein Mensch, der nicht so leicht als „anormal“ ausgegrenzt werden kann. Manchmal können die scheinbar verrückten Bilder und Wahrnehmungsweisen sich sogar auf einer metaphorischen oder symbolischen Abstraktionsebene als zutreffend erweisen und zu neuen Einsichten führen. Nicht zuletzt kann das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählens dazu dienen, jene Lektüreerfahrung hervorzurufen, die Viktor Shklovsky als Merkmal der Literatur bezeichnet hat: die DeFamiliarisierung und De-Automatisierung der Wahrnehmung, die notwendig ist, um zunächst als seltsam bzw. unzutreffend empfundenen Beschreibungen Sinn zuzuweisen.

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Auch im Bereich der Funktionen von unzuverlässigem Erzählen bestehen daher große Unterschiede zwischen faktualen und fiktionalen Texten. Anlass genug, den vorherrschenden Nivellierungstendenzen mit Skepsis zu begegnen und zu untersuchen, wie man die Besonderheiten von zuverlässigem und unzuverlässigem faktualen Erzählen näher bestimmen kann. Darüber hinaus sei einer Literaturwissenschaftlerin die Frage danach erlaubt, ob, bzw. inwiefern, die Erfassung der Eigenheiten von religiösen Erzählungen – die einerseits etwa in ihrer Transzendenz der bloß faktischen Beschreibung sowie in der Vielschichtigkeit der Interpretationsmöglichkeiten Ähnlichkeiten mit fiktionalen Werken aufweisen, andererseits zugleich in Bezug auf die Darstellung der Fakten beurteilt werden können – es sinnvoll erscheinen lässt, eine Achse für religiöses Erzählen zu etablieren. Auf dieser Grundlage könnte dann untersucht werden, ob bzw. aufgrund welcher Kriterien einzelne Werke auf dieser Achse als mehr oder weniger zuverlässig eingestuft werden könnten.

Abstract Based on the literary tendency to level all differences between factual and fictional narration, this essay presents ‘unreliable narration’ as a paradigm which enables a distinction between fictional and factual narration. The identification of three different axes of narration serves to classify the reliability or unreliability of the narration. These differences between reliable and unreliable narration can be analyzed with regard to two perspectives: the institutional frame and rules influencing the readers’ expectation as well as the paratextual and textual signals. This leads to a survey of the different functions of unreliable narration in fictional and factual texts.

Literatur J. ALBER , Unnatural Narratology: The Case of the Retrogressive Temporality in Martin Amis’s Time’s Arrow, in: V. Nünning (Hg.), New Approaches to Narrative: Cognition – Culture – History, Trier 2013, 41–54. M. CHARLTON/C. P ETTE/C. B URBAUM, Reading Strategies in Everyday Life. Different Ways of Reading a Novel which Make a Distinction, in: Poetics Today 25/2 (2004), 241–263. B. DERNBACH, (Un)reliable Narration in Journalism: The Fine Line between Fact and Fiction, in: V. Nünning (Hg.), Unreliable Narration and Trustworthiness (Narratologia 44), Berlin u.a. 2015, 305–328 B. DERNBACH/M. MEYER (Hg.), Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2005.

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Schreiben Geschichten (wahre) Geschichte? Fiktionalität und Faktualität, Fakten und Fiktives im Diskurs neutestamentlicher Exegese Jörg Röder

1. Waghalsige Konstruktionen und garstige Gräben 1.1 Waghalsige Konstruktionen neutestamentlicher Exegese „Exegeten sind Konstrukteure, die auf dem schmalen Gerüst zweitausend Jahre alter Konstruktionen konstruieren.“ 1 Man stelle sich vor, ein Architekt hätte die Aufgabe, die womöglich instabile Turmspitze des Kölner Doms einer Untersuchung zu unterziehen, was allein schon wagemutig ist. Wenn er sich dabei noch dazu in über 150 m Höhe ohne Sicherung auf ein schmales Gerüst stützen müsste, das aus der ersten Bauphase des Turms im 16. Jahrhundert stammt,2 würde wahrscheinlich auch der waghalsigste Architekt das Unterfangen gar nicht erst antreten. Wenn das oben beschriebene Bild, das Knut Backhaus und Gerd Häfner von (neutestamentlicher) Exegese entwerfen, zutreffend ist, dann muss der Exeget heute allerdings ebendiese Waghalsigkeit beweisen. Zugegeben: Im Gegensatz zum Architekten, der am Kölner Dom arbeitet, riskiert der Ex eget mit seiner Waghalsigkeit nicht sein Leben. Hat aber der Exeget umfassende Sicherungsmöglichkeiten, die mit denen vergleichbar sind, die dem Architekten zur Verfügung stehen? Er kann nicht einfach ein Gerüst zur Hand nehmen, das neuesten Sicherheitsstandards entspricht. Er hat auch nicht die Möglichkeit, sich mit einem Seil abzusichern. Es geht dem Exe1 K. B ACKHAUS/G. HÄFNER , Zwischen Konstruktion und Kontrolle: Exegese als historische Gratwanderung, in: dies. (Hg.), Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007, 131–136, 135. 2 Vgl. http://www.koelner-dom.de/index.php?id=geschichte (letzter Zugriff am 04.12.14).

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geten auch nicht in demselben Sinn um sein Leben wie dem Architekten. Im übertragenen Sinn aber sehr wohl: Wenn Exegeten sich mit biblischen Texten auseinandersetzen, sind sie dann nicht auf der Suche nach Wahrheiten, die ihr eigenes Leben und das Leben ihrer Mitmenschen im Innersten betreffen und sogar weit darüber hinaus weisen? Wie aber sollen Exegeten, wenn sie nichts anderes als Konstrukteure sind, verlässliche Wahrheiten finden? Wie sollten sie diese vermitteln? Denn nach verlässlichen Wahrheiten suchen die Menschen, weil sie ihnen Orientierung bieten. Viel eher müsste man doch annehmen, dass sich jeder Exeget seine eigene Wahrheit konstruiert. Wie soll aber diese konstruierte Wahrheit stabil sein, wenn das schmale Gerüst zweitausend Jahre alter Konstruktionen (von Wahrheit) die Grundlage ist? Wie wäre es darüber hinaus wissenschaftlich zu rechtfertigen, dass das einzige Ergebnis der Exegese eine waghalsige Konstruktion auf der Grundlage instabiler Konstruktionen ist? Die Grundlage kann noch weiter ins Wanken gebracht werden: Provokant gesagt, beschreibt die Geschichte der neutestamentlichen Exegese eine Entwicklung des Nichtwissens: Wir wissen nicht, wer die Evangelien verfasst hat, wie wir die meisten Autoren neutestamentlicher Schriften nicht kennen. Mitunter können wir nur mit einiger Sicherheit angeben, dass der vermeintliche Autor gerade nicht der Verfasser der Schrift war. Die ursprüngliche Textgrundlage, den so genannten Urtext des Neuen Testaments, haben wir nicht – die maßgebliche textkritische Ausgabe des griechischen Neuen Testaments ist … eine Konstruktion. Nach Literar-, Traditions- und Redaktionskritik bleibt von einem Evangelientext, der als ursprünglich bezeichnet werden kann, nicht mehr viel übrig. Da sich diese Ergebnisse von Exeget zu Exeget aus guten Gründen erheblich unterscheiden können, bleibt am Ende nur ... eine Konstruktion? Obwohl tausende Seiten an Forschungsliteratur zum historischen Jesus, zu seinen Taten und Worten, verfasst worden sind, verweist ein erheblicher Teil der neutestamentlichen Forschung mittlerweile darauf, dass nunmehr von dem erinnerten Jesus3 gesprochen werden kann: der historische Jesus … eine Konstruktion?4 Schließlich erreichen wir – so neuere Tendenzen in der Exege3 Immerhin können wir auf der Grundlage eines umfassenden Textmaterials den eri nnerten Jesus betrachten, vgl. dazu etwa das Themenheft ZNT 20 (2007) zum erinnerten Jesus aus verschiedenen Perspektiven. Die Debatte um den historischen Jesus, die eng mit der Thematik des vorliegenden Bands zusammenhängt, kann im Rahmen dieses Be itrags allerdings nicht aufgenommen werden; die Literatur ist schier unüberschaubar. Für einen grundlegenden Überblick sei verwiesen auf die forschungsgeschichtlichen Ausfü hrungen Helmut Merkels: H. MERKEL, Zwei Jahrzehnte Jesusforschung nach 1985, Teile I–IV, in: ThR 78/2 (2013), 125–154; ThR 78/3 (2013), 265–307; ThR 78/4 (2013), 397– 430; ThR 79/1 (2014), 35–82. 4 Zu diesem Ergebnis kommt Klaus Wengst, vgl. K. W ENGST, Geschichte(n) und Wahrheit. Anmerkungen zum biblischen Wirklichkeitsverständnis, in: EvTh 68/3 (2008), 178–192. Ich danke Ruben Zimmermann für diesen Hinweis sehr herzlich.

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se5 – niemals gesichert den ursprünglichen Text, vor allem niemals das ursprüngliche Ereignis, die authentischen Worte, sondern nur die Darstellung von Erinnerung. Ist das eine Konstruktion auf stabiler Grundlage oder sind wir nicht vielmehr bereits im Bereich der Fiktion angelangt? 1.2 Lessings garstiger Graben als Herausforderung Insbesondere mit Blick auf Wundererzählungen über (den historischen) Jesus sind diese Fragen immer wieder sowohl im wissenschaftlichen als auch im alltäglichen Diskurs von Gläubigen und Nicht-Gläubigen diskutiert worden.6 Einer der häufigsten Einwände gegen den Wahrheitsgehalt derartiger Wundererzählungen 7 ist die naturwissenschaftliche Unmöglichkeit der geschilderten Wundertaten. Damit hängt der Vorwurf zusammen, dass aktuell derartige Wundertaten nicht beobachtet werden, weswegen ihre Gültigkeit auch für die Vergangenheit abgelehnt wird. In seiner Schrift „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“, die als Replik auf die Untersuchung Johann Daniel Schumanns „Über die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion“ gilt, hat Gotthold Ephraim Lessing diese Position eindrucksvoll vertreten. „Ein andres sind Wunder, die ich mit meinen Augen sehe und selbst zu prüfen Gelegenheit habe, ein andres sind Wunder, von denen ich nur historisch weiß, dass sie andre wollen gesehʼn und geprüft haben. […] Oder ist ohne Ausnahme, was ich bei glaubwürdigen Geschichtsschreibern lese, für mich ebenso gewiss, als was ich selbst erfahre? […]. Hierauf nun antworte ich. Erstlich, wer leugnet es – ich nicht –, dass die Nachrichten von jenen Wundern und Weissagungen ebenso zuverlässig sind, als nur immer historische Wahrheiten sein können? – Aber nun, wenn sie nur ebenso zuverlässig sind, warum macht man sie bei dem Gebrauche auf einmal unendlich zuverlässiger? […] Das ist: Zu5

Vgl. den noch immer aktuellen und kritischen Forschungsüberblick von M. MAExegese zwischen Geschichte, Text und Rezeption. Literaturwissenschaftliche Zugänge zum Neuen Testament, in: VF 55 (2010), 19–37. Mayordomo wirft abschließend „kritisch-hermeneutische Fragen“ auf, darunter: „Wie verhalten sich Erzählung, Fiktion, Geschichte und Wahrheit zueinander?“ (a.a.O., 36). Sie gilt es, intensiver zu diskutieren, wozu hier ein Beitrag geleistet werden soll. 6 Vgl. den Forschungsüberblick von R. ZIMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung, in: ders. u.a. (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen. Band 1: Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 5–67, 7–12, der die „Deutung durch ‚historische Anpassungʻ, durch ‚rationalistische Erklärungʻ und durch Übertragung des Bildhaften“ nennt. Vgl. auch die Extrempositionen, die aktuell noch die erhebliche Spannung in dieser Diskussion widerspiegeln, wie etwa eine Fülle von Belegen zu Inte rnetdiskursen zeigen, z.B.: http://carm.org/questions/about-jesus/cant-all-jesus-miraclesbe-explained-naturally (Zugriff am 21.12.14). 7 Wären die Wundererzählungen über die Apostel oder die Geschichten aus manchem parabiblischen Text bekannter, die Einwände wären wohl noch heftiger ausgefallen. Vgl. hierzu grundlegend R. ZIMMERMANN u.a. (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen. Band 1: Wunder Jesu; Band 2: Wunder der Apostel, Gütersloh 2013/2015. YORDOMO ,

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fällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden. […] Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. […] Und so wiederhole ich, was ich oben gesagt, mit den nämlichen Worten: Ich leugne gar nicht, dass in Christo Weissagungen erfüllt worden, ich leugne gar nicht, dass Ch ristus Wunder getan, sondern ich leugne, daß diese Wunder, seitdem ihre Wahrheit völlig au fgehöret hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden, seitdem sie nichts als Nachrichten von Wundern sind […], mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürfen.“ 8

Betrachten wir das Problem des viel zitierten garstigen Grabens zunächst mit Blick auf den zweiten, hier gebotenen Abschnitt: Lessing, der bestrebt war, eine Brücke zwischen Glaube und Vernunft zu schlagen, spricht den Wundererzählungen die Kraft ab, die Wahrheit des Christentums zu transportieren, die weniger durch Vernunft als vielmehr durch Gefühl und Empfindung wahrgenommen wird. 9 Nicht die erzählte Wundertätigkeit Jesu führt dazu, dass man auch seinen Predigten Glauben schenken und ihm somit nachfolgen solle. Vielmehr sollen Wunder nur auf die in Jesu Worten geoffenbarten Vernunftwahrheiten aufmerksam machen.10 Im ersten Abschnitt beschreibt Lessing sein vordringliches Problem mit einer für andere offenbar entscheidenden Geschichtswahrheit, die der Vernunftwahrheit und damit einem verlässlichen Glauben entgegensteht. Es besteht darin, dass der Bericht historischer Ereignisse „nur zufällige Geschichtswahrheiten“ darstellt, die keine Gewissheit über den (historischen) Wahrheitsgehalt geben können. 11 Damit wird deutlich, wie er mit sich ringen muss, wenn er die Wundertätigkeit Jesu als Fiktion ablehnt, aber der garstige Graben scheint unüberwindbar. Denn die vermittelten Geschichtswahrheiten, z.B. zu den Wundern Jesu, finden nach seiner Wahrnehmung keine Analogie in unmittelbaren Erfahrungen. 12 Ein Sprung kann nicht gelingen und eine Brücke scheint es nicht zu geben: Denn die zwei Klassen von Wahrheiten sind miteinander unvereinbar. Geschichtswahrheiten sind zufällig, da sie etwa durch neue Quellenfunde relativiert oder gar revidiert werden können. Für Vernunftwahrheiten gilt das hingegen 8 G. E. LESSING, Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), in: P. Rilla (Hg.), Gotthold Ephraim Lessing. Gesammelte Werke. Achter Band, Berlin 1956, 9–16, 12. 9 Vgl. D. HARTH, Gotthold Ephraim Lessing. Oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis (BsR 631), München 1993, 176f. 10 Vgl. W. G. J ACOBS, „Der garstige breite Graben“. Lessing, Kant und Schelling zum Verhältnis von Vernunft und Tatsache, in: E. J. Engel/C. Ritterhoff (Hg.), Neues zur Lessing-Forschung, FS I. Strohschneider-Kohrs, Tübingen 1998, 169–180, 171. 11 Vgl. G. T HEISSEN, Kriterien der Jesusforschung und der garstig breite Graben der Geschichte: Hermeneutische Aspekte der Kriterienfrage, in: ders./D. Winter (Hg.), Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriter ium (NTOA 34), Göttingen 1997, 233–269, 234f. 12 Vgl. THEISSEN, Kriterien (s. Anm. 11), 235 mit Anm. 2.

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nicht.13 Indem er aber die hohe Bedeutung historischer Wahrheiten für die Herausbildung des Glaubens bestreitet und ihnen die Vernunftwahrheiten entgegenstellt, gibt Lessing den Versuch auf, den garstigen Graben zu überwinden. Die Frage, ob frühchristliche Geschichten wahre Geschichte schreiben, kann mit Lessing somit eindeutig bejaht werden. Die Frage, ob sie historische Wahrheiten im Sinne von historischen Fakten übermitteln, muss verneint werden. Es ist für die Ausbildung des Glaubens im Übrigen zweitrangig. Frühchristliche Geschichten transportieren Wahrheiten, die auf der Grundlage der Vernunft angenommen und glaubend aufgenommen werden können. Damit wird der garstige Graben zwar nicht überwunden, es wird aber deutlich gemacht, dass ein Sprung auf die andere Seite gar nicht notwendig ist. Lessing entscheidet sich für die Seite des Grabens, die er gesichert nachvollziehen kann, wie Wilhelm Jacobs treffend kommentiert: „[M]an kann nicht von den historischen Zeugnissen aus auf die notwendige Wahrheit schließen, aber umgekehrt ist es sehr wohl möglich, von der eingesehenen Vernunf twahrheit aus auf die Wahrheit der Überlieferung zu schließen. Auf die Lehre, die praktische Vernunftwahrheit kommt es an.“ 14

1.3 Waghalsige Konstruktionen und der garstige Graben als Chance Ist dieser garstige Graben, den Lessing zwischen seiner auf Vernunft gründenden Skepsis und den vermeintlich dauerhaften (historischen) Wahrheiten biblischer Erzählungen beschreibt, allein deshalb schon unüberwindbar, weil auf der anderen Seite, der Seite der historischen Ereignisse, der „Geschichtswahrheiten“, ein Treibsand auf uns wartet, der nur aus der Distanz betrachtet eine scheinbar stabile Oberfläche bildet, der aber, sobald wir den Sprung hinüber wagen, völlig zerrieselt und uns unter sich begräbt? Was uns auf der anderen Seite tatsächlich erwartet, das können wir nicht wissen. Weite Sprünge auf die andere Seite sind bislang erfolglos geblieben, sie landeten allesamt im Graben. Auch der Bau von Brücken über den Graben gelang nicht. Die Suche nach hinter dem Text stehenden (historischen) Wahrheiten und Gewissheiten war nicht erfolgreich. Wir müssen uns dem Graben stellen. Gerd Theißen hat daher vorgeschlagen, aus der Not eine Tugend zu machen und direkt den Sprung in den Graben, ins kalte Wasser zu wagen: „Nicht als Weitspringer, wohl aber als Schwimmer gelangen wir ans andere Ufer, auch wenn wir dann vielleicht jemanden brauchen, der uns ans Trockene zieht.“15 Die Kriterien der historischen Jesusforschung dienen 13

Vgl. J ACOBS, Graben (s. Anm. 10), 170. J ACOBS, Graben (s. Anm. 10), 172. Vgl. mit erweiterter Perspektive den Beitrag von Eckart D. Schmidt in diesem Band. 15 T HEISSEN, Kriterien (s. Anm. 11), 236. 14

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dabei als Rettungsring. 16 Auch mit ihrer Hilfe bleibe die Überwindung des Grabens durch das kalte Wasser schwierig und es gebe keine Garantie, dass man das andere Ufer erreicht. In Bezug auf die Rekonstruktion historischer Ereignisse bleibe daher vieles hypothetisch.17 Dennoch folgt Theißen dem Beispiel Lessings nicht. Er bietet eine Alternative, da er mit bestimmten Kriterien der historischen Jesusforschung als Stütze den Graben schwimmend überwinden will. Damit können wir uns der durch frühchristliche Geschichten transportierten wahren Geschichte zumindest annähern. Theißen ist in jedem Fall beizupflichten, wenn er ausführt, der Graben sei tiefer, länger und verzweigter und breiter geworden. 18 Der vorliegende Beitrag plädiert dennoch dafür, seiner Aufforderung nachzukommen und ins kalte Wasser des garstigen Grabens zu springen. Nicht darin schwimmen wollen wir allerdings, sondern wahrlich eintauchen in den Graben und sehen, wie tief er wirklich ist. Ähnlich dem Architekten, der für seine Konstruktion am hochgelegenen Turm modernes Gerät einsetzt, wollen auch wir uns weiterer Hilfsmittel bedienen, die uns die nötige Luft zum Atmen verschaffen. Der mutige Taucher wird nämlich feststellen, dass der Graben zwar tief und breit und wahrlich garstig ist. Er wird aber auch merken, dass er nicht unendlich tief und nicht unendlich breit ist. Die beiden Abhänge – oder sind es nicht noch viel mehr als zwei? – und der Graben – ist es der einzige? – stehen ganz tief unten auf demselben Grund. Durch eine gemeinsame Basis sind sie miteinander verbunden. Modernes Gerät macht es uns möglich, auf diesem Grund zu stehen und ihn zu erforschen. Wir können Mut fassen, denn was uns als Basis vorliegt, ist konkret: der Text. In seiner (re-)konstruierten Endgestalt. Immerhin. Da frühchristlichen Texten meist der Anspruch zugrunde gelegt wird, auf historische Ereignisse zu rekurrieren, ist hier eine tiefliegende und vage, aber konkrete Verbindung vorhanden. Dieser Anspruch soll daher wahr- und ernstgenommen werden. Gleichzeitig geht aus frühchristlichen Texten hervor, dass sie über ihren historischen Kontext und über die Darstellung eines historischen Ereignisses hinaus immer wieder neu Geltung beanspruchen. Beides, historische Bedingtheit und zeitlose Wirkung, erleben wir darin. Das verbindende Element des Texts besteht in einer tief verwurzelten Heilsgeschichte,19 der sich frühchristliche Literatur verschrieben hat. In all ihren Facetten und Darstellungsformen bietet sie Möglichkeiten, sich einer Überwindung des garstigen Grabens anzunähern. Nehmen wir somit den jeweiligen Text als Grundlage, so verfügen wir immerhin über eine Basis, 16

Vgl. THEISSEN, Kriterien (s. Anm. 11), 238. Vgl. THEISSEN, Kriterien (s. Anm. 11), 240–269. 18 Vgl. THEISSEN, Kriterien (s. Anm. 11), 235f. 19 Vgl. die Schlussfolgerungen von Martin Bauspieß in seinem Beitrag im vorliege nden Band. 17

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um uns auf die Suche nach (theologischen) Wahrheiten zu begeben, die im Text und durch den Text im Prozess der Lektüre vermittelt werden. Das Konstrukt im Spannungsfeld von erinnerten historischen Ereignissen, ihrer Interpretation durch Versprachlichung in Texten und erdachten Passagen – das Konstrukt im Spannungsfeld von Fiktionalität und Faktualität, von Fakt und Fiktion –, es besteht. Ob Wagemut erforderlich ist, ob es mitunter waghalsig ist, dennoch den Versuch zu unternehmen zu historischen und/oder theologischen Wahrheiten zu kommen, die Herausforderung sollte im Bewusstsein um dieses Konstrukt angenommen werden. Das moderne Gerät zur Unterstützung besteht aus einem immer weiter differenzierten methodischen Spektrum, wozu auch die oben genannten, der Literaturtheorie entliehenen Kategorien der Texteinordnung gehören. Da die Frage nach Fiktionalität und Faktualität oftmals wenig differenziert oder zumindest in Frageform (oftmals auch provozierend) auf die Frage nach Fakt oder Fiktion bzw. sogar Fiktion und Wahrheit zugespitzt wird,20 ist eine Veränderung der Perspektive auf den Wahrheitsbegriff, wie 20

Vgl. exemplarisch für Altes Testament und Midrash: J.-L. SKA, Salomon et la naissance du royaume du nord: fact or fiction?, in: C. Lichtert/D. Nocquet (Hg.), Le Roi Salomon un héritage en question, Brüssel 2008, 36–56, 36f., der sich allerdings gegen diese vereinfachende Dichotomie wendet, indem er abschließend (a.a.O., 56) in Bezug auf biblische Erzählungen feststellt: „Ce sont des œuvres qui relisent et utilisent le passé pour pouvoir comprendre et expliquer le présent.“ Vgl. H. M. B ASTARD, „Fact“ versus „Fiction“ and Other Issues in the History Debate, and their Relevance for the Study of the Old Testament, in: C. Bultmann u.a. (Hg.), Vergegenwärtigung des Alten Testaments. Beiträge zur biblischen Hermeneutik, FS R. Smend, Göttingen 2002, 433–447, der nach einer differenzierten Diskussion festhält (a.a.O., 446): „What we are left with is a kind of narrative history whose positivistic truth is lying somewhere on the scale between what happened and scholarly reconstructions of what happened, but much closer to the latter end of the scale.“ C. MILIKOWSKY , Midrash as Fiction and Midrash as History: What Did the Rabbis Mean?, in: J.-A. Brant u.a. (Hg.), Ancient Fiction. The Matrix of Early Christian and Jewish Narrative (SBL.SS 32), Atlanta 2005, 117–127; S. J OHNSON, Third Maccabees: Historical Fictions and the Shaping of Jewish Identity in the Hellenistic Period, in: J.-A. Brant u.a. (Hg.), Ancient Fiction. The Matrix of Early Christian and Jewish Narrative (SBL.SS 32), Atlanta 2005, 185–197. Für weitere Umfeldtexte vgl. exemplarisch T. S. MANOR , Epiphanius’ Account on the Alogi: Historical Fact or Heretical Fiction?, in: A. Brent/M. Vinzent (Hg.), Studia Patristica 52, Leuven u.a. 2012, 161 –170. Vgl. J. N. BREMMER , Early Christian Human Sacrifice Between Fact and Fiction, in: À. A. Nagy/F. Prescendi (Hg.), Sacrifices Humains. Dossiers, Discours, Comparaisons (BEHE.R 160), Turnhout 2013, 165–176, der von dem Faktum des Kannibalismusvorwurfs gegenüber frühen Christen ausgeht und die Reaktionen darauf untersucht, die das als Fiktion zurückweisen. Vgl. M. P UCCI B EN ZEEV, Between Fact and Fiction: Josephusʼ Account of the Destruction of the Temple, in: J. Pastor u.a. (Hg.), Flavius Josephus. Interpretation and History, (JSJ.S 146), Leiden/Boston 2011, 53–63, deren eigentliches Interesse den vermeintlichen Fakten gilt, die sie von der Fiktion scheidet. Noch deutlicher in diese Richtung – und ebenfalls ohne Verortung in der geschichts- oder literaturwissenschaftlichen Diskussion – positioniert sich K. ATKINSON, The Historical Chronology of the Hasmonean Period in the War and Antiquities of Flavius Josephus: Separating

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sie oben bereits anklang, die erste Maßnahme im Eintauchen in den Graben. Die Lessingsche Dichotomie zwischen Geschichtswahrheiten und Vernunftwahrheiten kann und muss aufgefächert werden. 21 Klaus Wengst hielt in seiner Abschiedsvorlesung ein Plädoyer für diese Position. Nicht nach geschichtlicher Wahrheit im Sinne einer historischen (Re-)Konstruktion sei im Kern biblischer Geschichten zu suchen, sondern „die Erzählung hat ihre Wahrheit und Wirklichkeit im Erzählen und in dem, was das Erzählen bewirkt“ 22. Die Wirkung bestehe in der Identitätsstiftung einer Gemeinschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 23 Mit einer profangeschichtlichen Perspektive sei dem daher nicht beizukommen, da „Gott und Geschichte […] so zusammengebracht [werden], dass Geschichten erzählt werden, [die] mit bestimmter Geschichte in Zusammenhang [stehen], ohne jedoch als ‚historischʻ identifiziert werden zu können“24. Es ist die Rede von einer Heils- oder Erzählgeschichte. 25 Der historische Wahrheitsbegriff ist demnach abzulösen von einem religiösen bzw. theologischen Verständnis von Wahrheit. Diese These verteidigt auch Elisabeth Parmentier, die neben die historisierende Wahrheit eine rezeptionsorientierte theologische Wahrheit stellt. 26 Fact from Fiction, in: J. Pastor u.a. (Hg.), Flavius Josephus. Interpretation and History (JSJ.S 146), Leiden/Boston 2011, 7–27; wesentlich differenzierter G. SCHIMANOWSKI, Propaganda, Fiktion und Symbolik: Die Bedeutung des Jerusalemer Tempels im Werk des Josephus, in: J. Pastor u.a. (Hg.), Flavius Josephus. Interpretation and History (JSJ.S) 146, Leiden/Boston 2011, 315–330, der dazu mahnt, „die Texte von ihrem eigenen Anspruch her ernst [zu] nehmen“ (a.a.O., 320). 21 Vgl. J ACOBS, Graben (s. Anm. 10), 172–180, der mit Verweis auf die Lessingschen Zeitgenossen Kant und Schelling zwei Positionen aufzeigt, wie der Graben verkleinert oder sogar geschlossen werden kann. 22 WENGST, Geschichte(n) (s. Anm. 4), 182. Vgl. mit Rückbindung zum Wahrheitsbegriff C. LANDMESSER , Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft (WUNT 113), Tübingen 1999, 497–503 („Das Handlungspotential und das effektive Potential der neutestamentlichen Texte“). 23 Vgl. WENGST, Geschichte(n) (s. Anm. 4), 182. 24 WENGST, Geschichte(n) (s. Anm. 4), 183. Es handelt sich um „Hoffnungs- und Vertrauensgeschichten“ (a.a.O, 184), die immer wieder neu die Verlässlichkeit Gottes als Botschaft transportieren, vgl. a.a.O., 187, wo Wengst sehr eindrucksvoll darauf hinweist, wie Wahrheit auch verstanden werden kann: „Wahrheit ist das, was sich bewährt.“ Vgl. grundlegend LANDMESSER, Wahrheit (s. Anm. 22), insbesondere in Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann zum Verständnis von avlh,qeia im Neuen Testament, a.a.O., 220– 253. 25 Vgl. WENGST, Geschichte(n) (s. Anm. 4), 183. Wengst bekräftigt das in einer weiteren Arbeit, vgl. K. WENGST, Das, was ist, ist nicht alles. Neutestamentliche Wundergeschichten und das Wunder der Auferstehung, in: BiKi 68 (2013), 150–155, 151: „Sie (sc. die Evangelisten, J.R.) interessiert, was Gott mit dieser Geschichte zu tun hat, und so wird das Faktische im fiktionalen Erzählen immer wieder transzendiert.“ 26 Vgl. E. P ARMENTIER , Dieu a des Histoires. La dimension théologique de la narrativité, in: D. Marguerat (Hg.), La Bible en récit. L’exégèse biblique à l’heure du lecteur (MdB 48), Genf 22005, 112–119, 116f.: „La vérité est donc bien de l’ordre événementiel,

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Auf dem Grund des Grabens sollte ein weiterer Schritt der Beobachtung Rechnung tragen, dass es sich bei frühchristlichen Texten um Konstruktionen auf der Grundlage von Erinnerung handelt. Man kann auch von der Vorstellung des Verfassers, von seiner Sicht auf die Erinnerung an Ereignisse sprechen, die jeder Autor auf seine je eigene Weise zur Darstellung bringt. Darin vermischt sich grundlegend zweierlei: erstens Bezüge auf historische Wahrheiten oder Wirklichkeiten, die zwar immerhin als Referenz zu verstehen sind, aber in ihrer spezifischen Ausgestaltung allein der Vorstellung des Verfassers entspringen; zweitens die Darstellung theologischer Wahrheiten ohne direkt nachvollziehbare Verbindung zu historischen Wirklichkeiten. Ein genaues Textstudium muss somit dem spezifischen Charakter des jeweiligen Texts Rechnung tragen. Es finden sich bereits vielfältige Ansätze, frühchristliche Literatur in diesem Spannungsfeld von Fiktionalität und Faktualität wahrzunehmen, weswegen ich im weiteren Verlauf des vorliegenden Beitrags vor allem einige forschungsgeschichtliche Schlaglichter aufzeigen möchte, die die oben beschriebenen Herausforderungen angenommen haben. Nach einer theoretischen Einführung mit Blick auf die aristotelische Unterscheidung von Poetik und Historiographie (2) erfolgt die weitere forschungsgeschichtliche Diskussion in vier Kategorien: Da diese Art der Herangehensweise noch recht neu ist, finden sich zunächst theoretische Auseinandersetzungen, in denen Exegeten geschichts- oder literaturwissenschaftliche Erkenntnisse aufnehmen und versuchen, diese für die Exegese fruchtbar zu machen (3). Im Sinne einer Autorfiktion hat sich die neutestamentliche Exegese außerdem umfassend mit dem Phänomen der Pseudepigraphie auseinandergesetzt, was daher nur in einem kurzen Überblick dargelegt werden kann (4). Schließlich gibt es bereits neutestamentliche27 Anrapportant ce qui a lieu dans une vie. Mais elle est aussi de l’ordre du langage et de sa manière restituer ce qui a eu lieu. Il s’agira donc de lâcher un concept de vérité rimant avec véracité ou événementialité, et de considérer comme ‚vraiʻ ce qui exprime la vérité sur les événements, l’identité de la personne, l’existence la relation avec Dieu. Dans l’optique de la foi, même des histoires non ‚historiquesʻ sont ‚vraiesʻ si elles en disent le sens profond. … Il faudrait plutôt dire …, que la valeur de la fonction narrative est de permettre à l’histoire et à la fiction de s’unir.“ Vgl. aus alttestamentlicher Perspektive B. SCHMITZ, Wahre Geschichte(n). Die biblischen Texte als Geschichte und Geschichte n, in: BiKi 68 (2013), 128–133, die im letzten Abschnitt vorschlägt, „Geschichtsschreibung als Gegenwartsgestaltung“ (a.a.O., 132f.) zu verstehen. 27 Ein tiefergehender Austausch mit entsprechenden Herangehensweisen in der altte stamentlichen Exegese ist sehr wünschenswert, kann jedoch im Rahmen dieses Beitrags nicht erfolgen. Vgl. exemplarisch B. SCHMITZ, Die Bedeutung von Fiktionalität und Narratologie für die Schriftauslegung, in: H.-G.Schöttler (Hg.), „Der Leser begreife!“ Vom Umgang mit der Fiktionalität biblischer Texte (Biblische Perspektiven für Verkündigung und Unterricht 1), Münster 2006, 137–149, die auf der Grundlage des Ansatzes von Wolfgang Iser feststellt, dass ein fiktionaler Text wahrer sein könne als ein Gerichtspr o-

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sätze, die sich in Auseinandersetzung mit der literaturwissenschaftlichen Forschungslage28 mit verschiedenen Aspekten von Fiktionalität (oder Faktualität) des gesamten Texts oder mit der Fiktivität (oder Faktizität) einzelner Elemente des Texts beschäftigen und dies für die Deutung des Texts fruchtbar machen (5).

2. Ein aristotelischer Graben als Grundlage von Fiktionalitätsforschung Literaturwissenschaftliche oder exegetische Ausarbeitungen zu dem vorliegenden Thema kommen selten ohne den Verweis auf die aristotelische Unterscheidung von Historiographie und Dichtung aus.29 Im neunten Kapitel seiner Poetik führt Aristoteles aus: „Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit wiederzugeben, die Aufgabe eines Dichters ist, sondern etwas so , wie es gemäß Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d.h., was möglich ist. Denn ein Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin, dass sie mit oder ohne Versmaß schreiben […], der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der eine darstellt, was gesch ehen ist, der andere dagegen, was geschehen könnte.“ 30

Tut sich hier, um im Lessingschen Bild zu bleiben, nicht ein weiterer Graben auf, der nun auch dem besten Taucher mit modernstem Gerät zu schaffen macht? Wenn diese klare Trennung zwischen der Darstellung des tatsächlich Gewesenen und der Darstellung des nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit Möglichen Bestand hat, so scheint sich auch Aristoteles wie nach ihm Lessing für eine Seite des Grabens entschieden zu haben. Schließlich ist der Poetik, allem voran der Tragödie, der Vorzug zu geben, weil sie „philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung“31 ist. Das deutet auf das enorme Potential, das sich aus der Dichtung – oder mit moderner Begrifflichkeit gesprochen: aus der Fiktionalität – für die Darstellung tieferer Zusammenhänge von Welt und Wirklichkeit, von tieferen Wahrheiten ergibt. 32 Hierin liegt bereits eine erste zentrale Beobachtung für die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit Fiktionalität in der neutestamentlichen Exegese. Nach Aristoteles ist die Dichtung der Geschichtsschreibung vorzuziehen, da sie darstellt, was möglicherweise geschehen könnte, wohingegen die Geschichtsschreibung das wirklich Geschehene mitteilt. Die Dichtung sei ernster zu nehmen als die Geschichtsschreibung, da sie allgemeine menschliche Zusammenhänge darlegt und nicht bloß auf einzelne Begebenheiten in der Vergangenheit eingeht. In der Dichtung dargestellt werden die Handlungen eines Charakters, der sich so verhält, wie er es seinen allgemeinen Tendenzen gemäß müsste oder sollte. 33 Dies wird auch mit 30

Aristot, Poet 1450 a36–a40, Übersetzung und Verszählung auch im Folgenden nach: A. SCHMITT, Aristoteles. Poetik, Darmstadt 2008. 31 Aristot, Poet 1451 b6–b7. 32 Vgl. D. FREDE, Die Einheit der Handlung, in: O. Höffe (Hg.), Aristoteles. Poetik (Klassiker Auslegen 38), Berlin 2009, 105–121, 113. Aristoteles setzt sich damit sehr deutlich von seinem Lehrer Platon ab, ohne ihn direkt zu erwähnen, vgl. O. HÖFFE, Einführung in Aristotelesʼ Poetik, in: ders. (Hg.), Aristoteles. Poetik (Klassiker Auslegen 38), Berlin 2009, 1–27, 15–21. G. GENETTE, Fiktion und Diktion, in: ders., Fiktion und Diktion, München 1992, 11–40, 16f., betont mit Bezug auf die Poetik-Theorie des Aristoteles die gestalterische und schöpferische Kraft der Fiktion. Vgl. auch R. ZIMMERMANN, Phantastische Tatsachenberichte?! (s. Anm. 29), 477f.: „Allerdings sind auch ‚erfundene Geschichtenʻ Teil einer realen Kommunikation, sie speisen sich aus der Erfahrungswelt der Kommunikationsteilnehmer, sie sind insofern auch Träger historischer Informationen und besitzen geschichtliche Wahrheitsfähigkeit.“ Vgl. zudem die erhelle nden Abschnitte zu „geschichtlichem“ und „phantastischem“ Erzählen, a.a.O., 478–488. Vgl. zudem den Beitrag von Nils Neumann in diesem Band. 33 Vgl. SCHMITT, Aristoteles (s. Anm. 30), 372f.: „Eine dichterische Darstellung macht die einzelnen Handlungen verstehbar, weil diese in der Form dichterischer Mime-

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Blick auf das Publikum angelegt, das in die Lage versetzt werden soll, Handlungsentscheidungen und ihre Konsequenzen – vor allem die tragische Peripetie – nachzuvollziehen.34 Es scheint aber mit Blick auf das hier behandelte Thema interessant, diese vielzitierte Unterscheidung zwischen den Aufgaben des Dichters und der Tätigkeit des Geschichtsschreibers in ihrem weiteren Kontext zu verstehen, wodurch sie differenziert und relativiert werden kann. Aristoteles führt aus, dass beispielsweise Tragödiendichter – in der Komödie ist das nicht der Fall – bekannte Persönlichkeiten aufgreifen, um die Darstellung des allgemein Menschlichen und Möglichen plausibel zu machen: „Bei der Tragödie dagegen hält man sich an den historischen Namen. Dies aber aus dem Grund, weil das Mögliche glaubwürdig ist, und wir bei dem, was nicht wirklich geschehen ist, noch nicht glauben, dass es möglich ist, während es bei dem, was gesch ehen ist, offensichtlich ist, dass es möglich ist.“ 35

Trotz aller notwendiger Differenzierungen – Aristoteles geht es schließlich in erster Linie darum, den Vorzug der Dichtung zu begründen –, bleibt festzuhalten, dass die klare Trennung zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung aufgeweicht werden kann. Der Dichter bedient sich gewisser historiographischer Elemente, wie der Bezug auf historische Personen zeigt. Dieser Rekurs auf historische Wirklichkeit, diese Faktualität, die den Zuschauern bewusst ist, dient dem pragmatischen Ziel, den Menschen allgemeine soziale Zusammenhänge glaubhaft zu vermitteln, da sie aufgrund der Bekanntheit der behandelten Geschehnisse nicht geleugnet werden können.36 Bekanntheit bezieht sich hier jedoch nicht auf alle vergangenen Einzelheiten, sondern auf die grundlegenden Zusammenhänge, die im kollektiven Gedächtnis verortet werden. Dennoch bleibt der Dichter ein Dichter, auch wenn er vergangene reale Ereignisse aufgreift. 37 Um den Menschen die allgemeinmenschlichen Zusammenhänge anschaulich vor Augen zu führen, ist seine dichterische Arbeit offenbar unerlässlich. Überschneidungen der Elemente des Einzelnen und des Allgemeinen lassen sich auch feststellen in der differenzierten Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Dichtung, wie sie Arbogast Schmitt in seinem Kommentar zur Poetik vornimmt:

sis seine allgemeinen charakterlichen Tendenzen zum Ausdruck bringen, d.h. im Medium der Sprache und in dramatischer Darstellungsweise ‚nachahmenʻ.“ Vgl. a.a.O., 376f. Vgl. FREDE, Einheit (s. Anm. 32), 112. 34 Vgl. FREDE, Einheit (s. Anm. 32), 114. 35 Aristot, Poet 1451 b15–b18. Vgl. SCHMITT, Aristoteles (s. Anm. 30), 374; FREDE, Einheit (s. Anm. 32), 115. 36 Vgl. FREDE, Einheit (s. Anm. 32), 117. 37 Vgl. Aristot, Poet 1451 b30–b31.

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„Geschichte und Dichtung unterscheiden sich also nicht einfach dadurch, dass die eine nur Einzelnes […], die andere nur Allgemeines darstellt, sondern dadurch, dass die eine Einzelnes und Allgemeines in unbestimmter Mischung enthält, während die andere sich ganz und ausschließlich auf solche einzelnen Handlungen konzentrieren kann, die Ve rwirklichungsformen allgemeiner charakterlicher Möglichkeiten sind.“38

Ohne hier im Einzelnen auf das aristotelische Mimesis-Konzept eingehen zu können, ist für unsere Belange ein weiterer, grundlegender Wirklichkeitsbezug der Nachahmung oder der Darstellung 39 in der Dichtung relevant. Denn der Dichter muss sich auf die außersprachliche Wirklichkeit beziehen, wenn er allgemein menschliche Handlungen, wenn er Charaktere40 zur Darstellung bringen will. 41 Zudem muss die Rezipientenseite der Dichtung beachtet werden. Eine gute Tragödie muss das Ziel verfolgen, die Affekte der Zuschauer anzusprechen und einen kathartischen Effekt bei ihnen zu erreichen.42 Zudem ist davon auszugehen, dass Aristoteles mit der Beschreibung der Arbeit des Geschichtsschreibers nicht einen historischen Positivismus im Blick hat, da den Menschen der Antike eine derart verengte Sicht auf Geschichtsschreibung fremd gewesen sein dürfte. 43 Aristoteles geht es aber vor allem um die Darstellung umfassenderer oder tieferer Wahrheiten in ihren Zusammenhängen, die im Allgemeinen eher zu finden sind als im

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SCHMITT, Aristoteles (s. Anm. 30), 388. Auch wenn einige Philologen vehement für eine differenziertere Übersetzung der aristotelischen mimesis im Sinne einer Darstellung plädieren, dürften die hier folgenden Ausführungen dennoch zutreffen und damit vereinbar sein. Vgl. J. H. P ETERSEN, ‚Mimesisʻ versus ‚Nachahmungʻ. Die „Poetik“ des Aristoteles neu gelesen, in: Arcadia 27 (1992), 3–46. 40 Vgl. SCHMITT, Aristoteles (s. Anm. 30), 381–387. 41 Vgl. HÖFFE, Einführung (s. Anm. 32), 3: Mimesis bedeutet demnach „weder ein naturalistisches Nachahmen noch in planer Entgegensetzung pure Fiktion, sondern daß [dichterische] Werke kein bloß innersprachliches Phänomen sind; sie beziehen sich vie lmehr auf eine davon unabhängige, vorgängig existierende Wirklichkeit.“ G. GENETTE, Fiktionale Erzählung, faktuale Erzählung, in: ders., Fiktion und Diktion, München 1992, 65–94, 92 führt diesbezüglich aus: „Im Hinblick auf die reale Praxis ist einzuräumen, daß weder eine reine Fiktion noch eine Geschichtsschreibung von solcher Strenge existiert, daß sie sich jeder ‚Intrigeʻ und jedes romanhaften Verfahrens enthielte; daß beide Fälle also weder so weit auseinander liegen, noch auch ihrerseits jeweils so homogen sind, wie man von weitem vermuten könnte.“ Genette verweist auf Abstufungen oder Mischfo rmen, wenn nämlich ein Historiker seiner Darstellung Erfundenes hinzufügt oder sich ein Romanschriftsteller von einem Zeitungsbericht inspirieren lässt. Vgl. auch MÜLLNER , Fiktion (s. Anm. 29), s.u. 42 Vgl. C. RAPP, Aristoteles über das Wesen und die Wirkung der Tragödie, in: O. Höffe (Hg.), Aristoteles. Poetik (Klassiker Auslegen 38), Berlin 2009, 87–104. 43 Vgl. die Beiträge von Susanne Luther, Martin Bauspieß und Nils Neumann in di esem Band mit differenzierten Diskussionen. 39

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Einzelnen.44 Nähere Ausführungen dazu fehlen zwar in der Poetik, wir können aber davon ausgehen, dass auch bei Aristoteles ein Geschichtsverständnis vorherrscht, wie wir es aus der Antike kennen, das erheblich von dem so genannten modernen kritischen Geschichtsbewusstsein im Zuge der Aufklärung abweicht. Auch wenn im antiken Geschichtsverständnis durchaus zwischen Lüge und Wahrheit unterschieden wurde und eindeutig identifizierbare Lügen scharfe Konsequenzen nach sich ziehen konnten, war es offenbar unproblematisch, bestimmte Ereignisse oder Reden darzustellen, auch wenn unsicher ist, ob sie sich (so) zugetragen haben oder wortwörtlich (so) gehalten wurden.45 Im antiken Geschichtsverständnis würde man dennoch nicht von fingierter Wahrheit sprechen, solange plausibel gemacht werden kann, dass Ereignisse sich so zugetragen haben könnten oder dass Reden so gehalten worden sein könnten. Knut Backhaus verweist darauf, dass hellenistisch-römische Geschichtsschreiber fiktive Elemente zudem einsetzten, „nicht weil sie die geschichtliche Wahrheit verändern möchten, sondern um ihre Adressaten in eben diese zu führen“46. Dabei spielen Rhetorik, 47 Dichtung48 und pädagogischer Anspruch49 eine entscheidende Rolle, da die historische Darstellung stets darauf abzielt, in die Lebenswirklichkeit der aktuellen Leser hineinzuwirken.

44 Vgl. Aristot, Poet 1451 b30–b32; SCHMITT, Aristoteles (s. Anm. 30), 387: „Aristoteles gibt ja eine ausdrückliche Kritik, warum er die Darstellung der Einzelheiten des Lebens einer Person (oder auch die Ereignisse in einem bestimmten Zeitraum) nicht für ‚allgemeinʻ hält. Diese Kritik lautet nicht: ‚Weil eine solche Darstellung nichts als die Aneinanderreihung von einzelnen Fakten wäreʻ, sondern: ‚Weil ein Einzelner unbestimmt Vieles tut oder erlebt, von dem nicht alles zur Einheit einer Handlung gehört. […] Aristoteles schließt also gar nicht aus, dass auch in der Geschichte das Allgemeine eines Handelns gefunden werden kann. […] Dieses Allgemeine findet man in der Geschichte lediglich nicht einfach vor, sondern muss es […] ermitteln.“ 45 Wenn der griechische Geschichtsschreiber Thukydides bestimmte Reden in seine Darstellung des Peloponnesischen Kriegs integriert, bezieht er sich zwar auf ein reales Ereignis und damit auf das wirklich Geschehene; zugleich bindet er aber – quasi dichterisch – das Mögliche mit ein, da keineswegs der Anspruch vertreten wird, die zitiert en Reden seien wortwörtlich so gehalten worden. Thukydides bringt offen zur Sprache, dass das gar nicht möglich sei. Viel wichtiger ist allerdings, dass die gebotenen Reden dem Sinn und der tieferen Botschaft der historischen Begebenheiten Ausdruck verleih en sollen, vgl. Thuk, 1,22. 46 K. B ACKHAUS, Spielräume der Wahrheit: Zur Konstruktivität in der hellenistischreichsrömischen Geschichtsschreibung, in: ders./G. Häfner (Hg.), Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007, 1–29, 29. 47 Vgl. B ACKHAUS, Spielräume (s. Anm. 46), 7–12. 48 Vgl. B ACKHAUS, Spielräume (s. Anm. 46), 13–20. 49 Vgl. B ACKHAUS, Spielräume (s. Anm. 46), 20–29.

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Stuart D. Beeson50 unterstreicht in diesem Zusammenhang die Gemeinsamkeiten der antiken Geschichtsschreibung mit modernen geschichtswissenschaftlichen Texten: „[H]istoriography of any point in time is ideological fiction supported by what are deemed by its writers to be historical facts.“51 Er definiert Fakten als „events that have taken place“, wohingegen unter Fiktion zu verstehen ist: „the product of the human mind, the result of the operation of the imagination“52. Weiterhin differenziert er: „Thus the fictitious is the extension from the factual to the non-factional, and is thus neither logical deduction nor spontaneous invention. On this basis just as ‚facts ʻ in the present context are closely related to ‚historyʻ, being the events that constitute the latter, thus fiction is closely related to ‚historiographyʻ, for the facts of history are unconnected, yet a narrative is what it is by virtue of its unconnectedness. It is this unconnectedness, the postulation of specific relationships between discrete facts, that is the fiction of hist oriography. Historiography is thus the result of the interplay of historical facts and the literary imagination, the establishment of fictitious relationships between events in order to render them understandable in the present.“ 53

Dadurch entsteht zwangsläufig der Erzählcharakter der Geschichtsschreibung, es ist genau diese story, die den Historiographen interessiert. 54 Da der antike wie der moderne Geschichtsschreiber von seiner Umwelt, seinen persönlichen Erfahrungen und Haltungen geprägt ist, wird sich das auf sein Werk, die Art und Weise, wie er seine story entwirft, auswirken. Daher verteidigt Beeson seine These, jegliche Historiographie sei „ideological fiction“55, die stets, und zwar argumentativ, 56 auf die Gegenwart verweise.57 Er führt sogar aus – damit ganz bei dem, was wir oben zu Aristoteles festgestellt haben –, dass gerade die fiktionalen Elemente für das Verständnis der Geschichte entscheidend seien und die eigentlichen Fakten in ihrer Bedeutung überschätzt würden. 58

50 S. D. BEESON, Historiography in Ancient and Modern: Fact and Fiction, in: G. J. Brooke/T. Römer (Hg.), Ancient and Modern Scriptural Historiography. Lʼhistorio- graphie biblique, ancienne et modern (BEThL 207), Leuven u.a. 2007, 3 –11. 51 BEESON, Historiography (s. Anm. 50), 3. Vgl. auch F. PASCHOUD, Réflexions sur le problème de la fiction en historiographie, in: B. Pouderon/Y.-M. Duval, Lʼhistoriographie de lʼéglise des premiers siècles, in: ThH 114, Paris 2001, 23–35 (insbes. 23–25). 52 BEESON, Historiography (s. Anm. 50), 4. 53 BEESON, Historiography (s. Anm. 50), 4. 54 Vgl. BEESON, Historiography (s. Anm. 50), 5. 55 BEESON, Historiography (s. Anm. 50), 5. 56 Vgl. BEESON, Historiography (s. Anm. 50), 11. 57 Vgl. BEESON, Historiography (s. Anm. 50), 6f. 58 Vgl. BEESON, Historiography (s. Anm. 50), 7, bezogen auf biblische Historiographie: „Thus the common ground between ancient and modern ‚historiesʻ (or ‚historiographiesʻ) of Israel is that they are both works of ideological fiction, in which the facts themselves say very little; their significance lies in what they are given to say by historiographers.“

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Für eine positivistische Geschichtswissenschaft, der die neutestamentliche Exegese lange Zeit verhaftet war, ist solch eine Herangehensweise problematisch. Sie suchte nach historischen Wahrheiten hinter den Texten und versuchte damit noch schärfer, als das nach obiger Darlegung vermutlich bei Aristoteles der Fall war, eine Trennung zwischen Geschichtsschreibung und Erzählliteratur zu vollziehen. Neuere Tendenzen in der Geschichtswissenschaft,59 wie sie sich seit den 1960er Jahren abzeichnen, treten indes den Nachweis an, dass entsprechende Grenzen fließend sind, da auch Geschichtsschreibung nicht ohne den Modus der Erzählung auskommt. Daher wird in der Exegese vermehrt der Versuch unternommen, sich auf der Grundlage moderner literaturwissenschaftlicher Kategorien dem Raum zwischen diesen Grenzen anzunehmen. Die Literaturtheorie, die indes keineswegs auf die Literaturwissenschaft beschränkt ist,60 hat die aristotelische Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung weiter ausdifferenziert.61 In ihrer auch in der Exegese breit rezipierten Einführung in die Erzählanalyse verweisen Martínez und Scheffel im Bezug auf Erzähltexte einerseits auf den Status des Erzählten und andererseits auf den Kontext des Erzählens: „1. Erzählt werden kann von realen oder erfundenen Vorgängen. 2. Erzählt werden kann im Rahmen von alltäglicher Rede oder aber im Rahmen von dichterischer Rede.“ 62 Daraus ergeben sich die Merkmalspaare real/fiktiv und dichterisch/nichtdichterisch und die so genannte faktuale Erzählung mit ihrem Spezialfall, der „nichtdichterische[n] Erzählung erfundener Vorgänge, [der] Lüge oder Täuschung“ 63. Davon sei die eindeutig dichterische Erzählung zu unterscheiden, die erfundene Vorgänge zum Inhalt hat. Sie treffen auf dieser Grundlage folgende Begriffsunterscheidungen: „Fingieren verwenden wir im Sinne von ‚[vor]täuschenʻ. Fiktional steht im Gegensatz zu ‚faktualʻ bzw. ‚authentischʻ und bezeichnet den pragmatischen Status einer Rede. Fiktiv

59 Die Literatur in diesem Bereich ist bereits enorm, was den produktiven Charakter dieser Erkenntnisse und die Fruchtbarkeit der interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem Thema belegt. 60 Vgl. insbesondere den von M. E. REICHER herausgegebenen Sammelband mit dem Titel „Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, KunstPhilosophie Bd. 8, Paderborn 2007. 61 Vgl. vor allem die Arbeiten Genettes, G. GENETTE, Fictional Narrative, Factual Narrative, in: Poetics Today 11 (1990), 755–774; DERS., Fiktion (s. Anm. 32); DERS., Fiktionale Erzählung (s. Anm. 41). Hier führt er vor allem aus, inwiefern sich faktuale und fiktionale Literatur in Bezug auf ihren Erzählgegenstand und ihre Erzählweise unterscheiden. Zur weiteren Ausdifferenzierung vgl. die Beiträge von Frank Zipfel, Vera Nünning und Susanne Luther in diesem Band. 62 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 29), 10. 63 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 29), 10.

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steht im Gegensatz zu ‚realʻ und bezeichnet den ontologischen Status des in dieser Rede Ausgesagten.“64

Entscheidend bei der Einordnung von Erzählungen nach diesen Differenzierungsmerkmalen ist demnach die pragmatische Ausrichtung des Texts, wie sie vom Autor angelegt und von den Rezipienten aufgefasst wird. Dies kann nach eindeutigen externen Fiktionalitätssignalen wie Gattungskonventionen oder durch textinterne Fiktionalitätssignale erfolgen.65 Die Bedingungen, wie diese Signale gesetzt und verstanden werden, sind jedoch kontextabhängig: „Fiktional ist ein Text demnach nicht an und für sich, sondern in einem bestimmten hi storischen und sozialen Kontext, d.h. er ist fiktional für ein Individuum, eine Gruppe, eine Gesellschaft, in einer bestimmten Situation, in einer bestimmten Epoche.“ 66

Wollen Exegeten nun dem Anspruch gerecht werden, literaturwissenschaftliche Theorien und Konzepte gewinnbringend auf frühchristliche Texte anzuwenden, entsteht genau hier ein Problem: Erstens erscheint es sehr schwierig, eindeutige Fiktionalitätssignale auszumachen und darüber hinaus zu entscheiden, ob es sich dabei um ernstgemeinte oder fingierte Signale handelt. Zweitens dürfte eine Einteilung dadurch erschwert werden, dass in der Antike eine völlig andere Auffassung von Faktualität bzw. von Geschichtsschreibung vorherrschte, für die fiktive Elemente kein Widerspruch darstellte.67 Drittens kommt es entscheidend auf den Leser an, wie er den Text einordnet. Daraus ergeben sich Mischformen. Die Literaturwissenschaft hat diesen in der Literatur de facto vorhandenen Differenzierungen Rechnung zu tragen versucht.68 Damit sind – auch mit Rekurs auf Aristoteles – die Grundtendenzen dieser beiden Kommunikationsbedingungen skizziert, die als Pole eines weiten Kontinuums verstanden werden können. 69 Sie dienen als Erklärungsmuster für einen Text als Ganzes, wobei auf folgende Verflechtungen hinzuweisen ist: Auch das faktuale Erzählen bleibt Erzählen und ist keine bloße Veröffentlichung von Fakten. Eine faktuale Erzählung ist eine narrativ verfasste Darstellung der Erinnerung an oder der Interpretation von vergangenen Fakten. Dadurch kann eine faktuale Erzählung auch fiktive Elemente ent64

MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 29), 13. Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 29), 14–16. 66 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 29), 15. 67 Vgl. den Beitrag von Susanne Luther in diesem Band. 68 Vgl. den Abschnitt zum Entwurf Sönke Finnerns im weiteren Verlauf dieses Beitrags sowie die Beiträge von Susanne Luther und Sandra Hübenthal in diesem Band. 69 Vgl. S. LUTHER , Erdichtete Wahrheit oder bezeugte Fiktion? Realitäts- und Fiktionalitätsindikatoren in frühchristlichen Wundererzählungen – eine Problemanzeige, in: B. Kollmann/R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT 339), Tübingen 2014, 345–368, 354f. 65

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halten. Die fiktionale Erzählung findet sich nicht in einem kontextlosen imaginären Raum, sondern beruht auf Erfahrungen und Vorstellungen des Autors von der realen Welt und wirkt auf die realen Lebensbedingungen der Rezipienten. Um auf die aristotelische Bewertung zurückzukommen: In der fiktionalen Darstellung wird unter Umständen die chronologische Wahrheit vernachlässigt, auf die die faktuale größeren Wert legen dürfte. Demgegenüber steht jedoch eine tiefere, z.B. theologische Wahrheit, die eine hohe Bedeutung für die Lebenswirklichkeit der Rezipienten hat. Diese Überlegungen haben in Bezug auf die neutestamentliche Exegese einerseits eine erhebliche Sprengkraft und Aktualität. Andererseits ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Aristoteles eine Dichotomie von literarischen Großgattungen eingrenzt, die weiter auszudifferenzieren sind, was er selbst bereits andeutet. Sprengkraft und Aktualität gewinnt die aristotelische Einschätzung, da sich in frühchristlichen Texten sowohl fiktionale und poetische als auch historiographische Elemente wiederfinden. Sie vertreten zum einen den Anspruch, historische Jesus-, Apostel- oder Gemeindegeschichte zu erzählen und damit auf vergangene Wirklichkeit, auf das Besondere zu rekurrieren. Die Quellen, mit denen sich die neutestamentliche Exegese vornehmlich beschäftigt, erheben einen Faktualitätsanspruch.70 Zum anderen treffen sie allgemeingültige Aussagen in Bezug auf das Verhältnis von Menschen untereinander sowie von Mensch und Gott. Sie können damit auch als Wirklichkeitserzählungen bezeichnet werden, die „sowohl konstruktiv als auch referentiell“ 71 sind. In der neutestamentlichen Exegese dominierte allerdings daher lange Zeit das Bedürfnis, die hinter den Texten stehenden Fakten so genau und so umfangreich herauszuarbeiten, dass die Referenz auf die vergangene Wirklichkeit möglichst zweifelsfrei und umfassend dargelegt werden konnte. Schließlich geht es in neutestamentlichen und frühchristlichen Texten nicht nur um Unterhaltung, auch nicht nur um Unterweisung, sondern um religiöse und im eigentlichen Sinne theo-logische Glaubenszeugnisse und Glaubensgrundlagen, die eine dauerhafte Wirkung erzielen wollen und den gesamten Menschen betreffen. Theologische Wahrheit ist in einem positivistisch-historischen Sinn nur denkbar auf der Grundlage von historischer Wahrheit. Poetische Texte oder poetische Elemente in Texten gerieten entweder aus dem Blick oder 70 Vgl. ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 28), 431, wobei eine genauere Einordnung im historiographischen Diskurs schwerfällt: „Sind sie fiktionale Texte im Sinne eines ,historischen Romansʻ oder kann man sie als Geschichtsdarstellung betrachten, die vor dem Hintergrund antiker Historiographie dem höchsten Anspruch der Geschichtsschreibung gerecht werden wollen?“ 71 C. KLEIN/M. MARTÍNEZ, Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, in: dies. (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Feld er, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart/Weimar 2009, 1–13, 1.

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wurden für eine historische Wahrheitsfindung instrumentalisiert. Die aristotelische Bewertung wurde in ihr Gegenteil verkehrt: Nur die Texte oder Textpassagen waren ernst zu nehmen, deren historische Referenz scheinbar zweifelsfrei belegt werden konnte. Andere Textpassagen und Texte traten in den Hintergrund.72 Die Geschichte der historisch-kritischen Exegese zeigt, dass frühchristliche Texte vornehmlich nach ihrer diachronen Entwicklung oder nach ihrer historischen Referentialität befragt wurden. 73 Mit den im Zuge des linguistic turn in die Exegese aufgenommenen sprachund literaturwissenschaftlichen Auslegungsmethoden wurde demgegenüber vielfach versucht, das erzählerische Potential des uns vorliegenden, wohl konstruierten Texts als Ganzes auszuschöpfen und theologisch zu deuten. In all diesen Ansätzen ist die Frage nach Faktualität und Fiktionalität stets präsent. Es kann der Problematik nachgegangen werden, welchen Grad an Faktualität oder Fiktionalität ein Text insgesamt oder Teile des Texts aufweisen, um auf dieser Grundlage die vielfältigen Methoden zielgerichteter einzusetzen. Zudem kann aber im aristotelischen Sinne gerade die tiefere Wahrheit erzählerischer Elemente herausgearbeitet werden, auch wenn eine direkte historische Referenz bezweifelt oder gar ausgeschlossen werden kann. Wenn man sich dem vorliegenden Thema widmet, so könnte man das im Anschluss an Aristoteles (Wahrheit durch Dichtung) und Lessing (Ver72 Das hat Zimmermann z.B. für die frühchristlichen Wundererzählungen herausgea rbeitet, die allerlei rationalistischen Erklärungsversuchen ausgesetzt waren. Vgl. ZIMMERMANN , Frühchristliche Wundererzählungen (s. Anm. 6), 7–12. Ihr erzählerisches und theologisches Potential wurde dadurch allerdings erheblich vernachlässigt, was durch eine literaturwissenschaftlich orientierte Auslegung in den Vordergrund treten soll. Vgl. auch den Forschungsüberblick von B. KOLLMANN, Von der Rehabilitierung mythischen Denkens und der Wiederentdeckung Jesu als Wundertäter. Meilensteine der Wunderdebatte von der Aufklärung bis zur Gegenwart, in: ders./R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT 339), Tübingen 2014, 3–26. 73 Vgl. für die Geschichte der Gleichnisauslegung den Überblick bei R. ZIMMERMANN, Gleichnisse als Medien der Jesuserinnerung. Die Historizität der Jesusparabeln im Horizont der Gedächtnisforschung, in: ders. (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte (WUNT 231), Tübingen 2008, 87–121, 87–102. Diese zum Teil historisierende Sichtweise ist mitunter als Reaktion auf das – mit Marco Frenschkowski gesprochen – geringe Fiktionalitätsspektrum der frühen Christen und der Alten Kirche zurückzuführen, das lange Bestand hatte oder sogar gesteigert wurde: „Wir fragen … nicht, was alles die Alte Kirche für real gehalten hat, sondern wie weniges sie für irreal hielt, genauer gesagt, wie ihr die Kategorie der schlichten Fiktion abhanden kam“ (M. FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie? Ein Essay über Fiktionalität, Antike und Christentum, in: J. Frey u.a. [Hg.], Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen. Pseudepigraphy and Author Fiction in Early Christian Letters [WUNT II/246], Tübingen 2009, 181–232; Hervorh. im Orig.). Wichtig ist das Verständnis frühchristlicher Literatur als „subkulturelle Literatur“ (ebd.), deren literarische Differenzierungen abhandengekommen sind.

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nunftwahrheiten vor historischen Wahrheiten) tun. Im Anschluss deshalb, weil uns die historisch-kritische Exegese vielleicht den Blick etwas verstellt hat zum Potential der fiktionalen Elemente frühchristlicher Texte. Zur Ausrüstung des Tauchers in diesen Gräben gehören die literaturwissenschaftlichen Kategorien der Faktualität und Fiktionalität. Damit kann auch die Anschlussfähigkeit der Exegese an populäre und religionspraktische Diskurse unter Beweis gestellt werden, weil sie differenziertere Antworten bieten kann.74 Die folgenden Ausführungen verstehen sich daher als Türöffner in dieser Frage: In einem Überblick sollen bisherige Ergebnisse näherer Beschäftigungen mit der Thematik zusammengetragen und kritisch beleuchtet werden.

3. Fiktionalität und Faktualität in theoretischen Entwürfen neutestamentlicher Exegese Die neutestamentliche Exegese hat das literaturwissenschaftliche Spannungsfeld von Fiktionalität und Faktualität bereits vor einigen Jahren als relevantes Thema erkannt. Lukas Bormann unterscheidet in einem Aufsatz aus dem Jahr 2005 in moderner Perspektive zwischen dem „Quellenwert … für die Konstruktion historischer Prozesse und deren Aussagekraft über die Verarbeitung und das Verständnis der historischen Prozesse“ 75. Von Seiten der Literaturwissenschaft seien Verfahren und Fragestellungen an die neutestamentliche Wissenschaft herangetragen und von der Exegese aufgegriffen worden, die die Frage nach der (historischen) Wahrheit neu stellen. Durch den Modus der Erzählung, durch Fiktion kann das Verständnis, kann die Wirkung historischer Ereignisse durchaus eindrücklich geschildert werden.76 Damit ist der Unterschied zwischen „wirklichkeitsbezogener Darstellung und sinnstiftender Erinnerung“ 77 aufgeworfen. Dennoch verläuft die Debatte in den Bibelwissenschaften kontrovers, da Grundfesten von Glaubensüberzeugungen angegriffen scheinen: „Die Spannung zwischen der fiktionalen Gestaltung und dem Wirklichkeitsanspruch biblischer Texte berührt theologische Grundfragen.“ 78 Bormann 74

Vgl. die Einführung von Bettina Eltrop zum Themenheft BiKi 68 (2013) und ihren prägnanten Beitrag darin: B. ELTROP, Wie ist die Bibel wahr? Hilfreiches aus Bibelwissenschaft und Lehramt sowie aus Leseerfahrungen in Gruppen, in: BiKi 68 (2013), 126f. 75 L. B ORMANN, Autobiographische Fiktionalität bei Paulus, in: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT II/187), Tübingen 2005, 106–124, 113. 76 Vgl. B ORMANN, Autobiographische Fiktionalität (s. Anm. 75), 115. 77 B ORMANN, Autobiographische Fiktionalität (s. Anm. 75), 117. 78 B ORMANN, Autobiographische Fiktionalität (s. Anm. 75), 116f.

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geht in Bezug auf die „Autobiographische Fiktionalität“ der Frage nach, ob es „Hinweise gibt, die den Übergang von der Faktualität zur Fiktionalität und umgekehrt markieren“ 79. Er verweist auf Elemente, die „einen besonders engen Wirklichkeitsbezug haben“ 80, wozu Orts- und Zeitangaben und Namensnennungen zählen. Für die Briefliteratur können zudem explizite Verweise auf die Wirklichkeit identifiziert werden, wenn z.B. vorausgesetzt wird, dass die Adressaten über einen Sachverhalt informiert sind. 81 In den autobiographischen Teilen der Briefe arbeitet Bormann persönliche und theistische Beteuerungsformeln heraus, die als Faktualitätssignale zu Zeit- und Ortsangaben und namentlichen Personenangaben hinzukommen.82 Demgegenüber stehen nur selten Fiktionalitätsmarker in den Paulusbriefen, da „Paulus in aller Regel kein Interesse daran hat, seine autobiographischen Aussagen im Horizont fiktionaler Deutungen zu kommunizieren“83. Nur dort, wo er z.B. in Konflikten mit besonderem Nachdruck argumentiert, greift er auf Fiktionales zurück, worunter die Peristasenkataloge in den Korintherbriefen zu zählen sind – „eine Form der gestalteten Sprache, die der Poesie recht nahe kommt. Ein deutlicheres Fiktionalitätssignal als den Zugriff auf poetische Sprache kann Paulus nicht wählen.“ 84 Pionierarbeit in der deutschsprachigen Forschung haben Gerd Häfner und Knut Backhaus mit ihrem 2007 erschienenen Band „Historiographie

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B ORMANN, Autobiographische Fiktionalität (s. Anm. 75), 117. B ORMANN, Autobiographische Fiktionalität (s. Anm. 75), 117. 81 Vgl. B ORMANN, Autobiographische Fiktionalität (s. Anm. 75), 118. Es ist hingegen zu betonen, dass sich diese Faktualitätsmarker auf die Perspektive des Paulus allein beziehen und sich nicht im Sinne historischer Kritik überprüfen lassen. Auch hier gilt das Dilemma der Paulusbriefe, dass wir nur eine Seite kennen und nichts über die Reaktion oder die Hintergründe der Adressaten wissen. Festzuhalten bleibt allerdings, dass der Autor bzw. der Verfasser eines Briefs über sprachliche Möglichkeiten verfügt, Faktual ität und Fiktionalität zu kennzeichnen und seine Leser damit in ihrem Verständnis zu leiten. 82 Vgl. B ORMANN, Autobiographische Fiktionalität (s. Anm. 75), 118. 83 B ORMANN, Autobiographische Fiktionalität (s. Anm. 75), 119. Vgl. das exegetische Beispiel von 2 Kor 11,21b–12,10, wo für Bormann durch die Verwobenheit von Faktualitäts- und Fiktionalitätssignalen die Trennung der beiden Erzählweisen aufgehoben ist, wobei Paulus selbst den Status des Texts als „Narrenrede“ (a.a.O., 120) bezeichnet und damit eindeutig als insgesamt fiktional qualifiziert. Damit einher geht die Ankündigung der perspektivischen Erzählweise, die verzerrt, damit das Gesagte einen höheren Grad an Allgemeinheit erreicht, vgl. a.a.O., 122. Durch die extrem fiktional-perspektivische Darstellung gelingt es Paulus, seinen Worten Nachdruck zu verleihen und sich gleichzeitig als „exemplarische apostolische Existenz“ und diese als „kreativen und authentischen Lebensvollzug im Horizont des Christusschicksals“ (a.a.O., 123) darzustellen. Der Fa ktualitätsbezug ist durch eindeutig autobiographische Angaben hergestellt. 84 B ORMANN, Autobiographische Fiktionalität (s. Anm. 75), 119. Vgl. für den Zusammenhang zwischen Fiktionalität und Poetizität den Abschnitt zu Sönke Finnern im vorliegenden Beitrag. 80

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und fiktionales Erzählen“ 85 geleistet, indem sie das Spannungsfeld von Fakten und Fiktion, von Fiktionalität und Faktualität in der antiken Geschichtsschreibung allgemein und u.a. bezogen auf die Apostelgeschichte und die Geschichte der Jesusforschung beleuchten. Wegweisend sind vor allem die theoretischen Überlegungen Gerd Häfners, auf die hier näher eingegangen werden soll. In Bezugnahme auf neuere Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft 86 behandelt Häfner das Phänomen der Konstruktion von Geschichte nach dem so genannten linguistic turn.87 Er erkennt ein historisches Faktum an, verweist indes darauf, dass die historisch relevante Aussage in einen Interpretationsrahmen eingebettet ist, was den Unterschied zu bloßen Ereignissen ausmacht. Denn die historische Tatsache muss darüber hinaus versprachlicht werden, so dass automatisch eine gewisse Perspektive ins Spiel komme, und zwar dessen, der sie aufschreibt bzw. versprachlicht. 88 Häfner kommt zu folgender Schlussfolgerung: Das Material des Historikers muss geordnet und in einen Zusammenhang gebracht werden, erzählerische Kohärenz kann nicht einfach aus der historischen Realität abgelesen oder eindeutig aus ihr rekonstruiert werden, sondern sie ist Schöpfung des Historikers und damit Fiktion des Faktischen. Dennoch wirft er eine zentrale Frage auf, die in Bezug auf bestimmte, z.B. apokryph gewordene Schriften, bereits vielfach beantwortet wurde: „Gibt es Kriterien dafür, dass eine Erzählung sachlich angemessener erscheinen lässt als andere?“ 89 Um bei dem Beispiel der apokryph gewordenen Schriften zu bleiben, reicht m.E. der Vorzug kanonischer Schriften aufgrund ihrer breiten Rezeption allein nicht aus. 90 Das Argument der Kanonizität greift insbesondere nicht, wenn wir die von Häfner aufgeworfene Frage auf Schriften innerhalb des Kanons beziehen oder sogar auf Teile einzelner Schriften. Häfner beantwortet die Frage wie folgt: Der Historiker findet archivarische Informationen als Fakten vor, die er braucht, da er sich ja auf historische Ereignisse bezieht. Das trennt die

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K. B ACKHAUS/G. HÄFNER (Hg.), Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007. 86 Vgl. auch die Beiträge von Susanne Luther und Ruben Zimmermann in diesem Band. 87 G. HÄFNER , Konstruktion und Referenz: Impulse aus der neueren geschichtstheoretischen Diskussion, in: K. Backhaus/G. Häfner (Hg.), Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), NeukirchenVluyn 2007, 67–95, 68. 88 Vgl. HÄFNER , Konstruktion (s. Anm. 87), 70. 89 HÄFNER , Konstruktion (s. Anm. 87), 82. Sönke Finnern hat mit dem Vorschlag der Fiktionalitätsstufen eine Lösung für dieses Problem vorgeschlagen, s.u. 90 Das gilt vor allem, wenn bedacht wird, dass Teile mancher apokryph gewordenen Schriften durchaus breiter rezipiert sind als Teile des Kanons.

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Geschichtserzählung von der rein fiktionalen Literatur. 91 Anders ausgedrückt: „In der Charakterisierung der Geschichtsschreibung als ‚Fiktion der Darstellung des Fa ktischenʻ (White) dominiert das Element der Fiktion so eindeutig über das des Faktischen, dass man einen sinnvollen Ort für die Fakten nicht mehr angeben kann. Sollten sie wir klich keinen Einfluss auf die narrative Gestaltung ausüben?“ 92

Häfner zieht auf dieser Grundlage Bilanz: Die narrative Geschichtstheorie läuft Gefahr, dass durch die starke Betonung der Fiktionalisierung die (fiktionale) Begründung der Vergangenheit gar nicht mehr gelingen kann. „Die Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Literatur lässt sich nicht mehr deutlich ziehen.“93 Auf der Basis seiner Überlegungen stellt er folgende These auf: „Wenn Geschichtserzählungen in ihrer Fiktionalisierung der Darstellung des Faktischen nicht von den Fakten her beurteilt werden können, ist ihre Referentialität bedeutungslos.“94 Daraus folgt: Erstens sind Fakten keineswegs eindeutig, wir haben keinen unmittelbaren Zugang zu (vergangener) Wirklichkeit, im Neuen Testament steht nicht nur das Verständnis von Fakten, also die Perspektive, sondern der Ereignischarakter des Dargestellten überhaupt zur Debatte. Zweitens ist Vergangenheit nur insoweit erkennbar, wie sie uns in Überresten entgegentritt; in Bezug auf das Neue Testament können wir sicher nicht die Vergangenheit rekonstruieren, aber doch vielleicht eine der Vergangenheit möglichst adäquate Beschreibung. Wenn wir am Ereignischarakter des Vergangenen festhalten, ergibt sich für die Praxis die Frage, ob nicht bestimmte Interpretationen in Form einer Geschichtserzählung den gegebenen Quellen adäquat sind, so dass zwar nicht die Vergangenheit selbst, sondern etwas von der Vergangenheit sichtbar wird. Konstruktion ist somit ein wesentliches Element historischer Arbeit. Historisches Material wird nur zum Sprechen gebracht, wenn man mit einer bestimmten Fragestellung an es herantritt. (Re-)Konstruktion hat ihr Recht, wenn wir nicht von freier Konstruktion der Vergangenheit ausgehen, sondern von einer, die anhand des Quellenmaterials überprüfbar und kritisierbar ist. In der Schlussbetrachtung 95 zu ihrem Band gehen Backhaus und Häfner noch einmal auf zentrale Aspekte ein, die auch durch den hier diskutierten Artikel aufgeworfen wurden. Demnach besteht zwischen Fakt und Fiktion eine weite Unterscheidungsmöglichkeit in antiker Wahrnehmung, aber eine

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Vgl. HÄFNER , Konstruktion (s. Anm. 87), 83. HÄFNER , Konstruktion (s. Anm. 87), 87. HÄFNER , Konstruktion (s. Anm. 87), 89. 94 HÄFNER , Konstruktion (s. Anm. 87), 89f. Für das Folgende vgl. HÄFNER, Konstruktion (s. Anm. 87), 90–95. 95 B ACKHAUS/HÄFNER , Konstruktion (s. Anm. 1). 92 93

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Grenze sei vorhanden gewesen.96 Allerdings lassen sie offen, nach welchen Kriterien diese Grenze gezogen werden kann und welche Konsequenzen sich für die Deutung von Texten ergeben, wenn sie (knapp) diesseits oder jenseits dieser Grenze verortet werden. Im Zuge dessen nahmen sich auch diverse Lexika des Themas an. In ihrem Artikel „Fiktion“ aus dem Jahr 200897 macht Ilse Müllner ein „komplexe[s] Wechselverhältnis zwischen fiktionalem Text und lebensweltlicher Wirklichkeit“ aus und stellt den Vertrag dar, den Autor und Rezipient in Bezug auf fiktionale Literatur eingehen, die sowohl fiktive als auch reale Elemente enthält.98 Bezogen auf das Verhältnis von Historiographie und Dichtung skizziert Müllner eine Entwicklung von der Antike bis zur Neuzeit, wobei bis ins 19. Jh. eine Nähe zwischen den beiden Gattungen festgestellt werden kann, die mit dem sog. new historicism wieder einsetzte.99 Müllner weist im Abschnitt „Die Wahrheit des Fiktionalen“ auf eine langanhaltende christliche Fiktionsskepsis hin, die sich gegen die oben beschriebene Auffassung des Aristoteles wandte. Schließlich beschreibt sie allerdings neuere Tendenzen in der Bibelwissenschaft, die den Fiktionalitätscharakter biblischer Texte wahrnehmen und für die Auslegung fruchtbar machen: „Autorinnen und Autoren, die sich dem Dialog zwischen Theologie und Literatur ve rpflichtet wissen, verbinden mit dem Attribut der Fiktionalität häufig eine Wertschätzung des literarischen Charakters biblischer Schriften. Sie setzen sich damit von einer Reduktion der biblischen Texte auf die Funktion eines Containers von Glaubenswahrheiten einerseits oder einer Quelle historischer Fakten andererseits ab. Hier wird die Fiktional ität biblischer Literatur nicht als Mangel gesehen, sondern theologisch gewürdigt […]. Eine rezeptionsorientierte Hermeneutik geht hier eine Verbindung mit einem personor ientierten Offenbarungsverständis ein […]. Die historische Referentialität biblischer Te xte wird nicht bestritten, sie steht aber auch nicht im Zentrum des Interesses, das sich auf ein ‚Lesen der Weltʻ im Horizont der Lektüre biblischer Schriften richtet.“ 100

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Vgl. B ACKHAUS/HÄFNER , Konstruktion (s. Anm. 1), 132. MÜLLNER , Fiktion (s. Anm. 29). 98 Vgl. MÜLLNER , Fiktion (s. Anm. 29). 99 Vgl. MÜLLNER , Fiktion (s. Anm. 29). Das stellt auch Claire Clivaz mit Verweis auf Umberto Eco fest, vgl. C. CLIVAZ, The Questions of Emotions in Writing History. Reflections on the Lukan Writings and Jn 11.33, in: E. Ebel/S. Vollenweider (Hg.), Wahrheit und Geschichte. Exegetische und hermeneutische Studien zu einer dialektischen Konstellation (AThANT 102), Zürich 2012, 55–77, 57: „The second century and the end of the twentieth century share a common ‚hermeticʻ tendency that accentuates the blurring of the boundaries between fiction and reality.“ Vgl. außerdem B. CASSIN, Du faux et du mensonge à la fiction (de pseudos à plasma), in: dies. (Hg.), Le plaisir de ‚parler ʻ (Etudes de sophistique comparée [Arguments]), Paris 1986, 3–29. 100 MÜLLNER , Fiktion (s. Anm. 29). 97

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Auch im Lexikon der Bibelhermeneutik findet sich ein von Enno Edzard Popkes verfasster Artikel zur Fiktion/Fiktionalität (neutestamentlich). 101 Popkes führt aus, dass die Vorstellung von Fiktion oder Fiktionalität im Bezug auf frühchristliche Literatur oft in einem pejorativen Sinn verstanden wurde, da sie im Gegensatz zu Wahrheit bzw. Realität gestanden habe. Dieser Gegensatz sei allerdings zu eng gefasst, erstens weil auch in der so genannten berichtenden Darstellung eben Darstellung enthalten sei und damit Verfremdung, zweitens könne auch durch Fiktion Wahrheit zum Ausdruck gebracht werden. Nach Popkes ergeben sich für die frühchristliche Literatur- und Theologiegeschichte die Anknüpfungspunkte der frühchristlichen Autorfiktion (Pseudepigraphie) und der Produktivität fiktionaler Texte, z.B. in Bezug auf apokalyptische Weltbilder. Der vorliegende Beitrag wird diese beiden Tendenzen aufnehmen und in der Darlegung verschiedener Forschungspositionen weiter ausdifferenzieren. Ruben Zimmermann verweist über White und Ankersmit hinausgehend darauf, dass eine Suche nach den Fakten oder den Ereignissen hinter dem Erzählten sinnlos ist, da sie nicht existieren. Eine „Faktizität jenseits der Fiktionalität“102 gibt es nicht, da wir als Menschen Welt und Wirklichkeit in narrativen Zusammenhängen wahrnehmen und nur sprachlich vermittelt verstehen oder weitergeben können. Mit Blick auf die Jesusgeschichte führt Zimmermann beispielhaft aus: „Die Jesusgeschichte ist immer schon eine sprachliche Interpretation in ihrem Werden, d.h. angefangen von Jesu Selbstinterpretation und der Fremdinterpretation seiner Worte und Taten von seinen unmittelbaren Zeitgenossen. Die postulierte historische Wirklic hkeit des Redens und Handelns Jesu musste also nicht erst ex post narrativ gedeutet werden, sondern sie ereignete sich bereits in einem sprachlichen Koordinatensystem.“ 103

Die sich daraus ergebenden vermeintlichen Unsicherheiten bieten vor allem Chancen in Bezug auf die Wahrnehmung des diskursiven Kontexts, in dem sich Jesus bewegte, oder in Bezug auf die Anschlussfähigkeit an aktuelle Lebenswelten. Außerdem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass neutestamentliche Texte den Anspruch erheben, sich auf außersprachliche Wirklichkeit zu beziehen – der Lektürepakt, den die Autoren mit den Lesern eingehen, basiert auf der Annahme, dass es sich um faktuale Erzählungen handelt. Was jedoch insgesamt für einen Makrotext des Neuen Tes101 E. E. P OPKES, Art. Fiktion/Fiktionalität (neutestamentlich), in: O. Wischmeyer u.a. (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik, Berlin 2013, 179. Zu erwähnen ist hier das im gleichen Jahr erschienene Themenheft der Zeitschrift Bibel und Kirche, in dem das Th ema sehr innovativ behandelt wird: Wie ist die Bibel wahr? Fakt und Fiktion in biblischen Texten, in: BiKi 68 (2013). Hier ist zwar ein alttestamentlicher Schwerpunkt ausz umachen, dennoch wird auf einzelne Artikel in diesem Beitrag verwiesen. 102 ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 28), 432. 103 ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 28), 433.

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taments gilt, muss nicht auf alle seine Teile (in gleicher Weise) zutreffen.104 Auch wenn Sönke Finnern einen äußerst dezidierten Zugang zum Thema bietet, sieht auch er in dieser offenen Frage ein Problem, worauf noch zurückzukommen ist.105 Sehr detailreich diskutiert er verschiedene literaturwissenschaftliche Ansätze, die er aus exegetischer Sicht zum Teil modifiziert bzw. erweitert. Seine Arbeit ist darüber hinaus so angelegt, dass diese Ansätze in ein methodisches Raster gegossen und vor allem kritisch anhand eines neutestamentlichen Texts überprüft und bewertet werden. Im Rahmen der Kommunikationsbedingungen in und durch Erzählungen greift Finnern die Aspekte von Fiktionalität und Faktualität auf, deren Unterschiede nicht kategorial, sondern graduell seien. 106 Denn jede fiktionale Erzählung muss einen Bezug zur Wirklichkeit haben – und möge er auch noch so gering ausfallen –, um überhaupt verstanden zu werden, und jeder historiographische Text enthält narrative Elemente. 107 Genauer definiert Finnern: „Eine Erzählung kann als fiktional gelten, wenn 1) die genannten Personen, Orte oder Gegenstände […] nicht (oder nicht mit diesen Eigenschaften) existieren oder existiert haben bzw. 2) einige Ereignisse […] nicht wirklich (in dieser Weise, zu dieser Zeit) geschehen sind oder andere als die geschilderten Ursachen haben.“108

Als Unterscheidungskriterien für Faktualität und Fiktionalität greift Finnern auf Fiktionssignale zurück, die nach Fiktivitätssignalen109 (bezogen auf Objekte) und Fiktionalitätssignalen110 (bezogen auf die Erzählweise) 104

Vgl. ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 28), 435. S. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28 (WUNT II/285), Tübingen 2010. 106 Vgl. FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 57. 107 Vgl. FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 57–61. 108 FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 61. 109 Mit Blick auf eine wahrscheinliche Abweichung von historisch vermeintlich ges ichertem Wissen – hier ist etwas vorsichtiger zu formulieren, als Finnern das tut – wird der Frage nachgegangen, ob die Geschichte mit faktualen Aussagen oder mit einer fakt ualen Erzählung übereinstimmt. Mit dem Wahrscheinlichkeitskriterium wird überprüft, ob die Existenz von handelnden Figuren, Orten etc. möglich erscheint, auch wenn sie dem Rezipienten in der Wirklichkeit unbekannt sind; Erzählungen, die derlei nicht aufweisen, können zur phantastischen Literatur gerechnet werden. Diese Wahrscheinlichkeitspr üfung muss in Bezug auf frühchristliche Literatur auch vor dem Hintergrund des historischen Entstehungskontexts erfolgen. Zudem gilt: Auch wenn das Geschilderte als mö glich erscheint, kann der Leser zu dem Schluss kommen, dass es sich in dieser Weise (z.B. wegen Anachronismen) nicht zugetragen haben kann. Schließlich kommt das Zugänglichkeitskriterium zur Anwendung: Wenn der Autor Informationen preisgibt, an die er plausiblerweise nicht gelangen konnte oder die sich historisch nicht belegen lassen, spricht das für Fiktivität. Vgl. FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 64f. 110 Hierunter fallen direkte Fiktionalitätssignale wie paratextuelle Hinweise zur Ga ttung, ein Vorwort o.Ä., Informationen des Erzählers usw. und indirekte Fiktionalitätssi g105

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unterschieden werden.111 Zur näheren Bestimmung faktualer Erzählungen unterscheidet Finnern nach „Arten faktualer Objekte bzw. Ereignisse einer Erzählung“ und „dem Ausmaß faktualer Aspekte innerhalb eines Objekts“112. Wichtig für eine differenziertere Arbeit mit den Kategorien fiktional und faktual ist Finnerns Kategorie der „Gewichtung faktualer Objekte bzw. Ereignisse“113 dahingehend, ob sie nur einen Referenzeffekt auslösen oder ob sie deutungsrelevant sind. 114 Schließlich schlägt Finnern jeweils fünf Fiktionalitäts- und Poetizitätsstufen vor, die die Erzählung insgesamt entsprechend bewerten sollen. Die Poetizitätsstufen reichen von einer nüchternen Schilderung oder Datensammlungen (1) über eine weitgehend sachliche und in Ansätzen interessante Gestaltung (2) und eine Zwischenstufe 3 – relativ sachlich mit gesteigerten poetischen Elementen (z.B. kanonische Evangelien) – zu den Stufen 4 und 5, wo die Erzählung als literarisches Kunstwerk oder als hochpoetisch wahrgenommen wird. Auch wenn die Erzählungen der Stufe 5 faktual sein können, korrespondiert nach Finnern ein hoher Grad an Poetizität auch mit einem hohen Maß an Fiktionalität.115 Deren Stufen bestimmt Finnern wie folgt: Fiktionalitätsstufe 1: (Fast) alle Orte, Zeiten, Ereignisse, Personen sind wahrscheinlich (Geschichtsschreibung […]). Fiktionalitätsstufe 2: Viele Orte, Zeiten, Ereignisse, Personen sind wahrscheinlich/real; einige Ereignisse sind fiktiv oder Figuren haben bestimmte, nicht durch Quellen abgedeckte Eigenschaften (historischer Roman, fiktionale Biographie; z.B. kanonische Evangelien). Fiktionalitätsstufe 3: Einige Orte, Zeiten, Ereignisse, Personen sind wahrscheinlich/real; das meiste ist fiktiv […]. Fiktionalitätsstufe 4: Wenige Orte, Zeiten, Ereignisse, Personen sind real; fast alle sind fiktiv, aber aus Sicht des intendierten Rezipienten nicht unmöglich […].

nale wie „eine hohe Poetizität und […] die Nichteinhaltung historiografischer Konventionen“ (FINNERN, Narratologie [s. Anm. 105], 67), worunter Metalepsen, figurale Fokalisierung, die deutliche Unterscheidung von Autor und Erzähler, eine hohe Anzahl von Anachronien oder die häufige Verwendung poetischer Sprache zählen. 111 Vgl. FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 63. 112 FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 70. 113 FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 71 (Hervorh. im Original). 114 FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 71 spricht von einem „Realitätseffekt“, der allerdings zu Verwechslungen mit dem Effekt der Nachvollziehbarkeit in fiktionalen Erzählungen führen kann. Die Entscheidung, ob ein Referenzeffekt vorliegt oder die faktualen Elemente deutungsrelevant sind, muss natürlich textspezifisch gefällt werden und kann je nach Gewichtung unterschiedlich ausfallen. 115 Vgl. F INNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 73 mit Abb. 8 zum Verhältnis von Poetizität und Fiktionalität.

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Fiktionalitätsstufe 5: (Fast) keine Orte, Zeiten, Ereignisse, Personen sind real; alle sind fiktiv und mindestens eine Entität ist aus Sicht des intendierten Rezipienten unmöglich […]. 116 Derartige theoretische Abstufungen sind in der Literaturwissenschaft zu Recht umstritten. Finnerns Wortwahl zur Abgrenzung der einzelnen Stufen legt die entsprechende Unsicherheit nahe: „weitgehend sachlich“ oder „relativ sachlich“ – ist das nicht sehr schwer abgrenzbar? „Viele“ oder „einige“ Orte sind wahrscheinlich – wer soll intersubjektiv nachvollziehbar auf dieser Grundlage eine Einordnung in die eine oder andere Stufe vornehmen können? Welche Entscheidung ist zu treffen, wenn zwar alle Orte real bekannt sind, jedoch nur wenige der genannten Figuren auf reale Personen zurückgeführt werden können? Was tun, wenn von den wenigen Figuren aber die wichtigsten in der außertextlichen Wirklichkeit als Personen existieren? Darüber hinaus ist das Quellenverständnis der oben dargelegten Stufenfolge zu hinterfragen: Welche (Arten von) Quellen sind gemeint, wenn Eigenschaften von Figuren als fiktiv oder real einzuordnen sind? Inwiefern sind die Informationen aus anderen Quellen, die auch mehr oder weniger faktual sein können, mit den im vorliegenden Text gegebenen Eigenschaften in Beziehung zu setzen: Ist generell anderen Quellen der Vorzug zu geben? Aus diesen kritischen Anfragen ergeben sich zahlreiche Probleme dieser Systematik, die nur auf den ersten Blick transparent erscheint. Eine Grundanfrage bezieht sich auf das Problem, wo die Veranschaulichung von faktualer Darlegung aufhört und fiktionale Gestaltung beginnt. Vermutlich ist sie nicht pauschal zu beantworten, sondern je neu anhand des vorliegenden Texts zu klären. Beachtenswert ist darüber hinaus, dass Finnern mit der Einordnung der kanonischen Evangelien lediglich ein Beispiel aus der frühchristlichen Literatur in die Stufenfolge integriert. Es besteht daher in Bezug auf neutestamentliche und frühchristliche Literatur noch erhebliches Differenzierungspotential. Denn es darf doch bezweifelt werden, ob kanonische Evangelien und analog so genannte apokryphe Evangelien jeweils als kohärente Gruppe aufgefasst werden. Zudem ist neben den theoretischen deskriptiven Differenzierungen stets am Text selbst zu belegen, welchen Punkten in einem Fiktionalitätskontinuum er entspricht und welche Deutungsmöglichkeiten sich daraus ergeben. In seiner Applikation auf das Matthäusevangelium befindet Finnern in Auseinandersetzung mit Ulrich Luz 117 die gesamte matthäische Erzählung als faktual. Im Fokus seiner narratologischen Studie steht allerdings nur Mt 28. Diesbezüglich stellt er fest, dass keine textexternen Fiktivitätssig116

FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 72, Hervorh. im Orig. Vgl. aber unten das Referat zu Luz; vgl. die Beiträge von Olaf Rölver und Felix Albrecht in diesem Band. 117

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nale auf die Fiktionalität der Erzählung hinweisen. Die Adressaten dürften mit der Taufformel (Mt 28,19) und mit der Auferstehung Christi vertraut sein und dies als tatsächliche Ereignisse einstufen. 118 Textinterne Fiktionalitätssignale stellt er nicht fest. Bis auf V. 13, der die Unzuverlässigkeit der Hohepriester entlarve, 119 ist das gesamte Kapitel faktual aufzufassen. Finnern ordnet es der Fiktionalitätsstufe 2 und der Poetizitätsstufe 3 zu. 120 In seiner Bewertung der Methode 121 muss Finnern allerdings einräumen, dass die Aspekte von Fiktionalität und Faktualität für den ausgewählten Text wenig austragen. Insbesondere die fehlende Verbindung zu antiken Fiktionalitätskonzepten führt er dabei zu Recht ins Feld. Aber auch wenn wir in der Methodik Finnerns bleiben, die trotz aller Kritik in ihrer stufenweisen Abfolge von Fiktionalität und Faktualität sensibler macht für wichtige Differenzierungen, ist anzumerken, dass die Einordnung in Fiktionalitätsstufe 2 und Poetizitätsstufe 3 nicht hinreichend textlich belegt wird. In Anwendung auf den ausgewählten Textabschnitt ist dies auch äußerst schwierig, weswegen diese Methodik gewinnbringend eher auf eine Erzählung als Ganzes angewandt werden sollte. 122

118

Vgl. FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 270f. Finnern spart die Deutungsmöglichkeit aus, dass auch diese Unzuverlässigkeit fa ktual gemeint sein könnte. 120 Vgl. FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 272. 121 Vgl. FINNERN, Narratologie (s. Anm. 105), 272f. 122 Vgl. die sehr klare Positionierung Susanne Luthers in Bezug auf frühchristliche Wundererzählungen: „Nicht die Wundererzählungen selbst, sondern der Anspruch des Gesamtwerkes ist der entscheidende Indikator für die Wahrnehmung der Texte als fa ktuale oder fiktionale Erzählungen“ (LUTHER , Erdichtete Wahrheit [s. Anm. 69], 345). U. EISEN, Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie (NTOA 58), Fribourg/Göttingen 2006, 61f., geht so vor, wobei sie eine Einordnung kurz und prägnant vornimmt: „Es ist angesichts des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes der Acta kaum nötig, weiter in die Frage nach den Kriterien von Fiktionalität einzudringen, da mit der Definition ‚faktualerʻ Erzählung die Art der Erzählung abgedeckt ist, die in den Acta, dem Corpus Lucanum insgesamt, vorliegt. Acta ist eine faktuale Erzählung, weil sie – wenigstens dem lukanischen Selbstverständnis nach – von historischen Ereignissen und Personen erzählt.“ Eisen hält sich allerdings in ihrer Durchführung an die narratologische Vorgabe des damaligen Forschungsstands, strikt textimmanent vorzugehen und den hist orischen Kontext auszuklammern. Sie konzentriert sich somit auf die erzählerischen Elemente und thematisiert das Verhältnis zwischen faktualen und fiktiven Elementen nicht weiter. Dabei geht aber das Deutungspotential einer differenzierteren Bestimmung des Fiktionalitätsgrads der Acta verloren. Allerdings könnte dies ein gewinnbringendes Vorgehen andeuten, indem eine Bestimmung des Fiktionalitätsgrads des vorliegenden Texts und eine differenzierte Analyse des Verhältnisses fiktiver und faktualer Elemente der Erzählung vorgenommen wird oder die Konzentration auf eine der beiden Ebenen erfolgt. 119

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4. Verfasserfiktion Auf der Ebene der Verfasser- oder Autorfiktion – einem Sonderfall der Fiktionalität, da sie sich nicht auf den gesamten Text bezieht –123 hat sich die Exegese schon lange vor einer tieferen theoretischen Auseinandersetzung der Herausforderung der so genannten Pseudepigraphie gestellt. Für das Neue Testament ist eine Beschäftigung mit diesem Phänomen unerlässlich, schließlich betrifft es weite Teile des Neuen Testaments.124 In diesem Zusammenhang wurde vielfach darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Phänomen um eine verbreitete Praxis in der Antike handelte, die entfernt mit dem heutigen Verständnis von Ghostwriting verglichen werden kann.125 Mit einem pseudepigraphen Schreiben verfolgen die eigentlichen Autoren – oft handelt es sich dabei um Schüler des vorgegebenen Autors – das Ziel, Botschaften im Sinne des Lehrers zu übermitteln. 126 Mit der Fiktion des Autors wird daher nicht in erster Linie die Autorität des Schreibens des eigentlichen Autors unterstrichen. Die Wirkung des Schreibens entfaltet sich aus dem Zusammenspiel des anerkannten vorgegebenen Autorennamens mit einem Inhalt, der ihm plausiblerweise zugeschrieben werden kann.127 Decken sich der Inhalt des Schreibens und die Kenntnisse der Adressaten von authentischen Lehren des vorgegebenen Autors, wird die Pseudepigraphie im frühen Christentum meist nicht als solche erkannt.128 Auch wenn erkannte Pseudepigraphie im antiken Umfeld 123 Vgl. FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie (s. Anm 73), 229. Dort auch umfassende Verweise auf Sekundärliteratur. 124 Vgl. M. J ANSSEN, Art. Pseudepigraphie (Stand: Januar 2011), in: wibilex (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/53905/, Zugriff am 15.04.2014), 1 –20 (Lit.!), 8. Für eine differenzierte Sicht sei auf den Überblick a.a.O., 8–11 verwiesen. Vgl. R. ZIMMERMANN, Unecht – und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament als theologisches Problem, in: ZNT 12 (2003), 27–38, 27.30, der überlieferungsgeschichtliche, literarische und imitative Pseudepigraphie im Neuen Testament verortet. 125 Vgl. zum Ghostwriting auch in der Antike J ANSSEN, Pseudepigraphie (s. Anm. 124), 5. 126 Vgl. ZIMMERMANN, Unecht (s. Anm. 124), 29, der „die autorenzentrierte neuzeitliche ‚Pseudonymitätʻ und die textzentrierte antike ‚Pseudepigraphieʻ“ unterscheidet. 127 Vgl. FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie (s. Anm. 73), 182–185, 222. Das gilt vor allem für die so genannte primäre Pseudepigraphie, die vom Autor ausgeht. Sie ist von der sekundären Pseudepigraphie zu unterscheiden, die einer anonymen Schrift nachträglich einen Verfassernamen hinzufügt, womöglich um deren Autoritä t oder ihre historische Referenz zu erhöhen, vgl. J ANSSEN, Pseudepigraphie (s. Anm. 124), 3. Janßen bezeichnet als „übergeordneten Beweggrund für Pseudepigraphie“ den Wirkungswillen (a.a.O., 7). 128 Im frühen Christentum ist das der häufigere Fall, vgl. FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie (s. Anm. 73), 187–192. Erkannte Pseudepigraphie konnte demgegenüber auch deutlich als Fälschung bezeichnet werden, vgl. a.a.O., 201. Zudem wurde Verfasse rfiktion, die als solche leicht erkennbar gestaltet wurde, in gewissen Kontexten wohl

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weniger problematisch gewesen sein dürfte, 129 wird eine Analogie zu frühchristlichen Schriften und ihren Rezipienten kritisch gesehen. 130 Ruben Zimmermann legt den Finger in die Wunde erkannter Pseudepigraphie, die als Lüge entlarvt werden kann: „Wenn – um Klartext zu reden – in der Bibel gelogen wird, ist dann nicht der Wahrheitsanspruch der ‚Heiligen Schriftʻ überhaupt in Frage gestellt?“ 131 Dies gilt umso mehr, wenn wir Zimmermanns „literarisch-rezeptionsästhetische Annäherung“ 132 berücksichtigen, wonach sich ein realer Autor durch einen fiktiven Autor, der fiktiven Adressaten eine fingierte Situation beschreibt, an reale Leser wendet.133 So berechtigt dieser Finger in der Wunde ist, weist Marco Frenschkowski dennoch auf ein zentrales forschungsgeschichtliches Problem hin, das auch im vorliegenden Band aufgegriffen wird: „Es wurde sehr viel Energie auf die Fragen verwendet, ob oder ob nicht eine bestimmte Schrift pseudepigraph ist, jedoch deutlich weniger auf das Problem, was diese Pseudepigraphie für das Milieu, die geistige Welt ihrer Autoren und Leser, besagt.“134 Wie auch in Bezug auf (Evangelien-)Erzählungen kann sich die Frage anschließen, welches Deutungspotential sich aus der näheren Bestimmung der Fiktion ergibt. In Bezug auf die literarisch verstandene Pseudepigraphie verweist Zimmermann z.B. auf das Ziel der realen Autoren, die Lebenswirklichkeit der realen Adressaten zu erreichen, was ihnen nur auf dem Weg der fingierten Kommunikationssituation möglich

durchaus akzeptiert, vgl. a.a.O., 204–212; vgl. J ANSSEN, Pseudepigraphie (s. Anm. 124), 4f. 129 Allerdings herrschte ein sehr sensibles Verständnis von Autorenschaft und geist igem Eigentum, so dass Plagiat und Fälschung durchaus geahndet wurden, vgl. J ANSSEN, Pseudepigraphie (s. Anm. 124), 2. 130 Vgl. FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie (s. Anm. 73), 195; ZIMMERMANN, Unecht (s. Anm. 124), 27. 131 ZIMMERMANN, Unecht (s. Anm. 124), 27f. 132 ZIMMERMANN, Unecht (s. Anm. 124), 33. 133 Vgl. ZIMMERMANN, Unecht (s. Anm. 124), 33–35. 134 FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie (s. Anm. 73), 186. Vgl. zum forschungsgeschichtlichen Hintergrund J ANSSEN, Pseudepigraphie (s. Anm. 124), 11–13, die auf die Wahrnehmung der „neutestamentlichen Pseudepigraphen als eigenständige theologische Entwürfe“ (a.a.O., 12) verweist. Durch eine sozial- und religionsgeschichtliche Annäherung kann das Problem der Pseudepigraphie zumindest teilweise einer Lösung zugeführt werden, indem auf die weit verbreitete Praxis in der Umwelt der neutestamentlichen Pseudepigraphen und auf die Autorenkollektive verwiesen wird, die auf eine en tsprechende Schule im Sinne des vermeintlichen Verfassers hinweisen. Damit wäre im Selbstverständnis der Autoren kein Bewusstsein von Fälschung, sondern im Gegenteil von der Fortführung einer Tradition vorauszusetzen, vgl. ZIMMERMANN, Unecht (s. Anm. 124), 30–33.

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oder zumindest am ehesten möglich erschien. 135 Zudem ist auch hier individuell zu analysieren, welche Art von (Verfasser-)Fiktion vorliegt:136 „Wir bewegen uns also in einem komplizierten literarischen Netzwerk an Intertextualitäten, die zugleich mit theologischen Affinitäten, aber auch massiven Distanzierungen verbunden sind. Pseudepigraphie ist ein Mittel der Durchsetzung von theologischen Pos itionen im Widerstreit mit theologischen Gegnern: In keinem Fall ist sie einfach nur ‚Stilmittelʻ, sondern konstituiert Legitimitätsstrukturen in Konfliktsituationen.“ 137

Frenschkowski entwickelt „eine Typologie von Pseudepigraphien“, wobei er definiert, dass Pseudepigraphie „fiktiv auf eine grundsätzlich als real angesehene Autorität“138 verweist. Die Art und Weise dieser Referenz kann als Nah-, Fern- oder mittlere Deixis bezeichnet werden, wobei „eine Nahdeixis versucht, einen drohenden Bruch zwischen jüngster Vergangenheit und unmittelbarer Gegenwart zu verhindern; sie verarbeitet öfters auch Generationenkonflikte. Das früheste Christentum produziert ausschließlich Pseudepigraphen im Gestus der Nahdeixis.“139 Das Phänomen der Autorfiktion in frühchristlichen Schriften soll hier nicht weiter vertieft werden, da sich Peter Ben Smit und Sandra Hübenthal in diesem Band sehr ausführlich diesem Problem widmen. Hübenthal legt über eine fundierte theoretische Grundlegung dar, welches Potential in einer Auslegung pseudepigrapher Briefe durch eine Perspektive im Spannungsfeld von Fiktionalität und Faktualität liegt. Dennoch sei abschließend auf die damit verbundene Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Pseudepigraphie eingegangen, die bereits im ersten Abschnitt anklang. Denn Zimmermann selbst verarztet die Wunde der Lüge durch Pseudepigraphie mit dem Verweis auf den fiktionalen Charakter frühchristlicher Texte, die wahrhaftige Aussagen über die Wirklichkeit treffen: „Entsprechend kann auch die Wahrheit der biblischen Texte weder an der ‚Historizitätʻ ihrer Aussagen [.] noch an der ‚Echtheitʻ ihrer Verfasserangaben gemessen werden. Biblische Wahrheit ist um ihrer Lebendigkeit willen keine ‚objektive‘ Wahrheit, sondern immer zutiefst subjektbezogene, existentiale Wahrheit.“140

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Vgl. ZIMMERMANN, Unecht (s. Anm. 124), 34f. Vgl. FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie (s. Anm. 73), 214f.; J ANSSEN, Pseudepigraphie (s. Anm. 124), 3f., die zwischen expliziter und impliziter Verfasserfiktion sowie anonymer, symbolischer und pseudepigraphischer Pseudonymität unterscheidet. 137 FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie (s. Anm. 73), 217. 138 FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie (s. Anm. 73), 225. 139 FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie (s. Anm. 73), 226. 140 ZIMMERMANN, Unecht (s. Anm. 124), 35. Vgl. mit gleicher These E. CUVILLIER , Vérité et historicité de la fiction littéraire. La seconde Épître aux Thessaloniciens comme pseudépigraphie, in: ETR 88 (2013/14), 515–528. 136

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5. Fiktionalität und Faktualität in exegetischen Applikationen 141 Einen sehr überzeugenden Versuch einer Applikation der theoretischen Diskussion zum Problembereich von Fiktionalität und Faktualität unternimmt Eckhard Plümacher, der sich dem Phänomen der Fiktivität und Fiktionalität in der Apostelgeschichte und der hellenistisch-römischen Umwelt widmet.142 Damit präzisiert er in einem entscheidenden Punkt einige seiner vorangegangenen Arbeiten. 143 Anknüpfend an seine Ausführungen zur lukanischen Heilsgeschichte, womit Lukas seine eigene Deutung historischer Ereignisse bietet, 144 vertritt Plümacher die These, Lukas habe mit der Apostelgeschichte einen Beitrag zur mimetischen Geschichtsschreibung geleistet. Diese Denkrichtung führt er auf Duris von Samos zurück, der die Arbeit des Geschichtsschreibers den Möglichkeiten des Dichters anglich. „[D]urch lebensnahe Nachahmung der Wirklichkeit“ 145 sollen wie bei der Tragödie die Emotionen des Lesers geweckt und die Wirkung des Dargestellten erhöht werden. 146 Wie heterogen zumindest die Bewertungen von Geschichtsschreibung auch in der Antike ausfallen, zeigt Plümachers 141

Auch wenn die frankophone und anglophone Exegese auf eine weitaus längere Tradition in der Aufnahme literaturwissenschaftlicher Methoden zurückblicken als die deutschsprachige, ist auch im deutschsprachigen Raum die Forschungsliteratur etwa im Bereich der Narratologie extrem angewachsen. Daher werden hier exemplarisch solche Arbeiten vorgestellt, die sich dezidiert mit dem Spannungsfeld von Fiktionalität und Faktualität auseinandersetzen. Von der narratologischen Exegese müsste man streng genommen die narrative Exegese abgrenzen: die Auslegung über und durch Fiktion. Auch auf dieses spannende Feld, dessen Potential noch bei Weitem nicht ausgeschöpft ist, kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. exemplarisch A. T ATE, Contemporary Fiction and Christianity, London 2010. Vgl. den Sammelband von M. RONCACE und P. GRAY, Teaching the Bible through Popular Culture and the Arts (SBL.RBS 53), Atlanta 2007, in dem ein Überblick zu Werken in Musik, Film, bildender Kunst, Literatur und anderen Medien wie Comics oder Webseiten gegeben wird, mit denen biblische Texte nähergebracht werden können. 142 E. P LÜMACHER, Teratei,a . Fiktion und Wunder in der hellenistisch-römischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte, in: ders., Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hg. v. J. Schröter und R. Brucker, Tübingen 2004, 33–83. 143 Vgl. etwa E. P LÜMACHER , Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte (StUNT 9), Göttingen 1972; DERS., Lukas als griechischer Historiker, in: PRE.S 14 (1974), 235–264; DERS., Luke as a Historian, in: ABD 4 (1992), 398–402. 144 Vgl. E. P LÜMACHER , Die Apostelgeschichte als historische Monographie, in: ders., Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hg. v. J. Schröter und R. Brucker, Tübingen 2004, 1–14, 4–6.13f. 145 P LÜMACHER, Teratei,a (s. Anm. 142), 35. 146 Vgl. auch D. DORMEYER , Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie, im Frühjudentum und im Neuen Testament, in: T. Schmeller (Hg.), Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner U mwelt (StUNT 69), Göttingen 2009, 1–33.

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Darlegung der Kritik des Polybios an diesem Ansatz der teratei,a , die es mit der historischen Wahrheit nicht sonderlich genau nimmt, „wenn die Gestaltung einer fiktiven Wirklichkeit der emotionalen Beteiligung des Lesers förderlicher zu sein schien als ein Bericht nur des tatsächlich Geschehenen“147. Polybios prangert darüber hinaus Übertreibungen an, die gar reine Erfindungen sein können, womit seine Ablehnung der Darstellung des Mirakulösen einhergeht. 148 Aus weiteren ablehnenden Haltungen zur mimetischen Geschichtsschreibung wie die Lukians schließt Plümacher jedoch, dass sie weit verbreitet gewesen sein muss 149 und somit auch ihre Anhänger fand. Daraus zieht er mit Blick auf Lukas den Schluss, dem Verfasser der Apostelgeschichte sei der Status des Geschichtsschreibers wegen fiktiver Elemente keineswegs abzusprechen: „Sich der Fiktion zu bedienen, mochte sie nun in der Übertreibung oder gar der Erfindung von Fakten bzw. Geschehnissen bestehen, war in der mimetischen Geschichtsschreibung jener Zeit eine gebräuchliche Methode, um zur Darstellung des Spektakulären zu gelangen.“150

Auch Lukas habe sich dieser Methode bedient, um seine Adressaten mit seiner Botschaft zu erreichen. Ob wir Lukas angesichts dieses Vorgehens als Geschichtsschreiber, Erzähler, Maler 151 oder als Theologen bezeichnen, tritt letztlich hinter die treffenden Beobachtungen Plümachers zurück, die damit zuzuspitzen sind, dass sein Werk sowohl faktuale als auch fiktionale Elemente enthält und er mit der erzählerischen Ausgestaltung auch unter Rückgriff auf Fiktives strategische Ziele verfolgt und tiefere Botschaften vermittelt. Dazu zählen nach Plümacher beispielsweise die Überwindung heidnischer Kulte durch das Christentum oder die Anerkennung seiner führenden Vertreter durch jüdische und römische Machtinstanzen. 152 Auch die Wundererzählungen sind nach Plümacher dementsprechend einzuordnen, da sie vor allem dazu dienen, den Menschen den „Heilswillen Gottes“ nä-

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P LÜMACHER, Teratei,a (s. Anm. 142), 41. Kritisch wird angeführt: Aufbauschen eines eher unbedeutenden Stoffes mit dem Mittel der dramatischen Darstellungskunst, maßlose Übertreibung der tatsächlichen Ereignisse mit dem Ziel der Leserbegeisterung, das gefühlsmäßige Involvieren der Leser in das geschilderte Geschehen mit dem Mittel erregender Handlungsumschwünge, womit die Grenzen des Vernünftigen und Vorstellb aren überschritten würden, vgl. a.a.O., 38f. 148 Vgl. P LÜMACHER, Teratei,a (s. Anm. 142), 45–48. 149 Vgl. P LÜMACHER, Teratei,a (s. Anm. 142), 51. 150 P LÜMACHER, Teratei,a (s. Anm. 142), 53. 151 Vgl. K. B ACKHAUS, Lukas der Maler. Die Apostelgeschichte als intentionale Geschichte der christlichen Erstepochen, in: ders./G. Häfner (Hg.), Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007, 30–66. 152 Vgl. P LÜMACHER, Teratei,a (s. Anm. 142), 54–56.

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herzubringen, der sich „durch wunderbares Geschehen offenbart“ 153. Seine vordringlichen Ziele sind die Apologie eines heilsgeschichtlichen Eingreifens Gottes154 und schließlich die Ermutigung seiner Adressaten zum Glauben.155 Claire Clivaz hat in ihrer 2010 erschienenen umfangreichen Monographie „Lʼange et la sueur de sang“ 156 als Replik auf Lukian von Samosatas Schrift „Wie man Geschichte schreiben soll“ 157 und mit Blick auf die hochemotionale Stelle in der lukanischen Passionsgeschichte in Getsemani mit dem Erscheinen eines Engels, Jesu Ringen mit dem Tod und dem Schwitzen von Blut (Lk 22,43–44) und ihrer wechselvollen Geschichte in verschiedenen Traditionen gezeigt, wie man Geschichte auch schreiben könnte („ou comment on pourrait bien encore écrire lʼhistoire“).158 Methodisch hat Clivaz damit nicht nur die Textkritik entschieden vorangebracht, sondern auch wichtige Impulse für das hier behandelte Thema gesetzt. Sie vertritt die These, dass die Konzeptionen von Gattungen im Zuge des literary criticism erhebliche Veränderungen durchlaufen hätten159 und man das lukanische Doppelwerk keiner Gattung eindeutig zuordnen könne, sondern als eine „catégorie de réception“ 160 bezeichnen solle.161 Diese Einordnung nimmt sie auf der Basis der von Genette eingeführten Kategorien der faktualen und fiktionalen Literatur vor. Im Französischen werden jedoch weitere Differenzierungen möglich: Die Unterscheidung, die Genette zwischen „littérarité constitutive“ und „littérarité conditionnelle“ vorge153

P LÜMACHER, Teratei,a (s. Anm. 142), 58. Vgl. P LÜMACHER, Teratei,a (s. Anm. 142), 82. 155 Vgl. P LÜMACHER, Teratei,a (s. Anm. 142), 73: „Indem Lukas solche krassen Wundergeschichten erzählte, tat er mutatis mutandis genau das, was Diodor um der Verteid igung der überkommenen Frömmigkeit ebenfalls getan hat und Polybios dem Historiker zum Zweck des Frömmigkeitserhalts – bei Lukas möchte man allerdings eher von Glaubensermutigung sprechen – obschon einigermaßen widerwillig so doch unmißverständlich zugestanden hatte.“ Vgl. für die Acta-Auslegung außerdem J. T AYLOR , The Acts of the Apostles, History or Fiction? A Note on the Realia, in: J. E. Aguilar Chiu u.a. (Hg.), Bible et Terre Sainte, New York 2008, 279–283. Vgl. auch die Beiträge von Nils Neumann und Martin Bauspieß in diesem Band. 156 C. CLIVAZ, Lʼange et la sueur du sang (Lc 22,43-44). Ou comment on pourrait bien encore écrire lʼhistoire (Biblical Tools and Studies 7), Leuven u.a. 2010. 157 Vgl. auch den Beitrag von Martin Bauspieß in diesem Band. 158 Vgl. insbesondere CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 108–132 in Auseinandersetzung mit Lukian, Ranke und Ginzburg. 159 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 17–34. 160 CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 54. 161 Nach einer umfassenden Diskussion des Forschungsstands, die vor allem die Frage behandelt, inwieweit der Verfasser des lukanischen Doppelwerks als Historiker bezeichnet werden kann, stützt sich Clivaz in ihrer Beurteilung vor allem auf die Arbeiten L oveday Alexanders, vgl. L. ALEXANDER , The Preface to Lukeʼs Gospel: Literary Convention and Social Context in Luke 1:1-4 and Acts 1:1 (SNTSMS 78), Cambridge 1993; DIES., Fact, Fiction, and the Genre of Acts, in: NTS 44 (1998), 380–399. 154

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nommen hat, appliziert Clivaz auf die Geschichtsdarstellung. Als rezeptionsästhetische Kategorien können die Bezeichnungen einer „historicité constitutive“ und einer „historicité conditionnelle“ aufgefasst werden, da es vom Rezipienten abhängig sei, wie er die Darstellung von Geschichte (histoire) verstehe.162 Das lukanische Doppelwerk sei daher auf der Basis des Prologs im Spannungsfeld dieser beiden Pole einzuordnen. Mit der Person des Autors sei erstens eine subjektive Referenz in der Geschichte vorhanden.163 Zweitens komme es auf die Perspektive an, ob man das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte als insider (als Gläubiger) oder als outsider (Beobachter) rezipiere. 164 Das Werk selbst richte sich jedenfalls an insiders, es handelt sich um eine „communication à lʼinterne“165. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass beiden Kategorien, der „historicité constitutive“ und der „historicité conditionnelle“ das Element der Konstruktion innewohnt.166 Als Gründe nennt sie u.a. eine Verschiebung der Grenze zwischen „fiction“ und „histoire“,167 wobei z.B. die Beschreibung kai. evge,neto o` i`drw.j auvtou/ w`sei. qro,mboi ai[matoj katabai,nontej evpi. th.n gh/n (Lk 22,44) rhetorisch genau im Grenzbereich zwischen diesen beiden Polen verortet werden kann. Mit Lk 22,43–44 wird zudem die Frage nach dem Aspekt der Emotionalität im Bereich der historiographischen Literatur aufgeworfen. 168 Auch für den Autor des lukanischen Doppelwerks hält Clivaz fest, dass er sein Werk zu einer Zeit verfasst habe, als die Grenze zwischen „fiction“ und „réalité“ verschwommen gewesen sei, was sie auf den Einfluss der Zweiten Sophistik zurückführt 169 und was eine auffällige Parallele zur aktuellen Gattungsdiskussion darstelle. 170 Dies wird neben einer literaturgeschichtlichen Einordnung u.a. durch eine intensive Bearbeitung des Prologs gestützt, der dem lukanischen Doppelwerk vorangestellt ist (Lk 1,1–

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Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 51–54, sie ergänzt (a.a.O., 53): „Lʼhistoricité ‚conditionnelleʻ (une histoire vraie pour les uns, fiction pour les autres) est un rappel claire que lʼhistoricité demeure toujours une appréciation relative.“ 163 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 196. 164 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 53, wo sie mit Verweis auf den französischen Historiker François Hartog von „vues dʼici“ und „vues dʼailleurs“ spricht. 165 CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 175 (Hervorh. im Orig.). 166 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 54. Sie führt diese Gedanken weiter fort, vgl. a.a.O., 174–183. 167 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 9–13; 147–174. 168 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 132–142; 324–346. 169 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 91: „Il me semble primordial, quand nous lisons Luc-Actes, de garder à lʼesprit le contexte du tournant du I er siècle et de lʼâge dʼor de la Seconde Sophistique. Cʼest ce profond remodelage de la frontière entre fiction et réalité qui va permettre le changement de modèle culturel.“ Vgl. zudem a.a.O., 99 –108. 170 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 108–114.

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4).171 Clivaz zieht die methodische Konsequenz daraus, dass synchrone und diachrone Herangehensweisen an die Deutung des Texts miteinander verbunden werden sollten, was zum Prinzip des „lectorat antique“ führt. 172 In Bezug auf die problematische Interpretation und die weit auseinandergehenden Manuskripttraditionen zu den behandelten Versen, die verschiedene theologische Haltungen widerspiegeln, wie Clivaz auch in einer kirchenhistorischen Diskussion zeigt, 173 beendet sie ihre Arbeit im englischen Summary mit einer eindrucksvollen Schlussfolgerung, womit sie den Bogen zu ihrer Replik auf Lukian schließt: „To write history, to dare to write history still, represents at least a small victory over forgetting and death, like comforting angels in dark times. It represents also the hope of finding some truth even among lies, fakes and fictions, the hope of avoiding obsession with the collective memory, as well as hallucination in the private memory.“ 174

Einleitend wurde bereits geschildert, dass die Fragen im Rahmen der Faktualität und Fiktionalität neutestamentlicher Texte eng mit der Frage nach dem historischen bzw. erinnerten Jesus verbunden sind.175 Wie das bereits bei Plümacher anklang, scheinen Wundererzählungen besondere Probleme aufzuwerfen, weswegen sie erhebliches Untersuchungspotential bieten. Ruben Zimmermann hat vor allem mit Blick auf die Wundertätigkeit Jesu die kontroverse Debatte um faktuale oder fiktionale Darstellung, um historische Wahrheit oder erfundene Ereignisse intensiv aufgearbeitet. Sein Beitrag im Rahmen des Kompendiums der frühchristlichen Wundererzählungen war ein wichtiger Baustein für Klärungen in dieser Frage. Der Akkomodationstheorie, rationalistischen Wundererklärungen oder der Entmythologisierung der Wundererzählungen 176 stellen Zimmermann und seine Mitherausgeber die Definition von Wundererzählungen als faktuale Erzählungen entgegen. Nach dieser Auffassung sind Wundererzählungen weder in Anpassung an einen primitiven Wunderglauben der historischen Adres171 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 49–54; 59–99. Hier stehen Deutungen zur Subjektivität des Autors und zu auvto,ptai kai. u`phre,tai geno,menoi tou/ lo,gou (Lk 1,2) im Vordergrund. 172 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 188–196. 173 Vgl. CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 222–346; 455–608. 174 CLIVAZ, Lʼange (s. Anm. 156), 639. 175 Vgl. G. ROCHAIS, Jésus: entre événement et fiction, in: LV 49/4 (2000), 7–17; J. SCHRÖTER, Von der Historizität der Evangelien. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um den historischen Jesus, in: ders./R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (BZNW 114), Berlin/New York 2002, 163–212; A. W EDDERBURN, Jesus and the Historians (WUNT 269), Tübingen 2010. 176 Vgl. R. ZIMMERMANN, Wundern über „des Glaubens liebstes Kind“. Die hermeneutische (De-)Konstruktion der Wunder Jesu in der Bibelauslegung des 20. Jahrhunderts, in: A. C. T. Geppert/T. Kössler (Hg.), Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert, Berlin 2011, 95–125, 102f.

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saten entstanden, noch sollte der Versuch unternommen werden, sie ausschließlich rationalistisch zu erklären. Auch der Ansatz, Wunder, die auf der Grundlage eines primitiven mythischen Weltbilds erzählt worden seien, zu überwinden, wird den Wundererzählungen Jesu nicht gerecht. Vielmehr müssen die Wundererzählungen als faktuale Erzählungen wahr- und ernstgenommen werden. Zimmermann greift bei seiner Gattungsdefinition auf die Unterscheidung fiktionaler und faktualer Erzählungen nach Genette zurück: „Eine Wundergeschichte ist eine faktuale mehrgliedrige Erzählung (1) von der Handlung eines Wundertätigen an Menschen, Sachen oder Natur (2), die eine sinnlich wahrnehmb are, aber zunächst unerklärbare Veränderung auslöst (3), textimmanent (4a) und/oder ko ntextuell (4b) auf das Einwirken göttlicher Kraft zurückgeführt wird und die Absicht ve rfolgt, den Rezipienten/die Rezipientin in Staunen und Irritation zu versetzen (5a), um damit eine Erkenntnis- (5b) und/oder Appellfunktion zu erfüllen (5c).“ 177

Es wird betont, dass der Anspruch der Texte, auf reale Ereignisse in der Vergangenheit zu rekurrieren, ernstzunehmen ist, 178 auch wenn die in vielen Wundererzählungen berichteten Ereignisse allen bisherigen menschlichen Erfahrungen widersprechen. Dieser Fokus richtet sich gegen bisherige Ansätze,179 die „der Geschichtlichkeit bzw. Wirklichkeit Vorrang gegenüber der Sprachlichkeit des Textes“ 180 geben. Auf der Grundlage der These, dass auch fiktionale Erzählungen in einem realen Kommunikationskontext anzusiedeln sind und sich „aus der realen Welt der Kommunikationsteilnehmer“181 speisen, entwirft Zimmermann einen alternativen Ansatz zur Auslegung frühchristlicher Wundererzählungen: „Wundererzählungen erheben im faktualen Erzählmodus zugleich den Anspruch, refere nziell zu sein, d.h. auf Ereignisse (der Vergangenheit) zu verweisen. Die Extremform der referenziellen Gattung wäre der ‚Tatsachenberichtʻ. Wundergeschichten erzählen von unmöglichen Handlungen als geschichtlichen Ereignissen, sie präsentieren realitätswidrige Inhalte im faktualen Redemodus. Wundererzählungen partizipieren insofern an Merkmalen des Tatsachenberichts ebenso wie der Phantasiegeschichte, oder zugespitz t formuliert: Wundererzählungen sind phantastische Tatsachenberichte!“ 182

Obwohl Wundererzählungen fiktionalisierende Erzählverfahren einschließen und fiktive Elemente enthalten, bleibt ihr Realitätsbezug bestehen. Auch wenn es noch so naheliegend erscheint, nach den dahinterstehenden 177

ZIMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen (s. Anm. 6), 30. Vgl. ZIMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen (s. Anm. 6), 31f. 179 Sie nennt ZIMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen (s. Anm. 6), 33–36. 180 ZIMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen (s. Anm. 6), 36. 181 ZIMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen (s. Anm. 6), 37. 182 ZIMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen (s. Anm. 6), 38; vgl. auch die Weiterentwicklung dieser These in: ZIMMERMANN, Phantastische Tatsachenberichte (s. Anm. 29), vgl. auch die Weiterführung von S. LUTHER, Erdichtete Wahrheit (s. Anm. 69). 178

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Fakten zurückzufragen, lassen die Texte selbst eine solche Herangehensweise nicht zu. Wohl aber können die Texte als Wirklichkeitserzählungen wahrgenommen werden, die auch aktuelle theologische Relevanz beanspruchen können.183 Zahlreiche weitere Arbeiten beschäftigen sich mit der Fiktivität einzelner Elemente des Texts, wobei nach wie vor mitunter eine gewissermaßen wertende historisierende Trennung zwischen Fakten und Fiktivem zu beobachten ist. Auch wenn er sich an Plausibilitätskriterien orientiert, geht Hans-Joseph Klauck in seiner kurzen Betrachtung zu Judas 184 nach diesem Schema vor.185 Anne Jensen 186 strebt in Bezug auf die Theklageschichte in ähnlicher Weise einen Nachweis der Historizität der Thekla als Apostolin an,187 wobei auch sie historisch Plausibles (Realität) von Erfundenem (Fiktion) zu trennen versucht. 188 Ulrich Luz hingegen kombiniert historischkritische und literaturwissenschaftliche Methoden und bestimmt damit fiktive Elemente im Text des Matthäusevangeliums, die er als „Beispiele matthäischer Fiktionen“ präsentiert. 189 Luz erläutert in diesem Zusammenhang die Funktion des Prologs und erklärt verschiedene Reden Jesu als eindeutig fiktiv: „Ihr Kompositeur/Autor, der Evangelist Matthäus, muss gewusst haben, dass sie nicht in dieser Weise von Jesus gesprochen worden waren, denn er selbst hat sie aus verschied enen Quellen entnommen und nach thematischen Gesichtspunkten komponiert.“ 190

Damit wendet sich Matthäus entweder direkt an seine aktuellen Rezipienten oder lässt Jesus seine eigene Geschichte interpretieren. Luz weist auch beispielsweise für die Wundererzählungen in Mt 8,1–9,34, die Schlüssel183

Vgl. ZIMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen (s. Anm. 6), 39f. Vgl. auch WENGST, Das, was ist (s. Anm. 25), 151f. 184 H.-J. KLAUCK, Judas Iskariot. Zwischen Fakten und Fiktion, in: R. Niemann (Hg.), Judas, wer bist du?, Gütersloh 1991, 104–111. 185 Zu den Fakten wird gezählt: Judas als Jünger des Herrn, auf der Seite der jüdischen Gegner, Judas, der einen Bruch mit der Jesusbewegung vollzogen „und in den letzten Tagen in Jerusalem eine nicht näher definierbare unrühmliche Rolle gespielt hat“, vgl. KLAUCK, Judas (s. Anm. 184), 108f. (Zitat: 109), wohingegen die davon abweichenden Überlieferungen „in den Bereich der reinen Fiktion“ (a.a.O., 109) gehören. Die Fiktion von Judas umfasse daher z.B. seine Geldgier, den Selbstmord oder Unglückstod, teuflische Charakterzüge, vgl. a.a.O., 110. 186 A. JENSEN, Die Theklageschichte. Die Apostolin zwischen Fiktion und Realität, in: L. Schottroff/M.-T. Wacker (Hg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, 2., korr. Aufl., Gütersloh 1999, 742–747. 187 Vgl. JENSEN, Theklageschichte (s. Anm. 186), 746f. mit Verweis auf die Überlieferungsgeschichte. 188 Vgl. JENSEN, Theklageschichte (s. Anm. 186), 742–746. 189 Vgl. LUZ, Geschichte (s. Anm. 29), 198. 190 LUZ, Geschichte (s. Anm. 29), 198. Luz verweist auf die fünf großen Reden und kleinere Reden (Mt 11,7–1930; 12,22–3750; 21,28–22,14; 23,1–39).

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szene des Händewaschens des Pilatus in Mt 27,24f. und für diverse Verdoppelungen von Texten eine bewusste Komposition des Verfassers nach.191 Matthäus ist zwar einerseits ein Erzähler, der eng mit den Traditionen verbunden ist,192 andererseits wirft Luz aufgrund des fiktiven Charakters zahlreicher Passagen die Frage nach dem Wahrheitsverständnis des Verfassers auf. Dies ist aufgrund der angenommenen Unkenntnis historiographischer Literatur seiner Umwelt 193 und der fehlenden Reflektion von Fiktivität nur individuell auf der Grundlage seines Evangeliums zu konstruieren. Luz nennt drei Voraussetzungen, nach denen für Matthäus Ereignisse im Leben Jesu als wahr klassifiziert werden könnten: „1. Sie sind wahr, wenn sie in der Schrift prophezeit sind. ... 2. Sie sind wahr, wenn sie in den Hauptfaden der matthäischen Jesusgeschichte passen. ... 3. Sie sind wahr, wenn sie den Erfahrungen der matthäischen Gemeinde entsprechen.“ Dieses Wahrheitsverständnis ist eng verbunden mit der matthäischen Leser- bzw. Hörergemeinschaft. 194 Matthäus schreibt vermutlich nicht für eine lokale Gruppe, sondern für eine größere Gemeinschaft, deren Identität bereits durch die Ereignisse geprägt ist, über die Matthäus berichtet. Gleichzeitig zielt das Evangelium darauf ab, darüber hinaus eine prägende Wirkung in Gegenwart und Zukunft der Gemeinschaft zu erzielen. Die bereits durch die Ereignisse und die mündliche Tradition geschaffene Identitätsgrundlage soll gefestigt, erneuert, aktualisiert, erweitert werden. Ein Beispiel dafür, dass das vorliegende Thema über die Debatte der Verfasserfiktion hinaus auch in der Briefliteratur behandelt wird, bietet Maarten Menken. Er greift durch die Frage „The Opponents in the Johannine Epistles. Fact or Fiction?“ 195 – ohne explizit darauf zu verweisen – im Bakhtinschen Sinne der Dialogizität von Texten 196 die Stimme der ande191

Vgl. LUZ, Geschichte (s. Anm. 29), 199f. Vgl. LUZ, Geschichte (s. Anm. 29), 201f. 193 Vgl. LUZ, Geschichte (s. Anm. 29), 202–207. 194 Vgl. LUZ, Geschichte (s. Anm. 29), 208. 195 M. J. J. MENKEN, The Opponents in the Johannine Epistles. Fact or Fiction?, in: A. Houtmann u.a. (Hg.), Empsychoi Logoi. Religious Innovations in Antiquity, Leiden 2008, 191–209. 196 Vgl. M. B AKHTIN, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a.M. 1979; DERS., The Dialogic Imagination. Four Essays, Austin 1981; T. A. SCHMITZ, Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 22006, 79–83. Bakhtin betont auf der Grundlage der Heteroglossie der Sprache die Dialogizität, die insbesondere in Äußerungen des Romans stets vorhanden ist. Zudem könne der Mensch sich nicht selbst vollstä ndig erkennen, sondern benötige stets ein Gegenüber. Ob es sich dabei aber um ein reales oder imaginäres Gegenüber handelt, wird bewusst offen gelassen. Die Frage, ob in Joh (die Äußerungen) fiktive(r) oder reale(r) Gegner im Blick sind, kann daher mit dieser Theorie nicht hinreichend geklärt werden. Wichtig ist jedoch das rhetorische Ziel des Briefs: Selbst wenn nicht von realen Gegnern die Rede ist, so könnten die Einwände doch von möglichen Gegnern vorgebracht werden, so dass die Adressaten bereits eine entsprechende Anweisung erhalten, wie darauf zu reagieren ist. 192

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ren, der Gegner auf, die in den johanneischen Briefen widerhallt. Er geht der Frage nach, ob der Autor sie aus rhetorischen Gründen erfunden haben könnte oder ob es sich bei seinen Verweisen um eine Reaktion auf tatsächliche Gegner gehandelt haben könnte. 197 Menken selbst kritisiert an der ersten Möglichkeit: „I suspect as soon as such a text theory is adopted, a decision about whether the opp onents in the Johannine letters are fact or fiction, has already been taken. The theory d etermines the outcome. If any reference to the world outside the meaning system serves the construction of the system, such a reference may not necessarily become fictional, but at least its factual or fictional character becomes largely irrelevant.“ 198

Dem impliziten Plädoyer, das damit verbunden ist, möchte ich mich ausdrücklich anschließen: Die historische Rückfrage ist weder illegitim noch aufzugeben.199 Es sollten allerdings möglichst ausdifferenzierte Analysemethoden dazu führen, faktuale und fiktionale Elemente zu deuten und einzuordnen. So führt Menken aus, die Warnung des Verfassers vor Gegnern deute darauf hin, dass Gegner tatsächlich vorhanden gewesen sein müssen.200 Der Frage, inwieweit Wahrheit und Geschichte(n) zusammenhängen, widmet sich ein von Eva Ebel und Samuel Vollenweider im Jahr 2012 zur Emeritierung von Jean Zumstein herausgegebener Sammelband mit entsprechendem Titel.201 Daher soll damit dieser Abschnitt beschlossen werden. Insbesondere mit Blick auf das Johannesevangelium, das im Sammelband eine herausgehobene Stellung einnimmt, stellt sich diese Frage.202 Jean Zumstein spitzt sie in seinem Beitrag 203 auf das Problem zu, ob der johanneische Christus angesichts des immer wieder vorgebrachten geringen historischen Quellenwerts des Johannesevangeliums „ein Konstrukt 197

Vgl. MENKEN, Opponents (s. Anm. 195), 191 und für das grundlegende Problem in der neutestamentlichen Literatur mit Verweis auf Gal a.a.O., 191f. 198 MENKEN, Opponents (s. Anm. 195), 199. 199 Vgl. hierzu den in der deutschsprachigen Exegese breit rezipierten Beitrag Jens Schröters zu neueren Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft, wo deutlich wird, in welcher Form diese Rückfrage erfolgen kann: J. SCHRÖTER, Neutestamentliche Wissenschaft jenseits des Historismus. Neuere Entwicklungen in der Geschichtstheorie und ihre Bedeutung für die Exegese urchristlicher Schriften, in: ThLZ 128 (2003), 855-866. 200 Vgl. MENKEN, Opponents (s. Anm. 195), 200. Die Art und Weise der Ausgestaltung fügt sich zudem in die Umwelt, vgl. a.a.O, 207f. Vgl. auch 1 Joh 2,18–27; 4,1–6; 2 Joh 7. 201 E. EBEL/S. VOLLENWEIDER (Hg.), Wahrheit und Geschichte. Exegetische und hermeneutische Studien zu einer dialektischen Konstellation (AThANT 102), Zürich 2012. 202 Vgl. auch die Beiträge von Ruben Zimmermann und Paul Metzger in diesem Band. 203 J. ZUMSTEIN, „Und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“ Fiktion und Historie in der johanneischen Vita Jesu, in: E. Ebel/S. Vollenweider (Hg.), Wahrheit und Geschichte. Exegetische und hermeneutische Studien zu einer dialektischen Konstellation (AThANT 102), Zürich 2012, 35–54.

