Feuilleton: Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur 9783839437223

This book examines feuilleton-style writing on its journey from the newspaper to the blog.

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Feuilleton: Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur
 9783839437223

Table of contents :
Inhalt
Feuilleton. Interdisziplinäre Annäherungen an ein journalistisch-literarisches Phänomen
DAS FEUILLETON ALS FORM UND ALS SCHREIBWEISE
Unterm Strich. Über Grenzverläufe des klassischen Feuilletons
Zur Frage: Was ist ein Feuilleton?
»Beim Genick packen und hinauswerfen!« Anton Kuhs Aversion gegen den ›Feuilletonismus‹ als Weltanschauung
»Der neue Feuilletonist in Deutschland marschiert auf der Straße mit«1. Die Konzeption einer ›deutschen‹ Textgattung in der zeitungswissenschaftlichen Forschung Wilmont Haackes
FEUILLETON UND REPORTAGE
An der Schnittstelle von Faktizität und Fiktionalität: Zum Grenzgängertum der Prager Autoren Jan Neruda und Egon Erwin Kisch zwischen Journalismus, Feuilleton und Literatur
Reportage und Feuilleton. Antipoden im Gleichschritt? Zur operativen Publizistik Elisabeth Jansteins und Klara Mautners
FEUILLETON UND LITERATUR
Lyrische Porträts im Feuilleton der Prager Presse – am Beispiel von Robert Walsers Gedicht An Georg Trakl (1928)
Selbstreflexion und Poetik der Kritik und des Feuilletons am Beispiel der Kritiken und Essays Max Herrmann-Neißes
Ein »leichter und zierlicher Ton«. Emmy Hennings als Literaturkritikerin
Vom Schreiben, Tanzen und Musizieren. Vicki Baums feuilletonistische Betrachtungen über künstlerische Ausdrucksformen
DAS FEUILLETON ALS ORT DER DEBATTENKULTUR
Hochkultur, Populärkultur, Pop. Zur medialen Inszenierung von Konflikten im Feuilleton am Bespiel der Volksbühnen-Debatte
Werturteile im heutigen Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeit
Intellektuelle und das Debattenfeuilleton. Szenen einer Liaison
Öffentliche Kommunikation als Befindlichkeitskommunikation. Zur Debattenkultur auf Facebook
Facebook-Debatten. Die Anti-Rhetorik der neuen Affektkulturen
ZUR ZUKUNFT DES FEUILLETONS
Mechanik und Melancholie oder: Was der Kulturjournalismus in Zukunft leisten muss
Denken zwischen Ästhetik und Ökonomie. Zur Lage des Feuilletons Podiumsdiskussion mit Doris Akrap, Ekkehard Knörer, Sigrid Löffler und Lothar Müller
Autorinnen und Autoren
Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer

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Hildegard Kernmayer, Simone Jung (Hg.) Feuilleton

Lettre

Hildegard Kernmayer, Simone Jung (Hg.)

Feuilleton Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur

Gefördert durch die Universität Graz, das Amt der Steiermärkischen Landesregierung und die Universität Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlag: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: godawful / photocase.com Lektorat & Satz: Sarah Stadler (Wien), Laura Hajdu (Berlin) Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-3722-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3722-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Feuilleton. Interdisziplinäre Annäherungen an ein journalistisch-literarisches Phänomen Hildegard Kernmayer und Simone Jung I 9

DAS FEUILLETON ALS FORM UND ALS S CHREIBWEISE Unterm Strich. Über Grenzverläufe des klassischen Feuilletons Erhard Schütz I 31 Zur Frage: Was ist ein Feuilleton?

Hildegard Kernmayer I 51 »Beim Genick packen und hinauswerfen!« Anton Kuhs Aversion gegen den ›Feuilletonismus‹ als Weltanschauung

Walter Schübler I 67 »Der neue Feuilletonist in Deutschland marschiert auf der Straße mit«. Die Konzeption einer ›deutschen‹ Textgattung in der zeitungswissenschaftlichen Forschung Wilmont Haackes

Bettina Braun I 79

FEUILLETON UND REPORTAGE An der Schnittstelle von Faktizität und Fiktionalität. Zum Grenzgängertum der Prager Autoren Jan Neruda und Egon Erwin Kisch zwischen Journalismus, Feuilleton und Literatur

Irina Wutsdorff I 105 Reportage und Feuilleton. Antipoden im Gleichschritt? Zur operativen Publizistik Elisabeth Jansteins und Klara Mautners

Martin Erian I 125

FEUILLETON UND LITERATUR Lyrische Porträts im Feuilleton der Prager Presse am Beispiel von Robert Walsers Gedicht An Georg Trakl (1928)

Sabine Eickenrodt I 151 Selbstreflexion und Poetik der Kritik und des Feuilletons am Beispiel der Kritiken und Essays Max Herrmann-Neißes

Sibylle Schönborn I 181 Ein »leichter und zierlicher Ton«. Emmy Hennings als Literaturkritikerin

Christa Baumberger I 197 Vom Schreiben, Tanzen und Musizieren. Vicki Baums feuilletonistische Betrachtungen über künstlerische Ausdrucksformen

Veronika Hofeneder I 217 Das Interview. Quantitative und qualitative Aspekte einer feuilletonistischen Form

Marc Reichwein und Michael Pilz I 237

DAS FEUILLETON ALS O RT DER DEBATTENKULTUR Hochkultur, Populärkultur, Pop. Zur medialen Inszenierung von Konflikten im Feuilleton am Beispiel der Volksbühnen-Debatte

Simone Jung I 261 Werturteile im heutigen Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeit

Thomas Hecken I 287 Intellektuelle und das Debattenfeuilleton. Szenen einer Liaison

Andreas Ziemann I 307

Öffentliche Kommunikation als Befindlichkeitskommunikation. Zur Debattenkultur auf Facebook

Elke Wagner und Niklas Barth I 325 Facebook-Debatten. Die Anti-Rhetorik der neuen Affektkulturen

Nadja Geer I 341

ZUR ZUKUNFT DES FEUILLETONS Mechanik und Melancholie oder: Was der Kulturjournalismus in Zukunft leisten muss

Guido Graf I 357 Denken zwischen Ästhetik und Ökonomie. Zur Lage des Feuilletons

Podiumsdiskussion mit Doris Akrap, Ekkehard Knörer, Sigrid Löffler und Lothar Müller I 375 Autorinnen und Autoren I 391 Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer I 395

Feuilleton. Interdisziplinäre Annäherungen an ein journalistisch-literarisches Phänomen H ILDEGARD K ERNMAYER UND S IMONE J UNG