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[sei], das zum Gebiet des Fiktiven gehört“ 204. Um dieser Frage nachzugehen, ordnet er das Johannesevangelium der Gattung der vita zu, die mit historischen Elementen versehen sei und sich somit durch „eine beträchtliche Freiheit in der schriftstellerischen Arbeit“ 205 auszeichne. Durch die spezifische Erzählweise wird zudem Deutungsarbeit vollzogen, womit für Zumstein die „Dimension des Fiktiven“ 206 erreicht ist. Bei genauerer Betrachtung wird die Gattung der vita im Johannesevangelium aber durchbrochen, indem drei Geschichten miteinander verwoben werden: die Geschichte von Jesus von Nazaret, die Geschichte des präexistenten Logos und die Geschichte der Rezipienten, deren gemeindliche Trennungserfahrung durch das Leben des johanneischen Christus gedeutet werde.207 Darüber hinaus werden diese Geschichten in Form eines Erinnerungsprozesses dargestellt, wobei erst der Abschluss des historischen Prozesses eine fundierte Deutung zulasse: „Erst im Rückblick und als abgeschlossene Einheit entfaltet die christologische Offenbarung, wie sie im vierten Evangelium zur Sprache kommt, ihr volles Sinnpotential.“ 208 Dazu tragen erzählerisch zum einen die Gedächtnisprolepsen und zum anderen zentrale Figuren wie der Paraklet und der Lieblingsjünger 209 bei.210 Das Fiktive wird allerdings vornehmlich durch die Gestaltung des Plots zur Geltung gebracht. Drei zentrale Abweichungen vom markinischen Aufriss unterstreichen nach Zumstein die spezifische christologische Perspektive des Johannesevangeliums. Es handelt sich um die Tempelreinigung, 211 die Fußwaschung212 und die Abschiedsreden 213. Hier steht jeweils nicht die Faktizität oder Historizität des Geschilderten, sondern die Bedeutung innerhalb des johanneischen Plots im Vordergrund, die eine Orientierung hin zum Kreuz und zum Ostergeschehen signalisiert. Damit untermauert Zumstein seine These, die „Fiktivität als Deutungskategorie [nehme] eine Schlüsselposition in diesem literarischen Kunstwerk“ 214 ein. Die im Johannesevangelium zentrale Vorstellung von Wahrheit erweist sich auf dieser Grundlage nicht

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ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 35. ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 39. 206 ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 39. 207 Vgl. ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 40f. 208 ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 41. 209 Vgl. dazu den Beitrag Paul Metzgers in diesem Band. 210 Vgl. ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 41–43. 211 Vgl. ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 44–47. 212 Vgl. ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 47–50. 213 Vgl. ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 50–53. 214 ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 54. 205

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als Faktentreue, sondern ist im Sinne eines christologischen Zeugnisses zu verstehen.215 Der zweite Beitrag, auf den ich im Rahmen des Bandes „Wahrheit und Geschichte“ kurz eingehen möchte, stammt von Claire Clivaz.216 Sie führt darin mit Verweis auf die Arbeiten von Ricœur und White die oben dargelegte These fort, dass sich eine klare Grenze zwischen „fiction and reality in historical discourse“ wieder nicht mehr deutlich ziehen lasse und in „a separation between historical writing and emotional expression“ münde. 217 Beispielsweise in der Anwendung expressiver emotionaler Sprache wie in Lk 24,41a, wo große Freude und in Joh 11,33, wo intensive Trauer dargestellt wird,218 macht Clivaz eine Vermischung verschiedener Erzählgattungen aus, die nicht im luftleeren Raum, sondern durch literarische Einflüsse entstanden ist. Gelungene Geschichtsschreibung habe seit jeher mit Emotionen gearbeitet. Auf dieser Grundlage plädiert sie für eine Öffnung der Perspektive in der historiographischen und exegetischen Arbeit: „If disciplined history is to recognize the right of undisciplined history to exist, it has itself to become more modest in its claims. At the same time, it is free again to face up to the emotional language used in distorting mirror sources. New lines of enquiry are now opened up: for dealing with literary and documentary papyri; for reading canonical and apocryphal texts; for reading Christian and non-Christian texts and so on.“ 219

6. Geschichten und (wahre) Geschichte(n) Im Titel des Beitrags wird die provokante Frage aufgeworfen, ob Geschichten (wahre) Geschichte(n) schreiben. Zur Beantwortung der Frage habe ich dafür plädiert, in Bezug auf die frühchristlichen Texte zunächst den dominierenden Begriff der historischen Wahrheit durch einen theologischen Wahrheitsbegriff zu ersetzen. Damit können wir den garstigen Graben, den Lessing beschrieben hat, durch das Eintauchen in die Textwelt, die verbindende Basis der beiden Abgründe tief im Graben, als Chance begreifen. Die in frühchristlichen Geschichten transportierten theologischen Wahrheiten sind nicht unbedingt zeitgebunden. Die betreffenden Geschichten erheben einen Wahrheits- und Gültigkeitsanspruch in Vergangenheit, 215 Vgl. ZUMSTEIN, Zeugnis (s. Anm. 203), 54: „Der johanneische Begriff des Zeugnisses […] ist nicht historiographisch orientiert. Das Zeugnis erweist sich nicht wahr dank einer vermeintlichen Faktentreue. Es ist christologisch orientiert.“ 216 CLIVAZ, Questions (s. Anm. 99). 217 CLIVAZ, Questions (s. Anm. 99), 58, vgl. a.a.O., 58–68. 218 Vgl. CLIVAZ, Questions (s. Anm. 99), 71–77. 219 CLIVAZ, Questions (s. Anm. 99), 77 (Hervorh. im Original); das Bild der verzerrenden Spiegel ist auf Luk, HistConscr 51 zurückzuführen.

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Gegenwart und Zukunft. Damit werden historische Fragestellungen keineswegs ausgeklammert – Geschichtswahrheiten und Vernunftwahrheiten (Lessing), Geschichtsschreibung und Dichtung (Aristoteles) müssen nicht wertend gegenüber gestellt werden. Jeder Text, jede Geschichte sollte allerdings individuell und differenziert gedeutet werden. Denn auch wenn eine klare Abgrenzung zwischen Historiographie und Dichtung möglich sein sollte, so handelt es sich bei diesen beiden Kategorien doch um Pole eines breiten und weit gefächerten Kontinuums. Die Verortung der jeweiligen Geschichte in diesem Raum und weniger die klare Zuordnung zu einem der beiden Pole kann spannende Erkenntnisse bringen. Dazu zählen auch tiefergehende Betrachtungen einzelner Aspekte von Fiktionalität und Faktualität, womit sich ein vielfältiges exegetisches Potential abzeichnet. Die im Forschungsüberblick vorgestellten Arbeiten können – ebenso wie der vorliegende Band es versucht – einen deutenden Beitrag zur Erhärtung der These leisten, dass die literaturwissenschaftlichen Konzepte der Faktualität und der Fiktionalität fruchtbare Hilfsmittel für die neutestamentliche Exegese sein können. Schließlich widmen sich alle Beiträge auf je eigene Weise der Suche nach theologischer Wahrheit, nach Gottes Heilsversprechen, das nicht allein in historischen Ereignissen oder in Raum- und Zeitkategorien wahrnehmbar ist. Es ist zeitlos und tiefer als der Graben – aber alles andere als garstig.

Abstract In this article the author asks the provocative question: do stories tell (true) history? In discussing this question he suggests changing the idea of historical truth into the idea of theological truth. With this change of perspective and through the immersion into the world of text, the link between two abysses, the ugly broad ditch that Gotthold Ephraim Lessing described, can be taken as a chance. After a theoretical introduction regarding the Aristotelian distinction between poetics and historiography, the author presents a discussion of research history concerning theoretical works of exegetes on the basis of approaches in the field of historiography and the study of literature, ideas in the field of author fiction and concerns of exegetical applications of several aspects of fictionality and factuality. The author defends the thesis that different aspects of theological truth in early Christian literature are timeless. Each story should be individually interpreted and should be regarded in a differentiating way because the categories „historiography“ and „poetics“ are two points on a large continuum. In this context, profound insights of different aspects of fictionality and factuality have a lot of potential in New Testament exegesis.

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Schreiben Geschichten (wahre) Geschichte?

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II. Frühchristliche Texte in der Diskussion

Der Blick des Begeisterten Die Schrift als symbolische Form der matthäischen Jesuserzählung Olaf Rölver

1. Einführung „Dieses Buch will seinen Leser in eine legendäre Wirklichkeit einführen. Ich muß sie legendär nennen, denn die Überlieferungen, denen es die ihnen angemessene Form zu geben unternommen hat, sind nicht chronistisch zuverlässig. Sie gehen auf begeisterte Menschen zurück, die in Erinnerungen und in Aufzeichnungen festgehalten haben, was ihre Begeisterung wahrnahm oder wahrzunehmen glaubte, also sowohl manches, was sich zwar begeben hat, aber nur von dem Blick des Begeisterten zu erfassen war, wie auch manches, was sich so, wie es erzählt worden ist, nicht begeben hat und nicht begeben haben kann, was die begeisterte Seele aber als etwas, was sich sinnfällig so ergeben hat, empfand und daher als solches berichtete. Darum muß ich es eine Wirklichkeit nennen: die Wirklichkeit der Erfahrung begeisterter Seelen, eine in aller Unschuld entstandene Wirklichkeit, ohne Raum für Erfindung und Willkür“. 1

Martin Bubers Einleitung zu den ‚Erzählungen der Chassidim‘ weist sich auf den ersten Blick als Apologie mangelnder chronistischer Zuverlässigkeit aus, ist aber zugleich ein hermeneutischer Entwurf zum Verhältnis von Faktualität und Fiktionalität in religiösen Texten. Buber nennt die ‚Begeisterung‘ einen Wahrnehmungsmodus der Wirklichkeit, unterscheidet jedoch noch einmal zwischen in diesem Modus entstandenen fiktionalen Texten und solchen Texten, deren Inhalte zunächst keine Referenz in der außertextlichen Wirklichkeit zu haben scheinen und daher üblicherweise mit den Begriffen ‚Erfindung‘ und ‚Willkür‘ negativ konnotiert werden. Doch weist Buber auch solchen, auf Fiktivität beruhenden Erzählungen den Status einer ‚Wirklichkeit‘ zu.2 1

M. BUBER, Die Erzählungen der Chassidim (Manesse Bibliothek der Weltliteratur), Zürich 1984, 15. 2 Um eine Definition der Begriffe ‚fiktiv‘/‚fiktional‘ und ‚faktisch‘/‚faktual‘ und ihrer substantivischen Entsprechungen wird in den Literaturwissenschaften nach wie vor gerungen, und ein Konsens ist derzeit nicht im Blick. Im vorliegenden Beitrag sollen sich die Begriffe ‚fiktiv‘ und ‚faktisch‘ auf den Inhalt des Dargestellten, die Begriffe ‚fiktio-

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Natürlich ist dabei vorausgesetzt, dass es sich bei den folgenden Erzählungen nicht um Momentaufnahmen ekstatischer Verzückung handelt, bei denen den Erzählern in frommer Gefühlswallung die Pferde der Phantasie durchgingen, sondern durchaus um nach-gedachte, reflektierte und schon längere Zeit tradierte Begebenheiten, die im Zuge ihrer Überlieferung ihre spezifische Form und ihre sinnstiftende Bedeutung für die jeweilige Trägergruppe erhielten. Solche Formgebung ist stets interessegeleitet. Ein Autor (eine Autorin) organisiert seine Erzählung in spezifischer Weise und hierarchisiert damit die Stoffe seiner Erzählung, trennt Wichtiges von Unwichtigem, beginnt und endet an bedeutenden Punkten. Mit dieser Darstellung sendet er Signale, wie er sein Werk von Leserinnen und Lesern verstanden haben möchte. Die sprachlichen Mittel einer Erzählung sind Elemente eines Kommunikationszusammenhangs, in dem der Produzent eines Textes und seine ersten bzw. ‚idealen‘ Rezipienten stehen. Diese Kommunikationssituation ist ohne Frage eine Realität und sorgfältig zu unterscheiden von der Faktizität der innerhalb dieser Kommunikationssituation zur Sprache gebrachten Dinge. Das Matthäusevangelium ist ein neutestamentlicher Text aus dem letzten Viertel des 1. Jh. n. Chr. Es erzählt das Leben Jesu von Nazaret von seiner Geburt bis zu seinem rund 50 Jahre zurückliegenden Tod und seiner Auferstehung. Zugleich ist aber aufgrund veränderter historischer, religiöser und sozialer Rahmenbedingungen die Notwendigkeit entstanden, die ‚Fakten‘ des Lebens Jesu noch einmal neu und das heißt: spezifisch anders zu erzählen. Im Blick auf das Matthäusevangelium sind wir in der glücklichen Lage, Quellen zu besitzen bzw. rekonstruieren zu können, die der Autor3 ‚Mat-

nal‘ und ‚faktual‘ auf die Darstellungsweise beziehen. Es gibt demnach fiktive Gegenstände und fiktionale Texte. Faktuale Rede dagegen bemüht sich um eine wirklichkeitsnahe, dokumentarische Beschreibung realer, ‚faktischer‘ Dinge. Bei literarischen Texten – Erzählungen, Diskursen, Liedern etc. – ist bereits gattungsspezifisch immer mit einem erhöhten Anteil von Fiktionalität zu rechnen. Zur Heterogenität der Begriffsbestimmungen vgl. F. ZIPFEL, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 2), Berlin 2001, 14–19 und dessen Beitrag in diesem Band (allerdings mit einer etwas anderen als der hier in Kürze vorgenommenen Begriffsbestimmung). Zur Diskussion um die Fiktionalität und Faktualität von Erzählungen vgl. S. F INNERN, Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28 (WUNT II/285), Tübingen 2010, 56–73 mit wichtigen Klarstellungen und einer gelungenen Anwendung narratologischer Methoden auf Mt 28,1–20. 3 Die Bezeichnung ‚Autor‘ für den Verfasser des Matthäusevangeliums ist nicht unstrittig. Viele sehen in ihm nur einen Tradenten und Redaktor. Das wird der theologi-

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thäus‘ in sein Evangelium übernommen hat. Die Spezifika matthäischer Theologie – oder genauer: Die Spezifika jenes religiösen Kommunikationszusammenhanges, in dem der Produzent dieses Textes und seine ersten bzw. idealen Rezipienten stehen – erschließen sich daher am besten an jenen Stellen, die der Autor selbst verfasst hat, sowie an jenen Punkten, wo er erkennbar in das ihm vorliegende Quellenmaterial eingegriffen hat, um es mit eigenen Akzenten zu versehen.4 Doch sind bei der Analyse des matthäischen Textes methodisch zwei Zugangsweisen zu unterscheiden: Der eine, exegetisch wie theologisch notwendige Zugang zeichnet in redaktionsgeschichtlichen Analysen unter Beachtung der synoptischen Parallelen den Überlieferungsweg von den historischen Ereignissen, die dem Text zugrunde liegen, bis zum matthäischen Endtext nach und fragt nach dem Anteil, der Herkunft und der Funktion fiktionaler Elemente in diesem Prozess.5 Der Vorgang der Tradierung und sprachlichen Neugestaltung kann unterschiedlich bewertet werden, doch ist es m.E. wenig hilfreich, die auf diese Weise entstandene Erzählung als Vorformung oder Verfälschung eines historischen Kerns zu betrachten. Das Matthäusevangelium ist ja nicht aus der Absicht heraus produziert worden, etwas weniger genau, fälschlich oder schlechter zu erzählen, sondern präziser, besser, angemessener. Aus dieser Sympathie für den Überlieferungsprozess ergibt sich ein anderer hermeneutischer Zugang zum Text, der hier weiter verfolgt werden soll: Das Matthäusevangelium erzählt Begebenheiten aus dem Leben Jesu in einer spezifischen historischen Kommunikationssituation, einer Situation, in der es nach dem ersten römisch-jüdischen Krieg innerhalb eines weitgehend jüdischen Milieus dem Autor des Textes und seinen potentiellen Erstadressaten darum geht, die Bedeutung Jesu von Nazaret zu artikulieren.6 Diese Kommunikationssituation prägt die Darstellung in spezifischer Weise. Um also der Bedeutung der Erzählung auf die Spur zu kommen, ist nach der Funktion ihrer spezifischen Darstellungsweise im kommunikativen Entstehungszusammenhang der Erzählung zu fragen. In diesem Horizont stellt sich nun neu die Frage nach dem Sinn der fiktionalen Elemente im matthäischen Text. schen Qualität seiner Arbeit aber kaum gerecht. Zur Diskussion vgl. einführend U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I), 4 Bde., Zürich/Braunschweig 52002, I/78–84. 4 Beispiele erzählerischer Fiktionen, die Matthäus bewusst geschaffen hat, stellt U. LUZ, Geschichte und Wahrheit im Matthäusevangelium. Das Problem der narrativen Fiktionen, in: EvTh 69 (2009), 194–208, 198–200 zusammen. 5 Als Beispiel für einen solchen Umgang mit dem Text vgl. die nach wie vor lesenswerten Studien G. B ORNKAMM/G. B ARTH/H. J. HELD, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium (WMANT 1), Neukirchen 1960. 6 Soweit lässt sich – von nur noch einzelnen Gegenstimmen abgesehen – derzeit ein Konsens in der Forschung konstatieren.

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Einer der Hauptakzente des Matthäusevangeliums – das sei als These vorangestellt – ist es, einen Nachweis zu führen, dass das Wirken Jesu mit dem in der Schrift enthaltenen Willen Gottes übereinstimmt, dass also in der Geschichte Jesu das von Gott durch die Schrift Gesagte zur Geltung kommt. Diese These impliziert einerseits, dass die Schrift – als maßgebliche Urkunde göttlichen Willens – der Grund für die ganz spezifische Darstellung der Ereignisse im Matthäusevangelium ist, eine Darstellung, die zwar erkennbar fiktional, aber ‚schriftgemäß‘ ist. Andererseits werden die dargestellten Ereignisse durch Rekurs auf die Schrift für Leserinnen und Leser des Textes geschichtlich plausibilisiert.7 Die erzählten Taten und Worte Jesu sind daher ebenfalls in diesem Sinne ‚schriftgemäß‘. Der fiktionale Charakter der matthäischen Jesuserzählung basiert demnach auf einer spezifischen Wahrnehmung der Wirklichkeit, die wesentlich von der Schrift geprägt ist. Im Folgenden soll dieser Zusammenhang zwischen den erzählten Ereignissen und der prägenden Kraft der Schrift an einigen ausgewählten Passagen des Matthäusevangeliums aufgewiesen werden (Teil 2). Um den reziproken Prozess zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, jenes Hin und Her zwischen der matthäischen Erzählung von den Taten und Worten Jesu und der Schrift, hermeneutisch zu beschreiben, bietet die Philosophie Ernst Cassirers weiterführende Reflexionen, die im letzten Teil des Beitrags (Teil 3) kurz vorgestellt und auf das Matthäusevangelium angewendet werden.

2. Kursorischer Gang durch das Matthäusevangelium a) Prolog (Mt 1,1–17) Matthäus beginnt seine Erzählung mit der Doppelbestimmung Jesu als Sohn Abrahams und Sohn Davids (Bi,bloj gene,sewj VIhsou/ Cristou/ ui`ou/ Daui.d ui`ou/ VAbraa,m – Mt 1,1). Bereits mit der Begrifflichkeit ‚Sohn‘ in Bezug auf die vor langer Zeit lebenden Figuren Abraham und David, deren Kenntnis selbstverständlich vorausgesetzt wird, eröffnet der Text eine metaphorisch-theologische Perspektive. Hier geht es nicht um Herkunftsnachweise in einem bürokratischen Sinn,8 sondern um Fragen der ‚AbStammung‘, der Einzeichnung Jesu in ein größeres Ganzes. Das ist die 7

Vgl. dazu LUZ, Geschichte (s. Anm. 4), 207: „Die Lektüre der Bibel bestätigte für Matthäus die Wahrheit seiner Jesusgeschichte“. 8 Die Zwischenüberschriften in der Luther- und der Einheitsübersetzung, die diesen Text als „Stammbaum“ bezeichnen, verfehlen seinen Gehalt.

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Linse, durch die die folgende Erzählung betrachtet werden will. Die Geschichte Jesu wird eingeschrieben in die Geschichte YHWHs mit Israel. Die Namen Abraham und David sind dabei Kristallisationspunkte, deren bedeutendste Aspekte sich in der Verheißung von Land, Nachkommenschaft und Segen an Abraham9, sowie in der Zusage des ewigen Königsthrones an den Davidssohn10 finden, damit das Volk Israel „an seinem Ort (sicher) wohnen kann und sich nicht mehr ängstigen muss und schlechte Menschen es nicht mehr unterdrücken wie früher“ (2Sam 7,10).11 Die in der Genealogie (Mt 1,2–17) dann entrollte Erinnerung an diese Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem Volk spannt den Bogen auf, der sein Ende in der Mitseins-Zusage des Auferstandenen finden wird, bis zum Ende der Welt bei seinen Jüngern zu sein (Mt 28,20). Geschichte ist – wie in den Schriften verbürgt – von Gott geleitete und geplante Geschichte, die letztlich zum Heil führt. Was im Folgenden erzählt werden wird, ist die Geschichte von der jüngsten Episode dieser Geschichte.12 Leserinnen und Leser des folgenden Textes werden diese Bestimmung Jesu als Notenschlüssel wahrnehmen, unter dem das Folgende nun entfaltet werden wird. Damit ist die Erwartungshaltung der Leser in ganz spezifischer Weise fokussiert. Der folgende Text wird den Nachweis erbringen müssen, warum und in welchem Sinne Jesus in Gottes Geschichte mit Israel hineingehört. b) Vorgeschichte (Mt 1,18–2,23) Auf die verdichtete Rekapitulation der Geschichte Israels in all ihren Höhen und Tiefen durch die Genealogie folgt die Vorgeschichte des Wirkens Jesu, skizzenartige Erzählungen von den Umständen seiner Geburt bis hin zu seinem Umzug nach Nazaret. In diesem Textabschnitt unterbricht der Erzähler immer wieder den fortlaufenden Gang seiner Darstellung der Ereignisse, um zu konstatieren, dass sich in diesen Ereignissen ‚erfülle‘, was durch die Propheten gesagt sei (Mt 1,22; 2,15.17.23). Diese sogenannten

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Vgl. Gen 12,2f.7; 13,14–17; 15,7f.18; 17,8; 22,15–18 u.ö. Vgl. 2Sam 7,10–16. 11 Zur hypothetischen Erstrezeption von Mt 1,1 und den damit verbundenen exegetischen Streitfragen vgl. M. M AYORDOMO-MARÍN, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1–2 (FRLANT 180), Göttingen 1998, 206– 217. 12 Zur Funktion der Genealogie in intertextueller Perspektive vgl. jüngst M. T. P LONER, Die Schriften Israels als Auslegungshorizont der Jesusgeschichte. Eine narrative und intertextuelle Analyse von Mt 1–2 (SBB 66), Stuttgart 2011, 255–258. Treffend ist die Formulierung, die Genealogie ziehe „eine Erinnerungsspur durch das kulturelle Gedächtnis Israels“, a.a.O., 309. 10

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‚Erfüllungszitate‘13 sind deutliche metakommunikative Elemente, mit denen sich der implizite Autor mit seinen impliziten Lesern über die Schriftgemäßheit des Erzählten verständigt. Diese Verständigung ist offenbar nicht selbstverständlich (sonst könnte sie stillschweigend vorausgesetzt werden), sondern bedarf des Nachweises. Mit dem Rekurs auf einen maßgeblichen Metatext bietet der Erzähler in der Erzählung eine Hermeneutik seiner Erzählung an und gewährt Einblick in seine Werkstatt der Fiktionalität. Was durch die Reflexionszitate erreicht wird, ist kein simpler ‚Schriftbeweis‘. Die Schrifttexte und das erzählte Geschehen stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Dependenz. Am deutlichsten ist dies vielleicht bei der kurzen Sequenz von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten (Mt 2,13–15). Während die Flucht selbst kontextuell vorbereitet wurde und in der narratio plausibel erscheint, ist eine Flucht ‚nach Ägypten‘, wie dem Leser gleich zweimal, einmal davon in betonter Endstellung (2,14) eingeschärft wird, weder geographisch noch politisch besonders plausibel. Hätte der Erzähler von einer Flucht in die schwer zugänglichen Gebiete der Wüste Juda oder heraus aus dem Machtbereich des Königs Herodes oder in die jüdische Diasporagemeinde nach Alexandria gesprochen, wäre dies erzählerisch stimmiger gewesen. Aber dem Erzähler geht es nicht um narrative Stimmigkeit, sondern um theologische Bedeutsamkeit; und so wird die Ortsangabe ‚Ägypten‘ zur aus der Schrift stammenden Chiffre für das Ereignis des Heilshandeln Gottes. Die fiktionalen Elemente in der Darstellung gewinnen ihre Plausibilität aus dem Schriftzitat: „Aus Ägypten rief ich meinen Sohn“ (Hos 11,1b, vgl. Mt 2,15). Im Kontext des Hoseabuches ist dieses Zitat ein Rückblick auf den Exodus, der liebgewonnene ‚Sohn‘ ist Israel (vgl. Hos 11,1a: „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb“). Es handelt sich also nicht um eine Ankündigung für die Zukunft, um keine ‚Verheißung‘, sondern um eine Reflexion der bedeutsam gewordenen Erzählung von der Beziehung zwischen Gott und Israel. Auch im matthäischen Kontext wird das Tempus der Vergangenheit (evka,lesa – Aorist) beibehalten. Das Schema von Verheißung und Erfüllung eignet sich also nicht, um deutlich zu machen, um was es hier geht,14 erst recht nicht im Sinne eines Versprechens, das nun realisiert 13 Der Begriff ‚Erfüllungszitate‘ hat sich seit der Arbeit von Rothfuchs neben der immer noch gebräuchlichen Bezeichnung ‚Reflexionszitate‘ durchgesetzt. Vgl. W. ROTHFUCHS, Die Erfüllungszitate des Matthäus-Evangeliums. Eine biblischtheologische Untersuchung (BWANT 88), Stuttgart u.a. 1969, 20–21. Die Erfüllungszitate ziehen sich mit im Einzelnen variierenden Einleitungsformeln durch den gesamten matthäischen Text, vgl. 4,14; 8,17; 12,17; 13,35; 21,4; 27,9. Zu den Erfüllungszitaten vgl. einführend LUZ, Evangelium (s. Anm. 3), I/189–199. 14 Von ‚Verheißungen‘ ist im Übrigen im Matthäusevangelium auch nie die Rede; Inhalt des ‚Erfüllten‘ ist stets ‚das Gesagte‘ (to. r`h qe,n), eine spezifisch matthäische Wen-

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werde, einer fiktiven Idee, die nun zum Faktum werde, einer Utopie, die nun ihren Ort finde. „Hier ‚erfüllt‘ sich nichts, weil nichts verheißen wird, es geht um kein Versprechen, das eingelöst wird, sondern vielmehr um so etwas wie einen Sinn-Raum, der durch Verweis und Zitat eröffnet wird“.15 Dieser ‚Sinn-Raum‘ ist durch den Verweis auf das Exodusereignis hier in semantischer Hinsicht israeltheologisch und soteriologisch besetzt. In der Vorgeschichte geben die ‚Erfüllungszitate‘ also den Rhythmus und das Thema der folgenden Erzählung vor. Sie sind der Motor für die spezifische ‚Formung‘ des Dargestellten. Immer wieder verständigen sich Autor und Leser des Matthäusevangeliums darüber, dass und wie die Erzählungen von den Ereignissen rund um Jesus von Nazaret mit dem Willen Gottes, wie er in der Schrift zu finden ist, übereinstimmen.16 Es handelt sich dabei um einen wiederholten Aufweis, wie sich auch an vermeintlichen Marginalien die eschatologische Konvergenz zwischen der Schrift und den aus dem Leben Jesu erzählten Ereignissen bewähren lässt. Eschatologisch ist diese Übereinstimmung zu nennen, weil sie in der finalen Phase dieses Äons vor dem erwarteten letzten Gericht expliziert, dass der durch Jesus zur Geltung gebrachte Wille Gottes Letztgültigkeit beansprucht. c) Erster Auftritt Jesu (Mt 3,13–17) Der erste öffentliche Auftritt des inzwischen erwachsenen Jesus mit dem ersten von ihm selbst gesprochenen Wort erfolgt im Matthäusevangelium bei seiner Taufe durch Johannes im Jordan. Die kleine Szene (Mt 3,13–17) ist hochgradig stilisiert und hat zwei Höhepunkte, die jeweils in wörtlicher Rede dargeboten werden. Auf die Exposition (V. 13) und die ‚entgeisterte‘ Frage des Johannes (V. 14) folgt als erster Höhepunkt die erste wörtliche Äußerung des Protagonisten des Evangeliums: „Lass jetzt; denn so geziemt dung. Vgl. G. STRECKER, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie des Matthäus (FRLANT 82), Göttingen 31971, 50. Darunter sind nicht einzelne prophetische Äußerungen zu verstehen, sondern Gottes Wort als Offenbarung, wie es in der Schrift zugänglich ist. Das Schema von ‚Verheißung‘ und ‚Erfüllung‘ kommt im Übrigen im gesamten Neuen Testament nur in Apg 13,32f. vor, vgl. K. W ENGST, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, 67. 15 F. CRÜSEMANN, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011, 243. 16 M. OBERWEIS, Beobachtungen zum AT-Gebrauch in der matthäischen Kindheitsgeschichte, in: NTS 35 (1989), 131–149, 134 hat darauf aufmerksam gemacht, dass in den matthäischen Kindheitsgeschichten nicht nur die expliziten Zitate „den Handlungsablauf und seine christologische Interpretation [bestimmen]“, sondern sich Mt darüber hinaus „auf schwieriger zu erkennende implizite Schriftzitate [stützt], die gerade wegen der fehlenden formellen Einkleidung besonders tief in die Textgestaltung eingreifen“.

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es sich für uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen“ (3,15). Mit den Schlüsselbegriffen ‚erfüllen‘ und ‚Gerechtigkeit‘ wird diese Aussage zum programmatischen Satz.17 Das gesamte weitere sprachliche und nichtsprachliche Handeln des Protagonisten gerät von hier aus unter die Perspektive der ‚Erfüllung der Gerechtigkeit‘. Gerechtigkeit ist biblisch-matthäisch ein Beziehungsbegriff, mit dem das Gemeinschaftsverhältnis zwischen Gott und dem Menschen sowie zwischen den Menschen ausgedrückt wird. Jesus ist derjenige, der diese Gerechtigkeit total, ‚ganz‘ (pa/san) erfüllt. In ihm ist also das Gemeinschaftsverhältnis – sowohl in seiner vertikalen wie auch in seiner horizontalen Dimension – in idealer Weise ‚verwirklicht‘.18 In der Taufszene artikuliert der matthäische Jesus also die totale Konvergenz zwischen der Gerechtigkeit Gottes, wie sie in Tora und Propheten zu finden ist, und seinem eigenen Handeln. Jesus setzt den Willen Gottes in Kraft, er ruft die „Urfülle“ der Tora auf.19 Dieser theologische Sachzusammenhang prägt die Darstellung und hat gegenüber den Ereignissen, von denen erzählt wird, die Priorität. Die göttliche Bestätigung dieser Sichtweise gelingt im zweiten Höhepunkt der Szene, in der folgenden Proklamation Jesu als ‚geliebter Sohn‘ durch die Himmelsstimme (3,17). Mit dieser Proklamation tritt nun Gott selbst als handelnde Figur in die Erzählung ein. Die gesamte Gestaltung der kleinen Szene dient der Vorbereitung dieses ‚Auftritts‘ – und bricht dann auf dem Höhepunkt ab. Während innerhalb der erzählten Welt eine ‚Dreiecksgeschichte‘ (Johannes, Jesus, Himmelsstimme) skizziert wird, bei der in der Kommunikation zwischen den handelnden Personen einiges offen bleibt, glückt die Kommunikation zwischen dem Autor und seinen Lesern: Die Erzählung von der Taufe Jesu von Nazaret ist in der matthäischen Version zu einer 17

Vgl. K. KERTELGE, Art. dikaiosu,nh, in: EWNT I ( 21992), 784–796, 793. Die Verse 3,14–15 sind matthäischer Zusatz, vgl. Mk 1,9–11. 18 Zum Begriff ‚Gerechtigkeit‘ im Matthäusevangelium vgl. ausführlich O. RÖLVER, Christliche Existenz zwischen den Gerichten Gottes. Untersuchungen zur Eschatologie des Matthäusevangeliums (BBB 163), Göttingen 2010, 360–369; zum matthäischen Konzept von ‚Erfüllung‘ (griech. plhro,w ), einem Charakteristikum matthäischen Sprachgebrauchs, das zu den umstrittensten Aspekten matthäischer Theologie gehört, vgl. a.a.O., 369–384. Dort auch weitere Literatur. 19 Vgl. M. B UBER, Pharisäertum (1925), in: ders., Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, Köln 1963, 221–230, 226. Es gibt im Deutschen keine adäquate Übersetzung des griechischen Wortes plhro,w in dessen matthäischer Verwendung. Mit den Wendungen ‚aufrichten‘, ‚bestätigen‘, ‚bekräftigen‘, ‚einer vorausgehenden Setzung entsprechen‘, ‚verwirklichen‘, ‚voll in Kraft setzen‘ oder ‚sich durchsetzen‘ lässt sich das semantische Feld, in den das Wort ‚erfüllen‘ gehört, umreißen. Völlig unzutreffend ist jedenfalls die Vorstellung, der matthäische Erfüllungsgedanke habe etwas mit ‚zum Abschluss bringen‘, ‚erledigen‘ zu tun, wie sich etwa eine Aufgabe ‚erfüllen‘ lässt.

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Erzählung über die ‚Erfüllung von Gerechtigkeit‘ gestaltet worden – und diese theologische bzw. christologische Sachaussage wird von höchster Stelle legitimiert.20 Mit einer doppelgipfeligen Szene präsentiert der Erzähler also in aller Kürze theologische Zentralaussagen, die sich um den Gedanken der ‚Erfüllung‘ des göttlichen Willens ranken. d) Jesus als besserer Schriftausleger (Mt 4,1–11) In der an die Taufe Jesu mit einfachem to,te gleich angeschlossenen Szene wird der Leser mit einer Begegnung zwischen Jesus und einem mythologischen Gegenspieler, dem Teufel, konfrontiert (Mt 4,1–11). In drei Redegängen wird die Auseinandersetzung zwischen beiden dargestellt, wobei beide Kontrahenten aus der Schrift zitieren. Jesus zitiert die Tora, genauer das Buch Deuteronomium,21 der Teufel den Psalter (Ps 91,11f.). Der Text stammt aus Q (vgl. Lk 4,1–13). Neben der Umstellung des zweiten und dritten Redeganges ist vor allem auffällig, dass Matthäus in 4,4 das aus Dtn 8,3 stammende Zitatfragment („Der Mensch lebt nicht nur von Brot“) im Anschluss an den biblischen Prätext ergänzt und damit präzisiert („sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“). Dtn 8 bietet eine eindrucksvolle Ermahnung, den Herrn und sein Gebot nicht zu vergessen. Die Erinnerung an die Wüstenwanderung wird als Grundlage der Forderung, Gottes Gebote zu halten, aktualisiert (Dtn 8,1–6); ein Vergessen der Gebote des Herrn wird mit einer Strafankündigung belegt (Dtn 8,19–20). Mit seiner Einfügung ruft Matthäus diesen Kontext in Erinnerung. Auch in diesem Abschnitt wird nicht eine Episode aus der Vita Jesu erzählt, sondern ein schriftgelehrter Traktat zur Bedeutung der Schrift in narrative Form gesetzt. Dabei wird vom Erzähler des Matthäusevangeliums in keiner Weise markiert, ob oder inwiefern diese Episode einen höheren Grad an Fiktivität enthält als die vorangehende Szene von der Taufe durch Johannes. Heutige Leserinnen und Leser sind sicher bereit, der Taufe Jesu einen höheren Grad an Faktualität zuzugestehen als seinem Disput mit dem Teufel, im Matthäusevangelium selbst wird eine solche Differenz jedoch nicht signalisiert.

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Diesem erzählerischen Konzept dient auch die Ersetzung des Personalpronomens su, (Mk 1,11) durch das Demonstrativpronomen ou-toj (Mt 3,17). Im Matthäusevangelium lässt der Erzähler die Himmelsstimme eine Aussage über Jesus machen. 21 Mt 4,4 stammt aus Dtn 8,3; Mt 4,7 aus Dtn 6,16; Mt 4,10 ist ein Mischzitat aus Dtn 5,9 und 6,13. Zu den Quellen und der matthäischen Redaktion vgl. LUZ, Evangelium (s. Anm. 3), I, 220–228.

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e) Das Programm der Bergpredigt (Mt 5,17–20) Nach Jesu Rückzug nach Galiläa, der Berufung der ersten Jünger und seinen ersten, summarisch aufgeführten Heilungen (4,12–25) hält Jesus seine erste große Rede, in der er sein Verhältnis zur Schrift noch einmal grundsätzlich und programmatisch artikuliert: „Meint nicht, ich kam, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Nicht kam ich aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (5,17). ‚Gesetz und Propheten‘ ist wie ‚alle Gerechtigkeit‘ eine konventionelle Wendung, die zum gemeinsamen kulturellen Code des Autors Matthäus und seiner Leser gehört. Wenn Jesus nun festhält, Gesetz und Propheten zu ‚erfüllen‘, bedeutet das nicht, dass er sich an die Vorschriften jüdischer religiöser Kultur halten werde – das bedarf kaum einer hehren Proklamation – und auch nicht (wie inzwischen bekannt), dass er die bisherige Tora überbiete, ihre ‚eigentliche‘ Bedeutung offenbare oder ihren bislang unerkannten Sinn zum Vorschein bringe, und schließlich ist auch keine messianische Tora im Unterschied zur schriftlichen Tora gemeint.22 Bei dem hier geäußerten programmatischen Satz handelt es sich um den schrifthermeneutischen Grundgedanken einer totalen Entsprechung zwischen dem Willen Gottes in der Schrift und der matthäischen Erzählung von der Lehre und den Handlungen Jesu. „Das, was hier geschieht, entspricht in jeder Hinsicht der Schrift“.23 Der geistbegabte, in Vollmacht lehrende Protagonist der matthäischen Erzählung artikuliert also am Beginn seiner öffentlichen Lehrtätigkeit die Prinzipien seines Lehrprogramms, die er in den folgenden Kommentarworten24 entfaltet. Die Tora ist dabei eine ‚unkritische‘ Größe (5,18).25 Mit diesen Aussagen im Munde Jesu reflektiert der Erzähler des Matthäusevangeliums zugleich sein Erzählkonzept, durch das er seine Hauptperson als ‚Erfüllung‘ von Gesetz und Propheten inszeniert und ihn so zur verbindlichen Grundlage aller weiteren Kommunikation zum Thema macht 22 Zur Diskussion vgl. P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium (ThK.NT 1), Stuttgart 2006, 123–124; M. VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“. Matthäus im halachischen Diskurs (WMANT 95), Neukirchen-Vluyn 2002, 236–237. Auch in der rabbinischen Literatur findet sich die Vorstellung, dass die Tora der ‚Füllung‘ durch Lehre und Auslegung bedarf. Zur Hermeneutik der Antithesen und ihrer programmatischen Einleitung vgl. auch M. KONRADT, Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium, in: ders./D. Sänger (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament (NTOA/StUNT 57), FS C. Burchard, Göttingen/Fribourg 2006, 129–152, 130–141. 23 CRÜSEMANN, Wahrheitsraum (s. Anm. 15), 246 (Hervorhebung O.R.). 24 Zu dieser treffenderen Bezeichnung der sog. ‚Antithesen‘ vgl. VAHRENHORST, Matthäus (s. Anm. 22), 217–222. 25 Der parallele Text 24,35 unterstreicht die Parallelität zwischen dem Willen Gottes, wie er in der Tora schriftlich fixiert ist, und den Worten Jesu.

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(vgl. Mt 28,20). Sowohl die Lehre Jesu als auch die Erzählung von der Lehre und von dem damit korrespondierenden Handeln Jesu sollen vom Leser als Erfüllung der Schrift wahrgenommen werden. Es liegt auf der Hand, dass die Umsetzung dieses Erzählkonzeptes notwendig fiktionalen Charakter hat, weil der Aufweis dieser Übereinstimmung eine interpretatorische Leistung ist, eine besondere ‚Energie des Geistes‘, mit der die Wirklichkeit in einem bestimmten Modus wahrgenommen wird. f) Jesu schriftkundige Selbstauslegung (Mt 11,2–6) Dass nicht nur die Lehre Jesu, sondern auch seine Taten als ‚schriftgemäß‘ wahrzunehmen sind, erschließt sich gut in dem Dialog, den Johannes der Täufer mittels Boten mit Jesus über dessen Messianität führt (Mt 11,2–6). Für die Leserinnen und Leser ist der identifikatorische Wert der Johannesfrage („Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten?“ – 11,3) gering; sie kennen die Antwort. Die Form der Antwort jedoch ist höchst informativ: Die Handlungen Jesu – Heilungen, Totenerweckungen und die Verkündigung des Evangeliums (11,5) – werden unter Rückgriff auf die eschatologischen Erwartungen der Schrift (Jes 26,19; 29,18; 35,5f.; 42,18; 61,1) als ‚Realisierungen‘ des endzeitlichen Heils identifiziert. Gottes Wille schafft sich im Handeln Jesu Raum. Die Rolle der Johannesjünger als Übermittler der Worte beider Dialogpartner ist für Leserinnen und Leser des Textes in hohem Maße anschlussfähig. Die Auskunft Jesu mit dem vorangehenden Auftrag: „Geht und berichtet,26 was ihr hört und seht“ (11,4b) wird zum Auftrag an die Leser, ihr eigenes kulturelles Gedächtnis und ihre eigene intertextuelle Kompetenz zu aktivieren. Was ihnen dazu an die Hand gegeben wird, ist ein verdichtetes, biblisch formuliertes Kurzprogramm des Handelns Jesu. Es geht an dieser Stelle nicht darum, die bisher erzählten Handlungen Jesu in einer spezifischen Weise zu deuten, um auf diese Weise kontingenten Einzelereignissen eine besondere Dignität zu verleihen. Die Frage des Johannes zielte auf die Identität Jesu und ist damit als strikt ‚christologische‘ Frage aufzufassen. Die Antwort Jesu macht klar, dass für den Erzähler des Matthäusevangeliums allein die Schrift die Paradigmen bereitstellt, diese christologische Frage zu beantworten. Um diesen Nachweis zu führen, konstruiert er seine literarische Welt. g) Jesu Kommen nach Jerusalem (Mt 21,1–17) Ein besonders instruktives Beispiel für den matthäischen Umgang mit der Schrift und die Konsequenzen, die dieser Umgang für die Darstellung sei26

Vgl. Mt 9,31; 10,7; 21,6; 28,19.

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nes Stoffes hat, findet sich in der Erzählung von Jesu Einzug in Jerusalem mit der anschließenden sog. ‚Reinigung‘ des Tempels (Mt 21,1–17).27 Die Erzählung lässt sich anhand der unterschiedlichen Personenkonstellationen in fünf Szenen und eine kurze abschließende Zwischenrede gliedern. Die 1. Szene (V. 1–9) beginnt nach einer kurzen topographischen Exposition mit einer Aussendung Jesu (V. 1c–3d). Dessen Auftrag wird von den ausgesandten Jüngern getreulich ausgeführt (V. 6.7a). Zwischen Auftrag und Ausführung schiebt der Erzähler einen Kommentar ein (V. 4– 5), der das in der Erzählung erst folgende (!) Geschehen als Erfüllung eines Prophetenwortes interpretiert. Dann werden die Reittiere und der Weg präpariert und die – offenbar schon immer anwesende – Volksmenge begleitet den Protagonisten der Erzählung akklamierend auf seinem Weg zur Stadt. In der 2. Szene (V. 10–11) reagiert ein neuer Akteur, die personifizierte Stadt Jerusalem, ‚erbebend‘ auf diese Ereignisse und erhält von den mitziehenden Volksmengen eine Auskunft zur Identität des Herankommenden. In der 3. Szene (V. 12–13) wird der Zielpunkt der bisherigen Annäherung erreicht und präzisierend benannt: Der Tempel in Jerusalem. In dieser Szene ist der Protagonist der Erzählung der allein aktive, der seine ‚prophetische Zeichenhandlung‘ des Hinauswurfs der Handeltreibenden und des Umwurfs der Wechslertische mit einem Vorwurf an diese interpretiert. In der folgenden kurzen Szene (V. 14) wird in äußerster Knappheit vom Auftauchen neuer Personen, Blinder und Lahmer berichtet, die von Jesus geheilt werden. Und in der 5. und letzten Szene (V. 15–16) schließlich tauchen wiederum neue Handlungsträger auf, Hohepriester und Schriftgelehrte, die sich unwillig an Jesus wenden. Ihre rhetorische Frage weist Jesus an sie zurück. Am Ende der Episode verlässt Jesus in der abschließenden Zwischenszene den Handlungsort, um auswärts zu übernachten (V. 17). Die Szenen 3, 4 und 5 sind durch die Wiederholung der Ortsangabe ‚im Tempel‘, die in jeder Szene auftaucht, eng miteinander verknüpft. Die Heilungsszene und der Disput mit den Gegenspielern stehen dabei in Opposition. Diese beiden Szenen präsentieren zwei Alternativen einer Reaktion auf die in Szene 3 erzählte Zeichenhandlung des Protagonisten. Mit der ‚Unwilligkeit‘ der Repräsentanten des Tempelestablishments ist ein offener Konflikt entstanden, dessen Fortführung jedoch auf den nächsten Tag verschoben wird, an dem in verschiedenen Streitgesprächen der Konflikt zwischen Jesus und den einflussreichen Gruppen am Tempel weiter eskalieren wird. 27 Der Text Mt 21,1–17 ist als narrative Einheit aufzufassen. Zu einer detaillierten narrativen Analyse vgl. RÖLVER, Existenz (s. Anm. 18), 97–100. Zur Einzelexegese vgl. a.a.O., 101–141. Zum Text vgl. auch S. HÜBENTHAL, „Wer ist dieser?“ Mt 21,1–17 in intertextueller Lektüre, in: E. Ballhorn/G. Steins (Hg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Beispielexegesen und Methodenreflexionen, Stuttgart 2007, 261–277.

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In der insgesamt relativ kurzen Episode wird an drei Stellen, an denen der intertextuelle Bezug jeweils formal markiert ist, wörtlich aus der Schrift zitiert. In V. 5 versichert der Autor des Matthäusevangeliums seinen Leserinnen und Lesern auf der metakommunikativen Ebene, dass das erzählte Geschehen die ‚Erfüllung‘ dessen ist, was der Prophet gesagt hat; in V. 13 interpretiert Jesus seine Handlungen selbst durch eine Kombination von zwei Schriftworten, die ‚geschrieben‘ seien und in V. 16 weist Jesus seine Gegenspieler auf ihre fehlende Schriftkompetenz hin. Die drei Zitate lohnen einen genaueren Blick, der ihren Bezug auf den sie umgebenden Erzähltext deutlich macht. Am Beginn der Episode, nach dem Auftrag zur Rekrutierung der Esel, aber noch vor dessen Ausführung durch die Jünger, schiebt Matthäus – seine markinische Vorlage erweiternd (vgl. Mk 11,1–11) – ein Zitat ein. Das Zitat selbst ist ein Mischzitat aus Jes 62,11 und Sach 9,9, wobei auch in den Textbestand von Sach 9,9 eingegriffen wurde. Der Erzähler Matthäus verwendet hier keine uns bekannte griechische Textform, sondern nimmt selbständig eine Neuübersetzung des hebräischen Textes vor. Das Problem dieser Übersetzung ist, dass Matthäus den parallelismus membrorum, der im hebräischen Text – und im griechischen Text der LXX entsprechend – das eine Reittier mit zwei parallelen Wendungen beschreibt, auflöst und aus dem einen Esel zwei macht, eine Eselin und ein Füllen, auf denen Jesus in die Stadt reitet.28 Dass ein Parallelismus bei der Auslegung der Schrift aufgelöst werden konnte, ist nicht ungewöhnlich.29 Ungewöhnlich ist, dass Matthäus hier mit der Auflösung des Parallelismus eine Wirklichkeit produziert, die nicht nur die markinische Vorlage gegen sich hat, sondern auch jede historische Wahrscheinlichkeit. Der Ritt den steilen Ölbergweg hinab auf Jerusalem zu wird in dieser Darstellung zu einer Art Zirkusspektakel.30 Mit seiner Lesart des Sacharja-Textes interpretiert Matthäus den Einzug Jesu nach Jerusalem demnach als wortwörtliche Erfüllung der Schrift. Der Wortlaut der Schrift setzt die folgende Erzählung frei. Dieser Wortlaut hält die präziseren Informationen über die zu erzählenden eschatologischen Ereignisse bereit als die markinische Vorlage.

28 Die Lösung, den Plural auf die Gewänder zu beziehen, ist zwar möglich und seit Origenes bekannt, aber durch den Text ist eindeutig, dass hier zwei Eselstiere im Blick sind. Und man setzt sich doch eher auf Reittiere als auf Gewänder. 29 Vgl. Joh 19,24 als Zergliederung von Ps 22,19; M. HENGEL, Zur matthäischen Bergpredigt und ihrem jüdischen Hintergrund, in: ThR 52 (1987), 327–400, 341–345 verweist auf BerR 98,11. Zu Optionen der Interpretation eines Parallelismus bei den frühen Rabbinen vgl. D. INSTONE-BREWER, The Two Asses of Zechariah 9:9 in Matthew 21, in: TynB 54 (2003), 87–98, 91–95. 30 Vgl. S. V. MCCASLAND, Matthew Twists the Scriptures, in: JBL 80 (1961), 143– 148, 144.

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Im Erzählerkommentar verständigen sich Autor und Leser vor der narrativen Darstellung des Geschehens metakommunikativ über diesen Zugriff auf das im Folgenden Erzählte. Der Kommentar dient demnach als Leseanleitung. In der kommunikativen Interaktion zwischen Autor und Leser zielt dieser Text gerade nicht darauf, dem Leser eine fiktionale Welt als plausible Welt vorzustellen, sondern jenseits von phänomenologischen Plausibilitäten das Einverständnis des Lesers zu erwerben, dass die in Sach 9,9 formulierte eschatologische Erwartung eines messianischen Königs und Jesu Einzug nach Jerusalem konvergieren. In diesem Sinn ist der Einzug Jesu ‚Erfüllung‘ der Schrift. In der Entstehungssituation des Matthäusevangeliums ist diese Sichtweise jedoch (noch) strittig,31 so dass die Aufgabe bleibt, dies ‚Jerusalem‘ kundzutun. Matthäus verändert die Einleitung des Sacharja-Zitats deshalb durch Worte aus Jes 62,11 „Sprecht zur Tochter Zion…“. Diese Zusammenstellung zweier Schriftzitate ist durch die Stichwortverbindung ‚Tochter Zion‘, die an beiden Stellen auftaucht, problemlos möglich. Der so entstandene Imperativ wird zum Appell, die Schriftgemäßheit der Ereignisse zu kommunizieren – gerade auch in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit konkurrierenden jüdischen Gruppen vorrangig pharisäischer Prägung. Dies gelingt aber nicht durch einen fundamentalisierenden Schriftbeweis, sondern durch eine schriftgelehrte Aktualisierung von verschiedenen miteinander kombinierten Schriftstellen. Neben Sach 9,9 und Jes 62,11 haben andere Texte – autororientiert gesprochen – auf die Formulierung eingewirkt bzw. bieten – leserorientiert gesprochen – Anknüpfungspunkte für das Auffüllen von Leerstellen. Von besonderer Bedeutung ist hier der Judasegen (Gen 49,8–12), aber auch andere Texte wie Ex 4,19f.; 2Sam 16,1– 4 oder 1Kön 1,30–45 stehen im Hintergrund und verleihen der folgenden Erzählung eine ‚biblische Tiefenschärfe‘.32

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Das Matthäusevangelium erwartet in seiner Konkurrenzsituation zu anderen jüdischen Gruppierungen eine Akzeptanz dieser Auffassung, die ihm historisch jedoch verwehrt blieb. Auch innerchristlich konnte sich das matthäische Konzept der ‚Schrifterfüllung‘ gegen die späteren Interpretationen eines lukanischen und paulinischen Schriftverständnisses nicht durchsetzen. Die Reintegration des matthäischen Denkens in die Theologie der Gegenwart ist besonders vor dem Hintergrund der markionitischen Versuchungen des 20. Jahrhunderts jedoch eine bleibende Aufgabe. 32 Zu diesem schriftgelehrten Verfahren vgl. auch die Überlegungen, die HENGEL, Bergpredigt (s. Anm. 29), 352 im Kontext seiner Analyse der Seligpreisungen der Bergpredigt formuliert: „Man darf bei Mt nicht nur ‚platte‘ Zitate erwarten, vielmehr wird aus wenigen Zitaten und mancherlei Anspielungen ein bunter Teppich geflochten, der den Schriftkundigen erfreut. […] Die Vielfalt der möglichen Assoziationen galt als kunstvoll“.

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Mit dem nächsten expliziten Schriftzitat schließt der matthäische Jesus seine Handlungen wider die Praxis im Jerusalemer Tempel ab: „Geschrieben ist: Mein Haus wird Haus des Gebets gerufen werden, ihr aber macht es zu einer Höhle von Räubern“ (Mt 21,13). Der Protagonist der Erzählung bedient sich also innerhalb der erzählten Welt der Schrift, um damit seine eigenen prophetischen Zeichenhandlungen zu interpretieren. Das Zitat in V. 13 ist wiederum ein Mischzitat. In V. 13c wird Jes 56,7 wörtlich zitiert, in V. 13d durch das Stichwort ‚Räuberhöhle‘ eine klare Anspielung auf die Tempelrede des Jeremia (Jer 7,11) vorgenommen, denn nur dort kommt in der Schrift diese Wortverbindung vor. Der jesajanischen Zielbestimmung des Tempels steht in der Gegenwart der Erzählung das Handeln der Angesprochenen entgegen. Die ‚Räuber‘, die den Tempel zu ihrer Höhle gemacht haben – im zeitgeschichtlichen Kontext des Matthäusevangeliums ist bei diesem Wort besonders an die antirömischen Aufstandstruppen zu denken, die in blinder Hoffnung auf die Unzerstörbarkeit des Tempels diesen zur Zwingburg machten33 – müssen sich dem Vorwurf der Zweckentfremdung von Gottes Haus aussetzen. Indem der Erzähler seinen Protagonisten dessen eigene Handlungen auf diese Weise deuten lässt, unterstreicht er über die Schriftgemäßheit Jesu (genitivus objectivus) und seines Handelns hinaus die Schriftgemäßheit Jesu (genitivus subjectivus), also die in Jesus selbst grundgelegte Ausrichtung seiner Person an der Schrift Israels. Das letzte wörtliche Schriftzitat findet sich in Jesu Replik auf die kritische Anfrage der Hohenpriester und Schriftkundigen: „Ja. Niemals last ihr: Aus dem Mund von Unmündigen und Säuglingen bereitetest du dir Lob?“ (Mt 21,16). Dieses Zitat stammt aus Ps 8,3 (LXX).34 Die Szene selbst fällt durch ihre außergewöhnlich umständliche Einleitung (V. 15) auf. Worauf sich „das Staunenswerte (ta. qauma,sia), das er tat“ in der einführenden Substitution bezieht, ist nicht ganz deutlich, und die Hosanna schreienden Kinder tauchen ebenfalls unvermittelt auf der Szenerie auf. Beide Elemente erschließen sich erst, wenn der Kontext des aufgerufenen Psalmzitats berücksichtigt wird: „Herr, unser Herr, / wie wunderbar (qaumasto,j) ist dein Name auf der ganzen Erde, denn erhoben ist deine Hoheit über die Himmel hinaus. Aus dem Mund von Unmündigen und Säuglingen hast du dir ein Lob bereitet wegen deiner Feinde, um zu vernichten Feind und Rächer“ (Ps 8,2f.).35 33 Vgl. die Belege bei Flavius Josephus: Bell 4,135; 6,370; Ant 14,415; 15,346; 17,285 u.ö. 34 Diese Szene bietet Mt über Mk hinaus, der nur vom folgenden Komplott der Hohepriester und Schriftgelehrten berichtet (Mk 11,18). 35 Übersetzung nach Septuaginta Deutsch (2009).

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Sowohl das ‚Staunenswerte‘ als auch die rufenden Kinder werden erst auf dem Hintergrund des Psalmzitats verständlich. Der Schrifttext ist also die Quelle der Einzelelemente innerhalb der Darstellung und prägt ihren narrativen Ablauf. Auch hier gilt also „Die Geschichte Jesu wird im Licht der Schrift neu gelesen und neu geschrieben, und die Schrift hat Priorität vor dem Bericht der Tradition“.36 Neben den drei expliziten Schriftzitaten gibt es in Mt 21,1–17 noch weitere Elemente, die auf die biblische Grundierung der Episode hinweisen. Der in die Stadt einziehende sanftmütige König wird vom mitziehenden Volk akklamierend begrüßt (Mt 21,9b–d). Das Wort ‚Hosanna‘, ein biblisch geprägter Bittruf, der sich im Kontext der jüdischen Wallfahrtsfeste in einen Lobruf oder einfachen Gruß gewandelt hatte und hier schon mit der Dativ-Bestimmung ‚dem Sohn Davids‘ konstruiert wird (vgl. Mt 1,1), sowie das folgende Zitat „gesegnet der Kommende im Namen des Herrn“ verweisen auf Ps 118. Während bei dem Ruf ‚Hosanna‘ allein noch fraglich ist, ob ein dezidierter Bezug auf die Schrift vorliegt oder sich dieser Ruf schon verselbständigt und bereits Aufnahme in die christliche Liturgie gefunden hat (vgl. Did 10,6), macht das folgende Zitat aus Ps 118,26 deutlich, dass hier der Kommende (vgl. Mt 11,3) in den Kategorien der Schrift und in der Sprache der Schrift begrüßt wird. Die schreienden Kinder im Tempel werden diese Begrüßung noch einmal anklingen lassen (Mt 21,15d). Nebenfiguren der Erzählung, das mitziehende Volk und die Kinder im Tempel, die positiv auf die Ankunft Jesu in Jerusalem reagieren, begrüßen Jesus also in der Sprache (parole) der Schrift.37 Die Verteilung der Schriftzitate in der vorliegenden Episode ergibt ein eindrucksvolles Bild: Am Beginn informiert der Erzähler seinen Leser metakommunikativ, dass er im Folgenden die Erfüllung der Schrift erzählt. Im Zentrum der Erzählung und an ihrem Ende deutet Jesus sein Handeln unter Rückgriff auf die Schrift. Dazwischen verwenden Nebenfiguren in der erzählten Welt die Schrift, um die Bedeutung des Ereignisses zu artikulieren. Angesichts dieses Befundes ist deutlich, wie sorgfältig die ge-

36 H. KLEIN, Zur Wirkungsgeschichte von Psalm 8, in: R. Bartelmus/T. Krüger/H. Utzschneider (Hg.), Konsequente Traditionsgeschichte (OBO 126), FS K. Baltzer, Fribourg 1993, 183–198, 198. 37 Schriftkenntnis allein ist allerdings noch keine Gewähr, die Ereignisse richtig deuten zu können. Auch die Opponenten in der matthäischen Erzählung kennen die Schrift und können daraus zitieren. Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist die Versuchungserzählung (Mt 4,1–11), und auch in 21,16 ist Schriftkenntnis implizit vorausgesetzt.

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samte Episode literarisch durchstrukturiert ist. Die Schriftzitate in ihrer palindromischen Anordnung sind dabei das Gerüst der Erzählung.38 Doch spielt die Schrift über diese expliziten Bezüge hinaus auch für die Darstellung der Ereignisse selbst eine prägende Rolle. Bereits beim Zitat aus Ps 8 war ja zu beobachten, dass das Schriftzitat für die Einführung bestimmter Elemente in der matthäischen Darstellung verantwortlich war. Es werden also nicht nur die zitierten Textpassagen im matthäischen Text aufgegriffen und rekontextualisiert, sondern die Zitate bieten nur den am klarsten erkennbaren ‚Link‘ zur Schrift. Intertextuelle Bezugnahmen anderer Kategorien39 sind für die Gestaltung des Textes in seiner spezifischen Form verantwortlich. So tun die Volksmengen nach dem Matthäusevangelium genau das, was sie nach Ps 118 tun sollen, wenn am Wallfahrtsfest der Einzug nach Jerusalem ansteht: „Mit Zweigen in den Händen / schließt euch zusammen zum Reigen, bis zu den Hörnern des Altars!“ (Ps 118,27). Der Feststrauß am Laubhüttenfest (Lulaw) wird im babylonischen Talmud als ‚Hosanna‘ bezeichnet (bSuk 37b) und dort sowie am Pessachfest das Hallel (Ps 113– 118) gebetet. Dabei ist es sicher kein Zufall, dass Matthäus hier die ‚Zweige von den Feldern‘ (Mk 11,8) in ‚Zweige von den Bäumen‘ (Mt 21,8) ändert, denn für den Feststrauß braucht man Bachweidenzweige und die findet man eher an Bäumen als auf Feldern. Auch die Heilungen (21,14), ein christologisches Leitmotiv des Matthäusevangeliums,40 entsprechen der von der Schrift bezeugten eschatologischen Erwartung. Beispielhaft kann hier auf Jes 35,1–10 verwiesen werden, einen Text, der auch im Hintergrund von 11,5 stand und in dem gerade die Heilung der Blinden und Lahmen (und Tauben) Kennzeichen des Anbruchs der Heilszeit ist.41 Schließlich bietet auch das 14. Kapitel des Sacharjabuches eine ganze Reihe von Einzelmotiven, die im matthäischen Text wieder auftauchen,42 38

Vgl. N. LOHFINK, Der Messiaskönig und seine Armen kommen zum Zion. Beobachtungen zu Mt 21,1–17, in: L. Schenke (Hg.), Studien zum Matthäusevangelium (SBS), FS W. Pesch, Stuttgart 1988, 179–200, 300–301. 39 Zu unterschiedlichen Formen der Markierung von Intertextualität vgl. U. BROICH, Formen der Markierung von Intertextualität, in: ders./M. Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Fiktionen, anglistische Fallstudien (Konzepte der Sprachwissenschaft 35), Tübingen 1985, 31–47, 39–40. 40 Vgl. z.B. 4,23–24; 8,7.16; 9,35; 11,5; 12,15.22; 14,14; 15,30; 17,18; 19,2; 20,29– 34. Bemerkenswert ist, dass die Anrede Jesu als ‚Sohn Davids‘ vorrangig im Kontext von Heilungserzählungen begegnet. 41 Vgl. auch MidrTeh 146: „Wenn Gott kommt, die Welt zu heilen, heilt er zuerst die Blinden“. 42 Zu nennen sind: Jerusalem als Ziel der Handlungen: Sach 14,2.10f.17 // Mt 21,1.10; der Ölberg: Sach 14,4 // Mt 21,1; das Erdbebenmotiv angesichts der Theophanie: Sach 14,5 // Mt 21,10; eine den Einzug begleitende Personenmenge: Sach 14,5 // Mt 21,8–9;

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so dass dieses große eschatologische Gemälde der matthäischen Erzählung gewissermaßen als Kulisse dient. h) Fazit Wir können den Gang durch das Matthäusevangelium an dieser Stelle abbrechen. In der Passionserzählung verstärkt Matthäus das im Markusevangelium vorgefundene Verfahren, die Schrift zum Gestaltungsprinzip seiner Darstellung zu machen.43 Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass der matthäische Gedanke der ‚Erfüllung der Schrift‘ die matthäische Erzählung auf verschiedenen Textebenen prägt: – Durch immer wieder eingesetzte reflektierende Schriftzitate verständigt sich der Autor des Matthäusevangeliums metakommunikativ mit seinen Lesern, dass das von ihm erzählte Geschehen ‚Schrifterfüllung‘ ist. – Innerhalb der erzählten Welt organisiert der Erzähler seine Darstellung so, dass die Handlungen des Protagonisten als Erfüllung der Schrift erscheinen, die Handlungen der Antagonisten jedoch von Unkenntnis bzw. Missverstehen der Schrift zeugen. – Innerhalb der Kommunikationssituationen in der erzählten Welt bedient sich der Protagonist der Erzählung von der Versuchungsgeschichte bis zum Kreuz der Sprache (langue) der Schrift und deutet selbst mehrfach die Königswürde des Einziehenden: Sach 14,9 // Mt 21,5; die Bezeichnung des Tempels als ‚Haus‘: Sach 14,20f. // Mt 21,13c; kein Handel mehr im Tempel: Sach 14,21 // Mt 21,12. 43 Zur Funktion des Psalters in der Passionserzählung des Markus vgl. K. LÖNING, Die Funktion des Psalters im Neuen Testament, in: E. Zenger (Hg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (HBS 18), Freiburg/Basel/Wien 1998, 269–295, 269–276. Schlaglichtartig lassen sich folgende Eingriffe des Matthäus in seine markinische Vorlage nennen, die den Schriftbezug verstärken: In der Getsemani-Szene unterstreicht Mt durch die Einfügung der Wendung genhqh,tw to. qe,l hma, sou (Mt 26,42 diff. Mk 14,39; vgl. Mt 6,10b), dass die Ereignisse dem Willen Gottes entsprechen; den in Mk 14,49 bereits vorliegenden Gedanken der Schrifterfüllung (vgl. Mt 26,56) verstärkt Mt deutlich, in dem der Erzähler Jesus selbst in dessen Rede an seine Begleiter diesen Gedanken programmatisch äußern lässt (Mt 26,54); das Ende des Judas wird – mit charakteristisch anderer sprachlicher Einleitung – als Erfüllung der Schrift erzählt (Mt 27,3–10); die Händewaschung des Pilatus (Mt 27,24) mit dem Gedanken, dass hier unschuldiges Blut eines Menschen (nach zahlreichen Textzeugen: eines Gerechten) vergossen werde, mit dem anschließenden ‚Blutruf‘ (27,25) ist matthäisch; bei der Kreuzigungsszene fügt Mt das wörtliche Zitat aus Ps 22,9 ein (27,43), wodurch Gottvertrauen, Gottes Wille und Sohnschaft Jesu explizit in einen Zusammenhang gestellt werden; schließlich verstärkt Mt die apokalyptischen Ereignisse beim Tod Jesu (27,51b–53). Grundsätzlich zur Bedeutung der Schrift für die urchristliche Deutung des Todes Jesu vgl. K. LÖNING, Die Memoria des Todes Jesu als Zugang zur Schrift im Urchristentum, in: K. Richter/B. Kranemann (Hg.), Christologie der Liturgie. Der Gottesdienst der Kirche – Christusbekenntnis und Sinaibund (QD 159), Freiburg u.a. 1995, 138–149, 142–146.

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in wörtlicher Rede seine Handlungen als ‚Erfüllung‘ der Schrift (vgl. bes. 3,15; 5,17). – Diese Deutung wird durch andere im Text auftauchende Handlungsträger – entweder göttliche Boten (1,20–23; 2,13–15.19–23; 28,5–7) oder Gott selbst (3,17; 17,5; vgl. auch 11,25–27) als zutreffende Deutung bestätigt und von höchster Stelle legitimiert. Matthäus erzählt eine „Jesusgeschichte“.44 Zweifelsohne sammelt und bewahrt er Traditionen über Jesus von Nazaret auch um ihrer Tradierung willen. Auch diese Überlieferungen haben im Vorgang der literarischen Kristallisation schon erste Brechungen hinter sich, sind nicht mehr ‚faktuale‘ Abbildungen der Wirklichkeit, sondern in Form gegossene literarische Stücke. Eine ‚objektive‘, dokumentarische, an der Faktenlage interessierte Darstellung bieten schon die Quellen des Matthäus nicht mehr. Matthäus organisiert nun seine Stoffe neu und in spezifischer Weise.45 Doch ist eine Bestandssicherung allein kein guter Anlass für ein theologisch-literarisches Werk. Im Sinne eines aggiornamento erzählt Matthäus folglich vor dem Hintergrund der theologischen Herausforderungen seiner Zeit und Umgebung seine Jesusgeschichte neu als ‚Erfüllung‘ der Schrift.46 Dass Jesus von Nazaret derjenige ist, in dem und durch den sich diese endzeitliche ‚Erfüllung‘ ereignet, bedarf offenbar des Nachweises. Im Innenraum der matthäischen Gemeinde hat dieser Nachweis die Funktion einer identitätsstiftenden Vergewisserung; dass diese Darstellung im Außenbezug auch eine polemische Dimension hat, mit dem sich der Autor von konkurrierenden Konzepten der Schriftauslegung absetzen und den eigenen Zugang als überlegen herausstellen will, steht außer Frage. In dieser doppelseitigen Kommunikationssituation hat der Gedanke der Schrifterfüllung die gleiche Wertigkeit, die gleiche Bedeutung wie das Tradieren der Überlieferung, ja im Zweifel sogar die größere. Die Konvergenz zwischen der Schrift und dem Auftreten Jesu ist der hermeneutische Schlüssel, der Motor für die Darstellung des Lebens Jesu im Matthäusevangelium. Für den Autor des Matthäusevangeliums und seine ersten Adressaten ist die Schrift die unkritische Größe (vgl. 5,18), gesetzte Vorgabe, reines fac44

Vgl. U. LUZ, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993. Zu den Konsequenzen vgl. U. LUZ, Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte?, in: S. Chapman/C. Helmer/C. Landmesser (Hg.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung (BThSt 44), Neukirchen-Vluyn 2001, 53–76, 68: „Die Interpretation der Geschichte Jesu, die gespiesen wird von den Erfahrungen des Matthäus und seiner Gemeinde mit ihr, bestimmt also seine Erzählung bis dahin, dass sich die Geschichte selbst verändert“ (Hervorhebung im Original). 46 Das unterscheidet Matthäus von allen Formen griechischer und römischer Historiographie. Vgl. dazu LUZ, Geschichte (s. Anm. 4), 202–207. Luz bezeichnet die Schrift sehr treffend als die „geistige Welt“ des Matthäus, vgl. a.a.O., 205. 45

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tum. Kritisch – und das heißt: in der Entstehungssituation des Textes begründungspflichtig – sind die Worte, Taten und das Geschick Jesu, auf die der Autor und seine Adressaten ihre ganze Hoffnung setzen. Der matthäische Text ringt um die Bedeutung Jesu von Nazaret. Im Zuge der Entfaltung und literarischen Gestaltung dieser Bedeutung bürgt die Schrift dafür, dass in Jesus Gottes Wille ‚erfüllt‘ wird. Für die ersten Leserinnen und Leser wird durch diese Übereinstimmung plausibel, dass der Wille Gottes, wie er in der Schrift steht, mit den erzählten Ereignissen der Jesusgeschichte identisch ist. Im Matthäusevangelium bestimmt die Faktizität der Schrift die Darstellung der Ereignisse. Die Faktizität der Schrift generiert Fiktionalität.

3. Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ und das Matthäusevangelium Nimmt man die Ereignisse rund um Jesus von Nazaret als primären Referenzrahmen und liest das Matthäusevangelium als ein historisches Dokument, wird ihm der Makel des Defizitären, da vom Ursprung Entfernten, Verfälschten, mit fiktionalen Elementen angereicherten, Instrumentalisierten, Unzuverlässigen anhaften.47 Der primäre Referenzrahmen der matthäischen Erzählung sind jedoch nicht die rund 50 Jahre zurückliegenden Ereignisse, sondern die in seiner Zeit hochaktuelle und brisante Frage, inwieweit dieser Jesus sich als ‚Erfüllung‘ der Schrift wahrnehmen lässt. Im Kontext jüdischer Identitäts(re-) konstruktionen nach der Zerstörung der Stadt Jerusalem und ihres Tempels 70 n.Chr. besitzt diese Frage höchste Priorität. Der Versuch, das Matthäusevangelium verstehen zu wollen, setzt voraus, sich die in ihm vorausgesetzte ‚Weltanschauung‘ zu eigen zu machen. Im verstehenden Nachvollzug des matthäischen Zugriffs auf die Wirklichkeit gewinnt der Text ‚Bedeutung‘. Um die Bedingungen der Möglichkeit von Bedeutung ringt der Philosoph Ernst Cassirer (1874–1945), dessen Werke, lange Zeit wenig beach-

47 Und damit trifft es das (Vor-)Urteil, das schon Platon gegen alle literarisch Tätigen vorgebracht hat (Resp 595a–608b), das sich aber auch schon beim Vorsokratiker Solon findet und seit ihm als Sprichwort kursiert: „Vieles lügen die Dichter“. Einen Vergleich zwischen dem matthäischen Text und griechischen Literaturtheorien bietet U. LUZ, Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium im Lichte griechischer Literatur, in: ZNW 84 (1993), 153–177, 162–174 mit dem Ergebnis, dass sich das Matthäusevangelium kaum mit den Maßstäben griechischer Historiographie messen lässt.

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tet, in den letzten Jahren wieder vermehrt Beachtung finden.48 Cassirer geht es im Anschluss an Immanuel Kant um den Zugriff auf die Wirklichkeit. Aber er spitzt die Kant’sche Erkenntnistheorie zu, indem er mit dem immer wiederkehrenden Satz „alles Sinnliche ist sinnhaft“ die Kant’sche Unterscheidung zwischen den Dingen ‚an sich‘ und den Dingen ‚für uns‘ phänomenologisch in Frage stellt. In unserer Erfahrung gibt es keine rohen Daten, keine bruta facta, sondern alles, was uns begegnet, ist bereits mit Bedeutung durchtränkt.49 Die Bedeutung aber, die der Mensch den Dingen, die ihm begegnen, zuweist, ist geprägt von seinen Anschauungen. Diese Anschauungen aber sind ‚Ganzheiten‘. In seinem Hauptwerk, der dreibändigen ‚Philosophie der symbolischen Formen‘50, beschreibt Cassirer solche unterschiedliche Weisen menschlichen Weltverstehens, für die er den Begriff ‚symbolische Form‘ prägt, und analysiert die symbolischen Formen Sprache (Band 1), mythisches Denken (Band 2) und wissenschaftliche Erkenntnis (Band 3). Es geht Cassirer nicht um singuläre geistige Zugriffe auf bestimmte Phänomene, sondern um allgemeine Aneignungen der Wirklichkeit, um ‚Weltversionen‘, die das Bewusstsein entwirft. Die Gesamtwirklichkeit lässt sich unter dem Zugriff wissenschaftlicher Erkenntnis betrachten, sie lässt sich aber auch unter dem Zugriff der Sprache wahrnehmen oder unter dem Zugriff des Mythos. Deswegen kann Cassirer die Beziehung zwischen Welt und Wissen als „echtes ‚Apriori‘, als wesensmäßig-Erstes“ bezeichnen: „Nur im Hin und Her vom ‚Darstellenden‘ zum ‚Dargestellten‘, und von diesem wieder zu jenem zurück, resultiert ein Wissen vom Ich und ein Wissen von ideellen, wie reellen Gegenständen. Hier erfassen wir den eigentlichen Pulsschlag des Bewusstseins, dessen 48 Aus theologischer Perspektive können als Beispiele besonders M. B ONGARDT, Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen (ratio fidei 2), Regensburg 2000 und M. HÖFNER, Sinn, Symbol, Religion. Theorie des Zeichens und Phänomenologie der Religion bei Ernst Cassirer und Martin Heidegger (Religion in Philosophy and Theology 36), Tübingen 2008 genannt werden. Zur Frage nach der Bedeutung der Religion in der Philosophie Cassirers vgl. T. VOGL, Die Geburt der Humanität. Zur Kulturbedeutung der Religion bei Ernst Cassirer (Cassirer-Forschungen 4), Hamburg 1999 und den Sammelband D. KORSCH/E. RUDOLPH (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie (Religion und Aufklärung 7), Tübingen 2000. Mit dem Satz „[Cassirer] interessiert sich für die Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung“ beginnt A. GRAESER, Ernst Cassirer (Beck’sche Reihe Denker 527), München 1994, 28 seine Darstellung des Ansatzes der Philosophie Cassirers. Weitere empfehlenswerte Einleitungen in die Philosophie Cassirers sind H. P AETZOLD, Ernst Cassirer zur Einführung, Hamburg 1993; T. MEYER, Ernst Cassirer, Hamburg 22007 und P. MÜLLER, Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘, Darmstadt 2010. 49 Vgl. GRAESER, Cassirer (s. Anm. 48), 30–31. 50 Erschienen 1923/1925/1929; im Folgenden abgekürzt zitiert: PSF I–III.

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Geheimnis eben darin besteht, daß in ihm ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. Es gibt keine bewußte Wahrnehmung, die bloßes ‚Datum‘, die ein lediglich Gegebenes und in dieser Gegebenheit Abzuspiegelndes wäre; sondern jede Wahrnehmung schließt einen bestimmten ‚Richtungscharakter‘ in sich, mittels dessen sie über ihr Hier und Jetzt hinausweist“ (PSF III 236).

Das menschliche Bewusstsein verarbeitet also nicht einfach die ihm begegnenden Sinneseindrücke, sondern generiert selbst in je spezifischer Weise ‚Wirklichkeiten‘. Wenn der menschliche Geist bestimmten Phänomenen eine Bedeutung zuweist, ist dies also eher ein Vorgang des ‚Ausdrucks‘ denn des ‚Eindrucks‘ und bedingt von der jeweiligen ‚symbolischen Form‘, in der sich dieser Vorgang ereignet. Neben den Zugriffsweisen Mythos, Sprache und wissenschaftliche Erkenntnis, die er als Prolegomena einer umfassenden Kulturphilosophie jeweils monographisch durchbuchstabiert hat, nennt Cassirer noch Religion, Kunst und Geschichte als zu unterscheidende symbolische Formen.51 Unter symbolischer Form versteht Cassirer „jede Energie des Geistes […], durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinn tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft“.52

Dass überhaupt Bedeutung entsteht, liegt in dem je spezifischen, dynamischen Zugriff des Geistes auf die Wirklichkeit begründet, der eine Grundform des Verstehens ermöglicht, eine ‚Formung‘, durch die überhaupt erst Bedeutung entsteht. Wenn Gegenstände oder Sachverhalte nach Cassirer ipso facto Produkte symbolischer Formung sind und es andererseits die Funktion des Symbolischen ist, die die Vorbedingung für alles Erfassen von ‚Gegenständen‘ oder Sachverhalten ist,53 gilt dies für die Sachverhalte, die im Matthäusevangelium artikuliert werden, natürlich ebenso. Um den im Text vorge51 Vgl. E. CASSIRER , Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (Philosophische Bibliothek 488), Hamburg 1996, 110. Die Originalausgabe dieses Werkes erschien 1944 unter dem Titel „An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture“. Auch Technik, Recht und Sitte gelten als symbolische Formen, und aus heutiger Perspektive dürfte man gewiss und nicht an letzter Stelle die Ökonomie hinzufügen. 52 E. CASSIRER , Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 51976, 175–176. 53 Vgl. E. CASSIRER, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Darmstadt 3 1971, 31. Vgl. auch GRAESER , Cassirer (s. Anm. 48), 52.

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stellten Sachen und Ereignissen Bedeutung abzugewinnen, bedient sich der Autor des Textes – und an seiner Seite sein idealer Leser – einer spezifischen symbolischen Form. Diese symbolische Form ist die Schrift. Sie ist der für das Matthäusevangelium bedeutsame Spezialfall mythischen Denkens, näherhin religiösen Denkens.54 Sie bestimmt jene „Energie des Geistes“, durch die den konkreten Zeichen Bedeutungsgehalte zugeeignet werden. Die Schrift ist jene formative Kraft, durch die die Überlieferungen von Jesus von Nazaret ihre spezifische Bedeutung erhalten. Der primäre Referenzrahmen der matthäischen Erzählung ist demnach die Faktizität der Schrift, noch vor den Fakta der Jesuszeit.55 Das heißt nicht, dass die Schrift eine statische Größe ist.56 Der Bezug zwischen den erzählten Ereignissen und der Schrift ist als dynamischer, reziproker Prozess zu denken, als „Hin und Her vom ‚Darstellenden‘ zum ‚Dargestellten‘, und von diesem wieder zu jenem zurück“. Der Streit um die richtige Auslegung der Schrift, wie er z.B. in den Kommentarworten der Bergpredigt geführt wird, und der wiederholte Vorwurf an Jesu Gegner, sie würden die Schrift nicht kennen,57 zeigen, dass sich der im Text abgebildete Verstehensprozess in einer hermeneutischen Spirale bewegt. Doch auch wenn der Zugriff auf das Dargestellte spezifisch ist58 und eine spezifische Auswahl und Interpretation einzelner Elemente der Schrift erforderlich macht, bleibt doch die Schrift in ihrer Ganzheit der maßgebliche Bezugsrahmen, die theologische Grammatik, eben die ‚symbolische Form‘. Daher ist es kein Wunder, dass dieser Zugriff auf die Wirklichkeit die Darstellung in einer Weise prägt, die mit wissenschaftlicher bzw. konkreter: geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis – einer anderen symbolischen Form – oft nicht zu vereinbaren ist. Wenn die Faktizität der Schrift, jene „Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder“ die Fiktionalität der matthäischen Jesuserzählung bestimmt 54 Eine Anwendung der symbolischen Form ‚Mythos‘ auf das Markusevangelium bietet P.-G. KLUMBIES, Der Mythos bei Markus (BZNW 108), Berlin/New York 2001; zu CASSIRER vgl. a.a.O., 80–90. 55 Die Gegenposition, nach der „die Bibel […] nicht mehr Grundtext des Matthäusevangeliums“ ist, formuliert sehr klar LUZ, Matthäusevangelium (s. Anm. 45), 71–74. 56 Dass die Schrift auf die ständig zu erneuernden, aktualisierenden und korrigierenden Vorgänge der Tradition (‚mündliche Tora‘) angewiesen ist, wurde wohl von keiner frühjüdischen Gruppierung bezweifelt. Vgl. zu einer solchen dynamischen, auf menschliche Vermittlung angelegten Hermeneutik einer ‚Gesetzeserfüllung‘ im Frühjudentum besonders K. MÜLLER, Gesetz und Gesetzeserfüllung im Frühjudentum, in: K. Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament (QD 108), Freiburg/Basel/Wien 1986, 11–27, 24– 25. 57 Vgl. z.B. Mt 12,3.5; 19,4; 21,16.42; 22,31. 58 Spezifisch matthäisch ist dabei insbesondere die Darstellung Jesu als vollmächtiger Ausleger der Schrift (vgl. besonders 7,29), seine Lehre hat zweifelsfrei eine ‚Erschließungsfunktion‘ (11,25–27; 13,35).

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und ein solcher prägender Zugriff im Sinne Cassirers als ‚symbolische Form‘ wahrgenommen wird, ist damit ein bibeltheologischer Erkenntnisgewinn erreicht, mit dem die Bedeutung der Schrift für das erste Evangelium möglicherweise präziser beschrieben werden kann als üblich. Grundsätzlich lassen sich zwei Wahrnehmungsweisen der Bedeutung der Schrift für die neutestamentlichen Texte unterscheiden. Einigen gilt die Schrift als kulturelle Vorgabe, die prinzipiell deutungsbedürftig ist und erst durch ihre Auslegung durch Jesus und ihre Rezeption in den neutestamentlichen Schriften ihre eigentliche theologische Bedeutung erhält. Als ein griffiges Beispiel solcher Wahrnehmung aus jüngster Zeit ist die Feststellung zu nennen: „Charakteristisch für die Schriftauslegung der neutestamentlichen Autoren ist die Deutung des Alten Testaments im Lichte des Christusgeschehens“.59 Andere Autoren unterstreichen die Bedeutung der Schrift für die neutestamentlichen Schriften auch in theologischer Hinsicht und werten dies in verantwortungsvoller Weise aus. Dann werden die Schrifttexte im Blick auf das Matthäusevangelium oft als ‚Tiefendimension‘, als ‚Resonanzboden‘ oder ‚Wahrheitsraum‘ bezeichnet. All diese Bezeichnungen legen – in einer Alltagsmetaphorik – die Schrifttexte hinter oder unter den matthäischen Text. In Aufnahme dieser räumlichen Metaphorik lässt sich im Sinne des oben Dargestellten jedoch vertreten, dass die Schrift vor den matthäischen Text gehört, denn sie prägt als spezifische symbolische Form den Zugriff auf die Ereignisse, ermöglicht allererst Bedeutung und ist damit die Bedingung der Möglichkeit religiöser Kommunikation.60 59 B. KOLLMANN, Einführung, in: ders. (Hg.), Die Verheißung des Neuen Bundes. Wie alttestamentliche Texte im Neuen Testament fortwirken, Göttingen 2010, 9–15, 11. Oft wird dieser hermeneutische Grundsatz auf den hl. Augustinus zurückgeführt, doch liest man von dessen Ausführungen nicht nur den letzten Teilsatz, ist festzustellen, dass sich Augustinus gerade um den theologischen Zusammenhang von Altem und Neuem Testament bemühte und nicht eine Abwertung des Alten im Sinn hatte: „Sicut autem Deus unus et verus creator bonorum est et temporalium et aeternorum, ita idem ipse auctor est amborum Testamentorum, quia et Novum in Vetere est figuratum et Vetus in Novo est revelatum“ (c. adv. leg. et proph. XVII,35). 60 Vgl. zu einer solchen Verhältnisbestimmung der Schrift Israels und des Christusereignisses F.-W. MARQUARDT, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, 2 Bde., München 1991, II/295: „Und so geht es nicht um eine christliche Deutung des Alten Testaments, sondern um ein alttestamentliches Verstehen Jesu: was zweierlei ist“. Vgl. auch H.-G. SCHÖTTLER, Christliche Predigt und Altes Testament. Versuch einer homiletischen Kriteriologie (Zeitzeichen 8), Ostfildern 2001, 450: „Nicht die Bibel Israels wird im Licht des Christusereignisses gedeutet, sondern umgekehrt: das Christusereignis im Licht der Bibel Israels“. Zutreffend bestimmt auch H. FRANKEMÖLLE , Die Tora Gottes für Israel, die Jünger Jesu und die Völker nach dem Matthäusevangelium, in: E. Zenger (Hg.), Die Tora als Kanon für Juden und Christen (HBS 10), Freiburg u.a. 1996, 379–419, 386 die Arbeit des Matthäus: „Für den Leser zeigt sich, daß

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Diese Funktionsbestimmung der Schrift erweist sich zwar über die bei Cassirer genannten Optionen verschiedener symbolischer Formen hinaus als Spezialfall der symbolischen Form ‚Religion‘, entspricht aber der Weltanschauung, die sich im Matthäusevangelium findet. Denn tatsächlich deutet Matthäus die Gesamtheit der Ereignisse im Horizont der Schrift. Die Schrift hat eine im strengen Sinne hermeneutische Funktion. Die ‚Energie des Geistes‘, mit der der Autor des Matthäusevangeliums den Worten und Taten Jesu Bedeutung verleiht, ist der ‚Blick des Begeisterten‘, eben jenes Schriftgelehrten, der „belehrt über die Himmelsherrschaft“ wie ein Hausherr „aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt“ (Mt 13,52).

Abstract Scripture plays a more central role in the Gospel of Matthew than in any other gospel. The author of the gospel repeatedly points to the fact that his narration about Jesus of Nazareth can be read as the ‘fulfillment’ of Scripture. He provides proof that God’s will in Scripture agrees with the words and deeds of Jesus as they are narrated. In a cursory reading of the Gospel the formative role which this specific, ‘scriptural’ perception of reality plays for the fictional portrayal of events will be shown. According to Ernst Cassirer’s ‘Philosophy of Symbolic Forms’, this hermeneutical function of the Scriptures can be epistemologically classified as ‘symbolic form’. For Matthew, Scripture is the particular manner of human ‘world understanding’ through which the Jesus story is given meaning.

Literatur M. BONGARDT, Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen (ratio fidei 2), Regensburg 2000. G. B ORNKAMM /G. B ARTH/H. J. HELD, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium (WMANT 1), Neukirchen-Vluyn 1960.

Matthäus offenbar vom Glauben an das Wirken Gottes in Jesus Immanuel und in seinem Tun in die Heilige Schrift zurückfragt und dann von dort her das Buch der Geschichte Jesu Christi (1,1) schöpferisch entwirft“ (Hervorhebung O.R.). Ähnlich und programmatisch für seinen Matthäuskommentar auch DERS., Matthäus. Kommentar. 2 Bde., Düsseldorf 1994/1997, I/35: „Das MtEv kann von Christen nur angemessen verstanden werden, wenn man es im Lichte jener biblischen Schriften liest, die für ihn [Matthäus] und für seine Adressaten heilige Schriften waren“. Die Lichtmetaphorik ist erkenntnistheoretisch ganz ernst zu nehmen.

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Herodes der Große und der Kindermord zu Bethlehem (Mt 2,16–18) aus historischer und narrativer Perspektive Felix Albrecht Die im deutschsprachigen Raum wohl bekannteste Kinderbibel in Bildern von Kees de Kort1 schweigt zum Kindermord zu Bethlehem. 2 Anscheinend ist die Geschichte nicht jugendfrei, zumindest problematisch. Aber gerade das ist das ‚ungeheuer Faszinierendeʻ daran, das Tremendum fascinans. Die Erzählung vom „Kindermord zu Bethlehem“ (Mt 2,16–18) ist in die Schilderung von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten und deren Rückkehr eingebettet (VV. 13–15.19–21). Nachdem Herodes der Große von der Suche der drei Magier nach dem „König der Juden“ (basileu.j tw/n VIoudai,wn) erfährt, lässt er Bethlehem als Geburtsort ermitteln, informiert die drei und trägt ihnen auf, ihm nach erfolgreicher Suche Bericht zu erstatten. Die Magier aber werden im Traum gewarnt, zu Herodes zurückzukehren (V. 12), so dass der gewünschte Bericht ausbleibt. Die folgende Anordnung wird als Reaktion darauf beschrieben: „Als Herodes sah, dass er von den Magiern hintergangen worden war, ergrimmte er sehr und gab Befehl, alle Kinder, die sich in Bethlehem und in seinem ganzen Gebiet befa nden, von zwei Jahren und darunter, gemäß der Zeit, die von den Magiern genau errechnet worden war, zu töten“ (Mt 2,16).

1 Meine Kinderbibel. Geschichten aus der Bibel in Bildern von Kees de Kort, Stuttgart 2000. 2 Die Forschungen zur ‚narrativen Ethikʻ haben gezeigt, dass die ‚narrative Dimensionʻ „die primäre Zugangsweise zum handelnden Menschen darstellt“, so K. J OISTEN, Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik. Grundlagen, Grundpositionen, Anwendungen, in: Dies. (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband 17), Berlin 2007, 9–24, 10f. In diesem Sinne könnte man die biblische Erzählung vom Kindermord auch und gerade als Chance begreifen, das ‚Unsagbare’ (bildhaft) zur Sprache zu bringen. Vgl. dazu T. NAUERTH, Fabelnd gedacht. Kinderbibeln als Ort narrativer Ethik, in: T. Schlag/R. Schelander (Hg.), Moral und Ethik in Kinderbibeln. Kinderbibelforschung in historischer und r eligionspädagogischer Perspektive (ARPäd 46), Göttingen 2011, 347–359.

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Der Evangelist sieht darin eine Erfüllung der Heiligen Schrift: „Da wurde erfüllt, was durch den Propheten Jeremia gesagt ist […]“ (V. 17). Es folgt das Zitat aus Jer 38,15 LXX, das von der Trauer Rahels über den Verlust ihrer Kinder handelt (V. 18) und von Matthäus eingefügt worden sein mag, um den Erfüllungscharakter des Erzählten und dessen Stellung im Rahmen des göttlichen Heilsplans herauszustellen. Die matthäischen Erfüllungszitate gehen allesamt auf den Evangelisten selbst zurück, wie Maarten Menken in seiner gründlichen Studie zu den alttestamentlichen Zitaten des Ersten Evangeliums aufgezeigt hat, und entstammen nicht etwa einer Testimoniensammlung.3 Dabei lag Matthäus zu Jesaja, Jeremia, Dodekapropheton und Psalter ein rezensionell bearbeiteter Septuagintatext vor,4 dessen Spezifikum eine rezensionelle Anpassung des griechischen Texts an eine protomasoretische Vorlage gewesen zu sein scheint.5 Die grausame Notiz vom „Kindermord zu Bethlehem“ findet sich bekanntlich allein bei Matthäus. 6 Daneben weist die Darstellung Berührungspunkte mit bekannten literarischen Topoi auf: Die Gefährdung des Jesus-

3

Zum Zitat von Jer 38,15 LXX (31,15 MT) in Mt 2,18 vgl. M. J. J. MENKEN, Matthewʼs Bible. The Old Testament Text of the Evangelist (BEThL 173), Löwen u.a. 2004, 143–159. Die übrigen neun Erfüllungszitate finden sich in: Mt 1,22f. (Jes 7,14); 2,15 (Hos 11,1); 2,23 (Ri 13,5.7); 4,14–16 (Jes 8,23–9,1); 8,17 (Jes 53,4); 12,17–21 (Jes 42,1–4); 13,35 (Ps 78,2); 21,4f. (Sach 9,9); 27,9f. (Sach 11,13). Die Erfüllungszitate gehen auf die redaktionelle Arbeit des Evangelisten zurück: „They do not derive from a collection of testimonies or something similar, but from a continuous biblical text” (a.a.O., 279); „Matthew’s entire series of fulfillment quotations is best explained as take n by the evangelist from a continuous biblical text“ (a.a.O., 280). 4 Vgl. MENKEN, Matthewʼs Bible (s. Anm. 3), 282: „Matthew had a revised LXX text for Isaiah, Jeremiah, the Minor Prophets, and the Psalms, and an unrevised LXX text for Deuteronomy.“ 5 Die Anpassung des Septuagintatexts an eine hebräische Vorlage ist ein wesentliches Merkmal etwa der (proto-)theodotianischen Rezensionstätigkeit zur Zeit des Neuen Testaments; vgl. hierzu F. ALBRECHT, Die alexandrinische Bibelübersetzung. Einsichten zur Entstehungs-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der Septuaginta, in: T. Georges u.a. (Hg.), Alexandria (Civitatum Orbis MEditerranei Studia 1), Tübingen 2013, 209– 243, bes. 228–231. 6 Alle übrigen Erwähnungen des bethlehemitischen Kindermordes entstammen späterer Zeit und sind vom Matthäusevangelium abhängig, so beispielsweise das vermutlich in der 2. Hälfte des 2. Jhs. entstandene Protevangelium Iacobi, das ferner von der Ermordung des Zacharias durch Herodes d. Gr. zu berichten weiß, vgl. Protev 21–25 (CANT 50), ed. É. de Strycker; zur Ermordung des Zacharias a.a.O., 23f. Zur Einordnung dieses Evangeliums vgl. O. CULLMANN, Kindheitsevangelien, in: W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Bd. 1, Evangelien, Tübingen 6 1999, 330–372, 334–338; zur Datierung a.a.O., 337.

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kindes steht in Analogie zur Gefährdung des Mosekindes.7 Dies hat in der Erzählung selbst deutliche Anhaltspunkte: Der Kindermord Mt 2,16–18 ist in den Kontext der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten eingebunden. Die Formulierung „mein Sohn“ (V. 15) und die wiederholte Erwähnung Ägyptens erinnern den Lesenden, respektive Hörenden unweigerlich an die Moselegende.8 Das Stichwort paidi,on „Kindlein“ – in Mt 2 auf Jesus und in Ex 2 auf Mose bezogen – weckt dieselben Assoziationen. 9 Insbesondere eine von Josephus bezeugte Ausgestaltung der Moselegende weist deutliche Parallelen mit der uns vorliegenden Jesusüberlieferung auf: 10 „Einer von den schriftgelehrten Priestern (i`erogrammatei/j ) […] verkündete dem König, es werde den Israeliten zu jener Zeit einer geboren werden, der die Herrschaft der Ägy pter schwächen, die Israeliten hingegen stählen werde […]. Durch diesen Spruch aber wurde der König erschreckt, und er befahl, alle männlich Geborenen unter den Israeliten in den Fluss zu werfen und zu töten.“11

Amaran, der Vater des Mose, fleht daraufhin zu Gott und bittet um Erbarmen. Gott erhört sein Gebet und erscheint ihm im Schlaf; er gemahnt ihn, „an der Zukunft nicht zu verzweifeln“ (mh,te avpoginw,skein auvto.n peri. tw/n mello,ntwn).12 Der Knabe werde gerettet und „auf wunderbare Weise erzogen werden“ (trafei.j de. parado,xwj); auch werde er die Hebräer aus der ägyptischen Not befreien. 13 Diese Beobachtungen führen zu berechtigten Zweifeln an der Historizität des in Mt 2 Geschilderten. Freilich hängt die Historizität davon ab, ob sich die Schilderung des Evangelisten im historischen Kontext nach dem

7 Vgl. nur W. W IEFEL, Das Evangelium nach Matthäus (ThHK 1), Leipzig 1998, 42; P. FIEDLER , Das Matthäusevangelium (ThKNT 1), Stuttgart 2006, 49f.; U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband, Mt 1–7 (EKK 1,1), Zürich u.a. 52002, 182. 8 Vgl. LUZ, Matthäus 1 (s. Anm. 7), 184; P. W ICK, König Herodes. Messiasanwärter, Pharao, Antichrist. Das Herodesbild des Matthäusevangeliums und seine Parallelen zu dem des Josephus, in: L.-M. Günther (Hg.), Herodes und Jerusalem, Stuttgart 2009, 61– 69, 66–68. 9 Neunmal begegnet uns das Stichwort „Kindlein“ in Mt 2,8f.11.13f.20f. und siebenmal in Ex 2,3.6.7–10. Das Wort paidi,on allein ist selbstverständlich noch kein Anhaltspunkt für einen Bezug zur Moselegende (es findet sich ebenso in der lukanischen G eburtsgeschichte), wohl aber sein Auftreten in Verbindung mit der Erwähnung Ägyptens. 10 Jos, Ant 2,205–216 (9,2–3). Vgl. jedoch auch schon die innerbiblische Überlieferung, etwa SapSal 18,5: „Weil sie beschlossen hatten, die Kleinkinder der Frommen zu töten, und weil nur das eine Kind ausgesetzt und gerettet wurde […]“, siehe dazu F. ALBRECHT, Die Weisheit Salomos (Sapientia Salomonis) übersetzt und eingeleitet, Göttingen 2015. 11 Jos, Ant 2,205f. (9,2). 12 Jos, Ant 2,210–212 (9,3). 13 Jos, Ant 2,215f. (9,3).

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Plausibilitätskriterium rekonstruieren lässt. 14 Wie im Folgenden aufzuzeigen sein wird, besitzt der Herodes angelastete Kindermord angesichts des in den zeitgenössischen Quellen überlieferten Herodesbildes eine gewisse historische Plausibilität. Insofern ist zunächst unter historischer Perspektive nach der Gestalt Herodes’ des Großen zu fragen, unter narrativer Perspektive sodann die Funktion der Erzählung in den Blick zu nehmen. Die Funktion wird dabei durch den prinzipiell konstruktiven Charakter des Erzählten bedingt,15 insofern historische Erzählung – und als solche ist das Matthäusevangelium mit Ulrich Luz aufzufassen 16 – stets in der Ambivalenz von historischer Wirklichkeit und erzählter Wahrheit steht. 17 Was sind also die im Hintergrund der Erzählung liegenden Motive, was ist die Funktion der Perikope im narrativen und historischen Kontext des Ersten Evangeliums?

14 Unbestritten bleibt, dass die Perspektive des Historikers wie auch des historischkritischen Exegeten nicht frei von Konstruktion ist: Geschichte und Vergangenheit werden in weiten Teilen konstruiert, nicht rekonstruiert. Vgl. dazu aus neutestamentlicher Sicht J. SCHRÖTER , Konstruktion von Geschichte und die Anfänge des Christentums. Reflexionen zur christlichen Geschichtsdeutung aus neutestamentlicher Perspektive, in: J. Schröter/A. Eddelbüttel (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschicht stheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, Berlin 2004, 201 –219, 203. Zum Plausibilitätskriterium vgl. G. T HEISSEN/D. W INTER , Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium (NTOA 34), Göttingen u.a. 1997, 175–194.206–217. 15 Vgl. A. DESTRO/M. PESCE, The Cultural Structure of the Infancy Narrative in the Gospel of Matthew, in: C. Clivaz u.a. (Hg.), Infancy Gospels. Stories and Identities (WUNT 281), Tübingen 2011, 94–115, 97: „He [sc. Matthew] does not want merely to narrate facts or evoke, with varying degrees of explicitness, the traditional elements he uses and mentions. His aim is to create a religious construction […].“ Aus dem ‚konstruktiven Charakterʻ der Erzählung resultiert unweigerlich die Fiktion, deren Gegenteil jedoch keine ‚faktischeʻ Wahrheit ist. Die bekannte Äußerung David Humes, Dichter seien ‚professionelle Lügnerʻ, gesteht der Dichtung immerhin das Bestreben ein, ihre Fiktionen mit dem Hauch von Wahrheit zu umgeben, vgl. D. HUME, A Treatise of Human Nature. With an Analytical Index by L. A. Selby-Bigge, Oxford 21978, 121; vgl. dazu F. R. ANKERSMIT, Wahrheit in Literatur und Geschichte, in: W. Küttler u.a. (Hg.), Geschichtsdiskurs Bd. 5, Frankfurt a.M. 1999, 337–359. 16 U. LUZ, Geschichte und Wahrheit im Matthäusevangelium. Das Problem der narr ativen Fiktionen, in: EvTh 69 (2009), 194–209, 194: „Verschiedene grundlegende Merkmale des Matthäusevangeliums […] zeigen, dass es voll und ganz dem Typ biblischtraditionaler Geschichtsschreibung zuzurechnen ist“; vgl. a.a.O., 202–207 („Das Matthäusevangelium als ein ‚biblisches Geschichtswerkʻ“). 17 Vgl. dazu die Ausführungen bei Aristot, Poet 1451a–b, der zwischen einer durch den Dichter vermittelten allgemeinen Wahrheit und der durch den Historiker vermittelten Wirklichkeit unterscheidet.

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1. Der historische Kontext 18 Die Gestalt Herodesʼ des Großen spielt im Neuen Testament – abgesehen von der kurzen Bemerkung zu Beginn des Lukasevangeliums, die Vorgeschichte datiere in die Zeit Herodesʼ des Großen (evge,neto evn tai/j h`me,raij ~Hrw,|dou basile,wj th/j VIoudai,aj, Lk 1,5) – nur in Mt 2 eine wirkliche Rolle. Alle übrigen neutestamentlichen Belege des Namens Herodes beziehen sich auf Herodes Antipas mit dem Beinamen „Vierfürst“ (tetraa,rchj).19 Eine Ausnahme bildet Apg 12, wo Herodes Agrippa I. gemeint ist. 20 Herodes der Große, gebürtiger Idumäer, wurde 74 v. Chr. geboren und herrschte von 37 v. Chr. bis zu seinem Tod 4 v. Chr. über Judäa. Herodesʼ Vater Antipater war 48 v. Chr. noch zur Regierungszeit Hyrkans II. (63–40 v. Chr.) von Caesar zum Prokurator von Judäa ernannt worden; Herodes selbst übernahm auf Geheiß seines Vaters die Herrschaft über Galiläa. Der Parthereinfall im Jahr 40 v. Chr. führte dazu, dass Herodes nach Rom fliehen musste, während die Parther dem Hasmonäer Mattathias Antigonos die Herrschaft übertrugen. Der römische Senat ernannte daraufhin Herodes zum König von ganz Judäa. Mit der Zurückdrängung der Parther durch die römische Armee konnte Herodes im Jahr 37 v. Chr. Jerusalem einnehmen und seine Herrschaft antreten. Nach Herodesʼ Tod wurde das Reich auf drei seiner Söhne aufgeteilt: Archelaos erhielt Judäa und Samaria, Herodes Antipas Galiläa und Peräa, Philippos Gebietsteile im Nordosten Palästinas.21 Unter Kaiser Claudius wurde der Großteil des ursprünglichen herodianischen Reiches an einen Enkel Herodesʼ des Großen, namentlich Agrippa I. übertragen (41 n. Chr.), wobei dieser indes kurz darauf verstarb (43/44 n. Chr.). 18

Vgl. zum Folgenden nur A. SCHALIT, König Herodes. Der Mann und sein Werk, Berlin u.a. 22001; M. BERNETT, Der Kaiserkult in Judäa unter den Herodiern und Römern. Untersuchungen zur politischen und religiösen Geschichte Judäas von 30 v. bis 66 n. Chr. (WUNT 203), Tübingen 2007; A. KASHER /E. W ITZTUM , King Herod, A Persecuted Persecutor. A Case Study in Psychohistory and Psychobiography (Studia Judaica 36), Berlin u.a. 2007; E. NETSER , The Architecture of Herod, The Great Builder (TSAJ 117), Tübingen 2006; W. HORBURY, Herodian Judaism and New Testament Study (WUNT 193), 2006; T. LANDAU, Out-heroding Herod. Josephus, Rhetoric, and the Herod Narratives (Ancient Judaism and Early Christianity 63), Leiden u.a. 2006 ; L.-M. GÜNTHER , Herodes der Große (Gestalten der Antike), Darmstadt 2005; M. VOGEL, Herodes. König der Juden, Freund der Römer (Biblische Gestalten 5), Leipzig 2002; H. MERKEL/D. KOROL, Herodes der Große, in: RAC 14, Stuttgart 1988, 815–849. 19 Vgl. Mt 14,1.3.6; Mk 6,14.16–18.20–22; Lk 3,1.19; 8,3; 9,7.9; 13,31; 23,7f.; 23,11f.15; Apg 4,27. 20 Vgl. Apg 12,1.6.11.19.21. Apg 25f. bezieht sich hingegen auf Herodes Agrippa II., der vom Verfasser der Apostelgeschichte schlicht VAgri,ppaj genannt wird. 21 Die Lebensdaten der drei Herodessöhne sind unsicher: Archelaos (um 23 v. Chr. – 18 n. Chr.), Herodes Antipas (um 20 v. Chr. – 39 n. Chr.), Philippos (gest. 34 n. Chr.).

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Die Spuren des herodianischen Wirkens sind bis heute unübersehbar: In Jerusalem ließ Herodes den Tempel und die Befestigungsanlagen der Stadt neu errichten; zudem schuf er zahlreiche Prunkbauten (Theater, Amphitheater und Königspalast). In Caesarea sorgte er für die grundlegende Neugestaltung der Hafenanlagen. Überdies wären die Neugründung Samarias unter dem Namen Sebaste, der herodianische Bezirk von Hebron, der Herodespalast in Jericho und viele weitere Bauten aufzuzählen; nicht zu vergessen zahlreiche Festungen, etwa die von Massada und das südlich von Jerusalem gelegene Herodeion, das zugleich Militärstützpunkt, Schloss und Grabmal war. Verschiedentlich wurde daher der Vergleich des herodianischen mit dem davidischen Reich gezogen und Herodes mit David verglichen.22 Darüber hinaus erinnert insbesondere die herausgehobene Bautätigkeit des Herodes an die König Salomos. Zwar bleiben in den uns vorliegenden Quellen die Verdienste des Herodes nicht unerwähnt, doch sind die Schilderungen fast durchgängig von antiherodianischer Polemik durchsetzt. Die frühjüdischen und frühchristlichen Quellen zeichnen ein negatives Bild. 23 „Nur Äußerungen von Feinden und Hassern sind auf uns gekommen“, so beschreibt Abraham Schalit das Dilemma.24 An erster Stelle ist hier die Geschichtsschreibung des Flavius Josephus zu nennen, die zahllose Untaten des Herodes anführt. 25 Die Polemik setzt sich sodann bis in die nichtjüdischen Quellen fort. Am bekanntesten ist das Augustus zugeschriebene Wortspiel: melius est Herodis porcum [u-n] esse quam filium [ui`o,n]: „Es ist besser ein Schwein des Herodes zu sein als sein Sohn.“26 – Welche Ursachen hatte dieser offensichtliche Antiherodianismus? Von hasmonäischer Seite wurde Herodes stark angefeindet und aufgrund seiner idumäischen Herkunft als Halbjude (h`miioudai/oj) ver22

Vgl. SCHALIT, Herodes (s. Anm. 18), 674. Die lange Friedenszeit, welche Herodes dem Land beschied, lässt ferner an die pax Augusta und an einen Vergleich mit Augustus denken, vgl. K. VON STUCKRAD, Das Ringen um die Astrologie. Jüdische und christliche Beiträge zum antiken Zeitverständnis (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 49), Berlin u.a. 2000, 130: „Herodes ist somit der von Gott erwählte Herrscher, gleic hsam das jüdische Pendant zu Augustus.“ 23 Vgl. Assumptio Mosis 7,2–6 (CAVT 134), ed. J. Tromp, und den babylonischen Talmud, bBB 3b. 24 SCHALIT, Herodes (s. Anm. 18), 645. 25 Vgl. Jos, Ant 16,150–159 (5,4); 17,304–314 (11,2); vgl. ferner Jos, Ant 15,50–56 (3,3); 16,356–404 (11,1–8) ≈ Bell 1,540–543 (27,3); 17,178–181 (6,5f.). Zum Herodesbild des Josephus vgl. B. ECKHARDT, Herodes der Große als Antiochus redivivus in apokrypher und josephischer Deutung. Mit einem Ausblick auf eine konstruktivistische Herodesforschung, in: Klio 90 (2008), 360–373. 26 Macrobius, Saturnalia 2,4,11, ed. J. W ILLIS, Saturnalia, 144; vgl. E. MALCOVATI (Hg.), Imperatoris Caesaris Augusti operum fragmenta (Corpus scriptorum Latinorum Paravianum), Turin 51969, Dictum Nr. 56: mallem Herodis porcus esse quam filius.

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schmäht.27 Durch die Heirat mit der Hasmonäerin Mariamme und die Ernennung ihres jüngeren Bruders Aristobulos zum Hohepriester versuchte Herodes diesem anfangs entgegenzuwirken. Am Ende ließ er große Teile seiner Gegnerschaft kurzerhand hinrichten. Letzteres hinterließ nicht den besten Eindruck. Sicherlich brachte auch der enge Kontakt zur römischen Führung Herodes Kritik ein. Er galt als „verbündeter König und Freund des römischen Volkes“ (rex socius et amicus populi Romani).28 In der zeitgenössischen Wahrnehmung herrschte demnach das Bild des tyrannischen Herodes vor. Auch das Herodesbild des Matthäusevangeliums liegt auf derselben Linie und ist mehr oder weniger negativ überzeichnet. Gleichwohl ist – nach allem, was wir wissen – eine Gräueltat wie der von Matthäus geschilderte Kindermord Herodes dem Großen durchaus zuzutrauen, wie Abraham Schalit recht harsch urteilt: „Herodes war gegen Ende seines Lebens nicht mehr im Vollbesitz seiner Sinne und dicht am Rande des Irrsinns. Warum sollen wir also nicht annehmen dürfen, daß ein halbwah nsinniger Despot imstande war, einen wahnwitzigen Blutbefehl, wie er im Matthäus evangelium überliefert ist, auszugeben?“ 29

Das stärkste Argument dagegen ist allerdings der Befund, dass der antiherodianisch gestimmte Josephus den Kindermord nicht erwähnt, und das, obwohl er ansonsten keine Gelegenheit auslässt, die herodianischen Machenschaften vor den Augen der Leser en détail zu entfalten.30

2. Die Funktion der Perikope in ihrem narrativen Kontext Insbesondere aufgrund der fehlenden Josephusüberlieferung dürfte es daher wohl am naheliegendsten sein, den „Kindermord zu Bethlehem“ für fiktiv zu halten.31 Doch was ist dann die spezifische Funktion dieser Fiktion in ihrem narrativen Kontext? Hier stellt sich die Frage nach der literari27

Jos, Ant 14,403 (15,2). Vgl. dazu SCHALIT, Herodes (s. Anm. 18), 147f. m. Anm. 6. 29 SCHALIT, Herodes (s. Anm. 18), 649, Anm. 11. Vgl. R. T. FRANCE, Herod and the Children of Bethlehem, in: NT 21 (1979), 98–120, 119f.; W ICK, König (s. Anm. 8), 65: „Auch wenn der Kindermord zu Bethlehem historisch nicht zu beweisen ist, so bietet das matthäische Herodesbild doch einen Beleg dafür, dass in der Erinnerung Herodes das durchaus zugetraut werden konnte.“ 30 Vgl. Anm. 23. Dieses Argument wird zu Recht von den meisten Kommentatoren und Historikern immer wieder ins Feld geführt. 31 In terminologischer Hinsicht folge ich F. ZIPFEL, Fiktion, Fiktionalität, Fiktivität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwisse nschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft. Wuppertaler Schriften 2), Berlin 2002 . Zipfel unterscheidet zwischen Fiktion im Kontext von Geschichte (Fiktivität) und im Kontext von Erzählung (Fiktionalität). 28

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schen Intention des Evangelisten: Was könnte Matthäus bewogen haben, eine solche Erzählung seiner Kindheitsgeschichte Jesu beizugeben? 32 2.1 „Wo wird der Christus geboren?“ Sowohl Matthäus als auch Lukas stehen vor der Herausforderung, die prophetisch bezeugte Herkunft des Messias aus Bethlehem mit der aus der Tradition belegten Abstammung Jesu aus Nazareth in Einklang zu bringen:33 Der prophetischen Weissagung zufolge stammt der Messias aus Bethlehem. Abgesehen vom Markusevangelium berichten dies einstimmig die drei übrigen Evangelien. Matthäus führt dabei die alttestamentliche Tradition auf die von Herodes gestellte Frage hin, wo der Christus geboren werde (pou/ o` cristo.j genna/tai, Mt 2,4), explizit an: „zu Bethlehem in Judäa“; mit der Begründung: „denn so steht es durch den Propheten geschrieben“ (V. 5f.). Was in V. 6 nun folgt, ist eine Zitatkombination aus Mi 5,2 [Mi 5,1 MT] und 2Reg 5,2 [2Sam 5,2 MT]: „Und du, Bethlehem, (im) Land Juda, bist keineswegs die geringste unter den Fürsten Judas, denn aus dir wird ein Führer hervorkommen“ (Mi 5,2),34 „der mein Volk Israel hüten wird“ (2Reg 5,2). 35

Der prätextuelle Kontext des Zitats aus 2Reg handelt von der Ernennung Davids zum König über Israel (2Reg 5,1–5). Die Verknüpfung beider Zitate könnte über das Stichwort h`gou,menoj erfolgt sein: Mi 5,2 spricht in der 32 Zu den neutestamentlichen Kindheitsgeschichten vgl. insgesamt: G. A. ERDMANN, Die Vorgeschichten des Lukas- und Matthäus-Evangeliums und Vergils vierte Ekloge (FRLANT 48), Göttingen 1932; M. DIBELIUS, Botschaft und Geschichte. Bd. 1, Zur Evangelienforschung. Hg. von G. Bornkamm, Tübingen 1953, 1–78; R. E. BROWN, The Birth of the Messiah. A Commentary on the Infancy Narratives in Matthew and Luke, Garden City 1977; DERS., Gospel Infancy Narrative Research from 1976 to 1986. Part I (Matthew), in: CBQ 48 (1986), 468–483; DERS., Gospel Infancy Narrative Research from 1976 to 1986. Part II (Luke), in: CBQ 48 (1986), 660–680; R. LAURENTIN, Les Évangiles de lʼenfance du Christ. Vérité de Noël au-delà des mythes, Paris 1982; M. S. ENSLIN, The Christian Stories of the Nativity, JBL 59 (1940), 317–338; C. C LIVAZ u.a. (Hg.), Infancy Gospels. Stories and Identities (WUNT 281), Tübingen 2011. 33 Vgl. CULLMANN, Kindheitsevangelien (s. Anm. 6), 331. 34 Zu den Abweichungen zwischen Mi 5,2 LXX (kai. su,,, Bhqlee.m oi=koj tou/ VEfraqa,, , ovligosto.j ei= tou/ ei=nai evn cilia,sin VIou,da· evk sou/ moi evxeleu,setai [Cod. Alexandrinus bezeugt, möglicherweise in Anlehnung an Matthäus, die Hinzufügung: h`gou,menoj] tou/ ei=nai eivj a;rconta evn tw/| VIsrah,l […]) und dem ersten Zitatteil in Mt 2,6 (kai. su,, , Bhqlee.m gh/ VIou, da, ouvdamw/j evlaci,sth ei= evn toi/j h`gemo,sin VIou,da· evk sou/ ga.r evxeleu,setai h`gou,menoj) vgl. MENKEN, Matthewʼs Bible, 255–263 (s. Anm. 3). Menken charakterisiert das Michazitat wie folgt: „an independent translation of the Hebrew, in which the biblical text is brought in a slightly free, targumizing way and thereby adjusted to its context“ (a.a.O., 260). Er kommt zu dem Ergebnis: „the quotation from Micah 5,1 very probably belonged to the traditional materials used by Matthew“ (a.a.O., 263). 35 2Reg 5,2: su. poimanei/j to.n lao,n mou to.n VIsrah,l .

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matthäischen Fassung von evk sou/ ga.r evxeleu,setai h`gou,menoj , der von Matthäus nicht angeführte Versschluss 2Reg 5,2 lautet: kai. su. e;sei eivj h`gou,menon evpi. to.n VIsrah,l .36 Lukas ist etwas zurückhaltender, doch mag man in der Formulierung von Lk 2,15 „was uns der Herr kundgetan hat“ (o] o` ku,rioj evgnw,risen h`mi/n ) einen Anhaltspunkt sehen, dass auch hier die prophetische Tradition im Hintergrund steht. 37 Schließlich bezeugt Johannes – aller Wahrscheinlichkeit nach synoptisch beeinflusst, doch das ist umstritten38 – denselben Tatbestand: „Hat die Schrift nicht gesagt: Aus der Nachkommenschaft Davids und aus Bethlehem, dem Dorf, wo David war, kommt der Christus?“ (Joh 7,42). Der prophetisch geweissagten Abstammung Jesu steht die in der urchristlichen Tradition mehr oder minder einhellig bezeugte Herkunft Jesu aus Nazareth entgegen: 39 Bei Matthäus, Johannes und im lukanischen Doppelwerk begegnet uns die Bezeichnung Jesu als Nazwrai/oj.40 Im Markusevangelium trägt Jesus den Beinamen Nazarhno,j (Mk 1,24; 10,47; 14,67; 16,6). Auch Lukas verwendet diesen Namen zweimal (Lk 4,34; 24,19), wobei Lk 4,34 von Mk 1,24 abhängt. Allerdings ist Lukas in seinen Formulierungen zurückhaltend und spricht lediglich davon, dass Joseph aus Nazareth stammte (Lk 2,4 vgl. 1,26) und dass die Heilige Familie nach 36

Die Annahme, die Stichwortanknüpfung zwischen Mi 5,2 und 2Reg 5,2 erfolgte über h`gou,menoj, setzt voraus, dass die Hinzufügung des h`gou,menoj nicht auf Matthäus zurückgeht, sondern bereits in der matthäischen Vorlage stand. Da Cod. Alexandrinus diese Hinzufügung ebenfalls bezeugt (s.o. Anm. 34), könnte es sein, dass uns hierin eine alte varia lectio vorliegt, die folglich – anders als Ziegler z.St. vermutet – nicht sekundär durch Matthäus beeinflusst wäre. 37 Vgl. F. B OVON, Das Evangelium nach Lukas. 1. Teilband, Lk 1,1–9,50 (EKK 3,1), Zürich u.a. 1989, 130: „Die Worte der Hirten klingen sehr lukanisch, und Lukas seinerseits spricht biblisch. Die Botschaft der Engel kommt von Gott […] und hat eine heilsg eschichtliche Nachricht enthüllt“. 38 C. K. B ARRET, Das Evangelium nach Johannes, Berlin 1990, 337, der in der Formulierung von Joh 7,42 den „üblichen ironischen Stil“ des Johannes erkennt, geht davon aus, dass Johannes die Tradition von der Geburt in Bethlehem kannte. Anders K. W ENGST, Das Johannesevangelium. 1. Teilband, Kapitel 1–10 (ThKNT 4), Stuttgart 2 2004, 308; R. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes (KEK), Göttingen 131953, 231, Anm. 2. U. SCHNELLE , Das Evangelium nach Johannes (ThHK), Leipzig 32004, 165 bemerkt z.St.: „Erstaunlicherweise führt Johannes die in Matth. 2,1.5f./Luk. 2,1 –10 belegte Bethlehemtradition nicht als Gegenargument an.“ Ein ironisches Verständnis der Stelle behebt jedoch das vermeintliche Problem, so dass m.E. nichts dagegen spricht, für Joh 7,42 die Kenntnis der synoptischen Tradition durchaus vorauszusetzen. Zur Vertrautheit des Johannesevangeliums mit dem Lukasevangelium vgl. F. ALBRECHT, Jesus Christus, Wort aus Schweigen. Zur Motivgeschichte eines Theologumenons, in: Studia Ephemer idis Augustinianum 127, Rom 2012, 119–132, 130f. m. Anm. 41. 39 Mk 1,9; Mt 21,11 vgl. 2,23; Joh 1,45f.; Apg 10,38. 40 Mt 2,23; 26,71; Joh 18,5.7; 19,19; Lk 18,37; Apg 2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 22,8; 26,9 vgl. 24,5.

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der Geburt nach Nazareth zurückkehrte (Lk 2,39 vgl. 2,51). Entsprechend heißt es bei Lukas auch, dass Jesus nicht in Nazareth geboren, sondern lediglich dort aufgewachsen sei: „Und er [sc. Jesus] kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war (ou- h=n teqramme,noj)“ (Lk 4,16). Beide Evangelisten bewältigen das offensichtliche Problem der doppelt bezeugten Herkunft Jesu auf je unterschiedliche Weise: Lukas bedient sich des kaiserlichen Zensus als Mittel, um das Geburtsgeschehen nach Bethlehem verlagern zu können (Lk 2,1–7). Anders verfährt Matthäus, der die Verfolgung des Herodes zum Anlass nimmt, eine Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten zu inszenieren, an deren Ende eine Rückkehr nach Israel steht. Im Traum erfährt Joseph, er solle nach Galiläa reisen (Mt 2,22), wobei er in die Stadt Nazareth gelangt (V. 23). Sowohl in der Flucht nach Ägypten als auch in der Reise nach Nazareth sieht Matthäus eine „Erfüllung“ der Heiligen Schrift (i[na/o[pwj plhrwqh|/ to. r`hqe,n ), wie das Zitat aus Hos 11,1 und die Anspielung auf Ri 13,5 belegen sollen (Mt 2,15.23). 2.2 Der wahre König Für Matthäus mag es darüber hinaus noch einen weiteren Grund gegeben haben, warum er in seine Kindheitsgeschichte die Erzählung vom bethlehemitischen Kindermord einflocht. Es entspricht der Gesamtkonzeption des Matthäusevangeliums, in Jesus den König und Davidssohn zu sehen. Die königlichen Züge der Gestalt Jesu spielen für Matthäus eine herausgehobene Rolle. Dieser Gedanke ist in seiner Bedeutung für das Matthäusevangelium bislang kaum hinreichend zur Geltung gebracht worden. 41 Zunächst betont Matthäus die königliche Abstammung Jesu. Der im Stammbaum Jesu auffallend oft erwähnte David wird in V. 6 näherhin als „König“ prädiziert. Lohmeyer gibt dazu folgende Deutung: „[…] der Zusatz zeigt an, daß der Stammbaum über die regierende Linie geführt ist, und begründet die Hoffnung auf eine eschatologische Erneuerung des davidischen König tumes“.42

Die betonte Abstammung Jesu von David, dem „König“, findet ihre Entsprechung in der Prädikation Jesu als „König der Juden“ jeweils an prominenter Stelle aus paganem Munde, namentlich zu Beginn des Evangeliums Mt 2,2 durch die Magier und am Ende Mt 27 im Rahmen der Passion: Zunächst ist es der Statthalter, der fragt: su. ei= o` basileu.j tw/n VIoudai,wn; mit der knappen Antwort Jesu: su. le,geij. – „Du sagst es!“ (V. 11). Im Vorfeld 41 Die Marginalisierung dieses Vorstellungskomplexes zeigt sich beispielsweise in dem Urteil von E. LOHMEYER/W. SCHMAUCH, Das Evangelium des Matthäus (KEK.S), Göttingen 1958, 4, Anm. 3: „Da dieser Gedanke im Mt-Evang. keine Bedeutung hat, wird Mt ihn übernommen haben […].“ 42 LOHMEYER /SCHMAUCH, Matthäus (s. Anm. 41), 4, Anm. 3.

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der Kreuzigung verspotten alsdann die Soldaten des Statthalters Jesus auf diese Weise (V. 29). Sie sind es auch, die über dem Kreuz die Aufschrift anbringen: VIhsou/j o` basileu.j tw/n VIoudai,wn (V. 37; vgl. Mk 15,26).43 Darüber hinaus ergeben sich weitere Indizien für die besondere Bedeutung des Motivs der Königsherrschaft Jesu im Kontext des Matthäusevangeliums: Bei der Versuchung Jesu (Mt 4,1–11) stellt Matthäus – im Unterschied zu Lukas – das satanische Angebot der „Königsherrschaft“ (pa/sai ai` basilei/ai tou/ ko,smou, V. 8) als dritte und letzte – und damit größte – Versuchung exponiert an das Perikopenende. Petrus gegenüber äußert J esus, er werde ihm die Schlüsselgewalt geben, dw,sw soi ta.j klei/daj th/j basilei,aj tw/n ouvranw/n (Mt 16,19), was impliziert, dass Jesus selbst über jene Gewalt zu verfügen scheint. Am Schluss des gesamten Evangeliums begegnet uns derselbe Gedanke abermals (Mt 28,18): „Mir ist alle Vollmacht im Himmel und auf Erden gegeben“ (evdo,qh moi pa/sa evxousi,a evn ouvranw/| kai. evpi. [th/j] gh/j); die implizite Bezugnahme auf die Versuchungsgeschichte dürfte hier evident sein. 44 Schließlich bietet Matthäus im Vergleich mit den anderen Evangelien die meisten Gleichnisse vom Reich Gottes. 45 Gott – der im Übrigen nur bei Matthäus in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Septuaginta als me,gaj basileu,j bezeichnet wird (Mt 5,35) 46 – ist der König im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23–34), und er ist der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtende König (Mt 22,1–14; vgl. Lk 14,16–24). Letztlich ist auch die Vorstellung vom „Reich des Vaters“, von der basilei,a tou/ patro,j , in diesem Zusammenhang zu sehen (Mt 13,43; 26,29; vgl. die Bitte im Vaterunser evlqe,tw h` basilei,a sou, Mt 6,10). Die typisch matthäische Rede vom Himmelreich (basilei,a tw/n ouvranw/n , insgesamt 32 Mal) wäre ebenfalls darunter zu subsumieren; hier sind insbesondere die Gleichnisse im 13. Kapitel des Matthäusevangeliums zu nennen: vom Unkraut (Mt 13,24–30), vom Schatz im Acker (Mt 13,44), von der Perle (Mt 13,45f.) und vom Fischernetz (Mt 13,47–50), aber auch das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16). Der absolute Gebrauch des Begriffs „Reich“ ist 43

Vgl. Mt 27,42 par. Mk 15,32 die (spöttische) Anrede Jesu als basileu.j vIsrah,l. Vgl. LOHMEYER/SCHMAUCH, Matthäus (s. Anm. 41), 60 im Blick auf Mt 4,10: „[…] und doch zielen auch diese Worte schon auf die größeren am Ende des Evangeliums: ‚Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden!“‘. 45 Auffällig ist im Vergleich zu den übrigen Evangelien der besondere basilei,a Sprachgebrauch des Mt. Allein von der Häufigkeit her steht Mt dabei i n etwa gleichauf mit Lk (Mt 55-mal; Lk 46-mal; vgl. Mk 20-mal; Joh 5-mal). Allerdings bevorzugt Lk in starkem Maße das Syntagma basilei,a tou/ qeou/ (32-mal); die (wenigen) Ausnahmen, die sich auf das Reich Christi beziehen, finden sich in Lk 22f. 46 LXX Ps 46,3; 47,3; 94,3; 135,17; vgl. PsSal 2,32; Mal 1,14; Dan 14,41. Siehe K. L. SCHMIDT, basileu,j , 579. 44

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überdies eine besondere Eigenart des Matthäus. 47 All das deutet darauf hin, dass das Motiv der Königsherrschaft im Matthäusevangelium besondere Ausprägung erfahren hat. In den Augen des Matthäus ist Jesus als friedfertiger Messias der ideale Herrscher, der sich über die Davidssohnschaft als König legitimiert. Die Vorstellung vom Davidssohn spielt dabei im Ersten Evangelium eine gegenüber den übrigen Evangelien herausgehobene Rolle: Bereits Mt 1,1 spricht von Jesus als dem „Sohn Davids“: Bi,bloj gene,sewj VIhsou/ Cristou/ ui`ou/ Daui.d ui`ou/ VAbraa,m . In der Forschung ist allerdings umstritten, ob dieser Vers das gesamte Evangelium oder nur den Stammbaum Jesu überschreibt; m.E. bildet jener erste Vers die Überschrift des gesamten Evangeliums.48 Im weiteren Erzählverlauf kommt die Davidssohnschaft Jesu immer wieder zur Sprache: Etwa, wie bereits angedeutet, in der viermaligen Erwähnung des Ahnvaters David in der Genealogie Jesu (1,6.17). Sodann wird Joseph dezidiert als „Sohn Davids“ bezeichnet (1,20). Darüber hinaus hebt Matthäus die Davidssohnschaft Jesu an mehreren Stellen gegenüber seiner markinischen Vorlage hervor: In der Beelzebulrede (Mt 12,22–37) fragt die Volksmenge, ob Jesus der Davidssohn sei (V. 23), und in der Erzählung von der kananäischen Frau (Mt 15,21–28) redet diese Jesus als ebensolchen an (V. 22). In auffallendem Kontrast zum „Friedefürst, Herr Jesu Christ“ 49 steht bei Matthäus der als grausamer Tyrann gezeichnete basileu.j ~Hrw,|dhj. Pokorný und Heckel bringen es trefflich auf den Punkt: „Mit der Abstammung von David (1,1.6) wird der Anspruch Jesu als Messias Israels der jüdischen Tradition gegenüber legitimiert. Zugleich wird Jesus als der wahre, barmherzig heilende […], gewaltlos friedliche Davidide (21,1–9) dem gewalttätigen Despoten Herodes (2,1ff.) gegenübergestellt.“50

Matthäus bedient sich demnach des Mittels der literarischen Kontrastierung, um den regierenden Herrscher, König Herodes, von der davidischen Herrschergestalt bewusst abzuheben. Ulrich Luz bringt jenes wichtige Im47 Vgl. Mt 4,23; 8,12; 9,35; 13,19.38; 24,14. Zur Rede von der basilei,a „in absolutem Sinn“ vgl. K. L. SCHMIDT, basileu,j , 583. 48 Vgl. dazu nur LUZ, Matthäus (s. Anm. 7), 119: „Der Verfasser bezeichnet also sein Buch, das zu Beginn vom ‚Ursprung‘ Jesu Christi handelt, als ‚Buch der Genesis‘ […]. Auch er schreibt ein ‚Buch Genesis‘, aber sein Buch hat nicht denselben Inhalt wie das biblische Buch, sondern es geht um die ‚Genesis Jesu Christi‘“. Einen die Linien der Forschung nachzeichnenden Überblick gibt LUZ, a.a.O., in seiner Kommentierung zu Mt 1,1. 49 „Du Friedefürst, Herr Jesu Christ“ lautet der bekannte Titel der Bachkantate BWV 116 in Anlehnung an die jesajanische Verheißung vom ~Alv'-rf; (Jes 9,1–6). 50 P. P OKORNÝ/U. HECKEL, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, Tübingen 2007, 440.

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plikat der matthäischen Erzählung prägnant zur Sprache: „Herodes kann kein wahrer König der Juden sein, wenn er Israels Kinder wegen Jesus [sic!] tötet.“51

3. Fazit Der „Kindermord zu Bethlehem“ scheint fiktiv. 52 Die Geschichte erklärt sich als das Ergebnis literarischer Fiktion, einer Fiktion, die angesichts des zeitgenössischen Herodesbildes indes einen hohen Grad an Plausibilität beanspruchen kann.53 Im narrativen Kontext des Matthäusevangeliums kommt ihr eine spezifische Funktion zu: Erstens motiviert sie den Ortswechsel von Bethlehem nach Nazareth. Zweitens kontrastiert sie auf eindrucksvolle Weise die Tyrannei des regierenden Herrschers im Sinne eines totaliter aliter mit der Vorstellung vom Reich des Davididen Jesus, dem wahren basileu.j tw/n VIoudai,wn.

Abstract The story of the Massacre of the Innocents forms part of the prologue to Matthewʼs Gospel. The evangelist presents Jesus as the Messianic King and Son of David, whose origin from Bethlehem is predicted in prophecy. This stands in contrast to the tradition of the origin of Jesus from Nazareth. Matthew brings both portrayals together by means of that story, which Josephus does not seem to know. The persecution by Herod, who is described as cruel, causes the Holy Family to flee to Egypt and to return subsequently to Israel. In the narrative context of the Gospel, the Massacre of the Innocents has a specific literary function: it motivates the change of

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LUZ, Matthäus (s. Anm. 7), 185. Ob die Erzählung schriftlichem oder mündlichem Sondergut entstammt oder vie lmehr ohne Anhaltspunkt in der Tradition aus des Evangelisten eigener Feder floss, lässt sich jedoch m.E. kaum sagen. LUZ, Geschichte (s. Anm. 16), etwa spricht von einem „mündlich überlieferten Erzählkranz“ (a.a.O., 198) und präzisiert an anderer Stelle: „Auch der größte Teil des matthäischen Sonderguts beruht auf Traditionen, auch wenn die (in vielen Fällen erstmalige!) schriftliche Formulierung der Überlieferungen durch den Evangelisten sehr stark von seinen Spracheigentümlichkeiten geprägt ist. Dies gilt z.B. für den Erzählzyklus Mt 1,18–2,23 […]“ (a.a.O., 202). 53 Vgl. stellvertretend für das Ergebnis der meisten Kommentierungen z. St. die Bemerkungen zur Historizität von LUZ, Matthäus (s. Anm. 7), 183: „Jede Sage oder Legende knüpft an allgemeine historische Gegebenheiten an und erzählt Ereignisse, die hätten geschehen können“. 52

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location from Bethlehem to Nazareth, and contrasts the tyrant Herod with the „Prince of Peace, Lord Jesus Christ“.

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Zur narrativen Funktion der Taufe Jesu im Markusevangelium Thomas Schumacher

1. Der historische Jesus und die Johannestaufe Die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer gehört nicht nur zu den bestüberlieferten Begebenheiten im Leben Jesu,1 sondern sie zählt zugleich zu den wenigen Ereignissen, die im Rahmen der ‚Rückfrage nach dem historischen Jesus‘ als nahezu gesichert gelten, ja, sie scheint sogar, wie Ed Parish Sanders betont, „almost indisputable“2 zu sein. Dies ist insofern bemerkenswert, als es sich bei der Botschaft des Täufers um eine prophetische Gerichtspredigt handelt, die mit einer radikalen Forderung nach Umkehr verbunden ist. Diese Umkehrpredigt des Johannes findet zugleich ihren spezifischen Ausdruck in einer rituellen Waschung – der sogenannten ‚Johannestaufe‘ –, die der Täufer an Umkehrwilligen vollzieht und die für ihn derart kennzeichnend ist, dass er infolgedessen als baptisth,j bezeichnet wird.3 Wenn Jesus sich nun diesem Wasserritus unterzieht, so scheint damit seine eigene Umkehr und Buße und damit auch ein entsprechendes Sündenverständnis implizit verbunden zu sein.4 In der historischen Jesusforschung geht man deshalb davon aus, dass Jesus vor der Zeit seines öffentlichen Wirkens in Kontakt zu Johannes dem Täufer gekommen ist, dass er

1

Vgl. Mt 3,13–17; Mk 1,9–11; Lk 3,21f.; Joh 1,29–34; Apg 10,37f. E. P. SANDERS, Jesus and Judaism, London 1985, 7; vgl. hierzu auch I. B ROER, Die Bedeutung der historischen Rückfrage nach Jesus und die Frage nach deren Methodik, in: L. Schenke u.a. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 19–41, 41. 3 Vgl. J. G NILKA, Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte. Sonderausgabe, Freiburg/Basel/Wien 31993, 80. 4 Vgl. etwa G. T HEISSEN/A. M ERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 4 2011, 193; G NILKA, Jesus von Nazareth (s. Anm. 3), 83f.; S. SCHREIBER, Begleiter durch das Neue Testament, Düsseldorf 2006, 234f. 2

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sich vom Inhalt seiner Botschaft „überzeugen ließ und dass er [sich] wie viele andere Juden auch […] nach Ablegung eines Sündenbekenntnisses […] dem Tauchritus im Jordan unterzogen hat“5. Von daher schließt man auch nicht aus, dass Jesus sich zunächst dem Schülerkreis des Johannes angeschlossen hatte, bevor er selbst begann, „eigene Wege zu gehen“6. Doch eben diese Abhängigkeit Jesu von Johannes dem Täufer „bereitete der urchristlichen Verkündigung sichtbar Verlegenheit“ 7 . Jedenfalls ist auffällig, dass mehrfach in der Evangelienliteratur das Verhältnis zwischen Jesus und Johannes thematisiert und entsprechend präzisiert wird, und zwar vor allem, um den historisch naheliegenden Befund als Missverständnis zu qualifizieren. So findet sich im Matthäusevangelium ein Zwiegespräch zwischen Jesus und Johannes, in dessen Verlauf sich der Täufer zunächst weigert, den Wasserritus an Jesus durchzuführen; der matthäischen Fassung zufolge schien es dem Täufer also angemessener, dass Jesus ihn tauft und nicht umgekehrt.8 Und eben dieses Motiv wird in dem apokryphen Ebionäerevangelium dann noch weiter ausgestaltet: dort wird nämlich erzählt, wie der Täufer vor Jesus niederkniet und ihn um die Taufe bittet.9 Im Lukasevangelium ist „diese Distanzierung von Täufer und Jesus“ dann sogar „noch weiter fortgeschritten“10, denn um alle Missverständnisse zu vermeiden, wird die Taufe Jesu (Lk 3,21f.) erst nach dem Hinweis auf die Inhaftierung des Johannes (Lk 3,19f.) erwähnt, so dass diese narrative Abfolge geradezu den Eindruck erweckt, als wolle der Verfasser des Lukasevangeliums bei seiner Darstellung der Taufe Jesu bewusst auf die namentliche Erwähnung des Täufers verzichten. Doch die Frage, ob aus der Überlieferung, dass Jesus sich der Johannestaufe unterzogen hat, eine entsprechende Sündhaftigkeit Jesu abgeleitet werden könne, wird dennoch aufgegriffen. So betont beispielsweise das Johannesevangelium, dass Jesus zwar mit Sünden beladen zum Täufer kommt, doch handelt es sich dabei um die „Sünden der Welt“11 und nicht

5 M. W OLTER, „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas (WUNT 236), Tübingen 2009, 31–63, 33. 6 W OLTER, „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer (s. Anm. 5), 33. 7 T HEISSEN/M ERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 4), 192. 8 Vgl. Mt 3,14f. 9 Vgl. EbEv 2. 10 T HEISSEN/M ERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 4), 193. 11 Vgl. Joh 1,29.

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um seine eigenen, und im apokryphen Nazoräerevangelium betont Jesus ausdrücklich, dass er keiner Sündenvergebung bedarf.12

2. Beobachtungen zur markinischen Fassung der Taufe Jesu Was die markinische Fassung der Taufe Jesu betrifft, so stellt sich vor dem Hintergrund des beschriebenen historischen Befundes zunächst die Frage, ob sich in diesem Evangelium nicht vergleichbare Akzentuierungen ausmachen lassen, wie sie auch in den anderen Evangelien zu finden sind. Im Zusammenhang mit dieser Frage fällt sicherlich die Identifizierung Jesu mit dem vom Täufer angekündigten ‚Stärkeren‘ (Mk 1,7), der nach ihm kommt und dessen Schuhriemen er zu lösen nicht würdig ist, ins Auge, was dann auch noch durch eine Himmelsstimme am Ende der Taufperikope bestätigt wird: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir fand ich Gefallen“13. Es fällt zudem auf, dass der Täufer in Mk 1,8 sein eigenes Wirken dem Wirken dieses Stärkeren unterordnet, denn während Johannes mit Wasser tauft (evgw. evba,ptisa u[dati), wird der Stärkere nach Mk 1,8 mit „Heiligem Geist taufen“ (auvto.j bapti,sei evn pneu,mati a`gi,w|). 2.1 Zu den syntaktischen Konstruktionen von bapti,zw im Markusevangelium Neben diesen Beobachtungen ist aber auch die Verwendung des Verbs bapti,zw auffällig, und zwar vor allem wegen der unterschiedlichen syntaktischen Verbindungen, mit denen Markus dieses Verb konstruiert. Bemerkenswerterweise differenziert das Markusevangelium nämlich mittels der Präpositionen eivj und evn zwischen der Taufe Jesu und der Bußtaufe der Umkehrwilligen. Im Hinblick auf die Taufe Jesu findet sich in Mk 1,9 nämlich die Konstruktion mit eivj (bapti,zein eivj), während bei der Umkehrtaufe in Mk 1,5 die Präposition evn verwendet wird (bapti,zein evn). In diesem Zusammenhang wird man zwar bedenken müssen, dass der Gebrauch von Präpositionen in der Koine nicht immer ganz präzise erfolgt,14 doch da in der vorliegenden Textpassage die Präpositionen eivj und evn in räumlicher Nähe zueinander stehen und beide Male eine Konstruktion mit dem Verb bapti,zw vorliegt, sollte man diese sprachliche Auffälligkeit 12

Vgl. NazEv 5. Zitiert nach: J. H AINZ (Hg.), Münchener Neues Testament. Studienübersetzung, Ostfildern 92010. 14 Vgl. hierzu F. B LASS/A. D EBRUNNER, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. Bearbeitet von F. R EHKOPF, Göttingen 171990, 166; M. R EISER, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments (UTB 2197), Paderborn u.a. 2001, 17f. 13

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nicht vorschnell als unpräzisen Sprachgebrauch oder als sprachliche Varianz auffassen. Jedenfalls lässt sich selbst in der Koine immer noch ein deutlicher Unterschied zwischen den unterschiedlichen Präpositionen ausmachen, und zwar vor allem dann, wenn verschiedene Präpositionen auf engem Raum verwendet werden. Nimmt man die Verwendung der Präpositionen eivj und evn im Rahmen der markinischen Tauferzählung also ernst und sieht in bapti,zein eivj und bapti,zein evn keine synonymen Formulierungen, dann hat dies unmittelbare Konsequenzen für die Frage nach der Semantik des Verbs bapti,zw. 2.2 Zur Semantik von bapti,zw in Mk 1,9 Wenn in Mk 1,9, um mit diesem Vers zu beginnen, die Formulierung evbapti,sqh eivj to.n VIorda,nhn zu lesen ist, so dürfte sich angesichts der Präposition eivj eine Wiedergabe von bapti,zw mit ‚taufen‘ kaum anbieten. Jedenfalls wäre bei der Übersetzung, dass Jesus „in den Jordan (hinein)‚ge-tauft‘ wurde“ die Bedeutung des Übersetzungsäquivalents ‚taufen‘ äußerst unklar. Geht man nämlich bei der Johannestaufe von einer Ganzkörpertaufe aus, die aus Untertauchen und Auftauchen besteht, so bliebe fraglich, wieso das Markusevangelium betonen würde, dass dieser als ‚Taufe‘ bezeichnete Ritus „in den Jordan hinein“ geschieht. Viel eher würde man vermutlich den Gedanken erwarten, dass dieses Geschehen im Jordan vollzogen wurde – also so, wie es dann auch von den meisten Übersetzungen ausgedrückt wird: er „ließ sich taufen von Johannes im Jordan“; so beispielsweise die Lutherübersetzung. Doch eine solche Wiedergabe würde im Griechischen die Präposition evn verlangen, also: evbapti,sqh evn tw/| VIorda,nh|. Diese Schwierigkeit ließe sich jedoch vermeiden, wenn man an dieser Textstelle nicht mit ‚taufen‘, sondern mit ‚tauchen‘ oder ‚hineintauchen‘ übersetzen würde. Dies wäre den Verwendungsmöglichkeiten von bapti,zw im Griechischen durchaus angemessen und würde zugleich der Präposition eivj gerecht werden. Dann aber würde Mk 1,9 den Gedanken zur Sprache bringen, dass Jesus von Johannes in den Jordan (hinein-)getaucht wird.15 Mit dieser semantischen Frage ist zugleich ein sehr viel grundsätzlicheres Problem verbunden. Letztlich geht es nämlich darum, ob im Markusevangelium das Verb bapti,zw bereits im Sinne eines christlichen terminus technicus verwendet wird, der dann gewöhnlich mit ‚taufen‘ wiedergegeben wird, oder ob dieses Verb noch ganz im Sinne des profangriechischen

15

Vgl. N. B AUMERT, Charisma – Taufe – Geisttaufe. Bd. 2: Normativität und persönliche Berufung, Würzburg 2001, 50.

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Sprachgebrauchs verwendet wird. 16 Insofern berührt diese sprachlichsyntaktische Beobachtung nicht nur die Frage nach der Semantik von bapti,zw in Mk 1,9, sondern es geht grundsätzlich darum, wie Markus das Verb bapti,zw und seine Derivate gebraucht. Doch ehe sich der Blick auf den markinischen Sprachgebrauch richtet, sollen zunächst die profangriechischen Verwendungsmöglichkeiten von bapti,zw in Erinnerung gerufen werden.

3. Zur Semantik von bapti,zw im griechischen Sprachgebrauch Etymologisch leitet sich das Intensivum bapti,zw von dem älteren Grundwort ba,ptw her und teilt mit diesem einen wesentlichen Teil seiner Verwendungsmöglichkeiten. 17 Die ursprüngliche Bedeutung und Grundvorstellung von ba,ptw wie auch von bapti,zw ist der Vorgang des Eintauchens oder Untertauchens. Und dieser Vorgang bezieht sich keinesfalls in exklusiver Weise auf das Medium Wasser, wie man vielleicht im Hinblick auf den christlichen Taufritus annehmen könnte. Grundsätzlich kann nämlich jeder Eintauch- oder Untertauchvorgang mit diesem Wort zur Sprache gebracht werden: also beispielsweise, wenn man ein Tongefäß vor dem Brennen in Glasur taucht, wenn man ein Stück Tuch zum Einfärben in Farbe tränkt, wenn man ein glühendes Eisen zum Härten in Wasser taucht oder wenn man einen Pfeil vor dem Schuss in Gift hineintaucht, aber auch wenn man im Sumpf versinkt oder wenn ein Schiff im Meer untergeht. Bei allen diesen Beispielen geht es nämlich um eine Bewegung in etwas hinein – sei es nun in Wasser, Farbe oder Glasur. Vor diesem Hintergrund werden nun auch zahlreiche Sonderbedeutungen verständlich, die in den gängigen Griechisch-Wörterbüchern angegeben werden, wie eben ‚glasieren‘, ‚färben‘ oder ‚härten‘.18

16

Vgl. hierzu T. SCHUMACHER, Zur Entstehung christlicher Sprache. Eine Untersuchung der paulinischen Idiomatik und der Verwendung von pi,stij (BBB 168), Göttingen 2012. 17 Zur Semantik von ba,ptw und bapti,zw vgl. H. M ENGE, Langenscheidts Großwörterbuch. Griechisch-Deutsch, Berlin u.a. 271991, s.v.; F. PASSOW, Handwörterbuch der griechischen Sprache, Leipzig 51841–1857 (reprint Darmstadt 2008), s.v.; H. G. L IDDELL/R. SCOTT/H. S. JONES (Hg.), A Greek-English Lexicon. With a Revised Supplement, Oxford 9 1996, s.v. sowie W. B IEDER, Art. bapti,zw ktl., in: EWNT I (21992), 459–469; A. O EPKE , Art. ba,p tw ktl., in: ThWNT 1 (1933), 527–544; B AUMERT , Charisma – Taufe – Geisttaufe, Bd. 2 (s. Anm. 15), 44–49. 18 Vgl. M ENGE, Langenscheidts Großwörterbuch (s. Anm. 17), s.v.; F. PASSOW, Handwörterbuch der griechischen Sprache (s. Anm. 17), s.v.; L IDDELL/SCOTT/JONES (Hg.), A Greek-English Lexicon (s. Anm. 17), s.v.

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Vom Vorgang des Eintauchens leiten sich dann die weiteren Bedeutungsmöglichkeiten und Anwendungsfelder ab, die letztlich alle aus dem Eintauchen oder Untertauchen resultieren. Dies gilt zum Beispiel für ‚schöpfen‘, also: füllen durch untertauchen, für ‚baden‘ und für ‚waschen‘, also: reinigen durch Tauchen in Wasser, für ‚vergiften‘, also eintauchen in Gift, oder für ‚untergehen‘ und ‚versinken‘, wie im Falle eines Schiffes, das ‚untergetaucht‘ wird, das heißt: das ‚untergeht‘. Von der Grundvorstellung von ba,ptw und bapti,zw wird man sich unter einer ‚Schiffs-Taufe‘ also etwas deutlich anderes vorstellen müssen, wie in unserem Sprachgebrauch. Alle genannten Wortverwendungen sind sowohl für ba,ptw wie auch für bapti,zw belegt, und in all diesen Anwendungsbereichen teilen sich das Grundwort und das Intensivum das semantische Feld. Doch im Unterschied zu ba,ptw, „das immer bei der lokalen Bedeutung stehen[bleibt]“19, kann bapti,zw auch in übertragenem Sinn gebraucht werden. Es kommt beispielsweise zur Verwendung, wenn es um einen Eintauchvorgang – oder auch das Resultat eines solchen – in etwas Ungegenständliches oder in etwas Nichtmaterielles handelt. So kann mit bapti,zw ausgesagt werden, dass man in Ohnmacht sinkt, in tiefen Schlaf fällt oder in Rausch und Trunkenheit abtaucht. Und so entwickeln sich aus der Grundvorstellung des Untertauchens und Versinkens auch solche Bedeutungen wie: ‚zugrundegehen‘, ‚umkommen‘ oder ‚sterben‘. 20 Der Ausgangspunkt ist bei allen diesen Wortbedeutungen der Vorgang des Hineintauchens oder Versinkens, sei es nun in etwas Materielles oder in etwas Ungegenständliches.

4. Beobachtungen zur markinischen Verwendung von bapti,zw ktl. Vor dem Hintergrund dieser sprachlichen Möglichkeiten soll sich nun im Folgenden der Blick auf die markinische Wortverwendung von bapti,zw und seinen Derivaten richten. Und dabei soll es, wie bereits angedeutet, um die Frage gehen, ob wir im Markusevangelium schon einen spezifisch christlichen Sprachgebrauch greifen können, ob hier an die johanneische Umkehrtaufe gedacht ist oder ob bapti,zw noch in seinem ursprünglichen Sinn verwendet wird. Es ist nämlich durchaus zu erwägen, ob Markus die

19

B AUMERT, Charisma – Taufe – Geisttaufe, Bd. 2 (s. Anm. 15), 45. Vgl. M ENGE, Langenscheidts Großwörterbuch (s. Anm. 17), s.v.; PASSOW, Handwörterbuch der griechischen Sprache (s. Anm. 17), s.v.; L IDDELL/SCOTT/JONES (Hg.), A Greek-English Lexicon (s. Anm. 17), s.v. sowie B AUMERT, Charisma – Taufe – Geisttaufe, Bd. 2 (s. Anm. 15), 44–69. 20

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Konstruktion bapti,zein eivj bewusst verwendet, um die Assoziation einer Sündentaufe Jesu zu vermeiden, indem er nicht von ‚Taufe‘ im eigentlichen Sinne spricht, oder schärfer noch: ob der Verfasser des Markusevangeliums überhaupt eine ‚Taufe Jesu‘ im Blick hat. Damit knüpfen die folgenden Überlegungen an die sprachlichen Beobachtungen zur Verwendung von bapti,zw und die Konstruktion bapti,zein eivj to.n VIorda,nhn an. 4.1 Die Verwendung von bapti,zw und baptismo,j in Mk 7,4 Ein erster Blick richtet sich dabei auf die Verwendung von bapti,zw und baptismo,j in Mk 7,4, wo beide Begriffe im Zusammenhang mit Reinheit und Unreinheit gebraucht werden. An dieser Stelle findet sich das Verb bapti,zw im Hinblick auf die jüdische Praxis der rituellen Waschung vor dem Essen und wird im Sinne von ‚waschen‘, ‚reinigen‘ gebraucht.21 Dabei nimmt bapti,zw das Verb ni,ptw von Mk 7,3 auf, das auf die Reinigung der Hände vor dem Essen bezogen ist. Auf derselben semantischen Linie liegt dann auch die Nominalbildung baptismo,j, die nur an dieser einen Stelle im Markusevangelium belegt ist und die auf das Waschen von Bechern, Schüsseln und Töpfen und – was jedoch textkritisch unsicher ist – von Betten bzw. Bänken (kli,nh) bezogen ist. Eine Deutung von bapti,zw und baptismo,j im Sinne der christlichen Wassertaufe ist an dieser Textstelle somit auszuschließen und eine Übersetzung mit ‚waschen‘ bzw. ‚Waschung‘ sicherlich die naheliegende.22 Insofern ist Mk 7,4 ein unstrittiger Beleg für die markinische Verwendung von bapti,zw und baptismo,j im Sinne des damaligen griechischen Sprachgebrauchs. Da sich diese Textstelle auf die jüdische Reinigungspraxis bezieht und ba,ptw bzw. bapti,zw in den übersetzten Teilen der Septuaginta fast ausnahmslos zur Wiedergabe von ‫ ט ב ל‬verwendet wird,23 dürfte im Hintergrund dieser Textstelle vermutlich gar ein hebräisches oder aramäisches Äquivalent stehen. In diese Richtung weist zumindest die Beobachtung, dass baptismo,j auch in Hebr 9,10 zur Bezeichnung ritueller jüdischer Waschungen verwendet wird. 24 Es ist vor diesem Hintergrund also gewiss

21

Vgl. hierzu R. PESCH, Das Markusevangelium. Erster Teil (1,1–8,26) (HThK), Freiburg u.a. 1976, 370–372; J. G NILKA, Das Evangelium nach Markus (Mk 1–8,26) (EKK II/1), Zürich u.a. 1978, 280–282; P. D SCHULNIGG, Das Markusevangelium (ThKNT 2), Stuttgart 2007, 204. 22 Vgl. hierzu die entsprechende Wiedergabe der Lutherübersetzung und der Einheitsübersetzung. 23 Vgl. E. H ATCH/H. A. R EDPATH (Hg.), A Concordance to the Septuagint and the Other Greek Versions of the Old Testament, Grand Rapids 21998, s.v. 24 Vgl. B IEDER, Art. bapti,zw ktl. (s. Anm. 17), 468.

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bemerkenswert, wenn Flavius Josephus gerade den Begriff baptismo,j verwendet, um die Tätigkeit Johannes des Täufers zu beschreiben.25 4.2 Die Verwendung von bapti,zw und ba,ptisma in Mk 10,38f. Ein zweiter Blick gilt einem sehr viel strittigeren Gebrauch von bapti,zw und ba,ptisma; er findet sich in Mk 10,38f., also innerhalb des Gespräches Jesu mit den Zebedaidensöhnen, die ihn um Ehrenplätze zu seiner Rechten und Linken in der Herrlichkeit bitten. Darauf antwortet Jesus ihnen zunächst mit einer bildhaften Rückfrage (Mk 10,38), durch die er ihnen die Konsequenzen ihrer Bitte vor Augen führt: „Ihr wißt nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?“26 Dieselben Bildmotive werden in einem zweiten Ausspruch Jesu (Mk 10,39) nochmals aufgegriffen und wiederholt, und zwar nachdem die beiden Zebedaidensöhne diese erste Rückfrage positiv für sich beantwortet haben: „Ihr werdet […] den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde“.27 Sowohl die erste Rückfrage Jesu wie auch seine abschließende Antwort ist in Form eines Wortspiels formuliert und besteht beide Male aus den parallelen Motiven ‚Kelch‘ (poth,rion) und ‚Taufe‘ (ba,ptisma) bzw. den dazugehörigen Verben ‚trinken‘ (pi,nw) und ‚taufen‘ (bapti,zw). Beide Bildmotive werden ganz offensichtlich im Hinblick auf das Leiden und das Martyrium Jesu sowie ein entsprechendes Geschick der Zebedaidensöhne gebraucht. Im Falle von poth,rion bereitet dieser bildhafte Sprachgebrauch keine weiteren Schwierigkeiten, denn schließlich nimmt die Bitte Jesu in Mk 14,36 („Nimm diesen Kelch von mir!“) genau diese Formulierung auf.28 Sehr viel mehr Probleme bereitet indes die Frage, wie ba,ptisma und bapti,zw in diesem Zusammenhang zu verstehen sind und auf welche ‚Taufe‘ Jesu sie verweisen. Auf die Johannestaufe scheint sich dieser Textabschnitt jedenfalls nur schwer beziehen zu lassen, denn dann wäre kaum mit einer präsentischen Formulierung mit futurischem Sinn zu rechnen. Daher hat man in diesem ‚Taufmotiv‘ schon einen verborgenen Hinweis auf die Auferstehung Jesu gesehen, so dass die Begriffe ‚Kelch‘ (poth,rion) und ‚Taufe‘ (ba,ptisma) als Chiffre für den Tod und die Auferstehung zu lesen

25

Vgl. Jos, Ant 18,116. Zitiert nach: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 27 Zitiert nach: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 28 Vgl. hierzu etwa PESCH, Das Markusevangelium (s. Anm. 21), 156f.; D SCHULNIGG, Das Markusevangelium (s. Anm. 21), 284f.; W. SCHMITHALS, Das Evangelium nach Markus. Kapitel 9,2–16,20 (ÖTK 2/2), Gütersloh/Würzburg 21986, 467. 26

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wären.29 Es finden sich aber auch Erklärungsversuche, bei denen poth,rion und ba,ptisma in Beziehung zum Abendmahl und zum christlichen Taufritus gesetzt werden. Insgesamt aber haben alle diese Erklärungsversuche mit einer Schwierigkeit zu kämpfen, nämlich dass die Begriffe poth,rion und ba,ptisma in Mk 10,38f. in dieselbe Richtung zu weisen scheinen, wobei der nächstliegende Bezug von ba,ptisma auf der Ebene der markinischen Jesuserzählung bereits weit zurückliegt, sodass der Verweis in die Zukunft letztlich ins Leere läuft. Bedenkt man in diesem Zusammenhang jedoch die unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten von bapti,zw, dann lassen sich beide Motive durchaus in einem ähnlichen Sinn verstehen.30 Schließlich kann das Verb bapti,zw, wie bereits erwähnt, auch im Sinne von ‚zugrundegehen‘, ‚umkommen‘ oder ‚sterben‘ gebraucht werden. Einer der bekanntesten Textbelege für diesen Sprachgebrauch findet sich bei Flavius Josephus, der das Verb bapti,zw verwendet, um das Zugrunderichten und Zerstörtwerden einer Stadt auszudrücken.31 Mit der Semantik von bapti,zw ist also, wie bereits dargelegt, keineswegs die Vorstellung des Hineintauchens in Wasser zwingend impliziert, so dass man allein aus der Verwendung von bapti,zw keine allzu weit reichenden Schlüsse ziehen sollte. Und dies gilt dann in gleicher Weise für die Nominalbildung ba,ptisma. Zwar ist dieses Nomen erst in späterer Zeit belegt – schließlich handelt es sich, wie die Endung -ma bezeugt, um eine ganz typische Wortbildung der Koine32 –, doch grundsätzlich wird man davon ausgehen können, dass ba,ptisma semantisch ganz auf der Linie des Verbums liegt.33 Was also die Frage nach der Verwendung von bapti,zw und ba,ptisma in Mk 10,38f. betrifft, so wäre die fragliche Formulierung durchaus verständlich, wenn man sie in der Linie des Kelchwortes liest. Dann wäre die wortspielerische Konstruktion mit bapti,zw und ba,ptisma im Deutschen vielleicht am besten getroffen, wenn man ‚untergehen‘ bzw. ‚Untergang‘ als Übersetzungsäquivalente wählen würde – also: „Könnt ihr untergehen mit

29 Vgl. J. E RNST, Das Evangelium nach Markus (RNT), Regensburg 1981, 308; K. M. SCHMIDT, Wege des Heils. Erzählstrukturen und Rezeptionskontexte des Markusevangeliums (NTOA 74), Göttingen 2010, 83f. 30 Vgl. B AUMERT, Charisma – Taufe – Geisttaufe, Bd. 2 (s. Anm. 15), 66f.102f. 31 Vgl. Jos, Bell 4,137; vgl. hierzu auch B AUMERT, Charisma – Taufe – Geisttaufe, Bd. 2 (s. Anm. 15), 66. 32 B LASS/D EBRUNNER/R EHKOPF, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch (s. Anm. 14), 87f.; E. SCHWYZER, Griechische Grammatik, Bd. 1 (HAW II/1.1), München 5 1977, 128. 33 Die Nominalbildung ba,ptisma ist nur in der jüdischen und christlichen Tradition belegt. Ähnliches nahm man lange auch für baptismo,j an, doch mittlerweile sind auch einzelne Belege außerhalb dieses Einflussbereiches bekannt.

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einem Untergang, den ich untergehe?“ (Mk 10,38) bzw. „Ihr werdet untergehen mit einem Untergang, den ich untergehe“ (Mk 10,39).34 Grundsätzlich wäre aber auch eine Übersetzung mit ‚Tod‘ und ‚sterben‘ möglich: „Könnt ihr den Tod sterben, den ich sterbe?“ bzw. „Ihr werdet den Tod sterben, den ich sterbe“. Auffällig ist nun aber die syntaktische Ausgestaltung von Mk 10,38f., denn die verwendete figura etymologica lässt die Vermutung zu, dass im Hintergrund der markinischen Formulierung eine hebräische bzw. aramäische Formulierung steht. Bedenkt man nämlich, dass die Septuaginta bapti,zw ausschließlich zur Wiedergabe von ‫ ט ב ל‬verwendet35 und dass dieses, ähnlich wie sein griechisches Äquivalent, auch im Sinne von ‚Bedrängnis‘, ‚tödlicher Bedrohung‘ und ‚Versinken im Unheil‘ gebraucht wird,36 so lässt sich eine hebräische oder aramäische Vorlage, die hinter Mk 10,38f. steht, kaum ausschließen. Dafür würde zumindest die Beobachtung sprechen, dass diese Art der figura etymologica zwar nicht nur im Hebräischen bzw. Aramäischen, sondern auch im Griechischen beheimatet ist, doch in hellenistischer Gräzität nur noch äußerst selten verwendet wird. Insofern besteht durchaus die Möglichkeit, dass die markinische Formulierung auf eine hebräische oder aramäische Vorlage zurückgeht, die „im palästinischen Bereich“37 entstanden sein dürfte und die womöglich gar auf den historischen Jesus zurückzuführen ist. Insofern wäre die Verwendung von bapti,zw und ba,ptisma nicht als wortspielerische Bezugnahme auf die Johannestaufe oder gar auf die christliche Wassertaufe zu verstehen, sondern es würde sich um die nächstliegende Wiedergabe einer hebräischen bzw. aramäischen figura etymologica mit ‫ ט ב ל‬handeln, die auf jenen ‚Untergang‘ bezogen wäre, den der Tod Jesu darstellt. Dann aber würde auch in Mk 10,38f. eine Wortverwendung von bapti,zw bzw. ba,ptisma vorliegen, die ganz dem griechischen Sprachgebrauch entspricht.

34

Vgl. B AUMERT, Charisma – Taufe – Geisttaufe, Bd. 2 (s. Anm. 15), 67. Vgl. H ATCH/R EDPATH (Hg.), A Concordance to the Septuagint (s. Anm. 23), s.v. 36 Vgl. W. G ESENIUS, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Berlin u.a. 171959, s.v.; W. G ESENIUS, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Bd. 2, Berlin u.a. 181995, s.v.; L. K ÖHLER/W. B AUMGARTNER, Hebräisches und aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Bd. 2, Leiden 31974, s.v. sowie B AUMERT, Charisma – Taufe – Geisttaufe, Bd. 2 (s. Anm. 15), 67. 37 G. D ELLING, Ba,ptisma baptisqh/nai, in: ders., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze 1950–1968, hg. von F. Hahn/T. Holtz/N. Walter, Berlin 1970, 236–256, 241f. 35

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4.3 Die übrigen Belege für bapti,zw, ba,ptisma und baptisth,j Die Untersuchung der markinischen Verwendung von bapti,zw und seinen Derivaten soll mit dem Blick auf einige weitere Belege aus dem Markusevangelium abgeschlossen werden. Es finden sich zwar über die hier berücksichtigten Stellen hinaus noch weitere Beispiele für bapti,zw, ba,ptisma und baptisth,j, doch stehen diese in engem Zusammenhang mit Johannes dem Täufer, nämlich um ihn selbst oder seine Tätigkeit näher zu bestimmen.38 Insofern hängt die Frage nach der Semantik jener Belege unmittelbar damit zusammen, wie man diese Tätigkeit genau versteht. Vor dem Hintergrund der bisherigen Beobachtungen stellt sich nämlich durchaus die Frage, ob mit der Bezeichnung ‚Täufer‘ nicht schon Vorstellungen verbunden sind, die bereits über die markinische Wortverwendung hinausgehen. Jedenfalls wäre eine Beschreibung der johanneischen Praxis ebenso denkbar, bei der man auf den ‚Täufer‘-Begriff gänzlich verzichtet und davon spricht, dass Johannes ein ‚Tauch‘- oder ‚Reinigungsbad‘ vollzieht. Auf diese Frage wird nach einem erneuten Blick auf die markinische Fassung der ‚Taufe‘ Jesu noch einmal einzugehen sein. Für jene Belege aber, die bislang zur Sprache gekommen sind, lässt sich indes festhalten, dass die Verwendung von bapti,zw im Markusevangelium (noch) keine spezifisch christliche Sprache erkennen lässt, sondern dass der Wortgebrauch sich ganz auf dem Boden der griechischen Sprache jener Zeit bewegt. Anders verhält es sich hingegen mit einer letzten Belegstelle für bapti,zw, auf die abschließend noch verwiesen sein soll. Sie findet sich in Mk 16,16 und damit im sekundären Markusschluss, also jenem Textabschnitt, der frühestens im 2. Jahrhundert dem ursprünglich mit 16,8 endenden Markusevangelium beigefügt worden ist. Und hier haben wir es jetzt mit einem sehr viel spezifischeren Sprachgebrauch zu tun, den man dann auch mit ‚taufen‘ wiedergeben sollte. Insofern stellt die Verwendung von bapti,zw in Mk 16,16 gewissermaßen die ‚Gegenprobe‘ zu den bisherigen Beobachtungen dar und bestätigt die Vermutung, dass in den frühesten Texten des Neuen Testaments die Herausbildung einer spezifisch christlichen Sprache mit all ihren termini technici noch lange nicht abgeschlossen ist.39 Dieser Ausblick auf die markinische Idiomatik von bapti,zw ktl. bestätigt somit die anfänglichen Erwägungen zur Verwendung der Präpositionen evn und eivj in Mk 1,5 und Mk 1,9 sowie die damit verbundenen semantischen Überlegungen.

38 39

Vgl. Mk 1,4.5.8.9; 6,14.24f.; 8,28; 11,30. Vgl. hierzu SCHUMACHER, Zur Entstehung christlicher Sprache (s. Anm. 16).

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4.4 Weitere Beobachtungen zur markinischen Fassung der Taufe Jesu Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen soll der Blick erneut auf die markinische Fassung der Taufe Jesu gerichtet werden. Dabei wird zunächst einmal festzuhalten sein, dass mit der Wendung bapti,zein eivj in Mk 1,9 nur der Vorgang des Eintauchens oder Untertauchens zur Sprache kommt, nicht aber der des Auftauchens. Diese besondere Akzentuierung des Markusevangeliums wird jedoch verstellt, wenn man in Mk 1,9 übersetzt, dass Jesus von Johannes im Jordan getauft wurde. Denn mit einer solchen Wiedergabe geht die Vorstellung einher, dass es sich bei dem beschriebenen Geschehen um ein Tauchbad handelt, das aus ein-tauchen und auf-tauchen besteht. Dann aber wird auch nicht deutlich, dass in Mk 1,10 mit avnabai,nw der Vorgang des Auftauchens explizit zur Sprache gebracht wird. Denn mit dem Verb avnabai,nw, so ist dem Wörterbuch von Walter Bauer zu entnehmen, wird grundsätzlich eine „nach oben gerichtete […] Bewegung“40 ausgedrückt, und im „Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament“ betont Johannes Schneider explizit: „Die Grundbedeutung ist die lokale: aus der Tiefe in die Höhe emporsteigen“.41 Die Grundvorstellung von avnabai,nw legt es also nahe, dieses Verb in Mk 1,9 unmittelbar auf den Auftauchvorgang zu beziehen. In diesem Zusammenhang ist gewiss eine sprachliche Parallele bemerkenswert, die sich in einer Handschrift der Papyrussammlung des Britischen Museums findet.42 In diesem Text geht es nämlich darum, dass man sich in einem Fluss durch untertauchen und auftauchen waschen soll – und zur Beschreibung dieser beiden Vorgänge verwendet der Verfasser dieser Papyrushandschrift dieselbe Terminologie wie das Markusevangelium: nämlich bapti,zein für das Ein- oder Untertauchen und avnabai,nw für das Auftauchen.43 Vor diesem Hintergrund sei nun der Blick auf Mk 1,5 und die Konstruktion bapti,zein evn tw/| VIorda,nh| gerichtet. Was dabei die Frage nach der Verwendung von bapti,zw betrifft, so scheint angesichts der Konstruktion mit evn die Übersetzung ‚taufen‘ zunächst recht problemlos zu sein. Demnach wäre an dieser Stelle zu lesen: „Sie“ – d.h. die Umkehrbereiten aus Judäa und Jerusalem – „ließen sich von ihm taufen im Jordan“; die Wortbedeutung ‚taufen‘ wäre also problemlos mit der Präposition evn zu verbinden. Bedenkt man aber nun, dass nicht nur im unmittelbaren Kontext die-

40

W. B AUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. 6., völlig neu bearbeitete Auflage, hg. v. K. Aland und B. Aland, Berlin/New York, 61988, s.v. 41 J. SCHNEIDER, Art. bai,nw ktl., in: ThWNT 1 (1933), 516–521, 516. 42 Vgl. PLond 121,441. 43 Vgl. hierzu auch die Verwendung von avne,rcomai in PGrM IV,44.

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ser Formulierung (Mk 1,9), sondern auch an weiteren Textstellen des Markusevangeliums die profangriechische Semantik zum Zuge kommt, wird dies auch für Mk 1,5 zu erwägen sein. Zumindest stellt ‚taufen‘ nicht die einzige Übersetzungsmöglichkeit für bapti,zw dar, die im Rahmen einer Konstruktion mit evn denkbar ist – und so kämen für Mk 1,5 auch Bedeutungsmöglichkeiten wie ‚waschen‘, ‚baden‘ oder ‚reinigen‘ in Betracht. Ja, wenn man bedenkt, dass mit unserem heutigen Begriff von ‚Taufe‘ meist schon ein entsprechendes Sündenbekenntnis verbunden ist, scheint in Mk 1,5 die profangriechische Wortbedeutung sogar fast passender zu sein. Jedenfalls differenziert das Markusevangelium an dieser Stelle explizit zwischen dem eigentlichen Wasserritus und einem Sündenbekenntnis. Wenn in der Einheitsübersetzung also zu lesen ist: „sie bekannten ihre Sünden und ließen sich im Jordan taufen“, dann verbinden wir aufgrund der Verwendung des Verbs ‚taufen‘ meist schon bestimmte Vorstellungen mit dem beschriebenen Geschehen, die deutlich über den bloßen Wasserritus hinausgehen. Angesichts unseres religiösen Sprachgebrauchs und unserer Verwendung von ‚Taufe‘ und ‚taufen‘, scheint eine solche Übersetzung also fast irreführend zu sein. Dieses Problem spiegelt sich u.a. in den historischen Rückfragen nach dem Selbstverständnis Johannes des Täufers wider, insbesondere in der Frage, wie er selbst seinen Wasserritus gedeutet hat. In diesem Zusammenhang wird nämlich immer wieder darauf hingewiesen, dass der ‚Johannestaufe‘ bereits „sakramentale“ Bedeutung und „sündenvergebende Kraft“44 zukommt. Doch angesichts der terminologischen Differenzierung zwischen Wasserritus und Sündenbekenntnis sollte man die ‚Johannestaufe‘ nicht theologisch überfrachten. Es wäre daher sicher passender, wenn man in Mk 1,5 übersetzen würde: „Sie wurden ‚von ihm im Jordan gebadet/gewaschen‘ und sie bekannten ihre Sünden.“ Oder auch: „Sie wurden ‚von ihm im Jordan gebadet/gewaschen‘, während sie ihre Sünden bekannten“; 45 beide Übersetzungsvarianten wären mit den Verwendungsmöglichkeiten von kai, zumindest vereinbar. Somit würde selbst an dieser Textstelle kein spezifisch christlicher Sprachgebrauch verwendet werden, sondern auch in diesem

44 Vgl. etwa T HEISSEN/M ERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 4), 190. Was dabei die Verwendung von eivj in Mk 1,4 betrifft (eivj a;fesin a`martiw/n), so muss diese Präposition nicht im Sinne einer kausalen Abhängigkeit gelesen werden. Man kann an dieser Stelle auch den Gedanken formuliert sehen, dass die Umkehrwaschung ‚wegen‘, ‚für‘ oder ‚in Hinsicht auf‘ die ‚Vergebung von Sünden‘ vollzogen wird. Dann wäre die äußere Waschung als ritueller Ausdruck der Umkehr und der erbetenen Sündenvergebung zu verstehen. Vgl. im Zusammenhang dieser Frage auch Jos, Ant 18,116–119. 45 Vgl. B AUMERT, Charisma – Taufe – Geisttaufe, Bd. 2 (s. Anm. 15), 62.

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Fall würde sich das Markusevangelium auf dem Boden der profangriechischen Wortverwendung bewegen. Und diese semantischen Beobachtungen gelten nun in gleicher Weise für jene Bezeichnungen des Johannes und seiner Tätigkeit, die beim Blick auf die markinische Idiomatik bislang ausgespart wurden. Wenn also Johannes als baptisth,j bezeichnet wird, dann geht es nicht darum, ihn in einem umfassenden Wortsinne als ‚Täufer‘ zu verstehen, sondern darum, dass Johannes ein rituelles Reinigungsbad vollzieht und dass diese Praxis für ihn kennzeichnend ist. Es wäre dementsprechend wohl präziser, wenn man nicht von der ‚Taufe des Johannes‘, sondern vielleicht eher vom ‚Reinigungsbad des Johannes‘ sprechen würde und wenn man auch baptisth,j in entsprechender Weise wiedergeben würde, selbst wenn ‚Johannes der Reinigungsbadvollzieher‘ oder ‚Johannes der (Ein-)Taucher‘ im Deutschen doch sehr umständlich und gekünstelt wirken. Diese sprachlichen Beobachtungen zur Verwendung von bapti,zw wird man nun auch im Zusammenhang von Mk 1,8 bedenken müssen. Wenn unter diesem Vers in den gängigen Übersetzungen zu lesen ist, dass Johannes ‚mit Wasser tauft‘, während Jesus ‚mit dem Heiligen Geist tauft‘, dann kann vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen bapti,zw auch an dieser Textstelle im Sinne von ‚reinigen‘ verstanden werden. Demnach wäre der Ritus des Johannes eine Reinigung mit Wasser, während Jesus eine Reinigung vermitteln würde, die auf den Heiligen Geist zurückginge. Was dabei die Dativkonstruktion mit evn betrifft (evn pneu,mati a`gi,w|), so dürfte man diese wohl am einfachsten als dativus instrumentalis verstehen können46, so dass zu übersetzen wäre: „er reinigt euch mit dem (durch den) Heiligen Geist“. Geht man hingegen von dem Übersetzungsäquivalent ‚taufen‘ aus, ist die Konstruktion mit evn – im Unterschied zum bloßen Dativ bei der Wendung evgw. evba,ptisa u`ma/j u[dati – nur schwer zu erklären. Im Hinblick auf die markinische Fassung der Taufe Jesu bleibt also festzuhalten: Das Markusevangelium verwendet im Falle von Jesus nicht nur eine andere Präposition (eivj) wie bei den umkehrbereiten Menschen (evn), es verwendet auch das Verb bapti,zw mit einer anderen semantischen Akzentuierung. Denn während bei Jesus nur der äußere Vollzug des Eintauchens in das Jordanwasser zur Sprache kommt, geht es bei den bußbereiten ‚Täuflingen‘ um deren Reinigung im Kontext eines Sündenbekenntnisses, sodass auf diese Weise das Problem der Waschung Jesu durch Johannes entschärft wird. Somit beschreibt das Markusevangelium in Mk 1,9 zwar einen Ritus, den Johannes an Jesus vollzieht, der aber ohne dieselbe inhaltliche Füllung beschrieben wird, wie bei den Umkehrbereiten, die sich 46

Vgl. B LASS/D EBRUNNER/R EHKOPF, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch (s. Anm. 14), 178.

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in Mk 1,5 dem johanneischen Wasserritus unterziehen. Durch diese sprachliche Differenzierung unterscheidet das Markusevangelium also zwischen Jesus und allen Übrigen.

5. Die Taufe Jesu als Chiffre für Tod und Auferstehung Jesu Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen stellt sich nun die Frage, ob im Markusevangelium eine inhaltliche Füllung oder gar eine Ausdeutung des johanneischen Wasserritus, dem sich Jesus unterzieht, auszumachen ist. 5.1 Die Taufe Jesu und die christliche Wassertaufe Wenn man sich vor Augen führt, dass in Mk 1,9 zwischen Untertauchen und Auftauchen terminologisch differenziert wird und dass zugleich das Verb bapti,zw nur auf den Vorgang des Untertauchens bezogen ist, dann wird man fast zwangsläufig an die Ausdeutung der christlichen Wassertaufe denken, die Paulus in Röm 6 entfaltet. Denn auch Paulus differenziert, ähnlich wie das Markusevangelium, zwischen dem Vorgang des Untertauchens und dem des Auftauchens; auch er verwendet dabei die Konstruktion bapti,zein eivj und bezieht diese ebenfalls nur auf den Vorgang des Einoder Untertauchens. Und eben diesen Vorgang des Hinein- oder Untertauchens in Taufwasser bringt Paulus nun in Bezug zum Tod Jesu: eivj to.n qa,naton auvtou/ evbapti,sqhmen – also: „wir sind in seinen Tod ‚hineingetaucht‘“. In unseren Bibelübersetzungen wird diese Formulierung meist mit „taufen auf seinen Tod“ wiedergegeben, doch die philologischen Erwägungen, die eine solche Übersetzung rechtfertigen würden, sind keineswegs unproblematisch. Die eigentliche Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass durch die Wiedergabe mit „taufen auf seinen Tod“ der gedankliche Dreischritt von Tod, Begräbnis und Auferstehung Christi verstellt wird. Denn dieser wird nur deutlich, wenn man eivj to.n qa,naton auvtou/ evbapti,sqhmen allein auf den Vorgang des Untertauchens bezieht und diesen als ein ‚Mitsterben‘ mit Christus versteht und dann in ähnlicher Weise das Auftauchen als ein ‚Mitauferstehen‘ mit Christus begreift. Diese präsentische Deutung von ‚auferstehen‘ (hvge,rqh) wird zumindest durch das Stichwort peripatei/n gestützt, das wohl kaum in eschatologischem Sinn zu lesen ist. Somit deutet Paulus den christlichen Taufritus aus und bezieht den Vorgang des Untertauchens auf das Mitsterben mit Christus, während er das Auftauchen als Auferstehen mit Christus versteht. Vor dem Hintergrund von Röm 6,3f. stellt sich also die Frage, ob die Taufperikope des Markusevangeliums nicht als eine ‚versteckte‘ Auferstehungserzählung zu

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lesen ist – jedenfalls können Mitglieder der römischen Gemeinde den Text durchaus in einer solchen Weise verstanden haben. Gewiss, man wird nicht vorschnell vom paulinischen Taufverständnis auf die markinische Formulierung rückschließen dürfen, doch wenn man bedenkt, dass sich das Markusevangelium mit guten Gründen in Rom verorten lässt, so ließe sich die markinische Taufperikope durchaus vor dem Hintergrund des Römerbriefes und damit als Auferstehungsgeschichte lesen. Für eine solche Lokalisierung des Markusevangeliums sprechen jedenfalls nicht nur die frühchristliche Tradition und zahlreiche Latinismen, sondern vor allem auch eine Münzumrechnung, die in Mk 12,42 zu finden ist, und nach der zwei Lepta einem Quadrans entsprechen. Damit erklärt das Markusevangelium den Wert einer offenbar unbekannten Münze, die vor allem in den östlichen Provinzen in Umlauf ist, indem sie auf den Quadrans Bezug nimmt, also auf eine Münze, die fast ausschließlich im Westen des Reiches in Umlauf ist – „mit einer auffälligen Zentrierung auf Rom“47. Und auch zahlreiche antiimperiale Anspielungen und Spitzen, die wohl kaum außerhalb des stadtrömischen Bereichs verständlich sind, weisen in dieselbe Richtung.48 Angesichts dieser geographischen Verortung des Markusevangeliums ist es gewiss nicht unbegründet, das paulinische Taufverständnis von Röm 6 als Verstehenshorizont mit zu berücksichtigen. Doch dann liegt es nahe, die markinische Fassung von der Taufe Jesu als versteckte Chiffre für den Tod und die Auferstehung Jesu zu lesen. 5.2 Kompositorische Auffälligkeiten des Markusevangeliums Genau in diese Richtung weisen nun einige kompositorische Auffälligkeiten des Markusevangeliums. Zunächst sei in diesem Zusammenhang in Erinnerung gerufen, dass der kanonische Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9–20) als sekundär anzusehen ist. Das Markusevangelium endet also in seiner ursprünglichen Fassung mit Mk 16,8, und erst wenn man von diesem abrupten Ende ausgeht, wird die eigentliche Gesamtkomposition des Markusevangeliums deutlich. Denn nicht nur im Falle von zahlreichen Einzelabschnitten finden sich palindromische Strukturen – es sei an dieser Stelle nur daran erinnert, wie die Heilung der blutflüssigen Frau (Mk 5,25– 34) in die Erzählung von der Heilung der Jaïrustochter eingeschoben ist (Mk 5,21–24.35–43) –, sondern das gesamte Markusevangelium ist konzentrisch angelegt. 47 M. E BNER, Das Markusevangelium, in: ders./S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2008, 154–183, 171. 48 Vgl. E BNER, Das Markusevangelium (s. Anm. 47), 175–180; M. E BNER, Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier. Eine politische Lektüre des ältesten „Evangeliums“, in: BiKi 66 (2011), 64–69.

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Geht man nämlich von einer topographischen Gliederung aus, so ergibt sich eine fünfgliedrige Teilung49: der erste Teil spielt in der Wüste, der zweite in Galiläa, der dritte auf dem Weg nach Jerusalem, der vierte in Jerusalem selbst und der fünfte schließlich im Grab Jesu. Ins Zentrum ist also jener Abschnitt gerückt, in dem der Weg Jesu von Galiläa nach Jerusalem beschrieben wird (8,27–10,52). Dieses Mittelstück wird von dem Galiläa- und dem Jerusalemteil flankiert und die Geschehnisse an diesen beiden Orten werden zueinander in Beziehung gesetzt.50 Die konzentrische Struktur wird zudem noch gesteigert, indem zwei Blindenheilungen – gewissermaßen als Umklammerung des Mittelteils – die narrativen Übergänge bilden; und auch die zeitlichen Hinweise, die das Markusevangelium liefert, weisen genau in diese Richtung, denn die Gesamtkomposition umfasst insgesamt 50 Tage, und so entsprechen den sieben Wochen in Galiläa die sieben Tage in Jerusalem.51 Durch diesen Aufbau werden somit auch die beiden Randstücke, also der Wüstenteil, den Markus an den Kopf seines Evangeliums setzt, und die Grabeserzählung, mit der er schließt, in enge Beziehung zueinander gesetzt. 5.3 Rezeptionsästhetische Perspektiven Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen wird man daher besonders jene Erklärungsversuche bedenken müssen, die den abrupten Schluss des Markusevangeliums mit Mk 16,8 aus rezeptionsästhetischer Perspektive deuten.52 Demnach wäre die Botschaft des ‚jungen Mannes‘ (neani,skoj) im leeren Grab, der den Frauen die Möglichkeit eröffnet, dem Auferstandenen in Galiläa zu begegnen, als textinterne Anweisung an den Leser zu verstehen, der auf diese Weise wieder an den Anfang des Evangeliums zurückverwiesen wird. Folgt man dieser Leseanweisung – und flieht nicht weg vom Grab, wie die Frauen in Mk 16,8 –, so wird man gewissermaßen aus dem Grab geführt und hin zur einer Auferstehungserzählung gelenkt, die sich damit folgerichtig als unmittelbare Fortsetzung von Mk 16,8 lesen lässt.

49 Zur Gliederung vgl. bes. B. van IERSEL, Markus. Kommentar, Düsseldorf 1993, 66– 78 sowie E BNER, Das Markusevangelium (s. Anm. 47), 154–157. 50 Im Zentrum des Galiläa- und des Jerusalemteils stehen zudem je eine längere Rede, die für den jeweiligen Abschnitt charakteristisch ist; somit korrespondiert die Gleichnisrede von Mk 4 mit der sogenannten Markusapokalypse in Mk 13. 51 Vgl. L. SCHENKE, Das Markusevangelium. Literarische Eigenart – Text und Kommentierung, Stuttgart 2005, 11–15. 52 Vgl. etwa van IERSEL, Markus (s. Anm. 49); P. L. D ANOVE, The End of Mark’s Story. A Methodological Study (Biblical Interpretation Series 3), Leiden 1993; SCHMIDT, Wege des Heils (s. Anm. 29).

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Und genau in diese Richtung weisen auch die topographischen Angaben in den Randteilen: Zwar sind sowohl das Grab (mnhmei/on) als auch die Wüste (e;rhmoj) „Orte des Todes“53, wie Martin Ebner prägnant formuliert, doch bemerkenswerterweise verbindet das Markusevangelium die Auferstehungserzählung mit der Wüste, also mit jenem Ort, an dem nach biblischer Überlieferung Gott einen neuen Anfang setzt.54 In diese Richtung weist aber auch die innere Verbindung, die zwischen den beiden je singulären Textstellen besteht, an denen Jesus Gott als „Vater“ (avbba,) anspricht (14,36) bzw. er selbst von Gott als „Sohn“ (ui`o,j) angesprochen wird (1,11). Während nämlich die Vateranrede Jesu in den unmittelbaren Passionszusammenhang gehört, ist die Sohnesanrede durch Gott aufs Engste mit dem Auferstehungsmotiv (avnabai,nw) von Mk 1,10 – also gerade nicht mit bapti,zw – verknüpft. Beide Aussagen lassen sich daher als ein ‚Dialog‘ begreifen, bei dem die Sohnesanrede durch den Vater (Mk 1,11) gewissermaßen die Antwort auf Mk 14,36 darstellt.55 Doch diese dialogische Struktur zwischen Mk 14,36 und Mk 1,11 wird erst deutlich, wenn man den ursprünglichen Schluss des Markusevangeliums in rezeptionsästhetischem Sinn begreift. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang aber auch der Vorschlag von Manfred Wichelhaus56, den jüngst Karl Matthias Schmidt aufgegriffen und vertieft hat, wonach Mk 1,35–39 als Erscheinungserzählung des Markusevangeliums zu lesen sei.57 Dafür sprechen zumindest die Zeit- und Ortsangaben sowie einige weitere sprachliche und motivische Besonderheiten, wie zum Beispiel die auffällige Formulierung, dass Jesus früh am Morgen, als es noch dunkel war, sich erhebt (avnasta,j), hinausgeht (evxh/lqen) und weggeht (avph/lqen). Aufgrund dieser und weiterer Beobachtungen schlägt Schmidt vor, „[d]ie Lektüre […] nach Mk 16,8 in 1,35 wieder aufzunehmen“ 58. Doch angesichts der bisherigen Überlegungen zur narrativen Funktion der Taufperikope würde sich die Begegnung mit dem Auferstandenen folgerichtig an diese anschließen, so dass die relecture nicht erst mit Mk 1,35, sondern bereits mit der Taufperikope oder noch früher – möglicherweise gar mit dem Beginn des Markusevangeliums – einsetzen würde. Dass diese ‚Erscheinungserzählung‘ erst in Mk 1,35 verortet ist und nicht direkt nach der Taufperikope oder zumindest unmittelbar, nachdem

53

E BNER, Das Markusevangelium (s. Anm. 47), 157. Vgl. E BNER, Das Markusevangelium (s. Anm. 47), 157. 55 Vgl. SCHMIDT, Wege des Heils (s. Anm. 29), 85. 56 Vgl. M. W ICHELHAUS, Am ersten Tag der Woche, in: NT 11 (1969), 45–66. 57 Vgl. SCHMIDT, Wege des Heils (s. Anm. 29), bes. 96–104. 58 SCHMIDT, Wege des Heils (s. Anm. 29), 174. 54

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Jesus Galiläa erreicht hat (Mk 1,16), erweist sich dabei nur auf den ersten Blick als störend. Denn grundsätzlich lässt sich der ganze Abschnitt von Mk 1,16–3,12 als eine erzählerische Einheit begreifen, die – typisch markinisch – wieder palindromisch komponiert ist.59 Und im Zentrum dieser Einheit steht nun die Erscheinungserzählung von Mk 1,35–39, die dadurch zum thematischen Mittelpunkt von Mk 1,16–3,12 wird. Folgt man am Ende des Markusevangeliums also dem angesprochenen Lektürehinweis, so wird man aus dem Grab heraus- und hin zu einer Auferstehungserzählung geführt, an die sich folgerichtig eine Erscheinungserzählung anschließt. Vor diesem Hintergrund ist nun gewiss erwähnenswert, wenn in Mk 6,14 die perfektische Formulierung evgh,gertai evk nekrw/n mit Jesus verbunden und zugleich mit einem Missverständnis verknüpft wird. Markus erzählt an dieser Textstelle, dass Jesus fälschlicherweise als der von den Toten auferstandene Täufer Johannes angesehen wurde und dass sich diesem Urteil auch Herodes angeschlossen habe (Mk 6,14–16). Im Kontext dieser Perikope wird das besagte Missverständnis zwar nicht bereinigt, doch auf der narrativen Ebene bereitet diese Erzählung das Christusbekenntnis von Cäsarea Philippi (Mk 8,29) vor. An beiden Textstellen geht es um die Frage nach der Identität Jesu und beide Male werden dieselben Möglichkeiten angeführt: Elia, ein Prophet oder eben Johannes der Täufer. Auffällig ist nun, dass das Auferstehungsmotiv von Mk 6,14 durch den Christustitel in Mk 8,29 ersetzt wird. Damit fungiert die Titulatur Cristo,j in gewisser Weise als Korrektur des beschriebenen Missverständnisses von Mk 6,14–16. Wenn man nun bedenkt, dass der markinische Christustitel häufig in Verbindung mit einer Terminologie und Motivik steht, die deutliche Bezüge zur Auferstehung bzw. Erhöhung aufweist, so wird man die besagten Textabschnitte vor dem Hintergrund der Auferstehungserzählung in Mk 1 lesen dürfen. Das eigentliche Missverständnis von Mk 6,14 bestünde also nicht darin, dass die Wendung evgh,gertai evk nekrw/n auf Jesus bezogen wird, sondern es besteht in der Verwechslung mit dem Täufer. 5.4 Zur sukzessiven Entfaltung von bapti,zw Doch kehren wir noch einmal zu den Beobachtungen zur Semantik von bapti,zw und ba,ptisma zurück. Wenn man sich nun vor Augen hält, dass in Mk 10,38f. der semantische Akzent auf ‚sterben‘ und ‚untergehen‘ (bapti,zw) bzw. auf ‚Tod‘ und ‚Untergang‘ (ba,ptisma) liegt, dann tritt diese Textpassage in eine deutliche Beziehung zur Taufperikope und zur dortigen Verwendung von bapti,zw. Jedenfalls dürfte die Konstruktion bapti,zein eivj von Mk 1,9 bei den Rezipienten eine entsprechende Assozia-

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Vgl. SCHMIDT, Wege des Heils (s. Anm. 29), 112–119.

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tion ausgelöst haben, so dass beide Textabschnitte in eine intratextuelle Wechselbeziehung treten. Zwar wird man durchaus zugestehen müssen, dass die jeweilige semantische Pointe an den beiden Stellen zu verschieden ist, denn schließlich ist ‚untertauchen‘ noch nicht ‚untergehen‘ und schon gar nicht ‚sterben‘. Doch wenn man bedenkt, dass das Markusevangelium auf eine relecture hin angelegt ist, dann wird bei der zweiten Lektüre von Mk 1,9 durch das Stichwort bapti,zw der Kontext von Mk 10,38f. und die dortige Wortverwendung eingespielt. Bei der Erstlektüre der Taufperikope ist also primär der Eintauchvorgang des johanneischen Wasserritus im Blick, während beim zweiten Lektüregang – also nachdem man Mk 10,38f. und das gesamte Markusevangelium gelesen hat – eine zusätzliche semantische Dimension in den Blick kommt. Dieses Spiel mit den unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten von bapti,zw basiert also darauf, dass erst bei der wiederholten Lektüre eine zusätzliche Verstehensmöglichkeit in den Blick rückt – man könnte dies fast als sukzessive Entfaltung eines multivalenten Wortgebrauchs verstehen. Dadurch entfaltet sich ein semantisches Spiel zwischen der eigentlichen Aussage, die in erster Linie die faktengeschichtliche Dimension im Blick hat, und einer weiteren Verstehensebene, die den Akzent auf das ‚Untergehen‘ und den ‚Tod‘ legt. Diese Mehrdimensionalität, die durch eine relecture erst ausgelöst wird, geht somit weit über die semantische Ebene hinaus und berührt die Frage nach der narrativen Funktion der erwähnten Texte. Denn einerseits lassen sie sich im faktengeschichtlichen Sinne lesen, andererseits rücken sie bei einem zweiten Lesedurchgang in ein neues Licht. So bezieht sich die Taufperikope einerseits auf das eigentliche Geschehen, andererseits eröffnet sich durch die spezifische Art ihrer Gestaltung und kompositorischen Einbindung eine zusätzliche Verstehensdimension. Und dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Abschnitte Mk 1,35–39 und 6,14–16. Aufgrund der Gesamtanlage des Markusevangeliums und seiner rezeptionsästhetischen Pointe am Schluss erstrahlen bei einer relecture somit zahlreiche Textpassagen und Motive in einem neuen Licht.

6. Fazit Abschließend lassen sich somit folgende Beobachtungen zusammenfassen. Zunächst einmal fällt auf, dass das Markusevangelium durch die Art und Weise, wie es den von Johannes an Jesus vollzogenen Wasserritus beschreibt, das Verhältnis zwischen diesen beiden Personen näher bestimmt und präzisiert – und zwar nicht zuletzt, um dem eingangs beschriebenen Missverständnis vorzubeugen, dass Jesus dem Täufer untergeordnet sei.

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Auf diese Weise werden jedoch nicht allein die an Jesus und den Umkehrwilligen vollzogenen Wasserriten voneinander abgehoben, sondern letztlich wird die markinische Darstellung der ‚Taufe‘ Jesu zu einer proleptischen Erzählung von Jesu Tod und Auferstehung stilisiert. Der Verfasser des Markusevangeliums bezieht sich also einerseits auf ein historisch zuverlässig bezeugtes Ereignis des Lebens Jesu. Andererseits schildert er aber die Taufe Jesu vor dem Hintergrund des paulinischen – und eben nicht des johanneischen – ‚Tauf‘-Verständnisses, wodurch die Taufe Jesu zum Urbild der christlichen Taufe wird. Auf diese Weise wird die frühchristliche Praxis der Wassertaufe an die Taufe Jesu rückgebunden und eine entsprechende Tradition bezeugt. Darüber hinaus zielt die markinische Darstellung der Taufe Jesu zugleich auf eine weiterführende Deutung ab, die mit dem Zusammenfließen, der Überlagerung verschiedener Bedeutungsebenen spielt. Die Taufperikope erhält dadurch im Markusevangelium eine zweifache Funktion: Zu der vordergründig naheliegenden Dimension der Erzählung der Taufe Jesu tritt die Dimension einer Erzählung von Jesu Tod und Auferstehung hinzu. Durch diesen Kunstgriff verbindet sich in der markinischen Darstellung nicht nur der irdische Jesus mit dem Erweckten zu einer untrennbaren Einheit, sondern zugleich wird auf der narrativen Ebene die Grenze zwischen vorösterlichen und nachösterlichen Ereignissen aufgebrochen. Dies bedeutet für den Leser des Markusevangeliums, dass er dem Auferstandenen in Galiläa begegnen soll, was konkret bedeutet, dass im irdischen Jesus der erweckte und erhöhte Herr entdeckt werden kann. Und genau dadurch beginnen nun zahlreiche Texte zu schillern, denn sie können in verschiedener Hinsicht gelesen werden. So lassen sich etwa die Berufungserzählungen (1,16–20; 2,14) mit einer vorösterlichen und einer nachösterlichen Brille lesen. Denn wenn man bedenkt, dass die Berufungsberichte kompositorisch jener Passage zugeordnet sind, die sich auch als nachösterliche Erscheinungsgeschichte lesen lässt, dann wird deutlich, dass die markinischen Berufungserzählungen keineswegs nur vorösterlichen Charakter haben. In diesem Punkt weisen sie eine deutliche Nähe zu den nachösterlichen Berufungserzählungen des Johannesevangeliums auf (Joh 21,15–23). Dieses Changieren zwischen unterschiedlichen Verstehensebenen zeigt sich beispielsweise auch daran, dass im Markusevangelium die Mahlgemeinschaft zwischen Juden und Heiden bereits durch den irdischen Jesus vorbereitet und ermöglicht wird, während vergleichbare Entwicklungen sonst erst in nachösterlicher Zeit zu greifen sind. Was diese Frage betrifft, so hat Karl Matthias Schmidt mit guten Gründen dafür argumentiert, dass das Markusevangelium nicht auf eine ständige relecture angelegt ist, son-

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dern dass der zweite Lektüredurchgang mit dem Ende des Galiläateils seinen Abschluss erreicht hat.60 Folgt man diesem Vorschlag, dann fällt auf, dass das Speisewunder, das den Galiläateil abschließt (Mk 8,1–10), genau in der zeitlichen Mitte des Markusevangeliums stattfindet. Insgesamt umfasst das Markusevangelium nämlich, so die zeitliche Rekonstruktion von Ludger Schenke, 61 eine Zeit von 50 Tagen, und bemerkenswerterweise findet genau am 25. Tag dieses zweite Speisungswunder statt, an dem Juden und Heiden gemeinsam teilhaben. Somit ‚schließt‘ das Markusevangelium, wenn man es so formulieren möchte, mit der Erzählung einer jüdisch-heidnischen Mahlgemeinschaft, es endet also mit der Ausbreitung der Christusbotschaft in einem heidnischen Umfeld. In diesem Zusammenhang ist nun sicher auffällig, dass durch das Motiv der ‚drei Tage‘ (Mk 8,3), das an den übrigen Stellen des Markusevangeliums in engem Zusammenhang mit Jesu Tod und Auferstehung steht, nicht nur dieses zweite Mahl narrativ eingeleitet wird, sondern dass es in der relecture gewissermaßen zu einem nachösterlichen Mahl wird. Und dabei ist gewiss auffällig, dass es Jesus selbst ist, der den Weg in heidnisches Terrain eröffnet und somit dieses Mahl vorbereitet. Durch den narrativen Kunstgriff, dass das Markusevangelium auf eine komplementäre Lektüre hin angelegt ist, gelingt es seinem Verfasser also nicht nur, Entwicklungen in späterer Zeit mit Jesus in Verbindung zu bringen, sondern diese zugleich auf sein nachösterliches Fortwirken zurückzuführen. Abschließend lässt sich somit festhalten, dass der Taufe Jesu, die den Beginn der markinischen Erzählung darstellt, eine hermeneutische Schlüsselfunktion zukommt: sie nimmt Bezug auf ein Ereignis im Leben Jesu und eröffnet zugleich den Blick auf eine Tiefendimension des Markusevangeliums, die bei der Erstlektüre möglicherweise noch verborgen ist, die jedoch zu einer relecture einlädt und dabei zu einem tieferen Verständnis führt.

Abstract Jesus’ baptism by John is commonly considered one of the most historically reliable events in Jesus’ life. However, as John’s baptism includes the dimensions of sin and repentance, it presented obvious problems for early Christian interpretation (1.). This contribution scrutinizes the Markan narrative of Jesus’ baptism, focusing, however, less on questions on historicity, but rather on Mark’s usage of language, his differentiated constructions of the verb bapti,zw with different prepositions and the semantics of this 60 61

Vgl. SCHMIDT, Wege des Heils (s. Anm. 29), 173f. Vgl. bes. SCHENKE, Das Markusevangelium (s. Anm. 51), 13–15.

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verb. Bapti,zw connotes the meaning of ‘to move into something’ in all its semantic varieties: it is said of a vessel that is dipped in varnish, of an arrow immersed in poison, of a ship sinking in the sea, or else, figuratively, of a man falling sound asleep, fainting or even dying (2. and 3.). Based on Mark’s differentiated usage of the term and its remarkable semantic breadth it is argued that in the case of Jesus’ “baptism” bapti,zw should best be understood, not as the familiar ‘to baptize’, but rather as ‘to submerge into’, or, more telling still, ‘to sink into death’ or ‘to die’ (4.). This interpretation finds support by Mk 10:38f., where Mark again employs the motive of bapti,zw arguably with reference to the Passion, and by Rom 6, where the idiom ‘to submerge into death’ is used with the meaning of ‘dying with Christ’ (5.). Some scholars increasingly support the thesis of connecting the open ending of Mark’s Gospel with its beginning. In this “circular” reading the narrative of Jesus’ baptism could be understood as the narrative link between the ending and the beginning of this Gospel, prefiguring Jesus’ death and resurrection. So, following these reflections, the Markan baptism narrative lends itself, next to all its historical plausibility, to be read as a deliberate allusion to Jesus’ death (6.).

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„Jesus was a man, … but Christ was a fiction“ Authentizitätskonstruktion in der antiken narrativen Historiographie am Beispiel lukanischer Gleichniserzählungen Susanne Luther „Truth is not the same as history. Truth is transcendent, eternal, above the vicissitudes of time and chance, and the job of the storyteller is to alter history, if necessary, so that it serves the cause of the greater truth“.1

1. ‚Parables‘ und ‚megaparables‘ – versus Historiographie? In seiner Monographie The Power of Parable definiert John D. Crossan ‚parable‘ als „a fictional story invented for moral or theological purposes“ und als „a story that never happened but always does – or at least should“.2 Dabei differenziert er zwischen „parables by Jesus“, die fiktiven Figuren fiktive Ereignisse zuschreiben, und „parables about Jesus [which] presumed historical characters [...] but invented stories about what they said and did“.3 In Bezug auf die Evangelienerzählung spricht Crossan von einer 1

P. P ULLMAN, The Good Man Jesus and the Scoundrel Christ, Edinburgh 2010, 260. Zum Zitat in der Überschrift vgl. a.a.O., 259. 2 J. D. CROSSAN, The Power of Parable. How Fiction by Jesus Became Fiction about Jesus, New York 2012, Zitate von S. 3 und 5. 3 CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 5. Zu den Überlegungen der neueren Gleichnisforschung in Bezug auf terminologische Differenzierungen vgl. die Arbeiten von Zimmermann, der das neutestamentliche Gleichnismaterial unter der Bezeichnung ‚Parabel‘ zusammenfasst und die Charakteristika narrativ, fiktional, realistisch, metaphorisch, appellativ-deutungsaktiv und ko- bzw. kontextbezogen betont, R. ZIMMERMANN, Parabeln – sonst nichts! Gattungsbestimmung jenseits der Klassifikation in ‚Bildwort‘, ‚Gleichnis‘, ‚Parabel‘ und ‚Beispielerzählung, in: ders. (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte (WUNT 231), Tübingen 2008, 383–419, bes. 409–419; DERS., Jesus’ Parables and Ancient Rhetoric. The Contribution of Aristotle and Quintilian to the Form Criticism of the Parables, in: a.a.O., 238–259. Vgl. jedoch DERS., Die Gleichnisse Jesu. Eine Leseanleitung zum Kompendium, in: ders. u.a. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 3–

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„book-length megaparable about the life, death, and resurrection of the historical character Jesus of Nazareth“4 und definiert damit die Evangelien als Sammlungen fiktiver Geschichten über die historische Person Jesus. Da Crossans Definition von ‚parable‘ auf den Charakteristika der Metaphorizität und der Narrativität gründet,5 ist jede narrative Darstellung historischer Ereignisse, jeder Versuch, die Geschichte sinnstiftend zu interpretieren, zu den Gleichnissen zu rechnen und somit zugleich als Fiktion zu betrachten. Dies gilt, obgleich die fiktiven Inhalte, d.h. die in der Erzählung berichteten Worte und Taten, historischen Personen zugeschrieben werden. Die Evangelien werden daher als metaphorische Erzählungen von „factual characters in fictional stories or, if you prefer, historical characters in parabolic stories“6 interpretiert. Dadurch wird ‚parable‘ eng mit ‚Fiktion‘ verknüpft. Geschichtserzählung findet sich in den Evangelien in Form von Gleichnissen, die dem Leser „accounts that deliberately shroud fact in fiction by clothing history in parable“7 präsentieren. Dies wiederum bedeutet, dass die Evangelienerzählungen nicht historische ‚Fakten‘ berichten, sondern vielmehr als parabolische Historiographie oder historische Gleichnisse zu betrachten sind. Crossan führt beispielhaft vier Berichte antiker Historiographen über die Überquerung des Rubikon an, um die Transformation von Geschichte in Gleichnissen aufzuzeigen; er betrachtet jede der Interpretationen des historischen Ereignisses als Gleichnis und somit als fiktionale Darstellung. Dies impliziert jedoch, dass vom Exegeten eine präzise Differenzierung zwischen auf der einen Seite Historiographie, d.h. einem objektiven Bericht über die historische Realität und, auf der anderen Seite, parabolischer Geschichtsschreibung oder historischen Parabeln, „parabolic history and historical parables“,8 d.h. der Transformation der Geschichte in den Evangelien in fiktionale oder zumindest fiktionalisierte Berichte, geleistet wird. Und dennoch, trotz dieser scharfen Unterscheidung zwischen faktualer Geschichte in fast historistischer Manier und fiktionalem Gleichnis fragt Crossan: „Where does factual history end and fictional parable begin?“ und „Could it even be that we always remember history best – or only – when it is seen through the lens of parable?“.9 Er öffnet damit seinen An-

46, 23 zu der Möglichkeit, den traditionellen Begriff ‚Gleichnis‘ als „Oberbegriff bildlicher Redeformen beizubehalten“. In diesem Sinn soll der Begriff im Folgenden verwendet werden. 4 CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 6. 5 Vgl. CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 8. 6 CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 143. 7 CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 146. 8 CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 150f. 9 CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 5 und 152.

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satz von „history as parable“10 den Ansätzen der Geschichtstheorie seit dem linguistic turn sowie den neueren Entwicklungen in Bezug auf narrative Historiographie und den Kriterien der historischen Referentialität in historiographischen Erzählungen. Crossan betont die enge Relation zwischen Geschichte und Gleichnis, zwischen Historiographie und Narrativität; diese Beobachtung bedingt die Etablierung von Kriterien, die eine Identifikation von Faktualitätsindikatoren, bzw. von Indikatoren historischer Referentialität in narrativen Texten, erlauben. Crossan schreibt einerseits: „I consider it a historical fact that Jesus was executed by Pilate on a Roman cross“,11 andererseits versucht er textuelle, inhaltsbezogene Hinweise dafür zu finden, warum die Emmauserzählung als Gleichnis zu lesen ist, nicht als Historiographie.12 Dies macht die Problematik deutlich, die in der Mehrzahl der neueren Ansätze zur narrativen Form der Historiographie und in der Literatur- und Geschichtswissenschaft prominent figuriert: Es gestaltet sich schwierig, klar definierte Kriterien zu finden, um zwischen fiktionalen und faktualen Aspekten einer – insbesondere historiographischen – Erzählung zu differenzieren. Denn obgleich Geschichte immer nur in narrativer Form zugänglich ist und historiographische Erzählung immer fiktionale, metaphorische Elemente beinhaltet, muss doch die historiographische Darstellung nicht per definitionem mit fiktionalem Erzählen gleichgesetzt werden.13 Im Folgenden sollen zunächst (2.) die neueren Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft seit dem linguistic turn aufgezeigt werden, daraufhin (3.) wird auf mögliche literaturwissenschaftliche Ansätze verwiesen, die eine Positionierung der neutestamentlichen Texte zwischen Fiktionalität und Faktualität bzw. Faktualitäts- oder Authentizitätkonstruktion erlauben. Sodann wird (4.) anhand eines Textbeispiels auf die Problematik eingegangen, mit literaturwissenschaftlichen Kriterien zwischen den von Jesus erzählten Gleichnissen, die per Gattungsdefinition als fiktionale Erzählungen wahrgenommen werden, und den „megaparables“, den Evangelientexten als Texten, die einen faktualen Anspruch erkennen lassen, zu unterscheiden. Dabei wird deutlich: Durch die Verwendung dezidiert als fiktional gekennzeichneter Textbausteine – wie z.B. der Gleichnisse – im Kontext der Evangelienerzählungen wird die Authentizität des diese fiktionalen Text10

CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 142. CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 143. 12 Vgl. CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 4. 13 Vgl. dazu R. ZIMMERMANN, Geschichtstheorien und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Narration in der historiographischen Diskussion, in: Early Christianity 4 (2011), 417–444; explizit auch D. COHN, Historisches und literarisches Erzählen, in: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 26 (1995), 105–112. 11

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abschnitte umgebenden Textes gesteigert, da die Rezipienten die als fiktional gekennzeichneten Texte gegen die in den Evangelien dargelegte narrative Geschichtskonstruktion des frühen Christentums abgrenzen und dadurch deren faktualen Anspruch verstärkt wahrnehmen.

2. Historiographie, Narratologie, narrative Historiographie: Eine Verhältnisbestimmung Im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war der Historismus das vorherrschende Paradigma in der Geschichtswissenschaft. Doch Rankes Diktum, dass der Historiograph die Aufgabe habe, aufzuzeigen „wie es eigentlich gewesen“,14 findet sich bereits in der antiken Literatur. Um 200 v. Chr. erscheint z.B. in den Schriften des Polybios wiederholt die Kritik, dass Historiographen ihre Darstellung der Geschichte mit Hilfe von teratei,a oder paradoxologi,a ausschmückten, die er für „maßlose Übertreibungen, wenn nicht gar reine Erfindungen“, d.h. Lügen, hält.15 Im 2. Jh. n. Chr. scheint Lukian von Samosata in seiner Schrift Quomodo historia conscribenda sit ein Verständnis von pragmatischer Geschichtsschreibung in der Tradition des Thukydides erkennen zu lassen.16 Lukian betont die Unterscheidung zwischen Historiographie und Dichtung (poihtikh,; HistConscr 8): Während der Autor im Bereich der Dichtung frei sei, Inhalte auch mit Hilfe von fiktiven Elementen zu vermitteln, muss Historiographie die Geschichte ohne die Verwendung von fiktionalen Elementen darstellen, um ein Verstehen der Gegenwart zu ermöglichen sowie (politische) Entscheidungen und Handlungen in der Gegenwart zu unterstützen (vgl. 14 L. VON RANKE, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, in: Leopold von Rankes Sämmtliche Werke 33/34, Leipzig 21874, VI (erste Auflage 1824): „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beygemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen“. 15 Vgl. dazu E. P LÜMACHER, Teratei,a. Fiktion und Wunder in der hellenistischrömischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte, in: ders., Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten (WUNT 170), hg. v. J. Schröter und R. Brucker, Tübingen 2004, 33–83, bes. 38–47, Zitat a.a.O., 45. In diesem Sinne wird auch auf Agatharchides von Knidos verwiesen, a.a.O., 47–49. 16 Vgl. HistConscr 39; vgl. hierzu jedoch besonders den gegenläufigen Ansatz von C. ROTHSCHILD, Irony and Truth. The Value of De Historia Conscribenda for Understanding Hellenistic and Early Roman Period Historiographical Method, in: J. Frey u.a. (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie (BZNW 162), Berlin/New York 2009, 277–291, die Lukians ‚Handbuch für Historiographen‘ unter dem Vorzeichen der Ironie liest; vgl. zudem die Einleitung zu H. HOMEYER, Lukian, Wie man Geschichte schreiben soll, Griechisch und Deutsch, München 1965, 29–38.

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HistConscr 42). Obgleich Lukian die Verwendung von fiktionalen Passagen in der Historiographie kritisiert, da Geschichtsschreibung historische Referentialität beansprucht, spricht er sich doch nicht gegen die Verwendung von stilistischen oder rhetorischen Mitteln aus, solange sie einer verständlichen Darstellung des Vergangenen dienen (HistConscr 42f.).17 Denn während er in HistConscr 7 der Lüge (yeu/doj) keinen Raum in der Historiographie zugesteht, kritisiert er in HistConscr 10 nur die übertriebene Verwendung fiktionaler Elemente.18 In seiner Schrift Wahre Geschichten, befasst sich Lukian ausführlich mit Wundererzählungen. Er stellt dabei seine eigenen wunderhaften Ausführungen explizit den Schriften der antiken Historiographen gegenüber, die vorgeben nur Wahres und selbst Erlebtes wiederzugeben. Er hingegen versucht die Grenze zwischen Fiktion, die als Fiktion wahrgenommen wird, und Fiktion, die als eine Darstellung historischer Ereignisse erscheint, niederzureißen, indem er zugibt, dass er in seinem Bericht „viele Lügen mit überzeugender Wahrscheinlichkeit vorgebracht habe“ (o[ti yeu,smata poiki,a piqanw/j te kai. evnalh,qwj evxenhno,camen; 1,29; 1,3; 2,31; 1,2–4),19 und deutlich macht: „[I]ch werde nämlich in einem Punkt die Wahrheit sprechen, wenn ich sage, daß ich lüge […]. Ich schreibe also über Dinge, die ich weder selbst sah noch erlebte noch von anderen erfuhr, ja, die weder sind noch überhaupt vorkommen könnten. Deshalb sollen meine Leser ihnen unter keinen Umständen Glauben schenken“ (1,4).

Die Darstellungen der Historiker hingegen kritisiert er als Lügengeschichten, die so vermittelt werden, dass der Leser das Unwahre als Wahres annimmt (ebd.).20 17 Vgl. den Beitrag von M. Bauspieß in diesem Band; Lukians Konzeption von Geschichte wurde oft als repräsentativ für die Historiographie neutestamentlicher Zeit angesehen, vgl. D. M ARGUERAT, Wie historisch ist die Apostelgeschichte?, in: ZNT 18 (2006), 44–51, 48; J. SCHRÖTER, Zur Stellung der Apostelgeschichte im Kontext der antiken Historiographie, in: J. Frey u.a. (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie (BZNW 162), Berlin/New York 2009, 26–47; doch wurde diese Annahme auch kritisiert, vgl. z.B. C. ROTHSCHILD, Luke-Acts and the Rhetoric of History. An Investigation of Early Christian Historiography (WUNT II/175), Tübingen 2004. Vgl. dazu auch M. B AUSPIESS, Geschichte und Erkenntnis im Lukanischen Doppelwerk. Eine exegetische Untersuchung zu einer christlichen Perspektive auf Geschichte (ABG 42), Leipzig 2012, bes. 514–520. 18 Vgl. P LÜMACHER , Teratei,a (s. Anm. 15), 51; dort auch der Verweis auf Strabo und Tacitus. 19 Vgl. dazu G. W. BOWERSOCK, Fiction as History. Nero to Julian, Berkeley/Los Angeles/London 1994, 4–6; vgl. auch ROTHSCHILD, Irony and Truth, (s. Anm. 16). 20 Vgl. H.-G. NESSELRATH, Wundergeschichten in der Perspektive eines paganen satirischen Skeptikers: Lukian von Samosata, in: T. Nicklas/J. Spittler (Hg.), Credible, Incredible. The Miraculous in the Ancient Mediterranean (WUNT 321), Tübingen 2013, 37–55, bes. 48–55. Vgl. auch a.a.O., 55: „Lukian bietet also Wundergeschichten in seinem Oeuvre weiten Raum; er versteht es aber zugleich, sich selbst […] in der Rolle eines

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Dass fiktionale Elemente in der antiken Historiographie, v.a. in der mimetischen bzw. sensationalistischen Geschichtsschreibung21 üblich und akzeptabel waren, zeigt sich nicht zuletzt an der in den hier beispielhaft herangezogenen Schriften ersichtlichen Notwendigkeit der Kritik an zeitgenössischen historiographischen Entwürfen.22 Dass Lukian gegen die Historiographie seiner Zeitgenossen protestierte, lässt darauf schließen, dass gemäß den historiographischen Konventionen der Antike fiktionale Elemente der Narration immer als inhärenter Teil der Wirklichkeitsdarstellung wahrgenommen wurden.23 Dies lässt sich an Beispielen der antiken Literatur aufzeigen: Herodot verwendete z.B. mythische, fiktionale Elemente in der Geschichtsschreibung, Cicero und Quintilian betonen die Bedeutung der evna,rgeia, der Repräsentation und Visualisierung der Geschichte, um den Eindruck zu erwecken, der Leser sei ein Augenzeuge der Ereignisse. Es ist das strenge Halten an den Gesamtsinn (h`` xu,mpasa gnw,mh) der Geschichte, der eine Verwendung fiktionaler Elemente und narrativer Strategien in der Geschichtsschreibung legitimiert.24 Die Historiographie der Antike nimmt oft einen novellistischen Charakter an: Durch narrative Konstruktion werden historische Fakten in der historiographischen Erzählung angeordnet, die darauf abzielt, eine Erklärung der vergangenen Wirklichkeit zu vermitteln und bloße Fakten mit Bedeutung zu füllen – Historiographie intendiert nicht nur, Wissen über die Geschichte zu vermitteln, sondern auch den Leser zu überzeugen, zu erfreuen, zu bewegen und zu fesseln.25 Nach Aristoteles unterscheiden sich Historiograph und Dichter dadurch, dass Ersterer berichtet, was geschehen ist, d.h. spezifische Details und Ereignisse berichtet, Letzterer hingegen darlegt, was zu jeder Zeit und rationalen Skeptikers darzustellen, der diesen Wunder-Mären mit ungläubiger Distanz entgegentritt“. Vgl. dazu A. GEORGIADOU/D. H. J. LARMOUR, Lucian’s Science Fiction Novel True Histories. Interpretation and Commentary (Mnemosyne Supplement 179), Leiden 1998; A. B ARTLEY, The Implications of the Influence of Thucydides on Lucian’s Vera Historia, in: Hermes 131 (2003), 222–234. 21 Vgl. K. MEISTER, Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Stuttgart u.a. 1990, 99–102; O. LENDLE, Einführung in die griechische Geschichtsschreibung. Von Hekataios bis Zosimos, Darmstadt 1992, 199– 202. 22 Vgl. dazu P LÜMACHER , Teratei,a (s. Anm. 15), 36f. 23 Vgl. K. BACKHAUS, Spielräume der Wahrheit: Zur Konstruktivität in der hellenistisch-römischen Geschichtsschreibung, in: ders./G. Häfner (Hg.), Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007, 1–29, 11. Vgl. a.a.O., 12: „Eine imaginative Konkretisierung […] tat dem Wahrheitsanspruch im geheimen Einvernehmen mit dem Leser keinen Abbruch, sondern erdete ihn. Das ist keine Rekonstruktion und auch keine glatte Konstruktion. Eher könnte man von rhetorischer Reimagination sprechen“. 24 Beispiele aus der antiken Literatur bietet BACKHAUS, Spielräume (s. Anm. 23), 3–5. 25 Vgl. BACKHAUS, Spielräume (s. Anm. 23), 14–20.

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an jedem Ort geschehen könnte (Aristot, Poet 1451b). Daher bewertet er die Dichtung als philosophischer als Historiographie, da sie sich mit den allgemeineren Wahrheiten befasst, jedoch wie die Historiographie Zugang zu Wahrheit und Wirklichkeit schafft.26 Die fiktionalen Elemente der Dichtung reduzieren daher nicht den Wahrheitsgehalt, sondern führen dazu, dass Wahrheit und Wirklichkeit auf eine andere Weise präsentiert werden – nicht in exakter Rekonstruktion oder präziser Repräsentation vergangener Ereignisse, sondern durch bewusste fiktionale Konstruktion.27 Diese Beispiele zeigen auf, dass bereits in der antiken Literatur Fiktion nicht generell der Historiographie gegenüber gestellt wurde. Vielmehr wurden fiktionale Elemente, narrative Strategien, Rhetorik etc. verwendet, um eine bestimmte Form von literarischer Historiographie zu schaffen, die ‚Fiktion‘ in der (Re)konstruktion vergangener Wirklichkeit akzeptiert.28 Geschichtsschreibung enthielt somit immer auch fiktionale Elemente, die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität in der Darstellung war schwer zu definieren.29 Einen Versuch finden wir bei Sextus Empiricus, der zwischen Wahrheit (avlhqei,a), Erfindung (pla,sma) und Lüge (yeudh/) unterscheidet und zugleich kritisiert, dass es keine objektiven Kriterien für die Wahrheit von Texten gebe, keine ‚Faktualitätskriterien‘.30

26 So auch BOWERSOCK, Fiction as History (s. Anm. 19), 13: „There was as much truth or falsehood in fiction as in history itself“. 27 Vgl. W. RÖSLER, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, in: Poetica 12 (1980), 283–319. Vgl. auch G. HÄFNER, Konstruktion und Referenz: Impulse aus der neueren geschichtstheoretischen Diskussion, in: ders./K. Backhaus, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007, 67–96, bes. 94f., der betont, dass Historiographie, auch wenn sie in narrativer Form dargestellt wird, nicht als freie Konstruktion betrachtet werden dürfe, sondern als Rekonstruktion vergangener Ereignisse auf der Basis von historischem Quellenmaterial und daher anhand von Argumenten und Methoden verifizierbar oder falsifizierbar sei. 28 Vgl. D. DORMEYER, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie, im Frühjudentum und im Neuen Testament, in: T. Schmeller (Hg.), Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt (NTOA/StUNT 69), Göttingen 2009, 1 –33. 29 Vgl. z.B. Cic, Leg 1,5, der Herodot einerseits als ‚patrem historiae‘ bezeichnet, zugleich aber davon spricht, dass er viele fabulae berichtet. Zur Unterscheidung zwischen Geschichte und Biographie vgl. Plut, Alex 1,2: ou;te ga.r i`stori,aj gra,fomen( avlla. bi,ouj. Vgl. dazu C. B. R. PELLING, Truth and Fiction in Plutarch’s Lives, in: D. A. Russell (Hg.), Antonine Literature, Oxford 1990, 19–52. 30 Vgl. Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos 1,263–269: Geschichtsschreibung zählt zu den Dingen, die passiert sind, und ist die Repräsentation der Wahrheit, pla,sma ist die Darstellung von Dingen, die nicht passiert sind, die aber Dingen ähneln, die passiert sind, yeudh/ sind Dinge, die nicht passiert und daher falsch sind. Vgl. dazu B OWERSOCK, Fiction as History (s. Anm. 19), 10f.

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Somit sind die Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft im Zuge des linguistic turn in der antiken Literatur bereits vorgezeichnet:31 Das historistische Postulat der Objektivität von Geschichtsschreibung wurde als unhaltbar erkannt und negiert, der konstruktivistische Charakter von Geschichte und Verstehen sowie der narrative Charakter der menschlichen Konstitution wurden erkannt und bildeten sich als neue Leitparadigmen heraus. Damit einher ging die Erkenntnis, dass die Unterscheidung zwischen Historiographie und Dichtung nicht aufrechtzuerhalten war.32 Die antiken Vorreiter postmoderner Gedanken bereiteten den Weg für Literatur- und Geschichtswissenschaftler, die vom linguistic turn beeinflusst waren – wie z.B. Gérard Genette,33 Arthur C. Danto,34 Hayden White35 und Paul Ricœur36 sowie Frank Ankersmit,37 Jörn Rüsen,38 Chris Lorenz,39 Lucian Hölscher40 und Hans-Jürgen Goertz.41 Die postmoderne Debatte in der Geschichtswissenschaft betont die konstruktivistische und narrative Form, durch die wir Zugang – den einzigen Zugang – zur Geschichte haben, und kritisiert eine klare Unterscheidung zwischen Historiographie und Dich31 Vgl. zur Relevanz dieser Entwicklungen für die Exegese C. STRECKER, Das Gewesene, das Fremde und die Exegese. Die jüngeren Grundlagendebatten in Geschichtswissenschaft und Kulturanthropologie und ihre Bedeutung für die biblische Wissenschaft, in: ders. (Hg.), Kontexte der Schrift, Bd. 2: Kultur – Politik – Religion – Sprache – Text, FS W. Stegemann, Stuttgart 2005, 120–131, bes. 121–127. 32 Vgl. z.B. ZIMMERMANN, Geschichtstheorien und Neues Testament (s. Anm. 13), 417–444; J. SCHRÖTER, Neutestamentliche Wissenschaft jenseits des Historismus. Neuere Entwicklungen in der Geschichtstheorie und ihre Bedeutung für die Exegese urchristlicher Schriften, in: ThLZ 128 (2003), 855–866. 33 Vgl. z.B. G. GENETTE, Fictional Narrative, Factual Narrative, in: Poetics Today 11 (1990), 755–774. 34 Vgl. A. C. DANTO, Narration and Knowledge, New York 1985. 35 Vgl. H. W HITE, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/London 1975; DERS., Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore/London 1978; DERS., The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore/London 1987; DERS., The Fictions of Factual Representation, in: A. Fletcher (Hg.), The Literature of Fact, New York 1976, 21–44. 36 Vgl. P. RICŒUR, Time and Narrative, 3 Bde., Chicago 1984. 1986. 1988 (Original: Temps et récit, Paris 1983–1985). 37 Vgl. F. R. ANKERSMIT, Knowing and Telling Time: The Anglo-Saxon Debate, Middletown 1986; DERS., Historical Representation, Stanford 2001. 38 Vgl. J. RÜSEN, Historisches Erzählen, in: ders., Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln u.a. 2001, 43–105. 39 Vgl. C. LORENZ, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (BzG 13), Köln u.a. 1997, bes. 17–22. 40 Vgl. v.a. zum konstruktiven Charakter historischer Ereignisse L. HÖLSCHER, Art. Ereignis, in: S. Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2002, 72f. 41 Vgl. H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referenzialität, Stuttgart 2001.

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tung, wie sie in der historistischen Geschichtsschreibung üblich war.42 In seinem grundlegenden Werk Metahistory regt Hayden White an, Historiographie nicht als objektive Repräsentation der Vergangenheit zu betrachten, sondern betont vielmehr, dass historische Repräsentation als „verbal fiction“ zu verstehen sei. Er verweist darauf, dass jeder Anspruch von Faktualität nur Fiktion oder „fictions of factual representations“ sei.43 Jedoch darf Whites Position nicht als eine Eliminierung aller Differenzen zwischen Faktualität und Fiktionalität, zwischen Historiographie und Literatur aufgefasst werden – vielmehr ist v.a. von Relevanz, dass er die Gemeinsamkeiten der beiden Darstellungsformen in Hinsicht auf die Narrativität hervorhebt.44 Da Ereignissen von Beginn an eine narrative Struktur eigen ist und sie nur durch historische Erfahrung45 im Laufe der Geschichte des menschlichen Lebens46 und durch ihre Transformation in Sprache47 zu Ereignissen und ‚historischen Fakten‘ werden, darf narrativ nicht mit fiktional gleichgesetzt werden.48 Geschichte ist nur in narrativer Form zugänglich, daher beinhaltet auch historische Narration immer fiktionale Elemente, aber historische Narration ist nicht per definitionem fiktional.49 Das 42

Vgl. ZIMMERMANN, Geschichtstheorien und Neues Testament (s. Anm. 13), 427–

443. 43 Vgl. den Aufsatz mit diesem Titel in WHITE, The Tropics of Discourse (s. Anm. 35), 121–134. 44 Vgl. A. NÜNNING, „Verbal Fictions?“. Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 40 (1999), 351–380, 253f. Zu einer expliziten Kritik der Position Whites vgl. a.a.O., 364–368. 45 Vgl. F. R. ANKERSMIT, Sublime Historical Experience, Stanford 2005, 9. 46 Vgl. T. R. WOLF, Leben in Geschichte(n). Zur Hermeneutik des historischnarrativen Subjekts, in: S. Deines u.a. (Hg.), Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin/New York 2003, 47–61, bes. 56–60. 47 Vgl. S. OTTO, Können Tatsachen sprechen? Überlegungen zur Darstellbarkeit historischer Fakten, in: J. Trabant (Hg.), Sprache der Geschichte (SHK.K 62), München 2005, 65–74. 48 Vgl. Z IMMERMANN, Geschichtstheorien und Neues Testament (s. Anm. 13), 428, der auf die logische Folgerung aus Whites Position verweist: „Historische Erzählungen sind immer auch fiktionale Erzählungen, indem sie den historischen Stoff mit den Mitteln der Narrativität zur Darstellung bringen“. 49 Vgl. dazu den Beitrag von M. Bauspieß in diesem Band. Vgl. M. M. THOMPSON, The ‘Spiritual Gospel’: How John the Theologian Writes History, in: P. N. Anderson/F. Just/T. Thatcher (Hg.), John, Jesus, and History, Volume 1: Critical Appraisals of Critical Views (SBL.SS 44), Atlanta 2007, 103–107, bes. 103f.: Thompson bezieht dies auf das Johannesevangelium und bemerkt: „John and its early interpreters apparently thought that interpretation disclosed rather than veiled the meaning of history“. Jedoch betont sie, dass „there is no way of getting into the ‚spiritual‘ meaning of history through purely historical methods“ – vielmehr muss der Interpret den Evangelientext als narrative Geschichte in theologischer Interpretation wahrnehmen und fragen, „whether John’s theolo-

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heißt eine generelle Nivellierung des Unterschieds zwischen historischem und fiktionalem Erzählen basiert auf einer „Verwechslung von literarischen Verfahren und fiktionalem Aussagemodus“, denn „[h]istoriografische Werke sind nicht schon deshalb fiktional, wie sie vermeintlich ‚literarische‘ Darstellungsmittel verwenden. Ebenso wenig büßen realistische oder dokumentarische […] [Texte] ihren fiktionalen Status ein, nur weil sie einen hohen Grad außertextueller Referenzen auf reale Orte, Personen oder Ereignisse haben“.50 In verschiedenen Publikationen wurde über die letzten Jahre versucht, die spezifische Narratologie des historiographischen Diskurses näher zu bestimmen.51 Grundlage all dieser Ansätze ist die Annahme, dass Geschichte grundsätzlich konstruktiven Charakter hat, was der weiterführenden Annahme stattgibt, dass historiographische Texte Strukturen schaffen und literarische und narratologische Effekte in den Texten hervorbringen und auf diese Weise Geschichte konstruieren. Somit muss der historiographische Text als separate Kategorie neben der Geschichte selbst und der Fiktion wahrgenommen werden.52 Einige der neueren Ansätze sollen hier kurz dargestellt werden: Lubomír Doležel53 arbeitet mit der Theorie der möglichen Welten, um eine Unterscheidung zwischen möglichen, historigy might not also tell us something about Jesus“ – d.h. das Johannesevangelium muss auf historische und historiographische Aspekte in der theologischen Narration hin untersucht werden. 50 A. NÜNNING, Literarische Geschichtsdarstellung: Theoretische Grundlagen, fiktionale Privilegien, Gattungstypologie und Funktionen, in: B. Bannasch/C. Holm (Hg.), Erinnern und Erzählen. Der Spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien, Tübingen 2005, 35–58, 38. Vgl. auch M.-L. RYAN, Panfictionality, in: D. Herman/M. Jahn/dies. (Hg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London 2005, 417–418; J. GIBSON, Fiction and the Weave of Life, Oxford 2007, 147– 157. 51 Vgl. dazu v.a. S. J AEGER, Erzählen im historiographischen Diskurs, in: C. Klein/M. Martínez (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nichtliterarischen Erzählens, Stuttgart/Weimar 2009, 110–135, bes. 118–128. Vgl. zudem den Ansatz von K. P IHLAINEN, Of Closing and Convention. Surpassing Representation Through Performance and the Referential, in: Rethinking History 6 (2002), 179–200. 52 Vgl. JAEGER, Erzählen im historiographischen Diskurs (s. Anm. 51), 120f.: „Grundlage dieser Ansätze ist die Einsicht in den Konstruktcharakter von Geschichte, die es ermöglicht zu zeigen, dass Geschichtsschreibung nicht einfach historische, also textexterne Wirklichkeiten, nachahmt, sondern historiographische Texte auch Strukturen konstruieren und Texteffekte inszenieren können, also Geschichte als Konstrukt wiederentstehen lassen. Diese poietische Komponente von Geschichtsschreibung durchbricht die traditionelle Unterscheidung von erzählenden und mimetischen Texten und erweitert die traditionelle Unterscheidung zwischen historisch und fiktiv zu einem triadischen Schema von Historie, Text und Fiktion“. 53 Vgl. L. DOLEŽEL, Fictional and Historical Narrative. Meeting the Postmodern Challenge, in: D. Hermann (Hg.), Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis, Columbus 1999, 247–273.

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schen Welten und fiktionalen Welten herauszuarbeiten. Auf diese Weise wird es möglich, zwischen Welten, die in fiktionalen Texten erschaffen, d.h. konstruiert werden und keine Referentialität zur historischen Wirklichkeit aufweisen, und Welten, die als Modelle vergangener Wirklichkeit gelten und möglicherweise in dieser oder einer ähnlichen Form vor der Entstehung des Textes existiert haben, zu unterscheiden. Er betont, dass auch historische Welten immer konstruiert sind, jedoch versuchen, eine Welt abzubilden, die einer vergangenen realen Welt möglichst nahe kommt, die dargestellte konstruierte Welt soll als Beispiel einer historischen Welt dienen. Dieser Ansatz ist insbesondere für die Erschließung konstruierter möglicher Welten, wie sie in der antiken Literatur dargestellt werden, von Interesse. Axel Rüth54 analysiert die spezifische Geschichtsschreibung der Annales-Schule, um die Verwendung und die Grenzen neuer narratologischer Techniken in der Historiographie zu eruieren. Er fokussiert insbesondere die Verwendung der Aspekte Stimme, Erzähler, Zeit und Fokalisierung in der modernen Geschichtsschreibung und hebt die Fragmentierung der Historiographie hervor (z.B. in Bezug auf die unterschiedlichen Zugangswege zur Geschichte) und die Notwendigkeit historiographischer Selbstreflexion. Mark Salber Phillips55 konzentriert sich auf die Verwendung der historischen Distanz in der Geschichtsschreibung, „since the effective distance can be diminshed or augmented in ways that can fundamentally change our sense of what history represents“.56 Er nimmt an, dass die Schaffung einer spezifischen Distanzierung einen grundlegenden Einfluss auf die Wahrnehmung von Geschichte durch den Rezipienten hat. Vier grundlegende Kategorien der historischen Distanz können aufgezeigt werden: literarische Form und Genre, Affekt, Ideologie und Kognition. Stephan Jaeger57 richtet sein Interesse auf multiperspektivisches Erzählen und analysiert die Perspektive, die Fokalisierung und die Stimme des Textes und stellt synthetisierende, integrative Darstellungen von Geschichte den multiperspektivischen Ansätzen gegenüber, die verschiedene Perspektiven nebeneinander und in Kontrast miteinander stellt, um dadurch einerseits den multiperspektivischen Charakter der realen Welt 54 Vgl. A. RÜTH, Erzählte Geschichte. Narrative Strukturen in der französischen Annales-Geschichtsschreibung (Narratologia 5), Berlin/New York 2005. 55 Vgl. M. S. P HILLIPS, Distance and Historical Representation, in: History Workshop Journal 57 (2004), 123–141. 56 PHILLIPS, Distance (s. Anm. 55), 124. 57 Vgl. S. JAEGER, Multiperspektivisches Erzählen in der Geschichtsschreibung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Inszenierungen von Geschichte zwischen Roman und Wirklichkeit, in: A. Nünning/V. Nünning (Hg.), Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts, Trier 2000, 323–346; DERS., Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft, in: V. Nünning/A. Nünning (Hg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002, 237–263.

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nachzuzeichnen, andererseits aber auch Leerstellen zu schaffen, die vom Rezipienten gefüllt werden müssen. Betrachtet man die vier Evangelien als vier Perspektiven auf die Lebensgeschichte Jesu, so kann sich dieser Ansatz für die Analyse neutestamentlicher Evangelientexte fruchtbar erweisen. Von besonderer Bedeutung für die Analyse neutestamentlicher Texte, die die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität bewusst überschreiten, kann sich der Ansatz erweisen, den Ann Rigney in Imperfect Histories darlegt: Sie analysiert hybride Formen von Historiographie, die die Grenze zwischen fiktionalen und historiographischen Erzählungen überschreiten, da sie auf der grundlegenden Annahme basieren, „[that] there is more than one story to be told about the past and the realization that there is a possible disjunction between relevance and representability“.58 All diese Ansätze zeigen auf, dass historiographisches Erzählen nicht mit Faktenberichten gleichgesetzt werden darf, sondern hinsichtlich des Darstellungsmodus fiktionalen und fiktionalisierenden Elementen ein breiter Spielraum einzuräumen ist. Auch Erzähltexte können als Texte mit faktualem Anspruch wahrgenommen werden, die mit narratologischen Methoden zu analysieren sind. Gleichzeitig wird der Anspruch faktualer Texte, auf eine historische Wirklichkeit zu verweisen, als ihr zentrales Charakteristikum erkannt. In Hinsicht auf die Methoden der Analyse faktualer Texte muss daher insbesondere deren Anspruch auf historische Referentialität berücksichtigt werden sowie die Art und Weise, wie diese Referentialität in den Texten dargestellt und hervorgebracht wird.59 Da dieser Aspekt im Spektrum narratologischer Methoden nicht im Blick ist, sind hier einige wichtige Erweiterungen von Nöten, um diesem pragmatischen Anspruch auf Faktualität Rechnung zu tragen.60

3. Fiktionalitäts- und Faktualitätsindikatoren in Erzähltexten In der gegenwärtigen Forschung zur Erzähltheorie liegt der Grund für die Annahme fiktionaler Elemente in den Texten wie z.B. den kanonischen Evangelien v.a. in der fehlenden Referenz der vermittelten Inhalte zum

58 A. R IGNEY, Imperfect Histories: The Elusive Past and the Legacy of Romantic Historicism, Ithaca/London 2001, 98. 59 Vgl. zu der Aufgabe, die Spezifika historiographischer Erzählungen herauszuarbeiten, J. SCHÖNERT, Zum Statut und zur disziplinären Reichweite von Narratologie, in: V. Borsò/C. Kann (Hg.), Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien, Köln u.a. 2004, 131–143, bes. 140–143. 60 Vgl. D. COHN, The Distinction of Fiction, Baltimore/London 1999, bes. 109–131; vgl. auch DIES., Signposts of Fictionality, in: Poetics Today 11 (1990), 775–804.

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Realitätsprinzip61 der jeweiligen Rezeptionsgemeinschaft. Fiktion62 in diesem Zusammenhang kann als Fiktivität bezeichnet und von Fiktion im Zusammenhang des Erzählens, der Fiktionalität, unterschieden werden.63 Fiktivität meint dabei den „Sachverhalt, daß der dargestellten Geschichte kein reales Geschehen zugrunde liegt bzw. daß die oder einige der Elemente der Geschichte als nicht-wirklich bezeichnet werden können“.64 Die NichtWirklichkeit der erzählten Ereignisse impliziert einerseits einen bestimmten Grad der Fiktivität der beteiligten Handlungsträger, Orte und Zeitangaben, andererseits weisen aber auch fiktive Geschichten zumeist eine Referentialität in Bezug auf die Wirklichkeit auf, d.h. die fiktiven Welten, die den Hintergrund der erzählten Ereignisse bilden, sind in einem gewissen Maße an der Wirklichkeit orientiert.65 Reale Entitäten (z.B. Referenzen auf die reale Welt der Rezipienten), die in fiktiven Geschichten auftreten, verbinden die fiktive Welt der Erzählung mit der realen des Rezipienten, gehören sie doch zum „realen Hintergrund der fiktiven Geschichte“.66 Die neutestamentlichen Erzählungen enthalten nach dieser Definition fiktive Elemente, lassen sich jedoch nicht als fiktive Texte kategorisieren. Vielmehr handelt es sich um narrative Texte, deren (faktualer) Erzählmodus67 den Anspruch offensichtlich werden lässt, als faktuale Erzählungen wahr-

61 Zipfel spezifiziert zwischen Realitätsprinzip und Prinzip der allgemeinen Überzeugungen, wobei letzteres eine „Reflexion über die historische und kulturelle Bedingtheit und Variabilität dessen, was als Wirklichkeit aufgefaßt wird“ (F. ZIPFEL, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft [Allgemeine Literaturwissenschaft 2], Berlin 2001, 87) einbezieht und daher das Realitätsprinzip erweitert. 62 Zur Etymologie vgl. D. P ICHLER, Die literarische Fiktion als Erklärungsmodell für moderne Realitätskonstruktionen, in: S. Knaller (Hg.), Realitätskonstruktionen in der zeitgenössischen Kultur. Beiträge zu Literatur, Kunst, Fotografie, Film und zum Alltagsleben, Wien u.a. 2008, 95–115, 95f. 63 Vgl. ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 61), 61–67. Zipfel differenziert weiterhin zwischen Fiktion im Kontext der Textproduktion, der Textrezeption und der Sprachhandlung. 64 ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 61), 68. 65 Vgl. ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 61), 76–90. 66 ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 61), 113; vgl. dazu auch a.a.O., 90–102. 67 Faktuale Rede meint hier „[a]uthentische (schriftliche oder mündliche) Rede aus Aussagesätzen, die von einem realen Sprecher mit behauptender Kraft geäußert werden“ (so M. M ARTÍNEZ/M. SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie, München 92012, 210), gegenüber der fiktionalen Rede, die definiert wird als „[s]chriftliche oder mündliche Rede aus Aussagesätzen, die von einem realen Autor als authentische Behauptungen eines von ihm erfundenen Sprechers […] imaginiert werden. Als Aussagen des Autors im Rahmen der realen Kommunikation zwischen Autor und Leser verstanden, handelt es sich bei der f. R. um eine real-inauthentische Rede; als Sätze des Erzählers verstanden, handelt es sich um eine imaginär-authentische Rede im Rahmen einer erfundenen Kommunikation“ (a.a.O., 211).

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genommen zu werden.68 Dennoch ist es nicht möglich, die historische Wahrheit hinter den Evangelientexten zu erheben. Jedoch lässt sich der sich in den Texten spiegelnde Anspruch auf historische Referentialität mithilfe literaturwissenschaftlicher Methoden präziser fassen. In der Literaturwissenschaft wurden in den letzten Jahren verstärkt die Relation zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten sowie auch die hybriden Textformen, die sich aus fiktionalem und historischem Erzählen zusammensetzen, untersucht.69 Dabei waren vorwiegend die Fiktionalitätsindikatoren im Blick, die auf die Identifikation fiktionaler Erzählungen zielen.70 Nicht-fiktionale, z.B. historiographische Texte – oder Texte mit historiographischem Anspruch und Anspruch auf historische Referentialität –, die hingegen durch ‚Wirklichkeitssignale‘71 identifiziert werden können, sind nicht in gleicher Weise im Blick.72 Zwar haben bereits John Searle73 und Gérard Genette74, aber auch Albrecht Koschorke75 u.a. auf die Problematik verwiesen, generelle und notwendige Kriterien für die Unter68 Vgl. C. GILL, Plato on Falsehood – not Fiction, in: ders./T. P. Wiseman, Lies and Fiction in the Ancient World, Exeter 1993, 38–87, 39: „Factual discourse is intended either to convey to the listener what the speaker takes to be true (‚veracious‘), or to convey what the speaker takes to be false (‚lying‘). Fictional discourse is different in kind from factual: its statements (and other forms of expression) do not constitute truth-telling or lying, and in this sense fiction has no truth-status“. 69 Vgl. dazu und zum Folgenden die Ausführungen in S. L UTHER, Erdichtete Wahrheit oder bezeugte Fiktion? Realitäts- und Fiktionalitätsindikatoren in frühchristlichen Wundererzählungen – eine Problemanzeige, in: B. Kollmann/R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Aspekte (WUNT 339), Tübingen 2014, 345–368. 70 „Rein textimmanent ausgerichtete Theorien der Literatur versuchen, die Fiktionalität von Literatur an spezifischen Textmerkmalen festzumachen; intentionalistische Konzepte versuchen, Fiktionalität in der Autorintention zu verankern, in rezeptionsästhetisch orientierten Herangehensweisen wird Fiktion als eine ausschließlich die Leser betreffende Verarbeitungsweise von Texten beschrieben“, ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 61), 4. Zipfel analysiert das Phänomen hingegen umfassender, indem das Zusammenspiel von TextStruktur, Text-Produktion, Text-Rezeption und Kommunikationskontext Berücksichtigung findet. 71 Vgl. R. KOSELLECK, Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, 285; vgl. auch DERS., Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Ideengeschichte I.3 (2007), 39–54. 72 Vgl. HÄFNER, Konstruktion und Referenz (s. Anm. 27), 89. 73 Vgl. J. R. SEARLE, The Logical Status of Fictional Discourse, in: New Literary History 6/2 (1975), 319–332, 325. 74 Vgl. GENETTE, Fictional Narrative, Factual Narrative (s. Anm. 33), 755–774, 772f. 75 Vgl. A. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 2012: Wie auch Sprache kein „intrinsisches Realitätszeichen“ (a.a.O., 332) besitzt, gilt auch für Erzählungen: „bis auf wenige, noch dazu unzuverlässige Marker funktionieren Erzählungen auf gleiche Weise, ob ihre Gegenstände nun vorhanden oder erfunden sind“ (a.a.O., 333).

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scheidung von fiktionaler und nicht-fiktionaler Literatur zu definieren, da auch fiktionale Texte Faktualität vorgeben oder simulieren und Referenzbezüge aufweisen können, während auch faktuale Erzählungen z.B. fiktionalisierende Erzählmethoden oder fiktive Elemente enthalten können.76 Dies gilt in besonderem Maße für die Konventionen der antiken Geschichtsschreibung. Dennoch wurden wiederholt Versuche unternommen, Fiktionalitäts- und Faktualitätsindikatoren zu eruieren. Aus den Ansätzen von Dorrit Cohn,77 Gérard Genette,78 Ansgar Nünning,79 Frank Zipfel,80 Monika Fludernik81 u.a., die in der Debatte um die Fiktionalitätsindikatoren wurzeln, können auch Schlüsse in Hinsicht auf mögliche Faktualitätsindikatoren gezogen werden. Dorrit Cohn ist daran interessiert, solche „textimmanente[n] Zeichen zu finden, die vom Leser erkannt werden können und normalerweise auch erkannt werden – diskursive characteristica specifica, die ein Autor obligatorisch einsetzen muß, wenn sein Roman als Fiktion und nicht als historischer oder journalistischer Erzähltext rezipiert werden soll“, denn „ob eine Erzählung für fiktional oder nicht-fiktional gehalten werden soll, [kann] sehr wohl auf Grund objektiver Kriterien beantwortet werden“.82 Cohn schlägt drei Kriterien für die Unterscheidung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten vor: (1.) die Referentialität nicht-fiktionaler Texte, die gegenüber dem zweistufigen Analysemodell für fiktionale Texte zu einem dreistufigen Modell der Analyse historiographischer Texte führt, denn zusätzlich zu story und discourse ist eine Referenzstufe zu berück-

76 Vgl. M. FLUDERNIK, Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations, in: J. Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2001, 85–103, 94f. 77 Vgl. D. COHN, Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 26 (1995), 105–112; DIES., Signposts of Fictionality (s. Anm. 60). 78 Vgl. G. GENETTE, Fiktion und Diktion, München 1992, 83. 79 Vgl. dazu A. NÜNNING, How to Distinguish between Fictional and Factual Narratives: Narratological and Systemtheoretical Suggestions, in: L.-A. Skalin (Hg.), Fact and Fiction in Narrative: An Interdisciplinary Approach (Örebro Studies in Literary History and Criticism 4), Örebro 2005, 21–56; DERS., Art. Fiktionalitätssignale, in: ders. (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 42008, 202–203. 80 Vgl. ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 61), 232–247. 81 Vgl. FLUDERNIK, Fiction vs. Non-Fiction (s. Anm. 76), bes. 94f. 82 COHN, Historisches und literarisches Erzählen (s. Anm. 13), 106 und 107 (dieser Aufsatz ist die überarbeitete Neufassung von „Signposts of Fictionality“, s. Anm. 60). Cohn verwendet den Begriff Fiktionalität im Sinne „einer literarische[n] Textsorte ohne Anspruch auf Wahrhaftigkeit oder auf Richtigkeit“, a.a.O., 106.

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sichtigen, auf der die historiographische Erzählung aufbaut,83 (2.) die Erzählsituation, da in historiographischen Texten z.B. nicht die personale Erzählweise eingenommen werden kann – was zugleich auf die Distanz des Erzählers zu seiner story hindeutet. Cohn zeigt auf, dass die herkömmlichen Kategorien der Bestimmung der Erzählsituation für nicht-fiktionale Texte nicht ausreichend sind. Sie nimmt hier ein Kriterium auf, das bereits Käte Hamburger benannt hatte: die Unmöglichkeit, in nicht-fiktionalen Texten die Innenwelten der Charaktere darzulegen. Als (3.) Kriterium nennt sie die Stimme des Erzählers: Für die historische Erzählung legt sie – in Rückgriff auf Genette – die Gleichung Autor = Erzähler fest.84 Für die Untersuchung von Texten mit faktualem Anspruch kann v.a. festgehalten werden, dass faktuales Erzählen zwar durch einen pragmatischen Anspruch auf historische Referentialität charakterisiert wird, d.h. durch eine Referenz auf außersprachliche Wirklichkeit, nicht auf eine konstruierte fiktionale oder fiktive Welt. Referentialität ist somit grundlegendes Charakteristikum für den faktualen Diskurs, auch wenn es – wie sich an der Frage der Relation zwischen ‚parables‘ und ‚megaparables‘ zeigen wird – nicht notwendig auf nicht-fiktionale Texte beschränkt ist und daher nicht als Unterscheidungskriterium fungieren kann.85 Ansgar Nünning konstatiert: „history books and historical novels differ both in the structure of selection and in respect of the spectrum of representative possibilities on which the historian and the novelist can draw when mediating history in novels“;86 er untergliedert die Unterscheidungskriterien für faktuale und fiktionale Texte anhand kontextueller (kommunikative Situation, Verlag etc.), paratextueller (Titel, Einleitungsphrasen etc.) und textueller Signale.87 Während Ansgar Nünning dabei primär die Charakteristika fiktionaler Literatur in den Blick nimmt, schlagen Irmgard 83

„Es ist die strenge – theoretisch gesprochen, absolute – Gebundenheit von Story und Referenz, die die Verantwortlichkeit des Historikers bestimmt und die der Leser überprüfen kann und muß, wenn er den Wahrheitswert einer historischen Erzählung beurteilen will“, so COHN, Historisches und literarisches Erzählen (s. Anm. 13), 108. 84 Vgl. GENETTE, Fiktion und Diktion (s. Anm. 78), 83. Vgl. auch D. COHN, Fictional versus Historical Lives: Borderlines and Borderline Cases, in: The Journal of Narrative Technique 19 (1989), 3–24; zudem D IES., The Distinction of Fiction (s. Anm. 60). 85 Vgl. HÄFNER, Konstruktion und Referenz (s. Anm. 27), bes. 92–95. 86 NÜNNING, How to Distinguish (s. Anm. 79), 37 (Kursivierungen S.L.). 87 Vgl. dazu NÜNNING, How to Distinguish (s. Anm. 79), 23–56. Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung des dt. Artikels „Verbal Fictions?“ (s. Anm. 44). Zur Unterscheidung zwischen textuellen (textimmanenten) und paratextuellen (extratextuellen) Fiktionssignalen, vgl. G. GENETTE, Seuils, Paris 1987. Weiterhin auch T. KÖPPE, Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz literarischer Werke, Paderborn 2008, 39; J. GERTKEN/T. KÖPPE, Fiktionalität, in: S. Winko/F. Jannidis/G. Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zum Begriff und Phänomen des Literarischen (Revisionen 2), Berlin 2009, 228–266, 240.

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Nickel-Bacon, Norbert Groeben und Margrit Schreier zur Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität in Erzähltexten mögliche Fiktions- und Realitätssignale vor.88 Auf der Basis einer Analyse auf pragmatischer (Fiction – Non-Fiction; Anspruch auf Wirklichkeitsentsprechung), inhaltlichsemantischer (Wirklichkeitsnähe bzw. -ferne; real-irreal; möglichunmöglich) und darstellungsbezogen-formaler (Vermittlungsmodus; realistische – non-realistische Darstellungsweisen) Ebene89 werden unterschiedliche Fiktions- und Realitätssignale zusammengestellt. Als Realitätssignale werden auf pragmatischer Ebene Gattungsbezeichnungen und Realitätsgenres (z.B. Biographie, Autobiographie etc.) benannt, auf Ebene des Inhalts wird zwischen Geisteswelt (existierende Theorien, Normen und Modelle), Erlebenswelt (Erleben aus der Außensicht; Innensicht beschränkt auf Autor und wörtliche Rede) und materialer Welt (räumliche, zeitliche, sachlogische Situierung in existierender Welt; detaillierte, konkrete Repräsentationen von Außenwelt) unterschieden, auf Ebene des Vermittlungsmodus sind exakte (Kontext-)Angaben (Namen, Daten, Orte, Quellen), Fachsprache, Fachbegriffe, Ordnungsprinzipien von Zeit und Raum sowie Linearität (z.B. Chronologie) von Relevanz.90 Jedoch tritt in der Textanalyse v.a. dann ein Problem auf, wenn es sich um narrative Texte handelt, die eine hohe Wirklichkeitsnähe und Plausibilität aufweisen und als faktisch gelten wollen, deren historische Referentialität jedoch – aufgrund der Unzugänglichkeit einer der Analyseebenen oder aufgrund des Fehlens von außertextlichen Quellen – nicht überprüfbar ist. Denn eine wichtige Rolle spielt im historiographischen Diskurs der „Wahrhaftigkeitspakt“ zwischen Autor und Leser, der bedingt, dass der Leser annimmt, dass „der Historiker nach bestem Wissen und Gewissen historische Wirklichkeit darzustellen versucht“, d.h. „eine ‚Äquivalenzbeziehung‘ zwischen dem Text und einer außerhalb des Textes befindlichen Wirklichkeit angenommen werden kann“.91 Obgleich die Darstellungsform historiographischer Texte – analog der Kategorien von Martínez/Klein – variieren kann, ist doch ihr pragmatischer Anspruch auf Wahrhaftigkeit und deren Überprüfbarkeit ein unhintergehbares Kriterium für historiogra88

Vgl. I. NICKEL-B ACON/N. GROEBEN/M. SCHREIER, Fiktionssignale Pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en), in: Poetica 32 (2000), 267–299. 89 Vgl. NICKEL-B ACON/GROEBEN/SCHREIER, Fiktionssignale Pragmatisch (s. Anm. 88), 291f. 90 Vgl. NICKEL-B ACON/GROEBEN/SCHREIER, Fiktionssignale Pragmatisch (s. Anm. 88), 295. 91 JAEGER, Erzählen im historiographischen Diskurs (s. Anm. 51), 110. Vgl. dazu M. MARTÍNEZ/M. SCHEFFEL, Narratology and Theory of Fiction. Remarks on a Complex Relationship, in: T. Kindt/H.-H. Müller (Hg.), What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory, Berlin/New York 2003, 221–235.

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phisches Erzählen. Wird dadurch „der erzähltheoretisch-ontologische Status uneindeutig – etwa indem in faktualen Gattungen der Konstruktionscharakter durchscheint (Authentisches erzählt wird) oder in fiktionalen Gattungen der Anspruch eines authentischen Erzählens erhoben wird –, tritt die Frage nach der diskursiven Authentizität auf den Plan“.92 Diese kann nur auf der Basis eines gemeinsamen Kontextes geschehen, denn „Authentizität ist ein zielgruppen-spezifisches Zuschreibungsphänomen“.93 Andererseits liegen selten Reinformen fiktionalen oder nicht-fiktionalen Erzählens vor. Es mag daher hilfreich sein, in Hinsicht auf die FaktFiktion-Unterscheidung von einem Kontinuum zu sprechen und Texte auf einer Achse zwischen Fakt und Fiktion, zwischen faktenorientierten Texten auf der einen und Fiktion auf der anderen Seite zu verorten und somit vielmehr die Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Texten aufzugeben zugunsten einer Einordnung des Grades an Fiktionalität oder Faktualität.94 In ihrem Ansatz der ‚Wirklichkeitserzählungen‘ im Kontext der Debatte um Fiktivität, Fiktionalität und Faktualität unterscheiden Matías Martínez und Michael Scheffel – auf der Grundlage der Theorie von Gérard Genette – zwischen fiktional vs. faktual (den pragmatischen Status der Sprache beschreibend) und zwischen real vs. fiktiv (in Bezug auf den ontologischen Status, die historische Referentialität, den Inhalt der Sprache).95 Sie differenzieren dabei basierend auf dem Geltungsanspruch der Texte zwischen vier Kategorien:96 1) Faktuale Erzählungen mit fiktionalisieren92 A. W EIXLER, Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt, in: ders. (Hg.), Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption (Narratologia 33), Berlin/Boston 2012, 1–32, 19. Vgl. auch M. W IEFARN, Authentifizierungen. Studien zu Formen der Text- und Selbstidentifikation (Literatur. Kultur. Theorie 3), Würzburg 2010. 93 WEIXLER, Authentisches erzählen (s. Anm. 92), 23. 94 Vgl. P. KROGH HANSEN, When Facts Become Fiction: On Extra-Textual Unreliable Narration, in: Skalin, Fact and Fiction in Narrative (s. Anm. 79), 283–307, bes. 289f.; zu einem analogen Vorschlag in Bezug auf die frühchristlichen Wundererzählungen vgl. R. ZIMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung, in: ders. u.a. (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2012, 5–67, 38. 95 Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 67), 15f. Diese Unterscheidung basiert auf ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 61). Sie definieren dabei faktual = authentisch und fiktional = unauthentisch, vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 67), 17; hier „wird erkennbar, dass in der Erzähltheorie Authentizität bisher vorwiegend als Metapher für Referentialisierbarkeit verwendet wird“, so W EIXLER, Authentisches erzählen (s. Anm. 92), 19. 96 Vgl. zum Folgenden ausführlich und mit Beispielen C. KLEIN/M. MARTÍNEZ, Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart/Weimar 2009, 4f.

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den Erzählverfahren 2) Faktuale Erzählungen mit fiktiven Inhalten 3) Fiktionale Erzählungen mit faktualen Inhalten 4) Fiktionale Erzählungen mit faktualem Redemodus. Die neutestamentlichen Evangelientexte sind nach diesem Schema entweder in Kategorie (1) Faktuale Erzählungen mit fiktionalisierenden Erzählverfahren oder (2) Faktuale Erzählungen mit fiktiven Inhalten einzuordnen. Eine definitive Zuordnung gestaltet sich nicht nur aufgrund der Diversität der Texte, sondern auch mangels exakter Kriterien für die Zuordnung als schwierig. Die Erzählungen der kanonischen Evangelien präsentieren sich dem Rezipienten auf den ersten Blick als Erzählungen historischer Ereignisse,97 als Erzählungen historischer Wirklichkeit oder „Wirklichkeitserzählungen“98, als faktuale Texte in narrativer Form.99 Es handelt sich um Texte mit einem erkennbaren Anspruch auf historische Referentialität, die narrative Methoden und Strategien verwenden und z.T. fiktionale Elemente und Passagen enthalten können.100 Jaeger betont in Bezug auf historiographische Texte, „dass sich die Unterscheidung textstrukturell darauf richten kann, wie Fakten oder Fiktionen dargestellt werden, oder pragmatisch darauf, was als Fakt oder was als Fiktion angesehen wird. Historiographisches Erzählen ist am pragmatischen Anspruch erkennbar, auf eine außertextuelle vergangene Welt zu referieren und nicht eine eigenständige fiktionale Welt zu erschaffen“.101 Diesbezüglich hebt er hervor, dass es „bei der Untersuchung historiographischen Erzählens […] nicht oder nur in Ausnahmefällen um die Frage [geht], ob es sich um eine Wirklichkeitserzählung handelt; vielmehr sind die Darstellungsformen und -funktionen historiographischen Erzählens zu untersuchen. Hierbei ist zu zeigen, inwiefern historiographisches Erzählen mit den Erkenntnissen der Erzähltheorie für fiktionales Erzählen analysiert werden kann und wo die Diskussion über die herkömmliche Narratologie fiktionaler Texte hinausgehen muss, um die Besonderheiten der Wirklichkeitserzählung ‚Historio-

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Vgl. A. MUNSLOW, Narrative and History, Basingstoke 2007. Vgl. auch ZIMMERFrühchristliche Wundererzählungen (s. Anm. 94), 32–40. 98 Klein/Martínez unterscheiden drei Typen: deskriptive Erzählungen, normative Erzählungen und voraussagende Erzählungen. Historische Narration besteht zumeist aus einer Mischung dieser drei Typen, vgl. KLEIN/MARTÍNEZ, Wirklichkeitserzählungen (s. Anm. 96), 6f. 99 Jedoch betont Stephan Jaeger, dass es sich bei Texten, die sich als Geschichtsschreibung klassifizieren lassen, nach Ricœurs Mimesistheorie „um Wirklichkeitserzählung zweiter Ordnung“ handelt: „Sie ist Erzählung (als historischer Diskurs) über Erzählungen (narrative Quellen), die wiederum von Ereignissen und menschlichen Handlungen in der Geschichte erzählen“, so J AEGER, Erzählen im historiographischen Diskurs (s. Anm. 51), 132. 100 Vgl. MUNSLOW, Narrative and History (s. Anm. 97); zudem Z IMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen (s. Anm. 94), 32–40. 101 JAEGER, Erzählen im historiographischen Diskurs (s. Anm. 51), 110. MANN,

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graphie‘ in den Blick nehmen zu können“.102 Das bedeutet: Während es nicht möglich ist, festzustellen, ob die Inhalte als real oder fiktiv einzuordnen sind, kann doch der Anspruch auf Faktualität im Text ausgemacht werden und mit Methoden der Narratologie auf textliche Indikatoren dieses Anspruchs analysiert werden.103 Was nun also in den Blick genommen werden muss, ist der im Text angelegte Anspruch auf Faktualität104 bzw. die Konstruktion von Authentizität,105 die sich in den narrativen Texten manifestiert, sowie die Kriterien, nach welchen der implizite Leser die Texte als faktuale Texte kategorisiert.

4. ‚Parables‘ und ‚megaparables‘ – Fiktion oder Historiographie? Anhand des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter sollen im Folgenden mögliche textinterne Indikatoren erhoben werden, die den Text als faktualen bzw. fiktionalen wahrnehmen lassen: 30

`Upolabw.n o` vIhsou/j ei=pen\ a;nqrwpo,j tij kate,bainen avpo. vIerousalh.m eivj vIericw. kai. lh|stai/j perie,pesen oi] kai. evkdu,santej auvto.n kai. plhga.j evpiqe,ntej avph/lqon avfe,ntej h`miqanh/) 31 kata. sugkuri,a n de. i`ereu,j tij kate,b ainen evn th/| o`dw/| evkei,nh| kai. ivdw.n auvto.n avntiparh/lqen\ 32 o`moi,wj de. kai. Leui,thj [geno,menoj] kata. to.n to,pon evlqw.n kai. ivdw.n avntiparh/lqen) 33 Samari,thj de, tij o`deu,wn h=lqen katV auvto.n kai. ivdw.n 102

JAEGER, Erzählen im historiographischen Diskurs (s. Anm. 51), 114f. Vgl. M. EBNER, Die Exorzismen Jesu als Testfall für die historische Rückfrage. Die Herausforderung des linguistic turn als Chance für die exegetische Wissenschaft, in: P. v. Gemünden/D. G. Horrell/M. Küchler (Hg.), Jesus – Gestalt und Gestaltungen. Rezeption des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft, FS G. Theissen, Göttingen 2013, 477–498. 104 Vgl. D. COHN, The Distinction of Fiction (s. Anm. 60), bes. 109–131; vgl. auch D IES., Signposts of Fictionality (s. Anm. 60). 105 Vgl. S. KREUZER, Künstl(er)i(s)che Strategien von Authentizitätskonstruktion – Beispiele aus Literatur, Film und bildender Kunst, in: W. Funk/L. Krämer (Hg.), Fiktionen von Wirklichkeit. Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion, Bielefeld 2011, 179–204; vgl. zudem J. I LGNER, Ut veduta poesis. Topographisches Erzählen als Authentizitätsstrategie im historischen Roman, in: A. Weixler (Hg.), Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption (Narratologia 33), Berlin/Boston 2012, 197–212, 198. Sie ergänzt zudem die vier von Martínez/Scheffel vorgeschlagenen Kategorien um eine weitere: „In Anlehnung an die dort vorgeschlagenen vier Kategorien faktual-fiktionaler Narration lässt sich topographisches Erzählen als Subform fiktionalen Erzählens mit faktualem Inhalt und faktualisierenden Verfahren plausibilisieren, das jedoch fiktionalen Geltungsanspruch besitzt“, a.a.O., 201. Vgl. zu dieser Diskussion auch den Sammelband E. FISCHER-LICHTE/I. P FLUG (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Bd. 1, Tübingen 22007; zudem E. U. P IRKER u.a. (Hg.), Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, Bielefeld 2010. 103

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evsplagcni,sqh( 34 kai. proselqw.n kate,dhsen ta. trau,mata auvtou/ evpice,wn e;laion kai. oi=non( evpibiba,saj de. auvto.n evpi. to. i;dion kth/noj h;gagen auvto.n eivj pandocei/on kai. evpemelh,qh auvtou/) 35 kai. evpi. th.n au;rion evkbalw.n e;dwken du,o dhna,ria tw/| pandocei/ kai. ei=pen\ evpimelh,qhti auvtou/( kai. o[ ti a'n prosdapanh,sh|j evgw. evn tw/| evpane,rcesqai, me avpodw,sw soi) 36 ti,j tou,twn tw/n triw/n plhsi,on dokei/ soi gegone,nai tou/ evmpeso,ntoj eivj tou.j lh|sta,j È 37 o` de. ei=pen\ o` poih,saj to. e;leoj metV auvtou/) ei=pen de. auvtw/| o` vIhsou/j \ poreu,ou kai. su. poi,ei o`moi,wj (Lk 10,30–37).