1. K ONTINUITÄTEN UND B RÜCHE – DES F EUILLETONS

ZUR

G ESCHICHTE

In den Jahren um 1800 verlängern etliche französische Zeitungen das Seitenformat ihrer Paris-Ausgaben um etwa ein Drittel. Der neu gewonnene Raum am unteren Seitenende, der durch einen Strich und auch typographisch vom Berichtsteil der Zeitung abgesetzt wird, ist fortan dem ›Feuilleton‹ vorbehalten. Ursprünglich ein Terminus technicus des Buchbinder- und Druckereigewerbes, bedeutet ›Feuilleton‹ - wie Hans Mattausch bereits 1964 darlegt – im 18. Jahrhundert vorerst nichts anderes als »Faszikel, der ein Drittel eines Druckbogens umfaßt«1. Im Duodezformat etwa, bei dem aus einem Druckbogen 24 bedruckte Seiten gewonnen wurden, bildeten die Seiten 17 bis 24 den Faszikel, also das Beiheft. Diese formaltechnische Unterteilung des Druckbogens ist spätestens seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts belegt.2 Mit seiner Popularisierung in den 1790er Jahren avanciert der Begriff ›Feuilleton‹ jedoch zur Bezeichnung für die zahlreichen publizistischen Kleinformate (meist agitatorischen Inhalts), die im Umfeld der französischen Revolution entstehen und die landläufig »petites feuilles journalistiques« oder in Verdoppelung des Diminutivs und etwas abschätzig »feuilletons 1

Mattausch, Hans: »Der vermutlich früheste Beleg für das Wort ›Feuilleton‹«, in: Publizistik. Zeitschrift für die Wissenschaft von Presse, Rundfunk, Film, Rhetorik, Werbung und Meinungsbildung 9 (1964), Heft 3, S. 273-274, hier S. 273.

2

Oscarsson verweist diesbezüglich auf den Band L’Art du relieur doreur de livres aus dem Jahr 1772. Vgl. Oscarsson, Ingemar: »De supplément indépendant à un rez-dechaussée sous le filet«, in: Annales historiques de la Révolution française (1993), Heft 292, S. 269-294, hier S. 269.

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pygmées« genannt werden.3 Zudem betiteln aber auch die großen postrevolutionären Pariser Tageszeitungen ihre Beilagen (›suppléments‹) als ›Feuilletons‹. Die Einrichtung dieser Beilagen – die erste findet sich bereits 1789 im Journal de Paris – hat raum- und distributionsökonomische Gründe. Mit der ab 1789 immer umfänglicher werdenden innen- und außenpolitischen Berichterstattung stehen die Redaktionen vor einem Raumproblem. Die einzige Möglichkeit, das Raumangebot der Zeitung zu vergrößern, liegt angesichts der eingeschränkten drucktechnischen Möglichkeiten in der Einrichtung von Beilagen. Durch diese bleibt das ›eigentliche‹ Corpus der Zeitungen in den Jahren nach der Revolution den umfassenden Berichten von den Sitzungen der Nationalversammlung, den Wirtschaftsnachrichten sowie den politischen Kommentaren vorbehalten. Ins ›Feuilleton‹ hingegen wird ausgelagert, was im Hauptteil der Blätter keinen Raum findet und vorerst auch nur für einen Teil der Leserinnen und Leser als relevant erachtet wird, nämlich das Pariser Theaterprogramm, die Annoncen, die für den wirtschaftlichen Bestand der Zeitungen vor 1800 offensichtlich noch nicht von Bedeutung sind, oder auch die ersten Leserbriefe – insgesamt das, was in späteren Zeitungen unter ›Vermischtes‹ firmieren wird. Separat gedruckt, wird das ›Feuilleton‹ nur den ParisAusgaben der Zeitungen beigelegt, wodurch sich die Auslieferung der ›eigentlichen‹, weil politischen Blätter in die ›Provinz‹ beschleunigt.4 In der Einrichtung der Beilagen, die dem Feuilleton seinen Ort, seine Gegenstände und Funktionen zuweisen, spiegelt sich aber auch eine Werthaltung, die die weitere Wahrnehmung sowohl der Rubrik wie auch des Genres bestimmen wird. Das Feuilleton, ein Produkt der französischen Revolution,5 repräsentiert und verhandelt in deren Zeitungen das der Politik Entgegengesetzte, mithin das ›Unwesentliche‹. Als dieses figuriert vorerst das Merkantile. Mit dem Ausbau des Feuilletons und der Auslagerung der Annoncen in eigene Annoncenteile6 wandern in

3

Vgl. ebd., S. 270.

4

Vgl. ebd., S. 274-276.

5

Vgl. ebd., S. 276. – Vgl. auch Fontius, Martin: »Kritisch/Kritik«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 3: Harmonie – Material, Stuttgart: Metzler 2001, S. 450-489, hier S. 475.

6

Das Journal des Débats etwa lagert die Annoncen erst am 1. Dezember 1827 in einen eigenen Anzeigenteil aus und erhöht gleichzeitig ihre Zahl. Die Maßnahme ist auch eine Reaktion auf den Erlass eines Pressegesetzes, in dessen Folge sich die Distributionskosten der Zeitung drastisch erhöhen und das Blatt sich gezwungen sieht, verstärkt Werbeeinnahmen zu lukrieren. Vgl. Viollat, Georges: »A travers le feuilleton (1800– 1830)«, in: Le Livre du centenaire du Journal des Débats 1789-1889, Paris : Plon 1889, S. 582-588, hier S. 586. Mit der Gründung von Emile de Girardins Zeitung La Presse

E INLEITUNG

I 11

die Rubrik aber vermehrt literarische Texte ein, handle es sich um Romane, Novellen, Fabeln, Märchen, Dramen, Epigramme, Aphorismen oder aber um jene nicht-fiktionalen Prosatexte an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zur polyfunktionalen Gattung des Feuilletons verfestigen. Als das ›Andere‹ der Politik firmiert nunmehr das als ›ästhetisch‹ qualifizierte Feuilleton, eine Zuschreibung, die – je nach Standpunkt – Anlass zu Überhöhung oder zu Abwertung gibt. Auch das Feuilleton des Journal des Débats – zwar nicht die erste Zeitung der Pressegeschichte mit einem eigenen Feuilleton ›unter dem Strich‹,7 aber dennoch jenes Blatt, dessen Feuilleton im 19. Jahrhundert europaweit richtungsweisend für die Entwicklung sowohl der Rubrik wie auch des Genres sein wird – erscheint ab dem 28. Januar 1800 noch eine Zeitlang in zwei Ausgaben unterschiedlichen Formats: in einer für Paris bestimmten, die die verlängerten Seiten mit dem Feuilleton aufweist, und einer kleinformatigen für die ›Provinz‹ bestimmten Ausgabe ohne Feuilleton. Das Feuilleton du Journal des Débats, wie der Teil ›unter dem Strich‹ betitelt wird, weist dabei die für die Zeit typische Gestalt auf: Es enthält das Pariser Theaterprogramm, Werbeeinschaltungen von Buchhandlungen und Druckereien, gereimte Rätsel, kleine Prosaskizzen etwa zu historischen Ereignissen, aber auch offiziöse Kundmachungen und nicht zuletzt Buchbesprechungen und Theaterkritiken. Julien-Louis Geoffroy, der ab dem 2. März 1800 und bis zu seinem Tod im Jahr 1814 das Feuilleton-Ressort des Journal des Débats leitet und dem Balzac 1843 den Beinamen »le père du feuilleton«8 verleihen wird, versteht die Rubrik in erster Linie als Ort der Theaterkritik. Er nützt sie vornehmlich als Forum zur Verbreitung seines ästhetischen Ideals des Klassizismus und sucht in seinen eigenen Artikeln – auch vor dem Bildungsvakuum im nachrevolutionären, von sozialen

im Jahr 1836 entsteht in Paris schließlich die erste Tageszeitung, die nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt wird. 7

Ingemar Orscarsson hat nachgewiesen, dass die Pariser Tageszeitung Le Propagateur als erste Zeitung der Pressegeschichte am 1. Juli 1799 ein Feuilleton ›unter dem Strich‹ einführt. Anders als vielfach behauptet weist das Feuilleton des Journal des Débats vor 1800 auch keine Feuilletonbeilage auf. Vgl. Oscarsson: De supplément indépendant à un rez-de-chaussée sous le filet, S. 286. – Vgl. dazu auch Kernmayer, Hildegard: »Feuilleton. Eine medienhistorische Revision seiner Entstehungsgeschichte«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 28 (2018), Heft 1, S. 131-136.

8

Balzac, Honoré de: »Monographie de la presse parisienne (1843)«, in: H. d. B., Les Journalistes. Monographie de la presse parisienne. Les Salons littéraires, Paris: Arléa 1998, S. 13-144, hier S. 98.

12 I HILDEGARD K ERNMAYER UND SIMONE J UNG

Umwälzungen geprägten Frankreich – »zur literarischen Erziehung der Nation«9 beizutragen. So betreibt der konservative Kritiker insbesondere die Restauration des klassischen französischen Dramas des 17. Jahrhunderts. Er propagiert die Dramen Racines und Corneilles gegenüber denen des Aufklärers Voltaire und leitet in Frankreich einen wahren »culte de Molière«10 ein. Die Gesamtheit seiner Feuilletons möchte Geoffroy als großes systematisches Werk zur Literaturgeschichte verstanden wissen.11 Dass seine Feuilletonartikel ihre bildungspolitischen Ziele nicht verfehlen, erhellt auch aus der Tatsache, dass diese in gesammelter Form im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts unter dem Titel Cours de littérature dramatique12 Eingang in den Literaturunterricht der französischen Schulen finden.13 Ungeachtet ihrer Verankerung in der klassizistischen Ästhetik und Rhetorik des 18. Jahrhunderts und in der Tradition der ›Gelehrten Zeitschriften‹ leiten Geoffroys Rezensionen jedoch auch den Wandel des Besprechungswesens und damit die Entstehung der modernen Feuilletonistik ein. Besonders Geoffroys Credo, wonach eine Kritik mit Esprit, Witz und Eleganz Wesentliches wie Nebensächliches darlege,14 scheinen seine Nachfolger im Journal des Débats, allen voran Jules Janin, aber auch die Promotoren des französischen Feuilletons in der deutschsprachigen Publizistik zu dem ihren zu machen. Wenn deren Feuilletons vielfach auch nicht mehr vom ästhetischen Furor und dem literarhistorischen Sendungsbewusstsein getragen werden, die noch die Texte Geoffroys geprägt haben, in ihnen immer häufiger die Form zum Inhalt wird, so lösen sie umgekehrt das Genre endgültig aus der rhetorischen Tradition der Aufklärungspublizistik. Die Exekution des Regelwerks der antiken Rhetorik, der Rekurs auf Quintilian, die Nachahmung der Ciceronitas, die die Geoffroy’schen Feuilletons noch über weite Strecken bestim-

9

Jakoby, Das Feuilleton des ›Journal des Débats‹, S. 26.

10 Lemaître, Jules: »La critique dramatique. Geoffroy – Jules Janin«, in: Le Livre du centenaire du Journal des Débats, S. 416-426, hier S. 418. 11 Vgl. Des Granges, Charles-Marc: Geoffroy et la critique dramatique sous le Consulat et l’Empire (1800–1814). Thèse présentée à la Faculté des lettres de l’université de Paris, Paris: Hachette 1897, S. 141. 12 Vgl. Julien-Louis Geoffroy: Cours de littérature dramatique ou receuil par ordre de matières des feuilletons, précédé d’une notice sur sa vie et ses ouvrages par Etienne Gosse, 6 Bände, 2. Aufl. Paris: Blanchard 1825. 13 Vgl. Lemaître, La critique dramatique, S. 416. 14 Vgl. Geoffroy, Julien-Louis: »[Ohne Titel]«, in: Journal des Débats vom 26.04.1808. Hier zitiert nach: Des Granges, Charles-Marc: Geoffroy et la critique dramatique sous le Consulat et l’Empire (1800–1814). Thèse présentée à la Faculté des lettres de l’université de Paris, Paris: Hachette 1897, S. 199.

E INLEITUNG

I 13

men, die syntaktisch mitunter behäbigen Gesten der Entgegensetzung, des Abwägens, des Vergleichs, der Häufung, die – so die Kritiker Geoffroys – nur von meist misslungenen Kalauern und Wortspielen konterkariert werden15, weichen in der ›modernen‹ Feuilletonistik zunehmend jenem Assoziationsstil, der – so wiederum dessen Kritiker – alles jener »Oberflächenbehandlung«16 zuführe, die der »Kunst des Plauderns über Nichts und Alles, über Null und All«17 gemäß sei. Schuldet sich die Entstehung des Feuilletons eher ökonomischen Notwendigkeiten denn innerliterarischen Entwicklungen, so sind umgekehrt auch seine formale Ausdifferenzierung und die Erweiterung seines thematischen Spektrums auf die Einbettung des Genres ins Merkantile zurückzuführen. Denn mit dem Auszug der Annonce aus dem Feuilletonteil und dem um die Jahrhundertmitte europaweit einsetzenden ›Zeitungsgründungsboom‹ erhöht sich der Bedarf an – wie Hermann Hesse sie nennt – »nichtigen Interessantheiten«18. Somit wird die Rubrik vorerst auch weiterhin mit kurzen Notizen meist kurioser Art, Witzen, Rätseln oder Aphorismen gefüllt. Daneben bringt jedoch der Raum ›unter dem Strich‹ in den folgenden Jahrzehnten immer neue Varianten der kleinen Prosaform hervor. Parallel zur Theater-, Literatur- und Musikkritik etabliert sich etwa ein kunstkritisches Feuilleton. Zeitgleich mit den Textsorten des Lokalfeuilletons, des Reisefeuilletons, des Korrespondentenfeuilletons entstehen auch das naturwissenschaftliche und das biographische Feuilleton sowie die Stimmungsskizze oder die politische Wochenchronik. Stofflich unbegrenzt, erscheinen Feuilletons in den großen Tageszeitungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als satirische Kommentare zum tagespolitischen Geschehen, als ästhetisch informierte Kunst-, Literatur- oder Musikkritiken, als impressionistische Prosaskizzen, als philosophische Denkbilder, als essayistische Abhandlungen über sozioökonomische Phänomene und vieles mehr. Schließlich lässt der spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende Prozess der ›Feuilletonisierung‹ des Mediums, also die »völlige