Crossans Analyse des Gleichnisses vom guten Samariter erbringt die Erkenntnis, dass auch Gleichnisse historische Referentialität in gewissem Rahmen aufweisen, z.B. in Bezug auf „factual geography. But, still, all else is fiction, even if set in that factual location. The victim, priest, Levite, and Samaritan were all fictional. So also were the bandits, donkey, innkeeper, and those two denarii. (But, of course, even fictional stories can reveal much about general history – that there were bandits along that desert road, for example, or that the local currency was denarii rather than dollars.) But apart from those generalities and the actuality of that precise location, parables by Jesus involve fictional characters in fictional stories“.106

Das heißt Gleichnisse entsprechen hinsichtlich der historischen Referentialität zunächst den Kriterien historiographischer Texte und scheinen die außertextliche Wirklichkeit abzubilden: „Alle genannten Namen, Daten und Funktionen haben ein referentielles Äquivalent in der Geschichte, außerhalb der historiographischen Erzählung“.107 Gleichnisse sind aufgrund ihrer Gattungsdefinition fiktionale Geschichten, die aber einen gewissen Anhalt an der historischen Wirklichkeit haben, d.h. die Wirklichkeit abbilden und damit einen Blick auf die antike Welt, Sozialgeschichte etc. zulassen.108 Sie sind „brief fictions realistically portraying aspects of firstcentury Palestinian life“ bzw. „brief narrative[s] that [are] deliberate artistic invention“, die „Jesus’ fictive vision of reality“ widerspiegeln.109 Während der Inhalt einer isoliert betrachteten Gleichniserzählung realistisch ist und häufig nicht erkennen lässt, ob sie als fiktionale oder faktuale Erzählung wahrgenommen werden möchte, so lassen doch paratextuelle Indikatoren, wie z.B. die Verwendung von Einleitungsphrasen, einen fiktionalen Anspruch erkennen. Die Verwendung standardisierter Formulierungen wie z.B. a;nqrwpo,j tij (Lk 10,30) oder auch eine direkte Benennung der Gattung, wie z.B. ei=pen de. parabolh.n pro.j auvtou.j le,gwn (Lk 12,16) in der Einleitung machen deutlich, dass es sich um eine fiktionale Erzählung, z.B. um eine Beispielerzählung, handelt. Auch eine Einführung durch 106

CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 142. JAEGER, Erzählen im historiographischen Diskurs (s. Anm. 51), 112. 108 Vgl. z.B. ZIMMERMANN, Gleichnisse Jesu (s. Anm. 3), 76f. 109 C. W. HEDRICK, Parables as Poetic Fictions. The Creative Voice of Jesus, Eugene 1994, 3. 4. 34. Vgl. dazu auch a.a.O., 39–56 sowie a.a.O., 30–32 zur Poetizität der Gleichnisse. 107

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ti,j evx u`mw/n e[xei fi,lon kai. poreu,setai pro.j auvto.n mesonukti,ou kai. ei;ph| auvtw/| … (Lk 11,5) rückt den darauf folgenden Text in den Bereich des fiktiven Beispiels. Auch hier erweist sich, dass Indikatoren der Fiktionalität eindeutiger zu identifizieren sind als Kriterien, die den faktualen Anspruch eines Textes erkennen lassen. Zentral für Crossans Ansatz ist der Aspekt der Metaphorizität, denn „a parable, that is, a metaphorical story, always points externally beyond itself, points to some different and much wider referent“.110 Diese Annahme ist die Klammer, die aus seiner Perspektive Gleichnisse mit Evangelienerzählungen verknüpft: Die gedeutete Jesusgeschichte in den Evangelien weist ebenso über die eigentliche Erzählung hinaus auf einen externen Referenten wie die von Jesus erzählten Gleichnisse und kann daher ebenso als Gleichnis, als „megaparable“ verstanden werden. Diese den beiden Formen von Gleichnissen gemeinsame Referentialität ist durch die Deutung der Texte konstituiert. In den Evangelien findet sich jedoch „a much more unnerving mix of fact and fiction, history and parable“, denn im Gegenüber zu den Gleichnissen (‚parables‘) geht es dort nicht um „fictional characters in fictional stories, but […] factual characters in fictional stories or, if you prefer, historical characters in parabolic stories“.111 Denn Crossan schließt aus der Bezeugung antiker Quellen über Jesus „that Jesus was an actual, factual, historical figure and not a metaphorical, symbolic, or parabolic invention by his first-century Jewish contemporaries“, doch gilt zugleich: „he comes to us trailing clouds of fiction, parables by him and about him, particular incidents as miniparables and whole gospels as megaparables“.112 Unter dem Aspekt des Konstruktionscharakters aller Geschichtsschreibung lassen sich die Evangelienerzählungen sicher als Realitätskonstruktion des frühen Christentums unter Einbindung fiktiver Inhalte und fiktionaler Erzählstrategien verstehen.113 Doch sind diese Narrationen nicht grundsätzlich mit fiktiven Texten wie den Gleichnissen gleichzusetzen. Die Evangelien, v.a. das Lukasevangelium, lassen deutlich einen Anspruch erkennen, als faktuale Texte wahrgenommen zu werden (vgl. z.B. Lk 1,1– 4).114 Doch – wie oben dargestellt – widerspricht dieser Anspruch im 110

CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 9. CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 143. 112 CROSSAN, The Power of Parable (s. Anm. 2), 251. 113 Vgl. dazu R. Z IMMERMANN, Phantastische Tatsachenberichte?! Wundererzählungen im Spannungsfeld zwischen Historiographie und Phantastik, in: B. Kollmann/R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Aspekte (WUNT 339), Tübingen 2014, 469– 494, bes. 476–483. 114 Hier wäre die Verwendung der aktuellen literaturwissenschaftlichen Definitionen der Kategorien fiktional vs. faktual in Bezug auf antike Texte zu problematisieren – es 111

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Rahmen antiker historiographischer Konventionen nicht der Einbindung fiktiver Elemente oder der Verwendung fiktionaler Erzählverfahren. Narrative Geschichtskonstruktion ist somit nicht mit Fiktion gleichzusetzen. Während jedoch Indikatoren, die den faktualen Anspruch eines Textes anzeigen, nur schwer zu erheben sind, lassen sich doch Möglichkeiten der Authentizitätskonstruktion auf rezeptionsästhetischer Ebene ausmachen – insbesondere eine dieser Strategien ist hier von zentraler Bedeutung: Betrachtet man ein Gleichnis als eine durch eine Figur der Narration erzählte fiktionale Geschichte, so kann die Einbettung der Gleichniserzählung in den Kontext des Evangeliums als Strategie der Authentizitätskonstruktion des umgebenden Erzähltextes dienen. Denn durch die deutliche Kennzeichnung eines Gleichnisses als fiktionaler Text, der als „erfundene Erzählung“ in die Geschichtserzählung eingefügt wird, potenziert sich beim Rezipienten die Wahrnehmung des umgebenden Textes im Sinne eines faktualen Textes. Natürlich können auch in fiktionalen Texten den fiktiven Figuren der Handlung fiktive Erzählungen in den Mund gelegt werden, ohne dass dies einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Authentizität des Gesamttextes haben muss. In Texten wie dem Lukasevangelium hingegen, die deutlich indizieren, dass sie als Geschichtserzählung verstanden werden wollen, kann die Verwendung fiktiver Textbausteine, wie z.B. Gleichniserzählungen, als eine Strategie der Validierung der dort dargelegten narrativen Geschichtskonstruktion dienen. Inwieweit die Wahrnehmung des modernen und des antiken Lesers in dieser Hinsicht differieren, muss jedoch offen bleiben.

Abstract Drawing on J. D. Crossan’s distinction between ‘parables by Jesus’ (‘parables’) and ‘parables about Jesus’ (‘megaparables’), this chapter considers possibilities of identifying indicators that allow one to distinguish between fictional and factual texts. Following an overview of recent developments in the scholarly study of history since the linguistic turn, the text discusses literary approaches, which allow a positioning of New Testament texts within the framework of factuality and fictionality or the construction of factuality or authenticity. The author stresses that the integration of fictive content and fictional strategies is constitutive for ancient historiography and does not necessitate the conclusion that a particular text is fictional. In contrast it is sugstellt bislang ein Desideratum dar, die Kategorien der Fiktion bzw. Faktualität für antike Texte zu adaptieren und präzise Kriterien herauszuarbeiten, diese modernen Kategorien auf antike, insbesondere theologische (und) historiographische Texte, anzuwenden. Vgl. dazu LUTHER, Erdichtete Wahrheit (s. Anm. 69).

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„Augenzeugenschaft“ als historisches und hermeneutisches Konzept – nicht nur im Johannesevangelium Ruben Zimmermann

Prolog in der Antarktis Da bleibt kein Auge trocken, das dies gesehen hat. Eine wunderbare Geschichte! Der Hundeschlittenführer Jerry Shepard muss seine acht Huskies aufgrund eines übereilten Aufbruches wegen eines Schneesturms allein am Mount Melbourne auf der Antarktis zurücklassen. Er hofft, sie in wenigen Tagen holen zu können. Doch der Sturm wird schlimmer, zwingt die Expedition sogar, die Basisstation abzubrechen. Es ist undenkbar, nochmal wegen der Hunde an die Außenstelle zurückzufliegen. Es wäre lebensgefährlich. Jerry muss in die USA zurückkehren. Der arktische Winter macht eine erneute Reise ins ewige Eis unmöglich. Die Monate vergehen. Doch seine treuen Hunde lassen ihm keine Ruhe. Haben sie nicht auch ihr Leben für ihn riskiert, um ihn zu retten? Schließlich kann Jerry das Geld für eine Expedition auftreiben, um vorzeitig auf die Antarktis zurückzukehren. Es gibt eigentlich keine Hoffnung, dass einer der Hunde überlebt hat. 175 Tage allein im Eis, bei minus 40 Grad. Doch dann das Unfassbare: Fünf der acht Hunde leben noch. Er kann sie mitnehmen und retten. Ein ‚Happy End‘.

Der Film „Antarktika – gefangen im Eis“1 basiert auf einer wahren Geschichte. Augenzeugen haben die Vorlage für das Drehbuch geliefert. Was hier dargestellt wird, ist tatsächlich passiert im Jahr 1958. Und zweifellos, dies macht auch den besonderen Reiz des Filmplots aus. Hier wird nicht ein rühriges Hundemärchen erzählt, sondern eine echte Begebenheit. Dass so etwas wirklich passiert ist, lässt nicht nur die Augen von Hundefreunden übergehen! Es macht Mut, das Ausweglose zu wagen, zu hoffen, wo nichts mehr zu hoffen ist, seinem Herzen zu folgen. Eine tiefsinnige, wahre Geschichte. Aber wie wahr ist sie wirklich? Was ist eigentlich genau passiert? „Historisch-kritische“ Recherchen bringen ans Licht, dass nicht acht, sondern 1 Der Originaltitel des US-amerikanischen Films aus dem Jahr 2006 lautet „Eight Below“, Regisseur war Frank Marshall, Produktion: Walt Disney Pictures und Buena Vista International.

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fünfzehn Hunde im Eis zurückgelassen wurden. Von diesen haben nur zwei überlebt. Was macht es nun für einen Unterschied, ob es fünf von acht oder zwei von fünfzehn waren? Für die überwiegend jüngeren Zuschauer hinterlässt der höhere Prozentsatz vielleicht ein besseres Gefühl. Drei Viertel der Hunde haben überlebt, nicht nur ein Achtel. Eine Intensivierung einer immer noch historischen Geschichte. Narratologisch gesprochen: Ein fiktionalisierendes Moment einer faktualen Erzählung. Man kann weiter recherchieren, dass die Filmstory nicht die erste Umsetzung der Ereignisse im Rahmen einer japanischen Expedition von 1958 darstellt. Der amerikanische Film ist vielmehr ein Re-Make des japanischen Films „Taro und Jiro in der Antarktis“ (1983). Die Filmgeschichte von Antarktika ist insofern eine Geschichte über eine andere Geschichte und greift nur mittelbar auf die Ereignisse zurück. Aber in unserem Zusammenhang gravierender mag die Entdeckung sein, dass die Hauptperson und damit die Identifikationsfigur abhanden gekommen ist. Der sympathische Hundeschlittenführer fehlt nicht nur im ersten Film, er fehlt auch in der Geschichte. Er ist ein fiktives Element der amerikanischen Filmproduktion. Der wichtigste Augenzeuge also eine Erfindung? Aber was macht das für einen Unterschied? So hilfreich die Figur ist, um emotional in die Geschichte hineingeführt zu werden – entscheidend ist doch, dass so etwas passiert ist, könnte man einwenden. Kann also eine fiktive Gestalt zum Garanten einer wahren Geschichte werden? Aber was, wenn wir erfahren hätten, dass gar kein Hund überlebt hat, sondern nur die Suche nach ihnen stattgefunden hat? Wäre die Filmstory dann unglaubwürdig, verfehlte ihre Wirkung? Oder welchen Unterschied würde es machen, wenn die ganze Geschichte ausgedacht wäre? Wäre es nicht auch sinnstiftend, eine kontrafaktische Geschichte zu erzählen, die gerade rebellieren möchte gegen die Erfahrung der Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit, die der Resignation eine narrative Vision entgegen setzen möchte? Wäre die Geschichte dann unwahr und sinnlos, weil der brüchige Haftpunkt in der Historie als Beweis für ihre Glaubwürdigkeit fehlt? Oder droht der reinen Fiktion doch die Authentizität und Wahrheit abhanden zu kommen, braucht eine wahre Geschichte eben doch einen geschichtlichen Hintergrund der Ereignisse? Das Beispiel führt uns mitten hinein in Fragen von Fiktionalität und Faktualität, Fiktivität und Faktizität und wie diese Aspekte zusammenhängen. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Kombination zwingen uns an den Verhandlungstisch mit uns selbst über die Bedeutsamkeit von Referenz und Faktizität auch der neutestamentlichen Geschichten. Was für einen Unterschied würde es machen …? Sind wir gewillt, dem faktualen

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Redemodus der Jesuserzählungen des Neuen Testaments zu folgen? Bis zu welchem Maß? So wie es vielleicht keinen wesentlichen Unterschied macht, ob es nun fünf oder zwei Hunde waren, so mag es auch weniger bedeutsam sein, ob der Kranke am Teich Bethesda nun 18 oder 38 Jahre gelähmt war (Joh 5,5). Man mag sogar gewillt sein, die so parallel konstruierte Lähmungserzählung nach Apg 3 aufzugeben, so lange nur der Wahrheitsgehalt der Vorlage in Mk 2 bestehen bleibt. Aber wie weit wollen wir gehen auf diesem Grat der Fiktionalität versus Faktualität? Sind wir aufgrund des Einspruchs unserer aufgeklärten Vernunft z.B. geneigt, der Faktizität der Naturwundererzählungen grundsätzlich den Vertrauenspakt aufzukündigen? Wo hören fiktive Ausweitungen einer immer noch historischen Erzählung auf und beginnt das Hinübergleiten in die phantastische Erzählweise, die die geschichtliche Referenzialität entbehrt?2 Reicht das bloße „Dass“ einer historischen Jesusgestalt als Notanker der geschichtlichen Glaubwürdigkeit und Wahrheit einer immer schon interpretierten Jesusgeschichte? Oder geben die Erzählungen mehr Hinweise auf eine außersprachliche Referenzialität? Lässt die faktuale Erzählweise erkennen, dass auch Details der Story keine Fiktion, keine frei erfundene Geschichte darstellen? Doch was sind solche Signale für die Wahrhaftigkeit, Faktenreferenz bzw. Faktualität einer neutestamentlichen Erzählung3 wie z.B. des Johannesevangeliums? Ein markantes, aber ebenso umstrittenes Motiv innerhalb des vierten Evangeliums ist das der „Augenzeugenschaft“. Es soll im Folgenden im Zentrum der weiteren Überlegungen stehen.

1. Der Verfasser des vierten Evangeliums als Augenzeuge? Der ephesinische Bischof Polykrates schrieb im so genannten Osterfeststreit an den römischen Bischof Victor um 190 n. Chr. Folgendes (vgl. Eus, HistEccl 3,31,3)4: 2 Vgl. zur produktiven Dynamik dieser Übergangszone R. ZIMMERMANN, Phantastische Tatsachenberichte?! Wundererzählungen im Spannungsfeld zwischen Historiographie und Phantastik, in: B. Kollmann/R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische, rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT 319), Tübingen 2014, 469–494. 3 Vgl. zu dieser Frage S. LUTHER, Erdichtete Wahrheit oder bezeugte Fiktion? Realitäts- und Fiktionalitätsindikatoren in frühchristlichen Wundererzählungen – eine Problemanzeige, in: Kollmann/Zimmermann, Hermeneutik (s. Anm. 2), 345–368. 4 Vgl. E. SCHWARTZ/T. MOMMSEN/F. WINKELMANN (Hg.), Euseb. Historia Ecclesiastica, GCS Euseb N.F. 6/1-3, Berlin ²1999, 264.

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Auch „große Sterne“ haben in der Asia ihre Grabstätte wie z.B. Philippus oder „Johannes, der an der Brust des Herrn lag, der ein Priester, den Stirnschild Tragender, Zeuge und Lehrer war; dieser ist in Ephesus gestorben (eingeschlafen)“.

Nicht die Ephesus-Tradition oder die postulierte priesterliche Herkunft interessieren mich hier an diesem Zitat, sondern die Bemerkung, dass „Johannes, der an der Brust des Herrn lag“ (de. kai. VIwa,nnhj, o` evpi. to. sth/qoj tou/ kuri,ou avnapesw,n) zugleich „Zeuge“ (ma,rtuj) genannt wird. Was ist damit gemeint? Aus dem Johannesevangelium ist die Formulierung „der an der Brust des Herrn lag“ bekannt. Sie wird in Joh 13,23–25 und 21,20 auf den Lieblingsjünger bezogen: Joh 13,23: h=n avnakei,menoj ei-j evk tw/n maqhtw/n auvtou/ evn tw/| ko,l pw| tou/ VIhsou/( o]n hvga,pa o` VIhsou/jÅ Es war einer von seinen Jüngern, der im Schoß/an der Brust von Jesus lag, den Jesus liebte. Joh 13,25: avnapesw.n ou=n evkei/noj ou[twj evpi. to. sth/qoj tou/ VIhsou/ le,gei auvtw/| Während sich jener nun so an die Brust von Jesus legte, sagt er ihm […] Joh 21,20: VEpistrafei.j o` Pe,troj ble,pei to.n maqhth.n o]n hvga,pa o` VIhsou/j avkolouqou/nta( o]j kai. avne,pesen evn tw/| dei,pnw| evpi. to. sth/qoj auvtou/ […] Sich umwendend sieht Petrus den Jünger, den Jesus liebte, folgend, der auch beim Mahl an seiner Brust lag […]

Hier – wie auch sonst im Evangelium – ist zwar keineswegs davon die Rede, dass dieser Lieblingsjünger „Johannes“ heißt. Wohl aber wird der Lieblingsjünger in Joh 21,24 als Verfasser des Vorgenannten benannt, mehr noch, er wird als „Zeuge“ beschrieben: Joh 21,24: Ou-to,j evstin o` maqhth.j o` marturw/n peri. tou,twn kai. o` gra,yaj tau/ta( kai. oi;damen o[ti avlhqh.j auvtou/ h` marturi,a evsti,nÅ Dieser ist der Jünger, der über dies Zeugnis gibt und der dies geschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.

Der Verfasser des vierten Evangeliums (o` gra,yaj tau/ta) wird hier „Jünger“ (maqhth,j) genannt und gibt ein Zeugnis, das nach Einschätzung des kollektiven ‚Wir‘ „wahr“ ist. Eine ganz ähnliche Formulierung vom „wahren Zeugnis“ kennt der erinnernde Leser bereits von der Kreuzesszene. Nach dem Lanzenstich heißt es: Joh 19,35: kai. o` e`wrakw.j memartu,rhken( kai. avlhqinh. auvtou/ evstin h` marturi,a( kai. evkei/noj oi=den o[ti avlhqh/ le,gei( i[na kai. u`mei/j pisteu,ÎsÐhteÅ Und der (es) gesehen hat, hat (es) bezeugt, und wahr ist sein Zeugnis, und jener weiß, dass er wahr redet, damit auch ihr glaubt.

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Hier ist nun nicht nur von einem „Zeugen der Wahrheit“ die Rede, sondern genauer wird der Zeuge noch als Sehender, d.h. als „Augenzeuge“, betrachtet. Wer aber ist der Sehende, wer ist dieser Augenzeuge? Der Kontext legt auch hier nahe, dass der Lieblingsjünger gemeint ist, denn er wird wenige Verse zuvor als einer (der wenigen) genannt, die noch am Kreuz standen, gemeinsam mit Jesu Mutter (Joh 19,25–27) und anderen Frauen. Ist somit zumindest der Jünger, den Jesus lieb hatte, ein „Augenzeuge“, der es „gesehen habend bezeugt“, also von dem Zeugnis ablegt, was er mit eigenen Augen gesehen und erlebt hat? Ob man mit einigen Forschern diesen Lieblingsjünger unter Zuhilfenahme altkirchlicher Notizen etwa des Papias oder Irenäus (nach Euseb) zugleich als den ‚Zebedäiden Johannes‘ (so Hill) oder als den „Presbyteros“ der Johannesbriefe (Bauckham) betrachtet oder ihn als den „alten Johannes“, d.h. den Presbyter mit Namen „Johannes“ ansieht (Hengel) oder gar den Zebedeiden Johannes als mit dem Presbyteros identischen Autor betrachtet (z.B. Keener), ist für meine Fragestellung sekundär.5 Entscheidend ist aber, dass offenbar das vierte Evangelium eine Vorstellung von Augenzeugenschaft kennt und dass aus den genannten Stellen abgeleitet werden kann, dass der Lieblingsjünger als Augenzeuge benannt wird. Diese Einsicht wird nun in ganz unterschiedlichen Forschungsperspektiven aufgenommen: Für Martin Hengel ist es besonders die Nähe zu den Ereignissen, Ortskenntnisse und Lokalkolorit der Jerusalemer Aristokratie, die ihn zu seiner These bringen, dass der Verfasser ein „Jünger des Herrn“ ist, „ein zur Zeit der Passion Jesu noch ganz junger, zunächst noch relativ unbekannter Jünger“.6 Obgleich er mit narratologischen und pragmatischen Theorien arbeitet, betrachtet auch Derek Tovey den Autor des vierten Evangeliums als „one who has direct and immediate access to the events to which his narrative refers“.7 Immer dann, wenn der Lieblingsjünger in Erscheinung tritt, wird nach Tovey so detailliert berichtet, dass hier an ein „eyewitness report“8 zu denken sei. Kevin J. Vanhoozer betrachtet ausgehend von der Bemerkung über den Tod des Lieblingsjüngers in Joh 21,21– 23 das ganze Evangelium auch gattungsgemäß als „Testament“ eines Au-

5 Vgl. zur Diskussion der Verfasserhypothesen den Überblick bei U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 82013, 505–508; ferner M. HENGEL, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (WUNT 67), Tübingen 1993, 204–274. 6 Vgl. HENGEL, Frage (s. Anm. 5), 318 sowie die Darlegung seiner Hypothese 264– 274. 7 D. T OVEY, Narrative Art and Act in the Fourth Gospel (JSNT.S 151), Sheffield 1997, 143. 8 T OVEY, Narrative Art (s. Anm. 7), 140: „At every point where the beloved disciple appears […] the narrative includes items of close detail which suggest ‚on the spot‘, eyewitness report“.

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genzeugen.9 Für Robert G. Maccini ist es das Augenzeugnis von Frauen, mit denen der Autor den Anspruch vermitteln möchte, dass es sich beim Johannesevangelium um einen historisch zuverlässigen Bericht über Jesu Worte und Taten handelt.10 Frauen seien in allen Evangelien auch explizit als „Eyewitnesses“ beim Kreuz, Grablegung und den Auferweckungsereignissen benannt.11 Für Samuel Byrskog ist es das mündliche Zeugnis des Augenzeugen, das zum Schlüssel des ganzen Evangeliums wird: „Now, in 21:24 his oral history becomes the focal point of assuring the validity of the entire narrative“.12 Selbst in der narratologischen Studie von Cornelis Bennema zu den Figuren im Johannesevangelium wird der Lieblingsjünger als der „ideale“ und auch „einzige“ Augenzeuge („ideal eyewitness“) betrachtet: „the Beloved Disciple is depicted as the unique eyewitness“.13 Und auch Benedikt XVI/Josef Ratzinger hat in seinem Jesusbuch Bd. 1 die Autorität eines „Augenzeugen“ für das vierte Evangelium angenommen.14 Schließlich hat Richard Bauckham das Johannesevangelium explizit als Werk eines Augenzeugen betrachtet: „One of the Gospels claims not only to be based on eyewitness accounts but to have been actually written by an eyewitness“.15 Bauckhams Statement zu Johannes ist zugleich Teil einer umfangreichen Studie Jesus and the Eyewitnesses (2006), die der Bedeutung der „Augenzeugenschaft“ insgesamt eine hohe historischüberlieferungsgeschichtlich und hermeneutisch-theologische Bedeutung 9

K. J. VANHOOZER, The Hermeneutics of I-Witness Testimony: John 21.20-24 and the ‚Death‘ of the ‚Author‘, in: A. G. Auld (Hg.), Understanding Poets and Prophets. Essays in Honour of G. W. Anderson (JSOT.S 152), Sheffield 1995, 366–387. 10 R. G. MACCINI, Her Testimony Is True. Women as Witnesses According to John, (JSNT.S 125), Sheffield 1996, 4. 245–246. 11 Vgl. MACCINI, Testimony (s. Anm. 10), 77–83: „Summarizing, the four Evangelists report that a group of women were eyewitnesses to Jesus’ crucifixion and (except for John) his interment“ (77f.). 12 S. BYRSKOG, Story as History – History as Story. The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History (WUNT 123), Tübingen 2000, 238. „The disciple’s status as an eyewitness of key points in Jesus’ career served, it seems, as a legitimate basis for conferring on him an authorial status, thus linking the faith that the written narrative is to encourage (cf. 20:31) to the history of the past“ (ebd.). 13 C. B ENNEMA, Encountering Jesus. Character Studies in the Gospel of John, Milton Keynes u.a. 2009, 18 (Kursivierung im Original). 14 J. RATZINGER/BENEDIKT XVI, Jesus von Nazareth I: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2007, 260–280. 15 R. B AUCKHAM, Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids 2006, 358; mit dem vierten Evangelium befasst sich Bauckham in Kap. 14–17, a.a.O., 358–472 sowie dann ausführlicher DERS., The Testimony of the Beloved Disciple: Narrative, History, and Theology in the Gospel of John, Grand Rapids 2007; sowie auch in Auseinandersetzung mit Lincoln, vgl. DERS., The Fourth Gospel as the Testimony of the Beloved Disciple, in: ders./C. Mosser (Hg.), The Gospel of John and Christian Theology, Grand Rapids 2008, 120–138.

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zumisst. Sie ist zugleich Ausdruck eines wiedererwachten Interesses an Augenzeugenschaft in der neutestamentlichen Forschung, das nähere Aufmerksamkeit verdient.

2. „Augenzeugenschaft“ – eine ‚phänomenologische‘ Annäherung 2.1 Die Renaissance der „Augenzeugen“ in der neutestamentlichen Wissenschaft Nachdem längere Zeit die Frage nach Augenzeugen aus der neutestamentlichen Wissenschaft verbannt schien,16 kann man in jüngerer Zeit von einer regelrechten Renaissance des Forschungsinteresses an dem Motiv sprechen. Dabei ist die Variationsbreite beachtlich, aus der sich Forscher ganz unterschiedlicher Traditionen dem Motiv zugewandt haben. Eine besondere Aufmerksamkeit wurde zunächst dem auvto,pthj-Beleg von Lk 1,2 zuteil, sei es, dass man an einer semantischen Klärung interessiert war, auf wen sich die „Augenzeugen“ des Lukasprologs überhaupt beziehen (auf Jünger Jesu oder spätere Apostel17); sei es, dass eine historisch-redaktionskritische Fragestellung an Lukas und seinen Augenzeugen18 im Vordergrund stand, wobei insbesondere auch die „Wir-Stücke“ der Apostelgeschichte in die Diskussion einbezogen wurden.19 Überwiegend wurde der Augenzeugenvermerk des Lk im Kontext eines möglichen historiographischen Anspruchs des dritten Evangelisten ausgewertet und dabei Augenzeugenschaft als ein Motiv der antiken Geschichts16 R. Riesner verweist auf das humoristische Zitat von Vincent Taylor, dass nach Vertretern der Formgeschichte die Jünger Jesu nach der Auferstehung offenbar in den Himmel aufgefahren seien, vgl. R. R IESNER, Die Rückkehr der Augenzeugen. Eine neue Entwicklung in der Evangelienforschung, in: ThBeitr 38 (2007), 337–352. 17 Vgl. so z.B. K. A. KUHN, Beginning the Witness: The auvto,ptai kai. u`phre,tai of Luke’s Infancy Narrative, in: NTS 49 (2003), 237–255. Kuhn vertritt die These, „that ‚from the beginning‘ signals Luke’s intent to present the faithful heralds of John’s and Jesus’ birth in Luke 1-2 as among those who are ,eyewitnesses and ministers of the word‘“ (a.a.O., 241). 18 M. HENGEL, Der Lukasprolog und seine Augenzeugen: Die Apostel, Petrus und die Frauen, in: S. C. Barton/L. T. Stuckenbruck (Hg.), Memory in the Bible and Antiquity (WUNT 212), Tübingen 2007, 195–242. 19 M. Hengel sieht in den Wir-Stücken die Basis für eine „partielle Augenzeugenschaft“ des auctor ad Theophilum, vgl. M. HENGEL/A. M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels (WUNT 108), Tübingen 1998, 9–26; ähnlich M. WOLTER, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 8; differenziert A. M. WEDDERBURN, The ‚We-Passages‘ in Acts: On the Horns of a Dilemma, in: ZNW 93 (2002), 78–98.

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schreiber wahrgenommen.20 So ordnete z.B. Detlev Dormeyer den Lukasprolog in den Kontext anderer Historiker wie Herodot, Thukydides oder Josephus ein, die je auf ihre Weise Augenzeugenschaft als Programm für die authentische Arbeitsweise des Geschichtsschreibers vertreten (s.u.)21. Josephus konnte dann auch selbst zum Gegenstand der Erörterung werden.22 In Aufnahme der älteren Studie von Birger Gerhardsson war für Samuel Byrskog, Rainer Riesner und anders gelagert James D. G. Dunn die Frage der Traditionskontinuität urchristlicher Überlieferung im Fokus der Betrachtung.23 Während jedoch Dunn Augenzeugenschaft auf den Anfang der Erinnerungsgeschichte begrenzte, sah Byrskog darin ein zentrales Moment der Traditionskontinuität. Die Studie Story as History – History as Story verdient besondere Beachtung, weil Byrskog hierbei das Motiv der Augenzeugenschaft nicht nur bei Historiographen der Antike untersuchte,24 sondern auch noch mit dem sozialwissenschaftlichen Konzept der „oral history“ verknüpfte. Für Byrskog basieren die Evangelien des Neuen Testaments auf Augenzeugenberichten, die aber zugleich einen interpretieren20 Vgl. dazu L. ALEXANDER , The Preface to Luke’s Gospel. Literary Convention and Social Context in Luke 1,1–4 and Acts 1,1 (MSSNTS 78), Cambridge 1993, 34–41; allgemein zum Thema ferner J. FREY/C. K. ROTHSCHILD/J. SCHRÖTER (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie (BZNW 162), Berlin u.a. 2009 (darin z.B. J. FREY, Fragen um Lukas als ‚Historiker‘ und den historiographischen Charakter der Apostelgeschichte: Eine thematische Annäherung, 1–26; oder J. SCHRÖTER, Zur Stellung der Apostelgeschichte im Kontext der antiken Historiographie, 27–47). 21 D. DORMEYER , Augenzeugenschaft, Geschichtsschreibung, Biographie, Autobiographie und Evangelien in der Antike, in: J. Schröter/A. Eddelbüttel (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive (TBT 127), Berlin 2004, 237–261, 238–245; ähnlich mit Schwerpunkt auf Lk 1,3 auch D. P. MOESSNER, The Appeal and Power of Poetics (Luke 1:1–4). Luke’s Superior Credentials (parhkolouqhko,ti), Narrative Sequenz (kaqexh/j), and Firmness of Understanding (h` avsfa,leia) for the Reader, in: ders. (Hg.), Jesus and the Heritage of Israel. Luke’s Narrative Claim upon Israel’s Legacy, Harrisburg 1999, 84–123. 22 D. P. MOESSNER, „Eyewitness,“ „informed contemporaries,“ and „unknowing inquirers“: Josephus’ Criteria for authentic historiography and meaning of PARAKOLOUQEW, in: NovT 38 (1996), 105–122. 23 Vgl. RIESNER, Augenzeugen (s. Anm. 16); BYRSKOG, Story as History (s. Anm. 12); DERS., The Eyewitnesses as Interpreters of the Past: Reflections on Richard Bauckham’s Jesus and the Eyewitnesses, in: JSHJ 6 (2008), 157–168; DERS., When Eyewitness testimony and oral tradition become written text, in: Svensk exegetisk arsbok 74 (2009), 41–53; B. GERHARDSSON, Memory and Manuscript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity, Uppsala 1961; J. D. G. DUNN, On History, Memory and Eyewitnesses. In response to Bengt Holmberg and Samuel Byrskog, in: JSNT 26 (2004), 473–487. 24 Vgl. BYRSKOG, Story as History (s. Anm. 12), 48–65.

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den Überlieferungsprozess abbilden. Er unterschied deshalb zwischen bloßen Augenzeugen, die zwar Jesus und seine Taten gesehen haben, und „eyewitnesses and informants“, die zugleich ihre Erfahrung in reflektierter Weise weitergaben und damit zum Ausgangspunkt der Evangelienüberlieferung wurden.25 „Eyewitnesses who could also serve as informants during the emergence and development of the gospel tradition truly existed in early Christianity“.26 Byrskog unterschied weiter zwischen „direct autopsy“, wenn ein Augenzeuge direkt eigene Erlebnisse wiedergab, und „indirect autopsy“, wenn z.B. ein Historiker auf Augenzeugenberichte von anderen zurückgriff.27 Ohne „indirekte Autopsie“ gebe es gar keine Geschichtsschreibung, denn für (antike) Historiker seien die Augenzeugenberichte anderer die primären Quellen der Vergangenheitsverarbeitung:28 „The ancient historians were to a significant extent oral historians, using the eyewitness testimony as a primary way to gain information concerning the past. From their perspective, the eyewitness with close links to the place and event of interest was exceedingly valuable“.29 Auch die Überlieferung der Evangelientradition erfolgte zunächst mündlich, aber manifestierte sich nach und nach in schriftlichen, vornehmlich narrativen Quellen. Ganz im Gegensatz zur Einschätzung von Werner H. Kelber30 betonte Byrskog die Kontinutität bei diesem Wandel von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Die Arbeit von Byrskog war zugleich inspirierend für die Monographie von Richard Bauckham,31 doch während für Byrskog gerade der interpre25 Vgl. B YRSKOG, Story as History (s. Anm. 12), 65–67, 67: „We will have to abide by the texts themselves and see to what extent they provide a portrayal which identifies certain persons as capable of being eyewitnesses and informants in the line of the emerging gospel tradition“. Nach Byrskog sind hier besonders „the local people“, „the disciples“, „Peter“, „the Women at the Cross and the Tomb“ und „the Family of Jesus“ zu nennen (a.a.O., 65–91). 26 BYRSKOG, Story as History (s. Anm. 12), 91. 27 B YRSKOG, Story as History (s. Anm. 12), 92: „Indirect autopsy means that intermediary procedures enter into the process, adding other forms of receiving information to the phenomenon of autopsy“. 28 Vgl. B YRSKOG, Story as History (s. Anm. 12), 94: „Oral sources are here necessary as a supplement to direct autopsy“; ferner a.a.O., 98–101. 29 BYRSKOG, Story as History (s. Anm. 12), 179. Byrskog ist sich freilich der Perspektivität der Augenzeugen bewusst, vgl. die Kapitel „The Eyewitness as Interpreter“ (a.a.O., 146–176) bzw. „The Bias of the Eyewitness“ (a.a.O., 176–179); dies hindere aber nicht die grundsätzliche Einschätzung (auch der antiken Historiographen) der Augenzeugen als verlässlich und wahrheitsgetreu. 30 Vgl. W. H. KELBER, The Oral and the Written Gospel. The Hermeneutics of Speaking and Writing in the Synoptic Tradition, Paul, Marc, and Q, Philadelphia 1983 (Nachdr. Bloomington/Indianapolis 1997), 210: „Both in form and content the written gospel constitutes a radical alternative to the oral gospel“. 31 BAUCKHAM, Eyewitnesses (s. Anm. 15), 8–11.

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tierende Augenzeuge zum Ausgangspunkt einer Traditionskontinuität wurde, ist für Bauckham der Augenzeuge selbst die maßgebliche Quelle der Geschichte und damit auch der Garant für die historische Wahrheit des Evangeliums. Bauckham wollte in seiner Monographie den Nachweis erbringen, dass alle kanonischen Evangelien auf Augenzeugenberichten beruhen oder gar – wie im Falle von Johannes – von einem Augenzeugen verfasst wurden. „Gospel traditions did not, for the most part, circulate anonymously but in the name of the eyewitnesses to whom they were due. Throughout the lifetime of the eyewitnesses, Christians remained interested in and aware of the ways the eyewitnesses themselves told their stories. So, in imagining how the traditions reached the Gospel writer, not oral tradition but eyewitness testimony should be our principal model“.32

Um diese These zu untermauern, verwies er besonders auf die Namen, die zahlreich und differenziert in den Evangelien begegnen. Nicht die vor allem durch die Formgeschichte postulierte anonyme Gemeindeüberlieferung, sondern die Namen konkreter Personen wurden als verlässliche Zeugen der Geschichte betrachtet.33 Dies erklärt die herausragende Bedeutung, die Namen in allen vier Evangelien – wie auch in anderen Geschichtswerken der Epoche haben.34 Die Rolle einzelner Individuen als Bürgen und Zeugen der Überlieferung ist auch in den Schriften der frühen Kirchenväter nachweisbar, die für Bauckham die zweite Säule seiner Argumentation darstellten, indem er Äußerungen des Papias, Polykrates, Irenäus etc. auswertete. Für Bauckham ist die Augenzeugenschaft nicht nur die Garantie eines verlässlichen Zugangs zu den historischen Ereignissen und Erlebnissen35, sie ist zugleich auch eine theologische Kategorie, denn der Zeuge gibt ein Zeugnis von dem, was er selbst glaubt. So verbinden sich im Konzept der Augenzeugenschaft ein historiographisches und theologisches Anliegen der Evangelien.36 32

BAUCKHAM, Eyewitnesses (s. Anm. 15), 8. BAUCKHAM, Eyewitnesses (s. Anm. 15), Kap. 12: Anonymous tradition or Eyewitness Testimony?, 290–318; eine Pilotstudie von Bauckham wurde bereits im Jahr 2003 publiziert, vgl. R. B AUCKHAM, The Eyewitnesses and the Gospel Tradition, in: JSHJ 1 (2003), 28–60. 34 Bauckham untersucht z.B. Lukians „Alexander“-Biographie und Prophyrius’ „Leben des Plotin“, vgl. die Tabellen in B AUCKHAM , Eyewitnesses (s. Anm. 15), 150f. 35 BAUCKHAM, Eyewitnesses (s. Anm. 15), 505: „As a form of historiography testimony offers a unique accesss to historical reality that cannot be had without an element of trust in the credibility of the witness and what he or she has to report. Testimony is irreducible“. 36 B AUCKHAM, Eyewitnesses (s. Anm. 15): „Eyewitness testimony offers us insider knowledge from involved participants. It also offers us engaged interpretation, for in testimony fact and meaning coinhere […]“ (a.a.O., 505). „It is in the Jesus testimony that history and theology meet“ (a.a.O., 508). 33

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Die Monographie von Bauckham hat eine immense Debatte in der neutestamentlichen Wissenschaft ausgelöst, die sich bereits in mehreren Themenheften namhafter Zeitschriften niederschlägt.37 Ich möchte nun nicht weiter auf die durchaus interessanten Einzelheiten dieser Debatte eingehen, sondern eher aus einer grundsätzlicheren und übergeordneten Perspektive nach dem erkenntnisleitenden Interesse fragen, das hinter der Debatte zum Vorschein kommt. 2.2 Das erkenntnisleitende Interesse und Erwartungen bei der Suche nach Augenzeugen Warum löst die Frage nach der Augenzeugenschaft eine so starke Debatte aus? Mit der Suche nach Augenzeugen steht – so auch Jens Schröter – „Grundlegendes auf dem Spiel. […] Hat christlicher Glaube ein sicheres historisches Fundament im Wirken Jesu von Nazaret, auf das man durch alle Ausprägungen und Verwerfungen der Geschichte des Christentums hindurch zurückgreifen kann, oder ist eine solche Grundlage selbst ein Konstrukt des Historikers, abhängig von seiner Wirklichkeitssicht und seinem Kenntnisstand und damit vorläufig und wandelbar?“38 Es geht anders gesagt um die Wahrheitsfrage, um die Gültigkeit der Botschaft des Neuen Testaments, die untrennbar mit den Ereignissen im Leben und Sterben Jesu verbunden ist. Der seit langem störende Graben zwischen den schriftlichen Zeugnissen des Neuen Testaments und den von ihnen erzählten, aber mindestens 40 Jahre zurückliegenden historischen Ereignissen kann nun durch namentlich bekannte Augenzeugen überbrückt werden. Entsprechend formuliert Bauckham das Grundanliegen seines Buches: „It is the contention of this book that, in the period up to the writing of the Gospels, gospel traditions were connected with named and known eyewitnesses, people who had heard the teaching of Jesus from his lips and committed it to memory, people who had

37

Siehe JSNT 31/2 (2008), 195–235: darin J. SCHRÖTER, The Gospels as Eyewitness Testimony? A Critical Examination of Richard Bauckham’s Jesus and the Eyewitnesses, 195–209; C. EVANS, The Implications of Eyewitness Tradition, 211–219; R. B AUCKHAM, Eyewitnesses and critical history. A response to Jens Schröter and Craig Evans, 221–235; sowie JSHJ 6 (2008), 157–224: darin S. BYRSKOG, The Eyewitnesses as Interpreters of the Past: Reflections on Richard Bauckham’s Jesus and the Eyewitnesses, 157–168; D. CATCHPOLE, On Proving Too Much: Critical Hesitations about Richard Bauckham’s Jesus and the Eyewitnesses, 169–181; I. H. MARSHALL, A New Consensus on Oral Traditions? A Review of Richard Bauckham’s Jesus and the Eyewitnesses, 182–193; T. J. W EEDEN SR., Polemics as a Case for Dissent: A Response to Richard Bauckham’s Jesus and the Eyewitnesses, 211–224. 38 J. SCHRÖTER, Die Evangelien als Augenzeugenberichte. Zur Auseinandersetzung mit Richard Bauckham, in: ThR 73 (2008), 219–233, 219.

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witnessed the events of his ministry, death, and resurrection and themselves had formulated the stories about these events that they told“.39

Die Wahrheit des Evangeliums wird dabei nicht nur wie bei Byrskog und Riesner an eine bis zu den Ursprüngen zurückreichende Stabilität der Überlieferung gebunden.40 Es sind die Augenzeugen selbst, die zu lebenden „Quellen“ der Geschichte und, da sie selbst die Geschichten formuliert haben, auch in nahezu idealer Weise zu authentischen Erzählern im faktualen Sinn werden.41 Die Wahrheit des Evangeliums steht dann nicht mehr auf dem allzu menschlichen Gerüst der schriftstellerischen Leistung der Evangelisten, oder ist von der schwer greifbaren formbildenden Kraft einer anonymen Gemeindeüberlieferung abhängig. Wahrheit und Gültigkeit des Evangeliums basieren auf authentischen Zeugnissen über die Ereignisse selbst. Die Authentizität der Überlieferungszeugen bürgt letztlich für die Objektivität der Fakten der Geschichte. Der Augenzeuge wird somit zur Symbolfigur für die Gültigkeit und Wahrheit der biblischen Quellen und der in ihnen bezeugten Geschichte. Ein signifikantes Beispiel, wie diese Hermeneutik funktioniert, wird jüngst von Craig Keener geboten. Um die Glaubwürdigkeit von Wunderberichten zu erhöhen, verweist er auf „Augenzeugen“, sei es in antiken Quellen, sei es im Blick auf gegenwärtige Wirklichkeit.42 Anhand eines Analogieschlusses kann er von gegenwärtigen Augenzeugenberichten auf die 39

BAUCKHAM, Eyewitnesses (s. Anm. 15), 93. So R. RIESNER, Augenzeugen (s. Anm. 16), 351. Der Stabilität stellt Riesner die Verwilderung der Überlieferung gegenüber, was dann nicht nur von dem Willen des Augenzeugen, sondern auch von den angewandten Überlieferungstechniken abhängt. 41 BAUCKHAM, Eyewitnesses (s. Anm. 15), 93: „They remained throughout their lifetimes the sources and […] the authoritative guarantors of the stories they continued to tell“. Vgl. zum Idealfall faktualen Erzählens G. GENETTE, Fiktionale Erzählung, Faktuale Erzählung, in: ders., Fiktion und Diktion, München 1992, 65–94, 83. Beim autobiographischen Erzählen ist N (Stimme, Narrator) = A (Autor) = P (Person der Geschichte). 42 Vgl. C. S. KEENER, Miracle Reports: Perspectives, Analogies, Explanations, in: Kollmann/Zimmermann (Hg.), Hermeneutik (s. Anm. 2), 53–65, 58–61: „Eyewitnesses do offer miracle reports“, sowie die umfangreichen Bände DERS., Miracles: The Credibility of the New Testament Accounts, 2 Bde., Grand Rapids 2011, 14–36; vgl. unter Aufnahme von Keener auch differenziert D. DORMEYER, Wundergeschichten in der hellenistischen Medizin und Geschichtsschreibung, in: Kollmann/Zimmermann, Hermeneutik (s. Anm. 2), 145: „Die antiken und biblischen Wundergeschichten wollen im damaligen Weltbild als wahre Geschichten verstanden werden […]. Dafür haben sie als Kriterium die Augenzeugenschaft. Für die Wundergeschichten ist es unerlässlich, dass sie vor einem Publikum geschehen. Alle Beteiligten können später als Augenzeugen fungieren. Aber es muss an jeder Einzelgeschichte geklärt werden, ob die Augenzeugen fiktiv sind, also erfunden sind, oder ob sie sich auf historische Ereignisse zurückführen lassen“ (Kursivierung im Original). 40

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Glaubwürdigkeit von antiken Texten schließen: „The analogy argument once used against the plausibility of eyewitness sources for biblical miracle reports now supports instead the possibility of such sources“.43 Augenzeugenschaft wird für Keener somit zum „quasi-empirischen“ Beweismittel für die Gültigkeit einer bezeugten Aussage. 2.3 Semantik und Funktion der Augenzeugenschaft Der Gebrauch des Begriffs „Augenzeugen“ in der neutestamentlichen Wissenschaft basiert auf einem Begriffsgebrauch in unterschiedlichen Zusammenhängen, der hier abschließend noch einmal eher systematisch erfasst wird. Ganz allgemein kann ein Augenzeuge definiert werden als eine Person, die „ein Geschehen mit eigenen Augen verfolgt hat“44 und darüber Zeugnis ablegt. Es geht folglich um vier Dimensionen: 1) erstens um einen Sehvorgang oder im empirisch ausgeweiteten Sinn um die sinnliche Wahrnehmung ganz gleich mit welchen Sinnen; 2) zweitens spielt die Authentizität eine zentrale Rolle, d.h. der Zeuge hat mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört etc. und gibt nicht ein Fremdzeugnis von anderen wieder; 3) drittens geht es um einen Gegenstand der Wirklichkeit, der bezeugt wird, also um eine Tatsache, ein Geschehen, ein Ereignis etc., über das etwas ausgesagt wird; 4) viertens geht es um den Akt des Bezeugens, also des aktuellen Aussagens über das vorausliegende Gesehene, das wiederum in unterschiedlichen Funktionen und Kommunikationszusammenhängen stehen kann. In unserem Sinne besonders interessant sind hier zwei geläufige Bereiche, in denen häufig von Augenzeugen die Rede ist. Zum einen im Bereich der Forensik: Augenzeugen haben eine bestimmte Funktion im Gericht, sie dienen der Aufklärung von Straftaten, indem sie eine Straftat selbst gesehen (bzw. im ausgeweiteten Sinn miterlebt haben) und darüber berichten können. Damit verwandt aber doch unterscheidbar ist der so genannte „Augenscheinbeweis“ im Strafprozessverfahren, bei dem das Sehen bzw. empirisch-sinnliche Wahrnehmen zu einem Beweismittel werden kann: „Der Augenscheinbeweis besteht darin, dass sich der Richter oder ein von ihm beauftragter Dritter durch die sinnliche Wahrnehmung einen Eindruck von der Existenz eines Menschen oder der Beschaffenheit einer Sache verschafft, die Lage von Gegenständen

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KEENER, Miracle Reports (s. Anm. 42), 65. Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Augenzeuge (Zugriff am 11.09.2014); ganz ähnlich auch http://www.oxforddictionaries.com/definition/english/eyewitness (Zugriff am 11.09.2014): „Eyewitness = A person who has seen something happen and can give a first-hand description of it“. 44

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feststellt oder die Verhaltensweise eines Menschen beobachtet. Das alles kann auch außerhalb des Gerichtssaals stattfinden (z.B. die Besichtigung eines Tatortes)“.45

Augenzeugenschaft und Augenscheinbeweis machen deutlich, dass die empirische und verbürgte Wahrnehmung als Beweismittel im Gerichtsverfahren eingesetzt werden kann. Zum anderen wird nun die forensisch-empirische Vorstellung von einem Augenzeugen auch in historischem Sinn nutzbar gemacht. Auch wenn innerhalb der Geschichtswissenschaft weniger der Begriff „Augenzeuge“ gebräuchlich ist, so kann man doch im „Augen- oder Ohrenzeugen“ einen „Zeitzeugen“ erkennen, der historische Ereignisse selbst erlebt hat und insofern für die Wahrheit der Begebenheit bürgen kann. Ein Augenzeuge dient für die Historik ähnlich wie in einem Gerichtsverfahren als Beweismittel für die Gültigkeit einer historischen Aussage. Es handelt sich hierbei gewissermaßen um eine Übertragung des forensischen Aspekts des Augenzeugen in die Geschichtswissenschaft. Der Augenzeuge bürgt für die Wahrheit einer historischen Aussage im Sinne der Korrespondenzwahrheitstheorie46, indem er die Übereinstimmung der Aussage mit den Ereignissen durch seine Person garantiert. In der Literatur wird nun immer wieder auch auf die antike Historiographie verwiesen, die ein regelrechtes Konzept von „Augenzeugenschaft“ erkennbar werden lasse (z.B. Thukydides, Polybius, Josephus47), bei dem die berichteten Ereignisse entweder selbst gesehen wurden oder durch Augenzeugen verbürgt sind. Bis auf den Vorsokratiker Heraklit wird der Grundsatz ovfqalmoi. ga.r tw/n w;twn avkribe,steroi ma,rturej („denn Augen sind genauere Zeugen als Ohren“48) zurückgeführt, der dann – so viele Ausleger – regelrecht zum Leitprinzip der großen Historiographen wie Herodot, Thukydides und Polybius werden sollte. Bereits Herodot (5. Jh. v. Chr.) hat in seinen Historien immer wieder darauf hingewiesen, dass er selbst Augenzeuge gewesen ist (z.B. Herodot, Hist 8,79: vEgw. ga.r auvto,pthj toi le,gw geno,menoj; vgl. Hist 2,29; 2,44; 3,115; 4,16; 7,80).49 Neben 45

Vgl. http://www.rechtslexikon-online.de/Augenschein.html (Zugriff am 11.09.2014). Die Korrespondenzwahrheitstheorie wurde von Thomas von Aquin als „adaequatio rei et intellectum“, als Übereinstimmung zwischen einer Sache und einer Aussage bestimmt, vgl. K. GLOY, Wahrheitstheorien. Eine Einführung, Tübingen/Basel 2004. 47 Vgl. z.B. B YRSKOG, Story as History (s. Anm. 12), 48–65. 48 Vgl. J. MANSFELD, Die Vorsokratiker I, griechisch-deutsch, Stuttgart 1999, 254 mit Bezug auf H. D IELS/W. KRANZ, Fragmente der Vorsokratiker, griechisch-deutsch, Bd. 1, Unveränderte Neuauflage, Hildesheim 2004 (= 6. Aufl. 1951), 22B, frg. 101a (nach Polyb 12,27), ähnlich 22B frg. 55; in ähnlicher Weise auch von Herodot, Hist 8,2 aufgenommen: „[E]s sind ja die Ohren der Menschen weniger leicht zu überzeugen als die Augen“. 49 Vgl. C. DEWALD, Narrative Surface and Authorial Voice in Herodotus’ Histories, Arethusa 20 (1987), 141–170, bes. 155–159 („The eyewitness investigator“): „Thirtyfour times the histor intrudes … by stating that he has interviewed someone or has seen 46

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den viel zitierten Belegen von Polybius (3,4,13; 12,4,2; 29,21,8) oder Josephus (Ap 1,5550) möchte ich als ein Beispiel aus dem 1. Jh. n. Chr. die Einleitung von Dion von Prusas (ca. 40–120 n. Chr.) Euboikos zitieren, in der er schreibt: „Ich will euch erzählen, was ich selbst gesehen, nicht von andern gehört habe. (To,de mh.n auvto.j ivdw,n, ouv parV e`te,rwn avkou,saj, dihgh,somai). Macht doch nicht bloß das Alter redselig, dass man keine Gelegenheit zum Erzählen vorübergehen lässt, sondern auch das Reisen – natürlich, beide lassen vieles erfahren, woran man sich gern erinnert. Ich will euch erzählen, was für Leute ich getroffen habe und wie man leben kann, sozusagen mitten in Hellas“ (Dion v. Prusa, Or 7,1).

Auch bei Lukian von Samosata (ca. 120–180 n. Chr.) findet das historische Konzept der Augenzeugenschaft Niederschlag. In Quomodo historia conscribenda sit zitiert er einen Historiker mit den Worten: „Die Ohren sind nicht so glaubwürdig als die Augen. Ich schreibe also, was ich gesehen, nicht, was ich gehört habe“.51 Ebenso kann man aus dem Proömium in der ironischen Schrift von Lukian avlhqh/ dihga,mata (Wahre Geschichten) schließen, dass hier gerade das Gegenteil von dem gesagt ist, was üblicherweise die Glaubwürdigkeit des Geschichtsschreibers verbürgt: „Ich schreibe also über Dinge, die ich weder selbst sah noch erlebte noch von anderen erfuhr (mh,te ei;don mh,te e;paqon mh,te par a;l lwn evpuqo,mhn), ja die weder sind noch überhaupt vorkommen könnten. Deshalb sollen meine Leser ihnen unter keinen Umständen Glauben schenken“52 (Luk, VerHist 1,4).

In der antiken Geschichtsschreibung werden also Geschichten vom Hören, (Augenzeugen-)Berichte anderer und schließlich eigene Augenzeugenschaft als Beweis für die Glaubwürdigkeit des Erzählten genannt und abgestuft. Eigene Augenzeugenschaft ist hierbei offenbar als höchster Beweis für die Verlässlichkeit des Historischen bekannt. Dem Augenzeugen kann man „Glauben schenken“.

something with his own eyes“ (a.a.O., 156). Am Ende seines landeskundlichen Überblicks über Ägypten differenziert Herodot auch deutlich zwischen eigener Augenzeugenschaft und dem Hörensagen über die nun folgende ägyptische Geschichte: „Bis hier sind die Vermittler dessen, was hier steht, mein Sehen (w;yij te evmh,), mein Denken und meine Befragung, von jetzt an aber werde ich ägyptische lo,goi präsentieren, sowie ich sie hörte“ (Herodot, Hist. 2,99). 50 Bei Josephus findet das Augenzeugen-Konzept begrifflich mit auvtopth,j fünf Mal seinen Niederschlag, vgl. außer der genannten Stelle Jos., AJ 18,342; 19,125; BJ 3,432; 6,134. 51 LUKIAN, Wie man die Geschichte schreiben müsse, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2 (Übers. v. C. M. Wieland), Berlin/Weimar 1974, 266–300, 285; vgl. auch LUKIAN POS DEI ISTORIAN SUGGRAFEIN, in: Luciani Opera, hg. v. M. D. MacLeod, Oxford 1980, Tomus III, 44–68. 52 LUKIAN, Die Hauptwerke, griechisch-deutsch, hg. und übers. v. K. Mras, Tübingen ²1980, 330f.

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3. Kritische Rückfragen zum Konzept der „Augenzeugenschaft“ Augenzeugen scheinen Garanten der Wahrheit zu sein. In der neutestamentlichen Wissenschaft wird dies vielfach im Sinne einer historischen Korrespondenzwahrheit verstanden. Der Augenzeuge gilt als Beglaubigungsmittel für die Übereinstimmung einer Aussage mit einem geschichtlichen Ereignis. Wer Urteile auf Augenzeugen zurückführt, möchte somit einen geschichtlichen Beweis für die Wahrheit des Evangeliums antreten. Doch kann der „Augenzeuge“ wirklich erfüllen, was man von ihm erwartet? Entspringt die Nennung von Augenzeugen in frühchristlichen oder antiken Texten demselben forensisch-empirischen Bedürfnis wie modern geprägten Bibelwissenschaftlern? Im folgenden Abschnitt möchte ich das Konzept ‚Augenzeugenschaft‘ und die damit verbundenen Erwartungen kritisch unter die Lupe nehmen, wobei unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden. 3.1 Die psychologisch-empirische Rückfrage: Sind Augenzeugen zuverlässig? Während historisch arbeitende Exegeten in der Augenzeugenschaft ein stabilisierendes und Quasi-Objektivität beanspruchendes Beweismittel erkennen möchten, hat gerade die empirische Sozialwissenschaft nachgewiesen, dass Augenzeugen in hohem Maße unzuverlässig sind. Das nun schon im zweiten Band erschienene „Handbook of Eyewitness psychology“53 gibt hiervon einen ernüchternden Abriss. Dabei ist die Fragwürdigkeit von Augenzeugenaussagen schon seit langem bekannt. Schon in der Anfangszeit der psychologischen Wissenschaft hat William Stern in Bd. 2 der Zeitschrift „Beiträge zur Psychologie der Aussage“ im Jahr 1904 unter dem Titel „Wirklichkeitsversuche“ die Zuverlässigkeit der Augenzeugenaussage in Zweifel gezogen. Dem sind bis in neueste Zeit viele Studien nachgefolgt, die den Wert und vor allem die Grenze von Augenzeugenaussagen untersucht haben.54 Augenzeugenaussagen werden als autobiographische Erinnerungen betrachtet, die einer Reihe von Einflüssen unterliegen, wie schon Frederic C.

53 M. P. TOGLIA u.a. (Hg.), Handbook of Eyewitness Psychology, Bd. 1: Memory for Events, Mahwah 2007; R. C. L. LINDSEY (Hg.), Handbook of Eyewitness Psychology, Bd. 2: Memory for People, Mahwah 2007. 54 Vgl. etwa E. F. LOFTUS, Eyewitness Testimony, Cambridge 1979; G. L. WELLS/A. MEMON/S. D. P ENROD, Eyewitness Evidence: Improving its Probative Value, in: Psychological Science in the Public Interest 7 (2006), 45–75; G. L. WELLS/E. A. OLSON, Eyewitness Testimony, in: Annual Review of Psychology 54 (2003), 277–278.

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Bartlett in seiner frühen Studie herausgearbeitet hat.55 In der Literatur werden hier folgende Elemente genannt, die die Wahrnehmung und Erinnerung der Augenzeugen beeinflussen und ihr Zeugnis somit verzerren.56 Man kann hierbei zwischen Aspekten unterscheiden, die bereits den Akt der Wahrnehmung beeinflussen (z.B. Nähe/Blickwinkel zum Ereignis) und anderen, die im Laufe des Erinnerungsprozesses wirken (z.B. Vermeidung kognitiver Dissonanzen).57 Schon die Art und Bedeutung des Ereignisses selbst sowie die emotionale Parteinahme bis hin zu Persönlichkeitsmerkmalen des Zeugen (wie Geschlecht, Alter, Gedächtnisfähigkeit, Bildungsniveau etc.) bestimmen in einem beträchtlichen Maße die Wahrnehmungsund Erinnerungsfähigkeit des Augenzeugen mit. Wie stark diese Faktoren die Ergebnisse von Erinnerung beeinflussen, wurde durch Studien nachgewiesen, bei denen unterschiedliche Augenzeugen von demselben Ereignis mit beträchtlichen Abweichungen bis konträren Darstellungen berichten. Es ist hier nicht der Ort, diese Einzelaspekte genauer vorzustellen und zu bewerten. Für unsere Fragestellung genügt schon die übergeordnete und im ganzen Feld empirischer Forschung unstrittige Beobachtung: Augenzeugen sind alles andere als Garanten für Objektivität. Ihre Aussage ist aufgrund der persönlichen Betroffenheit und diversen Einflussfaktoren höchst subjektiv und selektiv. Dies macht sie als Zeugen im Gericht ebenso wie in der Geschichtsschreibung problematisch, zumindest dann, wenn man in ihrem Zeugnis eine „quasi-empirische“ und im Sinne der Korrespondenztheorie wahrhaftige Aussage erwartet. Die psychologische Augenzeugenforschung schärft den Blick für Einflussfaktoren, Variationsbreite und kollektive Erinnerungsprozesse auch des frühen Christentums. Die 55 F. C. B ARTLETT, Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology, Cambridge 1932, 199–204. 56 Vgl. dazu C. A. MEISSNER /S. L. SPORER/J. W. SCHOOLER, Person Descriptions as Eyewitness Evidence, in: Lindsey, Handbook (s. Anm. 53), 3–34, 8–12: „Encoding-based Factors“: „Opportunity to view“, „Stress or Anxiety“, „Alcohol or Drugs“; „Retention Factors“: „Length of Delay“, „Strength of the Memory Trace“, „Intrusion of Post-event Information“; sowie den gesamten Teil III: „Identifying Suspects: Estimator Variables“, 257–451; ferner die Liste bei J. C. REDMAN, How Accurate are Eyewitnesses? Bauckham and the Eyewitnesses in the Light of Psychological Research, in: JBL 129 (2010), 177– 197. 57 Vgl. etwa die Zusammenstellung bei REDMAN, Eyewitnesses (s. Anm. 56), die zwischen „Factors Affecting Memory Aquisation“ („Expectations“, „Type of fact“, „Event significance and detail salience or prominence“, „The personality and interest of the witness“, „Observational point of view and perceptual adequacy“, a.a.O., 180–185) und „Deterioration and Change during Storage and Retrieval“ („Memory enhancement“, „Collective memory processes“, „Avoidance of cognitive dissonance“, „Timing of postevent information“, „Guessing“, „Freezing effects“, „Type of retrieval and question wording“, „What one has previously recalled“, a.a.O., 185–189) unterscheidet.

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These von einer „Gemeinschaft von Augenzeugen“ ist – wenn überhaupt – aber „a guarantee only of the preservation of the community’s agreed version, not of the exact details of the event itself. Bauckham’s work does not provide any empirical evidence for the historicity of the Gospels“.58 3.2 Die hermeneutische Rückfrage: Sind Augenzeugen objektiv? Der Philosoph Paul Ricœur hat sich in einem erst in jüngerer Zeit ins Deutsche übersetzten Artikel grundlegend mit dem hermeneutischen Problem der Zeugenschaft befasst und dabei nicht nur speziell auf das Konzept der „Augenzeugenschaft“, sondern auch auf biblische Texte Bezug genommen. 59 „Das Zeugnis […] bezeichnet den Akt des Bezeugens, d.h. des Berichtens von etwas, das man gesehen oder gehört hat. Der Zeuge ist Autor dieser Handlung. Er ist derjenige, der gesehen oder gehört hat und jetzt über das Ereignis berichtet. In diesem Sinn spricht man vom ‚Augenzeugen‘ (oder ‚Ohrenzeugen‘)“.60 Ricœur hat aber sofort gesehen, dass das Zeugnis nicht identisch ist mit der Wahrnehmung oder gar mit dem Geschehen selbst. Es ist vielmehr „die Erzählung von dem Ereignis. Es überträgt folglich Gesehenes auf die Ebene von Gesagtem“.61 Mit diesem Transfer wird nicht nur ein medialer Sprung vollzogen. Es wird auch gleichsam ein kommunikativer Akt begründet, indem der Zeuge einem anderen Zeugnis gibt. Das Zeugnis ist für Ricœur deshalb eine „zweistellige Relation“ und oszilliert zwischen einem Zeugnisgeber und einem Zeugnisempfänger, ebenso wie zwischen der Partizipation von Wirklichkeit und dem Glauben bzw. Nicht-Glauben des Zeugnisses. Hätte der Zeugnisempfänger selbst gesehen, so bedürfte es keines Zeugnisses. „Das Zeugnis als Erzählung befindet sich also in einer Mittelposition zwischen einer Feststellung, die ein Subjekt trifft, und einem Glauben, der von einem anderen Subjekt im Vertrauen auf das Zeugnis des ersteren angenommen wird“.62 Damit ist Mehreres gesagt: Zum einen gibt es eine Differenz zwischen einem Augenzeugenbericht und der Wirklichkeit bzw. dem Geschehen, von dem er berichtet. Ricœur spricht deshalb vom „quasi-empirischen Sinn“ des Zeugnisses. Zum Zweiten vollzieht sich eine Versprachlichung, 58

REDMAN, Eyewitnesses (s. Anm. 56), 197. P. RICŒUR, Die Hermeneutik des Zeugnisses, in: ders., An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, hg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen von V. Hoffmann, Freiburg/München 2008, 7–40 (orig. L’herméneutique du témoignage in: Archivio di Filosofia 42 [1972], 35–61). 60 RICŒUR, Hermeneutik (s. Anm. 59), 11. 61 RICŒUR, Hermeneutik (s. Anm. 59), 11. 62 RICŒUR, Hermeneutik (s. Anm. 59), 11. 59

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meist mittels einer Erzählung, die dem Geschehen eine literarische Form verleiht. Im Prozess der sprachlichen Umsetzung und Aneignung vollzieht der Zeuge ein Urteil über die von ihm erlebte Wirklichkeit, dem der Empfänger Glauben schenken kann oder auch nicht. Das Zeugnis überschreitet die bloße Kenntnisnahme von Fakten. „Die Charakterisierung als Augenzeugnis reicht deshalb für das Zeugnis niemals aus, um seinen Sinn als Zeugnis zu konstituieren; es muss nicht nur Feststellung sein, sondern auch Bericht einer Tatsache, der dazu dient, eine Option oder eine Wahrheit zu belegen“.63 Ricœur hat sich nun im Besonderen auch mit der Zeugenschaft im religiösen Kontext befasst und spricht hier vom „Eindringen der prophetischen und kerygmatischen Dimension“64 in die Zeugenschaft. Die persönliche Zeugenschaft wird hierbei in die Tradition des Glaubens gestellt, in der sich letztlich Jahwe selbst bezeugt. Ein religiöses Zeugnis sei ferner auf Verkündigung ausgerichtet und erfordere „totales Engagement nicht nur in Worten, sondern in Taten und, im äußersten Fall, im Opfer des Lebens“.65 Ricœur zeigt dabei nicht nur die Entwicklung der Mehrfachsemantik des Begriffsgebrauchs von ma,rtuj im Spätjudentum und frühen Christentum als (persönlicher) „Bekenner“, „Zeuge“ und „Märtyrer“ nach. Er versucht aufzuzeigen, dass ein naives Verständnis von „Augenzeugenschaft“ im Sinne einer einfachen Wiedergabe von Fakten ebenso wie eine radikale Trennung zwischen „Zeugen von Tatsachen“ und „Bekenner der Wahrheit“ verkürzt ist. Es ist vielmehr das Ineinander unterschiedlicher Dimensionen, das die Hermeneutik des Zeugnisses so interessant macht. Im religiösen Zeugnis werden auch die profanen Dimensionen des Zeugnisses, sei es die „quasiempirische“, sei es die juridische, bewahrt. Der juridische Aspekt werde letztlich auf die Gottesfrage zugespitzt: „Der Mensch ist zum Zeugnis gerufen angesichts einer Bestreitung, eines Prozesses, der das Recht Jahwes, der wahre Gott und allein der wahre Gott zu sein, zur Diskussion stellt“.66 Der „quasi-empirische“ Aspekt komme mit der Geschichtsdimension des Gottesglaubens der jüdisch-christlichen Religion zur Geltung. Das Glaubensbekenntnis ist zugleich ein Bekenntnis, das auf geschichtlicher Überlieferung, ja auf Geschichtlichkeit überhaupt basiert. „Man kann nicht für einen Sinn zeugen ohne zu bezeugen, dass etwas geschehen ist, das diesen Sinn bezeichnet. […] Es gibt folglich überhaupt keinen Zeugen des Abso-

63

RICŒUR, RICŒUR, 65 RICŒUR, 66 RICŒUR, 64

Hermeneutik Hermeneutik Hermeneutik Hermeneutik

(s. Anm. (s. Anm. (s. Anm. (s. Anm.

59), 59), 59), 59),

11. 18f. 19. 20.

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luten, der nicht Zeuge historischer Zeichen wäre, keinen Bekenner des absoluten Sinnes, der nicht Erzähler der Befreiungstaten wäre“.67 3.3 Die historiographische Rückfrage: Ist das Augenzeugenkonzept ein Beweismittel in der Antike? Nun könnten wir Erinnerungspsychologen und Hermeneutikern ihr Recht zugestehen, aber im Blick auf die Verarbeitung von Geschichte in den Evangelien müssten doch eher die antiken Historiographen befragt werden. Welche Vorstellung von Geschichte, von Vergangenheitsverarbeitung und vor allem von Augenzeugenschaft haben diese? Wann ist die Darstellung von Geschichte historisch zuverlässig, oder gar „wahr“ und welche Rolle spielt dabei das Konzept der Autopsie? Es war vor allem das Verdienst von Loveday Alexander, die gezeigt hat, dass eine einfache Übertragung unseres historisch-forensischen Konzepts von Augenzeugenschaft in die Antike keineswegs sachgemäß ist. Sie hat in akribischen lexikalischen Studien vor allem die Verwendung der griechischen Begriffe des Augenzeugen, des auvto,pthj, bzw. der Augenzeugenschaft, der auvtoyi,a, untersucht68 und kommt zu dem Ergebnis: „auvto,pthj and its derivates were not as common in Greek historiography as is often supposed“.69 Insgesamt ist schon der Begriffskomplex70 alles andere als häufig. Von den ca. 90 bzw. 142 nicht-christlichen Belegen bis ins 2. Jahrhundert71 verwenden ein Drittel auvto,pthj in einem unspezifischen Sinn. Bei den Belegen, die einen methodologisch-technischen Gebrauch nachweisen, dominieren Galen (ca. 30 Belege) und Polybius (22 Belege). Aus der Ausdrucksweise dieser beiden Autoren wird nun auch eine Konzentration der Belege im Bereich der Medizin und Historiographie abgeleitet. Galen sieht in der Autopsie einen Schlüsselbegriff bei der Darstellung der 67 R ICŒUR, Hermeneutik (s. Anm. 59), 21; Kursivierung im Original.). Man beachte, dass Ricœur kein positivistisches Verständnis von Geschichte hat, sondern es um „historische Zeichen“ geht. Das Bekenntnis bewahre einen „narrativen Kern“ des Geschichtlichen. Dem „Bekenner“ wird nicht der Fakten-Historiker, sondern der „Erzähler“ von Geschichte gegenübergestellt. 68 Vgl. ALEXANDER , Preface (s. Anm. 20), 34–41. Dort werden allerdings nur die Ergebnisse präsentiert, während in der nicht-veröffentlichten Dissertation im Appendix C, 234–250 alle Belegstellen aufgeführt sind. 69 ALEXANDER, Preface (s. Anm. 20), 35. 70 Man kann hierzu neben auvto,pthj und auvtoyi,a noch auvtoptiko,j, au;toptoj und auvtopte,w rechnen. 71 Ich stütze mich hier auf die Ergebnisse von Alexander sowie einer eigenen TLGRecherche. Alexander hatte 90 Belege noch ohne Computerunterstützung anhand von Konkordanzen gefunden. Von den 147 Belegstellen nach TLG stammen fünf von christlichen Autoren: Lk 1,4; Apologet Theophilus, Ad Autolycum 3,2; Papias, frg 2,2; 12,2; Irenaeus, Fragmenta deperditorum operum, frg. 2,2,21.

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so genannten „Empiriker-Sekte“ (vgl. Galen, De sectis 2), aber auch hinsichtlich anatomischer Beobachtungen; bei Polybius wird hingegen eine grundlegende Funktion des Begriffs erkennbar, denn die Augenzeugenschaft dient häufig als Glaubwürdigkeitsbeweis von Erzählungen über fremde Länder. Alexander ist in ihrer allgemeinen Feststellung zuzustimmen, dass auch unter den Historikern mit dem Verweis auf Augenzeugen nicht die zeitliche Distanz zu vergangenen Ereignissen, sondern die räumliche Distanz zu fernen Ländern und Kulturen überbrückt werden soll.72 Dies ist genau genommen auch bei dem oben genannten Zitat von Dion von Prusa der Fall, denn der Euboikos Logos ist in erster Linie ein Reisebericht und nicht primär Historiographie. Doch dem nicht genug: Innerhalb der Fachdiskussion wird sogar intensiv bezweifelt, dass sich diese Schrift von Dion tatsächlich auf reale Begebenheiten bezieht.73 So kommt H. R. Goette in einer topographischen Untersuchung, die gegenwärtige archäologische Einsichten mit den Angaben von Dion vergleicht, zu folgendem Ergebnis: „Zusammen mit den anderen Indizien, die sich aus den topographischen Beobachtungen in der Karystia im Vergleich mit Dions Schrift ergeben, deutet dies für den Archäologen darauf hin, dass es sich im Euboikos Logos nicht um einen Augenzeugenbericht handelt, sondern um ein von topischen und allgemeinen Angaben bestimmtes Bild, das der Tendenz der Schrift geschuldet ist“. 74

Angesichts dieser Einschätzung soll auch das oben genannte Zitat von Lukian noch einmal kritisch in seinem Kontext betrachtet werden. Der von Lukian zitierte Historiker gibt ebenso nur vor, Augenzeuge zu sein, was von Lukian allerdings vehement bestritten wird.75 Ob allerdings Lukian 72 Vgl. ALEXANDER , Preface, 37: „Among the historians, too, the overwhelming majority of instances concerns the verification of information from and about distant lands“. 73 Vgl. D. ENGSTER, Fiktion oder Realität? Dions Euboikos Logos in der althistorischen Forschungsdiskussion seit Eduard Meyer, in: G. A. Lehmann (Hg.), Armut – Arbeit – Menschenwürde. Die Euböische Rede des Dion von Prusa, Tübingen 2012, 143– 165; hier das Referat unterschiedlicher Positionen, 146–149, z.B. „es handelt sich […] um den reinen Entwurf einer Utopie, die von Dion im Kontext seines politischen Programms entworfen werde“ (a.a.O., 149 mit Verweis auf Bost-Pouderon); „es handelt sich […] um ein bewusst von Dion entworfenes moralisierendes Gegenbild zu realen Zuständen als um eine tatsächliche Zustandsbeschreibung des Lebens der Landbevölkerung“ (ebd. mit Verweis auf Ritter). 74 H. R. GOETTE, Die Topographie der Karystia in der Euböischen Rede des Dion von Prusa – Autopsie oder Fiktion, in: Lehmann, Armut (s. Anm. 73), 167–189, 189. 75 Vgl. LUKIAN, Wie man Geschichte schreiben müsse (s. Anm. 51), 285f.: „Dies alles habe er, von einem sehr hohen Baume, wo er dem Treffen ohne Gefahr habe zusehen können, ganz nahe mit seinen Augen gesehen. Es war ein guter Einfall von ihm, seine Person auf den hohen Baum in Sicherheit zu bringen: Denn wenn ihn sein Mut angetrieben hätte sich mit diesen grausamen Bestien auf ebnem Boden einzulassen, was für einen bewundernswürdigen Schriftsteller würden wir jetzt weniger haben! […] Und das alles

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wie in einer naiven Rezeption postuliert wird, überhaupt ein in unserem Sinn kritisch-rationales Ideal des Historikers zeichnen wollte, ist ebenso zweifelhaft. C. Rothschild hat mit überzeugenden Argumenten zu zeigen versucht, dass gerade auch die Schrift Quomodo Historia Conscribenda Sit des Satirikers Lukian keinesfalls seine auch sonst übliche Ironie und seinen Witz entbehrt.76 Eine Schwarz-Weiß-Malerei in dem Sinne, dass es eindeutige Kriterien, z.B. die Augenzeugenschaft, gebe, wie Geschichte abgesichert und verlässlich präsentiert werden kann, entspricht keineswegs dem Quellenbefund. Entsprechend hat z.B. Heinz-Günther Nesselrath in einer akribischen Untersuchung zu Herodots Gebrauch des Begriffs w;yij für eine differenziertere Sicht plädiert. Die kritischen Ausführungen Herodots zum eigenen und fremden „Sehen“ machen deutlich, dass w;yij für ihn ein höchst komplexes Beglaubigungsmittel ist, das wahre Traumgesichte ebenso einschließt wie bewusste Irreführungen und versehentliche Fehldeutungen.77 Dies lässt den Blick zu der in den letzten Jahren intensiv geführten Debatte um die unterschiedlichen Leitprinzipien antiker Geschichtsschreibung wandern. Schon in der Antike wurde darüber gestritten, in welchem Maße die erzählerische Ausgestaltung die Geschichtsschreibung bestimmen dürfe. Nach Dormeyer u.v.a. könne man zwischen einer „kritischpragmatischen“ (z.B. Thukydides, Polybius) und einer „tragischpathetischen“ (z.B. Duris, Phylarchos) Geschichtsschreibung unterscheiden,78 wobei letztere in höherem Maße gewillt waren, auch fiktionale Elehatte der Mensch das Herz, den Korinthern vorzulesen, die sehr gut wußten, daß er den Krieg nicht einmal an die Wand gemalt gesehen hatte. Er kennt nicht einmal die Waffen und die Maschinen, wovon er spricht, und weiß nichts, was zur Taktik und zur Einteilung eines Kriegsheeres gehört“. 76 Vgl. C. K. ROTHSCHILD, Irony and Truth. The Value of De Historia Conscribenda for Understanding Hellenistic and Early Roman Period Historiographical Method, in: Frey/Rothschild/Schröter, Historiographie (s. Anm. 20), 277–291, 291: „In conclusion, the irony of On How to Write History suggests that Lucian’s mock handbook is not a straightforward presentation featuring how, in a few easy steps […], historians might improve their methods, but a nuanced one – part of a lively discussion of historical method taking place among Hellenistic historians – about the difficulty of ideals such as ,accuracy‘, ,free speech‘ and ,truth‘ in historiography“. 77 Vgl. H.-G. NESSELRATH, Autopsie oder Fiktion? Herodot und sein Sehen, unveröffentlichtes Manuskript, 2014. Dass Herodot selbst auch das Konzept in einem rein emphatischen und fiktionalen Sinn verwendet, sieht Nesselrath als sehr unwahrscheinlich an. Ich danke dem Autor herzlich für die Bereitstellung des Manuskripts. 78 D. DORMEYER , Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie, im Frühjudentum und im Neuen Testament, in: T. Schmeller (Hg.), Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt (NTOA/StUNT 69), Göttingen 2009, 1–33; vgl. wiederum in DERS., Wundergeschichten (s. Anm. 42), 141–144.

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mente in die Historie einzubringen. Nach der Systematik von Backhaus war man aus rhetorischen, dramatischen oder auch paideutischen Gründen bereit, Geschichte zu rearrangieren, Einzelheiten fortzulassen und hinzuzufügen.79 All dies geschah nicht, um die geschichtliche Wahrheit zu manipulieren, sondern um sie wirksamer bei den Adressaten zur Geltung zu bringen. Martin Hose hat nun weiter gezeigt, dass hier nicht nur die Überzeugungen unterschiedlicher ‚Historikerschulen‘ aufeinanderprallten, sondern eine Entwicklung erkennbar ist. Denn im Gegensatz zu der technischen, aber leserunfreundlichen Darstellungsweise eines Thukydides oder Polybius war man in hellenistischer Zeit immer mehr gewillt, auch fiktive Elemente in den Darstellungsverlauf einzufügen. Hose verweist z.B. auf die Inszenierung des tragischen Todes von Kleitarch, der Alexander auf der Höhe seines Ruhms sterben lässt, um der Geschichte einen „großen, dramatischen Höhepunkt“80 zu setzen. „Um der Lesewirkung willen scheint sich auch, ausgehend von der tragischen Geschichtsschreibung, eine zunehmende Lizensierung eines Gebrauchs fiktionaler Elemente ausgebildet zu haben, sei es in Gestalt der Steigerung der Paradoxa hin zu ‚Wundern‘, sei es in Form von buchstäblichen Erfindungen, die bis zu veritablen Neuschöpfungen ganzer Schlachten oder sogar erfundener Gewährsleute und Autoren […] reichen“.81 Die einfache Unterscheidung von „faktisch“ oder „fiktiv“ bzw. „wahr“ und „falsch“ wird dann aber unangemessen für die antike Historiographie. Schon diese wenigen Beispiele lassen erkennen, dass in antiken Texten zwar von „Augenzeugen“ gesprochen wird, dass wir allerdings vorsichtig sein müssen, diese Redeweise mit unserem forensisch-historischen Konzept zu identifizieren. Von auvto,pthj wurde besonders im Bereich der Medizin und Geographie gesprochen, und man kann nur bei Polybius darin einen historiographischen Terminus technicus erkennen. Nur ganz vereinzelt finden sich Kombinationen des auvtopth,j-Belegs mit anderen Signalwörtern der historischen Methodologie, wie z.B. avkribh,j (genau) oder avlhqino,j bzw. avlhqinwte,raj (wahrhaftig), um die größere Zuverlässigkeit des Sehens zu betonen.82 Ein vertiefter Blick auf die Arbeitsweisen antiker 79 Vgl. K. B ACKHAUS, Spielräume der Wahrheit: Zur Konstruktivität in der hellenistisch-reichsrömischen Geschichtsschreibung, in: ders./G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007, 1–29; Backhaus unterscheidet zwischen „rhetorischer Konstruktivität“ (evna,rgeia), „mimetischer Konstruktion“ (avxiafhghto,tera) und „paideutischer Konstruktion“ (ta. kaqo,l ou), B ACKHAUS, a.a.O., 29. 80 M. HOSE, „Exzentrische“ Formen der Historiographie im Hellenismus, in: Frey/Rothschild/Schröter, Historiographie (s. Anm. 20), 182–213, 200. 81 HOSE , Formen der Historiographie (s. Anm. 80), 213. 82 So z.B. Polyb 12,4,2 (1.) vEn tw/| ge,nei megi,sthn evpi,fasin e[l kwn Ti,maioj (2.) plei/ston avpolei,pesqai, moi dokei/ th/j avlhqei,aj\ tosou/to ga.r avpe,cei tou/ diV e`te,rwn

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Historiker lässt weiterhin zweifelhaft werden, ob „Augenzeugenschaft“ hier insgesamt zu der Prominenz hätte gelangen können, wie es einige Forscher postuliert hatten. Nicht die bloße Reproduktion oder Rekonstruktion der Vergangenheit war das Ziel der Geschichtsschreibung, sondern die Darstellung der Geschichte im gegenwärtigen Interesse. Geschichte sollte gegenwärtig wieder neu vor Augen gebracht werden, wozu auch gestalterische Mittel recht waren. Der Rückverweis auf eigene Augenzeugenschaft wurde hierbei vielfach als ein rhetorisch-stilistisches und weniger als historisches Mittel eingesetzt, was z.B. schon bei Herodot oder dann auch Lukian kritisch reflektiert wurde. Auch innerhalb der jüdischen Geschichtsschreibung wird man die evtl. von Polybius beeinflussten83 Josephus-Belege nicht überbewerten dürfen. Wie jüngst Heckl für das Deuteronomistische Geschichtswerk postuliert hat, war auch innerhalb des Judentums Augenzeugenschaft als Konzept der gegenwartsorientierten Geschichtserzählung bekannt: Innerhalb des Pentateuch ist nicht die Exoduserzählung, sondern erst das Deuteronomium als Moserede stilisiert. In der Ich-Perspektive wird die Augenzeugenschaft des Moses als hermeneutischtheologisches Element der Fiktionalität eingesetzt.84 Wir können festhalten: Augenzeugenschaft wird auch in der antiken Geschichtsschreibung keineswegs als naives Beglaubigungsmittel betrachtet, sondern differenziert eingesetzt und beurteilt. Das Konzept weist eine „quasi-empirische“ Dimension auf, aber wird ebenso emphatisch und rhetorisch eingesetzt, so dass es weiterer Kriterien bedarf, um den Verlässlichkeitsgrad des „Sehverweises“ beurteilen zu können. Der Wahrheitsanspruch der antiken Historiographie misst sich dabei nicht allein an dem Rückbezug auf Ereignisse, auch nicht am Rekurs auf ‚Augenzeugen‘, sondern auch an der Darstellungskunst und der Authentizität des Darstellers. 3.4 Die geschichtstheoretische Rückfrage: Was können die Augenzeugen eigentlich bezeugen? Zuletzt sei das Augenzeugenkonzept auch kritisch hinsichtlich gegenwärtiger geschichtstheoretischer Debatten befragt. Seit den Arbeiten von White, Ankersmit, Goertz etc. wurde die narrative Konstruktivität von Ge-

avkribw/j th.n avlh,qeian evxeta,zein w`j ouvde. tou,twn w-n auvto,pthj ge,gone kai. evfV ou]j auvto.j h[kei to,pouj( ouvde. peri. toutwn (3.) ouvde.n u`gie.j h`mi/n evxhgei/tai. Vgl. auch Polyb 12,27,1–3; 21,21; ferner Jos, Ap 1,55. 83 So die Vermutung von ALEXANDER, Preface (s. Anm. 20), 121: „Josephus appears to be directly dependent on Polybius in the relevant passage“ (vgl. a.a.O., 38f.). 84 Vgl. R. HECKL, Augenzeugenschaft und Verfasserschaft des Mose als zwei hermeneutische Konzepte der Rezeption und Präsentation literarischer Traditionen beim Abschluss des Pentateuchs, in: ZAW 122 (2010), 353–373, bes. 2.1., 360–362.

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schichtsschreibung wieder neu ins Bewusstsein gerückt.85 Geschichte ist nicht die Rekonstruktion von Fakten, sondern eine sprachlich vermittelte Konstruktion von Vergangenheit in der sinnbildenden Auswertung von Quellenmaterial. Whites Diktum von der „Fiktionalität des Faktischen“86 ist hierbei zu einem geflügelten Wort geworden. Die jüngere Debatte hat allerdings die Einsichten von White radikalisiert. Geschichtsschreibung ist nicht nur das narrative Arrangement von Fakten der Vergangenheit, vielmehr müsse die Vorstellung des nicht bezweifelbaren „brutum factum“, der „nackten Tatsache“, letztlich die Trennung zwischen Fakten und Fiktionen, grundsätzlich aufgegeben werden. Wie David Carr87 schon vor Jahren eingefordert hatte, gibt es die Deutung nicht erst durch narrative Vermittlung im Text, sie existiert bereits auf der Handlungs- und Wahrnehmungsebene selbst. Erlebnisse und Erfahrungen88 haben bereits im Moment des Geschehens und des reflexiven Gewahrwerdens narrative Strukturen. Die Wahrnehmung von Wirklichkeit vollzieht sich nicht ex nihilo, sondern erfolgt mit einer narrativ geeichten Kamera. Jede Form von Ereignissen ist deshalb durch narrative Präfigurationen mitbestimmt. Damit wird allerdings das Konzept von Augenzeugenschaft einmal mehr problematisiert. Wer im Augenzeugen gerade den Garanten für die Faktizität der Geschichte erkennen möchte, der muss sich der narrativen Konstruktivität der Wahrnehmung des Augenzeugen im Vollzug der Ereignisse bewusst machen. Die psychologische Rückfrage der Wahrnehmungskompetenz und der Verlust der Fakten auf der Ebene geschichtstheoretischer Überlegungen konvergieren hier. Augenzeugen können keine Fakten wiedergeben, weil diese nicht existieren. Wenn aber die Verlässlichkeit der Augenzeugen auf der Ebene der Korrespondenz von Geschichtswahrheit und Augenzeugenbericht ins Wanken gerät, dann kommt gleichsam auch die durch Augenzeugen erhoffte Geschichtshermeneutik zum Einstürzen. 85

Vgl. dazu meinen Überblick in R. ZIMMERMANN, Geschichtstheorie und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Narration in der historiographischen Diskussion, in: EChr 2/4 (2011), 417–444. 86 Vgl. H. W HITE, Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen, in: ders., Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1991, 145–160; DERS., Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: ders., Auch Klio dichtet, 101–122. 87 Vgl. D. CARR, Time, Narrative and History, Bloomington 1986; DERS., Narrative and the Real World. An argument for continuity, in: R. Geoffrey (Hg.), The History and Narrative Reader, London/New York 2001, 143–156. 88 Vgl. dazu schon M. FLUDERNIK, Towards a ‚Natural‘ Narratology, London/New York 1996; jetzt den Sammelband T. BREYER/D. CREUTZ (Hg.), Erfahrung und Geschichte: Historische Sinnbildung im Pränarrativen (Narratologia 23), Berlin/New York 2010; darin etwa mit Bezug auf antike Texte den Beitrag von J. GRETHLEIN, ‚Narrative Referenz‘. Erfahrungshaftigkeit und Erzählung, 21–39.

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Wenn es keine Fakten im positivistischen Sinn gibt, dann können auch Augenzeugen dieselben nicht verbürgen. Anders gesagt: Was Augenzeugen zu berichten haben, ist nicht verlässlicher als jede andere Form der Vergangenheitsreferenz. Es sind jeweils Erzählungen über Ereignisse, die demselben hermeneutischen Zirkel unterliegen, wie literarische Zeugnisse. Die narrative Verfasstheit von Wirklichkeit und Geschichte mag zunächst wie ein Verlust an Sicherheit erscheinen. Was verloren geht, ist jedoch nur der idealistische Glaube an eine amorphe, ungedeutete Faktengeschichte. Auch die Augenzeugen erleben interpretierend, deuten ‚narrativ‘. Das Zeugnis von Augenzeugen verliert somit seine PseudoObjektivität, nicht aber seine Bedeutsamkeit für die einem gedeuteten Erleben innewohnende Wahrhaftigkeit.

4. Das vierte Evangelium als Augenzeugenbericht oder Erzählzeugnis? Kommen wir nun zum Johannesevangelium zurück. Was besagen die theoretischen und hermeneutischen Überlegungen für die Verfasserschaft des vierten Evangeliums, konkret für das von Bauckham u.a. postulierte Konzept der „Augenzeugenschaft“? Ist der Autor des vierten Evangeliums ein ‚Augenzeuge‘ in einem modern historisierenden und forensischen Sinne? Oder will er – ähnlich wie Lukas im Proömium – mit seinem Epilog zumindest im Sinne antiker Geschichtsschreiber ein historiographisches Glaubwürdigkeitskonzept abrufen, um seine Erzählung als authentische Geschichtsschreibung abzusichern? Oder könnte die Rede von der Augenzeugenschaft vielleicht nur ein rhetorisches Stilmittel sein, ein „fiktives Element“, wie auch die ganze Person des Lieblingsjüngers eine Erfindung ist? Oder ist es ein „fiktionales Element“, d.h. eine das „Wie“ der Erzählung betreffende literarische Ausschmückung, die aber im Horizont einer faktualen Erzählung erscheint, die zugleich eine Erinnerungsgeschichte von Augenzeugen ist? 89 Um Antworten auf diese Frage zu erlangen, muss 89 Vgl. zur hilfreichen Unterscheidung von „Fiktionalität“ und „Fiktivität“ F. ZIPFEL, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001, 61–68; ferner den Artikel von Jörg Röder in diesem Band. Gegenüber der von Aristoteles eingeführten und von Genette entfalteten erzähltheoretischen Differenzierung zwischen „fiktionalen“ und „faktualen Erzählungen“ schlagen Klein/Martínez ein komplexeres und differenziertes Zuordnungssystem in vier Kategorien vor, vgl. C. KLEIN/M. MARTÍNEZ, Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, in: dies. (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart/Weimar 2009, 1– 13, 4–5 mit Beispielen aus der Gegenwartsliteratur; ferner zur Problematik einer klaren Trennung ZIMMERMANN, Phantastische Tatsachenberichte (s. Anm. 2).

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der Text selbst zur Sprache kommen. Versuchen wir nochmal genauer in den Text zu blicken, denn der Befund ist komplexer als zunächst sichtbar. 4.1 „Augenzeugenschaft“ unter dem Kreuz (Joh 19,35) Die primäre Frage lautet, wo genau im vierten Evangelium von einem Augenzeugen die Rede ist. Beim Buchschluss in Joh 21,24 ist von einem „Zeugen“ die Rede, der geschrieben hat, und dessen Zeugnis wahr ist. Hier fehlt allerdings der Hinweis auf das „Sehen“.90 Die zweite, einleitend zitierte Stelle, spielt unter dem Kreuz: „Der dies gesehen hat, bezeugt es“ (Joh 19,35), hier ist also zweifellos von einem „Augenzeugen“91 die Rede, allerdings fehlt eine klare Zuordnung zu dem Lieblingsjünger (die oben nur kontextuell von Joh 19,26 ergänzt wurde). Dietzfelbinger schreibt zu Recht in seinem Kommentar: „Gänzlich unerwartet wird ein Augenzeuge ins Spiel gebracht […]“.92 Doch wer ist dieser Zeuge? Eine Reihe von Auslegern habt den Zeugen unter dem Kreuz mit dem Soldaten identifiziert, der selbst den Lanzenstich vollzogen hat: „Der das gesehen und bezeugt hat, (kann) nur der Soldat sein, der den Lanzenstich ausführte, keinesfalls aber der geliebte Jünger“.93 Sabbe und Thyen sehen darin eine Wiederaufnahme des Hauptmann-Bekenntnisses von Mk 15,39.94 Vielfach wird weiterhin der Wissende im zweiten Versteil (evkei/noj oi=den) vom Zeugen selbst abgetrennt, denn es bedarf eines anderen Sub-

90 Entsprechend muss die Aussage von Bauckham mit Verweis auf Joh 21,24f. kritisiert werden: „One of the Gospels claims […] to have been actually written by an eyewitness“ (B AUCKHAM, Eyewitness [s. Anm. 15], 358). Davon ist nicht explizit die Rede. 91 Vgl. etwa R. B ULTMANN, Das Evangelium nach Johannes (KEK 2), Göttingen 21 1986, 525. Dieser führt V. 34b.35 auf den kirchlichen Redaktor zurück, „der für das Wunder das Zeugnis eines Augenzeugen in Anspruch nimmt: der Augenzeuge hat den Vorgang bezeugt und sein Zeugnis ist wahr“ (ebd.). 92 C. D IETZFELBINGER, Das Evangelium nach Johannes, Bd. 2, Zürich 2001, 310. Allerdings sehe ich nicht, warum hier die Zuordnung zum Lieblingsjünger so zwingend sein soll: „Bei dem, der gesehen hat, muß es sich von 19,26f. her um den geliebten Jünger handeln; kein anderer kommt in Frage (vgl. auch 21,24)“ (ebd.). 93 Vgl. H. T HYEN, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005, 748; ferner P. S. MINEAR , Diversity and Unity. A Johannine Case Study, in: U. Luz/H. Weder (Hg.), Die Mitte des Neuen Testaments, FS E. Schweizer, Göttingen 1983, 162–175, 164: „The very person who struck the last blow against the Son of Man becomes the first witness to him“. 94 Vgl. T HYEN, Johannesevangelium (s. Anm. 93), 748f. sieht ein intertextuelles Spiel mit dem Prätext; Sabbe hingegen sieht gemäß dem literarkritischen Paradigma in Mk 15 die maßgebliche Quelle für Joh 19,33–37, vgl. M. SABBE, The Johannine Account of the Death of Jesus and Its Synoptic Parallels (Jn 19,16b-42), in: ETL 70, Leuven 1994, 34– 64.

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jekts, das den Wahrheitsanspruch des Zeugen bestätigt.95 Für Bultmann „kann doch nur Jesus selbst gemeint sein“96, der allein in der Lage sei, für die Wahrheit zu bürgen. Für die Mehrzahl der Ausleger kommt jedoch spätestens hier der Lieblingsjünger und Evangelist ins Spiel, der wie auch am Ende des Evangeliums „weiß“ und zum Glauben führen will (vgl. Joh 20,30; 21,24). Thyen begründet die Trennung des Zeugenden und des Wissenden mit Verweis auf Dtn 19,15, nach dem das Zeugnis zweier Zeugen übereinstimmen muss.97 Der Text verbleibt hier in einer gewissen Schwebe. Ebenso kontrovers wie die Frage nach der Identität dieses Augenzeugen ist die inhaltliche Frage, was hier überhaupt bezeugt werden soll. Geht es um den im Erzählgang unmittelbar zuvor genannten Lanzenstich, das Herauskommen von ‚Blut und Wasser‘ (Joh 19,34) oder um das Unterlassen des Crurifragium (Joh 19,33)? Oder bezieht sich die Zeugenaussage auf das Sterben überhaupt? Warum muss die Wahrheit dieses Zeugnisses betont werden – gab es möglicherweise Tendenzen, die den ein oder anderen Aspekt des Sterbens oder das Sterben selbst in Frage gestellt haben? Dass Auferstehungszeugnisse den Glaubwürdigkeitserweis „mit eigenen Augen“ brauchen, mag angesichts der Unwahrscheinlichkeit dieses wunderbaren Ereignisses sofort einleuchten. Um Glaubwürdigkeit zu erlangen, betont Maria v. Magdala: „Ich habe den Herrn gesehen (e`w,raka to.n ku,rion)“ (Joh 20,18); ebenso berichten die Jünger dem Thomas als ‚Augenzeugen‘ von ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen: „Wir haben den Herrn gesehen (e`wra,kamen to.n ku,rion)“ (Joh 20,25). Aber warum muss das Sterben am Kreuz durch einen Augenzeugen verbürgt werden? Gerade dieses Faktum ist doch das unstrittigste Element am Leben des geschichtlichen Jesus von Nazareth, das sogar in den wenigen außerchristlichen Quellen bezeugt wird.98 Und warum sollte hier „eine jedermann sichtbare Banalität des Alltags“99 noch eigens bezeugt werden? Gibt uns die Hervorhebung des zeugenden Sehens beim Sterben schon einen Hinweis, dass es hier viel weniger um die Nennung eines Glaubwürdigkeitserweises im historischen Sinn als vielmehr um eine theologische Aussage geht? Könnte es sein, dass hier weniger das ‚Dass‘ oder gar ‚Wie‘ des Sterbens Jesu am Kreuz bezeugt wird, als vielmehr das tete,lestai (Joh 95 Vgl. so schon B ULTMANN, Johannes (s. Anm. 91), 526: „Der Augenzeuge selbst kann es ja nicht sein, sondern nur ein Anderer, der in der Lage ist, für die Wahrheit des Zeugnisses zu bürgen“. 96 BULTMANN, Johannes (s. Anm. 91), 526. 97 T HYEN, Johannesevangelium (s. Anm. 93), 749. 98 Vgl. etwa Tac, Ann 15,44,3; dazu G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 42011, 88–90. 99 T HYEN, Johannesevangelium (s. Anm. 93), 751.

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19,30), das die Vollendung eines Lebens und Auftrags in einem theologischen Sinn anzeigt? 4.2 Die Motive „Sehen“ und „Zeugenschaft“ im Johannesevangelium Die im „Augenzeugen“ eingeschlossenen Motive des „Sehens“ und „Zeugens“ spielen im vierten Evangelium eine zentrale Rolle. Romano Guardini hatte den Evangelisten sogar als „Mann des Auges“100 bezeichnet, Otto Schwankl spricht in seiner Licht-Studie von Johannes als dem „Optiker unter den Evangelisten“101. Allein vier Verben der optischen Wahrnehmung ble,pein, qeorei/n, qea/stai sowie das Suppletivsystem o`ra/n/ivdei/n/ o;oyesqai – ferner die Wort- und Bedeutungsfelder der Epiphanie, des Lichts oder der Herrlichkeit (do,xa) zeichnen ein buntes Bild einer übergreifenden ‚Sehtheorie‘. Auch das Auge (ovfqalmo,j) als Organ des Sehens wird 17mal im Evangelium genannt, häufig in der Formulierung „die Augen öffnen“. Gewichtiger als der statistische Befund ist die Beobachtung, dass Kategorien des Sehens an zentralen Stellen des Evangeliums erscheinen, so z.B. im Blick auf das Sehen der Herrlichkeit (do,xa) schon im Prolog 1,14 („wir sahen seine do,xa“), bei der Lazaruserweckung im Zentrum des Evangeliums (11,40) oder in Joh 17,24 als Ziel der Jüngergemeinschaft. Dass „Sehen“ hierbei weit mehr als physische Wahrnehmung bedeutet, zeigt Joh 9: Der Blindgeborene kommt als zunächst Blinder zum Glauben und wird sehend.102 Er ist damit ein Vorbild in der „Schule des Sehens“, bei der es darum geht, Jesus als Christus sehen zu lernen und somit zu glauben.103 Die Pharsiäer hingegen bleiben blind, obgleich sie physisch sehen können (Joh 9,39–42). „Sehen“ wird dabei häufig in eine direkte Beziehung zu „glauben“ gesetzt: Immer wieder wird der Ruf in die Nachfolge auch mit der Aufforderung zu sehen verbunden. „Kommt und seht …!“ (Joh 1,39; 4,29). Allerdings beweist allein die Thomas-Perikope, dass sich Johannes 100 R. GUARDINI, Das Bild von Jesus dem Christus im Neuen Testament, Freiburg i.Br. ²1981, 53. 101 O. SCHWANKL, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften (HBS 5), Freiburg i.Br. 1995, 397. Die komplexe Rede des Sehens wurde dann monographisch besonders von C. HERGENRÖDER, Wir schauten seine Herrlichkeit. Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont der Selbsterschließung Jesu und Antwort des Menschen (FzB 80), Würzburg 1996 untersucht. 102 Vgl. J. FREY, Sehen oder Nicht-Sehen? (Die Heilung des blind Geborenen) – Joh 9,1–41, in: R. Zimmermann u.a. (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 725–741. 103 Vgl. zu diesem Verständnis von Christologie als Sehvorgang im Modus des „Sehen als …“ (Wittgenstein) insbesondere R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10 (WUNT 171), Tübingen 2004, 55–59.

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nicht auf das Prokustesbett linearer Zuordnungen spannen lässt. Thomas glaubt, weil er sieht (Joh 20,29a). Sehen ist Bedürfnis und Ausdruck des Glaubens. Aber zugleich werden auch diejenigen selig gepriesen, die „nicht sehen und dennoch glauben“ (Joh 20,29b). Es dürfte kaum ernsthaft zu bezweifeln sein, dass „Sehen“ im Johannesevangelium damit ein komplexer Begriff ist, der zweifellos empirische Sehfähigkeit und konkrete, auch geschichtliche Akte des Schauens voraussetzt, diese aber in ein theologisches Gesamtbild integriert, bei der das Sehen mit religiöser Semantik aufgeladen wird.104 In auffälliger Häufigkeit wird nun auch das Begriffsfeld marture,w (33 Belege105) und marturi,a (14 Belege106) im JohEv verwendet, was immer wieder Anlass für Untersuchungen zum joh Zeugenkonzept gegeben hat.107 Schon im Prolog wird das Motiv mit der Figur des Johannes (des Täufers) eingeführt (dreifach marture,w ktl.) (Joh 1,6–8): Joh 1,7f.: ou-toj h=l qen eivj marturi,an i[na martrh,sh| peri. tou/ fwto,j ( i[na pa,ntej pisteu,swsin diV auvtou/. […] i[na marturh,sh peri. tou/ fwto,j. […] dieser kam zum Zeugnis, damit er zeuge über das Licht, damit alle glaubten durch ihn, […] damit er zeuge für das Licht.

Während Johannes in der synoptischen Tradition den Beinamen „der Täufer“ (o` baptisth,j) trägt,108 fehlt dieser Ausdruck wie überhaupt die zentrale Bedeutung der Taufe im Johannesevangelium. Stattdessen wird von der ersten bis zur letzten Szene, in der er auftritt (Joh 3,32f.), seine „Zeugenrolle“ betont. Aber auch narrativ wird seine Zeugenschaft inszeniert: Sein konkretes Zeugnis wird in wörtlicher Rede zweimal wiederholt – ganz wie es der Zuverlässigkeit eines Zeugnisses im Sinne der Tora entspricht (Dtn 19,15):

104 Vgl. hier hingegen die ‚empirische‘ Einseitigkeit bei B AUCKHAM , The Fourth Gospel (s. Anm. 15), 136: „When John uses the language of ‚seeing‘ in a way that correlates with testimony it has empirical and temporal aspects that bring it to that extent close to the language of ,seeing‘ in historiography“. 105 Joh 1,7.8.15.32.34; 2,25; 3,11.26.28.32; 4,39.44; 5,31.32(bis).33.36.37.39; 7,7; 8,13.14. 18(bis); 10,25; 12,17; 13,21; 15,26.27; 18,23.37; 19,35; 21,24. 106 Joh 1,7.19; 3,11.32.33; 5,31.32.34.36; 8,13.14.17; 19,35; 21,24. 107 Vgl. die einschlägigen Arbeiten von J. M. B OICE, Witness and Revelation in the Gospel of John, Exeter 1970; J. B EUTLER, Martyria. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Zeugnisthema bei Johannes (FTS 10), Frankfurt a.M. 1972. 108 Siehe o` baptisth,j als dominanter Titel bei Matthäus (Mt 3,1; 11,11–12; 14,2.8; 16,14; 17,13) und Lukas (Lk 7,20.33; 9,19); bei Markus findet man neben o` baptisth,j (Mk 6,25; 8,28) auch o` bapti,zwn (Mk 6,14 und wahrscheinlich 1,4); das Partizip ohne Artikel dann auch in Joh 1,28.31; 3,23; 10,40 (mit Artikel nur für Jesus o` bapti,zwn evn pneu,mati a`gi,w|, siehe Joh 1,33).

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Joh 1,15. 30: VIwa,nnhj marturei/ peri. auvtou/ kai. ke,kragen le,g wn\ ou-toj h=n o]n ei=pon\ o` ovpi,sw mou evrco,menoj e;mprosqe,n mou ge,gonen( o[ti prw/to,j mou h=nÅ ou-to,j evstin u`pe.r ou- evgw. ei=pon\ ovpi,sw mou e;rcetai avnh.r o]j e;mprosqe,n mou ge,gonen( o[ti prw/to,j mou h=nÅ Johannes gibt Zeugnis über ihn und ruft: Dieser war es, der sagte: Der nach mir Kommende ist vor mir gewesen, denn er war eher als ich. Dieser ist (es), über den ich sprach: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war eher als ich.

Auch das auf der Ebene der erzählten Handlung konkret formulierte ‚Zeugnis‘ über Jesus wird wiederholt. Als Johannes Jesus kommen sieht, sagt er: Joh 1,29.36: i;de o` avmno.j tou/ qeou/ o` ai;rwn th.n a`marti,a n tou/ ko,smou. i;de o`a mno.j tou/ qeou/. Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Seht, das Lamm Gottes.

Signifikanterweise wird an beiden Stellen auch das „Sehen“ Jesu einleitend erwähnt (Joh 1,29: ble,pei; Joh 1,36: evmble,yaj). Johannes (der Täufer) ist also nicht nur Zeuge, sondern auch explizit ein Zeuge, der sieht, also gewissermaßen ein „Augenzeuge“. Dies gilt explizit auch für sein Zeugnis über die Geistgabe Jesu (Joh 1,33f.): Joh 1,34: kavg w. e`w,raka kai. memartu,rhka o[ti ou-to,j evstin o` ui`o.j tou/ qeou/Å Und ich habe gesehen und ich habe bezeugt: Dieser ist der Sohn Gottes.

Wie sehr auch hier das Zeugnis bereits mit Interpretation verbunden ist, macht die Anfügung des Hoheits-Titels sichtbar. Johannes bezeugt nicht (nur), dass der Geist auf Jesus herabkam, sondern, dass er „Sohn Gottes“ ist. Als Leser fragt man sich, woher er das weiß, denn bei Johannes ist bekanntlich keine Himmelsstimme wie bei Mk 1,11 hörbar. Die möglichst ‚faktengetreue‘ Wiedergabe eines Ereignisses allein ist noch nicht ausreichend, um ein „Zeugnis“ abzugeben. Es muss immer auch die Deutung dieses Ereignisses hinzutreten, die hier – wie bereits bei den beiden zuvor genannten Zeugnissen – christologisch ist. Der Zeuge zeugt für die Wahrheit des Glaubens, nicht der Historie. Entsprechend hatte schon Bultmann das Täuferbild des vierten Evangelisten als ein literarisch-theologisches Konstrukt der Gemeinde betrachtet.109 Noch deutlicher kritisiert Andrew Lincoln eine historische Engfüh109

Vgl. B ULTMANN, Johannes (s. Anm. 91), 121: „(Es) dürfte nicht zweifelhaft sein, […] daß der für Jesus zeugende Täufer eine Gestalt der christlichen Geschichtsdeutung

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rung des Zeugenmotivs und verweist auf die literarische Funktion der Zeugenschaft allgemein, aber auch der Augenzeugenschaft im Besonderen.110 Für Lincoln ist das gesamte Johannesevangelium eine ausgedehnte Metapher einer kosmischen Gerichtserzählung.111 „The narrative as a whole has as its dominant motif a cosmic trial in which God’s claims on the world are presented and Jesus as God’s unique agent is portrayed as both the chief witness and the judge in the lawsuit“. 112

Entsprechend wird dann auch die Rede vom Zeugnis bzw. Augenzeugen als literarisches Stilmittel („literary device“113) innerhalb dieser metaphorischen Theologie betrachtet, das auch den Erstadressaten des Evangeliums schon evident war. „The language of witness, therefore, has to be seen, first and foremost, as functioning within this metaphorical framework. Those who witness are testifying to key aspects of desputed claims about the relationship between God and the world“.114

Bezeugt wird hierbei das kosmische Gericht als Neuordnung der Beziehung zwischen Gott und der Welt. Das Zeugnis Jesu, das des Lieblingsjüngers und schließlich das der glaubenden Adressaten bzw. Leser des Evangeliums beziehen sich auf je eigene Weise auf dieses Heilsereignis und werden dabei analogisierend verknüpft.115 Es ist für Lincoln dann auch die Zustimmung der Glaubenden zu der Wahrheit des kosmischen Gerichtsprozesses, die die Identität in der Gemeinschaft der joh Christen schafft. Zeugenschaft wird dabei als ein Akt des Glaubens betrachtet.116 Wer hinist“. Für Bultmann spiegelt sich darin aber vor allem die historische „Konkurrenz der Täufer- und der Jesus-Sekte“ wider. 110 Dies entspricht auch einem der Kritikpunkte bei SCHRÖTER, Augenzeugenberichte (s. Anm. 38). 111 Vgl. dazu besonders A. T. LINCOLN, Truth on Trial: The Lawsuit Motif in the Fourth Gospel, Peabody 2000. 112 A. T. LINCOLN, The Beloved Disciple as Eyewitness and the Fourth Gospel as Witness, in: JSNT 24 (2002), 3–26, 10 mit Verweis auf seine Monographie, vgl. LINCOLN, Truth (s. Anm. 111), 12–262; ferner D ERS., „We know that his Testimony is True“: Johannine Truth Claims and Historicity, in: P. Anderson u.a. (Hg.), John, Jesus, and History, Bd. 1: Critical Appraisals of Critical Views, Atlanta 2007, 179–197. 113 LINCOLN, Beloved Disciple (s. Anm. 112), 18f. „Eyewitness as Literary Device“. „The Fourth Gospel’s readers need not have had any difficulty in recognizing eyewitness elements in a narrative as a literary device. They would know that eyewitness elements could be part of a variety of types of literature in which verisimilitude was imparted to a narrative“ (a.a.O., 19). 114 LINCOLN, Beloved Disciple (s. Anm. 112), 10. 115 Vgl. L INCOLN, Truth (s. Anm. 111), 105–110; 193–207; 242–255; vgl. auch die Zusammenfassung in L INCOLN, Beloved Disciple (s. Anm. 112), 24–26. 116 LINCOLN, Truth (s. Anm. 111), 457: „If Christian believers are witnesses to the truth of the cosmic trial, then their primary group allegiance is to this community shaped

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gegen das Motiv der „Augenzeugenschaft“ in einem historischen Sinne engführe, der verkenne die eigentliche Funktion des Zeugenmotivs.117 Ist das Motiv der Augenzeugenschaft so gesehen ein literarisches Stilmittel, das keinerlei geschichtliche Dimensionen in sich birgt? 4.3 Die Doppelkonditionierung des (Augen-)Zeugenmotivs im Johannesevangelium Die Rede von der Zeugenschaft im vierten Evangelium will gewiss nicht historische Glaubwürdigkeit im modernen Sinne eines empirischforensischen Beweises für Faktenwahrheit liefern. Gleichwohl wäre m.E. eine ungeschichtliche, rein metaphorische oder ‚gnostisch‘ abstrahierende Betrachtung ebenfalls verkürzend. Es geht beim joh Zeugnis um eine Wahrheit, die einerseits zutiefst als gegenwärtige Glaubenswahrheit präsentiert wird; gleichwohl haftet dem Zeugnis eine geschichtliche und quasi-empirische Dimension an, die nicht völlig abgestreift, sondern im Gegenteil bewusst aufgenommen wird. Beide Dimensionen scheinen in einem Widerstreit zu stehen, aber gehören für den vierten Evangelisten offenbar doch untrennbar zusammen. Dabei geht es nicht um ein von Lincoln zu Recht kritisiertes „Zwei-Stufen-Schema“118, bei dem ein historisch verbürgendes Augenzeugnis theologisch-bekenntnishaft überarbeitet wurde. Vielmehr scheint mir auch hier ein Sinnstiftungeselement vorzuliegen, für das Koschorke den kulturhermeneutischen Begriff der „Doppelkonditionierung“119 geprägt hat. Nach Koschorke handelt es sich um eine „Überlagerung mehrerer – im einfachsten und wohl auch Regelfall zweier – Zeichenregimes, die unterschiedlich, ja gegensätzlich codiert sind und wechselseitig unassimilierbar bleiben. Während jedes der Zeichenregimes eigenen, benennbaren Verknüpfungsregeln gehorcht, lässt sich auf ihr Zusammenkommen und den dabei entstehenden Raum keines der beteiligten Regel-

by its witness to the truth of the trial and by the witness of the Christian tradition as a whole“. Auch für Dirk Gniesmer ist in seiner narratologischen Studie zum Prozess vor Pilatus sogar die offene Leerstelle des Zeugen das Initial, das für den Leser im Prozess der Refiguration die narrative Identität stiftet. Vgl. D. F. GNIESMER, In den Prozeß verwickelt. Erzähltextanalytische und textpragmatische Erwägungen zur Erzählung vom Prozeß Jesu vor Pilatus (Joh 18,28-19,16a.b) (EHS XXIII Theologie 688), Frankfurt a.M. 2000. 117 LINCOLN, Beloved Disciple (s. Anm. 112), 10: „To attempt to make the witness language function first of all as ordinary eyewitnessing that indicates the historical accuracy of the narrative’s discourse is to lose sight of its primary function as part of the lawsuit metaphor“. 118 Vgl. LINCOLN, Beloved Disciple (s. Anm. 112), 16f.: „The Two-Stage Solution“. 119 A. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 2012, 370.

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werke anwenden“.120 Im Konzept des Augenzeugen wird einerseits durch das persönlich verbürgte „Sehen mit eigenen Augen“ ein auf Objektivität zielendes Beglaubigungsmittel gegeben. Durch das „Zeugnis“ wird jedoch andererseits das subjektive Moment der deutenden Wahrnehmung sowie der überzeugten und auf Überzeugung zielenden Weitergabe des Sehens eingebracht. Beide Aspekte werden im Zeugenkonzept des Johannesevangeliums zur Geltung gebracht, was ich an zwei Beispielen erläutern möchte. Zunächst an der eigenartigen Rede vom „Selbstzeugnis“ Jesu. Bereits im Gespräch mit Nikodemus (3,11), deutlicher aber noch in Joh 8,14 wird von einem Selbstzeugnis Jesu gesprochen. Auf die Bestreitung der Gültigkeit eines solchen Selbstzeugnisses (Joh 8,13) verweist Jesus auf seine Herkunft von Gott sowie auf die Werke, die er im Namen des Vaters vollbringt und die das Zeugnis bestätigen. Es ist letztlich also Gott selbst, der als Zeuge für Jesus eintritt (vgl. 1Joh 5,9f.). Das Modell einer rein historisierenden Augenzeugenschaft wird spätestens durch diesen Verweiszusammenhang grundsätzlich ad absurdum geführt. Die Wahrheit Jesu ist gerade nicht von menschlicher Beglaubigung abhängig. Jesus kann über sich selbst zeugen und Gott zeugt für ihn. Jeder, der an Jesus glaubt, kann in dieses Zeugnis einstimmen. Ist das Zeugnis damit ganz in den Bereich des Glaubens verlagert und entbehrt jeder Form von geschichtlicher Beglaubigungspraxis? Schon Ricœur hatte m.E. zu Recht gesehen, dass mit dem Verweis auf die „Werke“ einer esoterischen „Verinnerlichung des Zeugnisses“121 Grenzen gesetzt werden: „Selbst bei Johannes ist das Band zwischen dem christologischen Bekenntnis und der narrativen Verkündigung eines zentralen geschichtlichen Ereignisses nie durchschnitten […]. Diese marturi,a tw/n e;rgwn von Seiten Christi selbst bewirkt, dass das Zeugnis, das über ihn abgelegt wird, kein Zeugnis von einer Idee, einem überzeitlichen logos darstellt, sondern von einer fleischgewordenen Person. Johannes, der das fleischgewordene Wort besingt, kann trotzdem das Zeugnis nicht vollständig in Richtung einer völlig mystischen und innerlichen Idee verwandeln“.122

Mit den sichtbaren Werken, die sich in den shmei/a manifestieren, bleibt das Glaubenszeugnis an die vor aller Augen sich ereignenden Zeichenhandlungen, d.h. auch an Ereignisse der Geschichte zurückgebunden. Die Bekenntnisdimension des Zeugnisses, die „Intimität“ des persönlichen Bekenntnisses einerseits sowie die geschichtliche Dimension, die „Exteriori-

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KOSCHORKE, Wahrheit (s. Anm. 119), 368, zu den „Doppelkonditionierungen“ insgesamt 368–383. 121 RICŒUR, Hermeneutik (s. Anm. 59), 25. 122 RICŒUR, Hermeneutik (s. Anm. 59), 26.

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tät“ des Zeugnisses in seinem Verweischarakter auf Ereignisse andererseits gehören zusammen.123 Das zweite Beispiel geht noch einmal auf Johannes (d.T.) zurück, den wir bereits als exeptionellen Christuszeugen kennengelernt haben (s.o.). Doch auch hier sehen wir, dass sich das Konzept der (Augen-)zeugenschaft nicht im Christusbekenntnis erschöpft. Das eigene Sehen wird von Johannes nicht als exklusives Gut betrachtet, vielmehr ist es die Basis, um auch andere zum „Sehen“ einzuladen: „Seht, das Lamm Gottes …“ (Joh 1,29f.). Überblickt man das Figurenkonzept des Johannes (d.T.) im Ganzen, so kann man ferner zeigen, dass in der Erzählweise diese Weitergabe und Fremdreferenz eigens betont wird:124 Johannes wird prominent bereits im Prolog ins Geschehen eingeführt, ist der erste Zeuge in der erzählten Handlung, aber mit jeder Erwähnung tritt er mehr in den Hintergrund. Auch der seltsam auffällige Stil der Selbstzitation (Joh 1,30: „dieser ist es, von dem ich gesagt habe“) oder sogar Fremdzitation (Joh 3,28: „Ihr bezeugt mir, dass ich gesagt habe“) inszeniert diese „Weitergabe“ des Zeugnisses. Der zeugende Johannes erfüllt seine Funktion gerade damit, dass andere sein Zeugnis aufnehmen, bestätigen (5,31–38) und fortführen, wie es bei seiner letzten Erwähnung in Joh 10,40–42 oder in Joh 15,27 dann auch vollzogen wird. Auch die Zeugenschaft des Johannes hat folglich sowohl eine Bekenntnisdimension als auch eine diachrone Seite der Traditions- bzw. Zeugnisweitergabe. Es besteht kein Zweifel, dass das Motiv der „Zeugenschaft“ ein Element der literarisch-hermeneutischen Komposition des vierten Evangeliums ist. Aber es ist deshalb nicht ahistorisch oder ohne geschichtliche Relevanz. Mit dem Hinweis auf die Augenzeugenschaft wird der Anspruch auf Wahrheit vertreten, die für den vierten Evangelisten nirgends anders beginnt als unter dem Kreuz. Das Kreuz wird somit zum Ereignis im historischen Sinn „gemacht“, zu einem ‚Faktum‘, das die Geschichte verändert. Ein solcher Anspruch ist deshalb keineswegs ungeschichtlich, im Gegenteil125: Er bewahrt zweifellos die Erinnerung an eine personal verbürgte 123

R ICŒUR , Hermeneutik (s. Anm. 59), 26: „Das Zeugnis-Bekenntnis könnte sich nicht von der Zeugnis-Erzählung ablösen, ohne in die Gnosis zu führen“. Für Ricœur sind es auch zwei Gattungszuordnungen, die sich hier überlappen: Zeugnis-Bekenntnis und Zeugnis-Erzählung, wobei die Erzählung besonders als geschichtliche Erzählung als Grundform der Vergangenheitsverarbeitung bestimmt wird. 124 Vgl. hierzu R. ZIMMERMANN, Figurenanalyse im Johannesevangelium. Ein Beitrag zu Sinn und Wahrheit narratologischer Exegese, in: ZNW 105 (2014), 20–53, 50f. mit mehr Details. 125 Lincoln möchte hingegen „Historicity“ und „Truth“ strikt auseinander halten, vgl. LINCOLN, Truth Claims and Historicity (s. Anm. 112), 197: „The truth of that witness does not refer to its circumstantial accuracy but to the explanation of God’s purposes implied by its narrative“.

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Weitergabe dieser Erfahrung. Mehr noch: Er lässt Vergangenheit gegenwärtig sichtbar werden. Wer die joh Rede von der Augenzeugenschaft auf eine (oder mehrere) postulierte historische Gestalt, z.B. die des Lieblingsjüngers reduziert – wie Bauckham –, muss sich mit Michael Theobald fragen lassen, ob dieser Ansatz „nicht zu einer fragwürdigen Historisierung des Buches führt“.126 Doch wer die joh Rede von der Augenzeugenschaft auf ein literarisches Sprachspiel reduziert – wie Lincoln –, verkennt die Geschichtskonzeption des JohEv, die die Gegenwärtigkeit des Lebens und Glaubens an erinnerte Vergangenheit zurückbindet.127

Epilog am Äquator Eis konserviert bekanntlich gut. Manchmal kann ein Zeitzeuge nach mehr als 5000 Jahren wieder an die Oberfläche gelangen und erstaunliche Informationen über die Vergangenheit freigeben.128 Allein, sein Zeugnis ist nicht mehr lebendig. Es taugt insbesondere für Labore und Archive. In der heißen und humiden Zone des Äquators zerrinnen hingegen die Überreste im Sumpf und Morast eines ständigen Prozesses aus Werden und Vergehen. Aber hier regt sich auch das Leben in Fülle. Es war Jan Assmann, der in seinem ‚kulturellen Gedächtnis‘ die Thermik zum Anschauungsfeld für kollektive Gedächtnisprozesse gewählt hatte und entsprechend von „heißer“ und „kalter“ Erinnerung sprach.129 Die „heiße“ Erinnerung verschiebt den Fokus der Geschichtsbetrachtung ganz in die Gegenwart. „Verinnerlichte – und genau das heißt: erinnerte – Vergangenheit findet ihre Form in der Erzählung. Diese Erzählung hat eine Funktion. Entweder wird sie zum ‚Motor der Entwicklung‘, oder sie wird zum ‚Fundament der Kontinuität‘. 126

M. T HEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1–12 (RNT), Regensburg 2009, 17. 127 Vgl. zum Zeit verschränkenden Geschichtskonzept J. RAHNER, Vergegenwärtigende Erinnerung. Die Abschiedsreden, der Geist-Paraklet und die Retrospektive des Johannesevangeliums, in: ZNW 91 (2000), 72–90; ferner C. HOEGEN-ROHLS, Der Nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schüssel zum vierten Evangelium (WUNT II/84), Tübingen 1996. 128 Vgl. etwa die 1991 gefundene neolithische Gletschermumie „Ötzi“, deren Alter auf 5250 Jahre geschätzt wird. 129 Vgl. J. ASSMANN, „Heiße“ und „kalte“ Erinnerung, in: ders., Das kulturelle Gedächtnis, München ²2005, 66–86. Assmann greift hier auf die Unterscheidung von C. Lévi-Strauss zwischen „heißen und kalten Gesellschaften“ zurück und appliziert sie auf Gedächtnisprozesse, bei Lévi-Strauss ist in der Übersetzung allerdings von „warmen“ Gesellschaften die Rede, vgl. C. LÉVI-STRAUSS, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 10 1997, 270.

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In keinem Fall aber wird die Vergangenheit ‚um ihrer selbst willen‘ erinnert“.130 Auch das Johannesevangelium erinnert die Jesusgeschichte nicht ‚um ihrer selbst willen‘. Die Erzählung des vierten Evangelisten mag zwar im Gefrierschrank historistischer Gelehrsamkeit konserviert werden. Sie mag hinsichtlich historischer und archäologischer ‚Fakten‘ ausgewertet werden.131 Der Verfasser, der sich als „Augenzeuge“ am Ende nochmal zu Wort meldet, wäre damit wohl kaum glücklich. Sein Zeugnis ist nicht rückwärtsgewandt, sondern gegenwartsorientiert. Er ist am heißen Erinnerungsprozess, an der verändernden Verinnerlichung interessiert, wie es durch viele literarische Kunstgriffe (z.B. die Missverständnisse, die Bildersprache, die Leerstellen etc.) zum Ausdruck kommt. Seine Jesusgeschichte ist rezeptionsästhetische Christologie.132 Er schreibt sein Evangelium nicht zum Selbstzweck oder ‚fürs Bücherregal‘, sondern in einer klaren Ausrichtung auf den Leser und die Leserin im Hier und Jetzt: „Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes, und damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31). Auch das Konzept des Augenzeugen dient diesem übergeordneten Ziel. Es ist ein hermeneutisches Konzept, das Verstehen ermöglichen und vertiefen soll. Verstehen, das sich nicht im Für-Wahr-Halten von vergangenen Ereignissen erschöpft, sondern auf gegenwärtiges Verstehen, auf eine Sinnfindung im Glauben abzielt. Der Augenzeuge möchte das Sehen lehren. Er ist der Christuszeuge, der gewissermaßen seine Augen leiht, um Jesus als Christus zu erkennen. Diese leidenschaftliche Theologie ist gleichwohl historisch-inkarnatorisch geerdet, die Jesusgeschichte, die hier erzählt wird, wird im konkreten Raum und in der konkreten Zeit der Geschichte angesiedelt. Das Christusbild, das hier gezeichnet wird, ist Erinnerungsbild des Menschen aus Nazareth.133 Aber sie erfüllt ihren Sinn erst im Erreichen des Rezipienten, im Nachblicken und Einsehen. Die Authentizität des Augenzeugen gründet folglich nicht vorrangig in einer Partizipation an Ereignissen der Vergangenheit. Der Augenzeuge ist glaub-würdig im wahrsten Sinne des Wortes: weil er glaubt und seinem Glauben vertraut 130

ASSMANN, Gedächtnis (s. Anm. 129), 75. Vgl. U. C. VAN W AHLDE, Archaeology and John’s Gospel, in: J. H. Charlesworth (Hg.), Jesus and Archaeology, Grand Rapids/Cambridge 2006, 523–586; J. H. CHARLESWORTH, The Historical Jesus in the Fourth Gospel: A Paradigm Shift?, in: JSHJ 8 (2010), 3–46; ferner die Beiträge in P. N. ANDERSON u.a. (Hg.), John, Jesus, and History, Bd. 2: Aspects of Historicity in the Fourth Gospel, Atlanta 2009. 132 Vgl. zum rezipientenorientierten Charakter der Jesusbilder besonders R. ZIMMERMANN, Die Wirkung der Christusbilder (rezeptionsästhetische Aspekte), in: ders., Christologie der Bilder (s. Anm. 103), 425–446. 133 Vgl. zu dieser erinnernden Dimension ZIMMERMANN, Christologie der Bilder (s. Anm. 103), 427–431 („Erinnerungsbild – geschichtliche Dimension“). 131

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werden kann. Er ist glaubwürdig, weil er Glauben in der Gegenwart stiftet, weil sein Sehzeugnis nicht exklusiv ist, sondern zur Nachahmung anstiftet. Im Evangelium wird schon angezeigt, dass es Menschen gibt, die bereit sind, sich auf diese dynamisierende Zeugenschaft einzulassen. Sie formulieren ihr eigenes Bekenntnis (1. Pers. Plural: oi;damen). Entsprechend endet das vierte Evangelium: Dieser ist der Jünger, der über dies Zeugnis gibt (Präsens!) und der dies geschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist (Joh 21,24).

Abstract Beginning with the character of the beloved disciple in the Gospel of John, this contribution analyses the concept of autopsy, which is of particular tradition-historical as well as hermeneutical-theological relevance in New Testament studies. The epistemological interest behind the debate about this concept, which is derived from ancient historiography, lies in the question of truth, i.e. of the validity and objectivity of the events narrated in the New Testament accounts. This leads to a critical evaluation of the expectations associated with this concept – the trustworthiness, the objectivity and the probative value of the accounts of eyewitnesses. The narrative construction of all historiography is situated within recent debates in the theory of history. The ensuing text-based application on the Gospel of John yields an interpretation of the motif of autopsy as an element of the literary-hermeneutical composition of the Fourth Gospel, which serves the primary goal of enabling the understanding of past events as well as the present endowment of these events with meaning.

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Der Lieblingsjünger und die normative Kraft des Fiktiven Kanonische Fiktionalität als fundamentaltheologisches Problem Paul Metzger Pseudepigraphie ist im Grunde kein Problem für die exegetische Wissenschaft.1 Solange kein normatives Interesse mit der Erforschung der Bibel verbunden wird, müssen die Einsichten der Exegese in dieser Hinsicht kein Ärgernis erregen. Pseudepigraphie wird erst in theologischer Hinsicht ein Problem, wenn der Anspruch der Texte ernstgenommen wird und in die fundamentaltheologische Frage einmündet, wie die Offenbarung Gottes verlässlich erhoben werden kann und was das mit der Schrift zu tun hat.2 Kann man den persönlichen Glauben und die eigene Identität auf einen Text gründen, der nicht das ist, was er vorgibt zu sein? Auf eine Fälschung? Die Bibel spielt dabei in allen christlichen Konfessionen eine wesentliche Grundlage. Als Text birgt sie grundsätzlich das Problem, dass sie gelesen und verstanden werden muss. Das ergibt weitere Fragen: Muss sie im Rahmen einer Tradition gelesen werden oder darf diese ignoriert werden? Weiter drängt sich die Frage auf, wer das Recht dazu hat, die Texte zu lesen und sich somit ihrer zu bemächtigen. Setzt man diese Frage in Relation zu einer Gemeinschaft von Lesern, in diesem Fall einer Religionsgemeinschaft, dann ergibt sich die Frage, wem die Gemeinschaft das Recht zuge1

Einen informativen Überblick zum Problem der Pseudepigraphie gibt R. ZIMMERUnecht – und doch wahr? Pseudepigrahie im Neuen Testament als theologisches Problem, in: ZNT 12, 2003, 27– 38. 2 Vgl. zur fundamentaltheologischen Fragestellung im Rahmen der theologischen Prinzipien– und Erkenntnislehre C. B ÖTTIGHEIMER, Lehrbuch der Fundamentaltheologie. Die Rationalität der Gottes-, Offenbarungs- und Kirchenfrage, Freiburg u.a. 2009, 115– 164. Zum Umgang mit der Bibel im Rahmen der römisch-katholischen Dogmatik O. H. PESCH, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung I/1, Ostfildern 2008, 223– 248. Zur Bedeutung der Bibel im Rahmen der evangelischen Dogmatik W. HÄRLE, Dogmatik, Berlin/New York 22000, 111–167. MANN,

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steht, das Buch für alle zu bewerten und mit welcher Verbindlichkeit dies jemand für alle tun soll. Dieser unabweisbare Zusammenhang birgt eine ganze Reihe von weiteren Fragen: Gibt es überhaupt eine richtige Interpretation eines Textes? Und wenn ja: Gibt es eine richtige Interpretation für eine Glaubensgemeinschaft? Bejaht man auch diese Frage, folgt die nächste: Wer legt diese fest? Ist diese Interpretation Aufgabe von Fachleuten für antike Texte? Braucht man zur Auslegung bestimmte Voraussetzungen oder kann bzw. darf das jeder? Und wenn es jeder darf: Wie kann eine Gemeinschaft dann zu verbindlichen Aussagen kommen? Werden dann letztlich Abstimmungen über die richtige Textinterpretation durchgeführt?

1. Pseudepigraphie als fundamentaltheologisches Problem Dies ist der fundamentaltheologische Horizont, in dem die Frage der Pseudepigraphie behandelt werden muss. Denn schließlich beanspruchen auch solche Texte, sofern sie Teil des Kanons sind, eine hohe Verbindlichkeit, für die christlichen Glaubensgemeinschaften eine hohe (zuweilen sogar die höchste) Autorität ihres Glaubens. Immerhin soll sich auch durch pseudepigraphe Texte die Offenbarung Gottes für die Theoriebildung erschließen lassen. Auch wenn es im Einzelnen wesentliche Unterschiede im Umgang mit der Schrift zwischen römisch-katholischer und evangelischer Theologie gibt, ist beiden gemein, dass sie in der Schrift „die höchste Richtschnur ihres Glaubens“ 3 erkennen. Wenn die Schrift in ökumenischer Eintracht wirklich die „oberste Richterin“ 4 (Martin Luther) der theologischen Theoriebildung sein soll, also Normativität beansprucht, dann wird die exegetisch erkannte Pseudepigraphie zu einem fundamentalen Problem. Denn diese hohe Autorität und Normativität der Schrift stehen sofort auf dem Spiel, wenn in die ohnehin schon schwierige Frage, wie sich Offenbarung Gottes und biblischer Text zueinander verhalten, noch die exegetischen Erkenntnisse eingebracht werden, wonach viele Texte des Kanons falsche Verfasserangaben tragen und den Geruch der Fälschung verströmen. Das Problem entzündet sich an dem verständlichen Wunsch nach verlässlichen Grundlagen des Glaubens. Diese eingeforderte Verlässlichkeit biblischer Texte wird häufig in Beziehung zu einer eher unreflektierten Auffassung von Wahrheit gesehen. Trotz aller Fortschritte der Geis-

3 So die Dogmatische Konstitution „Dei Verbum“ (Nr. 21) des 2. Vatikanischen Konzils (DH 4228). 4 M. LUTHER , Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum, WA 7, 91–151, 7,97. Zitiert nach der Übersetzung von Sibylle Rolf, Martin Luther. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe I, Leipzig 2006, 79.

Der Lieblingsjünger

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teswissenschaften im Hinblick auf die Bestimmung von Wahrheit 5 oder Bedeutung6 ist landläufig immer noch eine einfache Gleichsetzung anzutreffen: „Wahr ist das, was ist“ bzw. auf die Vergangenheit angewandt: „Wahr ist das, was war“. Sieht man näher hin, gewinnt man mit diesen Sätzen nichts. Das Problem der Vergewisserung bestimmter „Tatsachen“ verlagert sich von der Bedeutung des Begriffs „wahr“ auf die Bestimmung von „sein“. In erster Linie manifestiert sich in diesen oft unausgesprochenen Grundlagen des Denkens und Fühlens eine gewisse Wertung. Fakten will man vertrauen, Fiktionen hingegen nicht. Im Rahmen der Religion führt diese Geisteshaltung auch Jahrhunderte nach der Aufklärung immer noch nicht nur fundamentalistischbiblizistische Zeitgenossen in eine Verlegenheit, wenn sie im Hinblick auf die Bibel mit Ergebnissen der historisch-kritischen Wissenschaft bekannt gemacht werden. Viele Gläubige nehmen eine Abwehrhaltung ein, wenn ihnen gesagt wird, dass einige Paulusbriefe im Neuen Testament nicht von Paulus sind. Der Begriff der „Fälschung“ 7 schreckt diese Menschen auf und sofort fragen sie danach, was „man“ denn dann noch glauben kann. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, hat die exegetische Forschung versucht, die falschen Verfasser als geistige Erben ihrer Vorbilder bzw. Schüler ihrer Meister zu kennzeichnen, die deren Anliegen weitertragen bzw. sich unter deren Autorität beugen. Außerdem verweist man gerne darauf, dass die Praxis des Schreibens unter „geliehenem“ Namen in der Antike weit verbreitet ist. 8 Damit kann man – zu Recht oder zu Unrecht 9 – das Problem der deuteropaulinischen Schreiben in seiner Brisanz eindämmen, allerdings verschärft es sich, wenn der Verfasser, dem eine Schrift von ihr selbst zugeschrieben wird, überhaupt nicht existiert hat, also eine reine Fiktion wäre. Dies wird in der Forschung im Hinblick auf das Johannesevangelium diskutiert. Das Interesse richtet sich auf die Rolle des Lieblingsjüngers im Johannesevangelium. Laut einem breiten exegetischen Konsens verbürgt er die Autorität des Evangeliums. Was ist aber mit seiner 5 Vgl. grundlegend C. LANDMESSER , Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft (WUNT 113), Tübingen 1999. 6 Vgl. grundlegend K. DRONSCH, Bedeutung als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft: Texttheoretische und semiotische Entwürfe zur Kritik der Semantik dargelegt anhand einer Analyse zu avkou,ein in Mk 4 (NET 15), Tübingen 2010. 7 Deutlich operiert mit diesem Begriff G. LÜDEMANN, Ein Fälscher am Werk. Das Schicksal des Ersten Thessalonicherbriefs in seiner „Interpretation“ durch den Zweiten Thessalonicherbrief, in: C. Bizer u.a. (Hg.), Theologisches geschenkt, FS Manfred Josu ttis, Bovenden 1996, 32–39. 8 Vgl. ZIMMERMANN, Unecht (s. Anm. 1), 28–35. 9 Zu Unrecht wahrscheinlich in Bezug auf den 2.Thess. Vgl. P. METZGER, Eine apokalyptische Paulusschule? – Zum Ort des II Thessalonicherbriefs, in: M. Becker/M. Öhler (Hg.), Apokalyptik als bleibende Herausforderung neutestamentlicher Wissenschaft (WUNT II/214), Tübingen 2005, 147–168.