15 Des Granges, Geoffroy et la critique dramatique, S. 194f. – Vgl. auch D[uva]l, G[eorge]s: Calembourgs de l’abbé Geoffroy, faisant suite à ceux de Jocrisse et de Mme Angot, ou Les auteurs et les acteurs corrigés avec des pointes. Ouvrage piquant, Paris: Brasseur an XI [1803]. 16 Stoessl, Otto: »Ludwig Speidel«, in: Die Fackel 7 (1906) Heft 197, S. 1-8, hier S. 2. 17 Haacke, Wilmont: »Das Feuilleton in Zeitung und Zeitschrift«, in: Emil Dovifat (Hg.), Handbuch der Publizistik, Band 3: Praktische Publizistik, 2. Teil, Berlin: de Gruyter 1969, S. 218-236, hier S. 235. 18 Hesse, Hermann: »Das Glasperlenspiel. Versuch einer allgemeinverständlichen Einführung in seine Geschichte«, in: H. H., Gesammelte Dichtungen, Band 6, Frankfurt a.M./Berlin: Suhrkamp 1952, S. 79-116, hier S. 90.

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Durchdringung der Zeitung mit feuilletonistischem Stoff, Stil, Geist und feuilletonistischer Gesinnung«19, die Ressortgrenzen zusehends verschwimmen. Mit der ›Feuilletonisierung‹, sprich: Literarisierung des Journalismus – Gegenstand der zahlreichen Feuilletonkritiken von Kraus bis Adorno – geht umgekehrt die Politisierung des Literarischen einher. Diese äußert sich in der deutschsprachigen Feuilletonistik bereits in ihren ›Gründungstexten‹, in Heinrich Heines ab 1824 verfassten Reisebildern sowie in Ludwig Börnes zwischen 1830 und 1833 entstandenen Briefen aus Paris. Die Literarisierung der Publizistik generiert in diesen Texten nicht nur jenen ›modernen‹ Prosastil, den Subjektivität, Beweglichkeit und Leichtigkeit sowie die Nähe zur gesprochenen Sprache charakterisieren, sondern sie ist darüber hinaus ausdrücklich an ein politisches Begehren geknüpft. Anders als die ›gelehrten‹ Abhandlungen in der Publizistik des 18. Jahrhunderts spreche die neue Schreibweise nämlich – so Ludwig Börne bereits 1826 in seinen Bemerkungen über Sprache und Stil – die ›Gefühle‹ der Leserinnen und Leser an und vermöge somit unmittelbar zu wirken.20 Gerade die Eigenschaften der Subjektivität, der Leichtigkeit und Wendigkeit qualifizierten die neue Schreibweise auch als ›Waffe‹ im publizistischen Kampf gegen die absolutistischen Regime des Vormärz. Denn letztlich gelte es – so Börne in seinen Briefen aus Paris –, die Tyrannei zu »verfolgen, ihr nicht mit schweren Gründen nach[zu]hinken«21. Die als typisch feuilletonistisch identifizierte ›Stilgebärde‹22, mittels deren sich eine Erzählinstanz leichtfüßig nicht nur durch beschriebene Landschaften, Kunstausstellungen, Opernpremieren oder das Setting politischer Ereignisse, son-

19 Meunier, Ernst: »›Feuilletonisierung‹ der modernen Presse«, in: Zeitungs-Verlag (Berlin) vom 14.06.1930, S. 1003. – Vgl. auch Todorow, Almut: »Das Feuilleton im medialen Wandel der Tageszeitung im 20. Jahrhundert. Konzeptionelle und methodische Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Feuilletonforschung«, in: Kauffmann, Kai/Schütz, Erhard (Hg.), Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin: Weidler 2000, S. 25-39, hier S. 25f. 20 Börne, Ludwig: »Bemerkungen über Sprache und Stil«, in: L. B., Sämtliche Schriften, Band 1, neu bearb. und hg. von Inge und Peter Rippmann, Düsseldorf: Joseph Melzer 1964, S. 589-597, hier S. 595. 21 Börne, Ludwig: Sämtliche Schriften, neu bearb. und hg. von Inge und Peter Rippmann, Band 3: Briefe aus Paris, Düsseldorf: Joseph Melzer 1964, S. 160. 22 Zum Begriff vgl. Oesterle, Günter: »›Unter dem Strich‹. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert«, in: Jürgen Barkhoff/Gilbert Carr/Roger Paulin (Hg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Edda Sagara im August 1998, Tübingen: Niemeyer 2000, S. 229-250, hier S. 236.

E INLEITUNG

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dern auch durch den Textkörper bewegt, wird zum Vorbild für die feuilletonistischen Schreibweisen bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Diese entwickeln sich im Einklang mit Publikumsinteressen und Blattlinien, bedienen Gattungserwartungen oder entwerfen sich entlang literarästhetischer Strömungen und Moden immer wieder neu. Unter dem Eindruck der ästhetischen (und politischen) Konzepte der neuen Sachlichkeit beispielsweise, die ihrerseits einer allgemeinen Tendenz moderner Kunst folgt, Subjektzentrierung zugunsten von Objektivierungen aufzulösen, wendet sich das ›subjektive‹ Feuilleton in der Zwischenkriegszeit verstärkt der Reportage zu und erklärt die illusionslos-nüchterne Darstellung äußerer Wirklichkeit zu seinem Ziel. Verbunden mit Namen wie Egon Erwin Kisch, Joseph Roth, Annemarie Schwarzenbach, Elisabeth Janstein, Klara Mautner, Georg Simmel oder Siegfried Kracauer, nimmt das Feuilleton nunmehr verstärkt den soziopolitischen Wandel in den Blick, den die Nachkriegsgesellschaften der zwanziger Jahre durchlaufen. Themen wie die Transformation der Geschlechterverhältnisse, die soziale Verelendung oder die Neuorganisation der Arbeitswelt am Beispiel der Angestelltenfigur finden Eingang in die Feuilletonpublizistik, auch begleiten die Feuilletons der großen europäischen Tageszeitungen die fortschreitenden Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse Londons, Berlin oder Wiens medial. Räumlich vergrößert und mit redaktionellen Mitteln ausgestattet, proklamiert insbesondere das liberal-demokratische Feuilleton der Frankfurter Zeitung in den zwanziger und dreißiger Jahren ein neues Rollenverständnis. So bestimmt sein Leiter Benno Reifenberg im Juli 1929 das Feuilleton als »fortlaufende[n] Kommentar zur Politik«23. Die Rubrik wird mithin zum Ort, an dem soziale Wirklichkeit reflektiert und zeitdiagnostisch analysiert wird; an die Stelle der Unterhaltung tritt nunmehr die »große Bestandsaufnahme der Zeit«24. Konkret forciert das Feuilleton der Frankfurter Zeitung neben dem Besprechungswesen die Auseinandersetzung mit tagesaktuellen Informationen und politischen Nachrichten, die vom Feuilleton aufgegriffen, neu verknüpft und kontextualisiert werden, um sie alternativ perspektiviert in die Öffentlichkeit zu bringen. Das Feuilleton versteht sich mithin als Versammlungsraum, in dem Beiträge etwa aus Kunst, Literatur, Philosophie und Soziologie zusammengeführt werden, um Fragen der ›Kultur‹ in einer sich zunehmend pluralisierenden Gesellschaft auszuhandeln.25 Den Künsten

23 Reifenberg, Benno: »Gewissenhaft«, in: Frankfurter Zeitung vom 01.07.1929. 24 Ebd. 25 Vgl. exemplarisch Schärf, Christian: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht 1999.

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kommt dabei die Rolle zu, Rechenschaft über die Gegenwart abzulegen und diese zu verändern.26 Als Reaktion auf deren behauptete »Überfeuilletonisierung« bringt die nationalsozialistische Pressepolitik ab 1933 das Feuilleton in den ›deutschen‹ Zeitungen sukzessive zum Verschwinden und ersetzt es im Sinne einer »einheitlichen Führungsaufgabe« der Zeitung durch den ›kulturpolitischen‹ Teil,27 den es in den »nationalen Aufbaudienst«28 zu stellen gilt. Die Maßnahme ist nur die logische Konsequenz jenes ›Antifeuilletonismus‹, der das Genre seit der Mitte des 19. Jahrhunderts begleitet und der sich vor allem an der Literarisierung der Publizistik, an der Verquickung von Ästhetischem und Informatorischem entzündet oder – um mit Karl Kraus zu sprechen – an der »Durchsetzung des Journalismus mit Geistelementen«29, letztlich an dessen »Verschweinung [...] durch das Ornament«30. Das Feuilleton, die Form, »die nur eine Enveloppe des Inhalts, nicht er selbst«31 sei, bezeichnet Kraus als die »Franzosenkrankheit«32, die Heine eingeschleppt habe. Denn: »Ohne Heine kein Feuilleton.«33

26 Als beispielhaft dafür kann die im November 1930 gestartete Reihe über aktuelle Dichtung in der Frankfurter Zeitung: »Wie sieht unsere Zeitliteratur aus?« oder »Über Erfolgsbücher und ihr Publikum« gelten. Vgl. dazu Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer: das journalistische Werk in der ›Frankfurter Zeitung‹ 1921-1933, Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 99f. – Vgl. auch Levine, Thomas Y.: »Introduction«, in: Siegfried Kracauer: The Mass Ornament. Weimar Essays, hg. und übers. von T. L., Cambridge, MA/London: Harvard University Press 1995, S. 1–33, hier S. 5. – Vgl. Später, Jörg: Siegfried Kracauer. Eine Biographie, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 154-169. 27 Jäger, Georg: »Das Zeitungsfeuilleton als literaturwissenschaftliche Quelle. Probleme und Perspektiven seiner Erschließung«, in: Wolfgang Martens (Hg.), Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. 2. Kolloquium zur bibliographischen Lage in der germanistischen Literaturwissenschaft, Weinheim: VCH 1988, S. 53-71, hier S. 56. 28 Kernmayer, Hildegard/Reibnitz, Barbara von/Schütz, Erhard: »Perspektiven der Feuilletonforschung. Vorwort«, in: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012), Heft 3, S. 494508, hier S. 496. 29 Kraus, Karl: »Heine und die Folgen«, in: K. K., Werke, hg. von Heinrich Fischer, Band 8: Untergang der Welt durch schwarze Magie, München: Kosel 1960, S. 188-213, hier S. 191f. 30 Ebd., S. 191. 31 Ebd., S. 191. 32 Ebd., S. 189. 33 Ebd.

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Die Mischung aus Heinekritik, Feuilletonkritik und einem expliziten antigallischen Affekt, wie sie in Heine und die Folgen lesbar wird, stützt die gängigen kulturkonservativen Polemiken im zeitgenössischen Kampf gegen den ›Niedergang der Kultur‹.34 Um das Element des Antisemitismus erweitert, stellt sie das populäre Modell deutschnationaler Kritik an der Moderne dar. So macht beispielsweise Heinrich von Treitschke, Ahnherr eines rassistischen ›Kulturantisemitismus‹, Heinrich Heine nicht nur für die ›Verjudung‹ der deutschen Literatur, sondern auch für deren Durchsetzung mit ›französischem‹ Gedankengut und ›französischen‹ Stilformen verantwortlich. Schließlich zeichneten seine Schriften jene Eigenschaften aus, die Juden und Franzosen gleichermaßen eigneten, nämlich »die Anmut des Lasters, die auch das Niederträchtige und Ekelhafte auf einen Augenblick verlockend erscheinen [lasse], die geschickte Mache, die aus niedlichen ›Riens‹ noch einen wohlklingenden Satz zu bilden [vermöge], und vor allem jenen […] unfruchtbaren Esprit, der mit den Dingen spiel[e], ohne sie zu beherrschen«35. Zentrales Element antisemitischer Feuilletonkritik bleibt jedoch die Behauptung, feuilletonistischer Stil sei eine spezifisch ›jüdische‹ Diskursform. Als ›jüdisch‹ werden dabei neben dem Primat der Form über den Inhalt vor allem der gehäufte »Wortwitz«36, die »eitle und witzige Geschwätzigkeit«37, schließlich die fehlerhafte Syntax, das sogenannte ›Mauscheln‹, erkannt, in das – so Treitsche – etwa Börne immer dann verfalle, wenn er die Selbstbeherrschung verliere.38 Hand in Hand mit der antisemitischen Stilkritik, die im Grunde auf die Politisierung des Literarischen abhebt, geht die Vorstellung von der ›verdorbenen‹, ›zersetzenden‹ Sprechweise der Juden. So zersetze – Treitschke zufolge – gerade der ›jüdische‹ Wortwitz Liebe und Ehrfurcht vor dem Vaterland, befördere – so der katholische Publizist Joseph Eberle – die Neigung der Juden »zu übermäßiger Kritik, ihre zersetzende Negation«39, die Auflösung der geordneten Sozialsysteme. 34 Vgl. Payk, Markus M.: Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn, München: R. Oldenbourg 2008, S. 28-34. 35 Treitschke, Heinrich von: »Das souveräne Feuilleton«, in: H. v. T., Bilder aus der deutschen Geschichte, Band 2: Kulturhistorisch-literarische Bilder, Leipzig: Hirzel 1908, S. 155. 36 Haacke, Wilmont: »Ein Beispiel: Das Wiener jüdische Feuilleton«, in: Walther Heide (Hg.), Handbuch der Zeitungswissenschaft, Band 2, Leipzig: Hiersemann 1942, Sp. 2051-2072, hier Sp. 2069. 37 Ebd., Sp. 2071. 38 Vgl. H. v. Treitschke, Das souveräne Feuilleton, S. 158. 39 Eberle, Joseph: Großmacht Presse. Enthüllungen für Zeitungsgläubige. Forderungen für Männer, 2. Aufl. Wien: Herold 1920, S. 240.