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Autorität, wenn es ihn gar nicht gab? Anhand dieses Beispiels geht es also um die Frage, wie ein Text Autorität beanspruchen und normativ für eine Gemeinschaft sein soll, wenn die Annahmen falsch sind, die zu seiner Autorisierung geführt haben. Wie soll das Johannesevangelium Autorität beanspruchen, wenn derjenige, der diese verbürgt, fiktiv ist?

2. Der Lieblingsjünger und die Autorität des Evangeliums Im Johannesevangelium hebt eine unbekannte Gruppe („wir“) einen Jünger Jesu besonders hervor. Dieser Jünger sei von Jesus geliebt worden und er bezeuge den Wahrheitsgehalt des Evangeliums (Joh 19,35; 21,24). Diese literarische Gestalt wird also zum Garanten des ganzen Evangeliums erklärt. Die Alte Kirche ist dieser Erklärung gefolgt und vollzog aus nachvollziehbaren Gründen einen weiteren Schritt. Sie fragte, wer denn dieser Lieblingsjünger gewesen sein mag, den die „Wir-Gruppe“ offensichtlich absichtsvoll in der Anonymität verharren ließ. Die frühesten Identifizierungen, die vorliegen, stammen aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts. So führt z.B. der sog. Kanon Muratori aus: „Das vierte der Evangelien, des Johannes, (eines) von den Jüngern. […] Was also Wunder, wenn Johannes, so sich gleichbleibend, Einzelnes auch in seinen Briefen vorbringt […]. Denn damit bekennt er (sich) nicht nur als Augen- und Ohrenzeuge, sondern auch als Schriftsteller aller Wunder des Herrn der Reihe nach“.10

Und Irenäus von Lyon weiß: „Schließlich gab Johannes, der Jünger des Herrn, der auch an seiner Brust lag, ebenfalls das Evangelium heraus, als er sich in Ephesus in Asien aufhielt“ (3,1,1f.).11 Die Alte Kirche erkennt also in dem Zebedaiden Johannes den Autor des (nach ihm benannten) Johannesevangeliums und identifiziert ihn ausdrücklich mit dem Lieblingsjünger. Das Evangelium bekommt seinen Platz im Kanon, weil es mit der Autorität eines Jüngers Jesu ausgestattet ist. Ist die Identifizierung aber korrekt? Oder ist der Lieblingsjünger vielleicht gar nicht der Zebedaide? Für die vorliegende Frageperspektive ist wichtig zu notieren, dass die Autorität des Texts mit der Nähe seines Autors zu Jesus begründet wird. Die Argumentation setzt die historische Nähe unausge10 Zitiert nach C. MARKSCHIES, Haupteinleitung, in: C. Markschies/J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. 7. Auflage der von E. Hennecke begründeten und von W. Schneemelcher fortgeführten Sammlung der neutestamentlichen Apokryphen I. Band: Evangelien und Verwandtes. Teilband 1, 1–180, 119. 11 Iren, Haer 3, herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von N. Brox (FC 8/3), Freiburg u.a. 1995.

Der Lieblingsjünger

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sprochen in eins mit normativer Kraft. Welche Folgen hat es dann für die Autorität des Textes, wenn die Argumentation falsch ist? Zunächst soll die Frage nach der Identität des Lieblingsjüngers geklärt bzw. soll ermittelt werden, ob der Lieblingsjünger eine rein fiktive literarische Gestalt ist oder ob er eine historische Grundlage hat. Um diese Frage zu entscheiden, muss nicht im Detail erörtert werden, welche Texte herangezogen werden müssen, in denen der Lieblingsjünger auftritt.12 Der Fokus liegt hier auf den Texten, in denen der Jünger, den Jesus liebte, mit exakt dieser Bezeichnung deutlich benannt wird: Der Lieblingsjünger liegt an Jesu Brust und fragt ihn nach dem Verräter (13,23). Er steht unter dem Kreuz und Jesus vertraut ihm seine Mutter an (19,25–27). Angesichts des leeren Grabs glaubt er als erster an die Auferstehung Jesu (20,8) und erkennt als erster der Jünger den Auferstandenen am See (21,7). Schließlich verbürgt er die Autorität des Evangeliums selbst (21,24). Von daher ergibt sich, dass der Lieblingsjünger zum Stellvertreter Jesu (19,26) eingesetzt wird. Als der wesentliche Zeuge des Evangeliums (19,35) garantiert er dessen Autorität13 und wird sogar als Autor des Evangeliums (21,24) benannt. Somit gilt er als der Exeget Jesu und sein Evangelium als die autoritative Grundlage der johanneischen Gemeinde. Diese Feststellung seiner Funktion ist m.W. konsensfähig. 14 Die – wahrscheinlich bleibend – kontroverse Frage besteht darin, ob sich das, was über den Lieblingsjünger gesagt werden kann, mit der Beschreibung seiner Funktion erschöpft oder sogar erschöpft sein soll. Sicherlich ist die Anonymität des Lieblingsjüngers im Evangelium gewollt. Andernfalls wäre sie vom Autor aufgelöst und die Figur benannt worden. In theologischer Perspektive mag man sich auch damit zufrieden geben können. Historisch ist aber noch nicht ausgemacht, dass hier kein Weg weiter in Richtung Identität des Lieblingsjüngers führt, auch wenn man in diesem Fall gegen die Textintention fragt.

12 Obwohl H. T HYEN, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005, und J. KÜGLER , Der Jünger, den Jesus liebte. Literarische, theologische und historische Untersuchungen zu einer Schlüsselgestalt johanneischer Theologie und Geschichte. Mit einem Exkurs über die Brotrede in Joh 6 (SBB 16), Stuttgart 1988, zu dem Ergebnis kommen, dass der Lieblingsjünger eine fiktive Gestalt ist, bestimmen sie die Textbasis für ihre Untersuchung dieser Figur anders. Während KÜGLER , Jünger, 421–428 weder Joh 1,35– 40 noch Joh 18,15f. zu den Texten zählt, die zu untersuchen sind, wendet sich T HYEN, Johannesevangelium, 134, dezidiert dagegen und rechnet diese auch dazu. 13 Vgl. KÜGLER , Jünger (s. Anm. 12), 433. 14 Vgl. R. B AUCKHAM , The Beloved Disciple as Ideal Author, in: ders., The Testimony of the Beloved Disciple. Narrative, History, and Theology in the Gospel of John, Grand Rapids 2008, 73–93.

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2.1 Der Lieblingsjünger als Fiktion Zunächst zur These, die im Lieblingsjünger eine rein fiktive Gestalt erblickt, die keinen historischen Anhalt hat und lediglich eine rhetorische Funktion im Evangelium einnimmt. Stellvertretend für alle, die diese Position teilen, können Ismo Dunderberg, Joachim Kügler und Hartwig Thyen exemplarisch genannt werden. Deren Annahmen werden zusammenfassend vorgestellt und kritisch bewertet. 15 Überzeugend ist zunächst die Annahme, das Evangelium als einheitlichen Text zu verstehen. Dabei muss nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass es keine Genese des Texts gibt, sondern lediglich die Endgestalt als in sich sinnvoller Text ausgewiesen werden kann. Da dies möglich ist, kann diesem Ansatz gefolgt werden. Weiter ist m.E. richtig, dass vor allem die Funktion des Lieblingsjüngers relevant für die Interpretation des Evangeliums ist. Nicht ob eine Identifizierung des Jüngers möglich und herleitbar ist, entscheidet über die Auslegung des Texts, sondern dessen immanente Hinweise und Textsignale. Entscheidend ist hierbei, die Autorität der Gestalt zu beachten, mit der die Autoren des Texts das Evangelium als Glaubensmythos ihrer Leserschaft zu etablieren suchen. Die bleibende Kraft des Evangeliums, seiner Leserschaft Orientierung im christlichen Glauben zu geben, hängt nicht an der konkreten Identität des Lieblingsjüngers, sondern an der Überzeugungskraft der theologischen Deutung, die das Evangelium bereitstellt. Insofern ist die These zutreffend, dass im Lieblingsjünger eine Verdichtung der apostolischen Lehre für die konkrete Leserschaft stattfindet. 16 Weniger überzeugend scheinen weitere Annahmen. Zunächst ist hier die These zu nennen, wonach der Lieblingsjünger nach dem Modell des Apostels Johannes Zebedäus gestaltet wurde.17 Dies erklärt zwar, warum die Alte Kirche den Verfasser des Evangeliums und den damit gleichgesetzten Lieblingsjünger mit Johannes Zebedäus identifizierte, allerdings kann dies auch mit einer irrigen Gleichsetzung des Presbyters Johannes mit dem Apostel Johannes erklärt werden. Ein weiteres Indiz für den fiktiven Lieblingsjünger wird in der Leserlenkung gesehen. Zugegeben sei, dass der Anfang des Johannesevangeliums nicht den Eindruck erweckt, „als beginne hier ein historischer Augenzeugenbericht“18. Daraus aber den Schluss zu ziehen, es gebe „eine außer-

15

Vgl. I. DUNDERBERG, The Beloved Disciple in John: Ideal Figure in an Early Christian Controversy, in: ders. u.a. (Hg.), Fair Play: Diversity and Conflicts in Early Christianity, FS Heikki Räisänen, Leiden 2002, 243–269. 16 Vgl. KÜGLER , Jünger (s. Anm. 12), 486. 17 Vgl. THYEN, Johannesevangelium (s. Anm. 12), 2. 18 KÜGLER , Jünger (s. Anm. 12), 481.

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textliche Bezugsmöglichkeit“ 19 für den Lieblingsjünger nicht, greift wohl zu kurz. Dass erst am Ende des Evangeliums der Lieblingsjünger als Autor benannt wird (Joh 21,24), kann doch einfacher damit erklärt werden, dass der Traditionsgarant des Evangeliums nicht seine Person in den Vordergrund drängen wollte, sondern die Verkündigung Jesu sein wichtigstes Anliegen war. Dass er nicht der Autor des Evangeliums in seiner Endgestalt gewesen sein kann, weil sein Tod vorausgesetzt wird, ist ja bereits zugegeben. Daher scheint das Argument, dass zunächst eine Autoridentität im Evangelium aufgebaut werden musste, 20 als Argument ex silentio nicht überzeugend. Auch der Hinweis, wonach der Lieblingsjünger den Lesern nicht bekannt gewesen sei, weil er nicht mit determiniertem Artikel eingeführt wird, sondern als „einer von seinen Jüngern“ (Joh 13,23) bezeichnet wird,21 scheint nicht den genannten Schluss tragen zu können. Schließlich bleibt die Entkräftung des augenscheinlichen „Beweises“ der Historizität des Lieblingsjüngers: sein Tod. Joh 21,22f. liest sich auf den ersten Blick wie der Versuch, den Tod des Lieblingsjüngers zu erklären. Die (anscheinend) offensichtliche Notwendigkeit, das zu tun, setzt voraus, dass hier ein Problem der Leserschaft vorlag, dem die Autoren letzter Hand begegnen mussten. Für die Anhänger der These, dass der Lieblingsjünger eine rein fiktive Gestalt ist, darf diese vermeintlich offensichtliche Argumentation nicht verfangen. Hier müssen ein innertextlicher Sinn gefunden und die offensichtliche Interpretation abgewehrt werden. 22 Vier Argumente werden dafür angeführt: 1. Da der Text das Herrenwort bzw. die Erwartung des Gerüchts voll ausformuliere, soll es nicht bekannt gewesen sein. Deshalb brauche es auch niemand zu behandeln, der das nicht will. 2. Das Gewicht von Herrenworten werde generell überschätzt. 3. Da die Autoren die apokalyptische Dimension der Eschatologie im Johannesevangelium forcierten, sei das „Überleben“ eines solchen Gerüchts nicht plausibel. 4. Joh 21,23 zeige durch seine Formulierung („unter den Brüdern“) an, dass das Gerücht nicht unter seiner Leserschaft verbreitet gewesen sei. Zusammen genommen sei anhand dieser vier Indizien erkennbar, dass Joh 21,23f. dazu diene, „den Tod des Lieblingsjüngers auszublenden“23. Diese Formulierung ist schwierig zu verstehen, scheint aber mit der Interpretation von Hartwig Thyen zu harmonieren, der hier auf den Unterschied zwischen „Nicht-Sterben“ und „Bleiben“ aufmerksam macht. 24 Der Lieblingsjünger soll in seinem Evangelium „bleiben“ – gleichgültig, ob er stirbt oder 19

KÜGLER , Jünger (s. Anm. 12), 481. Vgl. KÜGLER , Jünger (s. Anm. 12), 482. 21 Vgl. KÜGLER , Jünger (s. Anm. 12), 481. 22 Vgl. die Argumentation von KÜGLER, Jünger (s. Anm. 12), 483f. 23 KÜGLER , Jünger (s. Anm. 12), 484. 24 T HYEN, Johannesevangelium (s. Anm. 12), 791. 20

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nicht.25 Diese Interpretation unterstreicht Thyen, indem er die Formulierung „unter den Brüdern“ auf die in Joh 20,17 angeredeten elf Jünger Jesu bezieht.26 Auf keinen Fall könnten „etwa völlig anachronistisch die Glieder einer johanneischen Gemeinde am Ende des ersten Jahrhunderts“ 27 gemeint sein. Warum dies nicht der Fall sein kann, bleibt m.E. allerdings bei Kügler und Thyen offen. Dass die Interpretation von Joh 21,23f. eine entscheidende Frage ist, muss aber zugegeben werden. Vielleicht kann aber eine alternative und möglicherweise überzeugendere Interpretation geliefert werden. Zunächst lässt sich allerdings als Ergebnis dieser Forschungsmeinung festhalten: „Das Joh in seiner redaktionellen Endgestalt ist also ein pseudepigraphisches Werk, und zwar ein Fall jener doppelten Fiktion, wo die Autorität, mit der Einfluß ausgeübt werden soll, selbst erfunden und also manipuliert ist. Eine fiktive Gestalt, die entsprechend den theologischen Notwendigkeiten gestaltet ist, wird als historische Gestalt, als Augenzeuge und Verfasser ausgegeben, eine Täuschung der Adressaten damit mindestens in Kauf genommen“. 28

2.2 Der Lieblingsjünger als historische Gestalt Dieser Abschnitt bietet eine große Spannbreite. Er reicht von Vertretern, die den Lieblingsjünger identifizieren, bis zu solchen, die lediglich festhalten, dass er einen historischen Anhalt hat. Die m.E. wichtigsten Vorschläge sind kurz vorzustellen.29 Die Identifizierung des Lieblingsjüngers, die durch die Alte Kirche vorgenommen wurde, ist auch in der modernen Exegese nicht durchweg abgelehnt. Wolfgang Fenske vertritt z.B. die These, wonach der Lieblingsjünger tatsächlich der Apostel Johannes Zebedäus gewesen sein soll: „Der Lieblingsjünger ist nicht irgendein Johannes, sondern der Sohn des Zebedäus, einer der zwölf Apostel Jesu“.30 Wäre diese Auskunft umfassend und 25 Dieses Verständnis von Joh 21,22f. ist nicht zwingend mit der Annahme verbunden, dass der Lieblingsjünger eine fiktive Gestalt ist. Vgl. K. W ENGST, Das Johannesevangelium, ThKNT 4,2, Stuttgart 2001, 325. 26 Diese Interpretation hängt mit seiner These zusammen, wonach der Lieblingsjünger nach dem Modell des Johannes Zebedaius modelliert sei. Vgl. ausführlich H. T HYEN, Noch einmal: Johannes 21 und „der Jünger, den Jesus liebte“, in: ders., Studien zum Corpus Johanneum (WUNT 214), Tübingen 2007, 252–293. 27 T HYEN, Johannesevangelium (s. Anm. 12), 792. 28 KÜGLER , Jünger (s. Anm. 12), 486. Vgl. zur Kritik an diesem Ergebnis M. HENGEL, Die johanneische Frage (WUNT 67), Tübingen 1993, 214. 29 KÜGLER , Jünger (s. Anm. 12), 439ff., führt weitere Identifizierungsvorschläge auf. 30 Vgl. W. FENKSE, Der Lieblingsjünger. Das Geheimnis um Johannes (BG 16), Leipzig 2007. Dass auch die Herausgeber der Reihe an diesem Entwurf und seinem Resultat zweifeln, belegt ihr Vorwort, a.a.O., 11ff. Tatsächlich ist nicht nur das Ergebnis

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überzeugend begründet, stellte sich die Frage nach der Aufnahme des Evangeliums in den Kanon nicht. Die Apostolizität der Schrift wäre durch einen Jünger Jesu, einen Augenzeugen gesichert. Leider scheint die Argumentation von Fenske sehr schwach.31 Er kann z.B. die entscheidende Frage nicht beantworten, warum die Tradenten des Johannesevangeliums den Lieblingsjünger nicht deutlich benannt haben sollten. Das hätte der Autorität des Evangeliums enorm geholfen.32 Daher ist eine andere, sehr dicht begründete Position wesentlich interessanter: Martin Hengel beantwortet die johanneische Frage, indem er die Aufmerksamkeit auf einen bei Papias von Hierapolis erwähnten Presbyter Johannes lenkt.33 Papias schreibt: „Wenn aber irgendwo jemand, der den Presbytern nachgefolgt war, kam, erkundigte ich mich nach den Berichten der Presbyter: Was hat Andreas oder was hat Petrus gesagt, oder was Philippus oder was Thomas oder Jakobus oder was Johannes oder was Matthäus oder irgendein anderer der Jünger des Herrn, was ja auch Aristion und der Presbyter Johannes, (beide) des Herrn Jünger, sagen“ (Eus, HistEccl 3,39,4).34

Hengel schließt aus dieser in der Kirchengeschichte des Euseb überlieferten Notiz, dass zwischen Papias und dem Presbyter Johannes eine Verbindung bestanden haben muss, da Papias im Präsens von diesem spricht („sagen“).35 Dieser Presbyter Johannes sei „ein bedeutender Lehrer und Traditionsträger der Generation vor Papias“ 36 gewesen, weshalb es durchaus in Frage komme, ihn mit dem Absender des 2. und 3. Johannesbriefs in Verbindung zu bringen. Außerdem seien so die weiteren Schriften des Corpus Johanneium erklärbar, die auf je ihre Art Dokumente einer johanneischen Schule seien, welche engere und weitere Schülerkreise aufgewiesen habe.37 Die Schriften dokumentieren für Hengel den Konflikt innerhalb dieser Schülerschaft. Diese Argumentation wird im vorliegenden Zusammenhang dann besonders interessant, wenn Hengel Joh 21,20-24 als Ausgangspunkt seiner Identifizierung des Lieblingsjüngers wählt 38 und ihn mit fraglich, sondern auch die Entscheidung, den Lieblingsjünger in diese Buchreihe aufz unehmen. 31 Eher ist die bereits erwähnte These plausibel, wonach der anonyme Evangelist den Lieblingsjünger nach dem Modell des Zebedaiden zeichnet, um dessen Autorität für das Evangelium zu proklamieren. Vgl. T HYEN, Noch einmal (s. Anm. 26), 290f.; THYEN, Johannesevangelium (s. Anm. 12), 795. 32 So mit Recht HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 215. 33 Vgl. HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 76ff. 34 Euseb, Ausgewählte Schriften Band II: Kirchengeschichte. Aus dem Griechischen übersetzt von Philipp Häuser, BKV 2/1, München 1932. 35 Vgl. HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 92. 36 HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 93. 37 Vgl. HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 160. 38 Vgl. HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 210.

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dem Presbyter Johannes verbindet. In einer groß angelegten Gesamtschau führt Hengel vor, wie er sich die Antwort auf die johanneische Frage vorstellt, nicht ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass es sich um einen „Annäherungsversuch“39 handelt. Er sieht in dem Presbyter eine „überragende Lehrerpersönlichkeit“ 40 und schreibt ihm zu, der Verfasser des Evangeliums und der drei Johannesbriefe zu sein.41 Aus Joh 21,24 ergebe sich, dass er verstorben sei und seine Schüler das Evangelium herausgegeben,42 in diesem Zuge vielleicht die Lieblingsjüngertexte verfasst und ihn als den Lieblingsjünger verewigt hätten.43 Was Hengel weiter über Johannes vermutet, kann im vorliegenden Zusammenhang außer Acht gelassen werden. Anzuerkennen ist, dass Hengels Lösungsversuch durchaus möglich sein kann. Dass er gleichfalls mit bleibender Unsicherheit belastet ist, gibt Hengel selbst unumwunden zu. 44 Zwar besticht die Gleichsetzung von dem bei Papias genannten Presbyter Johannes mit dem Presbyter der beiden kleinen Johannesbriefe, doch stellt sie nur den ersten großen Argumentationsschritt von einigen noch folgenden dar, die nur mit gutem Willen und Freude an historischer Hypothesenbildung mitvollzogen werden können.45 Sicherer – und damit auch weniger attraktiv und auskunftsfreudig – sind z.B. die Positionen von Michael Theobald und Ingo Broer. Theobald kommt zu dem Ergebnis: „Der geliebte Jünger war demnach für die johanneische Gemeinde Legitimations- und Identifikationsfigur ineins“.46 Dahinter stehe aufgrund „des in [Joh] 21,22 vorausgesetzten Todes dieses Jüngers“47 eine historische Gestalt, die von uns aber nicht mehr identifiziert werden kann.48 Diesem Befund stimmt auch Ingo Broer zu, der in seiner Einleitung in das Neue Testament die Diskussion um Autor und Lieblingsjünger dahingehend resümiert, dass der Grundbestand des Evangeliums „von einem herausragenden Mitglied der johanneischen Gemeinde

39

Vgl. HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 264ff. HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 219. 41 Vgl. HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 224. 42 Vgl. HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 225. 43 Vgl. HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 273. 44 Vgl. HENGEL, Frage (s. Anm. 28), 274. 45 So hart wie J. BECKER , Das vierte Evangelium und die Frage nach seinen externen und internen Quellen, in: I. Dunderberg u.a. (Hg.), Fair Play: Diversity and Conflicts in Early Christianity, FS Heikki Räisänen, Leiden 2002, 203–241, 232, muss man aber nicht urteilen, der Hengel bescheinigt, ein „Gebäude“ zu errichten, „das aus mehrgradiger Hypothetik, manchem Vermutungswissen und einigen Unklarheiten gezimmert ist“. 46 M. THEOBALD, Der Jünger, den Jesus liebte. Beobachtungen zum narrativen Konzept der johanneischen Redaktion, in: H. Cancik (Hg.), Geschichte – Tradition – Redaktion, FS M. Hengel, Tübingen 1996, 219–255, 246. 47 T HEOBALD, Jünger (s. Anm. 46), 248. 48 Vgl. THEOBALD, Jünger (s. Anm. 46), 250. 40

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verfaßt worden sein“49 soll, das wir nicht mehr kennen. Nach dessen Tod sei das Evangelium von Schülern überarbeitet und herausgegeben und der Verfasser als Lieblingsjünger eingefügt worden.50 Bei Theobald und Broer entscheidet die Interpretation von Joh 21,20–24 letztlich über die Frage nach der Historizität des Lieblingsjüngers. Während z.B. Kügler und Thyen Joh 21,20–24 als fiktive Szene bewerten, nehmen die Befürworter der Historizität des Lieblingsjüngers diesen Text als Beleg dafür, dass der Tod einer historischen Gestalt unerwartet kam und deshalb gedeutet werden musste. Die letztere Interpretation scheint einfacher und darum plausibler. Joh 21,23 dürfte hier treffend interpretiert sein, wenn man annimmt, dass dieser Text eine historische Problemlage spiegelt.51 Auf ganz unterschiedliche Art belegen ja 1Thess 4,13–18; 2Thess 2,2 und Mk 9,1, dass sich noch relativ lange die Ansicht im frühen Christentum halten konnte, dass die Parusie Jesu unmittelbar bevorstünde. Von daher ist es plausibel, dass sich diese Erwartung mit zunehmender Zeit auf ein bestimmtes Mitglied der Gemeinde konzentrierte. Dies scheint bei der Person, die in dem literarischen Denkmal des Lieblingsjüngers verewigt ist, der Fall zu sein. Sein Tod dürfte die Gemeinde schockiert haben. Diesen Schock fangen die Herausgeber des Joh im Nachhinein auf, indem sie es als ein Gerücht bezeichnen, dass der Lieblingsjünger nicht sterben würde. Sie korrigieren die Erwartung der Gemeinde und verweisen auf das Bleiben ihres Traditionsgaranten im Evangelium und letztlich in der Figur des Lieblingsjüngers selbst. Mit Joh 21,24 schreiben sie ihm die Autorität zu, die das Evangelium trägt. Eine historische Person „wird zum Garanten des Johannesevangeliums als eines legitimen Zeugnisses“52. Meines Erachtens wird damit eine historische Person in eine literarische Figur überführt und dabei als eigentlicher Autor des Evangeliums idealisiert.53 Daher ist der These von James L. Resseguie beizupflichten: „[T]he Beloved Disciple represents the ideal point of view of the narrative, the ideological perspective that the narrator wants the reader to adopt“.54 Für die übergeordnete Fragestellung ergibt sich also ein nicht ganz so dramatisches Ergebnis, wie dies bei den Interpretationen von Thyen und Kügler der Fall ist, trotzdem bleibt das Ergebnis potentiell misslich. Zwar 49

I. BROER, Einleitung in das Neue Testament. Studienausgabe, Würzburg 2006, 196. Vgl. BROER , Einleitung (s. Anm. 49), 196. 51 Ich folge mit dieser Interpretation der Auslegung von W ENGST, Johannesevangelium (s. Anm. 25), 324f. 52 WENGST, Johannesevangelium (s. Anm. 25), 326. 53 Vgl. B AUCKHAM, Beloved Disciple (s. Anm. 14), 89. 54 J. L. RESSEGUIE , The Beloved Disciple: The ideal Point of View, in: S. A. Hunt u.a. (Hg.), Character Studies in the Fourth Gospel (WUNT 314), Tübingen 2013, 537–549, 537. Ganz richtig resümiert er: Der Lieblingsjünger „sees the glory in the flesh and wants the reader to adopt this point of view“ (a.a.O., 549). 50

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dürfte der Lieblingsjünger eine literarische Figur sein, die aber immerhin ein historisches Vorbild hat, doch bleibt zu konstatieren, dass die Annahme, die wir in der Alten Kirche antreffen, dass der Autor des Johannesevangeliums der Zebedaide Johannes sei, mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch ist. Dass der Text trotzdem ein Teil des Kanons ist, muss demnach eine andere Begründung finden.

3. Die fundamentaltheologische Bedeutung der Schrift Welchen Wert hat die Bibel für die theologische Theoriebildung in der Gegenwart? Dies ist die Frage, deren Beantwortung durch die Exegese gelenkt werden muss. Die dogmatische Diskussion um Kanon und Lehrbildung führt dabei zu Debatten, die oft zu weit Abstand halten von konkreten exegetischen Fragen. Wenn z.B. die Frage nach der Autorität der Schrift gestellt wird, nimmt man die Beantwortung der Frage oft im Kontext von Schrift und Tradition, Schrift versus Lehramt, Mitte der Schrift und ähnlichen Problemlagen vor und gerät damit zwangsläufig in den Bereich ökumenischer Brennpunkte. 55 Dogmatisch gewendet betrifft die im vorliegenden Zusammenhang aufgeworfene Problematik den Topos des „Schriftprinzips“, von dem – wie Jörg Lauster behauptet – sich „nicht wenige neuprotestantische Theologen […] geradezu mit Grauen […] abgewandt und auf die Entfaltung einer eigenständigen Schriftlehre ganz verzichtet“56 haben. Dieser Bereich soll hier nur zaghaft betreten und es soll relativ schlicht gefragt werden, warum die biblischen Texte eine Rolle spielen sollen, wenn doch die ursprüngliche Begründung ihrer Aufnahme in den Kanon hinfällig geworden ist. Das Problem umgeht man, wenn man genau dies bestreitet. Ist die Begründung wirklich hinfällig geworden? Diese Antwort kann schlicht die Ergebnisse der exegetischen Wissenschaft bestreiten und Pseudephigraphie für biblische Texte leugnen. Sie kann aber auch differenzierter argumentieren. Denn sieht man genau hin, dann liegt die Begründung für die Aufnahme des Joh in den Kanon nicht in erster Linie in der Annahme, dass der Autor der Apostel Johannes gewesen sei. Formal mag dies richtig sein und es hat sicherlich eine Rolle gespielt. Das inhaltl iche Kriterium der Kanonizität ist aber die Nähe des Apostels zu Jesus. Der Apostel ist für sich genommen nur deshalb relevant, weil er ein authenti55 Vgl. z.B. R. LEONHARDT, Lutherisches Schriftprinzip und biblischer Kanon. Überlegungen zum Verhältnis von Bibel und Kirche, in: M. Petzoldt (Hg.), Autorität der Schrift und Lehrvollmacht der Kirche, Leipzig 2003, 59–90. 56 J. LAUSTER, Zwischen Entzauberung und Remythisierung. Zum Verhältnis von B ibel und Dogma (ThLZ.F 21), Leipzig 2008, 73.

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scher Zeuge Jesu ist. Sein Zeugnis ist das entscheidende Kriterium, nicht seine Person. Deshalb ist seine Überlieferung wichtig, nicht seine Nachfolge. Daher ergibt sich, dass die Ursprungsnähe des Zeugnisses das eigentliche Kriterium ist. Dies trifft sich ausgezeichnet mit jüngeren dogmatischen Überlegungen zur Relevanz der Schrift. So sieht Jörg Lauster z.B. die Bedeutung der Bibel darin, „Ursprungserinnerung“57 des Christentums zu sein. Die biblischen Schriften seien insgesamt als „ein literarisches Ausdrucksuniversum religiöser Erfahrung“ 58 anzusehen und gäben „das spezifische ‚Lebensgefühlʻ der ersten Christen“59 wieder. Deshalb könnten die biblischen Schriften jede weitere theologische Lehrbildung „an einen originären Erfahrungshintergrund zurück binden“60. Indem sie auf die Erfahrung eines Transzendenzeinbruchs antworteten, reflektierten sie auch „historische Ereignisse,“ 61 das „SichErschließen Gottes in der Welt“ 62. Bei dieser Bedeutungsbestimmung scheint vor allem die Nähe zu den Geschehnissen, auf die die Schriften reagieren, entscheidend zu sein. Nach Lauster „spielen Zeitzeugen und Quellen, die möglichst nahe an dem Ereignis sind, eine große Rolle. Nach Ausbildung des neuzeitlichen historischen Bewusstseins ist das Argument der Ursprungsnähe tatsächlich bedeutsam, wenn es darum geht, theologisch den religiösen Wert der biblischen Schriften zu erklären“.63 In einem ersten Argument stimmt also die exegetische Beobachtung mit der dogmatischen Überlegung überein. Das Argument wird allerdings aus exegetischer Sicht auch getrübt. Denn dass die biblischen Schriften ein „Ausdrucksuniversum religiöser Erfahrung“ sein sollen, ist zwar nachvollziehbar, beantwortet aber die Frage nicht, warum sie deshalb eine normative Kraft für Theologie und Kirche beanspruchen. Falls das Argument der Ursprungsnähe diese Last tragen soll, muss man sowohl den Begriff „Ursprung“ wie den der „Nähe“ eingehend bedenken. Lausters Einlassungen muten in dieser Hinsicht zuweilen recht fragwürdig, fast unkritisch an, wenn er z.B. undiskutiert annimmt, dass es überhaupt historische Ursprünge für verschiedene Texte gegeben habe. Zum Beispiel sind der Exodus oder die Sinaiereignisse historisch schließlich kaum zu greifen, und wie schwierig auch das Christusgeschehen historisch zu verifizieren ist, zeigt ja die ganze Forschungsgeschichte zum historischen Jesus. 64 Auch die Be57

LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 50. LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 75. 59 LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 77. 60 LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 91 61 LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 51. 62 LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 50. 63 LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 51. 64 LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 50f. Zur Diskussion um die Leben-JesuForschung vgl. die jüngsten Veröffentlichungen von K. WENGST, Der wirkliche Jesus? 58

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hauptung, dass alle biblischen Texte „eins gemeinsam“ haben, scheint mir zu pauschal, da es auch Texte gibt, die ganz andere Interessen verfolgen als „auf eine spezifische Art der Wirklichkeitserfahrung, die sie als den Einbruch und das Wirken einer der menschlichen Lebenswirklichkeit transzendenten Dimension beschreiben,“65 zu antworten.66 Manchmal „artikulieren die biblischen Schriften die Erfahrung von Transzendenz“ 67 gerade nicht. Doch selbst wenn solche Bedenken beiseitegelassen werden, scheint mir die größte Schwierigkeit dieser Bedeutungsbestimmung darin zu liegen, dass „Ursprungserinnerung“ als Argument zu sehr darauf hinausläuft, die Normativität der Bibel historisch festzumachen. Gerade wenn Lauster mit den Erfahrungen argumentiert, die sich in den biblischen Schriften niederschlagen, bleibt doch offen, warum der „Verbindlichkeitsanspruch [gerade] dieser religiösen Erfahrungsdeutungen“ akzeptiert werden soll. Gibt es nicht auch zu anderen Zeiten Menschen, die Erlebnisse von Transzendenzeinbrüchen schriftlich verarbeiten? Wie bestimmt man die ausreichende historische Nähe zu dem entscheidenden Einbruch in Jesus Christus, die Normativität beanspruchen darf? Und wie geht man mit der Tatsache um, dass wahrscheinlich die meisten Autoren des Neuen Testaments diese Nähe gar nicht selbst erlebt haben, sondern das nahe Erlebnis von anderen überliefert bekommen? Liegt in der Flucht dieses Gedankens vielleicht die Hochschätzung des Paulus im Rahmen der protestantischen Theologie, da er vielleicht als einziger Autor des Neuen Testaments authentisch behaupten kann, selbst ein solches Erlebnis gehabt zu haben? Worin besteht also insgesamt die Berechtigung der neutestamentlichen Schriften, einen normativen Anspruch zu erheben, wenn nicht allein im eher schwachen Argument ihrer historischen Nähe zu den Ereignissen um Jesus? 68 Lauster bietet ein weiteres Argument an, das m.E. wichtiger ist: „Aus einem historischen Ereignis heraus und an einer geschichtlichen Stifterpersönlichkeit entstehen unter Aufnahme vorhandener religiöser Wirklich-

Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013, und E. RAU, Perspektiven des Lebens Jesu. Plädoyer für die Anknüpfung an eine schwierige Forschungstradition, hg. v. Silke Petersen (BWANT 203), Stuttgart 2013. 65 LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 89. 66 Vgl. z.B. den 2 Thess, der den 1 Thess korrigieren, ihn vielleicht sogar ersetzen will. Vgl. zur Diskussion M. EBNER /S. SCHREIBER (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, 440ff. 67 LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 89. 68 Das legt LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 53, aber nahe: „Indem sich durch sie der historische Haftpunkt des Christentums erschließt, erhalten sie maßgebliche B edeutung“.

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keitsdeutungen ‚innovative‘ neue Perspektiven auf die Wirklichkeit“.69 Die Berechtigung zur Normativität könnte aus der über die Jahrhunderte bewiesenen Kraft der Texte gewonnen werden, Wirklichkeit gewinnbringend zu erschließen. Wenn Religion wirklich als ein „kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt,“70 definiert werden darf, dann liegt die Bedeutung der Bibel darin, den Lebensgewinn zu stimulieren, indem sie dem Menschen Deutungsangebote an die Hand gibt, mit denen er sein Leben in einer gelingenden Weise bewältigen kann. Dieses Argument wird vor allem im Rahmen der Bibeldidaktik als entscheidendes gekennzeichnet. So wird angeführt, dass die Probleme moderner menschlicher Existenzen sich mit Hilfe der Bibel in einer Sprache der Hoffnung ausdrücken lassen, durch die Erfahrungen des Lebens verarbeitet werden können. Die grundsätzlichen Fragen des Menschen werden exemplarisch gestellt und beantwortet.71 Lauster scheint dieses Argument im Blick zu haben, wenn er davon spricht, dass die Bibel „ein Universum religiöser Gestimmtheiten“ 72 sei: „Die biblischen Schriften vergegenwärtigen und repräsentieren so erfahrene Gottesbegegnung, und zwar in einer Art, die ganz von der ‚Macht der religiösen Stimmung‘ geprägt ist“.73 Die Autorität der Schrift erwächst also nicht aus ihrem Sein (als inspirierte Quelle) und nicht allein aus ihrem historischen (zweifelhaften) Standort, vielmehr muss nach ihrer Funktion gefragt werden.74 Die Vergegenwärtigungsleistung der Bibel besteht demnach darin, dass der Leser in das Universum der biblischen „Lebensfrische“ eingeführt wird. In diesem Universum kann er dann selbst seine eigenen Erfahrungen machen, indem er seine eigenen Erlebnisse von Transzendenzeinbrüchen mit diesen bereits festgehaltenen Eindrücken deutet. Die Bibel bietet damit gleichsam ein Reservoir an Ausdrücken von fremden Eindrücken. Deutlich wird hier an Richard Rothe angeknüpft, der sich zwar irrt, wenn er denkt, 69

LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 53. G. T HEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 19. 71 Vgl. zum knappen Überblick über die bibeldidaktischen Entwürfe von I. Baldermann, Horst-Klaus Berg, Gerd Theißen, Peter Müller und Franz Niehl M. LANDGRAF/P. M ETZGER, Bibel unterrichten. Basiswissen – Bibeldidaktische Grundlagen – Elementare Bibeltexte, Praxishandbuch Bibel, Stuttgart 2011, 37–45. 72 LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 79. 73 LAUSTER , Entzauberung (s. Anm. 56), 89. Lauster greift hier auf einen Begriff von W. WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie (1897), in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (WdF 367), Darmstadt 1975, 81–154, 95, zurück. 74 Vgl. E. HERMS, Die Schrift als Kanon, in: ders. Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, 390–407, 392: „Wer nach dem Wesen der Heiligen Schrift fragt, muß auf ihre Funktion, ihren Gebrauch verwiesen werden“. 70

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dass „ohne den Dazwischentritt einer bedeutenden menschlichen Reflexion“ sich der Eindruck, den die Zeitgenossen Jesu von ihm empfingen, „in das Bewußtsein seiner empfänglichen Umgebung reflectirt hat“, aber doch richtig sieht, dass die historische Kritik das Bild Jesu in der Schrift erst herstellen muss.75 Die Zusammenschau der einzelnen Christusbilder „kann Gott uns nicht abnehmen,“ 76 sie muss auf Grundlage der historischen Kritik erstellt werden. Bei aller Kritik, die man im Detail an Rothes Position üben muss, bleibt festzuhalten, dass die Bibel nicht aufgrund einer formalen Eigenschaft (z.B. Inspiration) Autorität verlangen kann, sondern aufgrund ihres Charakters als „alleinige Erkenntnisquelle der göttlichen Offenbarung“77. Die Bibel kann also Autorität fordern, weil sie „als Urkunde der Offenbarung […] die Offenbarung konstatiert“78. Dies ist das zweite Argument, das den normativen Anspruch der Schrift unterstützt. Ein letztes Argument liefert die Bibel selbst. Betrachtet man Joh 20,30f. näher, ist klar, dass z.B. das Johannesevangelium in erster Linie eine kerygmatische Funktion ausüben will. 79 Das Evangelium erhebt den Anspruch, das geleistet zu haben, was es wollte: Glauben zu ermöglichen. Es erzählt die Geschichten aus dem Leben Jesu, die nötig sind, um dieses Ziel zu erreichen. Im Sinne Rothes vollbringt das Evangelium eine Syntheseleistung, die aus den vorliegenden Überlieferungen das herausgreift, was der Leser braucht, um sein Heil in Christus zu finden. Die Absicht des Johannesevangeliums ist demnach letztlich eine missionarische, es geht um das Bewahren der Gläubigen im Glauben und um die Möglichkeit, mit Hilfe des Texts neue Glaubende zu finden. Dies spiegelt sich in der Figur des Lieblingsjüngers. Durch ihn soll der Leser die entscheidende Perspektive auf das Evangelium eröffnet bekommen. Als „ideal point of view“80 bringt er den Leser dazu, das kerygmatische Anliegen des Evangeliums anzunehmen. Wendet man diese Erkenntnis auf die vorliegende Fragestellung an, wird deutlich, dass das zweite Argument, das bereits benannt wurde, von der Schrift selbst unterstützt und dahingehend präzisiert wird, dass in ihr nicht „nur“ generelle Lebensorientierung geboten wird (diese Funktion können auch andere „klassische“ Texte erfüllen), sondern dass eine ganz bestimmte Richtung vorgegeben wird. Die Schrift verweist mit ihrer Orientierungsleistung auf Christus hin. Dieser Verweis ist demnach 75

R. ROTHE, Zur Dogmatik, Gotha 1863, 305–308. ROTHE, Dogmatik (s. Anm. 75), 309. 77 ROTHE, Dogmatik (s. Anm. 75), 310. 78 J. LAUSTER , Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), Tübingen 2004, 162. 79 Vgl. dazu ausführlich P. METZGER , „Damit ihr glaubt“. Exegetische Überlegungen zum interkonfessionellen Dialog, in: MdKI 63 (2012), 15–18. 80 RESSEGUIE , Beloved Disciple (s. Anm. 54), 537. 76

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das letzte und gewichtigste Argument für die Autorität der Schrift. Die Schrift beansprucht Autorität, weil sie auf Christus verweist. Mit Richard Rothe und den Worten der Kirchenkonstitution des 2. Vatikanums lässt sich deshalb formulieren: Seine Herrlichkeit scheint auf dem Antlitz der Schrift wider.81 Damit kommt es zum Zusammenspiel zwischen eigenem Erleben und dem Deuten dieser Erlebnisse mit Hilfe des biblischen Reservoirs an bereits gesammelten Ausdrücken von ähnlichen Erlebnissen. Die Normativität der Schrift liegt dann im Vertrauen, hier die maßgeblichen Zeugnisse des singulären Einbruchs Gottes in die Welt zu finden, die dazu dienen können, die eigenen Erlebnisse zu prüfen. Ursprungsnähe, existentielle Kraft und kerygmatische Funktion sind dann die drei wesentlichen Punkte, die einen normativen Anspruch der Schrift stützen. 82 Wie Christus selbst aber nicht „objektiv wahr“ ist für jeden einzelnen Menschen, so erlangt die Schrift auch keine allgemein-objektive Autorität. Die Wahrheit der biblischen Botschaft wird deshalb auch nicht von den Erkenntnissen der historischen Forschung getroffen, da „biblische Wahrheit […] um ihrer Lebendigkeit willen […] immer zutiefst subjektbezogen, existentiale Wahrheit“ ist, die sich „im Akt des Lesens je und je neu“ 83 ereignet. Autorität gewinnt die Schrift also nur im Auslegungsprozess für eine bestimmte Interpretationsgemeinschaft, die ihrerseits die Schrift und die Methode der Auslegung für sich akzeptiert. Das Phänomen der Pseudepigraphie muss in diesem Rahmen verhandelt werden. Der Lieblingsjünger zeigt als Figur – mag sie nun einen historischen Anhalt haben oder nicht – das besondere Interesse der meisten neutestamentlichen Texte. Sie wollen den Glauben so zur Sprache bringen, dass der Leser die Möglichkeit hat, sich in den Glauben einzufinden. Ihre Autorität resultiert nicht aus ihren Entstehungsumständen, sondern aus ihren Möglichkeiten.

Abstract The article disputes the topic of pseudepigraphy within the context of theological theory. Historical research leads to the conclusion that some biblical texts were not actually written by the attributed authors. What does this mean with regard to the reliability of these texts and even more to the reliability of the whole scripture? Examining the prior research of the Gospel of John and the “the disciple whom Jesus loved”, the article rises not only 81

Vgl. Lumen Gentium 1 (DH 4101). In ökumenischer Hinsicht wäre es demnach gewinnbringend, von der Schrift her ein neues Schriftprinzip zu entwickeln. 83 ZIMMERMANN, Unecht (s. Anm. 1), 36. 82

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the question whether it is possible to shed light upon the origin of the Gospel of John, but, consequently, how historical research matters for the Christian faith in general, as this faith is based on the reliability and authority of the scripture.

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Rhetorik des Schiffbruchs Apg 27 als e;kfrasij zwischen Fakt und Fiktion Nils Neumann Unter den jüngeren exegetischen Publikationen zu der Beschreibung vom Schiffbruch des Paulus in Apg 27 findet sich eine gewisse Bandbreite verschiedener Annahmen im Hinblick auf die Historizität des dort Beschriebenen.1 Die Urteile fußen jeweils auf literar- bzw. redaktionskritischen Einsichten und hängen von der Einschätzung der Fachleute über die Qualität der Quellen ab, die Apg 27 vermutlich zugrunde liegen. Gängig ist die Annahme eines Reiseberichts im Wir-Stil (V. 1–8.12–19.27–29.39–41 o.Ä.)2, der ggf. noch von einigen Einschüben literarkritisch unterschieden werden muss, in denen Paulus agiert (V. 9–11.20–26.30–38.42–44 o.ä.).3 1

Vgl. hierzu insbes. J. A. FITZMYER, The Acts of the Apostles (The Anchor Bible 31), New York 1998, 768; J. M. G ILCHRIST, The Historicity of Paul’s Shipwreck, in: JSNT 61 (1996), 29–51, 29–35; vgl. ferner A. HUMMEL, Factum et fictum. Literarische und theologische Erwägungen zur Romreise des Paulus in der Apostelgeschichte (Apg 27,1– 28,16), in: BN 105 (2000), 39–53, 40; G. B. MILES/G. TROMPF, Luke and Antiphon: The Theology of Acts 27–28 in the Light of Pagan Beliefs about Divine Retribution, Pollution, and Shipwreck, in: HThR 69 (1976), 259–267, 259; S. M. PRAEDER, Acts 27:1– 28:16: Sea Voyages in Ancient Literature and the Theology of Luke-Acts, in: CBQ 46 (1984), 683–706, 683. 2 Wehnert geht davon aus, dass der Wir-Stil der betreffenden Textstellen sich der lukanischen Redaktion verdankt. Allerdings habe Lukas hier einen Reisebericht als Quelle benutzt. Vgl. J. WEHNERT, Gestrandet. Zu einer neuen These über den Schiffbruch des Apostels Paulus auf dem Wege nach Rom (Apg 27–28), in: ZThK 87 (1990), 67–99, 89f. 3 Vgl. H. CONZELMANN, Die Apostelgeschichte (HNT 7), Tübingen 1963, 146; M. DIBELIUS , Die Apostelgeschichte als Geschichtsquelle, in: ders., Aufsätze zur Apostelgeschichte (FRLANT 60), Göttingen 51968, 91–95, 95; FITZMYER , Acts, 767 (s. Anm. 1); W EHNERT, Gestrandet, 91 (s. Anm. 2). Zu diesem Vorschlag vgl. auch R. P ESCH, Die Apostelgeschichte (EKK V/2), Neukirchen-Vluyn 22003, 285. Dagegen G. SCHILLE, Die Apostelgeschichte des Lukas (ThHK 5), Berlin 31989, 460. Dass sich die Paulus-Stücke in Apg 27 von ihrem Kontext abheben, beobachtet auch Reiser, vgl. M. REISER , Von Caesarea nach Malta. Literarischer Charakter und historische Glaubwürdigkeit von Act 27, in: F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturg e-

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Insbesondere in der Beurteilung der vorhandenen Wir-Stücke weichen die Meinungen voneinander ab:4 Während einige Fachleute hinter diesen Passagen eine von Lukas benutzte Quelle eines verlässlichen Augenzeugen bzw. die eigene Augenzeugenschaft des Verfassers der Apostelgeschichte erkennen und damit die historische Verlässlichkeit der beschriebenen Einzelheiten stark machen,5 rücken andere die Wir-Stücke von Apg 27 in die Nähe zu antiken romanhaften Schriften 6 und folgern daraus, dass den geschilderten Ereignissen ein starkes fiktives 7 Moment innewohnt.8 schichtliche Aspekte (BZNW 106), Berlin 2001, 49–74, 69. Gegen die Trennung von Reisebeschreibung und Wirken des Paulus innerhalb der Wir-Stücke spricht sich aus formkritischen Gründen Bindemann aus, vgl. W. B INDEMANN, Verkündigter Verkündiger. Das Paulusbild der Wir-Stücke in der Apostelgeschichte: Seine Aufnahme und Bearbeitung durch Lukas, in: ThLZ 114 (1989) 705–720, 708. 4 Zu den unterschiedlichen Erklärungsansätzen vgl. insbes. J. B ÖRSTINGHAUS , Sturmfahrt und Schiffbruch. Zur lukanischen Verwendung eines literarischen Topos in Apo stelgeschichte 27,1–28,6 (WUNT II 274), Tübingen 2010, 282. 5 So etwa M. HENGEL, Der Lukasprolog und seine Augenzeugen: Die Apostel, Petrus und die Frauen, in: Studien zum Urchristentum. Kleine Schriften VI (WUNT 234), Tübingen 2008, 242–297, 252f.; vgl. auch C. K. B ARRETT, Paul Shipwrecked, in: B. P. Thompson (Hg.), Scripture – Meaning and Method, FS A. T. Hanson, Hull 1987, 51–64, 55; J. J ERVELL, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 1998, 614. Für die Historizität der geschilderten Ereignisse machen sich auch GILCHRIST, Historicity (s. Anm. 1), 50 und REISER, Caesarea (s. Anm. 3), 72 stark. Vgl. ferner A. SUHL, Gestrandet! Bemerkungen zum Streit um die Romfahrt des Paulus, in: ZThK 88 (1991), 1–28, 26. Dagegen J. W EHNERT, „...und da erfuhren wir, dass die Insel Kephallenia heißt“. Zur neuesten Auslegung von Apg 27–28 und ihrer Methode, in: ZThK 88 (1991), 169–180, 179. 6 Vgl. insbes. V. K. ROBBINS, By Land and by Sea: The We-Passages and Ancient Sea Voyages, in: Ch. H. Talbert (Hg.), Perspectives on Luke-Acts. Edinburgh 1978, 215–242, pass.; Robbins weist allerdings ausdrücklich darauf hin, dass die Beschreibung von Se ereisen in der 1. Person Plural auch in der historiographischen Literatur beheimatet ist (a.a.O., 225). Vgl. auch L. ALEXANDER , ‚In Journeyings Oftenʻ: Voyaging in the Acts of the Apostles and in Greek Romance, in: C. M. Tuckett (Hg.), Luke’s Literary Achievement. Collected Essays (JSNT.S 116), Sheffield 1995, 17–49, 38; SCHILLE, Apostelgeschichte (s. Anm. 3), 459; kritisch dazu E. HAENCHEN, Acta 27, in: E. Dinkler (Hg.), Zeit und Geschichte, FS R. Bultmann, Tübingen 1964, 235–254, 243; PRAEDER, Sea Voyages (s. Anm. 1), 694; REISER, Caesarea, 51 (s. Anm. 3). Zur Präsenz des Seesturm-Motivs in der antiken hellenistischen Literatur vgl. auch M. P. O. MORFORD, The Poet Lucan. Studies in Rhetorical Epic, Oxford 1967, 20–23. 7 Es geht hier also um die Frage, inwieweit die geschilderten Inhalte den historischen Tatsachen entsprechen. Damit schließe ich mich hier der von Zipfel vor geschlagenen Sprachregelung an, vgl. F. ZIPFEL, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Liter aturwissenschaft 2), Berlin 2001, 19. 8 Vgl. DIBELIUS, Apostelgeschichte (s. Anm. 3), 95; vgl. hierzu insbes. auch D. R. MACDONALD, The Shipwrecks of Odysseus and Paul, in: NTS 45 (1999) 88–107, 106. Kritisch zur Historizität aller Wir-Stücke in der Apostelgeschichte äußert sich B INDEMANN, Verkündigter Verkündiger (s. Anm. 3), 709.716.

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Vor dem Hintergrund dieser laufenden Debatte fragt die vorliegende Studie zunächst nach der Art und Weise, wie die erzählten Ereignisse von Apg 27 sprachlich präsentiert werden. Die Wahrnehmung der Rhetorik des biblischen Textabschnitts soll sodann zu einer präziseren Einsicht darüber führen, welche Wirkung dieser Text auf Seiten seiner antiken Leser entfaltet.

1. Die Darstellung des Schiffbruchs in Apg 27 Thema des Abschnitts Apg 27,1–44 ist die Seereise des gefangenen Paulus und seiner Begleiter, die die Gruppe im Anschluss an die Anhörung vor Statthalter Festus und König Agrippa (Apg 26) von Cäsarea (25,13) bis zur Insel Meli,th9 führt (28,1). Das inhaltliche Kennzeichen der Reise hebt die Textpassage gegenüber der vorausgehenden und der nachfolgenden als eine eigenständige Einheit ab. Die sprachliche Präsentation dieser Reise zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass hier zahlreiche Details über den Verlauf der Reise und des über die Reisenden hineinbrechenden Unwetters genannt werden.10 Die Apostelgeschichte fasst die betreffenden Ereignisse nicht etwa in einer summarischen Formulierung zusammen, sondern sie schildert eine ganze Reihe von Einzelschritten, aus denen sich die Gesamtheit der Reise zusammensetzt. Insbesondere die folgenden Merkmale kehren dabei häufig wieder: Die Stationen der Reiseroute werden einzeln aufgezählt:11 Von Cäsarea Maritima aus verläuft der Seeweg über Sidon (V. 3) und durch den Windschatten von Zypern (V. 4) entlang der kleinasiatischen Küste in den Gegenden von Kilikien und Pamphylien (V. 5) bis nach Myra (V. 6). Mit ei9

An der Frage, ob es sich bei dieser tatsächlich um die Insel Malta handelt, hat sich vor einiger Zeit eine hitzige Debatte entzündet, um bald darauf auch schon wieder zu verstummen. Vgl. v.a. SUHL, Gestrandet (s. Anm. 5), pass.; WEHNERT, Gestrandet (s. Anm. 2), pass.; DERS., Insel (s. Anm. 5), pass. Vgl. dazu auch REISER , Caesarea (s. Anm. 3), 49–50. 10 Das ist vielen Exegeten bereits aufgefallen: vgl. etwa F ITZMYER , Acts (s. Anm. 1), 767; GILCHRIST, Historicity (s. Anm. 1), 37; JERVELL, Apostelgeschichte (s. Anm. 5), 611; MILES/TROMPF, Luke and Antiphon (s. Anm. 1), 259. Pokorný weist deswegen auf die Dramatik der Beschreibung hin, vgl. P. P OKORNÝ, Die Romfahrt des Paulus und der antike Roman, in: ZNW 64 (1973), 233–244, 233f.; ähnlich auch ROBBINS, Land (s. Anm. 6), 232f.. Explizit gegen die Wahrnehmung von Dramatik in der Darstellungsweise von Apg 27 spricht sich Reiser aus. Seiner Ansicht nach stellt der Text seinen Gege nstand „ganz nüchtern und sachlich“ dar (REISER , Caesarea [s. Anm. 3], 52). 11 Vgl. PRAEDER, Sea Voyages (s. Anm. 1), 685. Zur Identifikation der genannten Orte vgl. insbes. B ÖRSTINGHAUS , Sturmfahrt (s. Anm. 4), 426.

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nem anderen Schiff geht es von hier aus weiter gen Westen in Richtung Italien (V. 6). Die Reise führt vorbei an der Stadt Knidos hin zur Insel Kreta (V. 7), wo man die Stadt Salmone passiert, um in Kaloi Limenes in der Nähe von Lasaia anzulegen (V. 8).12 Unterwegs zum Hafen der Stadt Phoinix, in dem die für die Seefahrt zu gefährlichen Wintermonate verbracht werden sollen, wird das Schiff von einem Sturm ergriffen und auf das offene Meer getragen (V. 14.15). Es geht vorbei an der Insel Kauda (V. 16) und mehrere Wochen lang durch die Adria (V. 27). Schließlich läuft das Schiff vor der Insel Melite (28,1) auf eine Sandbank auf (27,41), so dass sich alle Insassen dort ans Land retten können (V. 44). Zu dieser Aufzählung von Ortsnamen kommen einige Angaben über geographische Gegebenheiten: Die Inseln Zypern (V. 4) und Kreta (V. 7) bieten Schutz vor dem starken Wind. Durch seine Lage (V. 12) wird der Hafen von Phoinix als günstig für die Überwinterung eingeschätzt. Tiefenmessungen mit dem Lot (V. 28: boli,santej) führen zu der Befürchtung, das Schiff könnte auf ein Riff (tracei/j to,pouj) auflaufen (V. 29). Am Ende der Fahrt gelangt man in eine Bucht (ko,lpoj) und stößt auf ein Ufer (V. 39: aivgi,aloj), wo das Schiff auf die Sandbank (eivj to,pon diqa,lasson) aufläuft (V. 41). Die Leserschaft des Textabschnitts erhält ferner häufig Informationen über Zeiten und Zeiträume. Die Lesenden erfahren, wie viel Zeit die einzelnen Etappen in Anspruch nehmen: Beginnen kann die Reise, als (w`j) über den Transport des Paulus nach Italien entschieden worden ist (V. 1). Von Cäsarea aus erreicht die Gruppe Sidon am nächsten Tag (V. 3: th/| te e`te,ra|). Wegen der ungünstigen Windverhältnisse geht es von Myra aus viele Tage (evn i`kanai/j de. h`me,raij) nur noch langsam voran (V. 7) 13, so dass bis zum Erreichen von Kreta bereits viel Zeit vergangen ist (V. 9: ~Ikanou/ de. cro,nou diagenome,nou). Von dort aus dauert die Irrfahrt des Schiffs durch den Sturm insgesamt vierzehn Tage: Der Sturm beginnt „nicht lange nach“ (metV ouv polu,) der Abfahrt (V. 14). Am folgenden Tag (th/| e`xh/j) wird die Ladung über Bord geworfen (V. 18), und am dritten Tag (th/| tri,th|) die Ausrüstung (V. 19). Viele Tage lang (evpi. plei,onaj h`me,raj) sind dann die Himmelskörper nicht zu sehen (V. 20), und erst in der vierzehnten Nacht (~Wj de. tessareskaideka,th nu.x evge,neto) wendet sich das Blatt (V. 27; vgl. V. 33). Neben diesen Zeiträumen beschreibt der Text mehrfach auch Zeitpunkte, indem er Tages- oder Jahreszeiten beim Namen nennt: Die Schwierigkeiten beginnen, weil es Herbst wird. Die Fastenzeit ist bereits vorüber (th.n nhstei,an h;dh parelhluqe,nai),14 und in dieser Zeit wird das

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Vgl. auch ROBBINS, Land (s. Anm. 6), 233. Vgl. PESCH, Apostelgeschichte 2 (s. Anm. 3), 289; ROBBINS, Land (s. Anm. 6), 233. 14 Vgl. dazu JERVELL, Apostelgeschichte (s. Anm. 5), 605. 13

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Segeln schon gefährlich (o;ntoj h;dh evpisfalou/j tou/ ploo,j) (V. 9).15 Darum muss ein geeigneter Ort für die Überwinterung (paraceimasi,a) gefunden werden (V. 12). Während der Irrfahrt erlebt Paulus in einer Nacht (tau,th| th/| nukti,) eine Engelserscheinung, von der er den Mitreisenden am folgenden Tag berichtet (V. 23). In einer anderen Nacht (~Wj de. tessareskaideka,th nu.x evge,neto) nähert sich das Schiff dann schließlich der Insel, die für die Menschen die Rettung bedeutet, und zwar gegen Mitternacht (V. 27: kata. me,son th/j nukto,j)16. Bei Tagesanbruch (:Acri de. ou- h`me,ra h;mellen gi,nesqai) ermutigt Paulus die Menschen sodann zum Essen (V. 33), und sobald der Tag vollends angebrochen ist ({Ote de. h`me,ra evge,neto) nähert sich das Schiff dem Ufer (V. 39). Der Detailreichtum der Beschreibung speist sich zudem aus der Nennung vieler nautischer Fachtermini:17 Erwähnt werden insbesondere der Steuermann (kubernh,thj) und der Eigentümer des Schiffs (V. 11: nau,klhroj), das Beiboot (V. 16.30.32: ska,fh), der Treibanker (V. 17: skeu/oj)18, die Schiffsausrüstung (V. 19: skeuh. tou/ ploi,ou), die Tiefenmessung mit einem Lot (boli,zw)19, vier Anker (avgku,raj te,ssaraj) am Heck des Schiffs (V. 29; vgl. V. 40) sowie weitere Anker am Bug (V. 30), das Steuerruder (phda,lion) und das Vorsegel (V. 40: avrte,mwn) sowie schließlich das Vorderschiff (prw/|ra) und Achterschiff (V. 41: pru,mna). Durch die schlechten Wetterverhältnisse geraten die Menschen auf dem Schiff in große Gefahr. Mit zahlreichen unterschiedlichen Ausdrücken beschreibt der Text dabei den Wind und die Wellen sowie deren Macht: Zunächst motiviert ein Südwind (no,toj) die Besatzung dazu, von Kaloi Limenes aus abzulegen (V. 13), aber schon nach kurzer Fahrt ergreift ein stürmischer Wind (a;nemoj tufwniko,j)20 namens euvraku,lwn21 das Schiff (V. 14).

15 Vgl. zum Problem der Seefahrt während der Wintermonate auch P ESCH, Apostelgeschichte 2 (s. Anm. 3), 289f.. 16 Wenn SCHILLE, Apostelgeschichte (s. Anm. 3), 466, die Ansicht vertritt, dass der nächtliche Zeitpunkt die Spannung der Erzählung steigert, dann stimmt dies sicherlich mit der Empfindung der antiken Leserschaft überein. 17 Vgl. DIBELIUS, Apostelgeschichte (s. Anm. 3), 95; HAENCHEN, Acta 27 (s. Anm. 6), 240; HUMMEL, Factum et fictum (s. Anm. 1), 49; J ERVELL, Apostelgeschichte (s. Anm. 5), 612; MACDONALD, Shipwrecks (s. Anm. 8), 94; REISER , Caesarea (s. Anm. 3), 72; W EHNERT, Gestrandet (s. Anm. 2), 91. Auch in anderen Wir-Passagen der Apostelgeschichte ist dies der Fall, vgl. ALEXANDER , Journeyings (s. Anm. 6), 33. 18 Die Bedeutung von skeu/oj in V. 17 diskutiert Börstinghaus ausführlich. Schlussendlich überwiegen für ihn die Vorbehalte gegenüber einer Deutung von skeu/oj als Treibanker, vgl. B ÖRSTINGHAUS , Sturmfahrt (s. Anm. 4), 374. 19 Zu dem dabei benutzten Längenmaß vgl. PESCH, Apostelgeschichte (s. Anm. 3), 291. 20 Vgl. zu diesem Sturm insbes. REISER, Caesarea (s. Anm. 3), 63.

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Es gelingt nicht, das Schiff so auszurichten, dass es dem Wind entgegenblickt (V. 15: mh. duname,nou avntofqalmei/n tw/| avne,mw). Schiff und Besatzung werden durch den Sturm heftig bedrängt (V. 18: sfodrw/j de. ceimazome,nwn). Die starke Bewölkung lässt weder die Sonne noch die Sterne strahlen, und der Regensturm (ceimw,n) setzt dem Schiff nach wie vor sehr (ouvk ovli,gou) zu (V. 20). Da die Wellen sehr viel Kraft besitzen (u`po. th/j bi,aj tw/n kuma,twn), zerbirst am Ende der Irrfahrt der hintere Teil des Schiffs, weil dieses auf der Sandbank festsitzt (V. 41). Auf die dramatische Lage reagieren die Menschen an Bord mit Hoffnungslosigkeit und Furcht. Ihre Verzweiflung zeichnet der Text facettenreich nach: Durch die erste Bemerkung über die Gefährlichkeit des Segelns in den Wintermonaten (V. 9) wissen die Leser des Texts bereits um die schwierige Lage der Reisenden. In seiner Anrede an die Autoritäten an Bord äußert sich Paulus außerdem explizit zur drohenden Lebensgefahr: Er spricht von Schädigung und viel Verlust (V. 10: meta. u[brewj kai. pollh/j zhmi,aj; vgl. V. 21).22 Nachdem der Sturm losgebrochen ist, gelingt es nur mühevoll (mo,lij), das Beiboot unter Kontrolle zu bringen (V. 16).23 An Bord herrscht Furcht (fobou,menoi) davor, dass das Schiff in die Syrte getrieben werden könnte (V. 17). Nach Tagen auf See schwindet die Hoffnung der Leute (V. 20: loipo.n perih|rei/to evlpi.j pa/sa tou/ sw,|zesqai h`ma/j). Wegen der ständig präsenten Bedrohung essen die Menschen an Bord nichts; sie leiden an Appetitlosigkeit (V. 21: avsiti,a )24. Als das Schiff sich dem Land nähert, gibt dies wiederum Anlass zur Furcht (fobou,menoi), da man ja auf ein Riff auflaufen und sinken könnte (V. 29). Die Angaben der ausgeloteten Meerestiefe (V. 28) steigern in diesem Zusammenhang die Dramatik.25 Die Besatzung sehnt sich den Tag herbei (V. 29: hu;conto). Das Ausmaß der Gefahr kristallisiert sich im Fluchtversuch der Seeleute (V. 30: zhtou,ntwn fugei/n).26 Vor der Insel Melite kommt eine letzte Bedrohung für Paulus und die anderen Gefangenen dadurch zustande, dass die Soldaten sie töten wollen, um eine mögliche Flucht zu verhindern (V. 42). 21 Vgl. REISER , Caesarea (s. Anm. 3), 64; vgl. dazu ferner PESCH, Apostelgeschichte 2 (s. Anm. 3), 290. 22 Vgl. ROBBINS, Land (s. Anm. 6), 233. 23 Gerade in den wiederkehrenden Bemerkungen über die Unmöglichkeit, das Schiff im Unwetter zu kontrollieren, wird die Spannung in der Szene gesteigert, vgl. ROBBINS, Land (s. Anm. 6), 233. 24 Zur Appetitlosigkeit vgl. CONZELMANN, Apostelgeschichte (s. Anm. 3), 143; HAENCHEN, Acta 27 (s. Anm. 6), 253. Zu ihrer Funktion im Kontext von Apg 27 vgl. JERVELL, Apostelgeschichte (s. Anm. 5), 607. 25 Ähnlich auch JERVELL, Apostelgeschichte (s. Anm. 5), 608. 26 Das Motiv findet sich auch in antiken Romanen, vgl. PESCH, Apostelgeschichte 2 (s. Anm. 3), 292.

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Aber zu der geschilderten Furcht besteht jeweils auch ein Gegengewicht: Vor allem durch das Wirken des Paulus können die auftretenden Figuren wieder Hoffnung schöpfen.27 Nach den ersten Tagen im Unwetter fordert Paulus die Leute dazu auf, zuversichtlich zu sein (V. 22: euvqumei/n; vgl. V. 25)28. Nach seiner Auskunft hat der Engel, der ihm erschienen ist, seine Rede mit der Wendung mh. fobou/ (V. 23) begonnen. Diese stellt zwar eine gängige Anrede dar, wo Menschen einem Engel begegnen; im Kontext von Apg 27 klingt in den Worten aber auch die Verheißung an, dass die Schiffsinsassen auf Rettung hoffen dürfen.29 Explizit spricht der folgende Vers diese Ankündigung aus (V. 24). Als dann die Besatzungsmitglieder das Beiboot nehmen wollen, um sich in Sicherheit zu bringen, ermahnt Paulus den römischen Hauptmann dazu, es ihnen zu verwehren. Die Rettung der anderen Leute an Bord ist an die Anwesenheit der Seeleute geknüpft (V. 31). Weitere Ermutigung spricht Paulus sodann den Anwesenden zu, indem er sie zum Essen auffordert und damit wiederum den Ausblick auf die bevorstehende Errettung verbindet (V. 34). Entsprechend gelangen die Angeredeten wieder zu neuer Zuversicht (V. 36: eu;qumoi de. geno,menoi). Nachdem vor der Insel Melite auch noch die Gefahr der Tötung der Gefangenen durch die römischen Soldaten ausgeräumt werden kann, werden tatsächlich alle Menschen gerettet.30 Um diese Thematik der Errettung aus der Lebensgefahr zur Sprache bringen zu können, benutzt der Textabschnitt fortwährend die Vokabeln sw,|zw (V. 20.31) bzw. diasw,z| w (V. 43.44; vgl. 28,1) und swthri,a (V. 34).31 Insgesamt fällt damit in der Art und Weise, wie der untersuchte Textabschnitt seinen Gegenstand beschreibt, eine große Detailfülle auf. Diese betrifft die Nennung zahlreicher Ortsnamen und geographischer Einzelheiten sowie die Nennung von Zeiten und Zeiträumen und die Verwendung von Fachbegriffen aus dem Bereich der Seefahrt. Darüber hinaus schildert der Text aber auch die Befindlichkeit der Reisenden mit Sorgfalt. Die 27

Vgl. hierzu auch PESCH, Apostelgeschichte 2 (s. Anm. 3), 287. Auf den Zusammenhang zwischen dieser Aufforderung und den Engelsworten mh. fobou/ weist P OKORNÝ, Romfahrt (s. Anm. 10), 239 hin. 29 Dies gilt umso mehr, da in der Apostelgeschichte zwar von mehreren weiteren E ngels-Erscheinungen erzählt wird (5,19; 8,26; 10,3; 12,7), der Engel jedoch nur an der vorliegenden Stelle die Wendung „Fürchte dich nicht“ gebraucht. Die einzigen weiteren Ausnahmen innerhalb des lukanischen Doppelwerks finden sich in Lk 1,13.30; 2,10. Vor diesem Hintergrund können die Lesenden in der Rede des Engels Apg 27,23 recht gut die Aussicht auf Lebensrettung anklingen hören. 30 Vor dem Hintergrund hellenistischer Vorstellungen sehen MILES/TROMPF, Luke and Antiphon (s. Anm. 1), 263f. die Errettung des Paulus auch als eine göttlich gewirkte Legitimation seiner Person und seiner Botschaft an. 31 Zur hohen Präsenz des Wortstamms in Apg 27–28 vgl. auch B ÖRSTINGHAUS , Sturmfahrt (s. Anm. 4), 403; HUMMEL, Factum et fictum (s. Anm. 1), 50. 28

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durch die Lebensgefahr verursachte Furcht wechselt sich dabei mit der Zuversicht ab, die jeweils aus den ermutigenden Worten des Paulus erwächst. Paulus stärkt damit die Hoffnung der Mitreisenden auf Errettung (swthri,a ).

2. Die Schilderung von Apg 27 als e;kfrasij Als ein solcher Textabschnitt, der detailreich eine Reise beschreibt, lässt Apg 27 sich vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rhetorik plausibel als e;kfrasij, d.h. als ausführliche und anschauliche Schilderung, begreifen. In zeitlicher Nähe zum lukanischen Doppelwerk entstehen während der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts 32 auch die rhetorischen Schriften des Ailios Theon und des Quintilian.33 In diesen Texten besitzt die Reflexion über die Anschaulichkeit der Rede den Stellenwert eines festen Topos. Ein Seitenblick auf die rhetorischen Lehrbücher dieser Zeit kann deswegen dabei helfen zu beschreiben, was einen anschaulichen Text ausmacht und welche Wirkung er auf seine Adressatenschaft zu entfalten imstande ist. In seinen Progymnasmata, einer Sammlung von rednerischen Übungen für die schulische Ausbildung, widmet der alexandrinische Rhetoriker

32 Zur Datierung von Quintilians Institutio vgl. J. DINGEL, Art. Quintilianus [1], in: DNP 10 (2001) 716–721, 717. Zur Datierung von Theon vgl. M. W EISSENBERGER , Art. Theon [6], in: DNP 12/1 (2002), 375f., 375; vgl. auch A. S. B ECKER , Reading Poetry through a Distant Lens: Ecphrasis, Ancient Greek Rhetoricians, and the Pseudo-Hesiodic ‚Shield of Heraclesʻ, in: AJP 113 (1992), 5–24, 8; R. WEBB, Ekphrasis, Imagination and Persuasion in Ancient Rhetorical Theory and Practice, Burlington 2009, 14. 33 Ich zitiere Theon nach der Ausgabe von J. R. B UTTS, The ‚Progymnasmataʻ of Theon. A New Text with Translation and Commentary. Ann Arbor 1987 (Univ. Diss. Claremont 1986). Die gängige Textausgabe zu Quintilians Institutio ist: H. RAHN (Hg.), [Marcus Fabius Quintilianus] Ausbildung des Redners, 2 Bde., Darmstadt 31995. Des Weiteren sind zum Topos der Anschaulichkeit insbes. auch die Schriften Ciceros, die anonym überlieferte „Rhetorik an Herennius“ sowie das Werk de elocutione des Demetrios von Phaleron von Interesse. Vgl. K. B AYER/G. B AYER (Hg.), [M. Tullius Cicero] Partitiones oratoriae. Rhetorik in Frage und Antwort, Darmstadt 1994; T. NÜSSLEIN (Hg.), [M. Tullius Cicero] De inventione. Über die Auffindung des Stoffes / De optimo genere orat orum. Über die beste Gattung von Rednern, Düsseldorf 1998; DERS. (Hg.), [Marcus Tullius Cicero] De oratore. Über den Redner, Düsseldorf 2007; DERS. (Hg.), Rhetorica ad Herennium, Zürich 1994; W. R. ROBERTS (Hg.), Demetrius on Style. The Greek Text of Demetrius de Elocutione, Hildesheim 1969. Zur Bedeutung von Demetrios vgl. auch A. D. W ALKER , Enargeia and the Spectator in Greek Historiography, in: TAPhA 123 (1993), 353–377, 354.

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Theon der e;kfrasij ein eigenes Kapitel. Dabei definiert er 34 die anschauliche Beschreibung folgendermaßen: ;Ekfrasi,j evsti lo,goj perihghmatiko.j evnargw/j u`p ’ o;yin a;gwn to. dhlou,menon (Theon 7,2f.): „Die Ekphrasis ist eine erzählerische Darstellung, die das Beschriebene anschaulich vor Augen führt.“ Eine Beschreibung, wie Theon sie im Sinn hat, trägt damit erstens einen narrativen Charakter (lo,goj perihghmatiko,j). Zweitens zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie anschaulich (evnargw/j ) ist und dadurch drittens eine visuelle Wirkung hervorruft (u`p’ o;yin a;gwn). Während die e;kfrasij das textförmige Ergebnis einer detaillierten Schilderung durch den Redner darstellt, bezeichnet das Wort evna,rgeia die in diesem Text vorhandene Eigenschaft der Anschaulichkeit.35 Unterschiedliche Gegenstände können auf eine solche Weise anschaulich dargestellt werden. Objekte der e;kfrasij sind nach Theon (7,4f.) Personen (pro,swpa), Taten bzw. Ereignisse (pra,gmata), Orte (to,poi) oder Zeiten (cro,noi)36. Mit anderen Worten: Jedes mögliche Element der in einer Erzählung vorhandenen Gegenstände kann in Form einer e;kfrasij beschrieben werden.37 Anhand von kurzen Beispielen geht Theon noch näher auf diese Bereiche der anschaulichen Schilderung ein. Hinsichtlich der e;kfrasij von Personen nennt der Rhetoriker Textstellen von Homer und von Herodot als Musterbeispiele (7,5–12). Als Beispiele für Ereignisse (pra,gmata), die sich für eine e;kfrasij eignen, werden Krieg, Frieden, Unwetter, Hungersnot, Seuche und Erdbeben genannt (7,13f.): e;kfrasij pole,mou, eivrh,nhj, ceimw/noj, limou/, loimou/, seismou/. Dagegen kann sich die anschauliche Schilderung von Orten mit Auen, Stränden, Städten, Inseln, Wüsten und Ähnlichem befassen (7,15f.: leimw,nwn, aivgialw/n, po,lewn, nh,swn, evrhmi,aj, kai. tw/n o`moi,wn), und wenn es um Zeiten geht, kommen

34 Vgl. BECKER, Poetry (s. Anm. 32), 8; DERS., The Shield of Achilles and the Poetics of Ekphrasis, Lanham 1995, 25; F. GRAF, Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike, in: G. Boehm/H. Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, 143–155, 144; WEBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 14.51. 35 Nach der Einschätzung von Scholz bezeichnet der Begriff evna,rgeia primär die Wirkung von Anschaulichkeit auf ihre Adressatenschaft, vgl. B. F. SCHOLZ, ‚Sub Oculos Subiectioʻ: Quintilian on Ekphrasis and Enargeia, in: V. Robillard/E. Jongeneel (Hg.), Pictures into Words. Theoretical and Descriptive Approaches to Ekphrasis, Amsterdam 1998, 73–99, 77f. 36 Vgl. v.a. WEBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 56; vgl. auch SCHOLZ, Sub Oculos Subiectio (s. Anm. 35), 82. 37 So auch WEBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 62f.. Es entspricht der gängigen antiken Ansicht, dass zu den Bestandteilen einer Erzählung Ereignisse, Personen, Orte und Zeiten gehören (vgl. etwa Cic, Part 32.34–38; Quint, InstOrat 4,2,36; Theon 5,3–8), wobei die Zuordnung der Elemente zueinander variieren kann.

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Frühling, Sommer, ein Fest und dergleichen für die Schilderung in Frage (7,17f.: e;aroj, qe,rouj, evorth/j, kai. tw/n toiou,twn). Die Beispiele, die Theon für die e;kfrasij von Personen angibt, lassen deutlich erkennen, dass eine solche Ausgestaltung sich durch den Reichtum an visuellen Details auszeichnet.38 So beschreibt Homer bestimmte Männer, indem er das Aussehen ihrer Schultern, Haut, Haare, Füße etc. in Worte fasst.39 Weitgehend begreifen auch andere Rhetoriker der Antike die Anschaulichkeit in diesem Sinne, dass sie nämlich dort vorhanden sei, wo ein Text über viele sichtbare oder zumindest sinnfällige Einzelheiten Auskunft gibt.40 Freilich bietet sich eine derartige Herangehensweise auch an, wenn ein Redner einen physischen Gegenstand evident 41 darstellen will. Umso auffälliger ist es aber, dass dieser Reichtum an sinnfälligen Details bei Theon für die e;kfrasij von Ereignissen, Zeiten und Orten nicht eigens thematisiert wird. Zur e;kfrasij der pra,gmata bemerkt Theon vielmehr, dass eine solche Schilderung sich daraus speisen müsse, was vor, während und nach einem bestimmten Ereignis alles geschehen ist (7,40f.: e;k te tw/n progegono,twn, kai. evk tw/n evn auvtoi/j gino, menwn, kai. evk tw/n sumbaino,ntwn tou,toij). Während also etwa Personen und unbelebte physische Gegenstände solche sinnfälligen Eigenschaften besitzen, die der Redner in seine e;kfrasij einbeziehen kann, weisen Ereignisse oder Zeiten derartige Eigenschaften per se nicht unbedingt auf. Der Redner muss sich, um sie anschaulich darstellen zu können, mithin anderer Mittel bedienen. Für jede e;kfrasij gilt jedoch, dass sie auf den gewählten Gegenstand – ob dieser nun sinnfällige Eigenschaften aufweist oder nicht – ausführlich eingehen muss.42 Auf dieser Linie Theons liegen damit auch jene Rhetoriker, die bemerken, eine anschauliche Schilderung stelle ihr Objekt in einzelnen Schritten oder Facetten (per partis; Quint, InstOrat 9,2,40) dar, und dabei solle keine Feinheit ausgelassen werden (Demetr, Eloc 216).43 Die lukanische Beschreibung des Seesturms und des Schiffbruchs (Apg 27) stellt sich vor dieser Folie als e;kfrasij eines Ereignisses dar. Die Anschaulichkeit des Abschnitts lässt sich nicht einfach mit dem Hinweis auf 38

Vgl. hierzu auch WEBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 71. Theon verweist auf Hom, Od 19,246 und auf die Zeilen eines unbekannten Autors über Thersites. 40 Vgl. z.B. RhetHer 4,68; Quint, InstOrat 8,3,63. 41 Ich verwende das Adjektiv hier im Sinne von „anschaulich“ und knüpfe damit an den antiken rhetorischen Sprachgebrauch an, denn der lateinische terminus technicus zur Bezeichnung der evna,rgeia lautet evidentia (Quint, InstOrat 4,2,63; 6,2,32; 8,3,61). 42 Vgl. WEBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 74. 43 Vgl. W EBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 92. Wichtige Eigenschaften bzw. Vorzüge (avretai,) der e;kfrasij sind laut Theon (7,53f.) die Klarheit (safh,neia) und die Anschaulickeit (evna,rgeia). Vgl. dazu B ECKER , Poetry (s. Anm. 32), 9; DERS., Shield (s. Anm. 34), 25. 39

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fehlende visuelle Einzelheiten negieren.44 Schließlich handelt es sich ja nicht um die e;kfrasij einer Person oder eines Orts. Nach Theon (7,13f.) kommen für die anschauliche Schilderung von pra,gmata vor allem Katastrophen und andere schlimme Vorkommnisse in Betracht.45 Um ein solches Ereignis handelt es sich in Apg 27. Entsprechend lässt sich daran die Anschaulichkeit des biblischen Textabschnitts ablesen, dass dieser das Unwetter in vielen kleinen Schritten (per partis) schildert. Der Verfasser der Textpassage hat sich darüber Gedanken gemacht, was vor, während und nach den betreffenden Ereignissen alles geschehen ist (vgl. Theon 7,40f.). Die Ausführlichkeit im Hinblick auf diese Einzelheiten spiegelt sich vor allem darin, dass in Apg 27 so viele Orte, geographische Gegebenheiten, Zeiten, Zeiträume und nautisch-technische Dinge benannt werden. Gemessen an Theons Auffassung erfüllt die Beschreibung vom Schiffbruch in Apg 27 somit die für eine e;kfrasij geltenden Bedingungen und besitzt als solche einen hohen Grad an Anschaulichkeit (evna,rgeia). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der hellenistisch gebildete Verfasser der Apostelgeschichte entsprechende Vorstellungen aus der hellenistischrömischen Rhetorik kennt und bewusst einsetzt. Zahlreiche Begriffe, die Theon als Beispiele für Objekte anschaulicher Beschreibung nennt, kommen auch in Apg 27 vor: ceimw,n (Theon 7,14; Apg 27,20), aivgi,aloj (Theon 7,15; Apg 27,39.40), po,lij (Theon 7,15; Apg 27,8) und nh/soj (Theon 7,16; Apg 27,26).46 Aus diesem Grund liegt es nahe, in der lukanischen Schilderung die bewusste Aufnahme eines rhetorischen Topos zu sehen. Doch auch wenn dies nicht der Fall sein sollte, besitzt die Darstellung in Apg 27 unabhängig von der Intention ihres Verfassers solche Eigenschaften, die den Text vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rhetorik als anschaulichen Text erscheinen lassen. Die Anschaulichkeit besteht unabhängig davon, ob ihr Verfasser sie bewusst oder unbewusst erzeugt hat.47 44

Gegen REISER, Caesarea (s. Anm. 3), 61. Freilich stimmt es, dass die Schilderung in Apg 27, verglichen mit anderen hellenistisch-römischen Seesturm-Beschreibungen weniger dramatisch wirkt, da andere Texte (etwa Hom, Od 12) die Schwere des Sturms und die Höhe der Wellen noch ausführlicher darstellen, vgl. HAENCHEN, Acta 27 (s. Anm. 6), 240; P ESCH, Apostelgeschichte 2 (s. Anm. 3), 286. 45 So entwickelt sich die e;kfrasij von der rhetorischen Übung in den folgenden Jahrhunderten hin zu einem literarischen Genre, vgl. GRAF, Ekphrasis (s. Anm. 34), 149, welches sich mit Vorliebe u.a. den Seestürmen widmet, vgl. dazu auch B ÖRSTINGHAUS, Sturmfahrt (s. Anm. 4), 15.117. 46 Darüber hinaus kommen auch die Vokabeln to,poj (Theon 7,15; Apg 27,2.8.29.41) und cro,noj (Theon 7,17; Apg 27,9) im lukanischen Text vor. 47 Quintilian bringt die Anschaulichkeit in einen Zusammenhang auch mit metaphorischer Rede und bemerkt, dass auch ungebildete Menschen intuitiv zu einer metaphor ischen Darstellungsweise greifen können, ohne sich mit der Rhetorik befasst zu haben (InstOrat 8,6,4).

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3. Die Wirkung der Anschaulichkeit Nicht nur die Beschaffenheit, sondern auch die Wirkungsweise anschaulicher Texte wird bei Theon und Quintilian reflektiert. Schon Theons oben zitierte Definition der e;kfrasij macht den Zusammenhang zwischen Anschaulichkeit und Sehvermögen deutlich: Eine anschauliche Schilderung „führt etwas vor Augen“ (Theon 7,2f.: u`pʼ o;yin a;gwn). Die Wendung trifft hier nicht etwa die metaphorische Aussage, dass eine anschauliche Schilderung ein Argument besonders intensiv kognitiv verdeutlicht. Vielmehr weiß Theon um konkrete visuelle Erlebnisse, die sich bei den Adressatinnen und Adressaten eines anschaulichen Texts einstellen. Aus diesem Grund stellt Theon gegen Ende seiner Ausführungen zur e;kfrasij auch fest, das mit evna,rgeia Beschriebene werde „beinahe gesehen“ (Theon 7,54: tou/ scedo.n o`ra/sqai ta. avpaggelo,mena). Die Anschaulichkeit führt dazu, dass diejenigen, die den anschaulichen Text rezipieren, den Gegenstand der Schilderung vor sich zu sehen meinen.48 Durch die Verwendung von scedo,n – „beinahe“ – zeigt Theon dabei seine Sensibilität für die Tatsache, dass sich das visuelle Erlebnis, das die evna,rgeia hervorruft, von einem tatsächlichen Seh-Erlebnis unterscheidet.49 Es macht einen Unterschied, ob jemand wirklich einen Vorgang beobachtet oder ob er ihn nur so anschaulich beschrieben bekommt, dass er ihn zu sehen meint. Der Wahrnehmung eignet ein Als-Ob-Charakter.50 Diese Uneigentlichkeit des visuellen Effekts einer e;kfrasij drücken auch andere antike Rhetoriker mit unterschiedlichen Formulierungen aus. Cicero bekundet, das visuelle Erleben des Publikums würde nur „beinahe“ (paene) stattfinden, und die Menschen fühlten sich dann, „als ob“ (quasi) sie etwas erblickten (Cic, DeOrat 3,202). Das Publikum kann den beschriebenen Gegenstand nicht wirklich, sondern nur „sozusagen“ (prope dicam) mit der Hand berühren (RhetHer 4,62). Bemerkenswerterweise verschwimmt bisweilen diese meist sehr scharf gezogene Grenze. Der Römer Quintilian erläutert seine Ansicht über die Anschaulichkeit in seinem Werk über die Ausbildung des Redners (Institutio Oratoria) anhand eines Beispiels von einem Boxkampf. Da gibt es einerseits die Menschen, die bei dem Boxkampf leibhaftig zugegen sind und ihn auf diese Weise mit den eigenen Augen verfolgen. Und auf der anderen Seite gibt es die Menschen, die zwar beim Kampf nicht körperlich anwesend sind, denen aber der Vorgang anschaulich geschildert wird. Über sie sagt der Rhetoriker, dass sie das Beschriebene so deutlich vor sich sehen, dass es auch den wirklichen Zuschauern (spectantibus) nicht deutli48

Vgl. v.a. WEBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 19; vgl. auch B ECKER , Poetry (s. Anm. 32), 9; DERS., Shield (s. Anm. 34), 28; SCHOLZ, Sub Oculos Subiectio (s. Anm. 35), 78. 49 Vgl. BECKER, Poetry (s. Anm. 32), 11. 50 Vgl. WEBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 168f.

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cher (non clarior) vor Augen gestanden haben kann (InstOrat 8,3,63). Die anschauliche Ausgestaltung (e;kfrasij) bzw. die Anschaulichkeit (evna,rgeia) des Texts versetzt somit diejenigen, die den Text wahrnehmen, in den Zustand von Augenzeugen.51 Das Publikum kann das beschriebene Geschehen sinnlich – vor allem visuell – wahrnehmen.52 Beide Arten von visueller Wahrnehmung sind einander so ähnlich, dass die Rhetoriker sie zwar häufig unterscheiden, mitunter aber auch gänzlich von der Differenzierung ablassen. Besonders Quintilian reduziert die Schwelle zwischen physischem Sehen und der visuellen Wahrnehmung einer anschaulich beschriebenen Sache auf ein Minimum.53 Wenn sich die Adressatenschaft eines anschaulichen Texts nun also gleichsam innerlich in die geschilderte Szene hineinversetzt findet, dann wirkt sich dies nicht nur auf ihr rationales Denken, sondern auch auf ihre emotionale Verfassung aus.54 Theon geht auf diesen Aspekt in seinen Progymnasmata nicht weiter ein; doch andere Rhetoriker bedenken diese Dynamik ausführlich – allen voran wiederum Quintilian. Ihm zufolge reagieren die Rezipientinnen und Rezipienten einer anschaulichen Beschreibung mit starken Gefühlen.55 Dies kommt deswegen zustande, weil ein unlösbares Entsprechungsverhältnis besteht, welches die Sinnbilder (visiones), die aufgrund der Anschaulichkeit wahrgenommen werden, mit entsprechenden Emotionen verbindet (Quint, InstOrat 10,7,15). Quintilian verdeutlicht seine Auffassung an einem Beispiel von der Eroberung einer Stadt: Die anschauliche Ausgestaltung der Szene führt dazu, dass das Mitgefühl des Publikums immer weiter zunimmt (crescit miseratio). Begünstigt wird diese Dynamik durch die Beschreibung der Gefühlslage, die die beteiligten Personen auf der Ebene der Erzählung durchleben: Der Redner soll darstellen, wie die Leute in der eroberten Stadt sich noch einmal in die Arme nehmen und wie Frauen und Kinder laut wehklagen (Inst. Or. 8,3,68). Ihre Emotion führt dem Publikum vor, welche Gefühle angesichts des Be51 Vgl. hierzu auch GRAF, Ekphrasis (s. Anm. 34), 145; W EBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 52. 52 Vgl. W EBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 26; DIES., Imagination and the Arousal of Emotions in Graeco-Roman Rhetoric, in: S.M. Braund (Hg.), The Passions in Roman Thought and Literature. Cambridge 1997, 112–127, 118. 53 Allerdings wird dadurch – wie SCHOLZ, Sub Oculos Subiectio (s. Anm. 35), 87, zutreffend feststellt – nicht garantiert, dass die beschriebenen Wirkungen sich auch bei allen konkreten Adressaten in der erwarteten Weise einstellen. 54 Zum Zusammenhang zwischen Sehen und Fühlen im Kontext der Anschaulichkeit vgl. auch W ALKER , Enargeia (s. Anm. 33), 356; WEBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 20; DIES., Imagination (s. Anm. 52), 119. Vgl. ferner GRAF, Ekphrasis (s. Anm. 34), 149. 55 Andere Rhetoriker legen den Zusammenhang zwischen Anschaulichkeit und Emotion aber auch explizit dar. Vgl. z.B. Cic, DeOrat 3,202; RhetHer 4,49.66; Demetr, Eloc 214.

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schriebenen angemessen 56 sind, so dass die Angesprochenen nun selbst auch die betreffenden Gefühle entwickeln können.57 Die Emotionen springen nicht einfach auf die Adressatenschaft der Schilderung über. Als Augenzeugen, als Miterlebende entwickeln die Angesprochenen angesichts des Beschriebenen vielmehr eigene adäquate Gefühle. Interessanterweise kommt es unter antiken Historikern zu einem Disput über die Frage, ob auch die Geschichtsschreiber von der Anschaulichkeit Gebrauch machen dürften. Es handelt sich dabei um die Auseinandersetzung zwischen rhetorischer und mimetischer Geschichtsschreibung.58 Sehr entschieden bezieht Polybios59 gegen die Verwendung von Anschaulichkeit in der Historiographie Stellung. Seiner Ansicht nach darf der Geschichtsschreiber nicht darauf abzielen, Gefühle zu schüren, indem er wie ein Poet die Dinge so evident beschreibt, dass sie dem Publikum dadurch „vor Augen stehen“60. Vielmehr soll der Historiker seine Leserschaft durch die Wahrheit überzeugen und ihr zu diesem Zweck nur die reinen Fakten nüchtern präsentieren (Polyb 2,56,8–12). Die Entschiedenheit dieser Forderung zeigt natürlich, dass hier Uneinigkeit herrscht. Nur weil andere Historiker eine andere Auffassung vertreten, muss Polybios seine Forderung so energisch artikulieren. Gerade wegen der Anschaulichkeit (evna,rgeia) seiner Beschreibungen bringt Plutarch 61 dem Geschichtsschreiber Thukydides eine hohe Wertschätzung entgegen (Plut, Mor 347A; Nic 1,1–2).62 Befürworter und Gegner der Anschaulichkeit stehen sich damit unter den antiken Historikern gegenüber. Während manche Denker die Anschaulichkeit als Gefährdung für die Wahrheit des Beschriebenen ansehen, meinen andere, durch sie den geschehenen Dingen umso besser Ausdruck verleihen zu können.

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Zur Angemessenheit der Emotionen vgl. auch W EBB, Ekphrasis (s. Anm. 32), 90. Vgl. W ALKER , Enargeia (s. Anm. 33), 361. Vgl. hierzu auch B ECKER , Shield (s. Anm. 34), 72. Ähnlich auch W EBB, Imagination (s. Anm. 52), 123. 58 Vgl. hierzu insbes. E. P LÜMACHER , ΤΕΡΑΤΕΙΑ. Fiktion und Wunder in der hellenistisch-römischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte, in: ZNW 89 (1998), 66–90, pass. Plümacher rechnet die Apostelgeschichte zum Zweig der sog. mimetischen Historiographie (a.a.O., 88). 59 Vgl. W. R. P ATON (Hg.), [Polybius] The Histories, Bde. 1–2, London, Nachdr. 1979. 60 Die von Polybios gebrauchte Wendung pro. ovfqalmw/n tiqe,nai (Polyb. 2,56,8) bezieht sich als geprägter Begriff deutlich auf die Fachterminologie der Rhetoriker. B elege aus der rhetorischen Literatur finden sich beispielsweise in Cic, Orat 139 (rem dicendo subiciet oculis); RhetHer 4,60 (ante oculos ponendi negotii); Quint, InstOrat 9,2,40 (sub oculos subiectio). 61 Vgl. F. COLE (Hg.), Plutarch’s Moralia, Bd. 4, London 1972; B. PERRIN (Hg.), Plutarch’s Lives, Bd. 3, London 1984. 62 Vgl. W ALKER, Enargeia (s. Anm. 33), 357. 57

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Zu welcher von beiden Gruppen der Verfasser der Apostelgeschichte zählt, muss an dieser Stelle nicht geklärt werden.63 Gefragt werden soll stattdessen nun nach der Pragmatik des Texts, d.h. nach der Wirkung der anschaulichen Schilderung von Apg 27 auf die Leserschaft. Mit Theon und Quintilian äußern sich zwei prominente Denker der hellenistischen Welt im späten 1. Jahrhundert zur Anschaulichkeit und zu ihren Folgen. Geistesgeschichtlich stehen ihre Reflexionen dem lukanischen Doppelwerk und seiner Leserschaft darum ausgesprochen nahe. Es ist aus diesem Grund wahrscheinlich, dass die Wirkungen von Anschaulichkeit, wie die genannten Rhetoriker sie beschreiben, sich auch bei der Adressatenschaft des lukanischen Textabschnitts einstellen. Noch einmal: Diese Wirkung ist unabhängig von der bewussten Intention des Autors. Gemessen an den oben entwickelten Kriterien besitzt die Schilderung vom Schiffbruch des Paulus in Apg 27 die Eigenschaften einer e;kfrasij. Folglich gehört es zum Wirkungspotential des Texts, bei seinen Lesern auch entsprechende Reaktionen freizusetzen. Im Horizont der kulturellen Enzyklopädie 64 der Adressatenschaft ist der biblische Textabschnitt dazu geeignet, bei seinem Publikum solche Effekte auszulösen, wie Theon und Quintilian sie beschreiben.

4. Die Wirkung der Schiffbruch-Schilderung auf das Publikum der Apostelgeschichte Damit lässt sich vor dem Hintergrund des anhand der rhetorischen Lehrbücher Erarbeiteten zur Wirkung von Apg 27 nun das Folgende festhalten: Erstens: Als anschaulicher Textabschnitt ist die lukanische Beschreibung so beschaffen, dass ihre Leser im Lektürevorgang zu Sehenden gemacht werden können. Wegen der Vielzahl von genannten Einzelheiten kommt es den Lesenden so vor, als würden sie die geschilderten Vorgänge mit den eigenen Augen verfolgen: Sie sehen die Reiseroute des Paulus und seiner Begleiter vor sich, nehmen visuell die Stationen der Fahrt und die 63 Wenn es aber erstens stimmt, dass der Verfasser des lukanischen Doppelwerks sich selbst als Historiker begreift, vgl. E. P LÜMACHER , Die Apostelgeschichte als historische Monographie, in: Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten (WUNT 170), Tübingen 2004, 1–14, 9; DERS., Neues Testament und hellenistische Form. Zur Gattung der lukanischen Schriften, ThViat 14 (1979), 109–123, 116, und wenn es zweitens stimmt, dass der Darstellung von Apg 27 ein hoher Grad von Anschaulichkeit eignet, dann kann der Urheber dieses Kapitels nicht z u den krassen Gegnern von Anschaulichkeit in der Geschichtsschreibung zählen. 64 Vgl. dazu S. ALKIER , Hinrichtungen und Befreiungen. Wahn – Vision – Wirklichkeit in Apg 12. Skizzen eines semiotischen Lektüreverfahrens und seiner theoretischen Grundlagen, in: S. Alkier/R. Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen 1998, 111–133, 119–121.

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dortigen geographischen Gegebenheiten wahr, wie der Text sie ihnen vorstellt. Durch die hohe Konzentration von Zeitangaben in der Darstellung können die Lesenden den Ablauf der Ereignisse gut durchdringen und nachvollziehen; die Schilderung besitzt somit die nötige Klarheit (vgl. Theon 7,53). Es wird deutlich, was vorher, was währenddessen und was nachher passiert (vgl. Theon 7,40f.). Insbesondere erblickt die Adressatenschaft des Texts aber auch die nautischen Geräte und Gegenstände innerlich vor sich, die innerhalb der Erzählung als Objekte der Handlungen fungieren. Die Apostelgeschichte macht ihre Leser somit an dieser Stelle zu Augenzeugen der erzählten Begebenheit. Zweitens: Als Augenzeugen sollen die Lesenden nach der Ansicht der antiken Rhetoriker auch bestimmte Emotionen verspüren. Die Darstellung von Apg 27 als e;kfrasij besitzt das rhetorische Potential, die Adressaten – wie die in der Schilderung auftretenden Figuren – zwischen Hoffen und Bangen hin und her zu werfen. Die emotionale Dynamik des Textabschnitts verläuft in Wellenbewegungen. Das tobende Unwetter lässt die Furcht und Verzweiflung der beteiligten Figuren immer stärker anwachsen (etwa Apg 27,20.29),65 woraufhin Paulus auf den Plan tritt, um wiederum Mut und Hoffnung zu schüren (etwa V. 22.34)66. Durch die Verwendung von Vokabeln wie evlpi,j (V. 20), fobe,w (V. 17.24.29) und euvqume,w (V. 22.25.36) nennt der Text diese Gefühle explizit beim Namen. Die Menschen, die diese Schilderung rezipieren, übernehmen die beschriebenen Gefühle der Figuren nun nicht einfach, sondern sie bringen angesichts der geschilderten Vorgänge eigene Emotionen hervor. Die Figuren innerhalb der Beschreibung dienen ihnen dabei als Vorbilder, an denen sie ablesen können, welche Emotionen angesichts der beschriebenen Situation die angemessenen sind. Der Schifffahrt über die Wellen des Meeres entspricht darum eine emotionale Achterbahnfahrt der Lesenden im Auf und Ab zwischen Furcht und Hoffnung, die zu guter Letzt mit der Errettung aus der Gefahr endet (Apg 27,43–28,1). So eignet sich die anschauliche Darstellung dazu, beim Publikum ein eigenständiges emotionales Miterleben der geschilderten Ereignisse in Gang zu bringen. Manchen antiken Historikern ist das rhetorische Mittel der Anschaulichkeit deswegen ein Dorn im Auge, weil es die Trennung zwischen Historiographie und Poesie ins Wanken bringt. Für Polybius macht die anschauliche Schilderung sich stets verdächtig, einen Verlust an Wahrheits65

Als ein Mittel, das in hellenistischen Seereise-Schilderungen die Anschaulichkeit steigert und sich deswegen auch dazu eignet, die Furcht der Menschen vor dem Unwetter in Szene zu setzen, betrachtet ROBBINS, Land (s. Anm. 6), 223, auch die Erzählweise in der 1. Person Plural. 66 Diesen Wechsel zwischen Bedrohung und Hoffnung beobachtet auch P ESCH, Apostelgeschichte 2 (s. Anm. 3), 294.

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gehalt in Kauf zu nehmen. Deswegen warnt er die Geschichtsschreiber davor, ihre Ausführungen durch anschauliche Einzelheiten aufzuplustern und sich damit von der Wahrheit (avlh,qeia) zu entfernen (Polyb 2,56,10). Entsprechend will Polybios die Anschaulichkeit allein in der Dichtung verortet wissen, nicht aber in der Historiographie (2,56,11). Die Beispiele aus der Literatur, die die antiken Denker dort als Beispiele anbringen, wo sie sich mit der evna,rgeia auseinandersetzen, belegen aber, dass Anschaulichkeit nach antiker Empfindung sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Versdichtung anzutreffen sein kann. So loben die Quellentexte einerseits die Anschaulichkeit bei Homer (Theon 7,6.21) oder Vergil (Quint, InstOrat 6,2,32), andererseits aber auch bei Thukydides (Plut, Mor 347A; Nic 1,1–2) oder Herodot (Theon 7,11). Offenbar widersetzt sich die Apostelgeschichte diesbezüglich dem Credo des Polybios: Anders als der griechische Geschichtsschreiber scheut der Auctor ad Theophilum sich nicht davor, von einer anschaulichen Darstellungsweise Gebrauch zu machen und diese dazu einzusetzen, auch eine emotionale Wirkung zu erzielen.67 Die von Polybios angemeldeten Bedenken sind vor der Folie der rhetorischen Theorie von der Wirkung der evna,rgeia durchaus nicht unverständlich. Schließlich bewirkt die Anschaulichkeit der Schilderung beim Publikum ein Erlebnis der Unmittelbarkeit – und zwar offenbar unabhängig davon, ob das geschilderte Ereignis sich tatsächlich zugetragen hat oder nicht. Allein aufgrund der evna,rgeia sehen die Adressaten die beschriebenen Dinge und Ereignisse vor sich, und sie verspüren dem entsprechende Emotionen. Zwischen einer tatsächlichen visuellen Wahrnehmung und dem visuellen Eindruck, der von der evna,rgeia verursacht wird, besteht eine so dünne Grenze, dass selbst Quintilian den Unterschied bisweilen aus den Augen verliert. In jedem Fall sind auch die vom Publikum empfundenen Gefühle tatsächliche, reale Gefühle. Was anschaulich beschrieben wird, kann die Adressatenschaft somit tatsächlich mitverfolgen und nachempfinden.68 Auch fiktive Begebenheiten können auf diese Weise faktisch erlebt werden – sofern sie denn evident dargestellt sind. Die Grenze zwischen Fakt und Fiktion verschwimmt dort, wo die Schilderung anschaulich ist. 67 Martin Bauspieß rechnet das lukanische Doppelwerk nicht zur historiographischen Literatur der hellenistischen Antike, vgl. v.a. M. B AUSPIESS, Geschichte und Erkenntnis im lukanischen Doppelwerk. Eine exegetische Untersuchung zu einer christlichen Perspektive auf Geschichte (ABG 42), Leipzig 2012, 508; vgl. außerdem den Beitrag von Bauspieß im vorliegenden Band. Wenn der Auctor ad Theophilum sich tatsächlich nicht als Historiker begreift, dann würde das seine Freiheit im Umgang mit anschaulicher Rh etorik – auch gegen den Widerstand von Autoren wie Polybios – erklären. Dass das lukanische Doppelwerk an zahlreichen Stellen die Bedeutung visueller Wahrnehmung betont, merkt Bauspieß übrigens ebenfalls an, vgl. etwa Bauspieß, Geschichte, 208f. oder 333f. 68 Ganz ähnlich auch W ALKER, Enargeia (s. Anm. 33), 369.

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Bei der Leserschaft von Apg 27 stellt sich ein Erlebnis des Dabeiseins ein, das sich unter Umständen nicht mehr von der tatsächlichen Anwesenheit in der geschilderten Szene unterscheiden lässt. Die Frage nach der Tatsächlichkeit bzw. der Faktizität des Beschriebenen stellt sich den Lesenden im Moment dieser o;yij (Theon 7,2) nicht. Der Effekt stellt sich unabhängig von der Historizität des Geschilderten ein.69 Diese Wirkung der Anschaulichkeit besitzt eine theologische Tragweite. In exegetischen Abhandlungen zu Apg 27 findet sich immer wieder einmal die mehr oder minder enttäuschte Feststellung, dass in diesem Textabschnitt die lukanische Theologie bzw. das Kerygma ganz zugunsten der detaillierten Reisebeschreibung in den Hintergrund tritt.70 Wer allerdings die vom Text ausgelöste Wirkung der Anschaulichkeit mit in Betracht zieht, gelangt zu einem anderen Urteil: Mehrfach bereits haben Fachleute auf die merkwürdige Doppeldeutigkeit der Verwendung von den Vokabeln swthri,a (Apg 27,34) bzw. sw|,zw (V. 20.31; vgl. auch V. 43.44 und Apg 28,1) in Apg 27 hingewiesen.71 Es existiert bei der Verwendung der Vokabel swthri,a eine semantische Polyvalenz 72, da das Stichwort einerseits in seinem ursprünglichen Sinn und andererseits auch in seinem spezifisch christlichen Sinn gebraucht werden kann. Die Errettung (swthri,a ) begegnet im lukanischen Doppelwerk meistens im spezifisch christlichen Sinn und meint die Befreiung der Menschen durch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus (etwa Lk 1,77; 19,9; Apg 4,12; 7,25; 13,26.47; 16,17), die ggf. auch mit der Vergebung der Sünden zusammenhängt (Lk 1,77). Andererseits bezeichnet swthri,a in Apg 27 aber auch die konkret körperlich gedachte und ebenfalls von Gott bewirkte (vgl. V. 23–24) Errettung aus akuter Lebensgefahr. Diese Doppeldeutigkeit kommt nicht von ungefähr, denn die swthri,a im konkret physischen Sinn erläutert die swthri,a im spezifisch christlichen Sinn, welche zum Zeitpunkt ihrer Entstehung entsprechend als metaphorische Redeweise zu verstehen ist. Der gleiche Prozess, der bei der körperlichen Rettung stattfindet, spielt sich auch bei der Rettung durch Jesus Christus ab – nur eben auf einer anderen Ebene.

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Anders herum ließe sich von der Warte der Textpragmatik aus formulieren: Dem Text geht es darum, die Lesenden einzubinden und sie dadurch emotional anzurühren, weniger darum, sie kognitiv von der Historizität des Beschriebenen zu überzeugen. Freilich muss dazu eine ausreichende Plausibilität des Geschilderten gegeben sein (vgl. Cic, DeInv 1,28; RhetHer 1,14; Quint, InstOrat 4,2,31; Theon 5,39f.). 70 Etwa bei SCHILLE, Apostelgeschichte (s. Anm. 3), 470; vgl. auch B INDEMANN, Verkündigter Verkündiger (s. Anm. 3), 711.713. 71 Vgl. etwa B ARRETT, Paul Shipwrecked (s. Anm. 5), 60; PRAEDER, Sea Voyages (s. Anm. 1), 693.695; vgl. außerdem HUMMEL, Factum et fictum (s. Anm. 1), 52f.; P OKORNÝ, Romfahrt (s. Anm. 10), 239. 72 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Thomas Schumacher im vorliegenden Band.

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Regelmäßig beschäftigen sich Forschende mit der Frage, ob nicht auch das Mahl, das Paulus vor der Errettung mit den Menschen an Bord hält, als eucharistisches Mahl interpretiert werden müsse. Es wird dort ja schließlich die signalhafte Abfolge der Ausdrücke lamba,nw a;rton – euvcariste,w tw/| qew/| – kla,w – evsqi,w gebraucht (Apg 27,35), die nur allzu deutlich an andere Mahlfeiern im lukanischen Doppelwerk erinnert (Lk 22,19; 24,30) 73 und in Apg 27 insbesondere die Einsetzungsworte des Herrenmahls aufzunehmen scheint (vgl. 1Kor 11,23–24).74 Der Hinweis auf die swthri,a, die der lukanische Paulus an die Bedingung der Teilnahme an der Mahlzeit knüpft (Apg 27,34), scheint diese eucharistische Interpretation des Mahls in Apg 27 zu stützen. Gegen die Annahme eines Herrenmahls an der vorliegenden Stelle ist vor allem die Beobachtung eingewandt worden, dass hier kein Kelch vorkommt, dieser jedoch für das Herrenmahl konstitutiv sei.75 Vor dem Hintergrund der angestellten Überlegungen zum swthri,aBegriff erscheint die Beschreibung des Mahls in Apg 27 als ein Spiel mit der Semantik. Während sowohl das Mahl als auch die Rettung sich problemlos in einem unspezifischen Sinn als schlichte Mahlzeit und als Errettung aus Seenot auffassen lassen, können christlich geprägte Lesende in den Formulierungen aber auch Hinweise auf das Herrenmahl und die mit ihm verbundene Erlösung erblicken und der Szene auf diese Weise eine tiefere Bedeutung beimessen.76 Mahl und Errettung werden von den Lesenden aufgrund der Anschaulichkeit der Schilderung miterlebt. Die physische Art der swthri,a nun, die in der Apostelgeschichte das Handeln Gottes erstens beschreibt und zweitens auch abbildet, erfährt in Apg 27 eine anschauliche Schilderung. Wegen der Anschaulichkeit geraten die Leser selbst mit in die Szene hinein, die der Text ihnen vor Augen führt: Sie sehen die beschriebenen Dinge vor dem inneren Auge und reagieren darauf mit den angebrachten Gefühlen. Eine emotionale Berg- und Talfahrt zwischen Verzweiflung und Hoffnung führt sie dabei schlussend73

So auch B ARRETT, Paul Shipwrecked (s. Anm. 5), 60.62; PRAEDER, Sea Voyages (s. Anm. 1), 699. 74 Vgl. POKORNÝ, Romfahrt (s. Anm. 10), 242; SCHILLE , Apostelgeschichte (s. Anm. 3), 467f.. Vgl. dazu auch PESCH, Apostelgeschichte 2 (s. Anm. 3), 292. 75 Gegen die Interpretation von Apg 27,35 als Eucharistie auch CONZELMANN, Apostelgeschichte (s. Anm. 3), 145. PRAEDER, Sea Voyages (s. Anm. 1), 697, erblickt in der lukanischen Szene zwar die absichtliche Ausgestaltung einer christlichen Mahlfeier, ohne dieser allerdings einen eucharistischen Charakter zuzumessen. Dem gegenüber spricht Barrett, Paul Shipwrecked (s. Anm. 5), 61f., sich für die Sichtweise aus, dass im frühen Christentum noch keine ganz scharf gezogenen Grenzen zwischen den verschiedenen Arten von Mahlfeiern existieren. 76 Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der AG-Ass-Tagung im Mai 2011 in Mainz dafür, dass sie diesen Aspekt des Texts mit mir diskutiert haben.

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lich hin zur Errettung und der damit verbundenen Erleichterung. Zugespitzt formuliert: Dadurch, dass sie den anschaulichen Text lesen, erfahren die Adressaten der Apostelgeschichte hautnah – visuell und emotional –, was Errettung bedeutet. Theon würde sagen: Es wird von ihnen „beinahe gesehen“ (Theon 7,54). Und Quintilian würde wieder noch einen Schritt weiter gehen und bemerken: Auch den in der Erzählung auftretenden Figuren kann es „nicht deutlicher geworden“ sein (Quint, InstOrat 8,3,63). Die Würdigung der Anschaulichkeit in der Darstellung von Apg 27 ermöglicht damit eine Einsicht von erheblicher theologischer Relevanz: Im Lektürevorgang können die Lesenden die von Gott gewirkte swthri,a erleben.77

Abstract The description of „Paulʼs Shipwreck“ in Acts 27 includes plenty of narrative details. The whole series of events is presented step by step mentioning sensually perceivable particulars. According to the definition of the ancient rhetoricians Theon and Quintilian the Lucan scene thus not only meets the criteria for a vivid description (gr. e;kfrasij, lat. demonstratio). Vividness of description is also suited for transporting its audience into the position of eye witnesses after the rhetorical theory. A side glance on ancient rhetoric therefore allows drawing conclusions about the way Acts 27 can be perceived by its readers: Because of the vividness of the narration they can inwardly experience being saved (swthri,a ) from distress – whether or not the described events have historically happened.

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Mit ihrer von evna,rgeia geprägten Rhetorik erleidet die Darstellung in Apg 27 also keineswegs Schiffbruch, wie es der Titel des vorliegenden Aufsatzes fälschlich ve rmuten lassen könnte. Vielmehr handelt es sich bei der Schilderung von Unwetter und Seenot (vgl. Theon 7,13f.; vgl. ferner Quint, InstOrat 8,3,68) um einen Gegenstand, der sich für eine evidente Beschreibung besonders gut eignet. Durch seine rhetorische Ausgesta ltung macht der Textabschnitt daher seine intendierte antike Adressatenschaft sehr erfolgreich zu Miterlebenden des beschriebenen Geschehens.

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Erfahrung, die sich lesbar macht Kol und 2 Thess als fiktionale Texte Sandra Hübenthal

„Die Erfahrung will sich lesbar machen. Sie erfindet sich ihren Anlaß. Und daher erfindet sie mit Vorliebe eine Vergangenheit.“1

„Die Fiktion entlarvt unsere Erfahrung der Realität“, sagte Max Frisch in seiner ersten Poetikvorlesung mit dem sprechenden Titel The Writer’s Journey: From Impulse to Imagination, die er im November 1981 am City College of New York hielt, um einige Augenblicke später zu formulieren: „Es gibt keine Fiktion, die nicht auf Erfahrung beruht“2. Auf den ersten Blick scheinen die Gedanken des Schriftstellers weit weg zu sein vom Alltag der neutestamentlichen Wissenschaft – selbst wenn sie sich mit der Frage der Referentialität von biblischen Texten auf die außersprachliche Wirklichkeit beschäftigt. Der Diskurs befasst sich selten mit der Frage nach Erfahrung; wenn in der neutestamentlichen Zunft über faktuale oder fiktionale Texte gestritten wird, steht im Hintergrund meist nicht die Kategorie der Erfahrung, sondern die des Ereignisses und/oder der Erinnerung und deren Ablagerung in den unterschiedlichen Texten. Die literaturwissenschaftliche Taxonomie Faktualität, Fiktionalität und Fiktivität scheint in ihrer hermeneutischen Differenzierung in der Bibelwissenschaft bislang kaum Anknüpfungspunkte gefunden zu haben. Ein Blick in die gängigen neutestamentlichen Einleitungen bestätigt das. In den Ausführungen zum Kolosserbrief wird gemeinhin nach der kolossischen Philosophie und der Verortung der Empfängergemeinde angesichts 1

M. FRISCH, Unsere Gier nach Geschichten, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge IV, Frankfurt a.M. 1976, 1986, 262–264, 263. 2 M. FRISCH, Schwarzes Quadrat, Frankfurt a.M. 2008, 30. In ähnlicher Form, wenn auch mit etwas derberer Diktion benennt Umberto Eco als Funktion der erzählenden Literatur „dem Wust der Erfahrungen eine Form geben“. U. ECO, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1994, 117.

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der Ruinen, die das Erdbeben von 60/61 n.Chr. wohl hinterlassen hat, gefragt; beim 2. Thessalonicherbrief dominieren Fragen nach dem Autor und nach der Irrlehre, die die Gemeinde in Verwirrung stürzt. Man sucht nach den Ereignissen, den Fakten oder Realien, die hinter den Texten stehen und sich in ihnen niedergeschlagen haben. Dabei wird durchaus in Kauf genommen, dass die Datenlage nicht ganz so gut ist, wie das für eindeutige Erkenntnisse wünschenswert wäre, dennoch wird in der Literatur implizit von einer mehr oder weniger direkten Referentialität beider Texte auf die außersprachliche Wirklichkeit ausgegangen – beide Briefe werden als faktuale Texte gelesen. Was geschieht, wenn man den Kolosserbrief und den 2. Thessalonicherbrief hingegen als fiktionale Texte liest und nicht nach einem Ereignis Ausschau hält, dessen Erinnerung sich in den Texten niedergeschlagen haben könnte, sondern nach möglichen Erfahrungen fragt, die sich versprachlicht und eine Geschichte gesucht haben,3 die der reale Autor den realen Lesern erzählt? Um mich dieser Frage zu nähern, werde ich in drei Schritten vorgehen: Im ersten Schritt werde ich den literaturwissenschaftlichen Diskussionsstand aufbereiten und mit dem Diskussionsstand in der Bibelwissenschaft abgleichen, um zunächst auch die Vermutung zu prüfen, ob literatur- und bibelwissenschaftlicher Zugriff tatsächlich differieren und wenn ja, in welchen Punkten. In einem zweiten Schritt werden mit Kol und 2 Thess exemplarisch zwei neutestamentliche Texte aus dem notorisch schwierigen Interpretationsfeld des deuteropaulinischen bzw. pseudepigraphen Schrifttums betrachtet. Die Forschungsfrage ist dabei, wie sich die Lektüre der beiden Briefe ändert und welche Chancen sich für die Auslegung der Texte ergeben, wenn sie konsequent nach den Kriterien literaturwissenschaftlicher Fiktionalitätstheorie gelesen werden. Als Datenbasis dienen dazu hauptsächlich die gängigen Einleitungswerke.4 Im dritten Schritt werden 3

Die neuesten Entwicklungen in der Diskussion zu den Pseudepigraphen verdeutlichen, dass es methodisch durchaus möglich, wenn nicht sogar hilfreich ist, diese Texte als narrative Texte zu lesen. M. J ANSSEN/J. FREY, Einführung, in: J. Frey u.a. (Hg.), Pseudepigraphie und frühchristliche Verfasserfiktion (WUNT 246), Tübingen 2009, 3– 24. 4 Für einen exegetischen Querschnitt wurden für diesen Aufsatz herangezogen: P. J. ACHTEMEIER/J. B. GREEN/M. M. T HOMPSON, Introducing the New Testament. Its Literature and Theology, Grand Rapids 2001; I. BROER unter Mitarbeit von H.-U. WEIDEMANN, Einleitung in das Neue Testament, Würzburg 32010; D. R. B URKETT, An Introduction to the New Testament and the Origins of Christianity, Cambridge/New York 2002; H. CONZELMANN/A. L INDEMANN, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 142004; M. E BNER /S. SCHREIBER (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008; B. D. E HRMAN, The New Testament. A Historical Introduction to the Early Christian Writings, New York 52012; H. C. KEE, The Beginnings of Christianity. An Introduction to the New Testament, New York 2005; W. G. KÜMMEL, Einleitung in das Neue Testament, Berlin

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die Ergebnisse dieser Lektüren gebündelt und auf ihren möglichen Ertrag für die neutestamentliche Exegese hin befragt.

1. Faktuales und Fiktionales Erzählen in der Literaturwissenschaft In ihrer Einführung in die Erzähltheorie benennen Matías Martínez und Michael Scheffel zwei grundlegende Unterscheidungen in Bezug auf den Vorgang des Erzählens, die sich in unterschiedlichen Formen in den meisten Definitionen von „Erzählen“ finden. Sie verweisen darauf, dass zum einen „von realen oder erfundenen Vorgängen“5 und zum anderen „im Rahmen von alltäglicher Rede oder aber im Rahmen von dichterischer Rede“6 erzählt werden kann. Dadurch entstehen die beiden Merkmalspaare real vs. fiktiv und faktual/authentisch vs. fiktional. Beide Paare beziehen sich jeweils auf unterschiedliche Bereiche:7 Das Merkmalspaar real vs. fiktiv betrifft den Realitätscharakter oder den ontologischen Status des in der Rede Ausgesagten, das Merkmalspaar faktual vs. fiktional betrifft die Redesituation oder den pragmatischen Status der Rede. Bei fiktionaler Rede geht es demnach zunächst nicht um den Inhalt, sondern um den Referenzbezug der sprachlichen Äußerung: „Dichtung wäre demnach als die Fiktion einer sprachlichen Äußerung anzusehen, d.h. als Repräsentation einer Rede ohne empirischen Objektbezug und ohne Verankerung in einem realen Situationskontext […]. Soll sie ihre Wirkung entfalten können, müssen wir ihre Rede als die authentische (wenn auch fiktive) Rede eines bestimmten (wenn auch fiktiven) Sprechers verstehen, die nicht auf nichts, sondern auf bestimmte (wenn auch fiktive) Dinge referiert“.8

21 1983; D. MARGUERAT (Hg.), Introduction au Nouveau Testament. Son histoire, son écriture, sa théologie, Genf 22001; K.-W. NIEBUHR u.a., Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, Göttingen 2000; P. P ILHOFER, Das Neue Testament und seine Welt. Eine Einführung, Tübingen 2010; P. POKORNÝ/U. HECKEL, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, Tübingen 2007; J. ROLOFF, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 2003; F. J. SCHIERSE, Einleitung in das Neue Testament, Düsseldorf 31984; U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 72011; S. SCHREIBER, Begleiter durch das Neue Testament, Düsseldorf 72006; G. T HEISSEN, Das Neue Testament, München 2002. 5 M. MARTÍNEZ/M. SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie, München 62005, 10. 6 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 10. 7 Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 9–19. 8 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 14. Mit Eco ließe sich hier vom Fiktionsvertrag sprechen: „Die Grundregel jeder Auseinandersetzung mit einem erzählenden Werk ist, daß der Leser stillschweigend einen Fiktionsvertrag mit dem Autor schließen muß, der das beinhaltet, was Coleridge ‚the willing suspension of disbelief‘, die willent-

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Die Frage, die sich nun stellt, ist, woher Rezipientinnen und Rezipienten wissen (können), ob sie es mit einer faktualen oder fiktionalen Äußerung zu tun haben. Da faktual vs. fiktional den pragmatischen Status einer Äußerung charakterisieren, ist mit Martínez/Scheffel festzuhalten: „Fiktional ist ein Text nicht an und für sich, sondern in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext, d.h. er ist fiktional für ein Individuum, eine Gruppe, eine Gesellschaft, in einer bestimmten Situation, in einer bestimmten Epoche […]. Damit eine Rede als fiktional aufgefaßt wird, bedarf sie der Kontextmarkierung“. 9

Kontextmarkierungen oder Fiktionssignale sind demnach Hilfen, um zu entscheiden, ob es sich bei einem Text um eine faktuale oder fiktionale Äußerung handelt. Diese Entscheidung liegt auf der pragmatischen, nicht auf der ontologischen Ebene. Ein Text ist nicht per se fiktional, sondern innerhalb eines bestimmten Referenzrahmens. Hier spielt wiederum die Frage der Referentialität eine entscheidende Rolle. Es stellt sich die Frage, wie Fiktionssignale im Einzelnen aussehen können. In jedem Falle muss es sich um „metakommunikative, für den Rezipienten erkennbare Signale, ‚welche das normale Wirken der Regeln, die illokutionären Akte und die Welt zueinander in Beziehung setzen, aufheben‘“10 handeln.11 Diese liegen liche Aussetzung der Ungläubigkeit nannte – Der Leser muß wissen, daß das, was ihm erzählt wird, eine ausgedachte Geschichte ist, ohne darum zu meinen, daß der Autor ihm Lügen erzählt. Wie John Searle es ausgedrückt hat, der Autor tut einfach so, als ob er die Wahrheit sagt, und wir akzeptieren den Fiktionsvertrag und tun so, als wäre das, was der Autor erzählt, wirklich geschehen“, E CO, Wald (s. Anm. 2), 103. Martínez/Scheffel illustrieren das Gesagte an einem eingängigen Beispiel: „In diesem Sinne bedeutet etwa die klassische Eingangsformel ‚Es war einmal‘ am Beginn eines Märchens wie ‚Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter‘ für uns als Rezipienten eben nicht nur ‚Glauben Sie nichts von dem, was Sie im folgenden hören bzw. lesen‘, sondern immer auch so viel wie die Aufforderung: ‚Stellen Sie sich bitte vor, daß einmal ein Müller war, etc.‘ Wer die Sätze der Blechtrommel als die Erinnerungen einer realen Person versteht, nach Oskars Geburtshaus in einer Straße mit dem historischen Namen Labesweg in Danzig sucht und Oskars Erzählung als Ganzes oder auch nur in Teilen (wie z.B. die Geschichte von der vergeblichen Verteidigung der polnischen Post) auf ihre historische Wahrhaftigkeit hin überprüft, verwechselt die Geschäftsgrundlage und liest einen Roman nach den pragmatischen Regeln einer realen Autobiographie. Wer sich aber in keinerlei Hinsicht die Existenz eines Trommlers namens Oskar und die Echtheit seiner Erzählung vorstellt, kommt nicht ins Spiel und bringt sich selbst um sein Lesevergnügen“, MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 14–15. 9 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 15. Fiktionssignale, so wird weiter ausgeführt, „sind für das Spiel der Fiktion doch unerlässlich. Ihre Existenz allein begründet, warum im Fall der fiktionalen Rede anders als im Fall der Lüge von einem Sprachspiel nach besonderen Regeln (statt von einem bloßen Regelverstoß) gesprochen werden kann“ (ebd.). 10 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 15.

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entsprechend nicht auf der Ebene der Figurenrede oder direkten Kommunikation, sondern auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung oder der Ebene des Werkganzen.12 Als Fiktionssignale gelten in der Literaturwissenschaft13 vor allem paratextuelle und kontextuelle Markierungen wie die Zuordnung einer bestimmten Textgattung (Roman, Novelle etc.), bestimmte Eingangs- oder Schlussformeln, aber auch textinterne Fiktionssignale wie die „Anwendung von Verben innerer Vorgänge auf dritte Personen sowie eine Erweiterung des Tempussystems der Sprache, zu der z.B. die Kombination von Zeitadverbien, die auf die Zukunft verweisen, mit Verben, in der Zeitform des Präteritums gehört“14

– also etwas, das man einem klassischen allwissenden Erzähler als narrative Grundausstattung zuschreiben würde.15 Als weitere (und gerne überse11 Wolfgang Iser hält dazu fest, dass Fiktionssignale „nicht etwa die Fiktion schlechthin, sondern den ‚Kontrakt‘ zwischen Autor und Leser, dessen Regelungen den Text nicht als Diskurs, sondern als ‚inszenierten Diskurs‘ ausweisen“, bezeichnen, so W. ISER, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1993, 35. 12 Da bei Briefen die Ebene der erzählerischen Vermittlung aus Gattungsgründen ausfällt, können Fiktionssignale nur auf der Ebene des Werkganzen ausgemacht werden. 13 Im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie definiert Ansgar Nünning folgendermaßen: „Zu den kontextuellen bzw. pragmatischen F.n zählen die Kommunikationssituation, der Verlag und die äußere Aufmachung eines Buches. Zu den paratextuellen und textuellen F.n gehören Titel und Untertitel, Formen und Untergliederung eines Textes, bestimmte Eingangs- und Schlussformel, Gattungsbezeichnungen sowie paratextuelle Elemente wie juristische Absicherungsformeln […]. Außerdem spielen der Gebrauch deiktischer Elemente, insbes. nicht referentialisierbare Angaben über Ort, Zeit und Figuren, ein hohes Maß an Mehrdeutigkeit und intertextuellen Anspielungen auf andere literar. Texte sowie die Gesamtheit jener Darstellungsverfahren, die als spezifisch ‚literar.‘ gelten, bei der Signalisierung von Fiktionalität und der Konstitution des unterschiedlichen Wirklichkeitsbezuges in literar. im Gegensatz zu nicht-fiktionalen Texten eine zentrale Rolle“. A. NÜNNING, Art. Fiktionalitätssignale, in: ders. (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 42008, 202–203, 202. Zur Unterscheidung zwischen paratextuellen und textuellen Fiktionssignalen vgl. ferner F. ZIPFEL, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Studien 2), Berlin 2001, 232–247. 14 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 16. 15 Im einführenden Beitrag zum Band Wirklichkeitserzählungen formulieren Christian Klein und Matías Martínez für die textinternen Signale folgende Problematik: „Allerdings ermöglichen diese textinternen Signale keine trennscharfe Abgrenzung zwischen fiktionalen und faktualen Texten. Nicht alle fiktionalen Texte enthalten Charakteristika allwissenden Erzählens, weshalb diese Kennzeichen nicht als ein notwendiges Kriterium für Fiktionalität gelten können. Und andererseits greifen auch faktuale Texte, beispielsweise des Journalismus oder der Geschichtsschreibung, gelegentlich zu Darstellungsmitteln, die streng genommen den Standpunkt eines allwissenden Erzählers voraussetzen (z.B. die wörtliche Wiedergabe unprotokollierter Dialoge oder Aussagen über Gedanken

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hene) Methode, um auf Fiktionalität aufmerksam zu machen, nennen Martínez und Scheffel den Grad der Selbstreflexion: „indem sie nämlich durch verschiedene Formen der Selbstreflexion ihren besonderen Status in Form und Inhalt reflektiert und sowohl die Grundlagen ihrer Produktion explizit macht als auch Anweisungen für ihre Rezeption enthält“.16

Angenommen nun, ein Text hat sich in der pragmatischen Analyse als fiktional erwiesen. Was bedeutet das für den Kommunikationsvorgang, in den er eingebunden ist? In literaturtheoretischen Textmodellen für narrative Texte wie beispielweise Ansgar Nünnings kommunikationstheoretischem Textmodell wird von mehreren unterschiedlichen Kommunikationsebenen eines Textes ausgegangen.17 Da bei faktualen Texten Autor und Erzähler18 zusammenfallen, wird für diese Texte gewöhnlich nicht zwischen unterschiedlichen Kommunikationsebenen unterschieden: „Faktuale Texte sind Teil einer realen Kommunikationssituation, in der das reale Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sätzen besteht, die von einem realen Leser gelesen und als tatsächliche Behauptungen des Autors verstanden werden“.19

Dies ändert sich bei fiktionalen Texten, sie „sind ebenfalls Teil einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Fiktionale Texte sind jedoch komplexer als faktuale, weil sie außer der realen auch noch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation angehören. Die fiktionale Erzählung richtet sich sowohl im imaginären als auch im realen Kontext an einen Leser und stellt damit eine ‚kommunizierte Kommunikation‘ dar“.20

und Gefühle historischer Personen), ohne jedoch deswegen ihren faktualen Geltungsanspruch aufzugeben; allerdings muss der Autor hier seine fiktionalisierenden Erzählverfahren durch den Verweis auf eigene Recherchen, Dokumente o.ä. als plausible Vermutungen faktual legitimieren. Folglich können solche textinternen Merkmale auch kein hinreichendes Kriterium für die Entscheidung sein, ob nun ein fiktionaler oder ein faktualer Erzähltext vorliegt – sie liefern allenfalls Hinweise und Signale. Die Klassifikation eines Textes als faktual oder fiktional ist eine Entscheidung, die letztlich auf textpragmatischer Ebene getroffen wird“, C. K LEIN/M. MARTÍNEZ (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart 2009, 1–13, 4–5. 16 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 16. 17 Vgl. A. NÜNNING, Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktionen der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots, Trier 1989, 22–124. Zur Applikation dieses Modells für pseudepigraphe Briefe am Bsp. des Kol vgl. S. HÜBENTHAL, Pseudepigraphie als Strategie in frühchristlichen Identitätsdiskursen? Überlegungen am Beispiel des Kolosserbriefs, in: SNTU.A 36 (2011), 61–92. 18 Bei den authentischen Paulusbriefen, die als faktuale Texte gelten, aus Gattungsgründen Autor und sendende Figur. 19 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 17. 20 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 17.

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Für Leserinnen und Leser, die den Umgang mit faktualen Texten gewohnt sind oder einen faktualen Text erwarten, stellt sich die Frage, ob die Sätze, die – im Blick auf den Autor – real, aber nicht authentisch sind, noch einen Referenzbezug haben und wenn ja, wie dieser zu bestimmen ist. Man könnte beispielsweise fragen, wie wirklich die Wirklichkeit ist, die Jesus in seinen Gleichnissen erzählt.21 Dies gilt insbesondere dann, wenn die gleichen Sätze auf der Ebene der Erzählinstanz (oder bei Briefen: der sendenden Figur) authentisch aber fiktiv sind. In der Literaturwissenschaft wird dieses Dilemma folgendermaßen aufgelöst: „Durch das reale Schreiben eines realen Autors entsteht so ein Text, dessen imaginär authentische Sätze eine imaginäre Objektivität schaffen, die eine fiktive Kommunikationssituation, ein fiktives Erzählen und eine fiktive erzählte Geschichte umfaßt. Die fiktive Erzählung ist zugleich Teil einer realen wie einer imaginären Kommunikation und besteht deshalb je nach Sichtweise aus real-inauthentischen oder aus imaginär-authentischen Sätzen“.22

Wenn ein pseudepigrapher Autor sich als Paulus vorstellt und einer fiktiven Gemeinde eine Botschaft zusendet, in der er auf ihre (ebenfalls fiktive) gemeinsame Geschichte verweist, so schafft der Text dadurch eine fiktive Kommunikationssituation, die authentisch wirkt, es aber nicht ist. Da der pseudepigraphe Brief aber von einem realen Autor an eine reale Leserschaft geschickt wurde, gibt es auch eine reale Kommunikationssituation, in der der Autor mit den Lesern über den fiktionalen Text kommuniziert. Der Blick auf zwei Kommunikationsebenen, die eine unterschiedliche Referentialität haben können, deutet an, dass die Unterscheidung zwischen faktual und fiktional ein wenig grob, oder wie Ruben Zimmermann ausführt, „simplifizierend“ ist: „Sie suggeriert, dass nur faktuale Erzählungen einen Realitätsbezug haben, fiktionale aber nicht. Allerdings sind auch ‚erfundene Geschichten‘ Teil einer realen Kommunikati21 In der Literaturwissenschaft wird davon ausgegangen, dass fiktive und mögliche Welten eng an der Realität bzw. der Enzyklopädie der Rezipienten konstruiert werden: „Mit anderen Worten, auch die unmöglichste Welt muß, um eine solche zu sein, als Hintergrund immer das haben, was in der wirklichen Welt möglich ist. Dies aber bedeutet: Die fiktiven Welten sind Parasiten der wirklichen Welt. Es gibt keine Regel, die vorschreibt, wie viele fiktive Elemente in einem Werk akzeptabel sind, es gibt hier im Gegenteil eine große Flexibilität: Formen wie beispielsweise das Märchen veranlassen uns auf Schritt und Tritt zu Korrekturen unseres Wissens von der wirklichen Welt. Doch alles, was im Text nicht ausdrücklich als verschieden von der wirklichen Welt erwähnt oder beschrieben wird, muß als übereinstimmend mit den Gesetzen und Bedingungen der wirklichen Welt verstanden werden“, ECO, Wald (s. Anm. 2), 122. Zur Wirklichkeit als Hintergrund fiktiver Geschichten vgl. auch das gleichnamige Kapitel bei ZIPFEL, Fiktion (s. Anm. 13), 82–90. 22 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 5), 17–18.