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Nach 1945 und nach der Vertreibung und Ermordung der zentraleuropäischen Jüdinnen und Juden kann das deutschsprachige Feuilleton nicht mehr an die Meisterschaft des Feuilletonismus vor 1933 bzw. 1938 anschließen. Die ›Kleine Form‹ verschwindet spätestens seit den 1950er Jahren aus den Feuilletonrubriken (in der DDR hält sie sich noch etwas länger), der Feuilletonismus – also die Kunst des Schreibens zwischen Journalismus und Literatur – diffundiert in die feuilletonistischen Stillagen, findet heute allenfalls in der Kolumne oder in personalisierten Blogs seinen Ort. Insbesondere das westdeutsche Printfeuilleton der überregionalen Tages- und Wochenpresse wird in der Spätmoderne wesentlich als Rezensions- und Debattenfeuilleton geführt. Dieses schließt in seinem Selbstverständnis nicht an das ›literarische‹ Feuilleton der Zwischenkriegszeit an, sondern rekurriert – als ›soziologisch-räsonierendes‹ Feuilleton – auf die Sozialfigur des ›(Medien-) Intellektuellen‹, wie sie sich in der französischen Öffentlichkeit Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Dreyfus-Affäre ausgebildet hat.40 Als »public intellectuals«41, also traditionell politisch engagierte und rhetorisch versierte Bürgerinnen und Bürger, die ihre Kritik öffentlich zur Sprache bringen, sind (Medien)intellektuelle auf das Medium der Öffentlichkeit und entsprechende Kommunikationsmittel und Institutionen angewiesen. Neben der Zeitschrift stellt das ›Feuilleton‹ als populäre Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Politik einen geeigneten weil allgemein zugänglichen Ort für die Interventionen und Kontroversen von Intellektuellen bereit. Dabei fällt auf, dass mit der Ablöse des journalistisch-literarischen Feuilletons durch das ›Debattenfeuilleton‹ zunehmend auch genuin politische Themen Eingang ins Feuilleton finden.42 Joachim Fest, von 1973 bis 1993 Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, soll darauf bestanden haben, dass der Begriff des ›politischen Feuilletons‹ in seinem Vertrag explizite Erwähnung finde, um so die ›politische Kultur‹ erneut im Programm der FAZ verorten zu

40 Zur ›Dreyfus-Affäre‹ als historischer Gründungsakt für die Sozialfigur des modernen (Medien)Intellektuellen vgl. Suntrop, Jan Christoph: Formenwandel der französischen Intellektuellen. Eine Analyse ihrer gesellschaftlichen Debatten von der Libération bis zur Gegenwart, Berlin: Lit Verlag 2010, S. 18-40. Zur Wirkmächtigkeit von Literaten und Publizisten in den Massenmedien vgl. Jäger, Georg: »Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß«, in: Hanuschka, Sven et al. (Hg.), Schriftsteller als Intellektuelle: Politik und Literatur im Kalten Krieg, Tübingen: Niemeyer 2000, S. 1-25. 41 Stefan Collini: Absent Minds. Intellectuals in Britian, Oxford: Oxford University Press 2006, S. 52. 42 Vgl. exemplarisch Reus, Gunter/Harden, Lars: »Politische ›Kultur‹. Eine Längsschnittanalyse des Zeitungsfeuilletons von 1983 bis 2003«, in: Publizistik 50 (2005), Heft 2, S. 153-172.

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können und die Zeitung letztlich mit historischer Deutungsmacht auszustatten.43 Der ›Historikerstreit‹ von 1986/1987, wie er unter Fest in der FAZ inszeniert wurde, gilt gemeinhin als Initialzündung des sogenannten ›Debattenfeuilletons‹. Der Streit um die ›richtige‹ Form der Vergangenheitsbewältigung einer Nation, der wesentlich zwischen dem Historiker Ernst Nolte und dem Philosophen Jürgen Habermas ausgetragen wurde, leitet nicht nur einen Umbruch in der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland mit ein, er etabliert auch eine neue Form des ›öffentlichen Gespräches‹ im deutschen Feuilleton: die Debatte, die sich im Verlauf der 1990er Jahre professionalisiert und zu einer eigenen Form findet. Der Historikerstreit wurde »zum womöglich entscheidenden Vorbild der von Frank Schirrmacher später forcierten Debattenproduktion«44. In der Bezugnahme der einzelnen Zeitungsfeuilletons aufeinander, wie sie im Historikerstreit zwischen Frankfurter Allgemeiner Zeitung und der Zeit praktiziert wird, erkennt Schirrmacher ein neues Diskursmuster, das ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Deutungsmacht generiert. Handelt es sich beim Feuilleton der Gegenwart »um die relativ geschlossene Welt der aufeinander reagierenden Kulturteile in der überregionalen Tages- und Wochenpresse«45, so kann das ›Debattenfeuilleton‹ als ein agonales Bezugssystem aufgefasst werden, das in wechselseitiger Beobachtung der Zeitungsteile öffentliche Diskussionen über kulturell relevante Phänomene medial inszeniert. Als wichtiges Forum für eine intellektuelle Öffentlichkeit wandelt sich das Feuilleton in der Bundesrepublik zu einem Ort, an dem sich das künstlerisch-intellektuelle ›Feld‹ nicht nur mit sich selbst verständigt, sondern auch seine Leitbilder und Identitätskonzepte präsentiert, entwirft und fortwährend neu aushandelt. Das Feuilleton erscheint mithin als ein diskursiver Raum, in dem Ereignisse nicht nur medial vermittelt, sondern auch machtvoll produziert werden. Einerseits Informationsträger und vermittelndes Medium, ist es andererseits aber auch diskursive Arena, in der der Kampf um soziale Bedeutung und Position konflikthaft ausgetragen wird. Eingebunden in Machtverhältnisse, erweist sich das Feuilleton letztlich als ein Ort der politischen Auseinandersetzung, an dem es um die Installierung von kultureller Hegemonie in der Formulierung von bestimmten Gesellschaftsund Kulturbildern geht, an dem also Ein- und Ausschlüsse produziert werden und 43 Vgl. Hachmeister, Lutz: »Frank Schirrmacher und das politische Feuilleton«, in: L. H.: Nervöse Zone. Politik und Journalismus in der Berliner Republik, München: DVA, S. 181-217, hier S. 191. 44 Demand, Christian/Knörer, Ekkehard: »Debattenkultur«, in: Zeitschrift für Medienund Kulturforschung 6 (2015), Heft 2: Sendung, S. 61-65, hier S. 61. 45 Seibt, Gustav: »Die neue Ohnmacht des Feuilletons«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 52 (1998), Heft 8, S. 731-736, hier S. 731.

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an dem sich entscheidet, welche kulturellen Deutungsmuster ins Zentrum wandern und welche in die Peripherie.

2. P ERSPEKTIVEN DER F EUILLETONFORSCHUNG Trotz der zentralen Bedeutung, die dem ›Feuilleton‹ in der Presse seit dem 19. Jahrhundert zukommt, ist die Feuilletonforschung eine vergleichsweise randständige Disziplin. Dieser Sachverhalt dankt sich wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen ebenso wie fachspezifischen Kanonisierungspraktiken, mittels deren implizit über die Untersuchungswürdigkeit von Gegenständen befunden wird. Als sich gegen Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine literaturwissenschaftliche Feuilletonforschung zu etablieren beginnt, sieht sich diese mit einer Reihe von Unwägbarkeiten konfrontiert. Zum einen ist mit dem Auslaufen der älteren zeitungswissenschaftlichen Schulen bzw. mit der Integration der historischen Zeitungswissenschaft in eine übergeordnete Publizistik-, Kommunikations- und Medienwissenschaft die akademische Beschäftigung mit der Geschichte des Feuilletons in den fünfziger Jahren an ein Ende gelangt. Die großen Handbücher der Zeitungswissenschaft oder des Feuilletons aus jener Zeit reproduzieren dabei die vornehmlich kulturkonservativen Wertungen über das Feuilleton, basieren sie doch durchwegs auf Arbeiten aus den vierziger Jahren, in denen die ältere Zeitungswissenschaft – auch als Instrument des nationalsozialistischen Propagandaapparats – Konjunktur hatte. Zum anderen betritt die literaturwissenschaftliche Feuilletonforschung aber auch innerhalb des eigenen Faches Neuland. Als ›Grenzphänomen des Ästhetischen‹46, das sich weder als literarisch noch als journalistisch oder gar als wissenschaftlich definiert, musste das Feuilleton der Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft, deren Erkenntnisinteresse bis in die siebziger Jahre nahezu ausschließlich der Trias der literarischen Großgattungen gilt, zwangsläufig entgehen. In einschlägigen literaturwissenschaftlichen Lexika oder Arbeiten zu nicht-fiktionalen Prosagattungen werden folglich unter dem Stichwort ›Feuilleton‹ zwar die Ergebnisse der einschlägigen zeitungswissenschaftlichen Arbeiten aus den vierziger und fünfziger Jahren referiert, darüber hinaus findet

46 Zum Begriff vgl. Preisendanz, Wolfgang: »Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik«, in: W. P., Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge, München: Fink 1973, S. 21-68, S. 28f.

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das Feuilleton höchstens als dem Essay verwandtes Genre47 oder als Abart der Glosse48 Erwähnung. Nicht zuletzt steht die Feuilletonforschung Ende der achtziger Jahre vor dem Problem, dass ihr Material bis dahin kaum bibliographisch oder gar editorisch erschlossen ist.49 In den vergangenen dreißig Jahren hat sich die literaturwissenschaftliche Feuilletonforschung als eigener Forschungszweig – freilich am Rande der Disziplin(en) – etabliert. Mit einer Reihe editionsphilologischer Projekte – beispielhaft sei hier das editorische Großprojekt der druckortbezogenen Robert-Walser-Ausgabe genannt – wurde und wird die Basis auch zur literarhistorischen bzw. zeitungsgeschichtlichen Einordnung oder zur gattungspoetologischen Erschließung des Feuilletons gelegt. Die neuere Feuilletonforschung ist dabei zunehmend kontextorientiert, sie sucht das Feuilleton – sei es als redaktionelle Sparte, sei es als literarisch-publizistisches Genre oder als spezifische Form der Darstellung50 – immer auch im medialen Entstehungskontext zu begreifen und nimmt es grundsätzlich in seiner mehrfachen Bezogenheit wahr. Entsprechend fassen sowohl der im Jahr 2000 erschienene Band Die lange Geschichte der Kleinen Form (hg. von Kai Kaufmann und Erhard Schütz) wie auch das 2012 von Hildegard Kernmayer, Barbara von Reibnitz und Erhard Schütz betreute Themenheft der Zeitschrift für Germanistik (Zur Poetik und Medialität des Feuilletons) das Feuilleton als Ort, »an dem sich Literatur, Publizistik, Gesellschaft und Politik wechselseitig durchdringen«51. Der hier vorliegende Band stellt dieses wechselseitige Sich-Durchdringen in den Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses, wenn er den hybriden Intertext ›Feuilleton‹ vor allem in seiner multiplen Schnittstellenfunktion in den Blick nimmt. Das Feuilleton interessiert dabei freilich nach wie vor als ästhetisches Phänomen: als journalistischer Text, den literarische Schreibweisen durchqueren, als objektivistische Reportage, die selbst in der Abgrenzung vom ›subjektivistischen‹ Feuilletonismus sich dessen Formensprache bedient, als Raum des Ästhetischen 47 Vgl. Weissenberger, Klaus: »Der Essay«, in: K. W. (Hg.), Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa, Tübingen: Narr 1985, S. 105-124, hier S. 115. 48 Vgl. Bürgel, Peter: Literarische Kleinprosa. Eine Einführung, Tübingen: Narr 1983, S. 132-134. 49 Vgl. Jäger, Das Zeitungsfeuilleton als literaturwissenschaftliche Quelle, S. 66f. 50 Zu dieser Dreiteilung des Feuilletonbegriffs vgl. Todorow, Almut: »Feuilleton«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 3: Eup–Hör, Tübingen: Niemeyer 1996, S. 259-266, hier S. 259. 51 Kauffmann, Kai: »Zur derzeitigen Situation der Feuilleton-Forschung«, in: Kauffmann/Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der kleinen Form, S. 10-24, hier S. 12.