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on, sie speisen sich – wie z.B. die Gleichnisse – aus der realen Erfahrungswelt der Kommunikationsteilnehmer, sie erweisen sich insofern auch als Träger historischer Informationen und besitzen geschichtliche Wahrheitsfähigkeit“. 23

Tatsächlich droht bei der Unterscheidung faktual oder fiktional die zweite Kommunikationsebene aus dem Blick zu geraten. So kann folgende Situation entstehen: Die Geschichte auf der imaginären Kommunikationsebene ist fiktiv, während auf der realen Kommunikationsebene mit Anspruch auf Authentizität oder Wahrhaftigkeit kommuniziert wird. Dies probehalber auf Kol und 2 Thess angewandt: Wir hätten es also mit fiktionalen Texten zu tun, die als authentische Kommunikationsakte verstanden werden wollen und als solche einen Anspruch auf Referentialität erheben. Das lässt sich etwas leichter vorstellen, wenn man annimmt, dass sich die fiktionalen Inhalte der authentischen Kommunikation nicht auf Ereignisse, sondern eher auf Erfahrungen beziehen. Christian Klein und Matías Martínez halten in ihrem einführenden Beitrag zum Sammelband Wirklichkeitserzählungen ebenfalls fest, „dass die Opposition fiktional vs. faktual nicht trennscharf ist, sondern verschiedene Kombinationen und Hybridisierungen erlaubt“.24 Um dieser Komplexität gerecht zu werden und dennoch aussagefähige Formate zu haben, schlagen sie folgende vier Unterkategorien vor:25 a) Faktuale Erzählungen mit fiktionalisierenden Erzählverfahren (referieren unter Verwendung literarischer Erzähltechniken auf eine wahre Geschichte) b) Faktuale Erzählungen mit fiktiven Inhalten (erheben den Anspruch, auf reale Begebenheiten zu referieren, die es aber nicht gibt) c) Fiktionale Erzählungen mit faktualen Inhalten (erheben nicht den Anspruch auf eine wahre Geschichte zu referieren, obwohl sie reale Personen oder Sachverwalte verwenden) d) Fiktionale Erzählungen mit faktualem Redemodus (inszenieren sich als faktuale Texte, obgleich sie fiktional sind und auf fiktiven Inhalten beruhen). Diese Einteilung wird der Komplexität gerechter und ist auch für die Lektüre biblischer Texte hilfreich: „Die Anwendung dieser Kategorien auf ntl. Texte könnte helfen, einige Missverständnisse zu vermeiden. So ändert sich die Beurteilung der urchristlichen Pseudepigraphie radi23

R. ZIMMERMANN, Geschichtstheorien und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Narration in der historiographischen Diskussion, in: EChr 2 (2011), 417–444, 438. 24 KLEIN/MARTÍNEZ, Wirklichkeitserzählungen (s. Anm. 15), 4. 25 KLEIN/MARTÍNEZ, Wirklichkeitserzählungen (s. Anm. 15), 4–5, vgl. auch ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 23), 438–439.

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kal, ob man sie als faktuale Texte mit fiktivem Inhalt (Kategorie 2) oder als fiktionale Texte mit faktualem Redemodus (Kategorie 4) einschätzt“.26

Auch eine zweite Taxonomie, die Klein und Martínez vorstellen, verhilft zu einem klareren Blick und besseren Verständnis von Wirklichkeitserzählungen.27 Bei dieser zweiten Taxonomie geht es weniger um das Selbstverständnis als den Anspruch der Texte:28 a) Deskriptive Wirklichkeitserzählungen (Darstellung realer Sachverhalte, Geltungsanspruch ‚wahr vs. falsch‘) b) Normative Wirklichkeitserzählungen (Darstellung erwünschter Zustände oder exemplifikatorische Darstellungen, Geltungsanspruch ‚richtig handeln vs. falsch handeln‘) c) Voraussagende Wirklichkeitserzählungen (Darstellung erwarteter künftiger Zustände der Wirklichkeit, Geltungsanspruch ‚plausibel vs. unplausibel‘) Beide Taxonomien verdeutlichen, dass das Feld von Texten mit referentiellem Anspruch wesentlich weiter ist als die Grenzziehung faktual vs. fiktional auf den ersten Blick annehmen lässt. So ändert sich die Einschätzung der urchristlichen Pseudepigraphie ebenfalls radikal, ob man sie als deskriptive oder normative Wirklichkeitserzählungen liest. Während dies im zweiten Fall durch einen fiktionalen Text möglich wäre, ist dies im ersten Fall ausgeschlossen.

2. Faktuales und fiktionales Erzählen in der neutestamentlichen Exegese Nicht nur wird faktuales Erzählen an der Wirklichkeit entschieden, auch die Brauchbarkeit hermeneutischer und methodischer Überlegungen erweist sich erst am Text. Entsprechend wird nun in einem zweiten Schritt geprüft, ob und inwiefern sich die hier vorgestellten Überlegungen tatsächlich auf neutestamentliche Texte applizieren lassen. Als Testfall hierfür

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ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 23), 439. KLEIN/MARTÍNEZ, Wirklichkeitserzählungen (s. Anm. 15), 6, halten folgende Definition fest: „Wirklichkeitserzählungen beanspruchen, auf reale, räumlich und zeitlich konkrete Sachverhalte und Ereignisse zu referieren und sind in diesem Sinne faktuale Erzählungen. Im Rahmen ihres faktualen Geltungsanspruchs lassen sich drei Varianten von Wirklichkeitserzählungen unterscheiden. Mit Wirklichkeitserzählungen ist der Anspruch verbunden, dass die dargestellten Ereignisse entweder (a) tatsächlich stattgefunden haben oder dass sie (b) stattfinden sollten oder dass sie (c) stattfinden werden“. 28 KLEIN/MARTÍNEZ, Wirklichkeitserzählungen (s. Anm. 15), 6. 27

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wurden zwei weithin als deuteropaulinisch rezipierte neutestamentliche Texte ausgewählt: der Kolosserbrief und der 2. Thessalonicherbrief. Warum diese beiden Briefe? Wären aufgrund ihrer Verwandtschaft nicht Kol und Eph oder das Corpus Pastorale als Untersuchungsgegenstand naheliegender? Genau das ist hier nicht anvisiert. Bei Kol und 2 Thess handelt es sich um zwei unterschiedliche und nicht voneinander abhängige Texte, die gleichwohl als deuteropaulinische Schriften einer größeren Gruppe entstammen und auf das gleiche vorausliegende Textkorpus Bezug nehmen.29 Der Kolosserbrief bietet sich allein schon deshalb an, weil es sich bei ihm um das älteste Beispiel für neutestamentliche Pseudepigraphie handelt. Der 2. Thessalonicherbrief ist aufgrund seiner Verbindung mit dem authentischen 1. Thessalonicherbrief interessanter als das Corpus Pastorale, das keine solchen direkten Bezugnahmen zu den Protopaulinen aufweist. Auch dass der pseudepigraphe Charakter des 2. Thessalonicherbriefs noch immer umstritten ist, macht es spannend, diesen Text zu betrachten. Beide Briefe schreiben die paulinische Tradition – oder die Paulusnarration fort. Da es – anders als bei den Katholischen Briefen – auch authentische Paulusbriefe gibt, lässt sich auf dieser Basis auch über Referentialität nachdenken.30 Schließlich sind die beiden Briefe in ihrer thematischen und stilistischen Unterschiedlichkeit spannend: Der Kolosserbrief, als das allgemeine Schreiben (trotz scheinbar konkreter Gegner!) in ausladendem Stil, das seinerseits zum Modell für weitere Pseudepigraphie geworden ist und der 2. Thessalonicherbrief, der auf eine ganz konkrete Situation und konkrete Probleme zu reagieren scheint und sich zusätzlich eng an ein Vorgängerschreiben anlehnt. Beide schreiben paulinische Theologie offenkundig in unterschiedlicher Weise fort, was die Frage nach den Erfahrungen, die sich in ihnen versprachlichen, interessant macht. Es ist nicht unbedingt zu erwarten, dass hier die gleiche Geschichte erzählt werden wird. Ein nicht zu leugnendes Problem bei der Applikation der hier vorgestellten literaturwissenschaftlichen Taxonomie auf biblische Texte besteht darin, dass literaturwissenschaftliche und exegetische Vorstellungen von faktualen und fiktionalen Texten nicht deckungsgleich sind. Ein Unterschied zwischen literaturwissenschaftlichen und exegetischen Vorstellungen dürfte dabei darin bestehen, dass ein pseudepigrapher Brief – selbst wenn es sich um eine „Doppelte Pseudepigraphie“31 handelt – in der exegetischen und einleitungswissenschaftlichen Diskussion meist als faktuales Schrei29 Wobei die Frage, welche authentischen Paulusbriefe beide Scheiben gekannt haben, zunächst nicht ins Gewicht fällt. Für die Wahl dieser beiden Texte war entscheidend, dass sie sich beide als paulinische Schreiben vorstellen. 30 Zu 2 Thess gibt es 1 Thess, zu Kol beispielsweise die Archäologie. 31 Also neben der Autorfiktion auch eine Adressatenfiktion angenommen wird.

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ben mit Autorfiktion rezipiert wird,32 während die Literaturwissenschaft in diesem Fall – vom Selbstverständnis des Textes her denkend – eher von einem fiktionalen Text ausgehen dürfte. Erst wenn Pseudepigraphie konsequent weitergedacht wird und zur Autor- auch eine Adressaten- und Situationsfiktion tritt, würde man in der Exegese von einer pseudepigraphen Brieffiktion33 oder einem fiktionalen Text sprechen und über eine zweite Kommunikationssituation nachdenken.34 Entsprechend stellt sich die Frage: Taugen die Kategorien, die Klein/Martínez für den literaturwissenschaftlichen Diskurs eingebracht haben, überhaupt für exegetische Fragestellungen und biblische Texte? Wenn man die Kategorisierung für Wirklichkeitserzählungen auf frühchristliche Texte appliziert, ergeben sich folgende Einsichten:35 a) Faktuale Erzählungen mit fiktionalisierenden Erzählverfahren: Als ein solcher Text dürfte sich beispielweise die Apostelgeschichte verstehen, die auf eine wahre Geschichte referiert, aber immer wieder literarische 32 Vgl. hierzu T. THOMPSON, As If Genuine. Interpreting the Pseudepigraphic Second Thessalonians, in: Frey u.a., Pseudepigraphie (s. Anm. 3), 471–488, 472–473: „Although not acknowledged as such, commentators seem to borrow the basic reading assumptions (e.g. a real letter sent from an author to an intended audience) and interpretative approaches (e.g. the use of the text as a clear window into the life and experiences of the author and adressees) from the analysis of authentic Pauline texts to reconstruct the Sitz im Leben for the pseudepigraphic Second Thessalonians. The result of this approach is a long standing interpretive tension“. 33 Die Annahme, dass es sich bei den neutestamentlichen Pseudepigraphen um Brieffiktionen handelt, die neben der Autor- auch eine Adressaten- und Situationsfiktion beinhalten, ist in der exegetischen Diskussion eher jüngeren Datums und noch sehr umstritten. Vgl. J ANSSEN/FREY, Einführung (s. Anm. 3), 3–16. Wegweisend sind hier die Beobachtungen von Eckart Reinmuth: „Weder abstrakter und fiktiver Autor noch intendierte und fiktive Adressaten kommen freilich in pseudepigraphen Texten voll zur Deckung. Diese zwar tendenzielle, aber doch nicht restlos vollzogene Übereinstimmung ist vielmehr Voraussetzung ihrer tatsächlichen Wirkung. Denn diese Texte wollen die Gegenwart ihrer intendierten Rezipienten, nicht der fiktiven, erreichen. Immer geht es um die Absicht, das ‚Jetzt‘ des Angeredeten in autorisierter Form zu erfassen“, E. REINMUTH, Exkurs. Zur neutestamentlichen Paulus-Pseudepigraphie, in: Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, übers. und erkl. von N. Walter, E. Reinmuth und P. Lampe (NTD 8/2), Göttingen 181998, 190–202, 194. 34 Timo Glaser merkt zur Pseudepigraphie an, „dass zumeist vorausgesetzt wird, dass die Briefe ihre Autorität durch die gelungene Täuschung gewinnen, dass kaum gefragt wird, wie die Briefe unabhängig von der Frage ihrer Authentizität wirken und dass schließlich trotz des pseudonymen Charakters für die Briefe ein direkter Kommunikationsakt postuliert wird“ – (in Anlehnung an Klein/Martínez wäre zu lesen: „für die Briefe ausschließlich ein direkter Kommunikationsakt postuliert wird“) – so T. GLASER, Erzählung im Fragment. Ein narratologischer Ansatz zur Auslegung pseudepigrapher Briefbücher, in: Frey u.a., Pseudepigraphie (s. Anm. 3), 267–294, 269. 35 Für das bessere Verständnis der einzelnen Kategorien und gemeinsame Überlegungen zu Beispieltexten bin ich Ruben Zimmermann zu Dank verpflichtet.

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Erzähltechniken, beispielsweise bei den Reden der Apostel oder in den Wundererzählungen, verwendet. Diese Erzählverfahren unterliegen literarischen Erzählkonventionen, an die sich der Text der Apg in weiten Strecken hält. b) Faktuale Erzählungen mit fiktiven Inhalten: Hier ist an die neutestamentliche Pseudepigraphie zu denken: Die Briefe verstehen sich als authentische Briefe in einer konkreten realen Kommunikationssituation, arbeiten aber mit fiktiven Inhalten – wobei zunächst unerheblich ist, ob es sich um Autor-, Adressaten und/oder Situationsfiktion handelt. c) Fiktionale Erzählungen mit faktualen Inhalten: Hinter dieser Kategorie verbergen sich weniger Textgattungen als einzelne Textsequenzen, wie beispielsweise Parabeln. Bei ihnen ist von der Erzählsituation her klar, dass der Erzähler nun eine fiktionale Geschichte erzählen wird, die sich durchaus so hätte ereignen können und mit dieser Geschichte eine bestimmte Botschaft transportieren will. d) Fiktionale Erzählungen mit faktualem Redemodus: Diese Kategorie kommt vermutlich im Neuen Testament nicht vor. Von der Idee her müsste es sich um Texte handeln, die ihre Fiktionalität und ihren fiktionalen Anspruch deutlich kennzeichnen. Eine solche Selbstvorstellung ist im Neuen Testament nicht anzutreffen, vermutlich wären solche Texte genau aus diesem Grund nicht kanonisiert worden. Als Beispiel ist hier der Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca denkbar. Für die Betrachtung von Kol und 2 Thess kommt die Kategorie b) in Betracht. Inwieweit kann diese Zuschreibung – verbunden mit der Annahme, dass es sich im Sinne der zweiten Taxonomie für Wirklichkeitserzählungen um normative Texte handelt – exegetisches Fragen und Arbeiten weiter bringen? Der Gewinn, wenn man die Frage der Fiktionalität von der Literaturwissenschaft her denkt, liegt darin, dass vom Selbstverständnis der Texte und ihrer Pragmatik aus gearbeitet wird. Das eröffnet für die Pseudepigraphie ein weiteres Kategorien- und Verständnisspektrum; insbesondere die Frage nach Referentialität und Kommunikationsebenen kommt nun stärker in den Blick. In einem Beitrag zum Kolosserbrief habe ich auf der Basis des kommunikationstheoretischen Textmodells von Ansgar Nünning eine Lesehilfe für die neutestamentliche Pseudepigraphie entwickelt und bin dabei zu den Kategorien authentischer Paulusbrief, Pseudepigraphie und pseudepigraphe Brieffiktion gekommen. Für einen authentischen Paulusbrief (a) galt dabei, dass sowohl die erzählte sendende Figur (S1) auf der Ebene der direkten Kommunikation oder Figurenrede (N1) und der empirische Autor (S4) auf der textexternen Kommunikationsebene (N4) einander entsprachen als auch die erzählten empfangenden Figuren (E1) und die empiri-

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schen Leser (E4). Bei einem pseudepigraphen Brief entspräche die erzählte sendende Figur (S1) nicht dem empirischen Autor (S4), während die erzählten empfangenden Figuren (E1) den empirischen Lesern (E4) entsprächen. Bei einer pseudepigraphen Brieffiktion schließlich entsprächen weder die erzählte sendende Figur (S1) und der empirische Autor (S4) noch die erzählten empfangenden Figuren (E1) und die empirischen Leser (E4) einander. In einer Übersicht lassen sich diese Erkenntnisse folgendermaßen darstellen:36 a) b) c)

S1=S4 und E1=E4 S1¹S4 und E1=E4 S1¹S4 und E1¹E4

Authentischer Paulusbrief Pseudepigrapher Brief Pseudepigraphe Brieffiktion

Heuristik für exegetische Sekundärliteratur

Diese Kategorien erwiesen sich als durchaus fruchtbar im Sinne einer Heuristik für die exegetische und einleitungswissenschaftliche Sekundärliteratur, haben jedoch die entscheidende Schwäche, dass sie die Frage der Referentialität der Texte nicht mitabbilden. Das Modell von Nünning unterscheidet zwischen textinternen und textexternen Kommunikationsebenen, trifft aber keine Aussage zur Referentialität des Textes. Da es sich um ein Modell aus der Erzähltheorie handelt, das ohnehin von fiktionalen Texten ausgeht, ist dies nicht weiter verwunderlich. Für unsere Fragestellung heißt das jedoch, dass mit der auf Nünnings Modell basierenden Heuristik Autor- und Adressatenfiktion klar abgebildet werden können, nicht aber die in der Exegese unter dem Begriff Situationsfiktion verhandelte Fiktionalität. Das ist im Falle der Pseudepigraphie jedoch insofern problematisch, als exegetische Gesprächsbeiträge in der Kategorie pseudepigraphe Brieffiktion durchaus von einem eher faktualen Text mit zutreffender Abbildung der Situation sprechen und gleichzeitig sowohl eine Autorfiktion also auch eine Adressatenfiktion annehmen können. Damit ist der Begriff pseudepigraphe Brieffiktion für diese Fälle ebenfalls unzutreffend, da weniger von einem fiktionalen als vielmehr von einem faktualen Schreiben ausgegangen wird. Entsprechend ist in diesen Fällen in der Sekundärliteratur nicht von pseudepigrapher Brieffiktion, sondern von doppelter Pseudepigraphie37 die Rede. Aufgrund dieser Überlegungen erscheint es mir sinnvoll, die ur36

HÜBENTHAL, Pseudepigraphie (s. Anm. 17), 70. Margret Mitchell spricht von einem „in doppelter Weise pseudepigraphen Text“, M. M. MITCHELL, Art. Thessalonicherbriefe, in: RGG4 8 (2005), 360–362, 361. 37

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sprüngliche Heuristik als Lesehilfe für den exegetischen Diskurs folgendermaßen nachzujustieren: a) b) c) d)

S1=S4 und E1=E4 S1¹S4 und E1=E4 S1¹S4 und E1¹E4 S1¹S4 und E1¹E4

Authentischer Paulusbrief Pseudepigrapher Brief Doppelte Pseudepigraphie Pseudepigraphe Brieffiktion

Faktuales Schreiben Referentialität ungeklärt

Faktuales Schreiben mit fiktivem Inhalt

Erweiterte Heuristik für exegetische Sekundärliteratur

Bei dieser Heuristik ist die Frage faktual vs. fiktional nicht abschließend geklärt (wobei noch zu entscheiden wäre, ob sie das überhaupt jemals sein kann), der Gewinn liegt jedoch darin, dass die Referentialität als Größe des Verstehensvorgangs in den Blick kommt und deutlich wird, dass das Überschreiten der Textgrenze mit einer genaueren Bestimmung des angenommenen Verweisungsbezugs einhergehen muss. Anders ausgedrückt: Beim faktualen Schreiben oder authentischen Paulusbrief (a) entspricht die im Brief dargestellte Kommunikationssituation der realen Kommunikationssituation. Textexterne und textinterne Kommunikationsebene fallen zusammen, der Autor entspricht der sendenden Figur. Bei der Annahme einer einfachen oder doppelten Pseudepigraphie (b/c) sieht das anders aus: Hier besteht die Gefahr, textinterne und textexterne Kommunikationsebene ineinander aufzulösen, wenn der pseudepigraphe Autor in die Realität gespiegelt (und damit gewissermaßen „verdoppelt“) wird oder die fiktiven Adressaten auf der Landkarte gesucht werden. Anders formuliert: Der Verzerrungskoeffizient der Referentialität kann ohne weitere externe Zeugnisse wie andere Texte oder archäologische Artefakte nicht eindeutig bestimmt werden, die Argumentation unterliegt der Gefahr des Zirkels. Wenn von einer pseudepigraphen Brieffiktion oder einem faktualen Schreiben mit fiktivem Inhalt ausgegangen wird, stellt sich dieses Problem nicht, da der ganze Text als fiktional wahrgenommen und rezipiert wird. Die Frage der Referentialität stellt sich dann nicht mehr für die Ebene der Figurenrede, sondern nur noch für die Ebene der textexternen Kommunikation. Das hat Konsequenzen für die Forschungsfragen, die an den jeweiligen Text herangetragen werden:38 Wenn ernst genommen wird, dass die Ebene der 38 Hansjörg Schmid hat in seiner Dissertation zu den Gegnern im 1. Johannesbrief hierzu wegweisende Beobachtungen gemacht, die mutatis mutandis auch für die kolossische Brieffiktion gelten. Schmid wählt als leitende Perspektive für die Behandlung der

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textexternen Kommunikation und die Ebene der Figurenrede getrennte Entitäten sind, lassen sich die Gesamtinterpretation und Kontextualisierung nicht von einzelnen Elementen der Ebene der Figurenrede und ihrem möglichen Referenzbezug auf die außersprachliche Wirklichkeit her begründen, sondern die gesamte Welt, die der Text erschafft, kommt in den Blick. Die Frage lautet nun nicht mehr „Wer sind die Gegner des Paulus und welche Irrlehre verbreiten sie?“, sondern „Von welchen Erfahrungen spricht der Brief angesichts welcher Situation?“. Damit sind die Kommunikationsebenen (wieder) klar getrennt: Neben der realen Kommunikationssituation wird die imaginäre Kommunikationssituation auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung sichtbar. Dadurch ändert sich auch die Wahrnehmung der „Story“, die der jeweilige pseudepigraphe Brief erzählt. Das lässt sich anhand der einleitungswissenschaftlichen und exegetischen Sekundärliteratur recht gut zeigen und wird im Folgenden exemplarisch durchgespielt. Bleibt die Frage nach der Referentialität der Texte und wie diese sinnvoll untersucht werden kann. Auch wenn bei faktualen Schreiben, wie es beispielweise für die authentischen Paulusbriefe angenommen wird, von einem direkten Bezug auf die Wirklichkeit ausgegangen wird, darf dennoch kritisch rückgefragt werden, ob ein Autograph, der ja seinerseits perspektivisch gebunden ist, insofern er von einem bestimmten Standpunkt aus verfasst ist, objektiv auf die Wirklichkeit ausgreifen kann. Timo Glaser verweist in einem Beitrag zur Auslegung pseudepigraphischer Briefbücher auf Folgendes: „Zunächst ist jede Briefliteratur ein Stück Autodiegese, eine Art von Ich-Erzählung. Und entgegen dem Vorurteil, dass der Brief ein Spiegel der Seele sei, hat die Forschung mittlerweile immer stärker erkannt, dass auch in einem echten Brief der Briefschreiber ein Bild seiner selbst konstruiert und damit eher eine Art von Maske zeichnet, als dass er seinem Adressaten ein Spiegelbild präsentiert“.39

Die Frage der ungebrochenen Referentialität ist damit auch für „echte Briefe“ gestellt und verschärft die Problematik für pseudepigraphe deutlich. Es bleibt die Schwierigkeit, wie bei einem pseudepigraphen Text Gegner im 1 Joh die Fragestellung, wie der Text funktioniert und welche Grenze er in welchem Zusammenhang zieht: „Nicht wer die Gegner waren, lautet dann die Frage, sondern zu welchem Zweck und in welchem Zusammenhang überhaupt von Gegnern gesprochen wird. Dazu gilt es, in und nicht hinter den Text zu schauen. Der Schwerpunkt der Untersuchung verschiebt sich damit von der Gegnerfrage hin zu der Frage nach der Gemeindeidentität, für welche das Gegenbild eine zentrale Funktion besitzt“, H. SCHMID, Gegner im 1. Johannesbrief? Zur Konstruktion und Selbstreferenz im johanneischen Sinnsystem (BWANT 159), Stuttgart 2002, 21. Dieser stärker text(pragmatisch) orientierte Ansatz geht davon aus, dass das Gegnerbild mehr über die Gemeinde als über die Gegner aussagt. 39 GLASER, Erzählung (s. Anm. 34), 271.

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überhaupt der Ausgriff auf Wirklichkeit verstanden und untersucht werden kann.40 Letztlich muss der Anknüpfungspunkt bei der Kommunikationssituation und damit auf textpragmatischer Ebene liegen. Entsprechend formuliert Glaser: „Da ein Brief normalerweise die Fortführung eines bestehenden ‚Gesprächs‘, also Ausschnitt aus einem Kommunikationsakt miteinander bekannter ist, verfügen beide Kommunikationspartner über ein gemeinsames Wissen, auf das in der Briefsituation zurückgegriffen werden kann, das jedoch nicht explizit vergegenwärtigt werden muss. Der externe, reale Leser dagegen verfügt nicht über dieses Wissen, so dass die Herausforderung für den Verfasser eines fiktionalen Briefverkehrs darin besteht, dieses Wissen zu vermitteln ohne dass die Fiktion eines realen Briefverkehrs gesprengt würde“.41

An dieser Stelle ließe sich tatsächlich untersuchend tätig werden und fragen, wo sich der Brief durch die Einspielung von Wissen, dass die fiktiven Adressaten haben müssten, die realen aber nicht haben können, selbst entlarvt.42 Glaser eröffnet in seinem Beitrag eine Taxonomie für Überdetermination und Unterdetermination von Textaussagen jeweils im Hinblick auf den externen oder internen Leser und spielt diese an antiken Beispielen, unter anderem dem Corpus Pastorale durch. Seine exemplarische Lektüre kommt zu dem Ergebnis: „Um das (so) vorhandene Hintergrundwissen der Leser zu aktivieren, stehen dem Autor diverse Möglichkeiten zur Verfügung, vorgängige Traditionen aufzugreifen, zu bearbeiten, zu kommentieren oder sogar erst zu erschaffen. Inwiefern der Autor damit in real geführte Diskussionen um die Hauptpersonen eintritt und wie er auf seine Leserschaft einwirken will, kann nicht durch eine rhetorische Analyse der Briefe allein herausgearbeitet werden, da dadurch reale und fiktionale Kommunikationsebene vertauscht werden“.43

40 In seinen Überlegungen zu dieser Fragestellung fährt Glaser fort: „In dieser Hinsicht unterscheidet sich ein pseudonymer Brief nicht von einem authentischen, wohl aber in seinem Wirklichkeitsbezug. Während der echte Brief direkt auf die Kommunikationssituation zwischen Sender und Empfänger einwirken will, vermag der fingierte Brief dies nicht. Der Verfasser mag sich zwar durch die Wahl eines Pseudonyms dessen Autorität aneignen und auf den Empfänger einwirken, er vermag jedoch nicht, die reziproke Beziehung zwischen dem genannten Verfasser und dem Empfänger zu beeinflussen. Insofern spiegelt der Brief mit fingierter Verfasserangabe ein Kommunikationsgeschehen vor, das er nicht konstruieren kann. Ähnlich verhält es sich mit solch fingierten Briefen, die als ‚doppelt-pseudonym‘ bezeichnet werden, wenn sowohl der genannte Verfasser wie der genannte Empfänger nicht mit den realen identisch sind“, G LASER, Erzählung (s. Anm. 34), 272. 41 GLASER, Erzählung (s. Anm. 34), 273. 42 Dieser Frage lohnte es, für Kol und 2 Thess nachzugehen. Aus Platzgründen wird diese Spur hier nicht weiter verfolgt. 43 GLASER, Erzählung (s. Anm. 34), 294.

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Was ist daraus für die vorliegende Fragestellung zu gewinnen? Die schwierige Frage, ob und wie vom Text auf die außersprachliche Wirklichkeit geschlossen werden kann, steht weiterhin im Raum, doch das Instrumentarium, sich dieser Frage zu nähern, wird deutlicher: Es ist zunächst deutlich geworden, dass diese Frage auf der textpragmatischen Ebene liegt und dort bearbeitet werden muss. Dabei ist es zentral, die unterschiedlichen Kommunikationsebenen im Text auseinander zu halten und nicht ineinander aufzulösen. Da die Konstruktion der fiktionalen Kommunikation weder auf der Ebene der fiktionalen Rede noch auf der Ebene der realen Kommunikation erhoben werden kann, muss sie auf der Ebene des Werkganzen liegen. Das heißt, nicht einzelne Elemente des Textes sind in ihrer möglichen Referentialität zu prüfen, sondern der Text in seiner Gesamtheit – wenn möglich mit Vergleichsparametern. Sprich: eine rhetorische Analyse des Kol oder 2 Thess alleine wird nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen, wenn nicht wenigstens ein weiterer, am besten authentischer Paulusbrief, mitgelesen und analysiert wird. Ferner ist auch bei Pseudepigraphie und doppelter Pseudepigraphie mit einer verzerrten Referentialität zu rechnen, da der Autor, um mit den realen Lesern zu kommunizieren, deren Rezeptionshaltung und Vorwissen auf der Ebene der fiktionalen Kommunikation stimulieren muss und dabei Ereignisse und Traditionen seiner Zielsetzung entsprechend gestalten wird. Ein Anhaltspunkt dafür kann die Determination des im Text kommunizierten Wissens für explizite und implizite Leser sein. Auch diese Beobachtungen werden immer wieder textpragmatisch rückzubinden sein.

3. Exemplarische Lektüre: Die Wahrnehmung von Kol und 2 Thess in der Sekundärliteratur Obwohl die chronologische Abfolge der beiden Deuteropaulinen wohl umgekehrt ist, Kol also vor 2 Thess entstanden ist, werden die Leseeindrücke aus der Sekundärliteratur hier in der Reihenfolge 2 Thess – Kol behandelt. Dies liegt darin begründet, dass die Diskussion der Fiktionalität bzw. Referentialität beider Schreiben in unterschiedlichen Stadien anzusiedeln ist, die m.E. logisch aufeinander folgen. Der besseren Verständlichkeit dieser angenommenen Gesetzmäßigkeit halber wird zunächst die Diskussion um 2 Thess skizziert. 3.1 Der Zweite Thessalonicherbrief Die Diskussion um die Authentizität von 2 Thess wurde vor allem dadurch virulent, dass 2 Thess in manchen Punkten sehr große Ähnlichkeiten zu

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1 Thess aufweist, sich gleichzeitig aber in anderen Punkten maßgeblich unterscheidet. Warum sollte Paulus an die gleiche Gemeinde zwei Briefe geschrieben haben, die inhaltlich teilweise deckungsgleich und teilweise widersprüchlich sind?44 Die Frage nach der Authentizität des Briefes entstand demnach nicht aus inneren Erwägungen oder durch den Abgleich mit der Realiengeschichte, sondern durch die Zusammenschau mit dem Vorgängerschreiben, das sich an die gleiche Gemeinde richtete. Die Ausgangsfrage der Forschung lautete also: Wie kann ein Brief des gleichen Autors an die gleiche Gemeinde gleichzeitig so ähnlich und doch so widersprüchlich sein? Das Spannende am 2 Thess ist, dass die Argumente, die für oder gegen die paulinische Verfasserschaft sprechen, bereits seit längerem ausgetauscht sind und sich dennoch kein Konsens abzeichnet.45 Mit der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis, dass die Zuweisung des Labels faktual oder fiktional (was in diesem Falle mit der Frage nach der Verfasserschaft kongruiert) eine textpragmatische Entscheidung ist, rückt bei 2 Thess nicht nur in den Blick, welche Implikationen, sondern auch welche Voraussetzungen es für das Verständnis und die Auslegung des Briefes hat, ob er Paulus zugeschrieben wird oder nicht – eine Frage, die für Kol zumeist nicht (mehr) in dieser Form (und Schärfe) diskutiert wird. a) 2 Thess als authentischer Paulusbrief Wenn der 2 Thess als authentischer Paulusbrief gelesen wird,46 ergibt sich – zumindest für die Story, die der Brief erzählt – zunächst kein Problem. In einem authentischen Schreiben wird die fiktionale Kommunikation folgendermaßen rezipiert: Paulus reagiert auf Irrlehrer, die mit ihren eschatologi44

Vgl. ACHTEMEIER u.a., Introducing (s. Anm. 4), 443. Vgl. hierzu T. THOMPSON, A Stone that Still Won’t fit. An Introductory Note for Edgar Krentz’s „A Stone that will not fit“, in: Frey u.a., Pseudepigraphie (s. Anm. 3), 433–438. Noch immer sind die 1983 beim SBL Annual Meeting vorgestellten Überlegungen von Edgar Krentz wegweisend. In Krentz’ Paper, das im Sammelband mit wenigen Überarbeitungen (erstmals vollständig) abgedruckt ist, finden sich klare Aussagen wie folgende: „The style of the letter is of one piece, independent of Paul’s normal mode of writing. It runs through the entire letter. And the linguistic, stylistic peculiarities are precisely what raise the problem of authenticity. Two solutions are possible. One must either account for Paul’s variant style from the situation he faced or from the amanuensis he used, or one must accept the conclusion that another mind produced the letter, tertium non daretur“, E. KRENTZ, A Stone that Will Not Fit, in: Frey u.a., Pseudepigraphie (s. Anm. 3), 439–470, 455. 46 Die Echtheit des Schreibens (wobei hier die Sekretärshypothese mit genannt wird) wird vor allem von englischsprachigen Autoren vermutet, z.B. ACHTEMEIER, B URKETT, KEE und MARSHALL/TRAVIS/P AUL. In der deutschsprachigen Exegese vertritt NIEBUHR diese Position. Eine Übersicht über die aktuelle Diskussionslage in der Literatur findet sich bei THOMPSON, Stone (s. Anm. 44), 435 und SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 4), 359. 45

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schen Aussagen die Gemeinde verwirren und legt angesichts der Parusieverzögerung einen neuen eschatologischen „Fahrplan“ vor. Der Brief gilt also weitestgehend als Ergänzung und Präzisierung des ersten angesichts einer veränderten oder sich verändernden Situation. Die Forschungsfragen, die sich aus dieser Lektüre ergeben, drehen sich entsprechend um die Frage, wie sich Paulus oder die Situation der Thessalonicher seit dem 1 Thess verändert hat. Ferner wird überlegt, wer die Irrlehrer des 2 Thess gewesen sein könnten. Die Frage nach der Pragmatik des Schreibens ist damit auch rasch beantwortet: Paulus selbst meldet sich in einer veränderten Situation zu Wort und gibt – als Gemeindegründer und Autorität – Hinweise zum Verhalten in dieser Situation. b) 2 Thess als Pseudepigraphie Wird der 2 Thess als pseudepigrapher Brief gelesen,47 verändert sich die rezipierte Story deutlich: Mit paulinischer Autorität wird die Vorstellung von Naherwartungs-Enthusiasten (die sich möglicherweise auf die paulinische Predigt berufen) in der Gemeinde von Thessalonich korrigiert. Wenn vermutet wird, dass nicht Paulus selbst den Brief geschrieben hat, muss zunächst der Nachweis geführt werden, warum er es nicht gewesen sein kann. Diese Frage nimmt in der Forschung seit Wrede48 traditionell breiten Raum ein. Dabei ist zwischen sprachlich-stilistischen49 und theologischen50 47 Die Mehrheit der deutschsprachigen Wissenschaftler optiert für den 2 Thess als pseudepigraphes Schreiben, wobei jedoch nicht immer klar ist, ob eine einfache oder doppelte Pseudepigraphie angenommen wird. Eine Übersicht über den aktuellen Diskussionstand findet sich wiederum bei THOMPSON, Stone (s. Anm. 44), 434 und SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 4), 359, ferner bei S. SCHREIBER, Der zweite Thessalonicherbrief, in: Ebner/Schreiber, Einleitung (s. Anm. 4), 440–449, 444. Von den hier zur Lektüre herangezogenen Ansätzen optieren für eine einfache Pseudepigraphie M. CRÜSEMANN, Die pseudepigraphen Briefe an die Gemeinde in Thessaloniki. Studien zu ihrer Abfassung und zur jüdisch-christlichen Sozialgeschichte (BWANT 191), Stuttgart 2010; A. DETTWILER , La deuxième épître aux Thessaloniciens, in: Marguerat, Introduction (s. Anm. 4), 293–303; C. M. KREINECKER, 2. Thessaloniker (Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament 3), Göttingen 2010; F. LAUB, 1. und 2. Thessalonicherbrief (NEB.NT 13), Würzburg 1985; LINDEMANN, P OKORNÝ, SCHIERSE und THEISSEN. 48 „Zufall endlich und der eigentliche Zufall, dass alle diese Zufälle zusammentreffen. Einen solchen Zufall gibt es nicht. Deshalb muss die Annahme falsch sein, die ihn voraussetzt. Dies ist das ausschlaggebende Faktum, der zwar indirekte, aber wie mir scheint, äußerst starke, ja zwingende Beweis“, W. WREDE, Die Echtheit des 2. Thessalonicherbriefes (TUGAL 24), Leipzig 1903, 30. 49 Bei den sprachlich/philologischen Untersuchungen hervorzuheben ist der Ansatz von Kreinecker, die in ihrer papyrologischen Untersuchung zu 2 Thess zu folgenden interessanten Schlüssen kommt: „Während Paulus als Briefschreiber gewandt genug ist, mit den Konventionen frei umzugehen und sie in seinem Interesse zu nutzen, und dennoch im Großen und Ganzen im Rahmen seiner Möglichkeiten bleibt, gelingt dies dem

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Erwägungen zu unterscheiden. Letztere beziehen sich nicht nur auf die Bewertung der theologischen Ansätze des Briefes, sondern auch auf das in ihm kommunizierte Apostelverständnis. Doch auch weitere neue Forschungsfragen stellen sich: In welcher Situation wurde 2 Thess geschrieben und wer spricht hier in welche Situation hinein? An dieser Stelle wird auch die Frage nach der Referentialität virulent.51 Trevor Thompson hat die Problematik der historischen Rückfrage oder Kontextualisierung treffend auf den Punkt gebracht und offenbart zudem das Dilemma des Schlusses von der Textebene auf die außertextliche Wirklichkeit, mit dem alle Ansätze zu kämpfen haben: „The use of passages in the pseudepigraphic Second Thessalonians in order to reconstruct the document’s Sitz im Leben is without a clearly defined method and results in interpretive inconsistencies. The identification of Second Thessalonians as a pseudepigraphon turns our confident affirmations – based in a reading of the text – about the background of the document into complex and involved questions: Where if anywhere in the text Verfasser des 2 Thess nicht. Denn bei seiner gezielten Nachahmung ist er an einigen Stellen zu weit gegangen, in ‚paulinischer Hinsicht‘ ebenso wie im Blick auf die Briefkonventionen seiner eigenen Zeit, sodass der 2 Thess gerade diesbezüglich als pseudepigraphisches Schreiben offengelegt werden kann […]. Mit diesen Beobachtungen lässt sich zudem die allgemeinere Hypothese aufstellen, dass der Verdacht auf Pseudepigraphie dort verstärkt vorzubringen ist, wo an sich übliche und bekannte Wendungen und Gedanken aus dem ‚Original‘ zwar vorkommen, jedoch in Abweichung von Briefkonventionen im Brief selbst ‚eingebaut‘ werden. Der pseudepigraphische Verfasser versteht zwar, Eigenheiten seines ‚Vorbilds‘ zu erkennen und zu übernehmen, wendet sie aber entgegen der üblichen Briefkonventionen an und entlarvt sich nicht zuletzt genau dort selbst, wo er dem Original eigentlich am nächsten sein will“, KREINECKER, 2. Thessaloniker (s. Anm. 46), 96–97. 50 Als Beispiel hierfür kann die Frage der Parusieverzögerung/Naherwartung gelten, die nicht in eine bestimmte Zeit verweisen muss, sondern auch in späteren Zeiten immer wieder begegnet. Vgl. P OKORNÝ/HECKEL, Einleitung (s. Anm. 4), 651. 51 Ein Beispiel hierfür ist die Frage, ob der Hinweis auf den (nicht zerstörten) Tempel in 2,4 das Scheiben als authentisch ausweist oder als Teil der Verfasserfiktion zu lesen ist. Der pseudepigraphe Verfasser weiß, dass Paulus die Tempelzerstörung nicht erlebt haben kann und genau das macht die Autorfiktion glaubwürdiger (sozusagen als „umgekehrtes vaticinium ex eventu“), vgl. BROER, Einleitung (s. Anm. 4), 464; CONZELMANN/ LINDEMANN, Arbeitsbuch (s. Anm. 4), 238. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von REINMUTH, Exkurs (s. Anm. 33), 195: „Diese aktuelle Evidenz zeitgeschichtlicher Anspielungen, die zumeist in die Form prophetischer Zukunftsaussage gekleidet waren, ist zugleich ein entscheidendes Moment und Kriterium der modernen Identifikation pseudepigrapher Schriften. Die kritische Wissenschaft erkennt prophetische Ansagen bereits eingetroffener Ereignisse (vaticinia ex eventu) an ihrer Konkretheit. Diese Konkretheit ist textintern eine relative, insofern die meisten vaticinia ex eventu eingebettet sind in Zukunftsschilderungen, die nicht bei der mit ihnen intendierten Gegenwart stehenbleiben. Textintern ist insofern der Übergang vom Konkreten ins Allgemeine entscheidend. Denn an diesem Umschlag lässt sich die Gegenwarts-Schnittstelle, in der die Rezipienten sich wissen können, erkennen“.

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does the identity of the actual author emerge from behind the mask of the ascribed authors and their narrated context? Do the historical reminiscences and past experiences of the ascribed authors resonate with the real experiences of the actual author? If so, to what extent and how would we know? Was there an actual persecution against Christians raging among perceived readers (1:4–10)? Was there a real letter being circulated in the name of Paul, Silvanus and Timothy (2:2)? Did some source truly claim that the Day of the Lord had come (2:2)? Was the actual author being maltreated (2 Thess 3:2)? Were idle individuals causing trouble by their refusal to work (2 Thess 3:7–13)? In terms of reconstructing a Sitz im Leben through the window of Second Thessalonians, does description ever end and truth begin?“52

Wir begegnen hier der alten und weiterhin ungelösten Frage wieder, ob und wie von der im Text beschriebenen Welt auf die außertextliche Wirklichkeit geschlossen werden kann, ohne dass „the world of the written texts […] moves from page to reality“53 bzw. die erzählte Welt und die Welt des Autors in eins fallen.54 Thompson schließt seinen Beitrag mit der Feststellung, dass es für die weitere Forschung zum 2 Thess dringend geboten ist, „to develop a rigorous model which adequately takes into consideration the complexities of working with a pseudepigraphon“.55 Erste Vorschläge und Lesehilfen sind in den letzten Jahren vorgestellt worden,56 eine kritische Sichtung steht noch aus.

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T HOMPSON, Genuine (s. Anm. 32), 488. T HOMPSON, Genuine (s. Anm. 32), 480. 54 Nota bene: Es geht nicht um die erzählte Welt und die Welt des Erzählers, die beide noch im Text anzutreffen wären, sondern darum, die Textgrenze zu überschreiten und vom Text auf die außertextliche Wirklichkeit zu schließen. 55 T HOMPSON, Genuine (s. Anm. 32), 488. Neben der Suche nach einem hermeneutischen Modell als Lesehilfe für pseudepigraphe Texte regt Thompson ferner an „a focus on the process of producing a pseudepigraphon in antiquity can offer new ways for thinking about how Second Thessalonians was composed to meet the goals of its actual author“, ebd. Möglicherweise in diesem Gedanken enthalten, aber nicht explizit ausgedrückt, ist die ebenso wichtige textpragmatische Seite – nicht nur wie (how), sondern vor allem auch warum (why) ein pseudepigrapher 2 Thess geschrieben worden sein könnte, ist hier von Bedeutung. 56 Hanna Roose optiert für die Wahrnehmung der paulinischen Briefe als „polyvalente Texte […], die durch intertextuelle Bezüge – eben die deuteropaulinischen Schriften – ihren Bedeutungsspielraum verändern“; 2 Thess wird damit auch zu einer Leseanweisung für 1 Thess; so H. ROOSE, Die Thessalonicherbriefe im Kontext urchristlicher Überlieferungsprozesse. Methodische Reflexionen, in: W. Kraus (Hg.), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte (BZNW 163), Berlin 2009, 343–364, 346. Vgl auch DIES., Polyvalenz durch Intertextualität im Spiegel der aktuellen Forschung zu den Thessalonicherbriefen, in: NTS 51 (2005), 250–269. Eve-Marie Becker versteht 2 Thess als Beitrag zu einem ‚Paulus-Diskurs‘, der „im Sinne einer historischen und literarischen Quelle Einblick in die theologischen und theologiegeschichtlichen Konflikte um die Sicherung, Fortschreibung und Diskussion paulinischer Lehre“ gibt, E.-M. BECKER, ~Wj diV h`mw/n in 2 Thess 2,2 als Hinweis auf einen verlorenen Brief, in: NTS 55 (2009), 55–72, 69. 53

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Bei der Frage nach der Pragmatik des Schreibens sind vor allem zwei Spuren zu beobachten. Zum einen ist dies die Frage danach, wie die beiden Briefe zusammenhängen und zum anderen, welches Apostelbild und – damit verbunden – Leitungsverständnis kommuniziert werden soll. Die Antworten auf die erste Frage kreisen um die Alternativen ersetzen oder ergänzen,57 wobei die überwiegende Mehrheit der Ausleger für eine Form der Ergänzung oder des Kommentars optiert.58 Die zweite Spur führt nicht nur zur Frage des Apostelverständnisses, sondern auch in die generelle Diskussion des Phänomens der Pseudepigraphie. Im Vergleich zum 1 Thess wird deutlich, dass sich das Verhältnis zwischen Paulus und den Thessalonichern verändert hat: „Es ist nicht mehr so persönlich geprägt wie im ersten Brief; Paulus wird ansatzweise zum Vorbild stilisiert. Zugleich wird mehr Wert auf die apostolischen Überlieferungen und die Schriftlichkeit ihrer Vermittlung gelegt“.59

Zum einen rücken die schriftlichen Paulustraditionen gegenüber den mündlichen in den Vordergrund, zum anderen wächst dem Apostel selbst eine andere Rolle zu: Während es in 1 Thess noch um Ermahnungen im Hinblick auf die Welt ging und der Apostel eher eine mahnend-moderierende Rolle hatte (1 Thess 2,12; 4,1; 5,14: parakalw/), wird er nun zum Vorbild

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Zur Frage ersetzen oder ergänzen vgl. die Überlegungen von Hanna Roose, die diese Frage in einem traditions- und überlieferungsgeschichtlichen Rahmen diskutiert und im Zusammenhang mit ihrem eigenen Ansatz der Paulinen als polyvalenter Texte schließt: „Das Programm der ‚Leseanweisung‘ fordert jedenfalls eine synchrone Lektüre beider Thessalonicherbriefe. Tritt die Annahme hinzu, dass der 1. Thessalonicherbrief paulinisch, der 2. jedoch pseudepigraph ist, steht diese synchrone Lektüre für uns heute unter ‚deuteropaulinischen‘ Vorzeichen. Wir müssten dem 1. Thessalonicherbrief mithin mindestens zwei unterschiedliche, d.h. für uns unterscheidbare, Lesarten zugestehen: eine ‚paulinische‘ und eine ‚deuteropaulinische‘. Neben die Frage nach der richtigen – in diesem Fall: paulinischen – Auslegung muss also die Frage nach den Bedeutungsspielräumen treten, die Texte eröffnen. Dieses Vorgehen führt uns historisch gesehen in eine spannende (Übergangs)Phase, in der paulinische Briefe nicht mehr umgeschrieben oder ersetzt, wohl aber noch (vor der Fixierung des Kanons) pseudonym ergänzt werden konnten“, ROOSE, Thessalonicherbriefe (s. Anm. 55), 364. 58 Eine solche neue Spur verfolgt der Ansatz von Roose. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Schreiber: „Mit 2 Thess werden für uns erste Schritte einer spezifischen Paulus-Hermeneutik sichtbar. 2 Thess will also 1 Thess nicht ersetzen, bzw. als Fälschung diskreditieren – er würde sich ja die eigene Autorisierungsbasis entziehen, wenn er die Gültigkeit von Paulusbriefen in Frage stellt –, sondern interpretieren, auf eine neue Situation hin auslegen. Die Wirkung der ‚Imitation‘ besteht dann im Wiedererkennen, Sich Wiederfinden in den vertrauten Formulierungen des Paulus, was der Identitätssicherung einer nach-pln Gemeinde dient“, so SCHREIBER, Thessalonicherbrief (s. Anm. 46), 448. 59 REINMUTH, Exkurs (s. Anm. 33), 159. Vgl. hierzu auch KRENTZ, Stone (s. Anm. 44), 468.

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(2 Thess 3,7.9) und zur mahnend-anordnenden Autorität (2 Thess 3,6– 10.12: paragge,llw): „Für die Orientierung der Leser hat der Apostel offensichtlich einen hohen Stellenwert. Nur so ist zu erklären, dass der Verfasser sich unter das Pseudonym des Apostels stellt und diesen so selbst eine Korrektur seiner Eschatologie im ersten Brief vornehmen lässt. Die mehrfachen Hinweise auf Briefe oder Worte des Apostels weisen in die gleiche Richtung. Das stimmt durchaus mit den echten Paulinen überein, wo das Wort des Apostels auch einen sehr hohen Stellenwert hat. Aber die Bedeutung des Evangeliums und v.a. die Verbindlichkeit der Tradition, die mit dem Wort oder dem Schreiben des Apostels gleichgesetzt wird, sowie die Verbindlichkeit des paulinischen Vorbilds weichen von den echten Paulusbriefen ab. Denn der dynamische Begriff des Evangeliums in den echten Paulusbriefen gerät im zweiten Brief in die Gefahr, zu einer statischen Größe zu werden und einfach mit der christlichen Wahrheit identifiziert zu werden, der man gehorchen muss, und der Apostel wird einfach zum nachzuahmenden Beispiel für einen ordentlichen Lebenswandel“.60

Es geht dabei nicht nur um das Verhalten der Gemeinde, sondern auch um ein bestimmtes Paulusbild als Apostel mit gesamtkirchlicher Autorität.61 c) 2 Thess als doppelte Pseudepigraphie Wenn für 2 Thess nicht nur eine Autor-, sondern auch eine Adressatenfiktion angenommen wird,62 verändert sich die rezipierte Story weiter: Mit 60

BROER, Einleitung (s. Anm. 4), 475–476. Für die Argumentation vgl. exemplarisch Laub: „Als pseudepigraphischer Brief legt 2 Thess Zeugnis ab für eine Epoche, für die neben der Anonymität die pseudoapostolische Zuschreibung charakteristisches Mittel ist zur Bewahrung und Tradierung der Christusbotschaft. Daß die neutestamentlichen pseudepigraphischen Schriften durchweg apostolische Verfasserschaft beanspruchen, signalisiert in sich schon ein ausgeprägtes Verhältnis zum Ursprung als der Maßgabe für die Gegenwart, eine Denkweise, die für die antike Pseudepigraphie überhaupt charakteristisch ist. Für das Frühchristentum bezieht diese Orientierung am Ursprung als der Norm für die Gegenwart ihre spezifische Intensität aus der Überzeugung, daß das Christusgeschehen, in der Geschichte verifizierbar, letztgültiges eschatologisches Heilshandeln Gottes im Sohn war. So gesehen, gehört Identität und Kontinuität mit dem Ursprung wesensnotwendig zum Selbstverständnis der Kirche. Es war die kirchengeschichtlich unumgängliche Aufgabe der dritten, d.h. der sogenannten nachapostolischen Generation, der auch der Verfasser des 2 Thess angehört, dies erstmals zu reflektieren, und zwar umso intensiver, je mehr man sich vom Ursprung zeitlich entfernte, je länger das Ende ausblieb und je mehr neue Antworten gegeben werden mußten. Ergebnis dieser Reflexion ist die Idee des ‚Apostolischen‘, wie sie u.a. in der Abfassung von ‚Apostelbriefen‘ zum Ausdruck kommt. Auf dem paulinischen Missionsfeld kommt hinzu, daß Paulus mit seiner Praxis der Gemeindebriefe selber anregend im Sinn einer späteren pseudepigraphischen Zuschreibung gewirkt haben mag. So wie der Apostel die Zeit seiner Abwesenheit von den Gemeinden durch Briefe überbrückte und durch sie anwesend sein wollte, so überbrückt die ‚Paulusschule‘ in nachpaulinischer Zeit die immer größer werdende zeitliche Distanz zum Apostel durch fingierte Briefe“, LAUB, Thessalonicherbrief (s. Anm. 46), 41. 61

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paulinischer Autorität werden mit der Parusieverzögerung verbundene Schwierigkeiten behandelt, die in Gemeinden, die in paulinischer Tradition stehen, aufgetaucht sind. Mit dieser Story verändern sich die Forschungsfragen weiter, da der Fokus nun auf die Adressaten gelegt wird. Im Falle des 2 Thess heißt Adressatenfiktion bei der Annahme einer doppelten Pseudepigraphie im exegetischen Diskurs nicht, dass die Adressaten rein fiktiv sind, sondern vielmehr, dass die Adressaten im (näheren oder weiteren) Umfeld der Gemeinde von Thessalonich zu situieren sind. Steht bei der einfachen Pseudepigraphie also die Suche nach dem Autor im Vordergrund, so ist es bei der doppelten Pseudepigraphie die Suche nach den Adressaten. Als exemplarisch für diese Fragestellung lassen sich die Ausführungen bei Broer anführen: „Über die Empfänger des Schreibens lässt sich nichts sagen. Dass es auf direktem Weg nach Thessalonich ging, ist kaum anzunehmen, da man zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt seines Erscheinens dort sicher um den Tod des Apostels gewusst hat und einen weiteren, jetzt erst bekannt werdenden Paulusbrief dort deswegen nicht akzeptiert hätte. Die Adresse hängt also weniger mit der konkreten Empfängergemeinde als mit der starken Anlehnung an den ersten Brief zusammen. Offensichtlich soll die Eschatologie des ersten Briefes durch diesen Brief verdrängt werden, so dass die Vertreter der Nächsterwartung der Parusie mit dem ersten Thessalonicherbrief auch den Apostel als Stütze für ihre Theologie verlieren“.63

Wenig später heißt es: „Da sich der Brief aber direkt gegen den ersten Brief wendet, hat er auch dessen Adressaten im Blick, auch wenn der Brief kaum sofort nach seiner Abfassung nach Thessalonich geschickt, sondern auf andere Weise in den Kreislauf der Paulusbriefe eingeschleust wurde“.64

Die für die Autorfiktion unter b) diskutierte Frage nach der Autorität des Apostels bzw. des Schreibens gilt dabei als beantwortet: „Der autoritative Status von 1Thess ist eine Voraussetzung für die Existenz von 2 Thess, einem in doppelter Weise pseudepigraphischen Text“.65 Was die Lesarten b) und c) verbindet, ist die Frage nach den Personen, die hinter dem Text stehen, sei es auf der Produktions- oder auf der Rezeptionsseite. Dabei muss es nicht darum gehen, eine Paulusschule zu suchen (und zu finden) oder in Kilometern den räumlichen Abstand zwischen 62 In der gesichteten Literatur wird dieser Ansatz von B ROER, MITCHELL, P.-G. MÜLLER (Der erste und zweite Brief an die Thessalonicher [RNT], Regensburg 2001), SCHNELLE, SCHREIBER und THOMPSON vertreten. 63 BROER, Einleitung (s. Anm. 4), 465. Broer setzt 2 Thess in den letzten Jahrzehnten

des ersten Jahrhunderts an (a.a.O., 469). Die Strategie des Kol ist hier sinnvoller gewesen: ein Brief an eine untergegangene Gemeinde lasse sich leichter in eine Sammlung „einschleusen“ (a.a.O., 483). 64 BROER, Einleitung (s. Anm. 4), 465. 65 MITCHELL, Thessalonicherbriefe (s. Anm. 37), 361.

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Thessalonich und dem Ort zu bestimmen, an den sich der 2 Thess gerichtet hat.66 Was bei dieser Lesart bleibt, ist die Annahme, dass es sich um ein konkretes und authentisches Problem handelt, das in diesem Brief bearbeitet wird. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Pragmatik, die dem Text zugeschrieben wird: „Eine christliche Prophetengruppe aus dem Raum der Adressaten selbst (also keine ‚Gegner‘ von außen) reagierte auf das Ausbleiben der Parusie und auf anhaltende gesellschaftliche Marginalisierung mit einer konsequent eschatologischen Interpretation von pln Aussagen über die Naherwartung (1 Thess 4,15.17) und der pln Überzeugung, dass bereits in der Gegenwart die Christen an Gottes endgültiger Rettung teilhaben und entsprechend leben können“.67

Anders als bei der einfachen wird bei der doppelten Pseudepigraphie gewissermaßen das angenommene Wirkungsspektrum der apostolischen Autoritätskonstruktion erweitert: Der Apostel spricht mit Vollmacht nicht mehr nur in die Einzelgemeinde, sondern in einen breiteren Gemeinde(n)raum hinein.68 Exemplarisch für diesen Ansatz lassen sich folgende Ausführungen verstehen: „2 Thess stärkt das Überlieferungsprinzip und gibt dazu einen ‚hermeneutischen Schlüssel‘ an die Hand. Bindende Orientierung an der Lehr-Tradition des Paulus (Terminus: para,dosij/paradosis) wird wichtig für die Identität, die ‚Sinnwelt‘ späterer Generationen in den pln Gemeinden“.69

Eine hermeneutische Schwierigkeit bleibt bei der doppelten Pseudepigraphie freilich: die der Referentialität. Trevor Thompson formuliert dazu „As a document that is neither from the ascribed authors nor to the attributed addressees, any attempt to reconstruct the actual Sitz im Leben for the text faces the interpretive challenge of working with a literary fable“.70

66 Vgl. hierzu Schreiber: „Wir wissen aber, dass die Paulusbriefe sehr bald unter den Gemeinden ausgetauscht wurden (vgl. Kol 4,16). 1 Thess lag also auch an anderen Orten vor. Damit müssen wir wohl auch von einer Adressatenfiktion ausgehen. Sichtbar ist nur der ‚geistige‘ Ort von Verfasser und Adressaten: Sie verstanden sich in pln Tradition und lebten irgendwo im pln Missionsgebiet“, SCHREIBER, Thessalonicherbrief (s. Anm. 46), 446. 67 SCHREIBER, Thessalonicherbrief (s. Anm. 46), 445. 68 Dies ist bei Kol und Eph noch deutlicher: Kol lässt sich relativ leicht als Schreiben für einen weiteren Kreis erkennen, Eph stellt sich (je nach textkritischer Entscheidung) ohnehin als Rundscheiben vor. 69 SCHREIBER, Thessalonicherbrief (s. Anm. 46), 447. 70 T HOMPSON, Genuine (s. Anm. 32), 471.

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d) 2 Thess als pseudepigraphe Brieffiktion Die Annahme, bei 2 Thess handle es sich um eine pseudepigraphe Brieffiktion,71 verändert die rezipierte Story des Briefes noch einmal: Ein unbekannter Autor bearbeitet eine akute eschatologische Problemlage seiner Zeit, indem er die (den Adressaten vermutlich bekannte) Geschichte zwischen Paulus und den Thessalonichern fortschreibt und dabei reflektiert, wie sich die Gemeinde in veränderter Situation und angesichts ‚falscher‘ Briefe verhalten soll. Was ändert sich für die Auslegung des Briefes, wenn man von dieser Story ausgeht? Die Annahme einer Brieffiktion verändert die Referentialität des Schreibens und damit auch die Forschungsfragen: Wenn nicht mehr davon ausgegangen wird, dass einzelne Elemente des Textes Anhaltspunkte in der Wirklichkeit haben, wird nicht (mehr) nach konkreten Personen, Orten oder Ereignissen gesucht, die hinter diesem Text stehen könnten: „Freilich ist das neue Schreiben ein fiktionaler Text, der die vergangene Geschichte in der Perspektive seines Autors aufnimmt, darstellt und fortsetzt. Das aber bedeutet, daß die intendierten Adressaten des zweiten Briefes eine literarisch dargestellte Geschichte wahrnehmen, nämlich die der Kommunikation des ‚Paulus‘ mit der Gemeinde in Thessalonich. Wieweit der Verfasser bei ihnen zusätzlich mündlich oder schriftlich vermittelte Kenntnisse, also flankierende Elemente dieser fiktionalen Geschichte voraussetzt, wissen wir nicht“.72

Vielmehr wird die Ebene der fiktiven Kommunikation als Ganze betrachtet und überlegt, welche Erfahrungen dahinter stehen können und wie sie im Kontext frühchristlicher Identitätsbildung und Vergesellschaftung verortet werden könnten. Es ist die Erfahrung eigener pastoraler Schwierigkeiten, die nach einer Lösung verlangt und die auf eine literarische Ebene projiziert wird: „Der Autor des 2 Thess spricht durch das Medium der Kommunikation des ‚Paulus‘ mit seiner Gemeinde in Thessalonich die Kirche seiner Gegenwart an. Sie soll anhand der Unterweisung, die ‚Paulus‘ einst seiner Gemeinde gab, zur Bewertung und Bearbeitung eigener Probleme befähigt werden“. 73

Diese Vorstellung verschiebt die Textpragmatik ebenfalls vom Autor bzw. der Autorfiktion zur Situation der Adressaten. Nicht mehr die Konstruktion paulinischer Autorität oder ein Ereignis der Vergangenheit (wie die Bedrohung der Gemeinde von Thessalonich durch äußere Irrlehrer oder innere Verwirrung) ist der Hauptreferenzpunkt, sondern die Erfahrung von Verwirrung und Unsicherheit in der eigenen Gemeinde. Diese wird litera71

In der gesichteten Literatur wird dieser Ansatz von REINMUTH vertreten. REINMUTH, Exkurs (s. Anm. 33), 162. 73 REINMUTH, Exkurs (s. Anm. 33), 163. 72

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risiert und historisiert – oder wie Max Frisch sagen würde: sie sucht sich ihre Geschichte. Entsprechend lässt sich für die Textpragmatik des 2 Thess bei dieser Lesart formulieren: „Pseudo-Paulus bearbeitet mit seinem Brief eine beunruhigende Haltung in der Kirche seiner Gegenwart, die aktuelle Verfolgungserfahrungen, eschatologische Ungeduld und eine Aufkündigung des bisherigen Sozialverhaltens miteinander verband. Er setzt die Kommunikation des Paulus mit der Gemeinde in Thessalonich fort, weil er den Zusammenhang dieser Probleme im ersten Brief repräsentiert fand und dessen eschatologische Abschnitte als Belegtexte einer korrekturbedürftigen Naherwartung verstehen konnte. Der unbekannte Autor bediente sich bei seinem Vorgehen einer biblisch und frühjüdisch bezeugten Konvention, die darin bestand, autoritative Texte aktualisierend, modifizierend oder sogar korrigierend weiterzuschreiben“.74

3.2 Der Kolosserbrief Der Kolosserbrief steht in der exegetischen Diskussion im Spannungsfeld ähnlicher Fragestellungen wie der 2. Thessalonicherbrief. In der Kolosserforschung sind Fragen nach dem Autor, den Gegnern und ihrer Philosophie noch immer stärker vertreten als Fragen nach den Adressaten. Die Frage nach der historischen Verortung der Gegner und ihrer Lehre wird für Kol hingegen wesentlich intensiver diskutiert als für 2 Thess. Bei der Autorenfrage ist zu unterscheiden einerseits zwischen der Diskussion, an welchen formalen und theologischen Merkmalen sich die Authentizität bzw. NichtAuthentizität des Schreibens erweist und ob eher Paulus, ein Sekretär, ein Paulusschüler oder ein unabhängiger Theologe die Feder geführt hat – also im weitesten Sinne produktionsorientierten Gesichtspunkten – und andererseits der Diskussion, welche Implikationen ein Pseudepigraphon für die frühchristliche Situation, die hier häufig als frühkirchliche konstruiert wird, im Hinblick auf Kirchenstrukturen und Paulusrezeption hat. Die Diskussionsfelder sind für beide Briefe also durchaus ähnlich. Im Unterschied zum 2 Thess ist die exegetische Diskussion zum Kol jedoch insofern „weiter“ als die Frage der Gegner- bzw. Situationsfiktion auch im Hinblick auf ihre wirkungsgeschichtlichen Implikationen breiter behandelt wird. a) Kol als authentischer Paulusbrief Wenn der Kolosserbrief als authentischer Paulusbrief rezipiert wird,75 lautet die rezipierte Story etwa: Der Kolosserbrief entspringt dem pastoralen und missionarischen Wirken des Paulus und wendet sich angesichts einer konkreten Bedrohung durch historisch im Spannungsfeld paulinischen Wirkens verortbare Gegner an die Gemeinde von Kolossä. Die mit dieser 74

REINMUTH, Exkurs (s. Anm. 33), 165. In der gesichteten Literatur wird diese Position von ACHTEMEIER, B URKETT, MARSHALL/TRAVIS/P AUL, NIEBUHR und KÜMMEL vertreten, z.T. als Sekretärshypothese. 75

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Lesart verbundenen Forschungsfragen beschäftigen sich mit der genaueren Verortung des Briefes im paulinischen Wirken einerseits und mit der Rekonstruktion und historischen Verortung der Gegner andererseits. Dabei wird durchaus diskutiert, dass der Brief stilistisch und theologisch Differenzen zu den Protopaulinen aufweist. Diese Differenzen werden bei dieser Lesart beispielsweise durch die Sekretärshypothese oder die Annahme eines Schulbetriebs erklärt.76 Diese Konstruktion liefert eine Erklärung für die Unterschiede, ohne einen anderen Autor annehmen zu müssen. Der faktuale Charakter des Schreibens und sein Anspruch auf direkte Referentialität bleiben damit gewahrt: „Die Sprachgestalt des Kolosserbriefs macht Paulus als Verfasser unwahrscheinlich, die konkreten Situationsbezüge machen eine pseudepigraphe Entstehung unwahrscheinlich. Ist der Brief also weder paulinisch noch nachpaulinisch? Genau dies scheint die Antwort zu sein, die zumindest am wenigsten unwahrscheinlich ist. Man kann nämlich mit aller Vorsicht vermuten, dass ein Paulus-Mitarbeiter, vielleicht sogar der als Mitabsender genannte Timotheus, der tatsächliche Verfasser des Briefes ist. Das könnte den von Paulus unterscheidbaren Sprachstil ebenso erklären wie die situative Nähe zu ihm. Timotheus hätte in diesem Fall den Brief im Namen des Paulus, aber in eigenen Worten geschrieben und ihm dem Apostel abschließend zur Unterschrift vorgelegt“.77

Dass der Brief so ein authentisches Schreiben bleibt, ist nicht ohne Folgen für die Pragmatik: Die theologischen Verschiebungen, die Kol beispielsweise im Bereich der Ekklesiologie78 und Eschatologie79 aufweist, können auf diesem Weg als paulinisch verstanden werden, was ihnen implizit auch ein größeres Gewicht zuschreibt.

76 Karl Jaroš, dessen Thesen im exegetischen Gespräch eher den Status einer Spezialmeinung einnehmen, geht davon aus, das letztlich alle Paulusbriefe in einer Art Teamarbeit entstanden sind und nicht abschließend geklärt werden kann, an welchen Briefen Paulus stärker selbst schrieb, diktierte oder nur mündliche Vorgaben lieferte, die er seinen Mitarbeitern zur Ausformulierung überließ. Das macht die Verortung aller Briefe im Umfeld des Paulus leicht. „Wenn ich eingangs Paulus in seiner Sprachdynamik mit einem eruptierenden Vulkan verglichen habe, so läßt sich für Eph, Kol, 1 Tim, 2 Tim, Tit und Hebr dieser Vergleich weiter verfolgen: Ihre Autoren verarbeiten eigenständig und mit manch neuem Material bereichert das Denken des Paulus. Die feurige, in die Luft katapultierende Lava ergießt sich nun in mehreren Strömen über das Land, um fruchtbaren Boden zu schaffen“. Für den Kol hält Jaroš als Entstehungsszenario fest: „Kol war vermutlich der erste Brief, den Paulus von seiner ersten römischen Gefangenschaft (60– 62) von einem Mitarbeiter, Sekretär unter Vorgabe seiner Vorstellungen hat schreiben lassen“, K. JAROŠ, Das Neue Testament und seine Autoren. Eine Einführung, Köln 2008, 153.163. 77 NIEBUHR, Grundinformation (s. Anm. 4), 265–266. 78 Vgl. z.B. BROER, Einleitung (s. Anm. 4), 496–497. 79 Vgl. z.B. M. THEOBALD, Der Kolosserbrief, in: Ebner/Schreiber, Einleitung (s. Anm. 4), 436–438.

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Die Frage nach den Gegnern und ihrer Philosophie zieht sich als Forschungsfrage durch, unabhängig, ob der Kol als authentischer Paulusbrief, einfache oder doppelte Pseudepigraphie gelesen wird. Es ist dabei zu beobachten, dass sich die Behandlung der Gegnerfrage im Punkt der Referentialität verändert: während bei einem authentischen Paulusbrief verständlicherweise von einer direkten Referentialität ausgegangen wird,80 gehen die Vertreter der einfachen und doppelten Pseudepigraphie von einer stärkeren Überformung oder Verzerrung der Gegner und ihrer Philosophie aus. Sprich: bei einem authentischen Paulusbrief sind auch die Gegner als klar historische Größe erkennbar, bei einem pseudepigraphen Scheiben können sie auch nach den Bedürfnissen des Schreibanlasses modelliert sein, ohne dass sich dadurch etwas an ihrer faktischen Gegebenheit ändert. Auch dies hat Auswirkungen auf die Textpragmatik: Während bei einem authentischen Paulusbrief ein konkreter historischer Einzelfall rezipiert wird, lässt sich bei einem pseudepigraphen Schreiben leichter von grundsätzlichen Überlegungen in paulinischer Tradition anhand eines konkreten Falles ausgehen. b) Kol als Pseudepigraphie Wenn der Kolosserbrief als pseudepigraphes Schreiben gelesen wird,81 verändert sich die rezipierte Story folgendermaßen: Der Autor des Kolosserbriefs nimmt paulinische Autorität in Anspruch, um seine Position in und anhand einer konkreten Situation, in der die Gemeinde von Irrlehren bedroht ist, zu legitimieren und durchzusetzen. Die veränderte Story führt vor allem im Hinblick auf die Verfasserschaft des Briefes zu veränderten Forschungsfragen und verändert damit auch die Pragmatik: Wenn sich argumentativ erweisen lässt, dass der Kolosserbrief nicht von Paulus

80

Dies muss jedoch nicht in einer naiven Übertragung geschehen. Im Gegenteil sind die Ansätze zum Mirror-Reading seit J. M. G. B ARCLAY, Mirror-Reading a Polemical Letter: Galatians as a Text Case, in: JSNT 31 (1987), 73–93 (insbesondere für die Protopaulinen) mittlerweile hermeneutisch geerdet und stark ausdifferenziert. Vgl. hierzu. N. K. GUPTA, Reading Moral Issues in Paul’s Letters, in: JSNT 34 (2012), 361–381 mit einem kurzen Abriß über die Methode des Mirror-Reading und aktueller Literatur. Zu Versuchen der Lokalisierung der Gegner des Kol und zur Kritik am Mirror-Reading vgl. P. MÜLLER, Gegner im Kolosserbrief. Methodische Überlegungen zu einem schwierigen Kapitel, in: Kraus, Beiträge (s. Anm. 55), 365–394. 81 In der gesichteten Literatur vertreten A. DETTWILER (L'épître aux Colossiens, in: D. Marguerat, Introduction [s. Anm. 4], 265–277), J. GNILKA (Der Kolosserbrief [HThKNT 10], Freiburg 1980), KEE, P ILHOFER, ROLOFF, P OKORNÝ, SCHNELLE, SCHREIBER (Begleiter [s. Anm. 4]) und THEISSEN diesen Ansatz.

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stammt,82 stellt sich die Frage, wer das Schreiben eigentlich verfasst hat und was sich für die Rezeption und die Wirkungsgeschichte des Schreibens ändert, wenn Paulus nicht mehr Paulus ist. Daneben bleibt weiterhin die Frage, in welche Situation der kolossischen Gemeinde83 das Schreiben spricht und wer die Gegner sind.84 Die Suche nach der realen Person (oder den realen Personen), die sich hinter „Paulus“ und „Timotheus“ verbergen, ist mit der Problematik behaftet, dass dadurch die Textgrenze überschritten und die Autoren in die Realität hinein verdoppelt werden. Die Projektion der fiktionalen Autoren in die textexterne Wirklichkeit impliziert Folgehypothesen, die zwar nicht falsch sein müssen, aber auch nicht eindeutig verifiziert werden können. Für die Autorfiktion des Kolosserbriefs bedeutet das: Wenn nicht Paulus selbst geschrieben hat, sondern ein anderer, der sich seinen Namen und seine Autorität geliehen hat, stellt sich die Frage, wer das gewesen sein könnte: ein Sekretär des Paulus oder vielleicht einer seiner Schüler? Diese Vorstellung führt vielleicht zur Annahme einer Paulusschule oder einer anderen hierarchisch strukturierten Organisation der nachpaulinischen Ära.85 Diese Organisationen können dann weiter untersucht werden, um den Autor des Kolosserbriefs deutlicher von denen der anderen Deuteropaulinen absetzen zu können. Dadurch würde das Bild der Paulusschu82 Da die pseudepigraphe Verfasserschaft in der deutschsprachigen Exegese weitgehender Forschungskonsens ist, wird an dieser Stelle darauf verzichtet, die Argumentation nachzuzeichnen. 83 Einen notierenswerten Ansatz hierzu bietet Schierse, wenn er schreibt, die im Brief bekämpfte Irrlehre „scheint bei den vom Erdbeben betroffenen Kolossern auf besonders fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Ihre Merkmale, die auch die eigenartige Christologie des Kolosserbriefs erklären können, sind folgende: Vorausgesetzt ist die in der antiken Welt verbreitete Stimmung der Weltangst, ein Gefühl für die Brüchigkeit kosmischer Ordnungen, das durch Naturkatastrophen bestätigt und genährt wurde“, SCHIERSE , Einleitung (s. Anm. 4), 103. 84 Da die Frage der Re-Konstruktion der Gegner und ihrer Philosophie auch bei der Annahme einer doppelten Pseudepigraphie virulent bleibt, wird diese Frage unter c) eingehender thematisiert. 85 Zur Frage der Schultradition vgl. die Zusammenfassung von Helmut Merkel: „Die Vorstellung von Paulusschülern, die im Namen des Lehrers Briefe verfassten, stammt aus den Anfängen der historisch-kritischen Erforschung des Neuen Testaments. Sie diente zunächst der Erklärung, wieso offenbar nicht von Paulus geschriebene Briefe mit seinem Namen im Kanon stehen. Je nach Geschmack konnte dabei der Schülerbegriff mehr die Nähe zum Lehrer (‚zwar nicht von Paulus selbst, aber doch immerhin von einem seiner Schüler‘) oder eher die Entfernung (‚bloß von einem Schüler und deshalb nicht auf derselben Höhe‘) signalisieren. Je stärker die Exegese zu differenzieren lernte, desto unbrauchbarer erwies sich der Schülerbegriff“, H. MERKEL, Der Lehrer Paulus und seine Schüler. Forschungsgeschichtliche Schlaglichter, in: B. Ego/H. Merkel (Hg.), Religiöses Lernen in der biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung (WUNT 180), Tübingen 2005, 235–250, 250.

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le und der nachpaulinischen Ämtertradition theologisch weiter ausdifferenziert. Die Annahmen laufen Gefahr, dabei zum einen zunehmend spekulativer und dogmatischer zu werden und sich zum anderen immer weiter vom biblischen Text zu entfernen. Unabhängig davon, wer nun wirklich die Feder geführt hat, bleibt bei dieser Lesart die Frage nach der realen Situation und den Gegnern: „Auszugehen ist vom konkreten Anlaß des Schreibens, der Bedrohung der Christen von Kolossä durch eine gefährliche Irrlehre. Was wir über diese erfahren, die Art und Weise der Auseinandersetzung ist so konkret, daß an der Aktualität für Kolossä nicht gezweifelt werden kann. Die Strategie des Schreibens besteht darin, daß die Gemeinde über Epaphras an das gültige und apostolische Evangelium zurückgebunden werden soll, das dieser ihr einst im Auftrag des Paulus verkündet hat“.86

Als Pragmatik gilt also, dass mit paulinischer Autorität in eine spätere Situation hinein gesprochen und aufgrund dieser Autorität eine spätere Fragestellung in einer konkreten Gemeinde gelöst werden soll. Damit sind einerseits das apostolische Verständnis oder Bild des Paulus und andererseits die Verfasstheit der Gemeinde(n) zu diesem Zeitpunkt frühchristlicher Vergesellschaftung thematisiert. Die Frage nach Autorschaft, Paulusbild, urchristlichen Sozialformen und der Pragmatik des Textes hängen stark zusammen. Der Blick in die Sekundärliteratur zeigt, dass auch hier bestimmte Forschungsparadigmen zugrunde liegen, die für die Auslegung der Texte dienstbar gemacht werden: „In nachpaulinischer Zeit setzt verstärkt die Besinnung auf die Anfänge ein. Die Zeit des Ursprungs wird zur Norm, dies ist verknüpft mit der Einsicht dessen, was man dann das Apostolische genannt hat. An der Vergangenheit, die als überlegen empfunden wird, zu partizipieren ist eine auch den Griechen vertraute Vorstellung. Besonderes Gewicht erhält sie im Judentum. […] Nur die Inanspruchnahme der großen Namen der Vergangenheit und die fiktive Rückversetzung in deren Zeit sichert die Autorität dieser Schriften ab“.87

Die Argumentation verdeutlicht, dass die Rückbesinnung auf den – vermeintlichen oder wahren – Ursprung der (paulinischen) Gemeinden mit einem bestimmten Apostelverständnis verknüpft wird, das durch die Zuschreibung des Briefes an Paulus aufgerufen wird. Damit tritt auch die Kategorie der Erinnerung auf den Plan.88 86

GNILKA, Kolosserbrief (s. Anm. 80), 20–21. GNILKA, Kolosserbrief (s. Anm. 80), 25. 88 Vgl. hierzu ROLOFF, Einführung (s. Anm. 4), 202: „Die Erinnerung an Paulus gewinnt im Kolosserbrief – wie in sämtlichen deuteropaulinischen Briefen – an Bedeutung. Geschichte und Wirken des großen Heidenapostels erscheinen als konstitutive Bestandteile jenes Heilsgeschehens, dem sich die heidenchristlichen Gemeinden verdanken, und werden in das Kerygma (die Glauben weckende Heilsbotschaft) integriert“. Zur Diskus87

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In der Forschung der letzten Jahre sind Paulusbild und Paulusrezeption vor allem unter dem Begriff Selbstauslegung in den Diskurs eingegangen:89 „In das Zentrum der Forschung rückte in den letzten Jahren die Frage nach der Paulusrezeption des Kol. Sowohl die Komposition dieses Briefes als auch die inhaltliche Argumentation weisen den Briefschreiber als Kenner paulinischer Theologie und damit als Paulusschüler aus. Dabei kommt der Person des Paulus eine entscheidende Rolle zu, denn sie gehört nun selbst in das zu verkündigende paulinische Evangelium. Der Brief erhebt damit den Anspruch, sowohl an der Person des Apostels als auch an seiner Theologie grundlegend orientiert zu sein. Inhaltlich handelt es sich aber nicht um eine wirkliche Weiterführung der paulinischen Theologie, sondern der Verfasser nimmt vorwiegend Traditionen des hellenistischen Judenchristentums auf und verbindet sie mit der Person des Apostels. Diese ‚Paulinisierung‘ traditionellen Materials soll die Identität des Evangeliums sichern“.90

Unabhängig davon, ob man der Position inhaltlich zustimmt, zeigt sich hier, dass die Deuteropaulinen nicht einfach Traditionen fortschreiben, sondern das Paulusbild, aber auch die paulinische Theologie und die Sozialform der paulinischen Gemeinde jeweils in einer eigenen Form akzentuieren. Das heißt für die Pragmatik der Texte, dass hier nicht einfach mit dem gleichen theologischen Ansatz in eine veränderte Situation hinein gesprochen wird, sondern, dass der theologische Ansatz auf die entsprechende Situation hin angepasst wird und diese veränderte Ausrichtung an einen Ursprung, der als autoritativ eingeführt ist, rückgebunden wird.91

sion der Frage, inwieweit es sich hierbei um Rekonstruktion oder Konstruktion von Erinnerungen mit einer bestimmten Zielsetzung handelt, vgl. HÜBENTHAL, Pseudepigraphie (s. Anm. 17), 78–85. 89 Vgl. hierzu die wegweisende Arbeit von A. MERZ, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe (NTOA 52), Göttingen/Fribourg 2004. 90 SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 4), 342. 91 Auf die damit verbundene generelle Einschätzung der Pseudepigraphie wird hier aus Platzgründen nur kursorisch eingegangen. Eine knappe Zusammenfassung für den Stand der Forschung unter dieser Lektürehinsicht findet sich bei Nicole Frank: „Zum einen gilt der Kolosserbrief nach heutigem Stand der Forschung als ältestes und überliefertes paulinisches Pseudepigraphon; zum anderen scheint er durch die ausgiebige inhaltliche Auseinandersetzung mit einer generischen Philosophia auch gleichsam eine paradigmatische Rekonstruktion der Genese frühchristlicher pseudepigraphischer Schriften zu erlauben: Die Verfasserfiktion erhält ihre Legitimation durch die akute Notwendigkeit, einer kursierenden Irrlehre mit dem Anspruch apostolischer Autorität entgegentreten zu können. Der klassische Disput über Legitimität resp. Illegitimität pseudepigraphischer Verfasserzuschreibung kann somit auf die Ebene der unmittelbaren Bedrohungssituation heruntergebrochen werden, innerhalb derer, zugespitzt formuliert, die Lageeinschätzung ‚Gefahr im Verzug‘ besondere Maßnahmen rechtfertigt“, N. FRANK, Der Kolosserbrief und die „Philosophia“. Pseudepigraphie als Spiegel frühchristlicher Auseinandersetzun-

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c) Kol als doppelte Pseudepigraphie Die Lektüre als doppelte Pseudepigraphie verändert die rezipierte Story des Kolosserbriefs weiter:92 Die Umgangsregeln, die im Kolosserbrief mit der Inanspruchnahme paulinischer Autorität kommuniziert werden, beziehen sich auf die konkrete Situation des Verfassers und die Adressaten erkennen sich selbst und die Gefahr, die ihnen droht, in den Stichworten zu den Gegnern und deren Philosophie. Die Forschungsfragen, die bei dieser Lesart neu aufkommen, sind neben der Verortung der Gegner und ihrer Philosophie einerseits die Frage nach den eigentlichen Adressaten und ihrer konkreten Situation und andererseits die Frage, inwieweit der Brief einen umfassenderen Anspruch hatte, als nur eine Gemeinde zu erreichen. Wenn sich die Ausleger auch einig sind, dass in den Gegnern des Kol eine reale Gruppe mit ihrer Lehre zu erkennen ist, so bleiben diese doch einigermaßen enigmatisch. Die Versuche, diese kolossische Philosophie historisch zu verorten, sind Legion, ohne dass sich ein Konsens gebildet hätte. Auch wenn immer wieder zu lesen ist, dass der Kol eine historischkonkrete Situation skizziere, bleibt die Übertragung schwierig, da bei näherem Hinsehen die Angaben des Briefes – selbst bei vorsichtigem MirrorReading – nicht so genau sind, dass sich eine eindeutige Philosophie rekonstruieren ließe. Dass diese Bedrohung nicht diffus, sondern konkret ist, zeige allein der Begriff von der Kolossischen Philosophie (2,8), der je nach Ausleger eher gnostisch, eher hellenistisch-pagan oder eher judaistischesoterisch, in jedem Fall aber synkretistisch ist. Es bleibt der Eindruck, dass der Versuch einer konkreten historischen Situierung des Briefes mehr Fragen offen lässt als er beantworten kann. Damit wird die grundsätzliche Referentialität aber nicht angefragt: In der Literatur ist in den Rekonstruktionsversuchen zu beobachten, dass bei der Unmöglichkeit „Philosophie“ zu rekonstruieren, von einer materiellen Unmöglichkeit ausgegangen wird. Den meisten Auslegern sind die Angaben des Kolosserbriefs zu fragmentarisch, verzerrt oder diffus, um die Gegnergruppe eindeutig abbilden zu können.93 Dabei wird implizit davon ausgegangen, dass es sich beim Kogen um die Auslegung des paulinischen Erbes, in: Frey u.a., Pseudepigraphie (s. Anm. 3), 411–432, 411. 92 In der gesichteten Literatur vertreten B ROER, EHRMANN, LINDEMANN, T HEOBALD (Kolosserbrief [s. Anm. 78]) und M. W OLTER (Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon [ÖKT.NT 12], Gütersloh 1993) diesen Ansatz. 93 Wie schwer es ist, die generische Lehre und ihre Vertreter angesichts dieser Maskierung ausfindig zu machen, zeigt ein Blick in die exegetische Diskussion, der exemplarisch für die Problemlage ist. Hans Hübner notiert hierzu: „Von der kolossischen ‚Philosophie‘ wissen wir nur durch den Kol. Und dort ist von ihr nur in polemischer Weise die Rede. Hinzu kommt, daß diese aggressiven Aussagen lediglich fragmentarischen Charakter haben. Eine systematische Darstellung der ‚Philosophie‘ wird vom AuctCol nicht geboten. Aus Fragmenten aber, die nicht das Ganze abbilden, läßt sich kein zuverlässiges

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losserbrief um ein faktuales Schreiben handelt, das direkt auf die außertextliche Wirklichkeit verweist. Wenn man von der Fiktionalität des Schreibens her denkt, liegt es näher, von einer hermeneutischen Unmöglichkeit auszugehen und analog zur Autor- und Adressatenfiktion zu argumentieren, dass die Gegner Teil der im Brief vorliegenden fiktiven Paulusnarration sind und sich von daher nicht einfach auf die textexterne Ebene spiegeln lassen. Neben diesen hermeneutischen Erwägungen waren es jedoch vor allem die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der Gegner, die dazu geführt haben, dass die Vorstellung, der Kol bilde mit den Gegnern ein historisch-konkretes Bedrohungsszenario ab, kritisch angefragt werden. Die Problematik, auf die Frage nach den Gegnern keine eindeutige Antwort geben zu können, tangiert auch die Frage nach den „echten“ Adressaten des Briefes, die sich bei einer diffusen Gegnerlage ebenfalls nicht konkret verorten lassen.94 Hier scheint sich eine Sackgasse aufzutun. Ein Ausweg wäre, die Adressatenfiktion noch einmal genauer zu betrachten und zu überlegen, ob sich nicht von der Adresse „Kolossä“ und der im Brief beschriebenen Situation der Adressaten her ein genaueres Bild der eigentlichen Adressaten konstruieren lässt.95 Doch auch hier stößt die Forschung an Grenzen und die Annahme, dass die realen Adressaten hinter Bild gewinnen. Wir müssen also davon ausgehen, daß wir nur Teilinformationen – in welchem Ausmaß auch immer – besitzen, und diese noch in recht verzerrter Überlieferung“, H. HÜBNER, An Philemon. An die Kolosser. An die Epheser (HNT 12), Tübingen 1997, 94. 94 Damit ist eine Schlussfolgerung, wie Broer sie formuliert, vermutlich das Konkreteste, was sich auf der Basis der Fakten sagen lässt: „Dass der Verfasser des Kolosserbriefs ausgerechnet als Adresse die Gemeinde in Kolossä wählt, obwohl diese Gemeinde im übrigen Neuen Testament nicht erwähnt ist, und dass er darin keine Gefährdung seiner fingierten paulinischen Verfasserschaft sieht, ist für uns einigermaßen erstaunlich und wohl nur nachvollziehbar, wenn er den Untergang von Stadt und Gemeinde im Blick hat. Die vom Verfasser angegriffenen theologischen Ansichten dürften in der vom Verfasser eigentlich angezielten Adressatengemeinde ihre Heimat haben. […] Die Gefahr für die Gemeinde geht von Betrügern aus, die durch Vorspiegelung falscher Tatsachen die Gemeinde verunsichern“, BROER, Einleitung (s. Anm. 4), 485. 95 Dass der Brief nicht an die Gemeinde, sondern die Heiligen in Kolossä (1,2) adressiert ist und ferner zum Austausch mit den Laodizäern gemahnt wird (4,13–16), wird als Indiz dafür genommen, dass der Brief sich an Gemeinden im Lykostal gerichtet hat. So vermutet Lindemann Laodicea als eigentliche Adresse des Briefes. Einen anderen Ansatz vertritt Broer, der – ohne die Adressaten zu lokalisieren – für die Wahl der Adressatenfiktion scharfsinnig vermutet: „Allerdings war es vermutlich leichter, einen Brief des Apostels an eine zerstörte Gemeinde in den Kreislauf paulinischer Briefe einzuschleusen als einen Brief an eine noch existierende Gemeinde, von der man annehmen muss, dass sie wusste, dass ihr der Apostel keinen Brief geschrieben hat. Oder sollen wir davon ausgehen, dass die Gemeinden, die in einem Brief als Adressaten genannt wurden, so stolz darauf waren, dass jede Echtheitskritik unterblieb?“, BROER, Einleitung (s. Anm. 4), 483.

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den fiktiven doch wieder klar erkennbar sind, stellt wiederum die Frage nach der Referentialität des Textes.96 Was sich in der Sekundärliteratur hingegen deutlich abzeichnet, ist die Tendenz, dem Brief aufgrund der Adressatenfiktion (1,2; 2,1; 4,13–16) einen größeren Adressatenkreis zuzuschreiben als lediglich eine Einzelgemeinde: „Dass das Schreiben an eine Gemeinde gerichtet ist, die nicht Paulus, sondern sein Mitarbeiter Epaphras gegründet hat, bietet dem realen Autor die Gelegenheit, die fiktiven Adressaten ausdrücklich zur Schar ‚all derer‘ zu erweitern, ‚die mich persönlich nicht kennengelernt haben‘ – was natürlich erst recht für die realen Adressaten des Schreibens der nach-pln Zeit gilt. Der ‚Eigenhändigkeitsvermerk‘ samt Namensunterschrift in 4,18 spricht nicht gegen die Annahme eines Pseudepigraphons, sondern dient im Gegenteil der Authentizitätssimulation bzw. ‚Intensivierung‘ der ‚Gegenwärtigkeit des Apostels in der nachapostolischen Kirche‘. So gewiss es sich dabei um eine gewagte Fälschung handelt, das damit verbundene Interesse der ‚Fortschreibung‘ pln Tradition wird man bei ihrer Beurteilung mitberücksichtigen“.97

Damit ist auch die Frage der Pragmatik angeschnitten. Wie schon unter b) angedeutet, wird auch bei dieser Lesart vor allem die Frage der Weiterentwicklung des Paulusbildes und der paulinischen Theologie für eine spätere Zeit diskutiert. Die Erweiterung des angenommenen Adressatenkreises im Eph, der sich als Rundschreiben zu erkennen gibt,98 ist mit einer Erweiterung des Anspruchs deckungsgleich. Hier wird nicht mehr eine einzelne Situation einer Einzelgemeinde behandelt, sondern die Erfahrung einer konkreten Gefahr für die Gemeinde so versprachlicht, dass sich ein erweiterter Adressatenkreis darin wiederfinden kann. d) Kol als pseudepigraphe Brieffiktion Wenn der Kolosserbrief schließlich als pseudepigraphe Brieffiktion gelesen wird,99 lautet die rezipierte Story etwa: Auf der Folie der Kolosserkorrespondenz greift der Autor exemplarisch das Problem von Neubekehrten 96

So lässt sich für diese Herangehensweise vermutlich nicht mehr sagen, als Theobald formuliert: „Wenn der Autor ‚seinen‘ Paulus die fiktiven Adressaten in Kolossä vor einer gewissen ‚Philosophie‘ warnen lässt, dann darf man davon ausgehen, dass ihm entsprechende Gefahren der eigenen Zeit vor Augen standen. Die wenigen Stichworte (Speise, Trank, Feste, Engelverehrung, Gebote) mussten den Lesern genügen, um darin gegenwärtige Gefahren wiederzuerkennen“, THEOBALD, Kolosserbrief (s. Anm. 78), 433. 97 T HEOBALD, Kolosserbrief (s. Anm. 78), 429. 98 Vgl. M. T HEOBALD, Der Epheserbrief, in: Ebner/Schreiber, Einleitung (s. Anm. 4), 408–424, 417. 99 In der betrachteten Literatur vertreten FRANK, I. M AISCH (Der Brief an die Gemeinde in Kolossä [ThKNT 12], Stuttgart 2003) und A. STANDHARTINGER (Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefes [NT.S 94], Leiden 1999) diesen Ansatz.

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auf, die sich noch nicht vollends in ihre Identität als Christen eingefunden haben und in alte Gewohnheiten zurückzufallen drohen, da sich die Konfrontation mit dem Evangelium noch nicht nachhaltig in ihrer Lebens- und Alltagspraxis abgebildet hat. Die Trennung von realer und fiktiver Kommunikationsebene, die diesem Leseansatz zugrunde liegt, verändert die Forschungsfragen, die an den Kol herangetragen werden, noch einmal deutlich.100 In der Forschungsdiskussion spielt zunächst der Aufweis der Fiktionalität des gesamten Schreibens bzw. die inhaltliche und hermeneutische Herleitung, warum es sinnvoll sein könnte, den Kol als pseudepigraphe Brieffiktion zu lesen, eine Rolle.101 Diese Diskussion wird engagiert und mit guten Argumenten geführt,102 gleichwohl nimmt der Ansatz eher noch eine Außenseiterposition ein. Die Fokussierung auf eine Brieffiktion ändert den Blick auf den Brief auch insofern, als von der Situation der Adressaten her gedacht wird, was auch die Frage nach den Gegnern verändert: „In der aus dem Brief zu erhebenden Situation der ‚Kolosser‘ spiegelt sich die Situation der tatsächlichen Adressaten. Sie ist einerseits durch ‚Ordnung und Festigkeit eures Glaubens‘ (2,5) bestimmt, andererseits durch ihre Beeinflussbarkeit von Seiten der Umwelt. Sie haben sich mit der Welt arrangiert und nehmen auch andere religiöse Angebote wahr. Sie selbst sehen darin keine Absage an ihre Christus-Zugehörigkeit, während der 100 Vgl. hierzu die Notizen von Frank: „Welches (fiktionale) Bild zeichnet der Kolosserbrief im Blick auf seine Selbstverortung innerhalb eines bestimmten situativen Kontextes, der auf textueller Ebene durch die Koordinaten Autor – Adressaten – Gegner vorstrukturiert und definiert wird?“, FRANK, Kolosserbrief (s. Anm. 91), 412. 101 Zur grundsätzlichen Überlegung vgl. STANDHARTINGER, Studien (s. Anm. 98), 181: „Aufgrund des fiktiven Charakters pseudepigrapher Briefe ist daher auch nicht anzunehmen, daß im Kol eine bestimmte reale Oppositionsgruppe beschrieben wird. Sollte überhaupt eine Oppositionsgruppe thematisiert sein, dann in einer der Pseudepigraphie entsprechenden offenen und mehrfach deutbaren Weise“. 102 Zur inhaltlichen Argumentation vgl. FRANK, Kolosserbrief (s. Anm. 91), 415: „Dieselbe sachlogische Rekonstruktion gilt entsprechend auch für die Lokalisierung der ‚Gegner‘ im Kolosserbrief. Kol 2,8.16–23 als Referenz auf eine spezifische Gruppierung im Umfeld der intendierten Adressaten zu werten, würde voraussetzen, dass der pseudepigraphe Autor des Schreibens sich brieflich mit einer häretischen Strömung auseinandersetzt, die zu Lebzeiten Pauli in der Umgebung von Kolossä zu verorten gewesen sein müsste, wenn die Authentizitätsfiktion des Schreibens nicht gebrochen werden sollte, und dabei zugleich eine aktuelle Bedrohungslage abbildet, die zum Zeitpunkt der Briefabfassung eine solche autoritative Stellungnahme erforderlich machte. Gerade angesichts des ebenso disparaten wie stichwortartigen Charakters der in Kol 2,16–23 genannten Elemente der Philosophia erscheint es m.E. deutlich naheliegender, dass auch die Gegnerpolemik demselben universellen Anspruch folgt, wie er oben bereits für die grundsätzliche Ausrichtung des Kol evn panti. tw ko,smw skizziert wurde: Kol 2,6–23 will als allgemeine Handreichung für den Umgang mit abweichenden Lehren und Praktiken rezipiert werden und weist daher bewusst kein spezifisches Referenzprofil im Hinblick auf eine konkrete Gruppierung auf“.

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Autor in dieser Spielart des Christlichen bereits den Keim zum Abfall erkennt und daher klare Alternativen aufbaut: Überlieferung der Menschen oder christliche Überlieferung, Christus oder die Welt. Während die Gläubigen durch religiöse Praktiken und die Beobachtung von Tabuvorschriften eine größere Heilssicherheit erreichen wollen, werden sie durch den Brief auf Christus als das alleinige Fundament des Heils verwiesen“. 103

Auf die Gegnerfrage zurückgespiegelt bedeutet das: Die kolossische Philosophie kann nach einem realen Bild modelliert sein, muss es aber nicht. Sie kann auch um ein Vielfaches bunter sein als ein reales Vorbild. Der Brieffiktion ist das insofern zuträglich, als sich die realen Adressaten in den fiktiven erkennen können, ohne sich mit ihnen identifizieren zu müssen. Die Pragmatik, die damit verbunden ist, ähnelt den Ansätzen, die mit einem authentischen Paulusbrief verbunden werden: „Das vorrangige Interesse des Autors gilt nicht der Bewahrung oder Interpretation paulinischer Theologie, sondern dem eigenen pastoralen Anliegen, das mit Hilfe paulinischer Theologie zur Sprache gebracht wird“.104

Die Perspektive ist hier klar auf der Seite der Adressaten und geht davon aus, dass das Gegnerbild mehr über die Gemeinde als über die Gegner aussagt.105 Auf den Kolosserbrief angewendet hieße das, dass es auch dort nicht um die Gegner an sich geht, sondern die Situation, die für die Kolosser durch die Anforderungen seitens der Gegner entstanden ist. Tatsächlich vereinfacht dies die Lektüre sehr, denn die als mhdei,j (niemand, 2,4.18) und mh, tij (nicht irgendjemand 2,8.16) Eingeführten bleiben recht blass und dienen eher einer Beschreibung der Situation der „Heiligen in Kolossä“. „Paulus“ rechnet nicht mit Gegnern ab, sondern konstruiert vielmehr eine Bedrohungssituation der Adressaten, die sich stufenweise verschärft. Aus der diffusen Warnung, sich nicht verführen zu lassen, werden in wenigen Versen konkrete Gebote (evnta,lmata, 2,22). Welchen theoretischen Hintergrund diese Gebote haben, ob eine jüdische oder pagane Lehre hier Pate stand, ist jedoch nicht klar. Grundsätzlich wird überlegt, ob es sich um eine Störung von außen oder von innen handelt. Soll die bisherige Lehre durch eine neue ersetzt oder „nur“ durch neue Elemente ergänzt werden? Beide Vorschläge gehen davon aus, die „Kolosser“ hätten bereits

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MAISCH, Brief (s. Anm. 98), 23. MAISCH, Brief (s. Anm. 98), 28. 105 Damit ist die Frage danach, wie real die Gegner sind, nicht beantwortet, erscheint aber für die Textpragmatik auch nicht zentral. Schmid formuliert hierzu: „Weder von der Textsorte her noch aufgrund des konstruktivistischen Textmodells ist definitiv zu entscheiden, ob es sich beim Gegnermotiv in 1 Joh um eine Fiktion oder Imagination handelt, die Gegner als eine rein fiktive Größe darstellen, oder ob zumindest eine reale Erfahrungsbasis zugrunde liegt“, SCHMID, Gegner (s. Anm. 38), 56. 104

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eine (zumindest halbwegs) gefestigte christliche Identität.106 Die Adressatenfiktion skizziert jedoch Gläubige, die nicht vom Apostel selbst, sondern in paulinischer Tradition, aus zweiter Hand vom Evangelium gehört haben. Sie haben es angenommen und versuchen nun, ihr Leben am Evangelium auszurichten. Dabei ist die Absicht offenbar größer als der Erfolg. Es handelt sich also nicht um eine Gruppe mit einer gefestigten christlichen Identität, sondern um eine Gruppe im Findungsprozess. Das Problem, mit dem sich der Kolosserbrief beschäftigt, wäre also eine nicht vollständig vollzogene Hinwendung zum Christentum, die mit einer Abwendung von den Strategien zur Lebensbewältigung des Herkunftsmilieus – in diesem Falle vermutlich pagan – einhergehen müsste. Die Aufgabe der Adressaten sähe dann ungefähr so aus: Sie müssen sich als Christen „in einer nicht-christlichen Welt zurechtfinden und lernen, ihre in der Taufe vollzogene Statusänderung in der Realität ihres Alltags umzusetzen“.107 Wie schwer dies für eine Gruppe ist, der die Tradition fehlt und die sich von der Welt – vertreten durch das religiöse und soziale Umfeld, aus dem sie herauswächst – angefragt und verführt fühlt, davon spricht der Kolosserbrief und dafür entwickelt der Autor Strategien. Auf der Metaebene betrachtet, wird der Kolosserbrief damit zu „ein[em] allgemeine[n] Schreiben, das die Probleme vieler Neubekehrter aufgreift und durch Ermahnungen und die Erinnerung an die Taufe einer Lösung zuführen will. Die Adressaten dürften daher unter Christen der ersten Generation zu suchen sein, die durch das allgemeine geistige Klima – geprägt durch pagane Religionen und den kleinasiatischen Synkretismus – in ihrem Glauben verunsichert sind“.108

In diesem Punkt ähneln die „Kolosser“ allen späteren Christengenerationen: Das Evangelium hat sie erreicht und sie haben es angenommen. Nun muss es auch in ihrem Leben und ihrem Alltag ankommen und diesen verändern. Die „Heiligen in Kolossä“ werden dadurch zur Chiffre für alle Christen: Ihr Leben muss sich durch die Konfrontation mit dem Evangelium verändern und diese Veränderung muss sich in ihrem Alltag abbilden. Dieser Prozess wird durch die Verführung durch alternative Identitätsangebote immer wieder gestört. Aus dieser Perspektive ist die Frage nach der kolossischen Philosophie auf eine überraschende, aber dennoch einleuchtende Weise gelöst:109 106 Vgl. MAISCH, Brief (s. Anm. 98), 30–39. Der Autor des Kolosserbriefs ruft seine Adressaten dazu auf, sich ganz auf Christus und das neue Leben in ihm einzulassen und ihr altes Leben mit seinen Ritualen zurückzulassen. 107 MAISCH, Brief (s. Anm. 98), 24. 108 MAISCH, Brief (s. Anm. 98), 23. 109 Vgl. MAISCH, Brief (s. Anm. 98), 30: „Insgesamt will der Autor die tatsächlich angesprochene Gruppe, die sich hinter den ‚Kolossern‘ verbirgt, darin bestärken, das in der Taufe grundgelegte neue Leben ohne Ängste und Aufgeregtheiten, dafür in Dankbarkeit

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„Der Kolosserbrief beansprucht durch seine (pseudonyme) apostolische Autorität eine Richtlinienfunktion in Fragen christlicher Gemeindepraxis. Durch den globalen Adressierungsanspruch wird diese als überindividuell gültige Leitlinie ausgewiesen – und mit demselben Anspruch werden jedwede religiösen Forderungen, die seitens konkurrierender Heilslehren an die Christen herangetragen werden könnten, als gegenstandslos zurückgewiesen“. 110

Bleibt die Frage nach der Erinnerung an Paulus und die Anrufung seiner Autorität durch den Kolosserbrief. Inwieweit trägt das Schreiben zu einem modifizierten Paulusbild bei? Bei der Frage nach der Intention des Autors wird oft gefolgert, über die Wahl des paulinischen Autors sollte dem Text Autorität zugesprochen werden und es ginge beim Kolosserbrief entsprechend um eine autoritätsgestützte Applikation paulinischer Theologie für eine spätere Generation. Die fiktive Selbstauslegung des Apostels hat etwas mit der Bewahrung und Weiterentwicklung des paulinischen Erbes zu tun und ist damit ein Beitrag zur Identitätskonstruktion des Paulus (oder der Erinnerungsfigur „Paulus“). Das ist aber nur die eine Seite: Wenn das Textmedium „Brief“ ernst genommen wird, geht es auch um die Identitätskonstruktion der angesprochenen Adressaten, die auf der Folie der fiktiven Bedrohungssituation entwickelt wird.111 Der empirische Autor würde demnach eine Paulustradition verschriftlichen, die den empirischen Lesern Anhaltspunkte für den Umgang mit ihrer eigenen Situation an die Hand gibt. Der Entwurf der fiktiven kolossischen Situation auf der Figurenebene wird dadurch für die empirischen Leser auf der Ebene des Werkganzen zu einem Spiegel, in dem sie ihre eigene Situation erkennen können. Was er hingegen nicht ist: ein Fenster in die Welt des Paulus hinein. Für die bislang unbeantwortete Frage nach der Intention des Kolosserbriefs und der Wahl des Autorenpseudonyms lassen sich folgende Antwortmöglichkeiten festhalten: Pseudepigraphe Paulusbriefe entstehen nicht aus einem historischen Interesse an der Figur des Autors, sondern wollen in eine gegenwärtige Situation sprechen. Normativität und Autorität sind und Danksagung zu leben. Unterstützung bei diesem Vorhaben erhofft er sich von der Erinnerung an Paulus, dessen Autorität er auf sich überträgt und dessen mühevolle missionarische Existenz er wirkungsvoll als Motivation für die Annahme seiner postbaptismalen Katechese und Paränese einsetzt“. 110 FRANK, Kolosserbrief (s. Anm. 91), 431. 111 Frank formuliert es folgendermaßen: „Mit der Abfassung eines Briefes unter dem Namen des Apostels sucht der Autor des Kolosserbriefes durch den Rückgriff auf die paulinische Überlieferung – als Wurzel der gemeinsamen Glaubenstradition und zugleich als geschichtliche Verankerung der Konstitution als christliche Gemeinschaft – eine identitäts- und orientierungsstiftende Funktion für die Gemeinden der zweiten und dritten Generation einzunehmen“, N. FRANK, Der Kolosserbrief im Kontext des paulinischen Erbes. Eine intertextuelle Studie zur Auslegung und Fortschreibung der Paulustradition (WUNT II/271), Tübingen 2009, 3.

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dabei nicht Voraussetzung, sondern Ziel der Autorfiktion. Die paulinische Pseudepigraphie verfolgt damit eher das Ziel der Sicherung literarischer und apostolischer Kontinuität und ist um die Aktualisierung und Deutung der paulinischen Theologie für spätere Generationen bemüht. Die fiktive Selbstauslegung des Paulus, wie sie im Kolosserbrief stattfindet, ist eine theologische und hermeneutische Leistung, die der Entwicklung und Sicherung eines bestimmten Paulusbildes als Identifikationsmodell dient. Die Inhalte, die der pseudepigraphe Kolosserbrief vermittelt, sind demnach aufs Engste mit der Rezeption der Autorfiktion verknüpft. Aus dem Blickwinkel der Adressatenfiktion wird es durch die Pseudepigraphie möglich, ein Problem in die Vergangenheit zurückzuprojizieren.112 Die schwierige Situation der Gegenwart wird durch einen Brief, der scheinbar vorwegnehmend auf sie Bezug nimmt, leichter zu bewältigen: Auf der vermeintlichen tabula rasa taucht ein Präzedenzfall auf. Oder wie Max Frisch formuliert: „Die Erfahrung will sich lesbar machen. Sie erfindet sich ihren Anlaß. Und daher erfindet sie mit Vorliebe eine Vergangenheit“.113 Im Kolosserbrief geschieht womöglich etwas Analoges: Die aktuelle Situation führt zur Konstruktion einer vergangenen Situation, die ein Modell anbietet, die aktuelle Herausforderung zu bewältigen. Damit würde im Kolosserbrief kein spezielles Ereignis versprachlicht, sondern es wäre eine Erfahrung, die sich lesbar macht.

4. Ergebnisse und Ertrag Wenn man den exegetischen Diskurs zu Kol und 2 Thess nebeneinander legt, zeigt sich, dass es eine Art chronologischer Choreographie der kritischen Anfrage hinsichtlich der Referentialität gibt: Zuerst wird die Frage der Autorfiktion diskutiert, danach die Frage der Adressatenfiktion und ganz zuletzt und zumeist eher zögerlich die Frage der Situationsfiktion,114 112

Zimmermann sieht in diesem Verfahren einen generellen Grundsatz der Pseudepigraphie: „Eine Schrift wurde in eine fingierte Kommunikationssituation gestellt, um somit auf subtile Weise die eigene Situation zu thematisieren. Auch wenn in der Schrift selbst Autor und Adressaten einer ganz anderen geschichtlichen Zeit angehören, wollen die Texte doch eigentlich die Gegenwart der von ihnen intendierten Rezipienten erreichen. Der kommunikative ‚Umweg‘ über eine fingierte geschichtliche Situation soll letztlich zu einer gelungeneren Verständigung führen, die bei einer direkten Auseinandersetzung zu schwierig oder heikel gewesen wäre“, R. ZIMMERMANN, Unecht und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament als theologisches Problem, in: ZNT 12 (2003), 27– 38, 34. 113 FRISCH, Gier (s. Anm. 1), 263. 114 Wobei sich generell abzeichnet, dass den Auslegern die Hinweise auf Missstände/Leiden (2 Thess) und Gegner (Kol) für eine genaue Lokalisierung jeweils zu allge-

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die dem jeweiligen Schreiben gewissermaßen implizit das Label „fiktional“ verleiht. Der Diskurs zum Kol ringt derzeit eher um die fiktionale Situation, während der Diskurs zum 2 Thess eher an der Frage der Autorund Adressatenfiktion steht. Offenbar gibt es hier eine Art Entwicklung: von der Annahme der Autorfiktion über die Adressatenfiktion zur Situationsfiktion. Die Diskussion in der Sekundärliteratur zum Kol zeigt ferner, dass die pseudepigraphe Brieffiktion (d) als heuristische Kategorie eine brauchbare Lesehilfe für die exegetische Diskussion darstellt. Doch das ist nicht der einzige Ertrag. Es zeigt sich ferner, dass die konsequente Anwendung der literaturwissenschaftlichen Kriterien zur Wahrnehmung der zweiten Kommunikationsebene führt, die in theoretischen Entwürfen zur Fiktionalität beschrieben wird. Die literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse ermöglichen es, beide Kommunikationsebenen zu beschreiben, ohne sich im Irrgarten von Dichtung und Wahrheit zu verlaufen: Neben die reale Kommunikationsebene zwischen Autor und Leser/n tritt die fiktive einer inszenierten Kommunikation zwischen fiktiver sendender Figur und fiktiven Adressaten. Beide Ebenen sind insofern miteinander vernetzt, als der Autor über die inszenierte Kommunikation in einen realen Austausch mit seinen Lesern tritt. Der Clou dabei ist, dass die auf der fiktiven Kommunikationsebene versprachlichten Inhalte keine direkte Referentialität auf die Wirklichkeit haben (müssen), sprich: Die im Text genannten Sachverhalte beziehen sich nicht notwendig auf reale Ereignisse und sind nichtsdestoweniger dennoch Teil einer realen, authentischen Kommunikation. Diese Perspektive verändert den hermeneutischen Ausgriff und exegetischen Zugriff auf die Texte: Der Ansatzpunkt sind nicht Ereignisse, die hinter dem Text stehen, sondern Erfahrungen, die sich im pseudepigraphen Brief lesbar machen und auf ihre eigene Art und Weise nicht weniger gleichzeitig wahr und perspektivisch sind als die konkrete Situation, auf die authentische Briefe referieren. Analog dazu, dass die authentischen Paulusbriefe als Gelegenheitsschreiben mit umfassendem Anspruch verstanden werden, lassen sich die Deuteropaulinen als exemplarische Fälle lesen, an denen sich mehr zeigen lässt. Die Erfahrungen, von denen Kol und 2 Thess erzählen, sind offenbar das tägliche Brot frühchristlicher Gemeinden und zeigen die Probleme der Ausbildung und Festigung einer christlichen Identität innerhalb der Gemeinde und in einem nichtchristlichen Umfeld. Enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen sind dabei ebenso Gegenstand der Erfahrung wie die organisatorischen Fragen wachsender und sich weiterentwickelnder Gemeinmein sind. Vgl. hierzu REINMUTH, Exkurs (s. Anm. 33), 165: „Die Erwähnung der Leiden ist nicht auf eine begrenzte, konkrete Situation in Thessalonich einzuschränken, sondern vom Verfasser offenbar als gültiges Merkmal kirchlicher Existenz seiner Gegenwart verstanden worden“.

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den. Die Inkulturation der frohen Botschaft hat sich zum Problem differierender Meinungen zu theologischen Fragestellungen (wie der Eschatologie), aber auch der konkreten Lebenspraxis zu verhalten und Lösungswege auszuhandeln. Sie macht sich in den betrachteten Deuteropaulinen in einer Geschichte lesbar, in der Paulus, eine Figur der gemeinsamen Geschichte, scheinbar ganz ähnliche Probleme hatte und Lösungsstrategien erdachte und anbot. Diese Lösungsstrategien müssen dabei nicht wirklich aus der paulinischen Ära oder der Vergangenheit überhaupt stammen. Wenn man Max Frischs from impulse to imagination ernst nimmt, haben eher zeitgenössische Ideen ihre mögliche Tradition und Geschichte gefunden. Für die Pragmatik der Texte heißt das, dass die Briefe sowohl als Folien für die Bearbeitung analoger eigener Erfahrungen also auch als Ausgangspunkt für eigene Identitätskonstruktionen auf der Basis der Geschichte des Apostels mit seiner Gemeinde gelesen und genutzt werden können. Damit ist nicht gesagt, dass dies bei der Annahme authentischer oder pseudepigrapher Paulusbriefe nicht der Fall wäre. Mir scheint lediglich, dass bei der Annahme einer pseudepigraphen Brieffiktion, die einerseits den Anspruch hat, sich an einen größeren Adressatenkreis zu richten und andererseits eigene Erfahrungen auf der Basis der Reflexion eines paulinischen Ursprungs tut (also anzeigt, welcher Norm sie sich unterstellt), dieses Ziel leichter erreicht wird. Die Frage der Referentialität bleibt auch bei einer klareren Skalierung von Fiktionalität heikel. Ob und wie der jeweilige Verzerrungskoeffizient aufgelöst werden kann, bleibt im Dunkeln, so lange es keine weiteren Zeugnisse gibt. Das schließt Fragen und Forschung in diesem Punkt nicht aus, doch ist immer zu beachten, dass das Überschreiten der Textgrenze – beim Schluss von der Ebene der erzählerischen Vermittlung auf die Ebene der realen Kommunikation – hypothetisch bleibt. Für die konkrete exegetische Arbeit heißt das, dass zunächst die fiktive Kommunikationsebene zu beschreiben ist, bevor Überlegungen angestellt werden können, welche Erfahrungen sich hier lesbar machen, wo sie möglicherweise auf der Landkarte frühchristlicher Vergesellschaftung zu verorten sein könnten und welche theologischen Impulse sie für die Leserinnen und Leser ihrer Zeit, aber auch für das Selbst-Verstehen heutiger Rezipientinnen und Rezipienten vor dem Text bieten. Die ersten tastenden Schritte in diese Richtung, die in diesem Beitrag unternommen wurden, lassen vermuten, dass es ein spannendes Forschungsfeld ist, pseudepigraphe Texte als fiktionale Texte noch einmal neu zu lesen.

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Abstract The literary taxonomy of factuality, fictionality and fictivity seems to have received inadequate recognition in Biblical studies with regard to its hermeneutical distinction. This contribution sets out to verify this impression. Initially, an overview of recent literary discussion on the topic is presented and compared with the state of discussion in Biblical studies. Subsequently, Colossians and 2 Thessalonians, two New Testament writings from the notoriously difficult interpretative field of the deuteropauline or pseudepigraphical writings, are introduced as examples. The key research question posed is how the reading of those two epistles changes and what interpretative opportunities arise if they are read according to the criteria of the literary theory of fictionality.

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Back to the Future Aspekte der Pseudepigraphie des Titusbriefes und ihre Bedeutung* Peter-Ben Smit

0. Einführung Thema dieses Beitrags ist die kybernetische Funktion der doppelten Pseudepigraphie1 im Titusbrief (hinsichtlich seines Verfassers und seiner Adressaten) als Instrument zur Gestaltung der Zukunft der von seinem (realen, historischen) Verfasser angesprochenen Gemeinde durch Fingierung eines

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Mit Dank an Prof. Dr. em. Urs von Arx, Liebefeld, für umfangreiche Literaturhinweise. Vortragscharakter und -länge des Textes wurden weitgehend beibehalten. Der Herausgeberin und den Herausgebern sei Dank für die sorgfältige Betreuung des Manuskriptes. 1 Es wird hierbei von dem Forschungsstand zur Pseudepigraphie ausgegangen, dessen Entstehen z.B. E.-M. B ECKER, Von Paulus zu „Paulus“. Paulinische PseudepigraphieForschung als literaturgeschichtliche Aufgabe, in: J. Frey u.a. (Hg.), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen (WUNT 246), Tübingen 2009, 363–386, bes. 363–376, wiedergibt. Für weitere Überblicke zur Thematik vgl. in demselben Band: D. E. A UNE, Reconceptualizing the Phenomenon of Ancient Pseudepigrapha. An Epilogue, 789–824, bes. 789–794; J. H ERZER, Fiktion oder Täuschung? Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe, in: Frey u.a. (Hg.), Pseudepigraphie, 489–536; W. SCHENK, Die Briefe an Timotheus I und II und an Titus (Pastoralbriefe) in der neueren Forschung (1945–1985), in: ARNW II 25/4 (1987), 3404–3438; J. R OLOFF, Art. Pastoralbriefe, in: TRE 26 (1996), 50–68; M. H ARDING, What Are They Saying About the Pastoral Epistles, New York 2001; R. F. C OLLINS, Art. Pastoralbriefe, in: RGG 4 6 (2003), 988–991. Zur gegenwärtigen Kritik zur Einordnung der Pastoralbriefe als pseudepigraphische Texte, vgl. z.B. J. H ERZER, Abschied vom Konsens? Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als Herausforderung an die neutestamentliche Wissenschaft, in: ThLZ 129 (2004), 1267–1282; M. G OURGUES, Étude critique: La recherche sur les pastorales à un tournant?, in: Science et Esprit 61 (2009) 73–86. Zur Forschungsgeschichte von Pseudepigraphie und Neues Testament im Allgemeinen vgl. den ausführlichen Überblick von M. JANSSEN, Unter falschem Namen. Eine kritische Forschungsbilanz frühchristlicher Pseudepigraphie (ARGU 14), Frankfurt a.M. 2003.

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zur Abfassungszeit des Briefes noch nicht überall und in jeder Hinsicht existierenden2 Kirchenbildes.3 Als ‚fiktional‘ wird in diesem Beitrag eine literarische Darstellungsform bezeichnet, die ‚fiktive‘ Inhalte produziert bzw. beschreibt; d.h. ein Text, der eine fiktive Welt präsentiert, ist fiktional. Davon unbenommen ist jedoch, dass auch ein solcher fiktionaler Text – wie Tit – Bestandteil einer realen Kommunikation zwischen einem realen bzw. faktischen Sender und einem realen bzw. faktischen Empfänger ist. Die Fiktion wird als kommunikatives Mittel eingesetzt, um auf der Ebene des Faktischen – des Historischen – etwas zu bewirken. Im Folgenden soll es zunächst um die Einordnung und Bewertung des als pseudepigraphisch, d.h. fiktional verstandenen Titusbriefes im Rahmen antiker Auffassungen und Konventionen zur Pseudepigraphie gehen. Unverzichtbar ist dabei die Berücksichtigung der griechisch-römischen Konventionen zur Autoren- und Adressatenfiktion.4 Da es zu weit führen wür2

Wenigstens die Tatsache, dass „Titus“ den Auftrag erhält, auf Kreta Ordnung zu schaffen, zeigt, dass wenigstens dort die vom „Paulus“ des Titusbriefes gewünschte Ordnung noch nicht existierte. 3 Analog könnten freilich auch die zwei anderen Pastoralbriefe in die Untersuchung einbezogen werden, aber die Infragestellung des Corpus Pastorale als solches und der zur Verfügung stehende Platz legen es nahe, sich nur auf den Titusbrief zu konzentrieren. Vgl. dazu: H ERZER, Fiktion (s. Anm. 2), bes. 528–529, und G. H ÄFNER, Das Corpus Pastorale als literarisches Konstrukt, in: ThQ 187 (2007), 258–273, sowie W. A. R ICHARDS, Difference and Distance in Post-Pauline Christianity. An Epistolary Analysis of the Pastorals (Studies in Biblical Literature 44), Frankfurt a.M. 2002. Für die These, dass die Pastoralbriefe als ein mehr oder weniger zusammenhängendes „corpus“ geschrieben worden sind, vgl. aber P. T RUMMER, Corpus Paulinum – Corpus Pastorale. Zur Ortung der Paulustradition in den Pastoralbriefen, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften (QD 89), Freiburg 1981, 122–145, wie auch M. W OLTER, Die Pastoralbriefe als Paulustradition, FRLANT 146, Göttingen 1988, 17–22. – Für ein Beispiel einer „harmonisierenden“ Exegese, die die Theologie der authentischen Paulusbriefe und die der Past miteinander verbindet, vgl. den Kommentar von G. W. K NIGHT, The Pastoral Epistles (NICGT), Grand Rapids 1992. Für eine ähnliche Stoßrichtung vgl. den Kommentar P. H. T OWNER, The Letters to Timothy and Titus, NICNT, Grand Rapids 2006, der nach einer längeren Diskussion seine Position folgendermaßen beschreibt: „Given the complex nature of the authorship process that gave us the Pauline corpus, there is nothing to be gained by insisting on a particular theory of composition for the three letters to coworkers. The view of this commentary is that, just as with the remainder of the Pauline letters, Paul is the author of these three letters however much or little others contributed to their messages and composition“ (a.a.O., 88). 4 Bei der Bewertung neutestamentlicher Pseudepigraphie spielen nicht selten moralische Bedenken schnell eine große Rolle. Die verschiedenen Lösungsversuche, die oftmals etwas vorschnell versuchen, Pseudepigraphie (theologisch und/oder moralisch) zu legitimieren, haben insgesamt die Tendenz, Spielarten der Auffassung „der Zweck heiligt die Mittel“ zu sein. Für einen kritischen Rundgang vgl. M. FRENSCHKOWSKI, Pseudepigraphie und Paulusschule. Gedanken zur Verfasserschaft der Deuteropaulinen, insbeson-

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de, dabei sämtliche Aspekte des Briefes zu behandeln, dient die Ämterfrage hierfür als besonders relevantes Fallbeispiel für die Kybernetik des Schreibens. Folgende Schritte sollen unternommen werden: Zunächst wird eine Typologie von Beweggründen für Pseudepigraphie in der Antike dargelegt (1.). Sodann wird das Profil von Tit skizziert (2.). Anhand der Ergebnisse aus diesen beiden Schritten wird der Versuch unternommen, die Pseudepigraphie von Tit auf der Landkarte antiker Pseudepigraphie zu verorten (3.). Anhand der Ämterfrage werden schließlich Überlegungen zur Problematik der Bewertung und genauen Einschätzung der Pseudepigraphie präsentiert (4.). Als Schlusskapitel werden aufgrund der vorhergehenden Überlegungen Thesen zur Pseudepigraphie von Tit und dem Charakter des Briefes als Ganzem formuliert (5.). Bei all diesen Schritten werden vor allem Aspekte der Autorenintention im Vordergrund stehen, sofern diese rekonstruierbar sind. Die Erwartungen der Rezipienten – dabei soll es sich immer um die Erstrezipienten handeln5 – spielen in diesem Beitrag eine untergeordnete Rolle; sie scheinen mir noch schwieriger rekonstruierbar zu sein als die Autorenintention, da über die fiktiven Adressaten hinaus noch Aussagen über die historischen Adressaten getroffen werden müssten.

dere der Pastoralbriefe, in: F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtlicher Aspekte (BZNW 106), Berlin 2001, 239–272, bes. 239– 258. Vgl. hier weiter R. Z IMMERMANN, Unecht – und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament als theologisches Problem, in: ZNT 12 (2003), 27–38, der existentielle Wahrheit als Kriterium für die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes biblischer Schriften einführt, sowie die kritische Auseinandersetzung bei G. L ÜDEMANN, Die Intoleranz des Evangeliums. Erläutert an ausgewählten Schriften des Neuen Testaments, Springe 2004, 255–266. – Bei der gesamten Diskussion ist allerdings der Umstand mit zu berücksichtigen, dass Imagination und Fiktion für die Weiterentwicklung einer jeden Tradition unverzichtbar sind, auch wenn diese im Zeichen des Fortschreibens des Althergebrachten steht. Vgl. hierzu die einschlägigen Überlegungen von D. B ROWN, Tradition and Imagination: Revelation and Change, Oxford 1999. 5 Bei pseudepigraphischen Schriften ist dies noch wichtiger als bei „authentischen“ Schriften oder bei Schriften, die erst in der Rezeptionsgeschichte einem bestimmten Autor zugeschrieben wurden, wie z.B. die Evangelien oder der Hebräerbrief. – Die faktische Rezeption und Autorität des Titusbriefes durch seine Kanonisierung ist hingegen – obwohl dies ein Argument für die heutige theologische Autorität der Schrift darstellt – wenig aussagekräftig für die „Qualität“ ihrer Pseudepigraphie. Zur Rezeption der Past vgl. J. T WOMEY, The Pastoral Epistles Through the Centuries, Malden 2009.

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1. Mögliche Beweggründe für Pseudepigraphie in der Antike Für das Entstehen von pseudepigraphischen Schriften gibt es in der Antike verschiedene Gründe. Sie sind u.a. von Rose und Parsons6 sowie von Janßen7 übersichtlich zusammengestellt worden.8 Die wichtigsten sind: − Irrtümlich falsche Verfasserangabe9 − Rhetorische und ästhetisch-fiktionale Pseudepigraphie (z.B. Prosopopoiie)10 − Pseudepigraphie im Rahmen von Editions- und Fortschreibungsprozessen11 − Pseudepigraphie als Spielart literarischer Anonymität12

6 Vgl. die bei H. R. R OSE/P. J. PARSONS, Art. Pseudepigraphic Literature, in: Oxford Classical Dictionary, Oxford 2003, 1270, zusammengestellten Gründe: a) die Tendenz, anonyme Schriften einem berühmten Autor zuzuschreiben; b) die Tendenz, Schriften von Schülern dem Meister zuzuschreiben („Schultradition“); c) rhetorische Übungen, die den Stil einer bekannten Person nachahmen, werden später irrtümlich für authentisch gehalten; d) die bewusste Erstellung von Fälschungen aus pekuniären Gründen; e) verschiedene mechanische Fehler beim Kopieren von Texten; f) die nachträgliche Erstellung von „alten“ Beweisschriften für eine bestimmte Lehre oder Ansicht. 7 Vgl. JANSSEN, (Selbst-)Aussagen (s. Anm. 2), 125–179. 8 Für weitere Überblicke vgl. W. SPEYER, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum. Ein Versuch ihrer Deutung, HAW I/2, München 1971; M. H ENGEL, Anonymität, Pseudepigraphie und „literarische Fälschung“ in der jüdischhellenistischen Literatur, in: ders., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I (WUNT 90), Tübingen 1996, 196–251, der einen ausführlichen Überblick bietet und die Einordnung eines pseudepigraphisch schreibenden Autors in seiner Gemeinschaft und Tradition betont; D. G. M EADE, Pseudonymity and the Canon. An Investigation into the Relationship of Authorship and Authority in Jewish and Earliest Christian Tradition (WUNT 39), Tübingen 1986; A. D. B AUM, Pseudepigraphie und literarische Fälschung im frühen Christentum. Mit ausgewählten Quellentexten samt deutscher Übersetzung (WUNT II/138), Tübingen 2001. 9 Vgl. JANSSEN, (Selbst-)Aussagen (s. Anm. 2), 127–130. Als Beispiel wäre auf die frühchristliche Diskussion über die Verfasserschaft der Johannesapokalypse hinzuweisen, vgl. z.B. bei Eus, HistEccl 7,25,1–27 (der Grund für eine irrtümliche Verfasserangabe wäre in diesem Fall Homonymität). Ein weiteres Beispiel wäre die Diskussion über die Verfasserschaft des Judasbriefes, so z.B. bei Tertullian, De cultu feminarum 1,3. Für weitere Beispiele vgl. Janßen, ebd. 10 Vgl. JANSSEN, (Selbst-)Aussagen (s. Anm. 2), 131–135. Ein Beispiel wäre die pseudepigraphische Verfasserschaft Ovids zum Heroidenbrief, die er selber bekannt gibt in Ars amatoria 3,339ff. Es handelt sich hier um „Pseudgymnie“. Vgl. auch die weiteren Beispiele bei Janßen, ebd. 11 Vgl. JANSSEN, (Selbst-)Aussagen (s. Anm. 2), 135–137. Ein Beispiel wäre das Corpus Hermeticum, weitere Beispiele sind bei Janßen, ebd., zu finden. 12 Vgl. JANSSEN, (Selbst-)Aussagen (s. Anm. 2), 137–147. Ein Beispiel sind die Briefe Ciceros an Atticus, worin der Grund der Pseudepigraphie Schutz für kaiserliche Verfol-

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− Pseudepigraphie als Auftragsarbeit13 − Pseudepigraphie im Spannungsfeld von finanziellen Interessen und Bibliophilie14 − Falsche Verfasserangaben aus strategisch-polemischen Beweggründen15 − Pseudepigraphie im Kontext antiker Schulen16 − Wirkungswille als Motivation zur Pseudepigraphie17 Auch in der Antike wurden nun allerdings nicht alle Formen bzw. Motivationen für Pseudepigraphie gleichermaßen gutgeheißen oder abgelehnt.18 Eine irrtümliche Autorenzuschreibung konnte auftreten (und auch wieder korrigiert werden). Auch solange der pseudepigraphische Charakter eines Textes für beide Seiten klar war, konnte von einer akzeptierten rhetorischen Technik gesprochen werden. Literarische Anonymität, die aus strategischen Überlegungen gelegentlich angesagt war (z.B. zum politischen Schutz eines oder beider Korrespondenten), wurde ebenfalls nicht als anrüchig bewertet. Pseudepigraphie bei Auftragsarbeit, zur Unterminierung der Position anderer oder aus finanziellem Interesse wurde hingegen in der Regel als moralisch problematisch eingestuft. Wenn Pseudepigraphie im Rahmen einer ‚Fortschreibung‘ des Werkes einer anderen Person auftrat (etwa im Kontext einer Schule, eines Editionsprozesses oder im Interesse einer gesteigerten Wirkung der eigenen Aussagen), befand sie sich gewissermaßen in einer moralischen Grauzone. In diesen Fällen konnte die moralische Bewertung unterschiedlich ausfallen, je nach Qualität der Pseudepigraphie oder auch ihrer Durchschaubarkeit für die Rezipienten.

gung wegen der in diesen Briefen enthaltenen Herrscherkritik war. Vgl. Janßen, ebd., für weitere Beispiele. 13 Vgl. JANSSEN, (Selbst-)Aussagen (s. Anm. 2), 147–151. Sekretärsarbeiten sind ein Beispiel, z.B. Cic, Att 3,15,8; 11,3,3, aber auch Auftragsgedichte unter dem Namen des Auftraggebers, z.B. Martial, Epigrammata, 2,20. Vgl. JANSSEN, ebd., für weitere Beispiele. 14 Vgl. JANSSEN, (Selbst-)Aussagen (s. Anm. 2), 151–155; als Beispiel etwa Galen, In Hippocratis de natura hominis commentarius 2 pr. Vgl. JANSSEN, ebd., für weitere Beispiele. Die Erstellung von Buchsammlungen, z.B. durch einen Herrscher, lieferte u.U. einen besonderen Anreiz für Fälscher. 15 Vgl. JANSSEN, (Selbst-)Aussagen (s. Anm. 2), 156–158; z.B. bei Philostrat, VitAp 7,35; Apuleius, Apol 87,2–5. Weitere Beispiele bei Janßen, ebd. 16 Vgl. JANSSEN, (Selbst-)Aussagen (s. Anm. 2), 159–163; z.B. Jambl, VitPyth 158.198; Sen, Ep 33,4. Weitere Beispiele bei JANSSEN, ebd. 17 Vgl. JANSSEN, (Selbst-)Aussagen (s. Anm. 2), 163–173. Ein bekanntes Bespiel erwähnt Tertullian, Bapt 17,5, vgl. aber bspw. auch Cic, Cato 1,3. Weitere Beispiele bei JANSSEN, ebd. 18 Dies stellt eine Differenzierung des (theologischen) Urteils von Baum, Pseudepigraphie (s. Anm. 8), dar, der das Phänomen der Pseudepigraphie insgesamt moralisch viel kritischer bewertet.

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Wie nun Tit im Kontext dieser unterschiedlichen Rezeptionsmöglichkeiten bzw. Bewertungen von Pseudepigraphie einzuordnen ist, lässt sich nicht auf den ersten Blick sagen. Da der Brief selbst weder direkte Angaben zur Aufschlüsselung seines eigenen fiktionalen Charakters macht, noch eruierbar ist, ob die Pseudepigraphie für die Erstempfänger und Erstempfängerinnen zu durchschauen war oder nicht,19 ist es methodisch naheliegend, sich anhand des Briefinhaltes zu überlegen, welche der soeben skizzierten Beweggründe die Pseudepigraphie in Tit motiviert hat.

2. Das Profil des Titusbriefes Das theologische und kybernetische Profil von Tit erschließt sich in erster Linie durch eine Lektüre, die versucht, den Brief ‚an sich‘ zu lesen und zu verstehen, von ausführlichen Rekursen auf die authentischen Paulusbriefe im Sinne einer Suche nach Kontinuität oder Diskontinuität jedoch zunächst absieht.20 Das Briefprofil mag dadurch zwar mit weniger Tiefenschärfe darstellbar sein als bei Betrachtung im unmittelbaren Abgleich mit den authentischen Paulusbriefen, doch wird so eine stärkere Konzentration auf die Aussagen in Tit als solchem ermöglicht. Dies gilt ungeachtet dessen, dass auch eine solche Lektüre natürlich nicht isoliert stattfindet: Einzelaspekte in Tit mögen deswegen auffallen, weil sie in anderen Briefen nicht in der gleichen Art und Weise belegt sind. Als für Tit spezifische Merkmale sind aufzuzeigen:21 − Die Rückbindung an das frühere Wirken des Paulus und die Betonung der Beziehung zwischen ihm und Titus:22 Titus wird als eine Figur vor19

Das Genre des Privatbriefes ist für pseudepigraphische Zwecke auf der Hand liegend. Wenn diese ursprünglich ‚offen‘, d.h. den Adressaten bekannt, war, dürfte in der Ausdruck o` avyeudh.j qeo,j in Tit 1,2 ein verhüllter Hinweis gewesen sein (abgesehen vom wohl auch intendierten Kontrast mit den Einwohnern Kretas, vgl. Tit 1,12). 20 Vgl. die Vorgehensweise von T OWNER, The Letters to Timothy and Titus, (s. Anm. 4), 1–3. Für einen Überblick über den Forschungsstand zum Verhältnis der Past zu den authentischen Paulusbriefen vgl. G. L OHFINK, Paulinische Theologie in der Rezeption der Pastoralbriefe, in: Kertelge (Hg.), Paulus (s. Anm. 4), 70–121, vgl. besonders auch die knappen Überlegungen von L. O BERLINNER, Gemeindeordnung und rechte Lehre. Zur Fortschreibung der paulinischen Ekklesiologie in den Pastoralbriefen, in: ThQ 187 (2007), 295–308. 21 Vgl. auch den Überblick von: J. W. A AGESON, Paul, the Pastoral Epistles, and the Early Church, Library of Pauline Studies, Peabody 2008, 46–56. 22 Dies gilt, obwohl die Situation des Briefverfassers, d.h. des „Paulus“, im Brief eine relativ geringe Rolle spielt. Über seine gegenwärtige Lage wird nichts gesagt (anders als in 1 Tim), es werden aber einige Epitheta verwendet, um ihn zu charakterisieren (1,1–4), Titus erscheint als sein „wahrer Sohn“ (1,4), am Briefende befinden sich einige Notizen über weitere Weggefährten (3,12–14) sowie Grüße (3,15). Vgl. zu diesem Umstand, bes.

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gestellt, die schon seit längerer Zeit mit Paulus assoziiert ist; Paulus nennt das Zurücklassen des Titus auf Kreta; er wird als Paulus’ ‚wahrer Sohn‘ bezeichnet (vgl. Tit 1,4–5). − Eine klare Ausrichtung auf die Organisation der Kirche auf Kreta,23 und zwar sowohl in internen Belangen (in Bezug auf Ämter und einen Verhaltenskodex)24 als auch in externen (in Bezug auf das Verhältnis zur Obrigkeit; vgl. Tit 1,5, aber auch 1,5–16; 2,1–10; 3,1f.10f.).25 − Die Bindung an „die gesunde Lehre“ (1,9), die Ausgangspunkt für Titus’ Belehrung der Gemeinde sein soll (1,10–15; 2,1.7, vgl. ebenfalls 2,2– 15).26 Diese „gesunde Lehre“ hat vermutlich mit Fragen der Reinheitstorah und möglicherweise mit ‚gnostischer‘ Spekulation (3,9) zu tun;27 sie selbst ist soteriologisch und christologisch begründet (vgl. 2,11–15 und 3,4–7).28 Die Lehre wird bei Titus als bekannt vorausgesetzt und hat einen gefestigten Charakter (1,9; 2,1.7; vgl. auch 15; 3,1.8).

im Vergleich zu 2Tim, J. SCHRÖTER, Kirche im Anschluss an Paulus. Aspekte der Paulusrezeption in der Apostelgeschichte und in den Pastoralbriefen, in: ZNW 98 (2007), 77–104, 87. 23 Vgl. F. M. Y OUNG, The Theology of the Pastoral Epistles, Cambridge 1994, 97– 121, vgl. auch die knappen Bemerkungen von I. H. M ARSHALL, The Pastoral Epistles (ICC), Edinburgh 1999, 145, sowie den Kommentar von N. B ROX, Die Pastoralbriefe (RNT 7.2), Regensburg 51989, der den ganzen Titusbrief im Zeichen der Gemeindeordnung liest, und dies wohl zu Recht. 24 Vgl. Y OUNG, Theology (s. Anm. 24), 24–39; sowie M ARSHALL, Epistles (s. Anm. 24), 145–181.230–298; W. D. M OUNCE, Pastoral Epistles (WBC 46), Waco 2000, 384– 393.405–419; L. O BERLINNER, Kommentar zum Titusbrief, Die Pastoralbriefe, Folge 3 (HThKNT XI/2.3), Freiburg 1996, 16–31.74–101.101–125.180–193; J. D. Q UINN, The Letter to Titus. A New Translation with Introduction and Commentary, AnchB 35B, New York 2001, 76–97.116–150. 25 Vgl. Y OUNG, Theology (s. Anm. 24), 39–46; M ARSHALL, Epistles (s. Anm. 24), 298–339; M OUNCE, Epistles (s. Anm. 25), 434–455; O BERLINNER, Titusbrief (s. Anm. 25), 160–180. 26 Vgl. Y OUNG, Theology (s. Anm. 24), 74–96; M ARSHALL, Epistles (s. Anm. 24), 191–213; M OUNCE, Epistles (s. Anm. 25), 419–434; O BERLINNER, Titusbrief (s. Anm. 25), 125–159; Q UINN, Titus (s. Anm. 25), 97–116.233–253. 27 Vgl. J. H ERZER, Juden – Christen – Gnostiker. Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe, BThZ 25 (2008), 143–168; E. SCHLARB, Die gesunde Lehre. Häresie und Wahrheit im Spiegel der Pastoralbriefe (MThSt 28), Marburg 1990; T. SÖDING, Mysterium fidei. Zur Auseinandersetzung mit der „Gnosis“ in den Pastoralbriefen, in: Communio 26 (1997), 502–524; L. K. PIETERSEN, The Polemic of the Pastorals. A Sociological Examination of the Development of Pauline Christianity (JSNTSup 264), London 2004; wie auch O BERLINNER, Titusbrief (s. Anm. 25), 52–73. 28 Zur Funktion der Christologie vgl. V. H ASLER, Epiphanie und Christologie in den Pastoralbriefen, in: ThZ 33 (1977), 193–209; O BERLINNER, Titusbrief (s. Anm. 25), 143– 159; K. L ÄGER, Die Christologie der Pastoralbriefe (HThSt 12), Münster 1995; A. Y. L AU, Manifest in Flesh. The Epiphany Christology of the Pastoral Epistles (WUNT

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Folgt man diesen Aspekten als für Tit charakteristisch, erweisen sich manche Elemente der ‚paulinischen‘ Lehre als traditionell und wohl auch der frühchristlichen Gemeinde bereits bekannt, wie z.B. ein Teil der Haustafelethik; andere Elemente seiner Lehre hingegen sind deutlich innovativ. Nebst der Bekämpfung von ‚Irrlehren‘ möglicherweise gnostischen Profils, die in früheren christlichen Generationen nicht so prominent gewesen sein dürften, handelt es sich dabei v.a. um Innovationen auf dem Gebiet der Gemeindeordnung, und zwar sowohl in Bezug auf Aspekte innerhalb der Gemeinde als auch in Bezug auf die Einordnung der Gemeinde und ihrer Glieder in der Gesellschaft (vgl. 1,5–9; 2,1–9; 3,1–2). Bei der Regelung der internen Gemeindeordnung ist – nebst der Stellung der Frau – insbesondere das ‚Amt‘ zu erwähnen. Indem der als ‚Paulus‘ auftretende Autor von Tit durch seine Autoren- und Adressatenfiktion die Regelung des ‚Amtes‘ in dieser hervorgehobenen Stellung um (vermutlich zumindest) eine Generation vor der eigentlichen Abfassung des Briefes vorverlegt,29 entsteht ein Instrument der Gemeindeführung, d.h. der Kybernetik, das eine historische Fiktion verwendet, um der Gemeinde in einer in vielerlei Hinsicht neuen Situation, die geprägt ist durch Abwesenheit sowohl des Paulus (wegen seines Ablebens) als auch des Titus,30 durch neue theologische und ethische Herausforderungen, durch Fragen und Probleme einer neuen (vielleicht einer zweiten oder dritten) Generation von Christusgläubigen, der keine Gründergestalten vom Format des Paulus mehr zur Verfügung stehen, und möglicherweise durch ein stark quantitatives Gemeindewachstum: einen verlässlichen Weg in die Zukunft zu weisen.

II/86), Tübingen 1996; H. STETTLER, Die Christologie der Pastoralbriefe (WUNT II/105), Tübingen 1998; T. SÖDING, Das Erscheinen des Retters. Zur Christologie der Pastoralbriefe, in: K. SCHOLTISSEK (Hg.), Christologie in der Paulus-Schule. Zur Rezeptionsgeschichte des paulinischen Evangeliums (SBS 181), Stuttgart 1999, 149–192. 29 Lange Zeit wurden die Past auf das Ende des 1. Jhs. bzw. den Anfang des 2. Jhs. datiert. Diese These ist jedoch in letzter Zeit in Frage gestellt worden; vgl. bes. die Neubelebung der These einer post-markionitischen Datierung durch A. Y. C OLLINS, The Female Body as Social Space in 1 Timothy, in: NTS 57 (2011), 155–175, bes. 161–175, für einen Rundgang durch die Forschungsgeschichte diesbezüglich vgl. a.a.O., 162, Anm. 42. Für Überlegungen zur Verwendung der Past in den Schriften der apostolischen Väter vgl. die Beiträge in A. F. G REGORY/C. M. T UCKETT (Hg.), The Reception of the New Testament in the Apostolic Fathers, Oxford 2005, und D IES. (Hg.), Trajectories through the New Testament and the Apostolic Fathers, Oxford 2005. Sie legen eine etwas frühere Datierung nahe. – Im vorliegenden Beitrag wird von der „konventionellen“ Datierung am Ende des 1. Jhs., möglicherweise am Anfang des 2. Jhs. ausgegangen; die genaue Datierung tangiert die hier vorgetragenen Ansichten nicht gravierend. 30 Für die Rekonstruktion einer Biographie des Titus vgl. H. V. L IPS, Timotheus und Titus. Unterwegs für Paulus (Biblische Gestalten 19), Leipzig 2008.

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3. Die Beweggründe für die Pseudepigraphie des Titusbriefes im Kontext der antiken Pseudepigraphie In diesem Abschnitt sollen die Beweggründe für die Pseudepigraphie von Tit mit den von Janßen (und anderen) herausgearbeiteten Motivationen und Gründen für die Verwendung oder Entstehung von Pseudepigraphie in ihren unterschiedlichen Spielarten ins Gespräch gebracht werden: a) Einige der unter Abschnitt 1. bezeichneten Motivationen bzw. Gründe für die Erstellung eines pseudepigraphischen Schreibens sind für Tit offensichtlich wenig relevant. Dies sind: falsche Verfasserangabe aus Irrtum (für eine irrtümliche paulinische Zuschreibung betont Tit seine ‚paulinische‘ Verfasserschaft zu stark), Pseudepigraphie als Auftragsarbeit (in diesem Falle hätte Paulus den Auftrag geben müssen, was unwahrscheinlich ist), Pseudepigraphie im Kontext von finanziellen Interessen und Bibliophilie (dies würde voraussetzen, das Paulusbriefe von eher vermögenden Menschen gesammelt wurden) sowie verleumderische Absichten (das würde bedeuten, dass jemand den Brief geschrieben hätte, um dem Ruf des Paulus zu schaden). Auch so genannte ‚offene Pseudepigraphie‘, d.h. Pseudepigraphie, die auch den Adressaten bekannt war, scheint mir im Falle von Tit unwahrscheinlich, in jedem Falle aber eine unsichere These.31 b) Besonders im Zusammenhang mit der These eines einheitlich komponierten Corpus Pastorale zur Ergänzung des Corpus Paulinum ist es jedoch möglich – allerdings auch schwierig (und in letzter Zeit vermehrt umstritten) – für Tit Pseudepigraphie im Rahmen eines Editionsprozesses zu vertreten32 – es sei denn wiederum, ein solcher Editionsprozess würde als eine weitere Art der Fortschreibung der paulinischen Tradition verstanden. Damit stände man – nach der Typologie von Janßen – in einer anderen Kategorie, nämlich in der von Fortschreibungsprozessen innerhalb antiker Schulen.33 c) Die pseudepigraphischen Motive des Wirkungswillens und der Intention der Fortschreibung des Werkes eines anderen (m.E. gekoppelt mit dem Motiv eines Editionsprozesses sowie damit auch mit der Technik der Pro31 Vgl. dazu z.B. die Kritik von M. FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie? Ein Essay über Fiktionalität, Antike und Christentum, in: Frey u.a. (Hg.), Pseudepigraphie (s. Anm. 2), 181–232. 32 In diesem Kontext ist auch der Versuch zu verorten, die Past mit Hilfe der Kategorie des Briefromans zu verstehen, vgl. T. G LASER, Paulus als Briefroman erzählt. Studien zum antiken Briefroman und seiner christlichen Rezeption in den Pastoralbriefen (NTOA 76), Göttingen 2009. – Zur Kritik zum Konzept eines geschlossenen corpus pastorale vgl. die Literatur in Anm. 4 und B. E HRMAN, Forgery and Counterforgery. The Use of Literary Deceit in Early Christian Polemics, Oxford 2013, 193–217. 33 Vgl. A. M ERZ, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus (NTOA 52), Göttingen 2004.

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sopopoiie eng verwandt) scheinen mir für Tit hingegen beide relevant: Der Autor versucht, im Namen des Paulus Einfluss auszuüben und die Lehre des Heidenapostels in einem neuen Kontext weiterzuentwickeln. Zum Schluss wäre noch literarische Anonymität aus Sicherheits- bzw. Schutzgründen als Motivator für die Pseudepigraphie von Tit zu erwägen. Ein Vertreter einer positionellen Minderheit könnte sich, um nicht allzu angreifbar zu sein, hinter dem Namen und der Autorität des Paulus versteckt haben. Dies ist vorstellbar, würde in der Praxis aber weitgehend mit der Motivation ‚Wirkungswille‘ zusammenfallen. Im Anschluss an das bisher Gesagte bleibt allerdings noch die Frage offen, ob es sich im Falle von Tit um ‚gelungene‘ Pseudepigraphie handelt, d.h. wie sie nach antiker Einschätzung moralisch wohl gewertet worden wäre. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

4. Zur Problematik der moralischen Einschätzung der Pseudepigraphie des Titusbriefes anhand der Ämterfrage Bereits unter Abschnitt 1. wurde im Anschluss an Janßens Typologie darauf hingewiesen, dass in der Antike nicht alle Arten von und Motivationen für Pseudepigraphie moralisch gleichermaßen akzeptiert wurden. Wie bereits ausgeführt, galt als akzeptiert, wenn es sich um einen (korrigierbaren) Fehler handelte (z.B. wegen Homonymität), wenn die Pseudepigraphie ‚offen‘ war (z.B. im Rahmen von Prosopopoiie) oder wenn sie zum Schutz des Autors erfolgte. Als moralisch anrüchig wurde i.d.R. eingestuft, wenn es sich um eine Auftragsarbeit handelte, wenn Personen geschädigt werden sollten oder wenn sie aus finanziellem Interesse erfolgte. In einer moralischen Grauzone wurde Pseudepigraphie im Kontext der ‚Fortschreibung‘ des Werkes eines Lehrers oder Autors, z.B. im Rahmen einer Schule, betrachtet, ebenso im Rahmen eines Editionsprozesses oder wenn sie im Interesse der Wirkung der eigenen Aussagen erfolgte. Die Beurteilung solcher Pseudepigraphie erfolgte dann unter Berücksichtigung ihrer literarischen Qualität, d.h. hinsichtlich der Frage, ob die Denkrichtung des Lehrers auf authentische Art und Weise fortgesetzt wurde oder ob sie für die Leser durchschaubar war. Mit den oben entwickelten für die Pseudepigraphie von Tit anzunehmenden Motivationen ‚Fortschreibung‘ und ‚Wirkungswille‘ befinden wir uns in eben dieser problematischen Grauzone moralischer Wertung. Will man eine solche Wertung dennoch durchführen und folgt man den hier entwickelten Kriterien, lässt sich zunächst zur Frage, ob die Pseudepi-

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graphie von Tit für die Erstempfänger(innen) durchschaubar war oder nicht, keine verlässliche Aussage machen.34 Ob Tit aber als die protopaulinischen Briefe auf authentische Art und Weise weiterführend verstanden wurde, ist eine überaus komplexe Frage. Ihre Beantwortung hängt von der Rezeption der Theologie des ‚ProtoPaulus‘ sowie der Past bzw. von Tit ab. Möglicherweise wäre für eine ‚authentische‘ Weiterführung der proto-paulinischen Intentionen eine – auch drastische – Veränderung seiner ursprünglichen Akzente gerade nötig gewesen – eben je nach Erfordernis der neuen Situation. Paulus selbst hatte ja seine Theologie je nach Kontexten und Umständen entsprechend weiterentwickelt. Doch die Nachzeichnung solcher Entwicklungen steht freilich häufig vor den Problemen der ungenauen Kenntnis dieser jeweiligen Umstände.35 Anhand der Ämterfrage in Tit sollen im Folgenden noch diesbezügliche Überlegungen angestellt bzw. auf Probleme hingewiesen werden. Aufgrund der zentralen Stellung der Ämter im Auftrag des ‚Titus‘, Ordnung in den Gemeinden auf Kreta zu schaffen (1,5), eignet sich dieses Beispiel hierfür besonders gut. Zudem wird in der Forschung gerade dieser inhaltliche Aspekt der Past immer wieder als deutlicher Unterschied zu den authentischen Paulusbriefen benannt.36 34

Vgl. hierzu oben Anm. 20. M ERZ, Selbstauslegung (s. Anm. 34), 268–375.385–387, hat diese Überlegungen analog (und viel ausführlicher) für die Aussagen in 1Tim 2,9–3,1 über die Rolle der Frau in der Gemeinde durchgespielt und kommt zum Ergebnis einer negativen Wertung für die Qualität der Pseudepigraphie dieses Schreibens. 36 Diese Überlegungen werden ausführlicher dargelegt in P.-B. SMIT, A Note on Early Christian Associations and the Development of Offices in Early Christianity, in: Teologia 56 (2013), 48–65. Vgl. im Allgemeinen auch bei H. V. L IPS, Glaube – Gemeinde – Amt. Zum Verständnis der Ordination in den Pastoralbriefen (FRLANT 122), Göttingen 1979; J. R OLOFF, Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993, 250–267; K. L ÖNING, „Säule und Fundament der Wahrheit“ (1Tim 3,15). Zur Ekklesiologie der Pastoralbriefe, in: R. Kampling (Hg.) Ekklesiologie des Neuen Testaments, FS K. Kertelge, Freiburg 1996, 409–430; J. A. FITZMYER, The Structured Ministry of the Church in the Pastoral Letters, in: CBQ 66 (2004), 582–596; G. M ARTENS, Gibt es das „eine von Christus gestiftete Amt der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung“? Beobachtungen zur Frage von Amt und Ämtern im Neuen Testament unter besonderer Berücksichtigung der Pastoralbriefe, in: Lutherische Beiträge 10 (2005), 3–20; E. A. C AMPBELL, The Elders. Seniority within Earliest Christianity, Edinburgh 1994, bes. 176–205. Dass bei der Diskussion zur Ekklesiologie der Past das Paradigma des „Frühkatholizismus“ (unter diesem Namen oder auch nicht) weiterhin eine Rolle spielt, dürfte m.E. außer Frage stehen und zeigt gleichzeitig, dass bei der Bewertung des Verhältnisses zwischen den Paulusbriefen und den Past nicht nur die Gesamtvorstellung der Entwicklung des frühen Christentums eine Rolle spielt, sondern (in der Regel) auch die eigene ekklesiologische Präferenz. – Der Verfasser dieses Beitrages etwa ist altkatholischer Priester, was auch seiner eigenen ekklesiologischen Präferenz entspricht. 35

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Die Aussagen des (Proto-)Paulus über Gemeindeämter halten sich – abgesehen von Aussagen über sein eigenes Apostelamt – bekanntlich in Grenzen. Es handelt sich i.W. um Röm 16,8; 1 Kor 12,28; Phil 1,1; vgl. auch 1 Thess 5,12; Röm 12,6–8; 16,1–2. Und selbst wenn er dort Ämter nennt, betont er zwar ihre Funktion für die Gemeinschaft und für den Gemeindeaufbau, füllt sie aber nicht inhaltlich. Dies ist bekanntlich in den Past und damit auch in Tit ganz anders. Hier legt ‚Paulus‘ nicht nur gesteigerten Wert auf Ämter und beauftragt ‚Titus‘ mit deren ‚Einsetzung‘; er verbindet mit Ämtern auch klare Forderungen an die Qualitäten ihrer Träger (1,6–9).37 Dies kann also durchaus als weitgehende Abweichung vom Ämterkonzept des Proto-Paulus gewertet werden, und die Pseudepigraphie von Tit wäre damit – zumindest auf den ersten Blick – als moralisch fragwürdig einzustufen. Es könnte jedoch auch anders argumentiert werden: a) Proto-Paulus ging von Amtsträgern aus, die vor Ort schon existierten (vgl. 1 Kor 12,24; Phil 1,1 usw.), und thematisierte deswegen weniger ihre moralischen Qualitäten, sondern ihre Einordnung und ihre Funktion in den Gemeinden. Deswegen mag Proto-Paulus das Thema nicht auf diese Weise angesprochen haben. Paulus und ‚Paulus‘ würden dennoch das gleiche Thema in einer anderen Situation und aus einer anderen Perspektive ansprechen. b) Die Ämterfrage ist eine, der je nach Kontext eine andere Bedeutung zukommt, d.h. solange Ämter in einer bestimmten Gemeinde noch gar nicht eingerichtet sind und Personen für sie erst noch gefunden werden müssen (für Paulus gewiss ein wichtiges Anliegen), stellen sich andere Fragen, als wenn Ämter bereits eingerichtet und besetzt sind und (lediglich) ihre Einordnung in der Gemeinde angesprochen werden muss. Zur rechten Einschätzung dieser Überlegungen ist auch die Terminologie in Tit in der Ämterthematik zu beachten. Die Begriffe presbu,teroj (1,5) und evpi,skopoj (1,7) werden gelegentlich als Indiz für Diskontinuität zu Paulus angesehen und auch als Argument für den pseudepigraphischen Charakter des Briefes gewertet – ein Argument, das allerdings Phil 1,1 ausklammert. Doch selbst bei Konzedierung dieser terminologischen Differenz folgt noch nicht, dass mit den Ämter- bzw. Amtsbezeichnungen in Tit (je nach Verständnis der Begriffe in Tit 1,5.7) auch inhaltlich andere Ämter bzw. ein anderes Amt gemeint ist als das in ‚paulinischen‘ Gemein-

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Für einen Überblick des zumeist angenommenen Hintergrunds sowie einen Alternativvorschlag vgl. B. A. PASCHKE, The cura morum of the Roman Censors as Historical Background for the Bishop and Deacon Lists of the Pastoral Epistles, in: ZNW 98 (2007), 105–119.

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den.38 Ganz gegenteilig legt der Vergleich von Organisationsstrukturen frühchristlicher Gemeinden mit denjenigen griechisch-römischer Vereine nahe, die Annahme der Entwicklung einer ‚charismatischen‘ zu einer ‚hierarchischen‘ Kirche insgesamt fallen zu lassen; auch damit wäre der vermeintliche Unterschied zwischen den paulinischen und ‚paulinischen‘ Schriften erheblich relativiert.39 Für detailliertere Aussagen zu diesem Thema fehlen an dieser Stelle jedoch leider nach wie vor ausreichende Hintergrundinformationen, da von kaum einer Amtsbezeichnung im Neuen Testament ihre pragmatische Füllung bekannt ist. Je nachdem also, wie man diesen vagen Untersuchungsbestand wertet und welche Art von Kontinuität man fordert – die antiken Kriterien dafür sind m.E. nicht klar –, erscheint Tit bezüglich der Ämterfrage als ‚gute‘ oder als ‚schlechte‘ Pseudepigraphie, als gelungene oder misslungene Fortschreibung oder Personifikation des Paulus (Prosopoiie). Wie bereits genannt: Ein letztes Wort kann hierzu nicht gesprochen werden, da hierfür nötige Hintergrundinformationen zur inhaltlichen Füllung des Amtes bzw. der Ämter in Tit sowie den anderen Paulusbriefen fehlen. Zudem sind die Erwartungen frühchristlicher Gemeinden an die Kontinuität ihrer eigenen Gemeindeordnung zu wenig bekannt. Die lediglich auf der Basis der unterschiedlichen Terminologie erhobene Behauptung jedoch, in Tit finde sich eine wesentlich andere Ämterordnung vor als in den Proto-Paulinen, ist als vorschnell in Frage zu stellen. Ebenso zurückzuweisen ist auch das auf der Basis unterschiedlicher inhaltlicher Akzente erhobene Urteil, in Tit liege eine moralisch fragwürdige Pseudepigraphie vor, da der akzeptierte Grad schriftstellerischer Freiheit bei der Imitation eines anderen Autors in der maßgeblichen Zeit nicht deutlich genug erfassbar ist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist es nun möglich, zu weiteren Gedanken zum Profil der Kybernetik von Tit zu schreiten, in deren Dienste die Pseudepigraphie von Tit auch unabhängig von der moralischen Einschätzung steht.

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Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass auch die paulinischen Gemeinden hinsichtlich ihrer Struktur nicht als uniform zu sehen sind, vgl. hierzu D. H ORRELL, Pauline Churches or Early Christian Churches? Unity, Disagreement, and the Eucharist, in: A. A. Alexeev/C. Karakolis/U. Luz (Hg.), Einheit der Kirche im Neuen Testament (WUNT 218), Tübingen 2008, 185–203. 39 Vgl. hierzu inzwischen auch meine Überlegungen in: SMIT, Note (s. Anm. 37).

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5. Überlegungen zum Profil der theologischen Kybernetik des Titusbriefes Aus den obigen Überlegungen ist deutlich geworden, dass die Pseudepigraphie von Tit im Dienste bestimmter kybernetischer Anliegen steht, die von den Anliegen des Briefes insgesamt geprägt sind. Die theologischen Ausgangspunkte, die dabei zum Tragen kommen, lassen sich noch etwas genauer zuspitzen. a) Gerade die Autoren- und Adressatenfiktion von Tit und damit die Fiktion des paulinischen Ursprungs der in ihm erhaltenen Traditionen und Aussagen zeigen, dass sich der Brief und seine kybernetischen Absichten tief in der Tradition der Kirche verwurzelt wissen wollen. Auch die verschiedenen Aussagen über die ‚gesunde Lehre‘ im Brief, deren Kenntnis ‚Paulus‘ bei ‚Titus‘ voraussetzt, weisen in diese Richtung.40 Die Einordnung seiner eigenen Theologie in die Tradition und in der Gemeinschaft der Kirche ist für den Autor von Tit offenbar so wesentlich, dass er seine eigene Identität unter derjenigen der Gründergestalt Paulus fasst. Dies gilt auch, wenn der Wirkungswille für Tit als Hauptmotivation für die Pseudepigraphie des Briefes angesehen wird.41 b) Paradoxerweise präsentiert ‚Paulus‘, der doch gewusst haben muss, dass er nicht Paulus war, die Tradition als etwas eher Feststehendes (vgl. Tit 2,1; 3,8) und eben als etwas Paulinisches. Dies ist deswegen paradox, weil ‚Paulus‘ mit seinem wenig dynamischen Traditionsverständnis eben diese Tradition dynamisch weiterschreibt und auf diese Weise ein anderes Traditionsverständnis praktiziert als voraussetzt. Daher muss er – gerade unter Berücksichtigung der Pseudepigraphie seiner Schrift – als eine Person gesehen werden, die Tradition kreativ weiterschreibt.42 Auch wenn er 40 In diesem Zusammenhang kann auch auf die von A. M ERZ, Amore Pauli: Das Corpus Pastorale und das Ringen um die Interpretationshoheit bezüglich des paulinischen Erbes, in: ThQ 187 (2007), 274–294, vorgetragenen These hingewiesen werden, dass sich die „gesunde Lehre“ spezifisch als die (aus der Perspektive des „Paulus“) authentische Fortschreibung der paulinischen Theologie (und so als fiktive Selbstauslegung des Paulus) sieht. 41 Zur Beschreibung eines solchen „Heraufbeschwörens“ der Person des Paulus dürften hier Begriffe wie „Anamnese“ oder gar, aus einer etwas anderen Perspektive, „apostolische Sukzession“, in der die Kirche bzw. die „wahre Lehre“ erscheint, nicht völlig fehl am Platz sein. Vgl. H. J. R IEDL, Anamnese und Apostolizität. Der Zweite Petrusbrief und das theologische Problem neutestamentlicher Pseudepigraphie (RST 64), Frankfurt a.M. 2005; vgl. auch die Betonung der Vergegenwärtigung durch M EADE, Pseudonymity (s. Anm. 9). 42 Vgl. dazu L. R. D ONELSON, Pseudepigraphy and Ethical Argument in the Pastoral Epistles (HUTh 22), Tübingen 1986, der die Past im Kontext antiker Konventionen zur Pseudepigraphie liest und gleichzeitig die in ihnen enthaltene literarische und theologische Leistung herausarbeitet, die nicht immer gleichermaßen herausgestellt wird.

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damit an manchen Stellen ‚hinter‘ Paulus zurückgehen mag43 (z.B. zur Rolle der Frau in der Gemeinde),44 ist dies chronologisch gesehen dennoch ein Weiterschreiben und eine Erneuerung der empfangenen Tradition. ‚Paulus‘ vertritt also in seinem Brief entgegen seinen eigenen Aussagen ein äußerst dynamisches und – um mit einem Anachronismus zu sprechen – hermeneutisches Traditionsverständnis. Die Past und damit auch Tit halfen somit, das proto-paulinische Erbe dynamisch in die nächsten Generationen hineinzutragen – wohl gerade weil sie Paulus’ kybernetisch herausragende Bedeutung anerkannten.45 c) Die Aussagen über die Kirchenordnung des ‚Paulus‘, dessen Träger der Titusbrief ist – mögen sie nun eine grundsätzlich andere Ordnung beschreiben als diejenige der authentischen Paulusbriefe oder nicht –, bauen auf der Fiktion einer Vergangenheit, werden aber – gleichsam einer ‚invention of tradition‘ – für die in Tit faktisch angesprochenen Gemeinden zu einer zukunftsweisenden Vision:46 Das fiktive Forward to the Past wird zu einem Back to the Future.

43 Im Sinne einer Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse. Vgl. R. SCHWARZ, Bürgerliches Christentum im Neuen Testament? Eine Studie zu Ethik, Amt und Recht in den Pastoralbriefen (ÖBS 4), Klosterneuburg 1983; P. H. T OWNER, The Goal of our Instruction. The Structure of Theology and Ethics in the Pastoral Epistles (JSNTSup 34), Sheffield 1989; M. G IELEN, Tradition und Theologie neutestamentlicher Haustafelethik. Ein Beitrag zur Frage einer christlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen (BBB 75), Frankfurt a.M. 1990; R. M. K IDD, Wealth and Beneficence in the Pastoral Letters. A „Bourgeois“ Form of Early Christianity? (SBL.DS 122), Atlanta 1990; M. R EISER, Bürgerliches Christentum in den Pastoralbriefen?, in: Bib 74 (1993), 27–44; W. PRATSCHER, Die Stabilisierung der Kirche als Anliegen der Pastoralbriefe, in: SNTU 18 (1993), 133–150. 44 Die Frage, ob er dies tatsächlich tut, wird hier aus Platzgründen offengelassen – sie ist auch nicht wesentlich für die Aussage dieses Satzes. Vgl. aber: M. K ÜCHLER, Schweigen, Schmuck und Schleier. Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der Frauen auf dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Exegese des Alten Testaments im antiken Judentum (NTOA 1), Freiburg 1986, 9–53; U. W AGENER, Die Ordnung des „Hauses Gottes“. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe (WUNT II/65), Tübingen 1994; E. B UTZER, Die Witwen der Pastoralbriefe, in: Texte und Kontexte 20 (1998), 35–52; wie auch M. B. K ARTZOW, Gossip and Gender. Othering of Speech in the Pastoral Epistles (BZNW 164), Berlin 2009. 45 Vgl. hierzu die Beobachtungen von P. T RUMMER, Die Paulustradition der Pastoralbriefe (BET), Frankfurt a.M. 1978, 248–250; A AGESON, Paul (s. Anm. 9), 122–205; W OLTER, Pastoralbriefe (s. Anm. 4), 15–17; Y OUNG, Theology (s. Anm. 24), 122–144. 46 Unter Annahme ähnlicher Voraussetzungen wie in diesem Beitrag vgl. SCHRÖTER, Kirche (s. Anm. 23), 81.

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Abstract This study investigates the function of the double fiction, resulting from the use of pseudepigraphy, for the kybernetic purposes of a letter, using the Letter to Titus as a case study. Deutero-Paul (“Paul”) continues the protoPauline tradition in a creative and innovative way, given that he recognizes the importance of (the historical) Paul for building up of the community, even if he himself represents, somewhat paradoxically, a rather static understanding of tradition. “Paul” creates a fictive portrayal of the community of the past in order to mold his own community for the future. However, a moral evaluation of the letter’s pseudepigraphy remains problematic as the application of the ancient criteria of such an evaluation is unreliable, due to the unavailability of certain historical information.

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III. Metadiskurse und Wirkungszusammenhänge

Die Pragmatik der Geschichte Der Metadiskurs zur Geschichtsschreibung in neutestamentlicher Zeit und die Diskussion nach dem „linguistic turn“ Martin Bauspieß Wenn etwas passiert ist, dann braucht es jemanden, der davon erzählt. Denn was gewesen ist, das ist unwiederbringlich vergangen, zu dem gibt es keinen direkten Zugang mehr. Was nicht erzählt wird, das wird deshalb auch nicht zu Geschichte. Indem es aber erzählt wird, wird es mit einer Deutung versehen und damit von der Sicht des Geschichtsschreibers geprägt. Diese Einsicht ist für die gegenwärtige Diskussion, die innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft um ein angemessenes Geschichtsverständnis geführt wird, entscheidend.1 Im Hintergrund der Diskussion steht die mit dem Schlagwort des „linguistic turn“ verbundene These, dass „die Sprache konstituiert, was unter Wirklichkeit verstanden wird, noch schärfer, was Wirklichkeit ist“ 2. Diese These musste sich auch auf das Verständnis von Geschichte und Geschichtsschreibung auswirken. Hayden 1 Siehe dazu die folgenden Beiträge, denen sich weitere an die Seite stellen ließen: R. ZIMMERMANN, Geschichtstheorien und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Narration in der historiographischen Diskussion, in: EChr 2 (2011), 417–444; K. B ACKHAUS/G. HÄFNER, Zwischen Konstruktion und Kontrolle. Exegese als historische Gradwanderung, in: dies., Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007, 131–136; J. SCHRÖTER, Überlegungen zum Verhältnis von Historiographie und Hermeneutik in der neutestamentlichen Wissenschaft, in: ders., Von Jesus zum Neuen Testament Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons (WUNT 204), Tübingen 2007, 23–35; E. REINMUTH, Neutestamentliche Historik. Probleme und Perspektiven (ThLZ.F 8), Leipzig 2003, 35–63. 2 So beschreibt H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001, 13 die Grundeinsicht des „linguistic turn“. Das Schlagwo rt verdankt sich dem Titel einer von Richard Rorty 1967 herausgegebenen Aufsatzsammlung, die die Ergebnisse einer an Frege, Wittgenstein und dem späten Heidegger orie ntierten Sprachphilosophie zusammenfasste, vgl. R. M. RORTY (Hg.), The Linguistic Turn. Recent Essays in Philosophical Method, Chicago/London 1967, vgl. GOERTZ, a.a.O., 12f.

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Whites „Metahistory“ aus dem Jahr 1973 stellt den programmatischen Versuch dar, die Einsichten des „linguistic turn“ auf die Geschichtswissenschaft anzuwenden.3 Die Arbeit Whites rückte, wie etwa auch die Arbeiten Arthur C. Dantos und Paul Ricœurs, den Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Erzählung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. 4 Bis heute wird innerhalb der wissenschaftlichen Theologie darüber nachgedacht, was die mit diesen Arbeiten verbundenen Einsichten für das Verständnis der neutestamentlichen Erzählliteratur bedeuten, wobei sich darüber hinaus auch andere Fragestellungen ergeben haben. 5 Grundsätzlich geht es dabei um den unhintergehbaren Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit. 6 Rücken damit die neutestamentlichen Schriften in ihrer Textualität in den Blick, so ist es verständlich, dass text- und erzähltheoretische Ansätze zunehmend an Bedeutung gewinnen. In diesem Zusammenhang spielt auch die Frage nach den texttheoretischen Kategorien „Fiktionalität“, „Faktualität“ und „Fiktivität“ eine entscheidende Rolle. Die folgenden Überlegungen versuchen zu zeigen, dass eine präzise Fassung dieser Kategorien Klärungen herbeiführen kann, die vor allem für eine Frage bedeutsam ist, die verstärkt diskutiert wird: für die Frage nach dem Verhältnis von Historiographie und Dichtung.7 3

H. W HITE, Metahistory. The historical Imagination in nineteenth-Century Europe (1973), deutsche Übersetzung: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, aus dem Amerikanischen von P. KOHLHAAS, Frankfurt a.M. 2008. 4 A.C. DANTO, Analytische Philosophie der Geschichte (stw 328), Frankfurt a.M. 1980; P. RICŒUR , Zeit und Erzählung, Band I: Zeit und historische Erzählung, aus dem Französischen von R. Rochlitz (Übergänge 18/I), München 22007. Siehe dazu GOERTZ, Unsichere Geschichte (s. Anm. 2), 32–52. Das Konzept Dantos ist von Hans Weder für ein Verständnis des „Geschichtsbezugs“ der neutestamentlichen Texte fruchtbar gemacht worden: H. WEDER , Das Kreuz Jesu bei Paulus. Ein Versuch, über den Geschichtsbezug des christlichen Glaubens nachzudenken (FRLANT 125), Göttingen 1981, 49 –119. 5 Siehe dazu etwa den Überblick bei E.-M. BECKER, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006, 54–73, vgl. auch die knappe Skizze bei U. LUZ, Zu diesem Heft, in: EvTh 69 (2009), 163–165. L. BORMANN, Kulturwissenschaft und Exegese. Gegenwärtige Geschichtsdiskurse und die biblische Geschichtskonzeption, in: EvTh 69 (2009), 166–185 macht auf die Bedeutung der kulturwissenschaftlichen Diskussion für die Geschichtsfrage in der neutestamentlichen Wi ssenschaft aufmerksam. 6 Die Untersuchung von Christof Landmesser über den Wahrheitsbegriff und seine Bedeutung für die wissenschaftliche Untersuchung des Neuen Testaments entwickelt eine hermeneutische Grundlegung neutestamentlicher Wissenschaft vor dem Hintergrund dieser zentralen Einsicht: C. LANDMESSER , Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft (WUNT 113), Tübingen 1998, zum Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit exemplarisch a.a.O., 100–103. 7 Entscheidende Anregungen dafür verdanke ich dem Aufsatz von E. B LUM , Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: ders./W. Johnstone/C. Markschies (Hg.), Das Alte Testament – Ein Geschichtsbuch? Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich

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Es ist bemerkenswert, dass die geschichtstheoretische Diskussion nach dem „linguistic turn“ Fragestellungen wiederentdeckt hat, die innerhalb der antiken Geschichtsschreibung bereits zentral sind. Denn schon antike Geschichtsschreiber reflektieren über die literarische Form ihrer Geschichtsdarstellungen, über die Angemessenheit von verlebendigenden narrativen Elementen und darüber, welches rhetorische Ziel sie verfolgen. 8 Von daher erweisen sich moderne geschichtshermeneutische Überlegungen als direkt anschlussfähig für Beobachtungen, die sich aus den Forschungen über die antike Geschichtsschreibung ergeben haben.9 Dies gilt es im Folgenden zu veranschaulichen. In einem ersten Schritt soll deshalb Hayden Whites Grundentscheidung im Blick auf die „Fiktivität“ von Geschichtsschreibung erinnert werden. Im Anschluss daran werden einige Hinweise zu Lukian von Samosatas Wie man Geschichte schreiben soll sowie zum Bellum Judaicum des Flavius Josephus gegeben, die zeigen, dass eine präzise Unterscheidung von Historiographie und Dichtung auch vor dem Hintergrund der neueren Diskussion möglich und sinnvoll ist. Abschließend gilt es, Konsequenzen für das Verständnis der neutestamentlichen Erzählliteratur zu skizzieren.

1. „Linguistic turn“ und antike Geschichtsschreibung: Die Frage nach dem „Paradigma“ Ein Verständnis der antiken Geschichtsschreibung kann nicht unabhängig von der Frage gewonnen werden, was die Ausleger gegenwärtig unter „Geschichte“ und „Geschichtsschreibung“ verstehen. Hier macht sich bis heute die im 20. Jahrhundert vorgenommene Absetzung vom Historismus des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971), Heidelberg, 18.–21. Oktober 2001 (ATM 10), Münster 2005, 65–86, vgl. DERS., „Wie jede andere fiktionale Literatur …?“. Einwürfe eines Exegeten zum Beitrag von Jochen Teuffel, in: NZSTh 47 (2005), 251– 258. 8 Siehe dazu den Aufsatz von K. B ACKHAUS, Spielräume der Wahrheit: Zur Konstruktivität in der hellenistisch-reichsrömischen Geschichtsschreibung, in: ders./G. Häfner (Hg.), Historiographie und fiktionales Erzählen (s. Anm. 1), 1–29, 1. 9 Dazu sind vor allem die Arbeiten von Eckhard Plümacher zu nennen, auf die viele der neueren Untersuchungen aufbauen: E. P LÜMACHER , Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte (StUNT 9), Göttingen 1972; DERS., Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hg. von J. Schröter und R. Brucker (WUNT 170), Tübingen 2004; DERS., Hellenistische Geschichtsschreibung im Neuen Testament: die Apostelgeschichte, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Geschichte und Vergangenheit. Rekonstruktion – Deutung – Fiktion, NeukirchenVluyn 2007, 115–127 sowie D. DORMEYER , Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie, im Frühjudentum und im Neuen Test ament, in: T. Schmeller (Hg.), Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt (NTOA 69), Göttingen 2009, 1–33.

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und einem „historistischen“ Geschichtsverständnis bemerkbar. Dessen „klassisches“ Paradigma wird durch Leopold von Rankes vielzitiertes Diktum, Aufgabe der Geschichtsschreibung sei es, zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen“10, repräsentiert. In der neueren Diskussion erscheint die Unhaltbarkeit dieser Auffassung als erwiesen. So stellt Ulrich Luz, diese Diskussion skizzierend, fest: „Das in der Geschichtswissenschaft bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts dominierende Paradigma Rankes ist endgültig vergangen.“11 Mit der Preisgabe eines solchen Paradigmas und seines charakteristischen Anspruchs auf die „Objektivität“ von Geschichtsdarstellungen wird immer wieder auch die Aufhebung der Grenze von Historiographie und Dichtung verbunden. In diesem Sinne bemerkt Ruben Zimmermann, dass „durch die Hinwendung zu literaturwissenschaftlichen Kategorien […] die auf Aristoteles zurückgehende Trennung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung, oder in Genettes Diktion zwischen ,faktualen‘ und ,fiktionalen Erzählungen‘ aufgehoben“ 12 worden sei. Unklar aber bleibt, was dann unter modernen hermeneutischen Bedingungen als „Geschichtsschreibung“ angesehen werden soll.13 Unter Berufung auf White und u.a. Paul Ricœur bemerkt Zimmermann grundsätzlich: „Historische Erzählungen sind immer auch fiktionale Erzählungen, indem sie den historischen Stoff mit den Mitteln der Narrativität zur Darstellung bringen.“14 Damit wird eine der Grundthesen Whites reformuliert. Whites These besteht darin, dass historische Darstellungen keineswegs „objektive“ literarische Repräsentationen der Vergangenheit seien. Es handelt sich vielmehr auch bei ihnen um „sprachliche Fiktionen [verbal fictions], deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist“15. White plädiert deshalb dafür, sich den grundsätzlich fiktiven Charakter von Geschichtsschreibung klar zu machen. Damit werde „die Historiographie wieder stär10 L. VON RANKE, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, in: Leopold von Ranke’s Sämmtliche Werke 33/34, Leipzig 21874, VII (siehe dazu unten). 11 LUZ, Zu diesem Heft (s. Anm. 5), 163. J. SCHRÖTER , Neutestamentliche Wissenschaft jenseits des Historismus. Neuere Entwicklungen in der Geschichtstheorie und ihre Bedeutung für die Exegese urchristlicher Schriften, in: ThLZ 128 (2003), 855–866, 864 plädiert für eine „Konzeption neutestamentlicher Wissenschaft jenseits des Historismus“. ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 1), 417 sieht damit „das Ende positivistischer Geschichtstheorie als Basis für die ntl. Wissenschaft proklamiert“. 12 ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 1), 428. 13 LUZ, Zu diesem Heft (s. Anm. 5), 163 markiert eine Aporie, wenn er fragt: „Aber welches Paradigma hat sich an seiner Stelle durchgesetzt?“ und schließlich bemerkt: „Das ist schwer zu sagen.“ 14 ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 1), 428. 15 H. W HITE, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: C. Konrad/M. Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, 123–157, 124f.

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ker an ihre Ursprünge in einem literarischen Bewußtsein zurückgebunden“16. White folgert aus seinen Überlegungen, dass die „traditionellerweise gemachte Unterscheidung zwischen dichterischem und prosaischem Diskurs zu revidieren“ sei, da „diese seit Aristoteles geltende Unterscheidung zwischen Geschichte und Dichtung bei beiden ebensoviel verdunkelt wie erhellt“17. Das entscheidende Argument für diese Behauptung besteht demnach darin, dass Geschichtsschreibung und Dichtung gleichermaßen „fiktiv“ seien. Deshalb könnten sie nicht mehr präzise voneinander unterschieden werden. Bei beiden handelt es sich um subjektiv geprägte, narrativ strukturierte Konstruktionen, die eine sprachlich verfasste Welt entwerfen. Eine ganz ähnliche Annäherung der beiden Großgattungen „Historiographie“ und „Dichtung“ wird in der neueren Diskussion innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft im Blick auf die antike Geschichtsschreibung in der Entwicklung von der „pragmatischen“ zur „mimetischen“ oder „pathetischen“ Geschichtsschreibung behauptet. Bevor dies näher erläutert werden kann, sind zunächst das kritisierte „Paradigma“ sowie die von White in Frage gestellte Unterscheidung von Historiographie und Dichtung näher in den Blick zu nehmen. Knut Backhaus hat darauf hingewiesen, dass das „Postulat Rankes […] so alt sei wie die früheste erhaltene Monographie über Geschichtsschreibung überhaupt“18. Gemeint ist damit Lukian von Samosatas Schrift „Wie man Geschichte schreiben soll“. Lukian setzt in seiner Schrift die aristotelische Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Dichtung wie selbstverständlich voraus. Für Aristoteles wie für Lukian geht es dabei – ähnlich wie für White – um die Bestimmung des literarischen Charakters von Geschichtsschreibung, anders gesagt um die Frage, was für eine Art „Redeform“ Geschichtsschreibung sei. Es ist deshalb von Bedeutung, dass Aristoteles diese Unterscheidung im Zusammenhang seiner Poetik vornimmt. Nach Aristoteles unterscheiden sich Geschichtsschreiber (i`storiko,j) und Dichter (poihth,j) dadurch, „dass der eine das Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte“ (tou,tw| diafe,rei tw/| to.n me.n ta. geno,mena le,gein, to.n de. oi-a a'n ge,noito, Aristot, Poet 1451b). Während der Geschichtsschreiber die „wirkliche“ Welt darstellt, entwirft der Dichter eine „mögliche“ Welt. Matías Martínez und Michael Scheffel bezeichnen diese aristotelische Differenzierung als „das Ergebnis eines über mehrere Jahrhunderte reichenden kulturhistorischen Prozesses, in dessen Folge man eine Welt des Glaubens und der Dichtung von einer Welt der Wirklichkeit

16

W HITE, Der historische Text (s. Anm. 15), 155. W HITE, Der historische Text (s. Anm. 15), 153. 18 B ACKHAUS, Spielräume der Wahrheit (s. Anm. 8), 1. 17

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unterschied und für fiktiv erklärte“ 19. „Fiktivität“ scheint auch hier das entscheidende Differenzierungskriterium zu sein, das nun zwischen „einer Welt des Glaubens und der Dichtung“ und einer „Welt der Wirklichkeit“ unterscheidet. Martínez und Scheffel machen indes selbst darauf aufmerksam, dass die Dichtung gerade für Aristoteles einen ganz eigenen Zugang zur Wirklichkeit darstellt. Denn anders als Platon 20 gesteht Aristoteles der Dichtung eine überaus positive Funktion zur Erschließung der Wirklichkeit zu. 21 Zu beachten ist dabei, dass Aristoteles an der zitierten Stelle keine eigene, originelle Bestimmung von Geschichtsschreibung einführt. Der Verweis auf den Historiker dient ihm vielmehr als negative Folie zur Beschreibung dessen, was die poetische Rede auszeichnet.22 Diese entspringt aus dem im Menschen angelegten Trieb zur „Nachahmung“ (mi,mhsij), durch die der Mensch sich Kenntnisse erwirbt (Aristot, Poet 1448b). Insofern erschließt die Dichtung dem Menschen Aspekte der Wirklichkeit, die ihm für seine Weltwahrnehmung und für seine Handlungsfähigkeit in der Welt hilfreich sind.23 Die Dichtung übertrifft die Geschichtsschreibung aber darin, dass sie „mehr das Allgemeine“ (ma/llon ta. kaqo, lou) mitteilt, während der Historiker „das Besondere“ (ta. kaq’ e[kaston) darstellt (Aristot, Poet 1451b). Sie bleibt demnach nicht bei den einzelnen Erscheinungen stehen, sondern zielt auf die Einsicht in grundsätzliche Strukturen des Menschseins und der Wirklichkeit. Deshalb ist sie für Aristoteles „philosophischer“ als die Geschichtsschreibung. Die eigentliche Leistung des Aristoteles besteht an M. MARTÍNEZ/M. SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie, München 52003, 11. Siehe dazu etwa Plat, Resp 595a–607b. v.a. 598dff., vgl. Plat, Resp 398. Für Platon ist der Dichter „der dritte von der Wahrheit abstehende Verfertiger des Schattenbi ldes“ (599d, Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher), der sich nicht der Wahrheit der Dinge selbst, sondern nur ihren Nachbildungen zuwendet (599b). W. RÖSLER , Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, in: Poetica 12 (1980), 283–319, 308 bemerkt, dass Platons Konzeption „von einer etablierten Grundhaltung aus“ entwickelt werde und de shalb „jenen exzentrischen Charakter, der sich bei isolierter Betrachtung zu ergeben scheint“, verliere. Was Platon hier formuliert, das entspricht demnach einer gängigen Auffassung seiner Zeit, der gegenüber die Konzeption des Aristoteles einen Fortschritt darstellt. 21 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie (s. Anm. 19), 11f. 22 Darauf hat bereits K. VON FRITZ, Die Bedeutung des Aristoteles für die Geschichtsschreibung, in: F.-P. Hager (Hg.), Ethik und Politik des Aristoteles (WdF CCVIII), Darmstadt 1972, 313–367, 339 hingewiesen. 23 Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie (s. Anm. 19), 12. Auch hier ließe sich eine sachliche Berührung mit Whites Konzeption aufzeigen, wenn dieser „die Kodierung von Ereignissen“ in einer Plotstruktur als „eine Möglichkeit einer Kultur“ versteht, „s owohl der persönlichen als auch der öffentlichen Vergangenheit Sinn zu verleihen“ ( W HITE , Der historische Text [s. Anm. 15], 131). An das Mimesis-Konzept des Aristoteles hat vor allem Paul Ricœur angeknüpft, vgl. R ICŒUR, Zeit und Erzählung I (s. Anm. 4), 54– 135. 19 20

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dieser Stelle nicht etwa darin, der Geschichtsschreibung eine Definition gegeben, sondern vielmehr darin, den Bezug der Dichtung zur Wirklichkeit präzise bestimmt zu haben. Diese Bestimmung bedeutet – wie Wolfgang Rösler herausgearbeitet hat – die Entdeckung der Kategorie der „Fiktionalität“. Aristoteles gesteht der Dichtung zu, dass sie „eine eigene Wahrheit […] zum Ausdruck bringt,“24 die nicht durch historisch präzise Wiedergabe der Ereignisse vermittelt, sondern durch bewusste Fiktion konstruiert wird. Entscheidend ist dabei, dass Aristoteles die Unterscheidung nicht anhand der sprachlichen Form (dichterisch vs. nicht-dichterisch) vornimmt, sondern dadurch, wie der Autor selbst den Inhalt seiner Darstellung bestimmt.25 Es handelt sich um ein „Abkommen“ zwischen Dichter und Leser, in dem die Fiktivität einzelner Erzählelemente grundsätzlich zugegeben und eingeräumt wird.26 Indem Texte als „fiktional“ definiert werden, werden sie als eine eigene Kommunikationsform sichtbar, die eine ganz bestimmte Art der Bezugnahme auf Wirklichkeit voraussetzt, die von einem historischen Zugang zur Wirklichkeit unterschieden werden kann. Letzterer bleibt von Aristoteles über Lukian bis zu Ranke dadurch bestimmt, dass der Historiker versucht darzustellen, wie sich etwas tatsächlich zugetragen hat, oder genauer: dass er diesen Anspruch gegenüber seinen Lesern erhebt und von diesen deshalb daran gemessen werden kann. Zu unterscheiden sind deshalb zunächst „fiktionale“ von „faktualen“ Texten.27 Für unsere Fragestellung entscheidend ist die Frage, wie sich der „fiktive“ Charakter einer Erzählung zur Kategorie der „Fiktionalität“ verhält. Dafür finden sich in Lukians „Wie man Geschichte schreiben soll“ entscheidende Hinweise. Es wird sich zeigen, dass das hier sichtbar werdende „historiographische Paradigma“ sich auch bei Flavius Josephus beobachten lässt.

24

RÖSLER , Die Entdeckung der Fiktionalität (s. Anm. 20), 310. Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie (s. Anm. 19), 11. 26 Darauf weist auch ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 1), 436 hin, ohne daraus die notwendige Konsequenz für die Differenzierung zwischen den Kategorien der „Fiktionalität“ und der „Faktualität“ zu ziehen. 27 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie (s. Anm. 19), 10 benennen zwei Möglichkeiten faktualen Erzählens: Die authentische Erzählung von historischen Ereignissen und Pe rsonen sowie „die nichtdichterische Erzählung erfundener Vorgänge“. Da diese suggeriert, nicht fiktiv zu sein, wird sie zur „Lüge oder Täuschung“, die die beiden Autoren „als ein[en] Sonderfall der faktualen Erzählung“ verstehen möchten. Für diese Einschä tzung verweisen die Autoren auch auf Lukian von Samosata (a.a.O., 12f.). 25

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2. Lukian von Samosata als Repräsentant des historiographischen Paradigmas Der Metadiskurs zur Geschichtsschreibung ist keine neuzeitliche Erfindung. Vielmehr werden bereits in antiken Geschichtswerken Auseinandersetzungen um einen angemessenen Umgang mit Geschichte und Geschichtsschreibung erkennbar. Der Ort für solche Auseinandersetzungen ist klassischerweise das Proömium eines Geschichtswerks, in dem der Verfasser sich und seinen Lesern Rechenschaft über seine Herangehensweise ablegt. Die in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n.Chr. entstandene Abhandlung Pw/j dei/ i`stori,an suggra, fein des Lukian von Samosata stellt insofern eine Ausnahme dar, als sie „den einzigen aus der Antike erhaltenen Versuch darstellt, eine Anleitung für die Darstellung eines Geschichtswerkes zu geben“ 28. Eine praktische Durchführung dieses „Programms“ hat Lukian nicht geschaffen, denn es gibt kein von ihm selbst geschriebenes Geschichtswerk. Seine Beschäftigung mit der Geschichtsschreibung steht offensichtlich im Zusammenhang mit seinem Interesse an der Rhetorik, das ihn zeitlebens begleitet hat. 29 Ähnlich wie Aristoteles entwirft Lukian keine originelle Konzeption von Historiographie. Er repräsentiert im Wesentlichen die Tradition der „pragmatischen“ Geschichtsschreibung, was in seiner wiederholten Berufung auf Thukydides, der als deren Hauptvertreter gelten kann, sichtbar wird (HistConscr 39.42.54, vgl. 5.15 u.ö.).30 Gert Avenarius nimmt deshalb an, dass Lukian für seine Schrift „keine eigenen Studien getrieben und auch keine entsprechende Abhandlung benutzt, sondern einfach aus dem Gedächtnis mitgeteilt [habe], was er von der Rhetorenschule her wußte“ 31. Auch für Lukian ist Geschichtsschreibung demnach eine bestimmte Redeform, die durch die Rhetorik genau beschrieben werden kann. Insofern kommt hier ein Aspekt in den Blick, der auch für Hayden White entscheidend ist: Geschichtsschreibung hat eine Funktion in einem gegenwärtigen Diskurs, in dem sie dazu 28

G. AVENARIUS, Lukians Schrift zur Geschichtsschreibung, Meisenheim 1956, 8, vgl. C. ROTHSCHILD, Irony and Truth. The Value of De Historia Conscribenda for Understanding Hellenistic and Early Roman Period Historiographical Method, in: J. Frey/Dies./J. Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie (BZNW 162), Berlin/New York 2009, 277–291, 280. 29 Siehe dazu H.-G. NESSELRATH, Lukian: Leben und Werk, in: Lukian, Die Lügenfreunde oder: Der Ungläubige, eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von M. Ebner, H. Gzella, Dems., E. Ribbat (SAPERE 3), Darmstadt 22002, 11– 31, 28. 30 Zu Lukians Verhältnis zur Geschichtsschreibung siehe H. HOMEYER , Einleitung zu LUKIAN, Wie man Geschichte schreiben soll, Griechisch und Deutsch, München 1965, 29–38. 31 AVENARIUS, Lukians Schrift zur Geschichtsschreibung (s. Anm. 28), 178.

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dient, ein bestimmtes rhetorisches Ziel zu erreichen. Die Ausführungen Lukians lassen sichtbar werden, dass die Frage nach der möglichen „Fiktivität“ von Geschichtsschreibung in diesem Zusammenhang zu bedenken ist. In der beißenden Kritik, die Lukian über bestimmte vermeintliche Geschichtsschreiber seiner Zeit ausschüttet, spiegelt sich die grundlegende Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Dichtkunst wider. Der Hauptfehler, den Lukian bemängelt, ist die fehlende Differenzierung zwischen Geschichtsschreibung (i`stori,a) und Lobrede (evgkw,mion) (HistConscr 7) und ganz grundsätzlich zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung (poihtikh,) (HistConscr 8). „[D]ie meisten Geschichtsschreiber verabsäumen es, über die Ereignisse zu berichten (i`storei/n ta. gegenhme,na) und ergehen sich stattdessen des Langen und Breiten in Lobreden auf Herrscher und Feldherren, wobei sie die führenden Männer des eigenen Volkes in den Himmel heben, die feindlichen Führer dagegen über das erlaubte Maß in Stücke reißen. Sie ahnen gar nicht, daß die Geschichtsschreibung (h` i`stori, a) von der Lobrede (to. evgkw,mion) durch keine schmale Kluft getrennt und geschieden ist“ (HistConscr 7).32

Lukian besteht indes darauf, dass für die Dichtkunst (h`` poihtikh,) andere Gesetze gelten als für die Geschichtsschreibung (h` i`stori,a ), denn, so Lukian, „in der Dichtung herrscht uneingeschränkte Freiheit; für sie ist einzig Gesetz, was der Dichter gutheißt“ (HistConscr 8). Demgegenüber sieht Lukian es als genuine Aufgabe des Geschichtsschreibers an, „zu sagen, wie etwas geschehen ist“ (w-j evpra,cqh eivpei/n, HistConscr 39, vgl. 41.51). Die Nähe der Formulierung Lukians zu Aristoteles und zu der späteren Bestimmung von Ranke liegt auf der Hand. Für Lukian verfahren die Geschichtsschreiber grundlegend anders als die Rhetoren, denn: „Was sie berichten, ist Wirklichkeit, die ausgesagt wird; sie hat sich sogar bereits erei gnet; die Geschehnisse brauchen nur noch geordnet und dargestellt zu werden; daher kommt es den Historiographen auch nicht auf das was, sondern auf das wie an“ (HistConscr 51).

Es ist offensichtlich die bereits bei Aristoteles zu beobachtende Unterscheidung von „wirklicher“ und „möglicher“ Welt, die Lukian voraussetzt. Unterschieden werden Dichtung und Geschichtsschreibung zunächst durch ihr rhetorisches Ziel: Während die Dichtung das Ziel habe, „angenehm“ zu sein (eivj to. terpno,n), betont Lukian den „Nutzen“ (o` crh,simoj) als einziges Ziel der Geschichtsschreibung (HistConscr 9). Damit macht er sich ein entscheidendes Moment der pragmatischen Geschichtsschreibung zu Eigen. Denn deren gewissenhafte Darstellung der Ereignisse zielt letztlich darauf, „praktische Klugheit (prudentia) und politische Handlungsfähig-

32

Diese und die folgenden Übersetzungen nach HOMEYER, Lukian (s. Anm. 30).

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keit“ zu vermitteln.33 An ihrer Konzentration auf das „Nützliche“ zeigt sich das eminente Interesse an der eigenen Gegenwart. Die pragmatische Geschichtsschreibung ist von der Überzeugung bestimmt, dass sich geschichtliche Situationen wiederholen und ihre Darstellung deshalb Orientierung für die eigene Gegenwart geben kann (HistConscr 42). Daher ist auch verständlich, weshalb fiktive Erzählelemente kritisch gesehen werden müssen: Sie verdecken das wahre Geschehen und so das, was sich aus der Betrachtung der Geschichte lernen ließe. Die Aufnahmebereitschaft des Geschichtsschreibers vergleicht Lukian deshalb mit „einem klaren, glänzenden und ein Bild scharf zurückwerfenden Spiegel“ (HistConscr 51). Gerade deshalb kommt es allerdings auf die Form der Darstellung an (ebd.). Es sind zwei Haupteigenschaften, die ein Geschichtsschreiber nach Lukian besitzen muss: „Verständnis für politisches Geschehen und die Fähigkeit, darzustellen“ (su,nesi,n te politikh.n kai. dunami,n e` rmhneutikh,n HistConscr 34). Er muss also einerseits die Ereignisse verstehend durchdringen, andererseits aber auch eine den Ereignissen adäquate literarische Form der Darstellung finden, die das, was es zu erkennen gilt, sichtbar werden lässt. Dabei schließt Lukian nicht aus, dass sich das „Angenehme“ mit dem „Nützlichen“ verbinden lasse, schränkt aber sofort ein, dass die Geschichtsschreibung, solange sie ihr einziges Ziel verfolge, „die Wahrheit aufzudecken […] sich wenig um die Schönheit kümmern“ werde (HistConscr 9). Zwar gebe es auch „stilistische Kunstmittel, die sich mit der Wahrheit verbinden lassen“ (HistConscr 13), ein Geschichtsschreiber hingegen, der völlig „Fiktives“ (muqw/dej)34 erzählt (HistConscr 10) und sich etwa nur in Lobhudeleien und Übertreibungen ergeht (HistConscr 11), verfehlt letztlich auch sein rhetorisches Ziel. Es gelingt ihm nämlich nicht, sein kritisches Publikum zu überzeugen. Damit rückt Lukian die intendierten Leser als konstitutive Größe für die Bestimmung eines Geschichtswerks in den Blick. Die Hörer sind wie „Scharfrichter […], die alles, was vorgetragen wird, wie Geldwechsler Stück für Stück […] prüfen, um das Falschgeld sofort auszuscheiden, dagegen wertbeständige und echte Münze anzunehmen“ (HistConscr 10). Kann eine fiktive, durch Lob und Übertreibung getrübte Darstellung möglicherweise kurzfristig – etwa bei den gelobten Machthabern – Erfolg haben, so stellt sich im Lauf der Zeit nach Lukians Überzeugung doch die historische Qualität eines Geschichtswerks heraus (HistConscr 61). Traditionen, die der Schreiber selbst für fiktiv hält, sollen allerdings nicht einfach unterdrückt werden, wohl aber nicht so erzählt werden, „als traue man der Sache völlig; die Entscheidung über die Glaubwürdigkeit bleibe in der Schwebe und dem Leser überlassen“ (HistConscr 60). Diese kritische Distanzierung des Autors von seinem 33 34

L. KOLMER , Geschichtstheorien (UTB 3002), Paderborn 2008, 19. So die Übersetzung von HOMEYER, Lukian (s. Anm. 30), 107.

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Stoff, die den Rezipienten ein eigenes Urteil über das Erzählte einräumt, ist ein charakteristisches Element der durch Lukian repräsentierten Geschichtsschreibung. Fiktive Erzählelemente verfallen für Lukian dann der Kritik, wenn diese in Geschichtswerken, die den Anspruch erheben, vergangene Ereignisse wahrheitsgemäß zu schildern, begegnen. Ein Blick auf den hellenistisch-jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus zeigt, dass Lukian ein „Paradigma“ beschreibt, das zur Zeit der Abfassung der neutestamentlichen Schriften durchaus in Geltung ist. 35

3. Die Anwendung des historiographischen Paradigmas bei Josephus Knut Backhaus hat darauf hingewiesen, dass sich auch bei Josephus die charakteristische Entgegensetzung von h`donh, („Vergnügen“) auf der einen, avkri,beia („Genauigkeit“) und avlh,qeia („Wahrheit“), auf der anderen Seite findet (Jos, Bell 1,30), die in ähnlicher Weise bei Lukian als Differenz zwischen dem „Angenehmen“ und dem „Nützlichen“, das allein durch den Rekurs auf die Wahrheit sichtbar werde, beobachten ließ. Backhaus sieht diese Entgegensetzung durch die faktische Durchführung der Geschichtsdarstellung konterkariert, da diese offensichtlich darauf ziele, „den Leser in den Bann zu schlagen. Diente das Detail dem erzählerischen Reiz oder auch nur der klareren Ordnung, so konnte es guten Gewissens verändert, umgestellt und zur Not passend ersonnen werden.“ 36 In der Tat lässt die Darstellung, die Josephus vom „Jüdischen Krieg“ gibt, ein deutlich ausgeprägtes subjektives Interesse erkennen. Dies besteht allerdings nicht allein darin, seine Leser „in den Bann zu schlagen“, sondern enthält vor allem ein dezidiert argumentatives Moment:37 Josephus geht es darum, in Rom ei35

Der repräsentative Charakter der Abhandlung Lukians für das Geschichtsverstän dnis zur Zeit des Neuen Testaments, den etwa W. C. VAN UNNIK, Luke’s Second Book and the Rules of Hellenistic Historiography, in: J. Kremer (Hg.), Les Actes des Apôtres. Traditions, rédaction, théologie (BEThL 48), Gembloux 1979, 37–60 voraussetzt, ist in letzter Zeit in Frage gestellt worden, so vor allem von R OTHSCHILD, Irony (s. Anm. 28), 280f., vgl. DIES., Luke-Acts and the Rhetoric of History. An Investigation of Early Christian Historiography (WUNT II/175), Tübingen 2004, 82. Dass dies kaum mit Recht geschieht, zeigen nicht zuletzt die sogleich zu besprechenden Beobachtungen bei J osephus. Nicht wenige Ausleger halten deshalb mit Recht an dem repräsentativen Chara kter der von Lukian beschriebenen Konzeption von Geschichtsschreibung fest, so D. MARGUERAT, Wie historisch ist die Apostelgeschichte?, in: ZNT 18 (2006), 44–51, 48 oder auch J. SCHRÖTER, Zur Stellung der Apostelgeschichte im Kontext der antiken Historiographie, in: J. Frey u.a. (Hg.), Apostelgeschichte (s. Anm. 28), 26–47, 37. 36 B ACKHAUS, Spielräume der Wahrheit (s. Anm. 8), 15. 37 Die häufig vorgenommene Entgegensetzung von „narrativen“ und „argumentat iven“ Texten, die etwa M. F LUDERNIK, Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006,

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nerseits für sein eigenes Volk Verständnis zu erwirken, andererseits aber auch das Verhalten der Römer in einem möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen und so beide Parteien miteinander zu versöhnen: Er stellt sowohl den Großteil der Juden als auch die Römer als grundsätzlich friedfertig dar.38 Gleichzeitig gelingt es ihm dadurch, sein eigenes Verhalten als moralisch integer zu erweisen. 39 Entscheidend ist aber, dass Josephus seine Sicht dadurch plausibel zu machen versucht, dass er sie in Gestalt einer Geschichtsdarstellung präsentiert. Er erhebt den Anspruch, dass seine Darstellung historisch authentisch ist, und er bestreitet die Berechtigung dieses Anspruchs denjenigen Schreibern, von denen er sich im Proömium absetzt. Josephus begründet seinen Anspruch durch den Hinweis, dass er selbst Augenzeuge der Ereignisse war und seine Sicht weder durch „Schmeichelei gegenüber den Römern“ (kolakei,a h` pro.j `Rwmai,ouj) noch durch „Hass gegen die Juden“ (mi/so to. pro.j vIoudai,ou) und also durch subjektive Interessen desavouiert würde (Jos, Bell 1,1–3).40 Er nimmt also für sich in Anspruch, in seiner Darstellung die geschichtlichen Ereignisse selbst, die pra,gmata, zu berichten und macht sich ausdrücklich das „Paradigma“ von Geschichtsschreibung zu Eigen, in der es auch nach ihm darum geht „die Wahrheit zu sagen und mit viel Mühsal die Fakten zu sammeln“ (tavlhqh/ le,gein kai. meta. pollou/ po,nou ta. pra,gmata sulle,gein, Jos, Bell 1,16). Im Zusammenhang unserer Fragestellung ist Josephus auch deshalb von Interesse, weil er als ein prägnantes Beispiel dafür gelten kann, wie jüdischbiblisches Denken in den Diskurs mit der hellenistisch geprägten Geschichtsschreibung eintritt. Die Frage, die sich dabei stellt, besteht darin, inwiefern ihm dieser Brückenschlag gelingt und wie er konkret zu beschreiben ist. Helgo Lindner benennt in seiner Untersuchung zum Geschichtsverständnis des Josephus die Kategorie der Klage als ein Motiv, mit dem die Verbindung des Josephus zur alttestamentlichen Tradition sichtbar werde. Denn mit der Klage habe Josephus „ein alttestamentlichjüdisches Motiv in das sonst grundsätzlich nach hellenistischen Vorbildern gearbeitete Bellum eingebracht, das noch deutlich genug den Punkt mar73 vornimmt, ist aus meiner Sicht insofern nicht unproblematisch, als sie verdeckt, dass sich auch in narrativen Texten argumentative Strukturen finden lassen. Narration erweist sich deshalb als eine bestimmte Art der Argumentation. Auch die von ROTHSCHILD, Luke-Acts and the Rhetoric of History (s. Anm. 35), 1 aufgestellte Alternative von „exposing truth“ und „argue truth“ ist deshalb nicht unbedingt hilfreich. 38 Vgl. S. MASON, Flavius Josephus und das Neue Testament, aus dem Amerikanischen von M. VOGEL (UTB 2130), Tübingen/Basel 2000, 100. 39 Vgl. K.-S. KRIEGER , Geschichtsschreibung als Apologetik bei Flavius Josephus (TANZ 9), Tübingen/Basel 1994, 328. 40 Zur Auslegung von Jos, Bell 1,1–3 siehe M. B AUSPIESS, Geschichte und Erkenntnis im lukanischen Doppelwerk. Eine exegetische Untersuchung zu einer christlichen Perspektive auf Geschichte, ABG 42, Leipzig 2012, 225–234.

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kiert, an dem er als Jude die Theorie von der Objektivität des Historikers durchbrechen muss“41. Es ist allerdings zu notieren, dass Josephus gerade an den Stellen, an denen er von der Klage über das Schicksal seines Volkes spricht, festhält, dass diese von seiner an den Ereignissen ausgerichteten Darstellung dezidiert zu unterscheiden sei. In Jos, Bell 5,20 bemerkt Josephus, dass „die leidenschaftlichen Gefühle zugunsten des Gesetzes der Geschichtsschreibung“ zu unterdrücken seien 42 und in Jos, Bell 1,12 fordert er seine Leser dazu auf, sie sollten die pra,gmata der Geschichtsschreibung (i`stori,a), die Klagen hingegen dem Schreiber zurechnen. Es geht an der Sache vorbei, wenn Detlev Dormeyer zu dieser Textstelle bemerkt, dass Josephus „die hier angezielte Trennung“ nicht gelinge, da seine Geschichtsschreibung „durchgängig pathetisch“ 43 sei. Denn Dormeyers Einwand übersieht den pragmatischen Zweck, den diese Äußerungen bei Josephus erfüllen. Es ist die bewusste Inanspruchnahme des hellenistischhistoriographischen Paradigmas, die der josephischen Geschichtsdarstellung ihre überzeugende Kraft verleihen soll. Gerade auch die konstruierten Passagen seiner Erzählung werden mit dem Anspruch historischer Authentizität versehen, um auf diese Weise sein argumentatives Ziel, Juden und Römer miteinander zu versöhnen, zu erreichen. Wie bei Lukian in der Theorie, so lässt sich bei Josephus in der praktischen Umsetzung präzise beobachten, was Erhard Blum als das „ionische Paradigma“44 bezeichnet hat. Gemeint ist damit die griechische Geschichtsschreibung, die mit Herodot im 5. Jahrhundert v. Chr. ihre grundsätzliche Ausprägung erfährt, in deren Rahmen sich auch Thukydides bewegt. Hier zeigt sich nach Blum eine „spezifische […] literarische […] Kommunikationsform (und Gattung) […], zu der beispielsweise wesentlich die Möglichkeit kritischer Rückfragen der Leser/Hörer zum Verhältnis von Quellen und Darstellung gehört“45. Der Verfasser tritt seiner Darstellung als auktoriales Subjekt gegenüber und ermöglicht so eine potentiell kritische Haltung zu seinem Stoff. 46 Diese Kommunikationsform beruht dem41 H. LINDNER , Die Geschichtsauffassung des Flavius Josephus im Bellum Judaicum. Gleichzeitig ein Beitrag zur Quellenfrage (AGJU 12), Leiden 1972, 150. 42 avlla. kaqekte,on ga.r kai. ta. pa,qh tw|/ no,mw| th/j grafh/j, Übersetzung nach der zweisprachigen Ausgabe von O. M ICHEL und O. B AUERNFEIND, Der Jüdische Krieg, Band II,1, Darmstadt 1963, 109. 43 DORMEYER, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 10, Anm. 40. 44 B LUM, Historiographie oder Dichtung? (s. Anm. 7), 68–72. 45 B LUM, Historiographie oder Dichtung? (s. Anm. 7), 71. 46 Vgl. B LUM , „Wie jede andere fiktionale Literatur (s. Anm. 7), 255: „Die Autoren präsentieren sich namentlich und gegenüber ihrem Gegenstand als distanziertes und potentiell kritisches Subjekt. Sie übernehmen Verantwortung für ihre Darstellung und – so Herodot – für die ,Erkundung‘ (i`stori,h) des Materials. Hatte sich der Wahrheitsanspruch der epischen Sänger (Homer, Hesiod) noch auf göttliches Wissen gegründet, so beruht er

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nach primär darauf, „wie der Autor seine Beziehung zu dem Text definiert bzw. welche Weise der Rezeption des Textes er auf Seiten der Rezipienten voraussetzt oder ihnen einräumt“ 47. Die Beobachtungen zu Lukian und Josephus bestätigen vollauf, was Blum aus seinen Überlegungen folgert. Demnach bezieht sich die entscheidende Differenz zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung nicht primär auf die Semantik dieser Texte, sondern auf ihre Pragmatik.48 Was als „Geschichtsschreibung“ beschrieben werden kann, das entscheidet sich an bestimmten Leseerwartungen, die die Verfasser hervorrufen und an einem bestimmten Anspruch, den sie für ihre Darstellung erheben.49 Das bedeutet, dass für die Frage, ob es sich bei einem Text um ein Geschichtswerk handelt, nicht entscheidend ist, ob es de facto fiktive Erzählelemente enthält, sondern, ob der Autor mit dieser beschriebenen Textpragmatik operiert und demnach den Anspruch erhebt, keine fiktionale Erzählung, sondern eine Darstellung historischer Ereignisse zu geben. Aus diesem Grund ist, wie ebenfalls Blum mit Nachdruck hervorgehoben hat, eine präzise Unterscheidung der Kategorien „fiktional“ und „fiktiv“ unbedingt notwendig. 50 Während der Gegensatz zu einer „fiktionalen“ Erzählung die „faktuale“ oder „authentische“ Erzählung ist, steht „fiktiv“ in Kontrast zu „real“. Nur die Bezeichnung „fiktiv“ sagt deshalb etwas über den ontologischen Status des in einer Darstellung Berichteten aus.51 Das praktisch unvermeidbare Vorkommen fiktiver Elemente in Geschichtswerken kann deshalb noch nicht für sich die Begründung dafür sein, die grundlegende Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Dichtung aufzugeben. Gleichzeitig gilt aber auch: Dass eine Erzählung geschichtliche Ereignisse berichtet, entscheidet noch nicht darüber, ob sie dies auch in Form einer Geschichtsdarstellung tut. Für die Evangelien und die Apostelgeschichte ist deshalb die Frage, ob diese historisch authentische Angaben enthalten, von der Frage, ob sie deshalb zur Geschichts-

bei den Prosaautoren auf deren Materialbeherrschung und ihrem eigenen Urteilsvermögen.“ 47 B LUM, Historiographie oder Dichtung? (s. Anm. 7), 70. 48 Ebd. 49 Vgl. P. R ICŒUR, Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, Konferenzen des Centre Marc Bloch (Berlin) Band 1, Münster 2002, 7: „Der Leser eines historischen Textes erwartet, daß der Autor ihm eine ,wahre Erzählung‘ vorlegt und keine Fiktion.“ Freilich ergibt sich im Anschluss daran „die Frage, ob, wie und bis zu welchem Punkt dieser stillschweigende Pakt bei der Lektüre eingehalten werden kann.“ 50 B LUM, „Wie jede andere fiktionale Literatur …?“ (s. Anm. 7), 251f. Blum bemerkt dabei auch, dass sich die Begriffsvermischung „leider auch in einschlägiger exegetischer Literatur“ finde (a.a.O., 251). 51 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie (s. Anm. 19), 13.

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schreibung bzw. zur Biographie, die eine Untergattung der Historiographie ist52, gerechnet werden können, konsequent zu unterscheiden. Die Diskussion in der neutestamentlichen Wissenschaft scheint indes immer noch stark auf die Frage nach der Fiktivität von Geschichtsschreibung konzentriert. Für die antike Historiographie als Horizont der neutestamentlichen Erzählliteratur wird dabei vor allem auf die so genannte „mimetische“ oder auch „pathetische“ Geschichtsschreibung hingewiesen. Diese ist für Eckhard Plümacher und Detlev Dormeyer ein Hinweis darauf, dass zu der Zeit, in der die neutestamentliche Erzählliteratur entsteht, eine strikte Trennung zwischen Fakt und Fiktion in der Historiographie nicht mehr aufrechterhalten werde. Plümacher veranschaulicht dies an den Zeichen- und Wunderhandlungen, die für ihn auch in der historiographischen Literatur ihren Platz haben und deshalb nicht gegen die Auffassung sprechen, etwa die Apostelgeschichte der antiken Geschichtsschreibung zuzurechnen.53 Dormeyer macht sich dieses Argument zu Eigen 54 und versucht von hier aus seine bereits früher vorgetragene These zu untermauern, dass nicht nur die beiden Schriften des lukanischen Doppelwerkes, sondern auch das Markus- und das Matthäusevangelium im Rahmen der griechischen Historiographie bzw. Biographie verstanden werden können. 55 Sogar das Johannesevangelium gehört für Dormeyer in den Rahmen der „pathetischen Geschichtsschreibung“56. Die „mimetische“ Geschichtsschreibung ist damit als das entscheidende Bindeglied zwischen der pragmatischen Geschichtsschreibung und den neutestamentlichen Texten etabliert. Dormeyer scheint dabei sogar noch einen Schritt weiter als Plümacher zu gehen, wenn er die Geschichtsschreibung auch als eine Art „fiktionaler“ Literatur versteht. Diese These wird von ihm mit dem Argument begründet, dass in der so genannten „pathetischen“ oder auch „mimetischen“ Geschichtsschreibung die aristotelische, für die Poetik zentrale Kategorie der „Mimesis“ in die Geschichtsschreibung eingearbeitet werde. 57 Dabei beruft er sich auf ein Fragment des Duris von Samos (ca. 340–270 v. Chr.), das der Bezeichnung „mimetische Geschichtsschreibung“ ihren Namen gegeben hat. 52 Biographie und Historiographie unterscheiden sich im Inhalt ihrer Darstellung, nicht in der Art ihrer (Re-)Präsentation, vgl. VON FRITZ, Die Bedeutung des Aristoteles für die Geschichtsschreibung (s. Anm. 22), 331. B ACKHAUS, Spielräume der Wahrheit (s. Anm. 8), 2, Anm. 6 bemerkt mit Recht, dass es sich bei Historiographie und Biographie um „sich […] faktisch überschneidende Textsorten“ handele. 53 E. P LÜMACHER, Teratei,a) Fiktion und Wunder in der hellenistisch-römischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte, in: ders., Geschichte und Geschichten (s. Anm. 9), 33–83, 75. 54 DORMEYER, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 12f. 55 DORMEYER, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 17. 56 DORMEYER, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 31. 57 DORMEYER, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 9.

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Duris kritisiert im Proömium seiner Makedonischen Geschichte die Schreiber Ephoros und Theopomp, die weit hinter der „geschichtlichen Wirklichkeit“ (ta. geno,mena) zurückgeblieben seien, da sie „in ihrer Darstellung weder irgendwelcher Nachahmung (mi,mhsij) noch Freude (h`donh,) Ausdruck gegeben hätten, vielmehr „kümmerten sie sich lediglich um den Stil“58. An dieser Stelle ist allerdings deutlich: Für Duris dient die mi,mhsij dazu, die geschichtliche Wirklichkeit zu erschließen. Die Darstellung bezieht sich demnach also ausdrücklich auf das, „was geschehen ist“ (ta. geno,mena), auf die „wirkliche Welt“, sie entwirft keine „mögliche Welt“, wie es Aristoteles für die Dichtung voraussetzt. 59 Auch die „mimetische“ Geschichtsschreibung hat demnach, zugespitzt gesagt, das Ziel, „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen ist“ 60. In ihrer Konzentration auf die narrative Ausgestaltung der Geschichtsdarstellung knüpft sie zudem an die pragmatische Geschichtsschreibung an, für die eine dem Inhalt adäquate Form der Darstellung bereits ein wichtiges Moment ist. Auch bei Duris findet deshalb, wie Klaus Meister mit Recht hervorgehoben hat, keine Übertragung der aristotelischen Poetik auf die Geschichtsschreibung statt. 61 Sind die Grenzen zwischen „Fakt und Fiktion“ de facto offen, so bleibt Geschichtsschreibung als literarische Kommunikationsform deutlich von der fiktionalen Literatur unterscheidbar. 62 Unterscheidbar bleibt sie als textpragmatische Kategorie. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sind die neutestamentlichen Texte zu betrachten. Im Rahmen dieses Aufsatzes müssen einige Andeutungen genügen. 63 58

FrGrHist 79,1 (Edition J AKOBY 1, 138), Übersetzung nach K. MEISTER , Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Stuttgart 1990, 96. 59 Man kann MEISTER , Die griechische Geschichtsschreibung (s. Anm. 58), 99 nur zustimmen, wenn er bemerkt: „Was die Theorie angeht, so entspricht die Mimesis des Duris keineswegs der Darstellung der potentiellen Wirklichkeit bei Aristoteles, sondern steht im Gegensatz dazu.“ Das wird auch nicht dadurch eingeschränkt, dass bei Duris „eine am Sensationellen orientierte Darstellungsweise“ dominiert (ebd.). 60 MEISTER , Die griechische Geschichtsschreibung (s. Anm. 58), 97 bemerkt deshalb mit Recht: „Nachahmung der historischen Wirklichkeit, wirklichkeitsgetreue, ,realistische‘ Darstellung der Ereignisse. Dies ist es, was Duris zu seinem Programm erhebt.“ 61 MEISTER , Die griechische Geschichtsschreibung (s. Anm. 58), 99, vgl. VON FRITZ, Die Bedeutung des Aristoteles für die Geschichtsschreibung (s. Anm. 22), 346. Von Fritz zeigt auf, dass das Interesse des Duris an der mi,mhsij gerade aus dem Interesse der Geschichtsschreibung heraus entsteht, das Geschehene adäquat darzustellen. 62 Zu diesem Ergebnis kommen auch B ACKHAUS/HÄFNER, Zwischen Konstruktion und Kontrolle (s. Anm. 1), 131. 63 Ich beziehe mich dabei auf die Ergebnisse meiner Untersuchung zum lukanischen Doppelwerk: B AUSPIESS, Geschichte und Erkenntnis (s. Anm. 40), siehe dazu die zusammenfassenden Ausführungen a.a.O., 505ff., zu den Evangelien insgesamt a.a.O., 182–185.

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4. Die narrativen Texte des Neuen Testaments Es ist das Verdienst der Arbeiten Dormeyers, dass er eine theologische Deutung der Beobachtungen zur antiken Geschichtsschreibung vorlegt, die für die Diskussion überaus anregend ist. 64 Für Dormeyer stehen die Evangelien und die Apostelgeschichte in einer Entwicklung, in der „die unzulässige Grenzziehung der Theoretiker der pragmatischen Geschichtsschreibung gegenüber den Kräften des Göttlichen“ überwunden werde. 65 Während Josephus noch keine befriedigende Lösung zur Vermittlung zwischen jüdischem und griechischem Denken gelungen sei66, nehme der Verfasser des Lukasevangeliums das Konzept der pragmatischen Geschichtsschreibung auf, erweitere es aber ganz bewusst durch die Beschreibung des Handelns Gottes als Gegenstand der Geschichtsschreibung. 67 Die Evangelien verortet Dormeyer so in einer mit der pathetischen und biographischen Historiographie gemeinsamen Strömung, die „gegen die Engführung der pragmatischen Geschichtsschreibung die Einwirkungen von Gottheiten und Glaubensüberzeugungen als Faktoren der Geschichte anerkennt und einarbeitet“.68 Eve-Marie Becker hat die Entwicklung der Diskussion durchaus treffend mit der Formulierung wiedergegeben, dass von einer gegenüber Thukydides vorzunehmenden „Entschränkung“ des Geschichtsbegriffs69 auszugehen sei, innerhalb dessen die narrativen Texte des Neuen Testaments ihren Platz finden. 70 Demgegenüber habe ich versucht deutlich zu machen, dass auch in neutestamentlicher Zeit Geschichtsschreibung und „fiktionale Literatur“ voneinander präzise unterschieden werden können und insofern ein präziser Geschichtsbegriff möglich ist. Lukian repräsentiert im zweiten Jahrhundert ein nach wie vor gängiges Konzept, auch wenn seine Polemik gegenüber anderen Geschichtsschreibern zeigt, dass dessen praktische Umsetzung umstritten war. Geschichtsschreibung lässt sich als eine bestimmte sprachliche Bezugnahme auf die Wirklichkeit beschreiben, die von einem „fiktionalen“ Bezug zu unterscheiden ist. Der unhintergehbar konstruktive und 64

Neben dem hier diskutierten Aufsatz siehe auch D. DORMEYER, Das Markusevangelium, Darmstadt 2005, 226–231. 65 DORMEYER, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 20. 66 DORMEYER, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 7. 67 DORMEYER, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 18. 68 DORMEYER, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 33. 69 BECKER, Markus-Evangelium (s. Anm. 5), 46. 70 Es ist daher verständlich, dass DORMEYER , Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 18f., Anm. 68 Rainer Riesner und Daniel Marguerat vorwirft, die „mimetische“ Geschichtsschreibung bei ihren Überlegungen nicht genügend berücksichtigt zu haben, vgl. R. R IESNER , Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte, in: ZNT 18 (2006), 38–43; MARGUERAT, Wie historisch ist die Apostelgeschichte? (s. Anm. 35).

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damit immer auch fiktive Charakter von Geschichtsschreibung ändert nichts an der Pragmatik der Geschichte. Es sei abschließend nur noch angedeutet, dass sich weder an den Evangelien noch an der Apostelgeschichte die historiographische Textpragmatik nachweisen lässt. Als ein wesentliches Element fehlt ihnen allen zunächst einmal die ausdrückliche Distanzierung des Autors von seiner Darstellung, die das ganze Gewicht der Argumentation auf die pra,gmata fallen lässt. Diese Feststellung gilt gerade auch für das Lukasevangelium, das als einziges der Evangelien ein klassisches Proömium enthält (Lk 1,1–4).71 Zwar wird der Verfasser an dieser Stelle in der ersten Person Singular greifbar (Lk 1,3), im weiteren Verlauf der Darstellung tritt er dann allerdings vollständig hinter die Erzählung zurück. Auch die „Wir-Stücke“ der Apostelgeschichte (Apg 16,10–17; 20,5–15; 21,1–18; 27,1–28,16) lassen sich nicht als Beleg für eine kritische Distanzierung des Geschichtsschreibers von seinem Stoff interpretieren. Ebenso wenig handelt es sich hierbei um bewusste literarische Fiktion, mit der der Verfasser etwa einen Anspruch auf Augenzeugenschaft erhebt. 72 Auch der in Lk 1,1 verwendete Begriff pra,gmata kann keineswegs begründen, dass Lukas sich damit selbst der pragmatischen Geschichtsschreibung zurechne.73 Denn für sein Verständnis ist entscheidend, welche Bedeutung Lukas diesem Begriff durch den literarischen Kontext seiner Darstellung gibt. Lukas lässt keinen Zweifel 71

Zur Auslegung von Lk 1,1–4 siehe B AUSPIESS, Geschichte und Erkenntnis (s. Anm. 40), 173–248. 72 So die These von E. P LÜMACHER . Wirklichkeitserfahrung und Geschichtsschreibung bei Lukas. Erwägungen zu den Wir-Stücken der Apostelgeschichte, in: ders., Geschichte und Geschichten (s. Anm. 9), 85–107, 98. Aus meiner Sicht hat die etwa auch von MARGUERAT, Wie historisch ist die Apostelgeschichte? (s. Anm. 35), 50 vertretene These, dass die „Wir-Stücke“ darauf hindeuten, dass der Verfasser des Doppelwerks hier Berichte aufgenommen hat, die den Anspruch der Augenzeugenschaft erheben, die größte Plausibilität. Die Formulierungen in der ersten Person Plural tauchen zu unvermittelt auf und werden zu wenig stilisiert, als dass sie sich als bewusste literarische Fiktion erklären ließen. 73 Gegen DORMEYER , Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung (s. Anm. 9), 17. Ebenso wenig überzeugend ist es, wenn ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 1), 431 behauptet: „Der Evangelist Lukas ist zum Beispiel seinem Selbstverstän dnis nach ein Historiograph, der die Jesusgeschichte sowohl historisch als auch narrativ darstellt und hinsichtlich dieser Aufgabe ein erstaunliches Reflexionsniveau besitzt, wie schon Lk 1,1–4 beweist.“ In der Tat beweist Lk 1,1–4 ein hohes Reflexionsniveau des Verfassers. Dieses zeigt sich aber gerade darin, dass er sich nicht als „Historiograph“ präsentiert, sondern als Erzähler der auf der Tradition der Apostel basierenden christlichen Verkündigung, die er seinem Leser Theophilus in ihrer Zuverlässigkeit einsichtig machen möchte. Diese Einsicht wird aber nicht durch historische Argumentation erzielt, sondern durch die Rückführung der Jesus-Tradition auf die Selbsterschließung Jesu vor seinen Aposteln und durch die narrative Ausgestaltung dieser Tradition unter Berücksic htigung der geschichtlichen Situation, in die hinein der Verfasser des lukanischen Do ppelwerks schreibt.

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daran, dass die Erkenntnis dieser Ereignisse sich nicht durch historische Argumentation vermitteln lässt. Denn sein intendierter Leser Theophilus ist ohne Zweifel ein Christ, der das Werk aus der Perspektive des christlichen Glaubens heraus liest und deshalb weiß, dass die peplhroforhme,na evn h`mi/n pra,gmata, die präzise mit der Geschichte Jesu zu identifizieren sind, Gottes Geschichte sind, die den Menschen allein deshalb einsichtig ist, weil der auferstandene Jesus selbst sie seinen Aposteln in den Ostererscheinungen erschlossen hat. Auf dieser grundlegenden Erkenntnis baut sein Werk auf. Nicht zufällig greift er am Ende seines Evangeliums das in Lk 1,4 genannte Stichwort evpiginw,skein noch einmal auf und stellt es ins Zentrum der Erzählung von den „Emmaus-Jüngern“ (Lk 24,13–35; VV. 16 und 31).74 Ohne die Selbsterschließung des Auferstandenen, das macht der dem Erkenntnisereignis vorausgehende Dialog der beiden „EmmausJünger“ (Lk 24,14–24) deutlich, lassen sich zwar die äußeren Daten der Geschichte Jesu nennen, ihr theologischer Sinn bleibt aber verschlossen. Der Verfasser des Lukasevangeliums nimmt damit ein Stilmerkmal auf, das sich in allen vier Evangelien beobachten lässt. Sie alle werden durch Inklusionen gerahmt, die die theologische Tiefendimension des Geschehens verdeutlichen. Das Markusevangelium, in dem die Gattung „Evangelium“ erstmals hervortritt, signalisiert den Leserinnen und Lesern die Bedeutung der Person Jesu von Anfang an durch den Titel ui`o.j qeou/ (Mk 1,1.11; 9,7; 15,39), der innerhalb der Erzählung dann allerdings erst vom Kreuz her erschlossen wird (Mk 15,39; 16,6f.). Die Rezipienten sollen demnach die Jesus-Geschichte ausdrücklich vom Ereignis des Kreuzes und der Auferstehung her lesen. Ohne die Erkenntnis des Sohnes Gottes in dem gekreuzigten Jesus, die dem heidnischen Hauptmann als erstem in den Mund gelegt wird (Mk 15,39), bleibt das Ereignis stumm. Eine historiographische Wiedergabe der Ereignisse ist für Markus kein Weg zur Vermittlung von Glaubenserkenntnis. Dasselbe lässt sich für das Matthäusevangelium zeigen. Hier ist es der a;ggelloj kuri,ou, der Jesus als den „Immanuel“ erschließt (Mt 1,23), in dem Gott „mit uns“ ist und „sein Volk von ihren Sünden errettet“ (Mt 1,21). Eben dieses „Mit-Sein“ Jesu aber wird den Jüngern vom auferstandenen Jesus Christus am Schluss des Evangeliums zugesagt (Mt 28,20). Auch Matthäus nimmt für seine Erzählung nicht nur selbst ganz bewusst die nachösterliche Perspektive ein und begründet sie nicht – wie Josephus – durch den Anspruch einer historisch genauen Darstellung der Ereignisse. Vielmehr setzt er diese Perspektive auch für seine intendierten

74

Zur Auslegung von Lk 24,13–35 siehe B AUSPIESS, Geschichte und Erkenntnis (s. Anm. 40), 249–303.

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Leser voraus. Weil sie an den Auferstandenen glauben, verstehen sie diese Geschichte.75 Bereits die synoptischen Evangelien zeichnet demnach ein Strukturmerkmal aus, das im Johannesevangelium dann in vollendeter Deutlichkeit in Erscheinung tritt. Der Johannesprolog (Joh 1,1–18) besingt die Inkarnation des göttlichen Logos als das wahre theologische Ereignis der irdischen Geschichte Jesu (Joh 1,14). In dem inkarnierten Logos tritt die göttliche do,xa sichtbar in Erscheinung. Aber auch das Johannesevangelium lässt keinen Zweifel daran, dass diese Erkenntnis für die Menschen nicht ohne weiteres zugänglich ist. Dazu bedarf es allererst des Wunders der Neugeburt, wie Joh 1,12f. andeutet, und was dann in Joh 3,1–21 ausgeführt wird. Das zwei Mal im Prolog ausgesprochene Bekenntnis zur Gottheit Jesu (Joh 1,1.18) findet seine Entsprechung im Bekenntnis des Thomas am Ende des Evangeliums (Joh 20,28). Auch Johannes verdeutlicht damit, dass sich die Erkenntnis, von der aus er sein Evangelium erzählt, den Ostererscheinungen verdankt und dass die von ihm erzählte Geschichte Jesu nur als narrative Explikation des Osterzeugnisses zu verstehen ist. Dies bestätigt auch die Schlussbemerkung in Joh 20,30f., wo der Verfasser dann tatsächlich direkt zu Wort kommt und über die Absicht seiner Darstellung reflektiert. Seine Erzählung zielt auf den Glauben an Jesus als Christus und Sohn Gottes. Die shmei/a, die er von Jesus erzählt, sind zu verstehen als Taten des auferstandenen Jesus Christus, den zu erkennen bereits glauben bedeutet.76 So sehr der Evangelist Johannes eine reflektierte Haltung zu seiner Erzählung signalisiert, so wenig äußert sich diese darin, dass er die Position eines Historikers einnimmt, der die Plausibilität seiner Argumentation durch 75 Dass Matthäus häufiger als Markus erzählt, dass im Duktus seiner Erzählung Pe rsonen bereits vor Ostern Jesus als den ku,rioj und ui`o.j qeou/ bekennen (Mt 8,25; 14,33 u.ö.) und dass etwa das Petrus-Bekenntnis in Mt 16,13–20 sehr viel „vollmundiger“ gestaltet ist als in der markinischen Vorlage, hängt m.E. damit zusammen, dass für Matth äus die Begründung dieser Perspektive nicht mehr in derselben Weise Thema ist wie für Markus. Er setzt sie selbstverständlich voraus und stellt seiner Gemei nde in der Erzählung der Jesus-Geschichte vor Augen, dass in ihrer glaubenden Betrachtung auch die gegenwärtigen Anfechtungen und Zweifel überwunden sind, siehe dazu M. B AUSPIESS, Auf der Grenze von Theologie und Geschichte. Joseph Ratzingers „Jesus von Naz areth“ (Band I+II), in: P. Metzger (Hg.), Die Konfession Jesu (BH 112), Göttingen 2012, 101– 130, 112ff. 76 Zur Diskussion um die Auslegung von Joh 20,30f. siehe H.-C. KAMMLER, Die „Zeichen“ des Auferstandenen. Überlegungen zur Exegese von Joh 20,30+31, in: O. Hofius/ders., Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), Tübingen 1996, 191–211. Kammler votiert dafür, die Bezeichnung shmei/a in Joh 20,30 auf die im unmittelbaren Kontext erzählten Selbsterschließungen des Aufe rstandenen zu beziehen. Er notiert am Ende aber ausdrücklich, dass damit auch etwas über die Wundererzählungen des Johannesevangeliums insgesamt ausgesagt ist: „Von Joh 20,30f. her gelesen, erzählen sie allesamt vom auferstandenen Christus“ (a.a.O., 209).

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den Verweis auf die adäquate Darstellung der zugänglichen Quellen zu untermauern versucht. Theologisch bedeutet dies: Eine grundsätzliche Einordnung des Handelns Gottes in die Geschichte findet in den Evangelien gerade nicht statt. Sie alle bezeugen vielmehr die Geschichte Jesu als epiphanen Einbruch der Wirklichkeit Gottes in die Wirklichkeit dieser Welt. Diese Wirklichkeit kann nicht durch eine historische Argumentation plausibel gemacht werden, sondern wird nur durch ein auf Gott selbst zurückzuführendes Offenbarungsgeschehen einsichtig. Es hat deshalb einen theologischen Grund, dass die Verfasser der Evangelien sich das historische Paradigma nicht zu Eigen machen.

5. Die „Fiktionalität“ und die „Faktualität“ der neutestamentlichen Texte Es hat sich gezeigt, dass eine präzise Unterscheidung zwischen den Kategorien der „Fiktionalität“ und der „Faktualität“ dann möglich ist, wenn man nicht von dem Vorhandensein fiktiver Erzählelemente auf die Fiktionalität eines Texts schließt, sondern konsequent im Blick behält, dass mit der Kategorie der „Faktualität“ in erster Linie ein Anspruch des Verfassers signalisiert wird, der seinem Text einen ganz bestimmten Charakter der Argumentation verleiht. Der Vorteil dieser „erzähltheoretischen“ Definition besteht darin, dass Texte hier nicht durch die sterile Alternative der vermeintlichen „Objektivität“ oder „Subjektivität“ der erzählten Inhalte her bestimmt, sondern hinsichtlich ihrer Art der Bezugnahme auf Wirklichkeit beschrieben werden. Die sprachliche Verfasstheit von Geschichtserzählungen wird damit konsequent ernst genommen. Aus diesem Grund bedeutet es auch keinen Rückfall hinter den „linguistic turn“, wenn man dem klassischen Paradigma Rankes, das sich – wie gesehen – von Aristoteles über Lukian bis in neueste geschichtshermeneutische Entwürfe hinein beobachten lässt, auch heute noch etwas abzugewinnen vermag. Vielleicht ist es hilfreich, dafür den Kontext der Äußerung Rankes noch einmal in Erinnerung zu rufen. In der Vorrede zur ersten Ausgabe seiner „Geschichten der romanischen und germanischen Völker“ aus dem Jahr 1824 bemerkt Ranke: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gege nwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.“ 77

77

RANKE, Geschichten (s. Anm. 10), VII.

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Ähnlich wie bei Aristoteles und Lukian besteht das Proprium dieser Aussage nicht in dem Anspruch der Geschichtsschreibung „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen“. Dieser wird vielmehr schlicht vorausgesetzt. Die „historistische“ Engführung Rankes steckt vielmehr in dem „blos“. Ranke möchte die Position eines distanzierten Beobachters einnehmen, der sich eines persönlichen Urteils über die Ereignisse enthält und die Geschichtsschreibung von der Aufgabe entlasten möchte, „die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren“. Was Ranke an dieser Stelle aufgibt, ist der Anspruch der pragmatischen Geschichtsschreibung, Geschichte mit Blick auf die eigene Gegenwart zu schreiben. Gerade dieser Aspekt hat sich aber heute wieder als zentral erwiesen. Wird der gegenwärtige Diskurs als der Ort erkannt, in dem Geschichtsdarstellungen entstehen, dann ist es aber auch sinnvoll, präzise die Art und Weise zu bestimmen, wie in diesem Diskurs argumentiert wird. Man kann Ruben Zimmermann deshalb nur zustimmen, wenn er dafür plädiert, „einen Schritt über White hinauszugehen“ 78. Dies bedeutet aber gerade, dass die Einebnung von „Faktualität“ und „Fiktionalität“ ebenso wenig notwendig ist wie diejenige von Geschichtsschreibung und Dichtung. Bereits Paul Ricœur hat darauf hingewiesen, dass White sich für seine Konzeption auf Verfasser bezieht, die sich einer Aufhebung der aristotelischen Differenzierung gerade widersetzen. 79 Die von Chris Lorenz vorgetragene Kritik an White, die diesem die Annahme einer „puren Faktizität“ attestiert, der gegenüber dem Geschichtsschreiber völlig frei konstruiere, dürfte darauf hinauslaufen, dass bei White ein Kurzschluss darin vorliegt, dass er von der Einsicht des grundsätzlich konstruktiven Charakters von Geschichtsdarstellungen ausgehend die Bedeutung des Paradigmas, Geschichte eben in einer angemessenen Weise zu erzählen, unterschätzt. Lorenz hält deshalb daran fest, dass es auch unter modernen erkenntnistheoretischen Bedingungen möglich ist, von „falschen“ Geschichtserzählungen zu sprechen, und zwar dann, „wenn sie nichts erhellen, sondern unsinnig sind“80. Die systematischen Konsequenzen dieser Diskussion mit Blick auf einen für die neutestamentliche Wissenschaft angemessenen Geschichtsbegriff können hier nicht im Detail erörtert werden. 81 Gezeigt werden sollte in diesem Zusammenhang lediglich, dass Geschichtserzählungen 78

ZIMMERMANN, Geschichtstheorien (s. Anm. 1), 433. R ICŒUR, Zeit und Erzählung I (s. Anm. 4), 243. 80 C. LORENZ, Kann Geschichte wahr sein? Zu den narrativen Geschichtsphilosophien von Frank Ankersmit und Hayden White in: J. Schröter/A. Eddelbüttel (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive (TBT 127), Berlin/New York 2004, 33–63, 60. 81 Ich verweise dafür auf meine Ausführungen in B AUSPIESS, Geschichte und Erkenntnis (s. Anm. 40), 521ff. Auch das dort Gesagte wäre freilich in systematischer Hinsicht noch weiter zu explizieren. 79

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per definitionem nicht fiktional sind. Von daher ist m.E. auch die These, dass sich die neutestamentliche Erzählliteratur im Rahmen der antiken Geschichtsschreibung und vor dem Hintergrund eines „entschränkten“ Geschichtsbegriffs verstehen ließen, in Frage zu stellen. Denn die Gattung, die wir im Neuen Testament vorfinden, zeichnet sich nun in der Tat dadurch aus, dass die Grenzen von Fiktionalität und Faktualität bewusst überschritten werden. Diese Eigenart gerät aber gerade aus dem Blick, wenn man die neutestamentlichen Texte einseitig von der antiken Geschichtsschreibung her interpretiert. Lassen sich die Evangelien und die Apostelgeschichte nicht der antiken Geschichtsschreibung zurechnen, so wird ihre literarische Eigenheit deshalb letztlich auch nicht durch die Kategorien der „Fiktionalität“ und der „Faktualität“ erfassbar. Denn die Verfasser erzählen die Geschichte Jesu einerseits als ein Ereignis in der „wirklichen Welt“, das aber gleichzeitig für die Glaubenden die Vision einer „möglichen Welt“ einer mit Gott versöhnten Schöpfung sichtbar werden lässt. Diese „mögliche Welt“ steht der Lebenswirklichkeit nicht einfach gegenüber. Sie eröffnet vielmehr – im Sinne des Aristoteles – eine Dimension der Wirklichkeit, die die historische Darstellung nicht zu erschließen vermag. Die literarische Eigentümlichkeit der Evangelien spiegelt deshalb die für den urchristlichen Glauben charakteristische Auffassung wider, dass die Geschichte einerseits der Ort des Heilshandelns Gottes ist, andererseits aber dieses Heilshandeln in historischer Perspektive niemals eindeutig sichtbar und deshalb auch nicht historisch darstellbar wird. Darstellbar ist das Heilshandeln Gottes narrativ nur in einer theologischen Erzählung, die die Grenzen von Faktualität und Fiktionalität ganz bewusst überschreitet. Sind diese Kategorien nicht durch „Objektivität“ bzw. „Subjektivität“ oder eben „Fiktivität“ unterscheidbar, sondern durch ihre Art der Bezugnahme auf Wirklichkeit, dann ergibt sich für die Exegese der Evangelien und der Apostelgeschichte die Aufgabe, den Geschichtsbezug der neutestamentlichen Texte ausgehend von Beobachtungen an diesen Texten selbst präzise zu beschreiben. Bei Paul Ricœur findet sich dazu die interessante Bemerkung, dass man in der Kritik an Ranke „nicht die metaphorische Bedeutung des Wie […] bemerkt habe“82. Ricœur nimmt so Whites grundlegende Einsicht auf, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, Geschichte in einem gegenwärtigen Diskurs zu repräsentieren.83 Diese Einsicht muss aber gerade nicht dazu 82

R ICŒUR, Die erzählte Zeit, in: ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übersetzt und herausgegeben von P. Welsen (PhB 570), Hamburg 2005, 183–207, 198. Ricœur fährt fort: „Wie es wirklich war. Zu sagen, wie was die Dinge waren, heißt, sie in einer Beziehung der metaphorischen Angleichung, die Identität und Differenz in sich versammelt, zu sehen als …“ 83 So möchte Ricœur im Anschluss an White „eine tropologische Annäherung an das Problem versuchen“, vgl. RICŒUR , Die erzählte Zeit (s. Anm. 82), 198.

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führen, alles Mögliche als „Geschichtserzählung“ zu beschreiben. Die Evangelien und die Apostelgeschichte 84 jedenfalls erzählen ihre Geschichte mit der Überzeugung, dass die Wirklichkeit mehr ist als das historisch Beschreibbare. Sie bestreiten deshalb de facto, dass die Geschichtsschreiber überhaupt beschreiben können, was die Evangelien erzählen: die Geschichte Gottes in der Geschichte eines Menschen.

Abstract In this article the author underlines the importance of the precise categorisation in literary science between fictious, fictional and factual for the distinction of historiography and poetics. In opposition to a trend in research, historiography and poetics can be distinguished, if considered that this distinction refers back to the pragmatics of the text. The difference lies in the claim of the author to tell what really happened or to create a possible world. The fact that historical presentations also contain fictious elements doesnʼt mean that they belong to fictional literature. On the basis of several references by Lucian of Samosataʼs „The Way to Write History“ and Josephusʼs „Bellum Judaicum“, the author shows that the textual pragmatics that were characteristic of historiography were already present in New Testament times. The New Testament narrative literature however, doesnʼt follow this textual pragmatics, an argument that again forms a position against an actual trend of research. By a well directed breaking of the barriers between historiography and poetics the theological insight becomes visible; the story of Jesus cannot be presented by pure historiography because it describes the story of God in the story of a man.

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Ein aufgeklärter Jesus in der Neuen Welt Methode und Intention in den Bibelkompilationen Thomas Jeffersons: Historische Faktualität als Paradigma der Aufklärungsexegese? Eckart David Schmidt

1. Einleitung und Aufbau Thomas Jefferson (1743–1826), dritter Präsident in der Geschichte der USA und Hauptautor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, gilt im Allgemeinen weder als exegetisches noch als theologisches Schwergewicht. Ein gewisses Maß exegetischer und theologischer Aufmerksamkeit lenkte sich lediglich auf ihn, als er vor nicht allzu langer Zeit als einer der drei Widmungsträger der Evangelienausgabe des „JesusSeminars“ gekürt wurde (1993).1 Jefferson steht für einen durch die europäische Aufklärung geprägten Politiker der Neuen Welt, einen hochgebildeten, aber nicht spezifisch theologisch gebildeten Laien, der sich mit Jesus und der Bibel beschäftigte, doch methodisch-handwerklich sowie vom Bildungsweg her unter völlig anderem Zugang als etwa sein älterer Zeitgenosse H. S. Reimarus (1694– 1768) in Deutschland. Mit seinen Evangeliensubstraten – am bekanntesten der sog. „Jefferson-Bible“ – liegt er daher äußerlich auf ganz anderer Linie als jener, fügt sich in dessen aufrührerischen, antidogmatischen Kontext jedoch gut ein. Dieser Beitrag möchte Jeffersons Beschäftigung mit den biblischen Evangelien, insbesondere mit Blick auf die Figur Jesus in den Blick nehmen. Untersuchungsinteresse ist jedoch keine Wertung von Jeffersons 1

Die anderen beiden sind Galileo Galilei und David Friedrich Strauß; vgl. R. W. FUNK/R. W. H OOVER/T HE JESUS SEMINAR, The Five Gospels. The Search for the Authentic Words of Jesus, New York 1993, unpaginierte Seite „v“). Vgl. hierzu auch knapp J. FREY, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (BZNW 114), Berlin/New York 2002, 273–336, 286, Anm. 68.

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Konstruktionen in ihrem etwaigen Anspruch auf historische Faktualität, sondern der Versuch, das Verhältnis der von ihm gewählten Methodik zur Intention, die hinter seinen Konstruktionen samt ihrer Methodik stand, zu bestimmen: Inwiefern ist das Zutrauen in historische Faktualität wirklich leitendes Kriterium für Jeffersons aufklärerische Exegese und was bedeutet dies für die Bildung seiner Theologie? In Abschnitt 2. wird Jefferson zunächst im Kontext seiner Zeit und mit besonderem Fokus auf seiner religiösen Einstellung vorgestellt, in Abschnitt 3. werden konkreter seine Arbeiten zu den Evangelien und Jesus genauer in den Blick genommen. Der 4. Abschnitt systematisiert dann Jeffersons Vorgehen zur Konstruierung einer „historischen Jesus“-Figur, woraufhin im 5. Abschnitt schließlich die Schlussfolgerung in Bezug auf das Verhältnis von Jeffersons Methodik und seiner Intention gezogen werden soll. Auf diese Weise soll am Ende auch ein Schritt über A. Schweitzers bekannten Projektionsvorwurf gegenüber der Leben-Jesu-Forschung hinaus gewagt werden.

2. Thomas Jefferson im Kontext seiner Zeit 2.1 Jefferson als Aufklärer und seine Religiosität Jeffersons religiöse Entwicklung und Einstellungen sind in etlichen Monographien2 sowie aktuellen Artikeln3 gut aufgearbeitet, obschon zu beobachten ist, dass einige der jüngsten Bände über ihn wiederum kein sonderli-

2

Herausragend: Ch. SANFORD, The Religious Life of Thomas Jefferson, Charlottesville 21988. Ebenfalls: D. L. D REISBACH, Thomas Jefferson and the Wall of Separation between Church and State, New York/London 2002; E. S. G AUSTAD, Sworn on the Altar of God. A Religious Biography of Thomas Jefferson, Grand Rapids/Cambridge 1996. 3 Der aktuellste ist gegenwärtig J. N. N EEM, A Republican Reformation: Thomas Jefferson’s Civil Religion and the Separation of Church from State, in: F. D. Cogliano, A Companion to Thomas Jefferson (Blackwell Companions to American History), Chichester u.a. 2012, 91–109, bes. 94–103. Zudem auch: P. K. C ONKIN, The Religious Pilgrimage of Thomas Jefferson, in: P. S. Onuf (Hg.), Jeffersonian Legacies, Charlottesville 1993, 19–49; D. L. H OLMES, The Faiths of the Founding Fathers, Oxford 2006, 79–89; P. S. O NUF, Jefferson’s Religion: Priestcraft, Enlightenment, and the Republican Revolution, in: ders., The Mind of Thomas Jefferson, Charlottesville/London 2007, 139–168; R. SAMUELSON, Jefferson and Religion: Private Belief, Public Policy, in: F. Shuffelton (Hg.), The Cambridge Companion to Thomas Jefferson, Cambridge 2009, 143–154; E. R. SHERIDAN, Introduction to: D. W. Adams/R. W. Lester (Hg.), Jefferson’s Extracts from the Gospels. „The Philosophy of Jesus“ and „The Life and Morals of Jesus“. The Papers of Thomas Jefferson Second Series, Princeton/New Jersey 1983, 3–42.

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ches Interesse an seinem religiösen Leben zollen.4 Die relevanten Quellen sind übersichtlich gesammelt,5 so dass an dieser Stelle einige zusammenfassende biographische Angaben genügen. Jefferson kann als prototypisches Kind der Aufklärung bezeichnet werden.6 Schon in seiner Jugend war er ein leidenschaftlicher Büchersammler und -leser; beim Lesen machte er sich eifrig Randnotizen.7 Der beeindruckende Umfang seiner Privatbüchereien (eine davon fiel 1770 einem Brand zum Opfer)8 wird von seinen Biographen immer wieder herausgestellt.9 Aus den Schriften Henry St. Johns (1678–1751), seit 1712 1st Viscount Bolingbroke, lernte Jefferson, dass das traditionelle Christentum nicht auf Vernunft oder Erfahrung, sondern auf Mystik und Wundern basiere und daher mit Skepsis zu betrachten sei; die in der Bibel dargestellte Gottheit sei eine von der in der Natur erkennbaren Gottheit gänzlich unterschieden und könne durch die Vernunft weder erklärt noch verteidigt werden.10 Schon in seinen Zwanzigern studierte er David Hume (1711–1776) und Voltaire (1694–1778), sowie diverse weitere eminente europäische zeitgenössische Denker, wie z.B. das damals breit publizierte und gelesene Werk Christianity as Old as the Creation des dem Deismus zuzurechnenden Engländers Matthew Tindal (1657–1733), das bereits 1730, also 13 Jahre vor Jeffersons Geburt, erschienen war und in dem Tindal das Konzept göttlicher Offenbarung als überflüssig und Wunder als unglaubwürdig erwies sowie Religion funktional mit Moral gleichsetzte.11 Auf ein praktisches Beispiel dafür, dass diese Haltung auch bei Jefferson Fuß gefasst hatte, weist R. Samuelson:12 Eine Liste von Büchern, die Jefferson 1771 einem Freund zur Anschaffung empfahl, beinhaltet unter dem Abschnitt „Religion“ hauptsächlich Titel 4 So in A. A XELROD, The Life and Work of Thomas Jefferson. Critical Lives, Indianapolis 2001 (außer a.a.O., 43–45); F. D. C OGLIANO, Thomas Jefferson. Reputation and Legacy, Edinburgh 2006; H. SPAHN, Thomas Jefferson, Time and History, Charlottesville 2011. 5 Hier ist vor allen Dingen der zentrale Band zu nennen: A DAMS/L ESTER (Hg.), Jefferson’s Extracts (s. Anm. 3). 6 Vgl. stellvertretend für viele D. L. H OLMES, The Faiths of the Founding Fathers (s. Anm. 3), 79–89. 7 Vgl. G AUSTAD, Sworn on the Altar (s. Anm. 2), 18. 8 Vgl. u.a. A XELROD, The Life and Work of Thomas Jefferson (s. Anm. 4), 43. 9 Vgl. z.B. C OGLIANO, Thomas Jefferson. Reputation and Legacy (s. Anm. 4), 20f.; K. J. H AYES, The Libraries of Thomas Jefferson, in: F. D. Cogliano, A Companion to Thomas Jefferson (s. Anm. 3), 333–348. 10 Vgl. G AUSTAD, Sworn on the Altar (s. Anm. 2), 22f.; allgemein a.a.O., 16–41. Für weitere Informationen zu St. John vgl. A. U. SOMMER, Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant (Schwabe Philosophica VIII), Basel 2006, 165–182. 11 Vgl. G AUSTAD, Sworn on the Altar (s. Anm. 2), 29. 12 Vgl. SAMUELSON, Jefferson and Religion (s. Anm. 3), 144f.

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von Locke, Xenophon, Epiktet, Marc Antonius, Seneca, Cicero, Bolingbroke, Hume und einige andere.13 Ein Großteil dieser Titel erscheint wieder in einer Leseliste für seinen Neffen und sein Mündel, den Schuljungen Peter Carr, von 1785, diesmal aber unter dem Abschnitt „Morality“ (Epiktet, Xenophon, Plato, Cicero, Marc Antonius, Seneca);14 die Liste von 1771 hatte einen eigenen Abschnitt zu „Morality“ (o.ä.) gar nicht enthalten, wohl aber den Hinweis, dass „everything is useful [to read] which contributes to fix in the principles and practices of virtue“. 15

Von 1785 bis 1789, also unmittelbar im Vorfeld der französischen Revolution sowie während ihrer ersten Monate, wirkte Jefferson als Diplomat in Frankreich und kam beseelt von ihren fortschrittlichen Ideen, aber auch von ihrem Antiklerikalismus nach Amerika zurück.16 In politischen Stellungnahmen verwies er danach auch weiterhin auf Glauben an Gott;17 er begründete z.B. sein Plädoyer zur Abschaffung der Sklaverei durch Verweis auf Freiheit und Gerechtigkeit als göttliche Werte.18 Gleichzeitig empfahl er, einen solchen Glauben immer einer scharfen Überprüfung der Vernunft zu unterwerfen, so 1787 in einem Brief an seinen Neffen und Mündel, den Schuljungen Peter Carr: „Fix reason firmly in her seat, and call to her tribunal every fact, every opinion. Question with boldness even the existence of a god; because, if there be one, he must more approve of the homage of reason, than of blindfolded fear. […] Do not be frightened from this inquiry by any fear of it’s [sic] consequences. If it end in a belief that there is no god, you will find incitements to virtue in the comfort & pleasantness you feel in it’s exercise, and in the love of others which it will procure you. If you find reason to believe 13 Vgl. Brief an Robert Skipwith, 3. August 1771 (in: Th. JEFFERSON, Writings, hg. v. M. D. Peterson [The Library of America 17], New York 1984, 744). NB: Der größte Teil des für Jeffersons religiöse Einstellung sowie seine JesusKompilationen relevanten Briefwerkes ist enthalten in A DAMS/L ESTER (Hg.), Jefferson’s Extracts from the Gospels (s. Anm. 3). Gelegentlich wird die Sammlung von Peterson zur Ergänzung herangezogen. 14 Vgl. Brief an Peter Carr, 19. August 1785 (PETERSON [s. Anm. 13], 816). Vgl. zum Ganzen auch SAMUELSON, Jefferson and Religion (s. Anm. 3), 146–149. 15 Brief an Robert Skipwith, 3. August 1771 (PETERSON [s. Anm. 13], 741). 16 Vgl. O NUF, The Mind of Thomas Jefferson (s. Anm. 3), 145–147; M CL EAN, The Paris Years of Thomas Jefferson, in: Cogliano, A Companion to Thomas Jefferson (s. Anm. 3), 110–127. 17 Vgl. N EEM, A Republican Reformation (s. Anm. 3), 93f. 18 „[O]f the proprietors of slaves a very small proportion indeed are ever seen to labour. And can the liberties of a nation be thought secure when we have removed their only firm basis, a conviction in the minds of the people that these liberties are of the gift of God? That they are not to be violated but with his wrath? Indeed I tremble for my country when I reflect that God is just: that his justice can not sleep forever: that considering numbers, nature and natural means only, a revolution of the wheel of fortune, an exchange of situation is among possible events: that it may become probable by supernatural interference! The Almighty has no attribute which can take side with us in such a contest“ (Th. JEFFERSON, Notes on the State of Virginia, London 1787, 272). Zu Jeffersons Haltung zu Sklaverei vgl. auch Anm. 37.

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there is a god, a consciousness that you are acting under his eye, & that he approves you, will be a vast additional incitement“.19

Auf die religiöse Rhetorik in Jeffersons politischen Verlautbarungen konnte sich später auch Henry Sterne Randall (1811–1876) beziehen, Jeffersons einziger Biograph, der noch dessen Familienmitglieder interviewen und dadurch Jeffersons christliche und offen proklamierte Rechtgläubigkeit herausstellen konnte: Jefferson habe in politischen Erklärungen und Proklamationen häufig und mit Ernsthaftigkeit auf Gottes Vorsehung und die Wirksamkeit des Gebets verwiesen sowie Kirchen und christliche Gesellschaften unterstützt usw. Gottesdienste habe er wenigstens „with as much regularity as most of the members of the congregation“ besucht – eine Formulierung, die Raum für Interpretation lässt –, seine Polemiken gegen den Klerus seien zugegeben scharf und teils unverdient, doch so auch nur in privater Korrespondenz, nie öffentlich vorgetragen. Randall kann zusätzlich einen Enkel Jeffersons zitieren, der seinen Großvater wegen seiner Offenherzigkeit und beständiger Ermutigung zum Bilden eigener religiöser Ansichten lobt.20 Eine Generation nach Jeffersons Tod (die Biographie erschien 1858) malte dies ein deutlich romantisches, idealisiertes Jefferson-Bild und spielte die Konsequenz von dessen Ablehnung wesentlicher traditioneller christlicher Dogmen herunter. Zentral war Jeffersons Ablehnung des Dogmas der göttlichen Trinität, die er, wie viele Deisten und Aufklärer vor und mit ihm, für eine logische Absurdität hielt.21 Mit diesem Hauptargument hatte Jefferson schon 1788 die Bitte seines Freundes Justin Pierre Plumard Comte De Rieux (1756–1824) zurückgewiesen, Taufpate seines Sohnes (namens Henry Thomas Jefferson) zu werden und hatte in diesem Schreiben bereits auf frühere Absagen aus gleichem Grund verwiesen.22 19

Brief an Peter Carr, 10. August 1787 (PETERSON [s. Anm. 13], 902f.). Vgl. H. S. R ANDALL, The Life of Thomas Jefferson, 3 Bde., New York 1858, 553– 561, Zitat: 555. 21 Vgl. G AUSTAD, Sworn on the Altar (s. Anm. 2), 138–140. Zur immer noch etwas umstrittenen Entwicklung und Chronologie von Jeffersons Religionskrise vgl. SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 4–10. Die Entwicklung von Jeffersons religiösem Standpunkt betont SAMUELSON, Jefferson and Religion (s. Anm. 3), 143–146. 22 „The person who becomes sponsor for a child, according to the ritual of the church in which I was educated, makes a solemn profession, before god and the world, of faith in articles, which I had never sense enough to comprehend, and it has always appeared to me that comprehension must precede assent. The difficulty of reconciling the ideas of Unity and Trinity, have, from a very early part of my life, excluded me from the office of sponsorship, often proposed to me by my friends, who would have trusted, for the faithful discharge of it, to morality alone instead of which the church requires faith“ (Brief an J. P. P. Derieux, 25. Juli 1788 [enthalten in: J. H OLMES, Thomas Jefferson. A Chronology of his Thoughts, Lanham/Oxford 2002, 103]). 20

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1811 bezeichnete er als seine Trinität John Locke, Francis Bacon und Isaac Newton, „the three greatest men the world ha[s] ever produced“.23 Von 1816 stammt sein mit typischem Antiklerikalismus gepaarter Ausspruch, die Trinität des christlichen Dogmas sei „the mere Abracadabra of the mountebanks calling themselves the priests of Jesus“.24 In seiner Politik trat er mit deutlichen Worten für Religionsfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat ein.25 2.2 Religiöse Angriffe in der Präsidentschaftswahl von 1800/1801 Seit 1797 war Jefferson US-Vizepräsident; 1800/1801 stellte er sich als Vertreter der Demokraten-Republikaner26 der Wahl zum Präsidenten. Sowie seine liberal-aufgeklärte und kritische Einstellung zu einzelnen Lehren der christlichen Religion und Kirche aus den Notes on the State of Virginia, seinem einzigen zu Lebzeiten orthonym veröffentlichten Buch, hervorging, nutzten seine politischen Gegner seine vermeintliche Irreligiosität zu seinem Schaden. Jeffersons Notes on the State of Virginia27 gingen aus einer Reihe von Anfragen hervor, die ihm der französischen Diplomat in Philadelphia, François Barbé-Marbois (1745– 1837), hatte zukommen lassen. Jedes der als „Query“ bezeichneten 23 Kapitel behandelt ein politisch relevantes Thema zu Jeffersons Heimatstaat, z.B. Geographie, politische Grenzen, Klima, Bevölkerung, Militär, Marine, Gesetzgebung, Sitten, Wirtschaft, Verkehr usw.

Das 17. Kapitel der Notes handelt von Religion. In ihm plädierte Jefferson deutlich für staatliche Religionsfreiheit. Dass die Leugnung von Gott oder der Trinität oder der Einzigkeit Gottes oder der göttlichen Autorität der Heiligen Schrift strafrechtliche Konsequenzen nach sich zöge (z.B. Ausschluss von staatlichen und militärischen Ämtern, im Wiederholungsfalle Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren), sei religiöse Sklaverei, staatliche Auf-

23 24

Brief an Benjamin Rush, 16. Januar 1811 (PETERSON [s. Anm. 13], 1236). Brief an Francis Adrian Van der Kemp, 30. Juli 1816 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3],

375). 25

Vgl. JEFFERSON, Notes on the State of Virginia (s. Anm. 18), 261–270. Die „Democratic-Republican Party“ ist nicht zu verwechseln mit der heutigen „Republican Party“. Sie wurde 1791 u.a. von Jefferson selbst gegründet, löste sich nach diversen Spaltungen 1825 auf und ging auf verschlungenen Wegen in die noch heute existierende „Democratic Party“ über. Ein kleines Kuriosum zu Jeffersons politischem standing ist, dass er der einzige Vizepräsident (1797–1801) der gesamten USamerikanischen Präsidentengeschichte bis heute war, der einer anderen Partei angehörte als sein gleichzeitig amtierender Präsident (der Föderalist John Adams). 27 Erster anonymer Druck Paris 1785; erste Veröffentlichung unter Namensnennung London 1787. 26

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sicht über religiöse Angelegenheiten sachfremd.28 Jefferson begründete seine Forderung mit Streben nach Vernunft und Wahrhaftigkeit: „If it be said, his testimony in a court of justice cannot be relied on, reject it then, and be the stigma on him. Constraint may make him worse by making him a hypocrite, but it will never make him a truer man. It may fix him obstinately in his errors, but will not cure them. Reason and free enquiry are the only effectual agents against error. Give a loose to them, they will support the true religion, by bringing every false one to their tribunal, to the test of their investigation“.29

Solcher Liberalismus musste um die Jahrhundertwende zu Irritation und Widerstand führen, allzumal im Wahlkampf um das höchste Amt der Vereinigten Staaten, und insbesondere in dem von 1800/1801, der manchen Historikern als der am aggressivsten geführte in der gesamten Geschichte der US-Präsidenten gilt und daher auch unter dem Beinamen der „Revolution von 1800“ geführt wird.30 Etliche Gegner Jeffersons versuchten, ihn aus ausdrücklich religiösen Gründen zu desavouieren, während sie seine politischen Fähigkeiten nicht 28 „[O]ur rulers can have authority over such natural rights only as we have submitted to them. The rights of conscience we never submitted, we could not submit. We are answerable for them to our God. The legitimate powers of government extend to such acts only as are injurious to others. But it does me no injury for my neighbour to say there are twenty gods, or no god. It neither picks my pocket nor breaks my leg“ (JEFFERSON, Notes on the State of Virginia [s. Anm. 18], 165). Zum Ganzen vgl. a.a.O., 164–169. 29 JEFFERSON, Notes on Virginia (s. Anm. 18), 165. 30 Diese Bezeichnung geht auf Jefferson selbst zurück (Brief an Spencer Roane, 6. September 1819, (PETERSON [s. Anm. 13], 1425). Vgl. auch J. E. FERLING, Adams vs. Jefferson. The Tumultuous Election of 1800, Oxford 2004, 207–215. Die politische Großwetterlage der Zeit war durch das diplomatische Verhalten gegenüber den europäischen Großmächten Frankreich und Großbritannien wenige Jahre nach der eigenen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution bestimmt, konkret auch durch die Alien and Sedition Acts, Einwanderungsgesetze mit weitreichenden Kompetenzen des Präsidenten gegenüber Ausländern, die auch damals verfassungsrechtlich als umstritten galten (1798, aufgehoben 1801), und Jeffersons aufgeklärter religiöser Liberalismus trug zu dieser Stimmungslage nicht unwesentlich bei. Zur Debatte um die Religion vgl. insbes. R. M. S. M CD ONALD, Was There a Religious Revolution of 1800?, in: J. Horn/J. E. Lewis/P. S. Onuf (Hg.), The Revolution of 1800. Democracy, Race and the New Republic, Charlottesville u.a. 2002, 173–198; I. K RAMNICK/R. L. M OORE, The Godless Constitution. The Case Against Religious Correctness, New York/London 1996, 88–109. Zur Wahl insgesamt in monographischer Länge vgl. FERLING, Adams vs. Jefferson (s. Anm. 30), insbes. 135–196; den Sammelband J. H ORN/J. E. L EWIS/P. S. O NUF (Hg.), The Revolution of 1800 (s. Anm. 30); zusätzlich die Beiträge J. W. K NUDSON, Jefferson and the Press. Crucible of Liberty, Columbia 2006, 47–67; J. B. FREEMAN, A Qualified Revolution: The Presidential Election of 1800, in: F. D. Cogliano, A Companion to Thomas Jefferson (s. Anm. 3), 145–163. Eine gute Quellsammlung zum Thema ist zu finden in P. L. D OOLEY, The Early Republic. Primary documents on events from 1799 to 1820. Debating historical issues in the media of the time, Westport 2004, 37–51.

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in Frage stellten. So verfasste z.B. der föderalistisch gesonnene Rev. William Linn (1752–1808), Präsident des damaligen Queen’s College (heute Rutgers University) und 1789–1790 erster Hausgeistlicher des Repräsentantenhauses, eigens ein anonym publiziertes Pamphlet Serious Considerations on the Election of a President, das ebenfalls zwischen dem 26. August und dem 16. September 1800 in sieben Teile gesplittet in jeder einzelnen Ausgabe des Massachusetts Mercury,31 und dort jeweils auf der Titelseite (!) erschien. Der Autor warf Jefferson „disbelief of the Holy Scriptures; or, in other words, his rejection of the Christian Religion and open profession of Deism“32 vor, Jeffersons kritische Ausführungen in den Notes on the State of Virginia zur biblischen Urflut verrieten eindeutigen „disrespect for divine revelation“, da sich diese nicht mit den schöpfungstheologischen Angaben der Bibel deckten,33 und die Bibel sei immerhin „the most ancient, and the most authentic history in the world“.34 Jefferson sollte „[o]n accounts of his disbelief of the Holy Scriptures, and his attempts to discredit them“35 die Präsidentschaft verwehrt bleiben und es sei seitens der Wähler eher im Sinne Gottes und besser für das Land, die Wahlstimme wegzuwerfen als Jefferson zu wählen. Um Linn gegenüber Fairness obwalten zu lassen, muss auch deutlich darauf hingewiesen werden, dass er Jefferson mit leidenschaftlichem Entsetzen vorhielt, er würde die Unterdrückung von „negroes“ rassisch begründet stützen, eine solche Rassentheorie aber widerspräche direkt göttlicher Offenbarung: „You have degraded the blacks from the rank which God hath given them in the scale of being! You have advanced the strongest argument for their state of slavery! You have insulted human nature! … [W]e exclude you, in your present belief, from any department among Christians!“36 Hier tritt Linn in aufgeklärterem Gewande auf als er – wenigstens – meint bei Jefferson zu erkennen!37

31

Die Zeitung erschien zweimal wöchentlich. W. L INN, Serious Considerations on the Election of a President, New York 1800, 4 (= Massachusetts Mercury, 26. August 1800, o.S.). 33 L INN, Serious Considerations (s. Anm. 32), 5–7, Zitat: 5 (= Massachusetts Mercury, 29. August 1800, o.S.). 34 L INN, Serious Considerations (s. Anm. 32), 13 (= Massachusetts Mercury, 5. September 1800, o.S.). 35 L INN, Serious Considerations (s. Anm. 32), 16 (= Massachusetts Mercury, 5. September 1800, o.S.). 36 Vgl. L INN, Serious Considerations (s. Anm. 32), 9–11, Zitat: 11 (= Massachusetts Mercury, 2. September 1800, o.S.). Linn bezieht sich hier auf den für einen aufgeklärten Freidenker wie Jefferson tatsächlich schockierenden Abschnitt in den Notes on Virginia (s. Anm. 18), 147–154 (tatsächlich nur 147–151). 37 Die Widersprüchlichkeit in der Haltung zu Sklaverei in den Notes on Virginia (s. Anm. 18; Plädoyer zu deren Abschaffung vs. Behauptung rassisch begründeter Inferiorität von Schwarzen) ist offenkundig. Auch sonst bleibt Jeffersons Einstellung zu Sklaverei ambivalent. Vgl. hierzu C OGLIANO, Thomas Jefferson. Reputation and Legacy (s. Anm. 32

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Und Linn war kein Einzelfall. John Mitchel Mason, Pastor und Pädagoge (1779–1829), blies mit seiner Streitschrift Voice of Warning, to Christians, on the ensuing elections of a President of the United States in dasselbe Horn, bezog sich sogar ausdrücklich und zustimmend auf „the author of ‚Serious Considerations …‘“.38 Er wiederholte Linns Inhalte, teilweise zitierte er dieselben Passagen aus den Notes on Virginia wie jener, formulierte aber noch polemischer und steigerte seine Ausführungen fast bis zum demagogischen Pathos: „If, therefore, an infidel preside over our country, it will be YOUR fault, Christians; and YOUR act; and YOU shall answer it? […] Sit down, now, and interrogate your own hearts, whether you can, with a ‚pure conscience,‘ befriend Mr. Jefferson’s election? Whether you can do it in the name of the Lord Jesus? Whether you can lift up your heads and tell him that the choice of this infidel is for his honor […]?“ 39

Noch schärfer polemisierte ein namentlich ungenannter „Christian Federalist“ in einem eigenen Pamphlet. Er sah die Vertreter der französischen Aufklärung als Menschen „who taught that there was no God – no Saviour – no future rewards and punishments, but that death was an eternal sleep […] under the name of the goddess of Reason, worship her as the image of the only true Supreme Being“40 und meinte, dass Jefferson allein schon aufgrund dieses religiösen und politischen Einflusses für das Präsidentenamt disqualifiziert sei. „Can serious and reflecting men look about them and doubt that, if Jefferson is elected, those morals which protect our lives from the knife of the assassin – which guard the chastity of our wives and daughters from seduction and violence, defend our property from plunder and devastation, and shield our religion from contempt and profanation, will not be trampled upon and exploded?“ 41

Und die Zeitschrift New England Palladium schließlich ätzte, häufig zitiert: „Should the infidel Jefferson be elected to the Presidency, the seal of death is that moment set on our holy religion, our churches will be prostrated, and some infamous ‚pros-

4), 199–229; C. PYBUS, Thomas Jefferson and Slavery, in: Cogliano, A Companion to Thomas Jefferson (s. Anm. 3), 271–283. Vgl. bereits auch Anm. 18. 38 J. M. M ASON, Voice of Warning, to Christians, on the ensuing elections of a President of the United States, New York 1800, 6. 39 M ASON, Voice of Warning (s. Anm. 38), 37f. (originale Kursivsetzung). Vgl. auch SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 10f. 40 A Short Address to the Voters of Delaware, unterzeichnet mit: „A Christian Federalist, Kent County, 21 September 1800“, 4. 41 A Short Address (s. Anm. 40), 3.

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titute‘, under the title of goddess of reason, will preside in the sanctuaries now devoted to the worship of the Most High“.42

Und dennoch: allen Diskreditierungen zum Trotz wurde Jefferson im 36. Wahlgang (!) am 17. Februar 1801 zum dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, seine Vereidigung fand am 4. März statt.

3. Thomas Jeffersons Schriften zu „Jesus“ 3.1 Der Syllabus Der als „infidel“ und „atheist“ desavouierte Präsident beschäftigte sich – zuerst ziemlich unmittelbar nach seiner erfolgreichen Wahl – dreimal in schriftlicher Form mit der Figur Jesus.43 Am 21. April 1803 schickte Jefferson dem Arzt und Schriftsteller Benjamin Rush (1745/174644–1813) als Beilage zu einem Brief einen Syllabus of an Estimate of the Merit of the Doctrines of Jesus, Compared with Those of Others, d.i. ein kurzes, kaum mehr als zwei Druckseiten umfassendes Exposé, in dem er in kurzen Abschnitten die „moral principles“ antiker Philosophen (insbesondere Pythagoras, Sokrates, Epikur, Cicero, Epiktet, Seneca und Antoninus [gemeint ist Mark Aurel]) sowie der „Jews“ kurz skizziert und anschließend in einem etwas längeren Abschnitt mit der Morallehre Jesu vergleicht. Bibelstellen- oder sonstige Primärquellenverweise fehlen. Zu dieser kleinen Niederschrift war er durch die Lektüre von Joseph Priestleys (1732/173345–1804), eines seiner weiteren Briefpartners, Pamphlet Socrates and Jesus Compared (1803) inspiriert worden,46 gleichzeitig verarbeitete er mit der Betonung seiner eigenen christlichen Integrität aber auch die von ihm als ungerecht und unverständig empfundenen 42 Remarks about Jefferson, in: New-England Palladium, 4 October 1800 (o.S.); zit. z.B. in M. A. B LANCHARD, History of the Mass Media in the United States. An Encyclopedia, Chicago 1998, 285; K NUDSON, Jefferson and the Press (s. Anm. 30), 48; K RAMNICK/M OORE, The Godless Constitution (s. Anm. 30), 89. 43 Sheridan meint nicht von ungefähr, dass diese durch die politisch-religiösen Feindseligkeiten während des Wahlkampfes inspiriert waren, vgl. SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 19. 44 Die unterschiedlichen Jahreszahlen resultieren aus der gleichzeitigen Rechnung nach dem Julianischen Kalender im Königreich Großbritannien bis 1752 (Pennsylvania, der Geburtsstaat Rushs, war britische Kolonie) und dem Gregorianischen Kalender auf dem Kontinent. 45 Vgl. oben Anm. 44. Priestley stammte aus einem kleinen englischen Ort namens Birstall, zwischen Bradford und Leeds. 46 Vgl. Brief an Benjamin Rush, 21. April 1803 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 331).

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Angriffe auf seine Religiosität während des erst kurz zurückliegenden Wahlkampfes.47 Priestleys Schriften waren Jefferson seit längerem bekannt. Seine History of the Corruptions of Christianity (11782) hatte mit seiner Problematisierung des Trinitätsgedankens bereits in den 1790ern einen äußerst profunden Eindruck auf Jefferson gemacht.48 In seinem Socrates and Jesus Compared dann gelangte Priestley zur Schlussfolgerung, dass Sokrates zwar von hervorragendem moralischen Charakter gewesen sei und von ebenso starker Selbstbeherrschung und Freundschaftlichkeit gegenüber anderen Menschen wie Jesus, dieser aber noch deutlicher moralische Prinzipien empfunden und gelebt und mit mehr Weisheit gesprochen und Autorität gehandelt habe als jener – obwohl er aufgrund seiner niederen Herkunft und Fehlens einer ähnlich vorzüglichen Bildung wie Sokrates von schlechteren Bedingungen ausgegangen sei.49 Der Grundtenor von Jeffersons Syllabus ist demjenigen Priestleys eng verwandt. Er übernimmt das Motiv der niederen, benachteiligten Geburt und der geringen Bildung Jesu und hebt demgegenüber die Brillanz seiner Moral hervor: „[A] system of morals is presented to us, which, if filled up in the true style and spirit of the rich fragments he left us, would be the most perfect and sublime that has ever been taught by man“.50 Jeffersons Sicht jüdischer Ethik ist aus heutiger Sicht eher verstörend. Seiner Meinung nach war jüdische Ethik „not only imperfect, but often irreconcilable with the sound dictates of reason & morality […] & repulsive & antisocial, as respecting other nations“.51 Demgegenüber kontrastiert Jefferson glän47

In dem Begleitschreiben heißt es: „They [sc. Jefferson’s views on the Christian religion] are the result of a life of inquiry & reflection, and very different from that antiChristian system imputed to me by those who know nothing of my opinions. To the corruptions of Christianity I am indeed opposed; but not to the genuine precepts of Jesus himself. I am a Christian in the only sense in which he wished any one to be; sincerely attached to his doctrines, in preference to all other; ascribing to himself every human excellence; & believing he never claimed any other“ (Brief an Benjamin Rush, 21. April 1803 [A DAMS/L ESTER (s. Anm. 3), 331]. Ebenso mit geradezu bitterem Ton: „And in confiding it [sc. the Syllabus] to you, I know it will not be exposed to the malignant perversions of those who make every word from me a text for new misrepresentations & calumnies“ (ebd.). 48 Jefferson besaß die Ausgabe von 1793 (vgl. G AUSTAD, Sworn on the Altar [s. Anm. 2], 112–114.140; N EEM, A Republican Reformation [s. Anm. 3], 94f.). 49 Vgl. J. PRIESTLEY, Socrates and Jesus Compared, Philadelphia 1803, v.a. 10– 13.33–43.48–60. 50 Brief an Benjamin Rush, 21. April 1803 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 331). Vgl. auch G AUSTAD, Sworn on the Altar (s. Anm. 2), 114–118, insbes. 116. 51 Brief an Benjamin Rush, 21. April 1803 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 331). Vgl. auch K. J. H AYES, The Road to Monticello. The Life and Mind of Thomas Jefferson, New York 2008, 582.

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zend Jesu Lehre: „He corrected the Deism of the Jews, confirming them in their belief of one only God, and giving them juster notions of his attributes and government.“ Gleichzeitig pries er seine Morallehren als „more pure & perfect than those of the most correct of the philosophers […] not only to kindred and friends, to neighbors and countrymen, but to all mankind, gathering all into one family, under the bonds of love, charity, peace, common wants and common aids“.52 Jeffersons Syllabus war von viel bescheidenerem Ausmaß und methodischer Durchdringung als Priestleys Parallelwerk. Es war nicht für die Veröffentlichung vorgesehen, sondern sollte als Grundlage und Inspiration für ein größeres Jesus-Buch eines fähigeren Theologen dienen. Jefferson schickte sein Werklein nur an ausgewählte Freunde und Verwandte, einschließlich Priestley selbst (und später, 1813, an seinen föderalistischen Vorgänger im Präsidentenamt, John Adams53). Priestley erwiderte Jefferson freundlich, aber inhaltlich reserviert. Im Gegensatz zu Jefferson hielt ersterer an Jesu göttlicher Mission fest, da nur diese seine überragende Weisheit sowie die umfassende Zuschreibung göttlicher Autorität hinreichend erkläre.54 Dennoch begann Priestley nach anfänglichem Zögern eine ausführlichere Monographie: The Doctrines of Heathen Philosophy, Compared with Those of Revelation. 55 Dieses Buch konnte Jefferson jedoch nicht anders als enttäuschen. Zu einem knappen Viertel bestand es aus der Wiederholung von Socrates and Jesus Compared von nur einem Jahr früher und stellte ansonsten eine schnell geschriebene Religionsphilosophie antiker Philosophen dar (Vor-Pythagoräer, Pythagoras, Platon, Aristoteles, Marc Antoninus und Epiktet, Arrianus und Seneca sowie schließlich Epikur). Außerhalb des übernommenen Teils Socrates and Jesus Compared erwähnte Priestley in seinem neuen Buch selbst den Namen Jesu kaum und meist nur beiläufig. Lediglich zweimal strich er die Überlegenheit Jesu gegenüber den heidnischen Philosophen heraus: in Bezug auf den Auferstehungsglauben als der stoischen Todesambivalenz überlegen 56 und in Bezug auf die göttliche Sendung Jesu als Vervollkommnung aller heidnischen philosophischen Weisheit. 57 Keinesfalls aber war dieses Buch geeignet, die moralische, authentische Integrität der Lehre Jesu im Besonderen herauszustellen.58 Jefferson hoffte zwar, dass Priestley in einem zweiten Band sich dieser Aufgabe stellen würde, doch dazu sollte es nicht mehr kommen, da Priestley am 6. Februar 1804 verstarb.59

52 Brief an Benjamin Rush, 21. April 1803 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 331). Vgl. auch N EEM, A Republican Reformation (s. Anm. 3), 102f. 53 Vgl. Brief an John Adams, 22. August 1813 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 348). 54 Vgl. Brief an Jefferson, 7. Mai 1803 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 338–340). 55 Veröffentlicht Northumberland, Binns 1804. 56 PRIESTLEY, The Doctrines of Heathen Philosophy (s. Anm. 55), 231. 57 PRIESTLEY, The Doctrines of Heathen Philosophy (s. Anm. 55), 275f. 58 Vgl. SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 29. 59 Vgl. G AUSTAD, Sworn on the Altar (s. Anm. 2), 118; Brief an Joseph Priestley, 29. Januar 1804 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 340).

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Schließlich doch veröffentlicht wurde der Syllabus im Oktober 1816 durch Betreiben des Theologen Francis Adrian Vanderkemp (1752–1829) unter Jeffersons zögerlicher Einwilligung im Monthly Repository of Theology and General Literature, einer englischen Unitarischen Zeitschrift, zwar anonym, aber mit editorischen Hinweisen auf den Autor als „an eminent American Statesman“ und als einer der „leading men in the American revolution“, und wieder stand die Hoffnung im Hintergrund, seine Ideen würden als Kern für ein größeres Jesus-Buch eines professionellen Theologen „on the scale of a Laertius or a Nepos“,60 eben Vanderkemp selbst, dienen.61 Doch auch diese Hoffnung wurde enttäuscht.62 3.2 The Philosophy of Jesus Wenige Monate nach der Abfassung des Syllabus, im Januar 1804, gelangte ein weiteres Werk Priestleys in Jeffersons Hände: A Harmony of the Evangelists, eine mit ausführlichen Erläuterungen zur Chronologie und historischen Einordnung von Jesu Leben63 versehenen, gründlich erarbeiteten und insgesamt mehr als 350 Seiten umfassenden Zusammenstellung der vier Evangelien zu einer griechisch-sprachigen Evangelienharmonie, zuerst publiziert London 1777.64 Priestleys Harmony ist eine hybride Mischform aus Harmonie und Synopse. Gelegentlich werden die unterschiedlichen Darstellungen der Evangelien in Spalten gleich einer Synopse nebeneinandergeordnet, ohne inhaltliche Varianten auszugleichen, so z.B. bei der Versuchung Jesu, wo die bei Mt und Lk in unterschiedlicher Reihenfolge vorgetragenen Versuchungen gemeinsam mit der Kurzversion von Mk unabgeglichen nebeneinander stehen. 65 Nach einigen joh Perikopen (Johannes’ erstes Zeugnis über Jesus, die Nathanael-Unterredung, die Hochzeit zu Kana, die Unterhaltung mit Nikodemus und Johannes’ letztes Zeugnis über Jesus nach Joh 3,22–36) folgt dann gleich einer Harmonie die Ge60 Brief an Francis Adrian Van der Kemp, 25. April 1816 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 369). 61 Vgl. H AYES, The Road to Monticello (s. Anm. 51), 585f.; SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 35f. 62 Vgl. SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 34–36. 63 Diese Erläuterungen sind nach den wissenschaftlichen Konventionen der Zeit verfasst, schließen die Auseinandersetzung mit Werken der Sekundärliteratur samt Quellverweise ein und umfassen die Hälfte des gesamten Bandes (vgl. J. PRIESTLEY, A Harmony of the Evangelists, in Greek: to which are prefixed, critical dissertations in English, London 1777, v–xix.1–155; für die eigentliche Evangelienharmonie beginnt die Paginierung erneut). Sie zielen auf eine (mit Auslassungen) tagesgenaue Abfolge des öffentlichen Wirkens Jesu mit doppelter Monatsangabe (julianisch und jüdisch; vgl. a.a.O., 139– 152). 64 Vgl. Brief an Joseph Priestley, 29. Januar 1804 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 340); vgl. auch SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 48. 65 Vgl. PRIESTLEY, A Harmony of the Evangelists (s. Anm. 63), 13.

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fangennahme des Johannes nach Lk 3,19f. Die Jüngerberufung nach Mk 1,16–20 par. Mt 4,13–22 folgt der Heilung des Beamtensohnes nach Joh 4,43–54.66 Auffällig für Jesusdarstellungen der Zeit ist Priestleys Toleranz gegenüber Wundererzählungen. Nicht nur sind Exorzismen, Wunderheilungen und Totenerweckungen eingeschlossen (z.B. Mk 1,21–28 par. Lk 4,14–37; Mt 8,1–4.5–13; Mk 5,1–20 par. Mt 8,28–34 par. Lk 8,26–40; Joh 11,17–46 u.v.m.), gleiches gilt selbst für sog. Naturwunder wie die Stillung des Sturms (Mk 4,35–41 parr.), Jesu Seewandel (Mk 6,45–52 parr.), ebenso für die Verklärung (Mk 9,2–13 parr.) und die unterschiedlichen Berichte von den Auferstehungserscheinungen, die alle in Priestleys Werk mit aufgenommen sind. Es endet mit einer detailliert aufgesplitteten Synopse von Erzählungen über Jesu Himmelfahrt nach Lk 24,50–53 par. Mk 16,19 par. Apg 1,4–12 par. Mt 28,18–20.67

Priestleys Harmony einerseits sowie die Nachricht von dessen Tod andererseits und damit das Ende der Hoffnung auf eine biographische Darlegung der Lehre Jesu durch diesen Theologen inspirierte Jefferson schon wenige Monate nach dem Syllabus, unterschiedliche neutestamentliche Szenen zu einer eigenen Evangelienversion zusammenzustellen, die er The Philosophy of Jesus of Nazareth extracted from the account of his life and doctrines as given by Mathew [sic], Mark, Luke, & John. being an abridgement of the New Testament for the use of the Indians unembarrassed with matters of fact or faith beyond the level of their comprehensions nannte. Dafür schnitt er aus zwei Bibelexemplaren seine gewünschten Abschnitte mit der Schere aus und klebte sie auf einem neuen Blatt Papier wieder zusammen.68 Der ironische Untertitel „for the use of the Indians …“ meinte dabei nicht auf die nordamerikanische „native population“, sondern war als Code-Name für Jeffersons politische Gegner, die Föderalisten und deren klerikale Kreise, gedacht, deren politische und religiöse Engführungen seiner Meinung nach einer Reformation durch die simple, unverstellte Moral der Lehre Jesu bedurften. 69

Dieses Büchlein ist nicht erhalten,70 es liegen aber die beiden Bibelexemplare vor, aus denen Jefferson seine Wahlperikopen herausschnitt, und ebenso jeweils zwei Exemplare sowohl der Titelseite als auch der Liste der ausgewählten Bibelperikopen: eine handschriftliche Fassung, allerdings nicht von Jeffersons eigener Hand, sondern in einer wahrscheinlich von 66

Vgl. PRIESTLEY, A Harmony of the Evangelists (s. Anm. 63), 21–23. Vgl. PRIESTLEY, A Harmony of the Evangelists (s. Anm. 63), 176f. 68 Die Notwendigkeit für zwei Bibelexemplare folgte daraus, dass Jefferson manchmal die Rückseite eines Blattes nutzen wollte, das er bereits für die Perikope auf der Vorderseite zerschnitten hatte. Jefferson nutzte überdies unterschiedliche, allerdings dennoch praktisch inhaltsidentische Ausgaben von 1791 und 1799 für seine Arbeit. Über Jeffersons Arbeitsweise bei seiner Kompilierung informiert mit großer Sorgfalt D. W. A DAMS, The Reconstruction of „The Philosophy of Jesus“, in: ders./Lester (Hg.), Jefferson’s Extracts (s. Anm. 3), 45–53. 69 Vgl. hierzu überzeugend SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 28, mit Anm. 87. 70 Vgl. A DAMS, The Reconstruction (s. Anm. 68), 45. 67

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seiner Enkelin Cornelia Jefferson Randolph (1799–1871)71 angefertigten Kopie, sowie eine gedruckte Fassung, die in Randalls Jefferson-Biographie enthalten ist.72 Der Inhalt der Philosophy kann daher trotz des Fehlens eines Autographen mit ziemlicher Zuverlässigkeit rekonstruiert werden:73 Es handelt sich fast ausschließlich um eine Zusammenstellung von Reden und Gleichnissen Jesu, die gerahmt sind von der Erzählung von Jesu Geburt sowie seinem Tod. Inhaltlich liegt der klare Schwerpunkt auf Jesu Ethik; getilgt sind Textpassagen zur Göttlichkeit Jesu oder dem Sühneverständnis seines Todes (einschl. der dahingehenden Leidensankündigungen Jesu) sowie alles, was auf übernatürliche Größen wie Engel oder Dämonen hinweist. Jeffersons Bibel ist eine knappe, subjektive Auswahlbibel, in der er sich nicht scheut, neben vollständigen Perikopen und Themenkomplexen auch Einzelverse innerhalb einer Perikope zu streichen oder umgekehrt eine Perikope durch Verse aus anderen Perikopen oder Evangelien anzureichern. Abgesehen von den genannten inhaltlichen Schwerpunkten ist Jeffersons Arbeitsweise dabei jedoch immer wieder von Inkonsequenzen durchsetzt. Abgesehen von der stark fragmentarisierend harmonisierten Evangelienmischung für Jesu Passion hat Jefferson 60 Bibelstellen (teilweise bestehend aus mehreren kleinen Einzelabschnitten oder -versen) in 38 Paragraphen verteilt, davon stammen 30 aus Mt, 22 aus Lk, 6 aus Joh, nur 2 aus Mk. Die genaue Perikopenauswahl und -abgrenzung folgt nur grob dem abgesehen von leichten Unschärfen aber leicht erkenntlichen Schema, neben Geburts- und Sterbeerzählung Jesu als Rahmen a) seine Reden und b) ethische Impulse in ihnen zu betonen. Die Geburtserzählung ist in der lk Version übernommen, doch mit mehreren Auslassungen (Hirtenszene Lk 2,8–20 und Darstellung im Tempel V.23–38). Die Erzählung vom Zwölfjährigen im Tempel ist integriert, innerhalb derer aber V.50 (Unverständnis der Eltern) ausgelassen. Jesu Tod ist eine versgenaue, aufgesplittete Evangelienharmonie, vorwiegend bestehend aus Versen aus Mt, Lk und Joh – Mk ist nur mit den beiden Einzelversen Mk 14,40.64 vertreten. Die Auferstehung entfällt. Die vielen Reden und Lehren Jesu sind etwa die mt Aussendungsrede in der Versauswahl Mt 10,5–31.42; die Warnung vor Sünde gegen den Heiligen Geist Lk 12,10–13; das vierfache Ackerfeld Mt 13,24–30.36–43; die Arbeiter im Weinberg Mt 20,1–16; die Gleichnistrilogie Lk 15,3–32; Mt 18,15–17; die Bergpredigt mit der einzigen Auslassung 71

Vgl. A DAMS, The Reconstruction (s. Anm. 68), 46f. Vgl. R ANDALL, Life of Thomas Jefferson, Bd. III (s. Anm. 20), 654f. Diese beiden Quellen zur Rekonstruktion der Philosophy sind beinahe identisch mit zwei ganz geringfügigen Ausnahmen: Lk 12,13–15/HS entspricht Lk 12,13.15/Randall; Joh 18, 1.2.3/HS (wahrscheinlich irrtümliche Interpunktion) entspricht Joh 18,12–13/Randall. Die Auslassung von Lk 12,14 bei Randall ist insofern interessant, als dieser Vers zwar den Dialogcharakter der Verse 13–15 verstärkt, nicht aber zum ethischen Impuls (Warnung vor Habgier) beiträgt und daher möglicherweise Jeffersons Intention nicht abgebildet hat. 73 Dieses Inhaltsverzeichnis ist als Faksimile abgedruckt in: A DAMS/L ESTER (Hg.), Jefferson’s Extracts (s. Anm. 3), 57–59; die mutmaßliche Ausführung a.a.O., 60–105. 72

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Mt 5,11–18 und ohne die Schlussverse 7,28f.; die Weherufe über die Pharisäer nach Lk 11,37–48; Mt 12,33–37 ohne den vorgängigen, die Rede motivierenden Exorzismus; Mt 23 in Gänze; das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner Lk 18,9–14; Lk 14,7–11 (ohne V.12ff.); das Gleichnis von den anvertrauten Talenten Mt 25,14–30. Häufig werden die Reden mit einem meist knappen narrativen Rahmen oder wenigstens einer Redeeinleitung übernommen, gelegentlich auch mit Zwischendialogen (so z.B. eine Reihe von Apophthegmata und einige Streitgespräche wie z.B. Lk 22,24–27; Joh 13,4–17; Mk 2,15–17; Lk 14,1–6; Mt 15,1–9; Mk 12,41–44; Lk 10,25–37; Mt 12,46–50; 12,1–5; Lk 16,1–6; 11,47–48; Mt 15,1–9; 22,15–22; 19,3–12; 22,23–32; Redeeinleitungen z.B. in Lk 15,3;16,1–13; 18,1–8; 12,16–21; Mt 13,31–33), andere Male ist selbst der erzählerische Rahmen und eine Redeeinleitung offenbar absichtsvoll abgeschnitten und der neue Abschnitt beginnt unmittelbar (wie z.B. Lk 14,26–35, ohne V.25; Mt 22,35–40 ohne V.34; Mt 12,11f. ohne V.9f. und V.13f.), gleiches gilt für dialogische Fortführungen eines Ausspruches Jesu (Mt 19,13–24 kappt V.25–28, schließt aber V.29f. wieder ein usw.). Das Interesse an Jesu Lehre bzw. das geringe Interesse an einer durchgehenden story geht so weit, dass Jefferson manchmal Einzelverse oder Verspaare ganz kontextlos einflicht (wie Lk 11,52; Joh 13,34f.; Mt 8,11; Joh 12,24f.; Mt 13,44.52; Joh 4,24). Die Versauswahl ist nicht nur nicht immer konsequent, was narrative Einleitungen o.ä. anbelangt, sondern auch nicht immer narrativ sinnvoll: Joh 13,4 ist kaum ein befriedigender erzählerischer Beginn; die Zachäuserzählung endet mit Lk 19,5 abrupt ohne die Reaktion des Zachäus selbst sowie der Umstehenden. Die Auslassung Mt 5,11–18 erschließt sich m.E. selbst aus Jeffersons Perspektive nicht. Auch die Auslassung der Verse Mt 19,25–28 ist nicht ganz ersichtlich; zu eschatologisch orientiert können sie ihm kaum gewesen sein, denn etliche andere eschatologische Perikopen sind von Jefferson aufgenommen wie z.B. die Diskussion über die Auferstehung von den Toten zwischen Jesus und den Sadduzäern (Mt 22,23–32) – auch wenn die Erzählung von Jesu eigener Auferstehung getilgt ist.74 Mehrfach sind im Original unmittelbar anschlüssige Perikopen bei Jefferson getrennt: Mt 22,15–22 listet er etwa unter § XXIX, Mt 22,23–32 hingegen unter § XXXV. Mt 25 ist in Gänze übernommen, doch auf drei Abschnitte verteilt, und dabei auch die Reihenfolge verändert: Mt 25,14–30 erscheint unter § XXXI, Mt 25,1–13 unter § XXXIII und Mt 25,31–46 unter § XXXVI. Abgesehen von den beiden Rahmennarrativen Geburt und Tod sind wenige der übernommenen Perikopen mit entscheidendem Erzähleranteil: Joh 8,1–11, möglicherweise wegen der Pflicht zur gegenseitigen Vergebung; Lk 14,1–6 im Rahmen von Jesu Lehre zum Sabbat; Lk 7,36–47, allerdings ohne die V.48–50 mit dem Zuspruch der Sündenvergebung und Segen; Lk 19,1–5, allerdings ohne die Reaktionen der Aktanten in V.6ff. Die separate Aufnahme von Mt 11,28–30 allerdings folgt, was man „formkritischer Intuition“ nennen könnte; ebenso die Aufteilung Lk 14,7–11 (ohne V.12ff.); der Abbruch von Mt 18,1–6; die Abgrenzung Lk 17,7–10; Lk 14,12–14; Mt 21,28–31 (ohne V.32!); oder der Abbruch von Joh 12,24f. (ohne V.26).

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Dies mag einigermaßen erstaunen. Doch hebt v.a. auch Neen hervor, dass Jefferson auch in seiner privaten Korrespondenz immer wieder Hoffnung auf ein Wiedersehen in einem künftigen Leben ausdrückt, vgl. N EEM, A Republican Reformation (s. Anm. 3), 97.103.

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Und wieder bot Jefferson sein Manuskript einem seiner Freunde, diesmal Benjamin Rush, an,75 möglicherweise in der Hoffnung, seine Jesus-Skizzen würden zu einer wirkungsmächtigen Jesusbiographie ausgearbeitet werden.76 3.3 The Life and Morals of Jesus of Nazareth Das als „Jefferson-Bible“ bekannt gewordene Werklein schließlich ist eine ähnliche Evangelienharmonie mit dem originalen Titel The Life and Morals of Jesus of Nazareth Extracted Textually from the Gospels in Greek, Latin, French and English. Es ist im Autograph erhalten und daher inhaltlich noch zuverlässiger auswertbar als die Philosophy. Abgesehen davon, dass die Philosophy eine rein englischsprachige, Life and Morals hingegen eine viersprachige Version darstellt, sind beide Sammlungen von der Arbeitsweise her identisch: Es handelt sich um in Spalten angeordnete Einzelstücke aus den vier kanonischen Evangelien, die Jefferson ausschnitt77 und wieder auf ein neues Blatt Papier klebte. Die Hintergründe für die Erstellung dieser neuen Bibelkompilation sind bedauerlich unklar, da Jefferson sie in keiner seiner Korrespondenz erwähnt; selbst seine Nachkommen wussten von ihrer Existenz nichts und erfuhren erst nach Jeffersons Tod davon.78 Aus zwei Briefen an William Short (vom 13. April und 4. August 1820), in denen sich Jefferson in vergleichsweise großer Ausführlichkeit methodisch und inhaltlich zur Jesus-Thematik äußert79 – ohne allerdings je direkt sein neues Werk zu erwähnen – kann man ein Abfassungsdatum von 1819/20 folgern. Doch bleibt dies ungewiss.80 Eine Teilmotivation zur Erstellung eines neuen Jesusextraktes wird Jeffersons bereits erwähnte enttäuschte Hoffnung auf eine Jesusbiographie durch Vanderkemp gewesen sein.81 Für die eigene devotionale Bibellektüre nutzte Jefferson seine neue Kollektion erstaunlich intensiv. Mit Berufung auf einen Brief von Jeffersons Enkel, Thomas Jefferson Randolph (1792–1875), an den Jefferson75

Vgl. Brief an Benjamin Rush, 8. August 1804 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 341). Vgl. SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 28f. 77 Zu den verwendeten Bibeleditionen vgl. SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 30f. 78 So lt. einem Brief von Jeffersons Enkel, Thomas Jefferson Randolph, an dessen Biographen Henry S. Randall, ohne Datierung abgedruckt in R ANDALL, Life of Thomas Jefferson III (s. Anm. 20), 671–676, 672. Lediglich der Buchbinder Frederick A. Mayo, der das Büchlein band, wusste davon (vgl. A DAMS/L ESTER [Hg.], Jefferson’s Extracts [s. Anm. 3], 125f.). Vgl. auch H AYES, The Road to Monticello (s. Anm. 9), 593; G AUSTAD, Sworn on the Altar (s. Anm. 2), 124f. 79 Siehe unten unter Abschnitt 4. 80 Vgl. SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 38. Die beiden genannten Briefe sind vollständig abgedruckt in A DAMS/L ESTER (s. Anm. 3), 391–399. 81 Vgl. ausführlich dazu SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 30–37. 76

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Biographen Henry S. Randall, in dem sich jener wiederum auf einen (nicht präzise bezeichneten) Brief von Jefferson selbst bezieht, ist Sheridan zuversichtlich: Life and Morals war „undoubtedly one of the works on morality he read each evening, for with the exception of a single important point of doctrine, it was the one in which he finally established to his ultimate satisfaction the authentic deeds and principles of the man he esteemed as the master moral preceptor of the ages“.82

Randolph betont auch, dass sein Großvater die Philosophy „for the Indians“;83 Life and Morals aber für sich selbst erstellt habe.84 An der Stichfestigkeit dieser Differenzierung wird man allerdings zweifeln dürfen, da Jefferson auch das frühere Werk als „for my own use“85 und „for my own satisfaction“86 geschrieben bezeichnet hatte, eine Aussage, die aber auch wiederum taktisch verstanden werden mag, da Jefferson in dem Kontext dieser Aussagen sein laienhaftes Werk professionellen Theologen zur Ausarbeitung empfahl und daher Interesse hatte, schon im Vorfeld einen allzu kritischen fachlichen Scharfblick von seiner Zusammenstellung abzuwenden. Veröffentlicht wurde Life and Morals erst 1904 und ist als JeffersonBible bekannt geworden.87 Aufs Ganze gesehen ist der Jesus in Life and Morals kein wesentlich anderer als der der Philosophy. Der eindeutige Schwerpunkt liegt weiterhin auf Jesu Ethik. Getilgt ist alles, was auf seine Göttlichkeit hinweist sowie alle Hinweise auf übernatürliche Entitäten. Der größte inhaltliche Unterschied zwischen beiden Werken liegt darin, dass die Philosophy einen fast unkompromittierten Fokus auf Jesu Reden legt, wohingegen Life and Mo82 SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 38. Möglicherweise bezieht sich Randolph hier auf den Brief von Jefferson an Dr. Vine Utley vom 21. März 1819. Es ist dieser Brief, aus dem Gaustad schließen will, dass Jefferson sein Life and Morals zur allabendlichen Lektüre nutzte (vgl. G AUSTAD, Sworn on the Altar [s. Anm. 2], 125, dort allerdings ohne Quellenangabe). Das entsprechende Zitat lautet: „ … I never go to bed without an hour, or half hour’s previous reading of something moral, whereon to ruminate in the intervals of sleep“, und weist kaum darauf hin, dass es sich bei der moralischen Lektüre um seine eigene „Jefferson-Bible“ gehandelt habe. 83 Vgl. zu dieser codierten Bezeichnung weiter oben unter 3.2. 84 Vgl. Brief von Thomas Jefferson Randolph an dessen Biographen Henry S. Randall, ohne Datierung abgedruckt in R ANDALL, Life of Thomas Jefferson III (s. Anm. 20), 671– 676, 672. 85 Brief an John Adams, 12. Oktober 1813 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 352). 86 Brief an Francis Adrian Van der Kemp, 25. April 1816 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 369. 87 Vielfach wiederabgedruckt liegt die momentan jüngste Ausgabe vor: Th. JEFFERSON, The Jefferson Bible. The Life and Morals of Jesus of Nazareth, extracted textually from the Gospels in Greek, Latin, French & English, with essays by Harry R. Rubenstein, Barbara Clark Smith, & Janice Stagnitto Ellis, Washington 2011.

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rals stärker auch Jesu Handlungen oder anderer Personen Handlungen an Jesus berücksichtigt, insgesamt also mehr Narrative aufweist.88 Entgegen der Philosophy etwa ist in Life and Morals die Taufe Jesu aufgenommen, allerdings in einer schmalen Versauswahl, die die Himmelsstimme samt Akklamation (Mt 3,16f. parr.) und das Gespräch zur Hierarchie von Jesus und Johannes dem Täufer (Mt 3,14f.) auslässt. Aufgenommen sind ebenfalls Jesu Tempelaktion (nach Joh 2,12–16), die joh Notiz zu Jesu Taufaktivität (3,22), die Jüngerberufung (nach Lk 6,12–17 [sic]), die Abschnitte Mk 3,31–35; Lk 12,1–7; das Opfer der Witwe nach Mk 12,41–44; die Salbung Jesu nach Mk 14,1–8; Zachäus und das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden nach Lk 19,1–28: dieses Gleichnis war allerdings bereits in der Philosophy in der mt Version Mt 25,14–30 aufgegriffen (§ XXXI); in Life and Morals ist es sowohl in der mt als auch in der lk übernommen und damit gedoppelt.

Dennoch machen auch in dem späteren Werk Lehren, Mahnungen und Gleichnisse Jesu mit einem erkennbaren Fokus auf Sabbatkritik und Kritik an pharisäischen Reinheitsidealen den Schwerpunkt der Darstellung aus. Die Bergpredigt ist wiederum die mit Abstand umfänglichste „Einzelperikope“. Lehren zu Jüngerschaft, Berufung und Mission sind in Breite übernommen; Gleichnisse handeln von Ethik und Wirtschaft, wie z.B. dem reichen Kornbauer (Lk 12,16–21), dem Sämann (in der Verskombination Mt 13,1–9; Mk 4,10; Mt 13,18–23) oder dem Barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37). Breit übernommen sind auch eschatologische Gleichnisse über das Reich Gottes wie das vom Unkraut im Acker und die nachfolgenden Vergleichsworte (Mt 13,24–30.36–52), dem Wein in alten Schläuchen (Lk 5,36–39), dem reichen Mann und dem armen Lazarus (Lk 16,18 [sic]–31), dem Feigenbaum (Lk 13,6–9) oder der Bereitschaft für die unerwartete Rückkehr des Herrn sowie das Jüngste Gericht (Mt 25).89 Getilgt sind alle „Wunder“ und alles „Wunderbare“, wie die Erscheinungen von Engeln und Dämonen, Wunderheilungen, Naturwunder, von der Auferstehung von Toten gar nicht zu sprechen. Eine Moral aber, die mit einem kanonischen Wunder verknüpft ist, kann Jefferson aber übernehmen: Nach der Auseinandersetzung Jesu mit Pharisäern über Sabbatverbote (Mt 12,1–5) überspringt Jefferson die christologischen Implikationen (V.6–8) und lässt unmittelbar den Mann mit der verdorrten Hand auftreten, anlässlich dessen Krankheit sich der Streit mit den Pharisäern fortsetzt (Mt 12,9–12). Die Heilung selbst aber (V.13) lässt Jefferson aus; stattdessen folgt eine Sabbatmoral Jesu aus Mk 2,27; anschließend beschließen die Pharisäer dennoch, Jesus umzubringen (wieder Mt 12,14f.). Petrus’ Christusbekenntnis ist schon in der Philosophy entfallen; ebenso ist die eschatologische Relevanz des Christusbekenntnisses nach Lk 12,8– 12 in keinem der beiden Werke aufgenommen. Beide Büchlein enden mit 88 89

Vgl. auch SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 37. Vgl. Anm. 74.

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Kreuzigung und Begräbnis; der letzte Satz von Life and Morals lautet, eigentlich mit erschreckendem Pessimismus: „There laid they Jesus: and rolled a great stone to the door of the sepulchre, and departed“ (Mt 27,60), wohingegen der der Philosophy noch nach Johannes gelautet hatte: „When Jesus therefore had received the vinegar, he said, It is finished: and he bowed his head, and gave up the ghost“. Auch die prinzipielle Behandlung der Bibeltexte ist dieselbe wie in der Philosophy; das Prinzip der teils perikopenweisen, teils versdetaillierten Auswahlbibel und Evangelienharmonie ist weitergeführt.90 Für die Geburtserzählung orientiert sich Jefferson an Lukas, streicht aber das vollständige Kapitel Lk 1, damit die Motive der Engelsverkündigung und Jungfrauengeburt, sowie ebenso die Hirtenszene samt Engelproklamation (Lk 2,8–20) – wie auch schon in der Philosophy. Der 12jährige Jesus im Tempel verblüfft die „doctors“ mit seiner Weisheit, mahnt aber nicht seine Eltern mit Verweis auf die Vaterschaft Gottes (Lk 2,49). Der lk Satz „And the child grew, and waxed strong in spirit, filled with wisdom“ (2,40) ist im Original komplettiert mit „… and the grace of God was upon him“; letzterer Teilsatz ist von Jefferson gestrichen. Für ihn war göttliche Gnade offenbar entbehrlich und tat nichts zu Jesu Weisheit.91 Bei Jesu Taufe fehlt die himmlische Akklamation, ebenfalls fehlen Versuchung und Verklärung. Weder bekennt Petrus Jesus als Christus noch der Hauptmann auf Golgatha als Gottes Sohn. Jesu souveräne Antworten vor Pilatus nach Joh 18,34.36f. sind allerdings aufgenommen. Jesu Auferstehung oder Erscheinungen des Auferstandenen fehlen vollständig. Jesu Genealogien, in der Philosophy noch in der lk Variante aufgegriffen (Lk 3,23–38), fehlen in Life and Morals.

Ansonsten ist ein einheitliches Arbeits- oder Anordnungsprinzip kaum zu erkennen. Jedes entdeckte Prinzip wird immer wieder von Inkonsequenzen durchbrochen. Aufs Ganze scheint Jefferson in Life and Morals dem lk Aufriss zu folgen und mt Perikopen in diesen einzufügen – allerdings mit Inkonsequenzen in der Anordnung: Lk 11 kommt bei Jefferson später als Lk 13; Lk 5 später als Lk 11; Lk 7 später als Lk 10; Lk 10 später als Lk 18 usw. Einige Passagen sind in Life and Morals weniger fragmentarisiert als in der Philosophy, doch finden sich auch Gegenbeispiele: Lk 12 etwa ist in der Philosophy in drei Einzelstücke zerlegt (Lk 12,13–15 [13.15?92)].16–21.35–48), die jeweils voneinander separiert angeordnet sind (unter den §§ IV.XXXII.XXXIII), in Life and Morals ist das Kapitel immer noch mit Auslassungen, aber in kanonischer Reihenfolge und en bloc geordnet (Lk 12,1–7.13–15.16–21.22–48.54.59). Lk 11 ist in der Philosophy mit dem Einzelvers 52 unter § IV sowie weit gesperrt mit den Versen 37–48 unter § XIII übernommen; in Life and Morals hingegen mit den Versen 37–46.52–54 en bloc sowie später mit den Versen 1–13 (Über das Beten). V.53f. sind Erzählerbericht und können schadlos in Life and Morals integriert werden; V.47f. jedoch ist ein weiterer Weheruf gegen die Pharisäer, von dem nicht ganz einsichtig ist, warum er in Life and Morals getilgt worden ist. 90

Vgl. auch G AUSTAD, Sworn on the Altar of God (s. Anm. 2), 125–131. Vgl. H AYES, The Road to Monticello (s. Anm. 51), 589. 92 Vgl. Anm. 72. 91

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V.1–13 doppeln die auch in Jeffersons Version bereits enthaltenen Abschnitte aus der Bergpredigt Mt 6,9–13; 7,7–11. Ähnliches gilt für Lk 14: In der Philosophy ist dieses Kapitel in die stark gesperrten Abschnitte V.1–6 (§ XII); V.7–11 (§ XIX); 26–33 (§ XXII); 12–14 (§ XXVII) verteilt; das Gleichnis von der Nachladung zum Festmahl (V.15–24), der Überleitungsvers 25 sowie – seltsamerweise – das Wort vom Salz V.34f. fehlen. In Life and Morals sind die Verse 1–24 en bloc übernommen – also einschließlich des Festmahlgleichnisses – und nach einer wiederum nicht klaren Auslassung der Verse 25–27 folgen nun unmittelbar V.28–32. Mt 25 ist in der Philosophy insgesamt zwar vollständig, aber auf die Abschnitte V.14–30 (§ XXXI).1–13 (§ XXXIII).31–46 (§ XXXVI) verteilt übernommen; in Life and Morals steht das gesamte Kapitel (fast) en bloc, lediglich ist zwischen V.30 und V.31 Lk 21,34–36 geschoben. Auf der anderen Seite übernimmt Jefferson etwa die Bergpredigt in der Philosophy fast vollständig mit den Kapiteln Mt 5–7 und lässt lediglich 5,11–18 sowie 7,28f. aus, in Life and Morals hingegen stückelt er sie zusammen in der Anordnung: Mt 5,1–12; Lk 6,24–26; Mt 5,13–47; Lk 6,34–36; Mt 6,1–34; 7,1f.; Lk 6,30; Mt 7,3–20; 12,35–37; 7,24–29. Aufs Ganze gesehen ist die spätere Version also vollständiger – auch die beiden Auslassungen aus der Philosophy sind wieder zurückgenommen, einige lk Predigtteile sind zusätzlich integriert – dafür nimmt Jefferson eine neue Auslassung vor, nämlich Mt 7,21–23. Sowohl die Reihenfolge als auch Einzelversabgrenzungen weichen im Detail immer wieder von denjenigen der Philosophy ab, auch bei Übernahme desselben Themas. Jesu Lehre zu Sabbat etwa ist in der Philosophy nach Mt 12,1–5.11.12; Lk 14,1–6 aufgegriffen und steht eher in der Mitte der Sammlung; in Life and Morals hingegen ist die Versauswahl Mt 12,1–5.9–12; Mk 2,27; Mt 12,14.15 übernommen und steht eher am Anfang. Jesu Salbung durch die büßende Sünderin ist in der Philosophy in den Versen Lk 7,36–47 übernommen, in Life and Morals mit einem Vers weniger: Hier endet die Perikope mit V.46, wodurch nicht nur der Zuspruch der Sündenvergebung, sondern auch die Thematisierung im Gespräch zwischen Jesus und dem Pharisäer entfallen ist.

Wenn also Jefferson im selbstkritischen Nachgang zu seiner Philosophy bemerkt hat, dass er sie nur in ein oder zwei Abenden und „too hastily“ erstellt habe,93 wird man feststellen, dass Life and Morals kaum weniger skizzenhaft ist. Unter allzu scharf eingestelltem Mikroskop wird man freilich auch Jeffersons zweites Jesus-Werk nicht betrachten dürfen. Dafür denkt Jefferson zu wenig theologisch-exegetisch, ist seine Arbeitsweise – im wahrsten Sinne des Wortes – zu fragmentarisierend. Ihre theologischen Umrisse, in allererster Linie Jesus als einen weisen, wohlwollenden Morallehrer zu rekonstruieren, ist dennoch hinreichend klar.

93

Brief an Francis Adrian Van der Kemp, 25. April 1816 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 369), eigene Kursivsetzung.

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4. Ein „historischer Jesus“ bei Jefferson? K. J. Hayes subsummiert Jeffersons Jesus-Darstellung: „The Life and Morals of Jesus of Nazareth may be the finest biography of Christ ever written“,94 doch dies hätte wohl Jefferson selbst eher als joke gesehen, wenn man berücksichtigt, wie bewusst ihm selbst der skizzenhafte Charakter seiner Arbeiten zu Jesus war und wie hartnäckig er sich mehrfach für deren Ausarbeitung durch fähigere Theologen – oder überhaupt Theologen – einsetzte.95 Das inhaltliche Ergebnis von Jeffersons Jesus ist klar, doch eine deutliche und reflektierte Kriteriologie für seine Text-Auswahl ist kaum erkennbar. Aus einer Reihe von Kurztexten und Anspielungen geht immer wieder hervor, dass er sich des Unterschiedes zwischen einem historischen und einem ahistorischen, einem authentischen und einem inauthentischen Jesus deutlich bewusst war und dass ihm daran gelegen war, ersteren freizulegen.96 Auch sind Ansätze eines „doppelten Differenzkriteriums“ zu erkennen: Nicht authentisch jesuanisch sollte sein, was von „heathen mysteries“ und „vicious ethics and deism“ des Judentums ableitbar sei.97 In diesem Zusammenhang meinte Jefferson auch, alles „Paulinische“ aus den Evangelien streichen zu müssen, da er Paulus für den „first corrupter of the doctrines of Jesus“ hielt – ohne dass deutlich werden würde, an welche Passagen er dabei konkret dachte.98 Ein mögliches Argument dafür, dass es Jefferson am Ende doch nicht in erster Linie daran gelegen war, eine Historia Jesu zu verfassen, mag in folgendem Detail gesehen werden: Jefferson stellte für Life and Morals ein Inhaltsverzeichnis mit den gewählten Perikopen und den entsprechenden kanonischen Kapiteln und Versen zusammen. Dieses Inhaltsverzeichnis betitelte er zunächst: „A Table of the Texts of this Extract from the Evangelists and of the order of their arrangement“. In einem zweiten Schritt strich er den Ausdruck „of this Extract“ und ersetzte: „of this Narrative“. Statt einem Evangeliensubstrat hatte er jetzt das neue Genre einer autonomen „Narrative“.99 94

H AYES, The Road to Monticello (s. Anm. 51), 588. Vgl. zusätzlich Brief an William Short, 4. August 1820 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 397). 96 Vgl. z.B. Brief an Benjamin Rush, 21. April 1803 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 331), wo Jefferson auf die Unterscheidung von Jesu klarer Lehre und den späteren christlichen Korruptionen zu sprechen kommt; oder Brief an Joseph Priestley, 29. Januar 1804 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 340). Für Jeffersons Hochachtung für Geschichte und Geschichtswissenschaft vgl. ausführlich C OGLIANO, Thomas Jefferson. Reputation and Legacy (s. Anm. 4), 19–43. 97 Vgl. oben unter 3.1 und 3.2. 98 Vgl. Brief an William Short, 13. April 1820 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 392). 99 Eine dritte Änderung des Titels erfolgte aus stilistischen Gründen: Jefferson verschob die Position des Begriffs „Narrative“, so dass der endgültige Titel nun lautete: „A 95

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Doch ist aus diesem Befund kaum zu schließen, dass Jefferson seine Kompilation nun eher im Sinne eines Romans und nicht im Sinne einer Historia verstanden haben wollte.100 Hayes, der, soweit zu sehen ist, einzige Jefferson-Forscher, der die Umbetitelung überhaupt mit einiger Ernsthaftigkeit bedenkt, ist gar der Meinung, dass Jefferson dadurch den Realitätsanspruch seiner Kompilation sogar noch steigern wollte (und nutzt, gerade um dies darzulegen, wiederum den Begriff der „narrative“): „Jefferson clearly realized that the work he was creating was more than ‚The Philosophy of Jesus,‘ more than a series of extracts. It was a full-fledged narrative, a retelling of the story of Jesus stripped of superstition“.101

Der ausführlichste Text Jeffersons, der Aufschluss über die Kriteriologie zur Erstellung seiner Jesus-Darstellungen gibt, ist ein Schreiben an William Short, den ursprünglichen Empfänger des Syllabus, vom 4. August 1820, geschrieben also wahrscheinlich in der Zeit der Abfassung von Life and Morals. In diesem Brief erklärt Jefferson: „My aim in that was to justify the character of Jesus against the fictions of his pseudofollowers which have exposed him to the inference of being an impostor. For if we could believe that he really countenanced the follies, the falsehoods and the Charlatanisms which his biographers father on him, and admit the misconstructions, interpolations and theorisations of the fathers of the early, and fanatics of the latter ages, the conclusions would be irresistible by every sound mind, that he was an impostor“.102

Table of the Texts from the Evangelists employed in this Narrative and of the order of their arrangement“. 100 Darauf deutet der englische Sprachgebrauch des Begriffs „narrative“ um 1800, wie ein Blick auf zeitgenössische Lexika zeigt. JOHNSON’s Dictionary of the English Language von 1799, das nur sehr kurze Worterklärungen bietet, erläutert zum Adjektiv „narrative“: „1. Relating; giving an account“; 2. Storytelling; apt to relate to things past“, und zum Substantiv: „A relation; an account; a story“. Die letztgenannte vorgeschlagene Wortbedeutung, „story“, ist an dieser Stelle bedeutungsvoll, denn im selben Wörterbuch findet man unter „story“: „1. History; account of things past. 2. Small tale; petty narrative; account of a single incident. 3. An idle or trifling tale; a petty fiction“ (und zusätzlich, an dieser Stelle irrelevant: „A floor; a flight of rooms“). Andere Wörterbücher der Zeit bewegen sich auf derselben Linie: Das Royal Standard English Dictionary (1800) nennt als Synonym für „narrative“: „a relation, an account, a story“ (The Royal Standard English Dictionary, by William PERRY, fifth American edition, Boston, Worcester u.a. 1800, 357); A Selected, Pronouncing and Accented Dictionary, ebenfalls 1800, ganz ähnlich: „an account, a relation“ (J. E LLIOTT/S. JOHNSON, A Selected, Pronouncing and Accented Dictionary, Suffield 1800, 122). In beiden dieser späteren Wörterbücher wird „narrative“ als Adjektiv als Synonym geführt für „epic“, „heroic“ oder „noble“ (PERRY, 224; E LLIOTT/JOHNSON, 59). „Narrative“ erscheint also als ein einigermaßen vager, breiter Begriff, dessen Verwendung weder für noch gegen den historischen Gehalt der so bezeichneten Erzählung spricht. 101 H AYES, The Road to Monticello (s. Anm. 51), 588. 102 Brief an William Short, 4. August 1820 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 395), eigene Kursivsetzung.

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Zur Frage, was ihn genau dazu führt, gewisse Evangelien-Passagen für „fictions“ und „falsehoods“ zu halten und in anderen den wahren Charakter Jesu zu erkennen, unterscheidet er in demselben Brief zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Stile: „First a ground work of vulgar ignorance, of things impossible, of superstitions, fanaticisms, and fabrications“.103 Demgegenüber ständen „sublime ideas of the supreme being, aphorisms and precepts of the purest morality and benevolence, and simplicity of manners, neglect of riches, absence of worldly ambition and honors, with an eloquence and persuasiveness which have not been surpassed“.104 Letztere könnten unmöglich von denjenigen Autoren stammen, die erstere formuliert hätten (Matthäus, Markus, Lukas, Johannes). Die Unterscheidbarkeit dieser beiden Schichten hält Jefferson für äußerst klar, führt dafür aber keine inhaltlichen Argumente an, sondern verweist allgemein auf die Kriterien des Blicks und des Verstandes: „The difference is obvious to the eye and to the understanding, and we may read, as we run, to each his part; and I will venture to affirm that he who, as I have done, will undertake to winnow the grain from it’s [sic] chaff, will find it not to require a moment’s consideration. The parts fall asunder of themselves as would those of an image of metal and clay“.105

Zusätzlich gebe es jedoch Passagen in den Evangelien, deren Authentizität ungewiss sei: Denn man müsse berücksichtigen, dass Jesus in einer Welt voller Aberglauben und voller „idle ceremonies, mummeries and observances of no effect towards producing the social utilities which constitute the essence of virtue“106 gelebt habe. Eine solche Gesellschaft reformieren zu wollen, sei ein heikles Unterfangen und habe Jesus zu manchen Kompromissen durch Sophistizieren und Fehlzitieren von Prophetenworten verleitet, um sich gegen die gesellschaftlichen „snares“ des jüdischen Gesetzes mit Hilfe ihrer eigenen Waffen zu Wehr zu setzen. Aus seinem stark gesellschaftlich-religiösen Umfeld sei auch Jesu Vorstellung erwachsen, sein Genius für göttliche Inspiration höherer Ordnung zu halten – ähnlich Sokrates, der sich ebenfalls unter dem Schirm eines Schutzdämons gewähnt hatte.107 Jefferson bedauert diese Kompromisse, akzeptiert sie aber. Leider erwähnt er nicht, welche Passagen er im einzelnen für solche zweifelhafte Stellen hält und ob er sie in seine beiden Sammlungen überhaupt aufgenommen hat oder nicht. Neem interpretiert diese Konzessionen Jeffersons jedoch wohl ganz zu Recht im Rahmen einer Jesus-Projektion: „In other words, Jesus, Jefferson discovered as he compiled his life, may 103

Brief an William Short, 4. August 1820 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 396. Brief an William Short, 4. August 1820 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 396). 105 Brief an William Short, 4. August 1820 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 396). 106 Brief an William Short, 4. August 1820, (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 396). 107 Vgl. Brief an William Short, 4. August 1820 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 396f.). 104

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have said things that were unreasonable and contrary to Jefferson’s own faith“.108 Warum Jefferson gewisse Lehren Jesu für inauthentisch und andere für authentisch hielt, folgt lediglich seiner Voraussetzung, letztere als „characteristic“ identifizieren zu können. Die Zirkularität dieses Vorgehens ist offensichtlich. Dass Jeffersons Auswahl seiner „historischen“ Jesus-Perikopen kaum methodisch reflektiert, sondern eher intuitiv axiomatisch erfolgte, geht ganz ähnlich auch aus einem etwas früheren Brief an Vanderkemp hervor, indem er seine Arbeitsweise an der Philosophy beschreibt: „Pursuing the same ideas after writing the Syllabus, I made, for my own satisfaction, an Extract from the Evangelists of the texts of his morals, selecting those only whose style and spirit proved them genuine, and his own: and they are as distinguishable from the matter in which they are imbedded as diamonds in dunghills. A more precious morsel of ethics was never seen“.109 Hier wird also zwar eine prinzipielle Unterscheidung zwischen authentischen und inauthentischen Jesusworten getroffen, doch die genannten Kriterien sind wiederum so unkonkret wie „style and spirit“. Die gleiche Differenzierung, aber methodisch ähnlich ungreifbar, erscheint nochmals in einem Brief an Charles Thomson, in dem Jefferson seine Zuversicht ausdrückt, dass seine Philosophy als Beweis gesehen werden möge, „that I am a real Christian, that is to say, a disciple of the doctrines of Jesus, very different from the Platonists, who call me infidel and themselves Christians and preacher of the Gospel, while they draw all their characteristic dogmas from what it’s [sic] Author never said nor saw“.110

Und so scheint neben aller methodischer Vagheit das Ergebnis von Jeffersons Untersuchungen von Anfang an festzustehen: Er möchte Jesu „morals“ freilegen, die „more precious“ seien als sonst irgendwo. Damit ist der Jesus, den Jefferson konstruiert, zuvorderst ein als moralische Richtschnur nützlicher Jesus, und diesen hält Jefferson zwar durchaus für einen „historischen“ Jesus, er konstruiert ihn aber nicht aus historischem Interesse als solchem heraus, sondern um der politischen und moralischen Pragmatik willen. Dies geht trefflich aus seiner bereits zitierten Polemik gegen das jüdische Gesetz hervor, gegen das er im Kontrast zur jesuanischen Moral hält, es habe „no effect towards producing the social utilities which constitute the essence of virtue“.111 Daher nochmals: Jeffersons Jesus ist nicht nur deswegen ein Morallehrer, weil er einen solchen für „historisch“ hält, sondern um der Pragmatik willen, die Jefferson mit diesem Ergebnis verband. 108 N EEM, A Republican Reformation (s. Anm. 3), 100. Vgl. auch SHERIDAN, Introduction (s. Anm. 3), 37f. 109 Brief an Francis Adrian Van der Kemp, 25. April 1816 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 369), eigene Kursivsetzung. 110 Brief an Charles Thomson, 9. Januar 1816 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 365), originale Kursivsetzungen mit Ausnahme der letzten. 111 Brief an William Short, 4. August 1820 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 396). Vgl. dazu N EEM, A Republican Reformation (s. Anm. 3), 103–105.

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5. Rezipierte Geschichte bei Jefferson: Methode und Intention Wenn wir zu unserer Eingangsfrage nach der Bedeutung von Jeffersons „historisch“-konstruktiver Methodik für die Bildung seiner Theologie zurückblicken, so ist zunächst nochmals daran zu erinnern, dass Jefferson prinzipiell durchaus von der Unterscheidung eines historischen und ahistorischen, eines authentischen und inauthentischen Jesus ausgeht, methodisch jedoch wenig reflektiert ans Werk geht. Ebenso wenig, wie Jefferson Theologe oder Altphilologe (wie etwa Reimarus) war, war er Historiker – obschon er historisch (wie auch theologisch) interessiert war. Er schrieb bzw. kompilierte stattdessen in spontaner leisure, schnell und mit Intuition. Zum größten Teil fühlte er sich seiner Entscheidungen auch ohne intensive Textvergleiche unmittelbar sicher. Dass er daher auch keine detaillierten Einzeldiskussionen – vergleichbar mit denen des Reimarus zum Marsch der Israeliten durchs Rote Meer oder zu widersprüchlichen Berichten über Jesu Auferstehung – liefert, ist nur folgerichtig und gehört natürlich auch zu dem von ihm gewählten literarischen Genre, nämlich einer Bibelausgabe bzw. -kompilation statt einem kritischen Kommentar zur Bibel. Auch ist zu berücksichtigen, dass Jefferson zwar zunächst mehrfach eine Publikation zu Jesus von Nazareth zum Wohle der Gesellschaft anstrebte, doch dies nur mit Hilfe anderer, kompetenterer Theologen geschehen sollte; Life and Morals, die „Jefferson-Bible“, schließlich schrieb er dann ganz heimlich nur zum privaten Gebrauch. Methodische Inkonsequenzen oder Reflexionsdefizite als Kritik gegen Jeffersons Konstruktionen zu erheben, würde daher, so denke ich, seinen Schriften zu Jesus nicht gerecht werden. Dass Jeffersons Jesus inhaltlich gesehen vor allen Dingen ein eminenter Morallehrer ist, alle übernatürlichen Größen und Entitäten wie Wunder, Engel und Dämonen aus seiner Geschichte getilgt sind, sowie auch der beobachtete (angebliche) Widerspruch zwischen Jesu Judentum und seiner Lehre folgt natürlich dem aufklärerischen Duktus der Zeit (auch hier eine Ähnlichkeit mit Reimarus). Dasselbe gilt eingeschränkt auch für Jeffersons Jesuskritik: Er entdeckt an ihm zwar keine moralischen Defizite (im Gegensatz zu Reimarus, der Jesus politische Anmaßung unterstellt), lediglich musste Jeffersons Jesus gegenüber seiner (in Jeffersons Augen) abergläubischen und gesetzlichen Kultur gewisse Kompromisse eingehen, die bis dahin reichten, dass er sich selbst als göttlich inspiriert verstand (auch wenn der „historische Jesus“ sich Jeffersons Meinung nach nicht selbst als „Sohn Gottes“ bezeichnet hatte112). Jefferson fasst die Differenzen zwi112 Jefferson erwähnt, dass er sich zu dieser Meinung von „men more learned than myself in that lore“ habe überzeugen lassen (Brief an William Short, 4. August 1820 [A DAMS/L ESTER (s. Anm. 3), 397], doch ist unklar, welche (mehrere!) Männer präzise

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schen seinem „historischen Jesus“ und seiner eigenen religiösen Position zusammen: „[I]t is not to be understood that I am with him in all his doctrines. I am a Materialist; he takes the side of spiritualism; he preaches the efficacy of repentance towards forgiveness of sin, I require a counterpoise of good works to redeem it, &c., &c.“.113 Es mag sich hier die Frage stellen, ob Jefferson Reimarus’ (Lessings) Fragmente möglicherweise kannte. Chronologisch gesehen ist dies möglich, doch ist es faktisch so gut wie ausgeschlossen. Wie oben genannt wurden die Fragmente von Lessing innerhalb der zweiten Hälfte der 1770er Jahre publiziert, der Fragmentenstreit dauerte von 1777 bis August 1778.114 Jefferson hingegen kam erst 1785 nach Europa. Eigentlich fast ein Ausschlusskriterium für die Kenntnis der Fragmente durch Jefferson ist, dass er sie in keiner seiner Schriften erwähnt, obwohl sie in ihrem Gestus seiner eigenen Bibellektüre sehr entgegengekommen wären. Zusätzlich ist zu erwähnen, dass Reimarus’ Fragmente in Deutschland zwar auch nach dem Fragmentenstreit einige Male wiederabgedruckt wurden, doch Jefferson hatte höchstwahrscheinlich keine sehr fortgeschrittenen Kenntnisse der deutschen Sprache. 115 Die erste Teilübersetzung der Fragmente in englischer Sprache diese waren. In Priestleys Schriften, der ja einer von Jeffersons theologischen Haupteinflüssen der Zeit war, ist besagte Meinung nicht zu finden, ja, sie führte sogar zu einer ausdrücklichen Meinungsdifferenz mit Jefferson (vgl. Brief von Joseph Priestley, 7. Mai 1803 [A DAMS/L ESTER (s. Anm. 3), 339]). 113 Brief an William Short, 13. April 1820 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 391f.). Vgl. auch H OLMES, The Faiths of the Founding Fathers (s. Anm. 3), 83, sowie das obige Zitat von N EEM, A Republican Reformation (s. Anm. 3), 100 (vgl. Anm. 108). 114 Vgl. D. K LEIN, Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), Das theologische Werk (BhTh 145), Tübingen 2009, 169–181 (mit Lit. a.a.O., 174, Anm. 294); M. R EISER, Der unbequeme Jesus (BThSt 122), Neukirchen-Vluyn 2011, 13. Der Streit wurde jäh beendet, als Lessings Schriften zu Religionsangelegenheiten ab Sommer 1778 mit Zensur belegt wurden (vgl. H. G. R EVENTLOW, Epochen der Bibelauslegung, Bd. IV. Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, 169; für weitere Details vgl. E. D. SCHMIDT, Eine alte, heimliche Ehe. Eine Skizze zum „historischen Jesus“ und dem „literarischen Jesus“ im Geschichtspragmatismus der Spätaufklärung, in: A. Beutel/M. Nooke [Hg.], Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie Münster, 30. März bis 2. April 2014, Tübingen 2015 [im Erscheinen], dort Anm. 14). 115 Seine mageren deutschen Sprechfähigkeiten sind aus zwei Notizen von 1788 abzuleiten. In einem Reisebericht durch Holland und das Rheintal erinnert er sich: „[T]here was not a person to be found in Duysberg who could understand either English, French, Italian or Latin. So I could make no inquiry“ (The Papers of Thomas Jefferson, Bd. 13: 13 March to 7 October 1788, Princeton 1966, 13), was impliziert, dass Deutsch selbst für eine Reiseinformation nicht zu den von Jefferson beherrschten Sprachen gehörte. Gleichfalls schreibt er in seinen „Hints to Americans Travelling in Europe“ im gleichen Jahr über einen Reiseabschnitt in Deutschland: „I could find no body in the village however who could speak any language I spoke, and could not make them understand what I wished to see“ (The Papers of Thomas Jefferson, Bd. 13: 13 March to 7 October 1788, a.a.O., 246). Seine Lesekompetenz der deutschen Sprache wird nicht viel profizienter gewesen sein. Es liegen zwar vereinzelte deutsche Sprachübungen vor (vgl. M. K IMBALL, Jeffer-

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(bestehend lediglich aus etwa der Hälfte des siebten) erschien erst 1879 in einer Ausgabe von Charles Voysey (1828–1912).116

Abgesehen von diesen ausdrücklichen Differenzen zwischen Jeffersons eigener „Religiosität“ und der von ihm identifizierten Religiosität Jesu scheint seine Jesuskonstruktion auf das Ganze gesehen A. Schweitzers bekannten Projektionsvorwurf gegen die Leben-Jesu-Forschung, dass jede Epoche, ja jeder Autor in seinem „historischen Jesus“ letztlich nur seine eigenen Gedanken gefunden habe und ihn nur in diesen eigenen Gedanken beleben könne, allenfalls zu bestätigen. „Es gibt kein persönlicheres historisches Unternehmen, als ein Leben-Jesu zu schreiben“,117 ist wohl einer der am häufigsten (direkt oder indirekt) zitierten Sätze aus Schweitzers epochalem Standardwerk. Doch ist dieses bon mot an dieser Stelle überhaupt noch eine Kritik? Interessanter als die von Jefferson angewandte Methodik selbst – und zwar gerade in einem Werk eines theologischen und geschichtswissenschaftlichen Laien – erscheint mir die Beobachtung, dass Jefferson seine „historisch-kritische“ Kriteriologie auf eine solche Weise benutzte, wie man es heute in Bezug auf sogenannte „engagierte“ exegetische Methoden beschreibt. Die Charakterisierung engagierter Lektüreformen bei G. Theißen beispielsweise: „Sie sind an der Gegenwart orientiert. Applikation ist ihr Ziel. Sie wollen menschliche Identität ermöglichen und definieren“,118 son: The Road to Glory, 1743 to 1776, New York 1943, 106–109; R ANDALL, Life of Thomas Jefferson I [s. Anm. 20], 25), doch sind diese rar und skizzenhaft und zeigen eher, dass Jeffersons Deutsch nie über ein mittleres Anfängerstadium hinausreichte. Dementsprechend schreibt auch Jefferson selbst in einem Brief an Joseph Delaplaine am 12. April 1817: „I was educated at William and Mary Collage in Williamsburg. I read Greek, Latin, French, Italian, Spanish, and English of course, with something of it’s radix the Anglo-Saxon.“ – Deutsch ist keine der erwähnten Sprachen. Jefferson besaß eine deutsche Grammatik (Bachmans; vgl. D. L. W ILSON, Thomas Jefferson’s Library. A catalog with the entries in his own order, Washington 1989, 131), doch verglichen mit der Anzahl anderer fremdsprachiger Literatur in seinem Besitz ist dies eher ein Anzeichen gegen Jeffersons Deutschprofizienz. (Bei dem ebenfalls in Wilsons Bibliotheksaufstellung ohne nähere bibliographische Hinweise aufgeführten Titel „Croft on the Eng. and German Languages“ handelt es sich um H. C ROFT, A Letter, from Germany, to the Princess Royal of England; on the English and German Languages, Hamburg 1797. Dieses kleine Werk ist, abgesehen von einigen deutschen Zitaten, englischsprachig). 116 Ch. V OYSEY, Fragments from Reimarus. Consisting of Brief Critical Remarks on the Object of Jesus and His Disciples as Seen in the New Testament, London 1879. 117 A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (UTB 1302), Tübingen 9 1984, 48. 118 G. T HEISSEN, Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt. Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität (VWGTh 8), Gütersloh 1995, 127–140, 129.

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lässt sich ja mühelos auf Jeffersons Umgang mit der selbstkonstruierten Jesusgeschichte übertragen, ja, bietet sich hierfür gerade an. Die Philosophy war ausdrücklich zu seinem eigenen Gebrauch, „for [his] own use“, „for [his] own satisfaction“ erstellt, die politischen Implikationen seiner Jesuskonstruktionen drücken sich in seiner Hoffnung aus, dass die Lehre Jesu, werde sie nur konsequent umgesetzt, „the most perfect and sublime that has ever been taught by man“119 sei und nützlicher als jede andere große Moralphilosophie „not only to kindred and friends, to neighbors and countrymen, but to all mankind, gathering all into one family, under the bonds of love, charity, peace, common wants and common aids“.120 Gegenwartsorientierung, Applikation und Identitätsbegründung sind gerade die Ziele von Jeffersons „historischer“ Jesuslektüre. Das zugrundeliegende historiographische Konzept hat sich hier viel eher der moralischen Intention angepasst, als dass sie als genuine methodologische Setzung vorgegeben gewesen wäre. Jeffersons fehlendes Interesse an einer spekulativen Christologie passt da nur ins Bild. Gewiss, wir können heute sagen: Diejenige Faktualität der Jesusgeschichte, die Jefferson aus den Evangelien meinte herausfiltrieren zu können, war seine, Jeffersons, Faktualität, nicht die einer genuinen „JesusHistorie“.121 Jeffersons „Theologie“, so es sich aus heutiger Sicht von einer solchen überhaupt sprechen lässt, baut letztlich nicht auf der konstruierten Jesus-Historie als solcher – trotz Jeffersons Vertrauen in die ihr zugesprochene Faktualität sowie seiner Ablehnung der „fictions“ der „pseudofollowers“ Jesu –, sondern auf der aufklärerischen moralischen Idee. Jefferson nutzt in seinen Interpretationsansätzen den in seinem Sinne historischen Filter, weil er meint, auf diese Weise am besten diejenige Wahrheit transportieren zu können, die er seiner Zeit (und sich selbst) vermitteln will. Aber es war die aufklärerische Fragestellung und das gesellschaftliche Vertrauen in die Methode,122 die das Ergebnis zum Sprechen brachte. 119

Brief an Benjamin Rush, 21. April 1803 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 331). Brief an Benjamin Rush, 21. April 1803 (A DAMS/L ESTER [s. Anm. 3], 331). 121 Vgl. auch schon K. JASPERS, Die großen Philosophen, Erster Band, München 1 1957, 215, zu den „maßgebenden Menschen“ Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus: „Bilder dieser Großen sind von Anfang an gesehen worden. Sie sind hervorgebracht von den Späteren, die sich in ihrer Gefolgschaft erkannten. Diese Bilder sind selber eine neue historische Realität“. 122 Auf das Geschichtsbild der Aufklärung und ihre Verwissenschaftlichung kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu M. C ORZILLIUS, Geschichte, in: M. Böhl/W. Reinhard/P. Walter (Hg.), Hermeneutik. Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2013, 347–439, 362–382; M. G ROSS, Von der Antike bis zur Postmoderne. Die zeitgenössische Geschichtsschreibung und ihre Wurzeln, Wien/Köln/Weimar 1998, 85–126; W. H ARDTWIG, Die Verwissenschaftlichung der neueren Geschichtsschreibung, in: H.-J. Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs (Rowohlts Enzyklopädie 55688), Reinbek bei Hamburg 32007, 296–313; 120

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Historische Kritik verliert hier durchaus seine „Applikationsferne“,123 doch – so die hier vorgestellte These – war sie keine Voraussetzung für das Ergebnis, sondern die Intention war Voraussetzung für die Methode. Diesen Zusammenhang noch stärker zu reflektieren, ist möglicherweise eine der Aufgaben künftiger Jesusexegesen.

Abstract This essay investigates the relation of method and intention in early historical-critical Jesus research based on the examples of the various Bible compilations by Thomas Jefferson, the third President of the United States of America (1743–1826). After an introduction (1.), the first major section introduces Jefferson as a person and politician, focusing especially on his religious life (2.), followed by a closer investigation of his Gospel compilations and their portrayals of Jesus (3.). In this, the interest of research does not lie in a critique of Jefferson’s “historical” constructions. Instead, the leading questions are: Why did Jefferson, as a typical representative of enlightened engagement with Jesus, choose the presentation of a “historical” Jesus the way he did? What is the relation between the historicalcritical method he employed and the result he gained, in the context of his era? The answer given here is: societal trust in historical criteria rendered the use of this paradigm useful, but the figure of Jesus as a great moral teacher was not the result of Jefferson’s method, but rather the historical-critical method was wielded in such a way as to yield the moral Jesus that Jefferson was attracted by right from the start. In the ultimate paragraphs of the essay it is suggested that, perhaps, Albert Schweitzer’s charge of „historical Jesuses“ of 18th and 19th century liberal critical research being merely the projections of the scholars’ own religious ideals needs to be expanded even to the methods they employed, which, for their part, need to be understood as part of their time-dependent, engaged reading of Scripture (4. and 5.).

Literatur D. W. A DAMS, The Reconstruction of „The Philosophy of Jesus“, in: ders./R. W. Lester (Hg.), Jefferson’s Extracts from the Gospels. „The Philosophy of Jesus“ and „The E. W IERSING, Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte, Paderborn u.a. 2007, 246–312. 123 Vgl. T HEISSEN, Methodenkonkurrenz (s. Anm. 118), 129.

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Autorenverzeichnis FELIX ALBRECHT, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Septuaginta-Unternehmen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. MARTIN BAUSPIESS, Dr., Pfarrer in Unterhausen und Honau (Dekanat Reutlingen, Württembergische Landeskirche). SANDRA HÜBENTHAL, PD Dr., Universität Tübingen, derzeit Teaching Fellow an der University of St Andrews/United Kingdom. SUSANNE LUTHER, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. PAUL METZGER, Dr., Konfessionskundliches Institut Bensheim, Lehrbeauftragter für Neues Testament an der Universität Koblenz-Landau. NILS NEUMANN, PD Dr., Vertretungsdozent für Neues Testament an der Universität Bern. VERA NÜNNING, Prof. Dr., Professorin für Englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. J ÖRG RÖDER, Assistent am Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Basel. OLAF RÖLVER, Dr., Wissenschaftlicher Angestellter für Biblische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität zu Köln. ECKART D. SCHMIDT, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neues Testament an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. THOMAS SCHUMACHER, Dr., Lehr- und Forschungsrat für Neues Testament am Departement für Biblische Studien an der Universität Fribourg/CH. PETER-BEN SMIT, Prof. Dr., apl. Professor für die Strukturen der Alten Kirche sowie Geschichte und Lehre des Altkatholizismus, Dozent für Neues Testament an der Vrije Universiteit Amsterdam. RUBEN ZIMMERMANN, Prof. Dr., Professor für Neues Testament an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. FRANK ZIPFEL, PD Dr., Akademischer Oberrat am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Stellenregister 1. Altes Testament Genesis 12,2f. 12,7 13,14–17 15,7f. 15,18 17,18 22,15–18 49,8–12

115 115 115 115 115 115 115 124

Exodus 2,3 2,6 2,7–10 4,19–20

141 141 141 124

Deuteronomium 5,9 6,13 6,16 8 8,1–6 8,3 8,19f. 19,15

119 119 119 119 119 119 119 236, 238

Richter 13,5 13,7

140, 148 140

2. Samuel 5,2 7,10 7,10–16 16,1–4

146 115 115 124

1. Könige 1,30–45

124

2. Könige 5,1–5 5,2

146 146f.

Psalter 8 8,2f. 22,9 22,19 46,3 LXX 47,3 LXX 78,2 91,11f. 94,3 LXX 113–118 118 118,27 135,17 LXX

126f. 125 128 123 149 149 140 119 149 127 126f. 126f. 149

Jesaja 7,14 8,23–9,1 9,1–6 26,19 29,18 35,1–10 35,5f. 42,1–4 42,18 53,4 56,7 61,1 62,11

140 140 150 121 121 127 121 140 121 140 125 121 123f.

Jeremia 7,11 31,15 38,15 LXX

125 140 140

428

Stellenregister

Daniel 14,41

149

Hosea 11,1

116, 140, 148

Micha Mi 5,1 LXX Mi 5,2

146 146f.

Sacharja 9,9

123f., 136, 140

11,13 14,2 14,4 14,5 14,9 14,10f. 14,17 14,20f.

140 127 127 127 128 127 127 128

Maleachi 1,14

149

2. Neues Testament Matthäus 1,1 1f. 1,1–17 1,2–17 1,18–2,23 1,20 1,20–23 1,21 1,22 1,22f. 1,23 2 2,1 2,1–10 2,2 2,4 2,5f. 2,6 2,8f. 2,11 2,12 2,13f. 2,13–15 2,14 2,15 2,16–18 2,17 2,18 2,19–21 2,19–23 2,20f. 2,22

114f., 126, 135, 150 115, 137 114 115, 150 115, 151 150 129 381 115, 140 140 381 143 147 147, 150 148 146 146, 147 146, 148 141 141 139 141 116, 129, 139 116 115f., 140f., 148 4, 139, 141 115, 140 140 139 129 141 148

2,22–23 2,23 3,1 3,13–17 3,14f. 3,15 3,16f. 3,17 4,1–11 4,10 4,12–25 4,13–22 4,14 4,14–16 4,23f. 5,1–12 5,11–18 5,13–47 5,17f. 5,17–20 5,35 6,1–34 6,9–13 6,10 7,1f. 7,3–20 7,7–11 7,21–23 7,24–29 7,28f. 7,29 8,1–4 8,1–9,34

148 115, 140, 148 238 117, 155 118, 156, 409 118, 129 409 118f., 129 119, 126, 149 149 120 404 116 140 127, 150 411 406, 411 411 129 120 149 411 411 128, 149 411 411 411 411 411 406, 411 133, 406 404 97

429

Stellenregister 8,5–13 8,7 8,11 8,12 8,16 8,17 8,25 8,28–34 9,31 9,35 10,5–31 10,7 10,42 11,2–6 11,3 11,5 11,11f. 11,25–27 11,28–30 12,1–5 12,1–8 12,3 12,5 12,6–8 12,9–12 12,11 12,11ff. 12,12 12,13 12,14 12,14f. 12,15 12,17–21 12,17 12,22 12,22–37 12,23 12,33–37 12,35–37 12,46–50 13,1–9 13,18–23 13,19 13,24–30 13,31–33 13,35 13,36–43 13,36–52 13,38 13,43

404 127 406 150 127 116, 140 382 404 121 127, 150 405 121 405 121 126 127 238 129, 133 406 406, 409, 411 409 133 133 409 409, 411 411 406 411 409 411 409 127, 411 140 116 127 150 150 406 411 406 409 409 150 149, 405, 409 406 116, 133, 140 405 409 150 149

13,44 13,45f. 13,47–50 13,52 14,1 14,2 14,3 14,6 14,8 14,14 14,33 15,1–9 15,21–28 15,22 15,30 16,13–20 16,14 16,19 17,5 17,13 17,18 18,1–6 18,15–17 18,23–34 19,2 19,3–12 19,4 19,13–24 19,25–28 20,1–16 20,29–34 21,1 21,1–9 21,1–17 21,4 21,5 21,6 21,8 21,8f. 21,10 21,11 21,12 21,13 21,14 21,15 21,16 21,17 21,28–31 21,42 22,1–14

149, 406 149 149 135, 406 143 238 143 143 238 127 382 406 150 150 127 382 238 149 129 238 127 406 405 149 127 406 133 406 406 149, 405 127 127 150 122f., 126f., 136f. 116, 140 128 121 127 127 127 147 128 125, 128 127 126 126, 133 125 406 133 149

430 22,15–22 22,23–32 22,31 22,35–40 23 24,14 24,35 25,1–13 25,14–30 25,31–46 26,29 26,42 26,54 26,56 26,71 27,3–10 27,4 27,9 27,9f. 27,11 27,24 27,24f. 27,25 27,29 27,37 27,42 27,51–53 27,60 28 28,1–20 28,5–7 28,13 28,18 28,18–20 28,19 28,20 Markus 1,1 1,1–8,26 1,4 1,4–6 1,5 1,7 1,8 1,8f. 1,9 1,9–11 1,10

Stellenregister 406 406 133 406 406 150 120 406 406 406 149 128, 128 128 147 128 128 116, 140 140 148 128 98, 128 128 149 149 149 128 410 86, 136 112 129 87 149 404 87, 121 115, 121, 381

381 161, 178 238 165–167 157, 165–169 157 157 165, 168 157–159, 165–169, 173f. 118, 147, 155, 172 166, 172

1,11 1,16–20 1,16–3,12 1,21–28 1,26 1,35 1,35–39 2 2,14 2,15–17 2,27 3,31–35 4 4,10 4,35–41 5,1–20 5,21–43 6,14 6,14–16 6,16–18 6,20–22 6,24–25 6,25 6,45–52 7,3 7,4 8,1–10 8,27–10,52 8,28 8,29 9,1 9,2–13 9,2–16,20 9,7 10,38 10,38f. 10,39 10,47 11,1–11 11,8 11,18 11,30 12,41–44 12,42 13 14,1–8 14,16–24 14,36 14,39 14,40

119, 172, 239, 381 175, 404 173 404 147 172 172, 174 211 175 406 409, 411 409 171, 270 409 404 404 170 143, 165, 238 173f. 143 143 165 238 404 161 161 176 171 165, 238 173 263 404 162, 178 381 4 162–164, 173f. 162, 164 147 123 127 125 165 406, 409 170 171 409 149 162, 172 128 405

431

Stellenregister 14,49 14,64 14,67 15 15,26 15,32 15,39 16,6 16,8 16,8–20 16,16 16,19

128 405 147 235 149 149 381 147, 381 165, 171f. 170 165 404

Lukas 1 1,1–4 1,1–9 1,1–9,50 1,2 1,4 1,5 1,13 1,30 1,50 1,77 2,1–7 2,4 2,8–20 2,10 2,15 2,23–38 2,39 2,40 2,49 2,50 2,51 3 3,1 3,19 3,20 3,21f. 3,23–38 4,1–13 4,14–37 4,16 4,34 5 5,36–39 6,12–17 6,24–26

410 93–95, 202, 216, 380 147 147 95, 215 228, 381 143 279 279 147 290 148 147 405, 410 279 147 405 148 410 410 405 148 380 143 143, 156, 404 156 155f. 410 119 404 148 147 410 409 409 411

6,30 6,34–36 7 7,20 7,33 7,36–47 7,46 7,48–50 8,3 8,26–40 9,7 9,9 9,19 10 10,25–37 10,30–37 11,1–13 11,5 11,37–46 11,47–48 11,47f. 11,52 11,52–54 11,53f. 12,1–7 12,8–12 12,10–13 12,13–15 12,16 12,16–21 12,22–48 12,35–48 12,54 12,59 13 13,6–9 13,31 14,1–6 14,1–13 14,7–11 14,12–14 14,14–30 14,15–24 14,26–33 14,26–35 14,28–32 14,30 14,31 14,31–46 14,34f.

411 411 410 238 238 406, 411 411 406 143 404 143 143 238 410 406, 409 201 410f. 202 410 406 410 406 410 410 409, 410 409 405 405, 410 201 406, 409, 410 410 410 410 410 410 409 143 406, 411 411 406, 411 406, 411 411 411 411 406 411 411 411 411 411

432

Stellenregister

15,3 15,3–32 16,1–6 16,1–13 16,18–31 17,7–10 18 18,1–8 18,9–14 18,37 19,1–5 19,1–28 19,5 19,6ff. 19,9 21,34–36 22f. 22,19 22,24–27 22,43f. 22,44 23,7f. 23,11f. 23,15 24,13–35 24,14–24 24,16 24,19 24,30 24,31 24,41 24,50–53

406 405 406 406 409 406 410 406 406 147 406 409 406 406 290 411 149 291 406 93f 94 143 143 143 381 381 381 147 291 381 101 404

Johannes 1,1–18 1,6–8 1,7 1,7f. 1,8 1,12f. 1,14 1,15 1,19 1,24 1,28 1,29 1,29f. 1,29–34 1,30 1,32

382 238 238 238 238 382 237, 382 239 238 147 238 156, 239 243 155 239 238

1,33f. 1,34 1,35–40 1,36 1,39 1,45–46 2,12–16 2,25 3,1–21 3,11 3,22 3,22–36 3,23 3,26 3,28 3,32 3,33 4,24 4,29 4,39 4,43–54 4,44 5,5 5,31 5,31–38 5,32 5,33 5,34 5,36 5,37 5,39 6 7,7 7,42 8,1–11 8,13 8,14 8,17 8,18 9,1–41 9,39–42 10 10,25 10,40 10,40–42 11,17–46 11,33 11,40 12,17 12,24f.

239 238f. 257 239 237 147 409 238 382 238, 242 409 403 238 238 238, 243 238 238 406 237 238 404 238 211 238 243 238 238 238 238 238 238 257, 270 238 147 406 238, 242 238, 242 238 238 237 237 237 238 238 243 404 82, 101 237 238 406

Stellenregister 13,4 13,4–17 13,21 13,23 13,23–25 13,34f. 15,26 15,27 17,24 18,1–3 18,5 18,7 18,15f. 18,23 18,28–19,16 18,37 19,9 19,24 19,25–27 19,26 19,30 19,33 19,33–37 19,34 19,35 20,8 20,17 20,18 20,25 20,28 20,29 20,30 20,30f. 20,31 21 21,7 21,15–23 21,20 21,20–24 21,21–23 21,22 21,22f. 21,23 21,23f. 21,24

406 406 238 257, 259 212 406 238 238, 243 237 405 147 147 257 238 241 238 147 123 213, 257 235 237 236 235 236 212, 235, 238, 256 257 260 236 236 382 238 236, 268 382 245, 268, 382 271 257 175 212 214, 261, 263 213 262 259f. 263 259f. 212, 214, 235f., 238, 246, 256f., 259, 262f.

Apostelgeschichte 1,4–12 404 2,22 147

3,6 4,10 4,12 4,27 5,19 6,14 7,25 8,26 10,3 10,37f. 10,38 12 12,1 12,6 12,7 12,11 12,19 12,21 13,26 13,32f. 13,47 16,10–17 16,17 20,5–15 21,1–18 22,8 24,5 25f. 25,13 26,9 27 27,1 27,1–8 27,1–44 27,1–28,16 27,2 27,3 27,4 27,5 27,6 27,7 27,8 27,9 27,9–11 27,10 27,11 27,12 27,12–19 27,13

433 147 147 290 143 279 147 290 279 279 155 147 143 143 143 279 143 143 143 290 117 290 380 290 380 380 147 147 143 275 147 6, 273–280, 282f., 287, 290–292 276 273 275 380 283 275f. 275f. 275 275f. 276 276, 283 276–278 273 278 277 276f. 273 277

434 27,14 27,15 27,16 27,17 27,18 27,19 27,20

Stellenregister 2. Korinther 11,21b–12,10

79

Philipper 1,1

352

27,20–26 27,21 27,22 27,23 27,23f. 27,24 27,25 27,26 27,27 27,27–29 27,28 27,29 27,30 27,30–38 27,31 27,32 27,33 27,34 27,35 27,36 27,39 27,39–41 27,40 27,41 27,42 27,42–44 27,43 27,43–28,1 27,44 28,1

276–278 276, 278 276–278 277f., 288 276, 278 276f. 276, 278f., 283, 288, 290 273 278 279, 288 277, 279 290 279, 288 279, 288 283 276f. 273 276, 278 276–278, 283, 288 277f. 273 279, 290 277 276f. 279, 288, 290, 291 291 279, 288 276f., 283 273 277, 283 276–278, 283 278 273 279, 290 288 276, 279, 290 275f., 279, 290

Kolosser 1,2 2,1 2,4 2,5 2,6–23 2,8 2,16–23 2,16 2,18 2,22 4,13–16 4,16

328f. 329 331 330 330 327, 330f. 330 331 331 331 328f. 319

Römer 6 6,3 12,6–8 16,1–2 16,8

4 169 352 352 352

1. Timotheus 2,9–3,1 3,15

351 351

1. Korinther 11,23f. 12,24 12,28

291 352 352

Titus 1,1–4 1,2 1,4 1,4f. 1,5

346 346 346 347, 351 347, 351f.

1. Thessalonicher 2,12 316 4,1 316 4,13–18 263 4,15 319 4,17 319 5,12 352 5,14 316 2. Thessalonicher 1,4–10 315 2,2 263, 315 2,4 312 3,2 315 3,6–10 317 3,7 317 3,7–13 315 3,9 317 3,12 317

435

Stellenregister 1,5–9 1,5–16 1,6–9 1,7 1,9 1,10–15 1,12 2,1 2,1–9 2,1–10 2,2–15 2,7 2,11–15 2,15 3,1f. 3,4–7 3,4–15

348 347, 352 352 352 347 347 346 347, 354 348 347, 354 347 347 347 347 347f. 347 347, 354

3,8 3,9 3,10f. 3,12–14 3,15 15

347, 354 347 347 346 346 347

1. Johannes 2,18–27 5,9f. 4,1–6

99 242 99

2. Johannes 7

99

Hebräer 9,10

161

3. Außerbiblische Quellen des antiken Judentums Assumptio Mosis 7,2–6 144 Flavius Josephus Antiquitates Judaicae 2,205f. 141 2,205–216 141 2,210–212 141 2,215f. 141 14,403 145 14,415 125 15,50–56 144 15,346 125 16,150–159 144 16,356–404 144 17,285 125 17,304–314 144 18,116 162 18,116–119 167 Contra Apionem 1,55 223, 232 De Bello Judaico 1,1–3 374

1,12 1,16 1,30 1,540–543 4,135 4,137 5,20 6,370 17,178–181

375 374 373 144 125 163 375 125 144

Midraschim MidrTeh 146

127

Psalmen Salomos 2,32 149 Talmud, Babylonischer bBB 3b 144 bSuk 37b 127 Weisheit Salomos 18,5 141

436

Stellenregister

4. Außerbiblische christliche Quellen der Antike Didache 10,6

Nazaräerevangelium 5 157

126

Ebionäerevangelium 2 156

Papias von Hierapolis Fragmente 2,2 228 12,2 228

Eusebius Historia Ecclesiastica 3,31,3 211 3,39,4 261 7,25,1–27 344

Protevangelium des Jakobus 21–25 140 Tertullian De Baptismo 17,5

Irenaeus von Lyon Fragmente 2,2,21 228

345

De cultu feminarum 1,3 344

Adversus haereses 3 256 3,1,1f. 256

Theophilus von Antiochia Ad Autolycum 3,2 228

5. Pagane Quellen Apuleius Apologia 87,2–5 Aristoteles Poetica 1448b 1450a 1451a–b 1451b

De legibus 1,5

187

345 Epistulae ad Atticum 3,15,8 345 11,3,3 345 368 69 142 69, 70, 72, 187, 367f.

Cicero Cato maior de senectute 1,3 345 De inventione 1,28

290

De oratore 3,202

284f.

Orator 139

286

Partitiones oratoriae 32 281 34–38 281 Demetrios von Phaleron De elocutione 214 285 216 282 Dion von Prusa Orationes 7,1 223

437

Stellenregister Galen von Pergamon De sectis 2 229 In Hippocratis de natura hominis commentarius 2 pr. 345 Herodot Historiae 2,29 2,44 3,115 4,16 7,80 8,2 8,79

222 222 222 222 222 222 222

Homer Odyssee 12 19,246

283 282

Jamblichus De vita Pythagorica 158 345 198 345 Lukian von Samosata Quomodo historia conscribenda sit 5 370 7 185, 371 8 184, 371 9 371f. 10 185, 372 11 372 13 372 15 370 34 372 39 370f. 41 371 42 185, 370, 372 42f. 185 51 101, 371f. 54 370 60 372 61 372 Verae historiae 1,2–4 185

1,3 1,4 1,29 2,31

185 185, 223 185 185

Macrobius Saturnalia 2,4,11

144

Martial Epigrammata 2,20

345

Ovid Ars amatoria 3,339

244

Philostratos Flavius Vita Appollonia 7,35 345 Platon Respublica 398 595a–607b 595a–608b 598d

368 368 130 368

Plutarch De Alexandro 1,2

187

Moralia 347A

286, 289

Nicias 1,1–2

286, 289

Polybios 2,56,8 2,56,8–12 2,56,10 2,56,11 3,4,13 12,4,2 12,27 12,27,1–3 21,21 29,21,8

286 286 289 289 223 223, 231 222 232 232 223

438 Quintilian Institutio Oratoria 4,2,31 290 4,2,36 281 4,2,63 282 6,2,32 282, 289 8,3,61 282 8,3,63 282, 285, 292 8,3,68 285, 292 8,6,4 283 9,2,40 282, 286 10,7,15 285 Rhetorica ad Herennium 1,14 290 4,49 285 4,60 286 4,62 284 4,66 285 4,68 282 Seneca Epistulae Morales 33,4 345 Sextus Empiricus Adversus Mathematicos 1,263–269 187

Stellenregister Tacitus Annales 15,44,3

236

Theon von Alexandria Progymnasmata 5,3–8 281 5,39f. 290 7,2 290 7,2f. 281, 284 7,4f. 281 7,5–12 281 7,6 289 7,11 289 7,13f. 281, 283, 292 7,14 283 7,15 283 7,15f. 281 7,16 283 7,17 283 7,17f. 282 7,21 289 7,40f. 282f., 288 7,53 288 7,53f. 282 7,54 284, 292 Thukydides 1,22

72

Personenregister Aageson, J. W. 346, 355 Achtemeier, P. J. 296, 312, 321 Adams, D. W. 396, 402, 404f. Alber, J. 51 Albrecht, F. 140f., 147 Alexander, L. 93, 216, 228f., 232, 274, 277 Alkier, S. 287 Anderson, P. N. 245 Ankersmit, F. R. 142, 188f., 232 Assmann, A. 12 Assmann, J. 244f. Atkinson, K. 65 Aune, D. E. 341 Avenarius, G. 370 Axelrod, A. 393 Backhaus, K. 59, 72, 79–82, 92, 186, 231, 363, 365, 367, 373, 377, 378 Bacon, F. 396 Bakhtin, M. 98 Banfield, A. 14 Barbé-Marbois, F. 396 Barclay, J. M. G. 323 Bareis, A. 16, 23 Barrett, C. K. 147, 274, 290f. Barth, G. 113 Bartlett, F. C. 225 Bartley, A. 186 Bastard, H. M. 65 Bauckham, R. 213f., 216–220, 226, 234f., 238, 244, 257, 263 Bauer, W. 166 Baum, A. D. 344, 346 Baumert, N. 158–160, 163f., 167 Baumgartner, W. 164 Bauspieß, M. 185, 289, 374, 378, 380– 382, 384, 386 Becker, A. S. 280–282, 284, 286 Becker, E.-M. 315, 341, 364, 379 Becker, J. 262

Beeson, S. D. 73 Bennema, C. 214 Bernett, M. 143 Beutler, J. 238 Bieder, W. 159, 161 Bindemann, W. 274, 290 Blass, F. 157, 163, 168 Blum, E. 364, 375f. Boice, J. M. 238 Bongardt, M. 131 Bormann, L. 78f., 364 Bornkamm, G. 113 Börstinghaus, J. 274f., 277, 279, 283 Böttigheimer, C. 253 Bovon, F. 147 Bowersock, G. W. 185, 187 Bremmer, J. N. 65 Breyer, T. 233 Broer, I. 155, 262f., 296, 314, 317f., 322, 327f. Broich, U. 127 Brown, D. 343 Brown, R. E. 146 Brox, N. 347 Buber, M. 111, 118 Bultmann, R. 147, 235f., 239f. Bunia, R. 16, 32 Burbaum, C. 47 Burkett, D. R. 296, 312, 321 Butzer, E. 355 Byrskog, S. 214, 216f., 219f., 222 Campbell, E. A. 351 Carr, D. 233 Cassin, B. 82 Cassirer, E. 114, 130–133, 135 Catchpole, D. 219 Charlesworth, J. H. 245 Charlton, M. 47 Clivaz, C. 82, 93–95, 101, 146 Cogliano, F. D. 393, 398, 412

440

Personenregister

Cohn, D. 14, 23, 183, 192, 195f., 200 Coleridge, S. T. 27 Collins, A. Y. 348 Collins, R. F. 341 Conkin, P. K. 392 Conzelmann, H. 273, 278, 291, 296, 314 Corzillius, M. 419 Creutz, D. 233 Croft, H. 418 Crossan, J. D. 181–183, 201f. Crüsemann, F. 117, 120 Crüsemann, M. 313 Cullmann, O. 140, 146 Currie, G. 22, 27 Cuvillier, E. 90 D’hoker, E. 39 Danove, P. L. 171 Danto, A. C. 188, 364 Davies, D. 16 De Rieux, J. P. P. 395 Debrunner, A. 157, 163, 168 Defoes, D. 23 Delling, G. 164 Dernbach, B. 43f., 49 Destro, A. 142 Dettwiler, A. 313, 323 Dewald, C. 222 Dibelius, M. 146, 273f., 277 Dietzfelbinger, C. 235 Dingel, J. 280 Doležel, L. 190 Donelson, L. R. 354 Dormeyer, D. 91, 187, 216, 220, 230, 365, 375, 377, 379f. Dörr, V. C. 32 Dreisbach, D. L. 392 Dronsch, K. 255 Dschulnigg, P. 161, 162 Dunderberg, I. 258 Dunn, J. D. G. 216 Duprat, A. 32 Eakin, J. P. 45 Ebel, E. 99 Ebner, M. 170–172, 200, 266, 296, 370 Eckhardt, B. 144 Eco, U. 19, 31, 295, 297, 298, 301 Ehrman, B. D. 296, 327, 349 Eibl, K. 12 Eichner, C. 32

Eisen, U. 87 Elliott, J. 413 Eltrop, B. 78 Engster, D. 229 Enslin, M. S. 146 Erdmann, G. A. 146 Ernst, J. 163 Evans, C. 219 Fenske, W. 260, 261 Ferling, J. E. 397 Fiedler, P. 120, 141 Finnern, S. 75, 84–87, 112 Fischer-Lichte, E. 200 Fitzmyer, J. A. 273, 275, 351 Fludernik, M. 37, 40, 195, 233, 373 Forster, E. M. 17 France, R. T. 145 Frank, N. 326, 329f., 333 Frankemölle, H. 134f. Frede, D. 69f. Freeman, J. B. 397 Frege, G. 363 Frenschkowski, M. 77, 88–90, 342, 349 Frey, J. 216, 237, 296, 305, 373, 391 Frisch, M. 295, 321, 334, 336 Fritz, K. von 368, 377f. Funk, R. W. 391 Gabriel, G. 15, 26 Galilei, G. 391 Gaustad, E. S. 392f., 395, 401f., 407f., 410 Gaut, B. 22 Genette, G. 29, 69, 71, 74, 96, 188, 194–196, 198, 220, 234, 366 Georgiadou, A. 186 Gerhardsson, B. 216 Gerrig, R. J. 29 Gertken, J. 16, 29, 53, 196 Gesenius, W. 164 Gibson, J. 12, 16, 190 Gielen, M. 355 Gilchrist, J. M. 273–275 Gill, C. 194 Glaser, T. 305, 309, 310, 349 Gloy, K. 222 Gniesmer, D. F. 241 Gnilka, J. 155, 161, 323, 325 Goertz, H.-J. 188, 232, 363f. Goette, H. R. 229 Gourgues, M. 341

Personenregister Graeser, A. 131f. Graf, F. 281, 283, 285 Gray, P. 91 Green, J. B. 296 Gregory, A. F. 348 Grethlein, J. 233 Groeben, N. 197 Guardini, R. 237 Günther, L.-M. 143 Gupta, N. K. 323 Habermas, J. 41 Haenchen, E. 274, 277f., 283 Häfner, G. 59, 79–82, 187, 194, 196, 342, 363, 378 Hainz, J. 157 Hamburger, K. 14, 196 Harding, M. 341 Hardtwig, W. 419 Härle, W. 253 Harth, D. 62 Hasler, V. 347 Hatch, E. 161, 164 Hayes, K. J. 393, 401, 403, 407, 410, 412f. Heckel, U. 150, 297, 314 Heckl, R. 232 Hedrick, C. W. 201 Heidegger, M. 363 Held, H. J. 113 Hempfer, K. 22 Hengel, M. 123f., 213, 215, 260–262, 274, 344 Hergenröder, C. 237 Herms, E. 267 Herzer, J. 341f., 347 Hoegen-Rohls, C. 244 Höffe, O. 69, 71 Höfner, M. 131 Holmes, D. L. 392f., 395, 417 Hölscher, L. 188 Homeyer, H. 184, 370 Hoover, R. W. 391 Horbury, W. 143 Horn, J. 397 Horrell, D. 353 Hose, M. 231 Hübenthal, S. 122, 300, 307, 326 Hübner, H. 327f. Hume, D. 142, 393f. Hummel, A. 273, 277, 279, 290

441

Ilgner, J. 200 Instone-Brewer, D. 123 Iser, W. 299 Jacobs, W. G. 62f., 66 Jacquenod, C. 29 Jaeger, S. 190f., 197, 199–201 Janik, D. 22 Janßen, M. 88–90, 296, 305, 341, 344f., 349f. Jaroš, K. 322 Jaspers, K. 419 Jefferson, T. 391–420 Jensen, A. 97 Jervell, J. 274–278 Johnson, S. 65, 413 Joisten, K. 139 Jones, H. S. 159f. Kablitz, A. 15 Kammler, H.-C. 382 Kania, A. 22 Kant, I. 131 Kartzow, M. B. 355 Kasher, A. 143 Kasics, K. 22 Kee, H. C. 296, 312, 323 Keener, C. 213, 220f. Kelber, W. H. 217 Kertelge, K. 118 Kimball, M. 417 Klauck, H.-J. 97 Klein, C. 76, 197–199, 234, 299f., 302f., 305 Klein, D. 417 Klein, H. 126 Klumbies, P.-G. 133 Knight, G. W. 342 Knudson, J. W. 397, 400 Köhler, L. 164 Kollmann, B. 77, 134 Kolmer, L. 372 Konradt, M. 120 Köppe, T. 16, 21f., 29, 49, 53, 196 Korol, D. 143 Korsch, D. 131 Koschorke, A. 38, 194, 241f. Koselleck, R. 194 Kramnick, I. 397, 400 Kreinecker, C. M. 313f. Krentz, E. 312, 316 Kreuzer, S. 200

442

Personenregister

Krieger, K.-S. 374 Krogh Hansen, P. 198 Küchler, M. 355 Kügler, J. 257–260, 263 Kuhn, K. A. 215 Kümmel, W. G. 296, 321 Läger, K. 347 Lamarque, P. 11, 20f., 28, 30–32 Landau, T. 143 Landgraf, M. 267 Landmesser, C. 66, 255, 364 Larmour, D. H. J. 186 Lau, A. Y. 347 Laub, F. 317 Laurentin, R. 146 Lauster, J. 264–268 Lavocat, F. 32 Lejeune, P. 45 Lendle, O. 186 Leonhardt, R. 264 Lessing, G. E. 61f., 64, 69, 77, 102, 417 Lévi-Strauss, C. 244 Lewis, D. 20 Lewis, J. E. 397 Liddell, H. G. 159f. Lincoln, A. 214, 239–241, 243f. Lindemann, A. 296, 313f., 327f. Lindner, H. 374f. Lindsey, R. C. L. 224 Linn, W. 398f. Lips, H. von 348, 351 Locke, J. 394, 396 Loftus, E. F. 224 Lohfink, G. 346 Lohfink, N. 127 Lohmeyer, E 148f. Löning, K. 128, 351 Lorenz, C. 188, 384 Lüdemann, G. 255, 343 Luhmann, N. 43 Luther, M. 254 Luther, S. 75, 87, 96, 194, 203, 211 Luz, U. 68, 86, 97f., 113f., 116, 119, 129f., 133, 141f., 150f., 366 Maccini, R. G. 214 Macdonald, D. R. 274, 277 Maisch, I. 329, 331f. Malcovati, E. 144 Manor, T. S. 65

Margolin, U. 20f., 49 Marguerat, D. 185, 297, 373, 379f. Marquard, O. 12 Marquardt, F.-W. 134 Marshall, I. H. 219, 312, 321, 347 Martens, G. 39, 351 Martin, M. P. 49 Martínez, M. 15, 23, 68, 74–76, 193, 197–199, 234, 297–303, 305, 367– 369, 376 Mason, J. M. 399 Mason, S. 374 Mayordomo, M. 61 Mayordomo-Marín, M. 115 McCasland, S. v. 123 McDonald, R. M. S. 397 McLean, I. 394 Meade, D. G. 344, 354 Meier, A. 32 Meissner, C. A. 225 Meister, K. 186, 378 Memon, A. 224 Menge, H. 159f. Menhard, F. 50 Menken, M. J. J. 98f., 140, 146 Merkel, H. 60, 143, 324 Merz, A. 155f., 167, 236, 326, 349, 351, 354 Metzger, P. 255, 267f. Meyer, M. 43 Meyer, T. 131 Miles, G. B. 273, 275, 279 Milikowsky, C. 65 Minear, P. S. 235 Mitchell, M. M. 307, 318 Mix, Y.-G. 32 Moessner, D. P. 216 Möllering, G. 43 Moore, R. L. 397, 400 Morford, M. P. O. 274 Mounce, W. D. 347 Müller, K. 133 Müller, P. 131, 323 Müller, P.-G. 318 Müllner, I. 68, 71, 82 Munslow, A. 199 Nauerth, T. 139 Neem, J. N. 392, 394, 401f., 406, 414f., 417 Nesselrath, H.-G. 185, 230, 370

Personenregister Netser, E. 143 New, C. 17 Newton, I. 396 Nickel-Bacon, I. 197 Niebuhr, K.-W. 297, 312, 321f. Niederhoff, B. 24 Nünning, A. 48–50, 189f., 195f., 299f., 306f. Nünning, V. 50f. Oberlinner, L. 346f. Oberweis, M. 117 Oepke, A. 159 Olsen, S. H. 11, 28, 30–32 Olson, E. A. 224 Onuf, P. S. 392, 394, 397 Otto, S. 189 Paetzold, H. 131 Parmentier, E. 66 Parsons, P. J. 344 Paschke, B. A. 352 Paschoud, F. 73 Passow, F. 159f. Paul, I. 312, 321 Pelling, C. B. R. 187 Penrod, S. D. 224 Perry, W. 413 Pesce, M. 142 Pesch, O. H. 253 Pesch, R. 161f., 273, 276–279, 283, 288, 291 Petersen, J. H. 71 Pette, C. 47 Pflug, I. 200 Phelan, J. 49 Phillips, M. S. 191 Pichler, D. 193 Pietersen, L. K. 347 Pihlainen, K. 190 Pilhofer, P. 297, 323 Pirker, E. U. 200 Ploner, M. T. 115 Plümacher, E. 91–93, 95, 184–186, 286f., 365, 377, 380 Pokorný, P. 150, 275, 279, 290f., 297, 313f., 323 Popkes, E. E. 83 Praeder, S. M. 273–275, 290f. Pratscher, W. 355 Priestley, J. 400–404, 417 Pucci Ben Zeev, M. 65

443

Pullman, P. 181 Pybus, C. 399 Quinn, J. D. 347 Rahner, J. 244 Ranke, L. von 184, 366f., 369, 371, 383–385 Randall, H. S. 395, 405, 407f., 418 Randolph, T. J. 407f. Rapp, C. 71 Rapp, D. N. 29 Ratzinger, J. 214 Rau, E. 266 Redman, J. C. 225f. Redpath, H. A. 161, 164 Rehkopf, F. 157, 163, 168 Reicher, M. E. 74 Reimarus, H. S. 391, 416f. Reinmuth, E. 305, 314, 316, 320f., 335, 363 Reiser, M. 157, 273–275, 277f., 283, 355, 417 Resseguie, J. L. 263, 268 Reventlow, H. G. 417 Richards, W. A. 342 Ricœur, P. 188, 226–228, 242f., 364, 366, 368, 376, 384f. Riedl, H. J. 354 Riesner, R. 215f., 220, 379 Rigney, A. 192 Robbins, V. K. 274–276, 278, 288 Rochais, G. 95 Roloff, J. 297, 323, 325, 341, 351 Rölver, O. 118, 122 Roncace, M. 91 Roose, H. 315f. Rorty, R. M. 363 Rose, H. R. 344 Rösler, W. 187, 368f. Rothe, R. 267–269 Rothfuchs, W. 116 Rothschild, C. K. 184f., 216, 230, 370, 373f. Rudolph, E. 131 Rühling, L. 15 Rüsen, J. 188 Rush, B. 400, 407 Rüth, A. 191 Ryan, M.-L. 12, 15, 17, 20, 190 Sabbe, M. 235 Samuelson, R. 392–395

444

Personenregister

Sanders, E. P. 155 Sanford, C. 392 Schaeffer, J.-M. 17 Schalit, A. 143–145 Scheffel, M. 15, 23, 68, 74f., 193, 197f., 297–301, 367–369, 376 Schenk, W. 341 Schenke, L. 171, 176 Schierse, F. J. 297, 313, 324 Schille, G. 273f., 277, 290f. Schimanowski, G. 66 Schlarb, E. 347 Schmauch, W. 148f. Schmid, H. 308f., 331 Schmidt, E. D. 417 Schmidt, K. L. 149f. Schmidt, K. M. 163, 171–173, 175f. Schmidt, S. J. 42, 47 Schmithals, W. 162 Schmitt, A. 69, 70–72 Schmitz, B. 67 Schmitz, T. A. 98 Schneider, J. 166 Schnelle, U. 147, 213, 297, 312f., 318, 323, 326 Scholtissek, K. 348 Scholz, B. F. 281, 284f. Schönert, J. 192 Schooler, J. W. 225 Schöttler, H.-G. 134 Schreiber, S. 155, 266, 296f., 313, 316, 318f., 323 Schreier, M. 47, 197 Schröter, J. 95, 99, 142, 185, 188, 216, 219, 240, 347, 355, 363, 366, 373 Schumacher, T. 159, 165 Schwankl, O. 237 Schwarz, R. 355 Schweer, M. K. W. 44 Schweitzer, A. 392, 418, 420 Schwemer, A. M. 215 Schwyzer, E. 163 Scott, R. 159f. Searle, J. R. 25f., 194, 298 Sheridan, E. R. 392, 395, 399, 400, 402–404, 407–409, 415 Shklovsky, V. 53, 55 Sidney, P. 25 Ska, J.-L. 65 Smit, P. B. 351, 353

Söding, T. 347f. Sommer, A. U. 393 Spahn, H. 393 Sperber, D. 52 Speyer, W. 344 Sporer, S. L. 225 St. John, H. 393 Standhartinger, A. 329f. Stettler, H. 348 Strauß, D. F. 391 Strecker, C. 188 Strecker, G. 117 Stuckrad, K. von 144 Stühring, J. 22 Suhl, A. 274f. Tate, A. 91 Taylor, J. 93 Theißen, G. 62–64, 142, 155f., 167, 236, 267, 297, 313, 323, 418, 420 Theobald, M. 244, 262f., 322, 327, 329 Thies, B. 44 Thompson, M. M. 189, 296 Thompson, T. 305, 312–315, 318f. Thomson-Jones, K. 22 Thyen, H. 235f., 257–261, 263 Tindal, M. 393 Toglia, M. P. 224 Tovey, D. 213 Towner, P. H. 342, 346, 355 Travis, S. 312, 321 Trompf, G. 273, 275, 279 Trummer, P. 342, 355 Tuckett, C. M. 348 Twomey, J. 343 Vahrenhorst, M. 120 Vaihinger, H. 11 van Iersel, B. 171 Van Unnik, W. C. 373 Van Wahlde, U. C. 245 Vanderkemp, F. A. 403, 407, 415 Vanhoozer, K. J. 213f. Vogel, M. 143 Vogl, T. 131 Vollenweider, S. 99 Voltaire 393 Voysey, C. 418 Wagener, U. 355 Walker, A. D. 280, 285f., 289 Walsh, R. 16, 22 Walton, K. L. 15, 20f., 26–28, 47

Personenregister Webb, R. 280–282, 284–286 Weber, D. 26 Wedderburn, A. M. 95, 215 Weder, H. 364 Weeden, T. J., Sr. 219 Wehnert, J. 273–275, 277 Weidemann, H.-U. 296 Weimar, K. 14 Weissenberger, M. 280 Weixler, A. 198 Wells, G. L. 224 Wengst, K. 60, 66, 97, 117, 147, 260, 263, 265 White, H. 37, 38, 188f., 232f., 364– 368, 370, 384f. Wichelhaus, M. 172 Wick, P. 141, 145 Wiefarn, M. 198 Wiefel, W. 141 Willis, J. 144

445

Wilson, D. 52 Wilson, G. M. 23 Winter, D. 142 Wittgenstein, L. 237, 363 Witztum, E. 143 Wolf, T. R. 189 Wolter, M. 156, 215, 327, 342, 355 Wrede, W. 267, 313 Young, F. M. 347, 355 Zimmermann, R. 61, 68f., 76f., 83f. 88–90, 95–97, 181, 183, 188f., 198f., 201f., 211, 233, 234f., 237, 243, 245, 253, 255, 269, 301–303, 334, 343, 363, 366, 369, 380, 384 Zipfel, F. 13–16, 20, 28f., 32, 112, 145, 193–195, 198, 234, 274, 299, 301 Zumstein, J. 99–101 Zwaan, R. A. 52

Sachregister Adressat 6, 22, 28, 31, 39, 72, 79, 87– 89, 92–96, 129f., 231, 240, 260, 280, 284–289, 292, 308–310, 318–322, 327–333, 335f., 341, 343, 349 Adressatenfiktion 305–307, 317, 328f., 334f., 342, 348, 354 Affekt 71, 191 avlhqei,a s. Wahrheit Amt 352 Ämterfrage 343, 350–353 avnabai,nw 166, 172 Anschaulichkeit, evna,rgeia 6, 280–292 Antike, antik 4f., 71–73, 75, 81f., 87f., 91, 181f., 184–188, 191, 195, 201– 203, 215–217, 220–224, 228, 230– 232, 234, 255, 274f., 282, 284, 286, 288f., 310, 342–345, 349f., 353, 365, 367, 370, 377, 379, 385, 400, 402 Apokryph 80, 86, 156f. Apostel 76, 215, 258, 260, 264, 316– 319, 322, 326, 329, 332f., 336, 350, 352, 381 Auferstehung, auferstehen 87, 112, 162, 169–173, 236, 257, 381f., 402, 404f., 406, 409f., 416 Aufklärung, aufgeklärt 7f., 72, 211, 255, 391, 393, 396, 398f., Augenzeuge, eyewitness, auvto,pthj 5f., 186, 209–246, 258, 260f., 274, 285f., 288, 374, 380 Authentizität, authentisch 4f., 46, 61, 74, 88, 181, 183, 198, 200, 203, 210, 220f., 232, 234, 245, 264, 266, 297, 301f., 304, 306–309, 311f., 321–323, 329, 331, 335f., 346, 350f., 355, 374–376, 402, 408, 412, 414–416 Autobiographie, autobiographisch 23f., 44–46, 79, 197, 224

Autor 3, 5, 7, 22, 25–28, 31f., 45–48, 53f., 60, 67, 75f., 82f., 88–90, 94, 97, 99, 112f., 116f., 120, 123f., 128– 130, 133–135, 184, 195–197, 213f., 226, 231, 256f., 259, 262–264, 266, 287, 296, 300f., 306–308, 310–312, 315, 318, 320–325, 329, 331–333, 335, 342f., 345, 348, 350, 354, 369, 373, 376, 380, 398, 403, 414, 418 Autorität 6, 88, 90, 214, 223, 227, 273, 350, 404, 416 ba,ptisma s. Taufe Bericht 44, 62, 92, 175, 182, 185, 192, 214, 223, 227, 273, 404, 416 Bethlehem 4, 139f., 146–148, 151 Bibel 5, 7, 52, 89, 169, 253, 255, 264– 268, 391, 393, 398, 405, 410 Bibelkompilation 391, 407 Brief, Briefliteratur 6, 79, 90, 98f., 301, 304, 307–310, 312f., 317–319, 321f., 326–331, 335, 346, 349, 354f. Cäsarea 173, 275f. Character s. Figur Chiffre 116, 162, 169f., 332 Christus, Christ, Cristo,j 4, 62, 99f., 146f., 169, 173, 181, 237, 245, 266, 268f., 290, 330f., 381f., 410 Christologisch 100f., 119, 121, 127, 239, 242, 245, 347, 409, 419 Cross s. Kreuz Darstellung 2f., 5, 13, 15–17, 25, 37, 42, 46, 49, 51f., 54–56, 61, 64, 67, 69–72, 75f., 78, 81, 83, 92, 94f., 114–116, 121, 124, 126–130, 133, 140, 156, 175, 182–187, 189–192, 197, 199, 225, 228, 232, 275, 281,

448

Sachregister

283, 288, 292, 303, 365f., 369–376, 378, 380–385, 404f., 409 David 114f., 144, 146f., 148, 150 Davidssohn 4, 115, 126, 148, 150 Deuteropaulinisch 6, 255 Dichter, Dichtung, dichterisch 3, 7, 16, 68–72, 74, 78, 82, 91, 102, 186, 289, 297, 335, 364–369, 371, 376, 378, 384 Diskurs, diskursiv 49, 59, 78, 83, 195f., 198, 295, 305, 308, 318, 326, 334f., 363, 367, 370, 374, 384f. Emotion, emotional 16, 29, 40, 91f., 94, 101, 210, 225, 285f., 288f., 292 evna,rgeia s. Anschaulichkeit Ereignis, event 1–5, 13, 15, 17f., 22, 24f., 38–42, 45–52, 61–65, 67, 70, 73, 78, 80, 83–87, 91, 95f., 98, 102, 113–118, 123f., 127, 130, 133–135, 155, 175f., 181, 185–187, 189f., 193, 199, 210, 213, 218–222, 224– 226, 229, 232–234, 236, 239, 242f., 265f., 274f., 281–283, 288f., 295f., 302, 311, 320, 334f., 369, 371–376, 381f., 384f. Ereignisträger 17f., 22 Erfahrung 49, 51, 62, 73, 76, 96, 98, 189, 217, 233, 244, 265–267, 295, 302, 304, 309, 320, 329, 334–336, 393 Erfundenes, erfinden, pla,sma 12f., 15– 17, 29, 37, 45, 74, 92, 95, 97, 99, 111, 184, 187, 203, 211, 231, 260, 297, 301, Erinnerung 24, 40, 45, 61, 67, 75, 78, 115, 119, 216, 224f., 245, 265f., 295f., 325, 332f. Erzählen 2f., 15, 39–41, 66, 74, 191– 199, 202, 210–219, 223, 229, 306f., 335, 364, 373, 382–386 –, faktuales 2f., 23f., 41, 46–48, 52, 56, 75, 196, 199, 211, 297, 301–303, 305f. –, fiktionales 2f., 21–23, 25, 28, 31– 33, 37–39, 41f., 49, 80, 183, 190, 198f., –, literarisches 41f., 47

–, unzuverlässiges 2f., 37–39, 44, 50, 55f. –, zuverlässiges 2, 41 Erzählliteratur 7, 74, 364f., 377 Erzählung, narrative 2, 4, 15, 19–31, 38f., 41f., 44, 46–56, 63, 66, 74–76, 78, 80–87, 89, 92, 95–97, 111–128, 130, 133, 139, 141f., 146, 148, 150f., 158, 163, 169–173, 181–183, 186, 192–196, 198f., 201–203, 210f., 226f., 232, 234, 240, 244f., 281, 285, 288, 292, 300–303, 305f., 309, 364, 366, 369, 375f., 380–386, 404– 406, 410, 412f. Eschatologie, eschatologisch 117, 121, 123f., 127f., 148, 169, 259, 312f., 317–322, 336 Evangelienharmonie 403, 405, 407, 410 Exegese 1, 3, 59–61, 69, 74, 76–78, 88, 102, 253, 260, 264, 297, 303, 305, 307, 385, 391f., 420 –, historisch-kritisch 77f., Eyewitness s. Augenzeuge Fakt, fact 6, 13, 37, 45, 49, 51, 65, 73, 81, 98f., 112, 133, 181f., 186, 189, 192, 197–199, 255, 273, 286, 288– 290, 296, 377f. Faktualität, faktual 1–5, 7, 15, 23f., 30, 32, 39, 48, 55, 59, 65, 67f., 70, 74– 80, 83–87, 90–93, 95f., 99, 102, 111, 119, 129, 182–184, 187, 189, 192f., 195f., 198–203, 210f., 220, 296–298, 300–309, 312, 322, 328, 364, 366, 369, 376, 383–385, 391f., 419 Faktualitätsindikator, -signal 79, 183, 192, 195 Fälschung 253–255, 329 Figur, character 5, 13, 15, 17f., 24, 29, 32, 40, 47–51, 55, 85f., 100, 114, 118, 126, 181f., 201–203, 210, 214, 220, 238, 257, 262–264, 268f., 279, 288, 292, 301, 306–309, 333, 335f., 391f., 400 Figurenrede 299, 309 Fiktionalität, Fiktion, fiktional, fiction 1–7, 11–36, 41, 47, 59, 65, 67–69, 73–88, 90–93, 95f., 99, 102, 111, 113f., 116, 121, 130, 133, 182–187,

Sachregister 189–196, 198–203, 210, 214, 230– 234, 253, 255, 258, 260, 273, 289, 295–298, 300–308, 310–312, 320, 324, 328, 330, 335, 342, 344, 346, 364, 366, 369, 376–379, 382–385 Fiktionalitätsstufe 85–87 Fiktionsindikator, -signal 29f., 75, 79, 87, 194f. Fiktionspakt, -vertrag 32 Fiktivität, fiktiv, fictitious 1, 5–7, 12f., 15–22, 26, 28, 31f., 41f., 47, 49, 59, 68, 72, 74f., 82, 84–86, 89–92, 96– 98, 100, 111, 117, 119, 145, 151, 181f., 184, 193, 195f., 198–200, 202f., 210f., 231, 234, 253, 256– 260, 263, 274, 289, 295, 297, 301– 303, 306, 308, 310, 318, 320, 325, 328–331, 333–336, 342f., 355, 364– 369, 371–373, 376f., 380, 383–385 Fokalisierung 24f., 29, 191 Formgeschichte, formgeschichtlich 218 Frühchristlich 1, 3, 5, 63f., 67, 75–78, 83, 86, 89f., 95f., 101, 144, 170, 175, 224, 305, 320f., 325, 335f., 348, 353 Fundamentaltheologie, fundamentaltheologisch 5, 253–255, 264 Galiläa 120, 143f., 171, 173, 175f. Gattung, genre 19, 21, 30, 32, 37, 51f., 76, 82, 93, 96, 100f., 183, 191, 197f., 201, 299, 306, 367, 375, 377, 381, 385, 412, 416 Gefühl 52, 56, 62, 285f., 288f., 375 Gegner 90, 99, 133, 304, 309, 319, 321–325, 327f., 330f., 396, 398, 404 Gemeinde 6, 129, 239, 257, 260, 262f., 295f., 301, 312f., 317–321, 323–327, 329, 331, 333–336, 341, 347f., 351– 353, 355 Gerechtigkeit 118f., 394 Geschehen 6f., 17, 38, 40, 47f., 69, 92f., 116, 123f., 148, 158, 166f., 174, 193, 221, 226f., 233, 243, 265, 285, 367, 372, 378, 381, 383 Geschichte, history, histoire 1–3, 7, 59, 63f., 66, 71, 73, 80, 93–95, 99, 101, 115, 132, 182–184, 186, 188–193, 201, 216, 228, 230–234, 301f., 320,

449

336, 363, 365, 367, 369f., 372, 378– 386, 391, 397f., 416 Geschichte, story 15, 17–19, 21f., 25– 32, 40–44, 46–49, 59, 63f., 66, 73, 99–101, 115, 126, 128–130, 139, 151, 170, 175, 182, 185f., 192f., 201–203, 209–211, 216, 218, 220, 223, 231, 242f., 245, 268, 296, 301f., 304–306, 320f., 336, 381–386, 406, 413, 419 Geschichtsschreibung 1, 3, 7, 38, 69– 71, 73–75, 80f., 85, 91, 101f., 118, 144, 182, 185–189, 191, 195, 202, 217, 223, 225, 230–234, 289, 363– 379, 384f. –, mimetische 91f., 286, 377f. –, pragmatische 184, 230, 370–372, 379f., 384 Geschichtswissenschaft, geschichtswissenschaftlich 5, 133, 183f., 188, 222 Glaubwürdigkeit, glaubwürdig 54, 70, 210f., 220f., 223, 229, 234, 236, 241, 372 Gleichnis 4f., 149, 181–183, 200–203, 301f., 405f., 409, 411 Gott 3, 7, 66, 76, 92f., 102, 114–121, 125, 129f., 141, 149, 172, 227, 239f., 242f., 253f., 265, 268f., 290– 292, 319, 379, 381–383, 385f., 394– 396, 398, 409f., 417 Gültigkeit 5, 61, 101, 219–222, 242 Heiliger Geist 157, 168 Heilsgeschichte 2, 64, 91 Hermeneutik, hermeneutisch 3, 5f., 82, 111, 113f., 116, 129, 133, 135, 176, 209, 214, 220, 226–228, 233f., 241, 243, 245, 295, 303, 319, 328, 330, 334f., 355, 365f., 383 Historiker 69, 80, 185, 197, 216f., 219, 223, 229–232, 286, 288, 368f., 375, 382, 397, 416 Historiographie, historiographisch, historiography 1, 3–7, 67f., 73, 76, 82, 84, 94, 98, 181–192, 194–197, 199– 201, 203, 215, 218, 222, 228f., 231f., 234, 286, 288f. Historisch 1, 3–7, 19, 21, 24, 33, 49, 52, 61–67, 70–72, 74–78, 80–85,

450

Sachregister

91f., 99–102, 112f., 123, 130, 139, 141–143, 155–157, 164, 167, 175, 182f., 185f., 188–192, 194–199, 201, 209–211, 214, 218f., 222–224, 228, 231f., 236, 239, 241, 243–245, 256– 258, 260, 262–268, 274, 298, 302, 314, 321–323, 327f., 333, 341–343, 348, 366, 369, 372, 374–376, 383– 386, 391f., 403, 412, 415–420 Historismus 184 Historizität, historicité 90, 97, 100, 259, 263, 273, 290 –, condionnelle, constitutive 94 History s. Geschichte Identität 98, 121, 130, 173, 240, 253, 257f., 319f., 326, 330, 332f., 335f., 354, 419 Identitätsstiftung, identitätsstiftend 2, 66, 129 Imagination 16f., 21, 73, 295, 336 Israel 4, 116, 125, 146, 148, 150f. Jerusalem 121–127, 143f., 166, 171, 213 Jesus 3–5, 7, 83, 97, 100, 115, 117– 123, 125f., 129f., 133f., 141, 147, 151, 155–158, 162–164, 166, 168f., 172–175, 181–183, 201f., 212–214, 217, 219, 236f., 239f., 242, 245, 256f., 264–266, 290, 301, 381f., 391, 396, 399–404, 406, 408–420 –, erinnerter 95 –, historischer 60f., 76, 95, 155, 164, 182f., 392, 412, 417f. Johannes (der Täufer) 4, 117–119, 121, 147, 155–158, 162, 165–168, 173f., 404, 409 Journalismus, journalistisch 44, 46, 52, 55, 195 Judäa 143, 146, 166 Kanon, kanonisch 2, 5, 80, 85f., 170, 192, 199, 218, 253f., 256, 261, 264, 407, 409f., 412 Kirche 265, 320f., 329, 342, 347, 353– 355, 395f. Kolossä 321, 325, 328, 331f.

Kommunikation 2, 14, 22f., 25, 28, 31, 43f., 118, 120, 134, 221, 299–301, 306, 309, 311f., 320f., 335f., 342, 369, 375, 378 Kommunikationsebene 300–302, 306– 311, 330, 335f. Kommunikationssituation 22, 89, 112f., 128f., 300f., 305f., 308–310 Konstruktion 4f., 7, 21f., 59–61, 63f., 66f., 78, 80f., 94, 181, 183f., 186– 188, 198, 200, 202f., 233, 311, 319f., 322, 333f., 336, 367, 392, 416, 418f. Kreta 276, 347, 351 Kreuz, cross 100, 128, 149, 183, 213f., 235f., 243, 257, 381 Kulturelles Gedächtnis 2, 121, 244 Leben-Jesu-Forschung 392, 418 Lektüre 4, 6, 8, 27f., 65, 82, 172, 174, 176, 287, 292, 296f., 310f., 313, 327, 331, 346, 400, 407, 417 Leser, reader 14, 20, 22, 27–30, 32, 39, 47–50, 52f., 55, 72, 75, 83, 89, 91f., 111f., 114–121, 123f., 126, 128, 130, 145, 171, 175, 182, 185f., 195, 197, 200, 203, 212, 223, 240, 245, 253, 259, 267–269, 275f., 278, 286– 288, 290f., 296, 300f., 307, 310f., 317, 333, 335f., 350, 369f., 372, 375, 381 Lieblingsjünger 5, 212–214, 234–236, 240, 244, 253–264, 268f. Linguistic turn 5, 7, 77, 80, 183, 188, 363–365, 383 Literarkritik, literarkritisch 273 Literary criticism 93 Literatur 1f., 7, 14, 37, 39, 42, 47, 56, 64, 67, 81–83, 86, 93f., 98, 184, 186f., 189, 191, 195f., 377–379 Literaturtheorie, literaturtheoretisch 2, 21, 39, 65, 74f., 300 Literaturwissenschaft, literaturwissenschaftlich 1–5, 12, 16, 19, 39, 41, 50, 67f., 74f., 77f., 84, 86, 97, 102, 183, 194, 295–297, 299, 301, 304– 306, 312, 335, 366 Lüge 11, 16, 32, 45, 72, 74, 89f., 184f., 187

Sachregister Make-believe 16, 26–29, 31f. Märchen 209 marture,w s. Zeuge, (be-)zeugen Megaparable 4, 181–183, 196, 200, 202 Messias 146, 150 Metapher, Metaphorizität 56, 114, 134, 182f., 202, 240f., 284, 290, 385 Mimesis 71, 377 Motiv 1, 5, 127, 142, 149f., 156, 162f., 172–174, 211, 215f., 237f., 241, 243, 374, 401, 410 Mythos 131f. Narration 3, 15, 39, 44, 48, 54, 116, 186, 189, 202f., 304, 328 Narrativität, narrativ 1f., 4f., 14, 39, 41, 75, 81, 83f., 116, 119, 124, 126, 139, 142, 145, 151, 155f., 171–174, 181– 184, 186–189, 193, 197, 199–201, 203, 210, 213, 217, 232–234, 238, 240, 242, 281, 299f., 365–367, 378f., 382, 385, 406, 409 Narrative s. Erzählung Narratologie, narratologisch 1, 15, 50, 86, 184, 190–192, 199f., 210, 213f. Nazareth 4, 100, 112f., 115, 117f., 129f., 133, 146–148, 151, 182, 219, 236, 245, 404, 407, 412, 416 New historicism 82 Normativität, normativ 253f., 256f., 265–269, 303, 306, 333 Ort 4, 17f., 47, 79, 84–86, 187 Parabel, parable 181–183, 196, 200– 202, 306 Paratext, paratextuell 3, 23, 30, 39, 48, 55, 196, 201, 299 Passion 4, 93, 128, 148, 172, 213 Paulus 6, 79, 169, 255, 266, 273, 275– 280, 287f., 291, 301, 304, 306–309, 311–313, 316–326, 328–331, 333– 336, 346–355, 412 Phantasie, phantastisch 12, 19, 30, 211 pla,sma s. Erfundenes Plausibilität, plausibel 4, 72, 97, 114, 116, 124, 130, 142, 151, 197, 250, 263, 280, 303, 374, 382f. Plot 100, 209

451

Poetik 3, 67–70, 72, 288, 367f., 377f. Poetizitätsstufe 85, 87 pra,gmata 281–283, 374f., 380f. Pragmatik 7, 70, 74f., 184, 192, 196– 199, 213, 230, 287, 297f., 300, 306, 310–313, 316, 319–323, 325f., 329, 331, 336, 353, 363, 367, 370–372, 375–380, 384, 415f. Produktion 2, 14–16, 25, 31, 300, 318, 321 Prolog 94, 97, 114, 215f., 237f., 243, 382 Pseudepigraphie, pseudepigraphisch 5f., 67, 83, 88–90, 253–255, 260, 269, 296, 301–309, 311, 313–323, 327, 329f., 333–336, 341–346, 349– 354 –, doppelte 304, 307f., 311, 317–319, 323, 327, 341 Publikum 46, 70, 284–289, 372 Reader s. Leser Realität, reality, réalité 12, 15, 17, 20, 37, 47f., 80, 83, 97, 101, 112, 182, 193, 197, 201f., 289, 295–297, 301, 308, 315, 324, 332 Redaktionskritik, -kritisch; Redaktionsgeschichte, -geschichtlich 60, 113, 215, 273 Rede 26, 72, 74f., 83, 97, 120, 122, 125, 129, 197, 199, 279f., 297f., 302f., 306f., 311, 368, 405f., 408 Referenz, Referentialität 67, 76f., 81f., 90, 94, 96, 99, 111, 130, 133, 183, 185, 190–202, 210f., 295–298, 301– 304, 306–309, 311, 314, 319f., 322f., 327, 329, 334–336 Reinigung 122, 161, 165, 168 Rekonstruktion 1, 64, 66, 81, 187, 232f., 322, 327f. Relecture 172, 174–176 Religion 61, 132, 135, 227, 255, 267, 332, 393, 396–399 Rezeption 14–17, 19–21, 27–31, 47, 80, 134, 171f., 174, 193, 203, 230, 300, 311, 318, 321, 324, 326, 334, 346, 351, 376 Rhetorik, rhetorisch 6, 72, 94, 99, 122, 185, 187, 231f., 234, 258, 273, 275,

452

Sachregister

280–289, 310f., 344f., 365, 370–372, 395 Schrift (Heilige) 3–6, 89, 111, 114, 116f., 119–121, 123, 125–130, 133– 135, 140, 147f., 253–255, 261, 264f., 267–269, 396 Semantik, semantisch 4, 38f., 48, 117, 158–161, 163, 165, 167f., 173f., 197, 215, 221, 227, 238, 290f., 376 Sinnstiftung, sinnstiftend 5, 38–42, 78, 112, 182, 210, 241 Story s. Geschichte Symbol, symbolisch 3f., 56, 111, 130– 135, 202 Szene 6, 98, 117–119, 122, 125, 238, 263, 255, 285, 290f., 404f., 410 swthri,a 6, 279, 290–292 Tatsache 13, 39, 80, 96, 221, 227, 233 Taufe, ba,ptisma (bapti,zw, baptismo,j, ba,ptw) 4, 117–119, 155–170, 173– 176, 238, 332, 409f. Täuschung 74, 260 teratei,a 92, 184 Textimmanent 2, 14, 30, 96, 195 Thessalonich, Thessaloniki 313, 319– 321 Tora 118–120, 238 Tragödie 69–71, 91 Truth s. Wahrheit Verfasser 3, 5f., 60, 67, 92, 98f., 156, 161, 166, 175f., 211f., 245, 255, 258, 260, 262f., 274, 283, 287, 310, 312, 317, 320, 322f., 327, 341, 344f., 349, 370, 375f., 379–385 Verfasserfiktion 3, 88, 90, 96, 101 Vergangenheit 2, 7, 61, 66, 69, 81, 90, 96, 101, 232–234, 244f., 255, 320, 325, 334, 336, 355, 366, 383 Vermittlung 189, 197, 233, 299, 309, 316, 336, 381 Vernunft 62f., 211, 393f., 397 Vita 100, 119 Wahrheit, wahr, truth, avlhqei,a 5, 38, 41, 47, 60–63, 65f., 69, 71f., 76–78, 82f., 90, 99–101, 142, 185, 187,

210f., 213, 220, 222, 224, 227, 231– 233, 236, 239–243, 254f., 269, 286, 289, 302f., 305, 315, 335, 369, 372– 374, 419 –, fiktionale 20f. –, historische 3, 63, 66f., 74, 76, 78, 92, 95, 101, 194, 218 –, theologische 3, 65–67, 76, 101f. Welt, world 4, 49f., 69, 83, 115, 121, 131–133, 157, 191, 197, 199, 201, 239f., 265, 269, 298, 309, 315f., 330–333, 367f. –, erzählte 118, 125f., 128, 315 –, fiktionale 42, 47–49, 124, 191, 196, 199 –, fiktive 13, 16, 19–22, 28, 193, 196, 342 –, historische 191 –, mögliche 7, 190f., 367, 371, 378, 385 –, reale, wirkliche 13, 19f., 76, 96, 191, 193, 367, 378, 385 Wirklichkeit 12f., 16, 18, 20, 22, 38, 42, 53, 66–71, 76, 79, 81–84, 86, 90–92, 96, 111, 114, 121–123, 129– 133, 142, 186f., 191–194, 196–199, 201, 220f., 224, 226f., 234, 266f., 295f., 301–303, 305f., 309–311, 314f., 320, 324, 328, 335, 364, 367– 369, 371, 378f., 383, 385f. Wunder 61f., 96, 176, 220, 231, 256, 382, 393, 404, 409, 416 Wundererzählung 61f., 92, 95–97, 185, 211, 306, 404 Zeit 7, 17–19, 79, 85f., 102, 186, 191, 197, 245, 276, 279, 281–283, 288 Zeuge, (be)zeugen, marture,w 175, 238, 257, 265, 383 Zeugnis 212, 265, 269, 308, 336, 382, 403 Zukunft 18, 66, 98, 102, 116, 212–214, 218–221, 225–227, 234–236, 238– 246, 299, 341, 348, 355 Zweite Sophistik 94