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und Subjektiven innerhalb der sich sachgebunden wollenden Zeitung oder einfach als Zeitungsressort, das auch zu ästhetischen Fragen Stellung bezieht. Es wird aber auch wissenssoziologisch als gesellschaftliche Kommunikationsform begriffen, in der »kulturelle Identität sich artikuliert, kulturelle Diskurse formiert und Spezialdiskurse transformiert werden, Expertenwissen in Alltagswissen überführt und lebensweltlich konstruierte Wirklichkeiten herausgebildet werden«52. Diskursanalytisch betrachtet, firmiert das Feuilleton – wie Christian Jäger und Erhard Schütz bereits 1994 ausführen – als das Medium, das die Konstruktion von Wirklichkeit täglich erneuert, die Gegenstände wie die Muster der Wahrnehmung prägt, letztlich das facettierte Selbstbild einer Gesellschaft zeichnet.53 Die spezifische Orientierung des Erkenntnisinteresses in diesem Band dankt sich auch einer Ausdehnung des Untersuchungszeitraums, wird doch das ›Feuilleton‹ nicht nur exemplarisch, sondern systematisch auch in der Spätmoderne aufgesucht, wird nach den Kontinuitäten oder Diskontinuitäten feuilletonistischen Schreibens gefragt, das seine komplexe ›Poetik‹ generell in Auseinandersetzung mit den vielfachen Medienbrüchen entfaltet, die seine mehr als zweihundertjährige Geschichte begleiten. Vollzieht sich der Aufstieg des Feuilletons parallel zur Entstehung einer Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so eröffnen sich mit den jeweils ›neuen‹ Medien des Radios, des Films, des Fernsehens, aber vor allem mit der seit den 1990er Jahren fortschreitenden Digitalisierung auch neue Möglichkeiten feuilletonistischen Schreibens und Urteilens. Gerade die digitalen Medien bringen dabei eine Vielheit an konkurrierenden Orten und Praktiken hervor, an denen bzw. mittels deren alternative Formen kulturjournalistischen Schreibens und Räsonierens erprobt werden. Letztere wirken ihrerseits in das klassische Feuilleton der großen Printzeitungen zurück und verändern dieses in seiner Struktur. Angesichts der radikalen Intermedialität des Feuilletons, aber auch in Anbetracht seiner Funktion als Knotenpunkt eines Netzwerks, in dem wirtschaftliche, gesellschaftspolitische, literarisch-künstlerische und mediale Diskurse zusammenlaufen, nähert sich der Band dem Phänomen interdisziplinär. In der Dialogisierung genuin literaturwissenschaftlicher (etwa gattungspoetologischer, editions-

52 Todorow, Almut: »Feuilletondiskurs und seismographische Funktion von Kulturkommunikation«, in: Bonfadelli, Heinz et al. (Hg.), Seismographische Funktion von Öffentlichkeit im Wandel, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 281-299, hier S. 281. 53 Vgl. Jäger, Christian/Schütz, Erhard: »Nachwort«, in: C. J./E. S. (Hg.), Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Berlin: Fannei und Walz 1994, S. 335-348, hier S. 336.

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philologischer oder literarhistorischer) Feuilletonforschung mit kommunikationswissenschaftlichen, medienphilosophischen und mediensoziologischen Zugängen zum Thema und nicht zuletzt mit den autoreflexiven Positionen des Journalismus selbst sucht der Band das Feuilleton in seiner komplexen Poetik des ›Dazwischen‹ zu fassen.

3. D IE B EITRÄGE Im Eingangsbeitrag zeichnet ERHARD SCHÜTZ (Berlin) nicht nur eine Genealogie des Feuilletons von seinen Anfängen in Frankreich um 1800 bis in seine ›Hochzeit‹ in den 1920er und 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts. Er beschreibt vor allem den vehementen Abgrenzungsdiskurs, der sich im Hinblick auf das kleine, mindere, zweitrangige Genus spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ausbildete: Das Feuilleton wird darin einem ›Weiblichen‹ zugeschlagen, als ›französische‹ Textsorte stigmatisiert, die Schreibweise gilt pejorativ als ›jüdische‹. Als das ›Andere‹ des Feuilletons firmiert das als ›männlich‹ imaginierte ›Deutsche‹. In der Konkurrenz der publizistischen Formen wird das ›genre mineur‹ von ihm verwandten, aber als ›bedeutend‹ konstruierten Textsorten unterschieden: dem Essay, dem Denkbild oder der Reportage. Jenseits dieser Zuschreibungen sucht HILDEGARD KERNMAYER (Graz) eine gattungspoetologische Bestimmung des Feuilletons. Das Feuilleton, das sich ob seiner stofflichen Unbegrenztheit, seiner formal-stilistischen Verwandlungsfreiheit und seiner Heterogenität der nivellierenden Beschreibung der Gattungstheorie zu entziehen scheint, definiert Kernmayer als Hybrid, das seine komplexe Poetik des Dazwischen an der Schnittstelle zwischen Literatur und Journalismus ausbildet. Poetizität, Subjektivität und Bewegung charakterisieren dabei die Kleine Form des Feuilletons, die sich in der poetischen ›Anverwandlung‹ journalistischer Zweckformen als Genus konstituiert. Sie kennzeichnen aber auch die Literarisierung des Journalismus insgesamt, die in der deutschsprachigen Publizistik seit dem 18. Jahrhundert und bis heute unterschiedliche Formen und Schreibweisen hervorbringt. Die Kritik am Feuilleton, seine Abwertung als ›genre mineur‹, entzündet sich gerade an den feuilletonistischen ›Stilgebärden‹ der Leichtigkeit, der Flüchtigkeit, der subjektiven Gestimmtheit. Einer, der in zwanziger Jahren in den Chor der Feuilletongegner einstimmte, war der Wiener Kritiker, Essayist und ›Sprechsteller‹ Anton Kuh. Zuwider war ihm – wie WALTER SCHÜBLER (Wien), Kuh-Biograph und Herausgeber der Werkausgabe des Autors ausführt – das heitere Geplauder in assoziativem Stil sowie die »ironisierende Feinsäuselei« von Literaten,

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die statt in der Welt im »luftleeren Raum der Intellektualität« lebten. Wenn Kuh dennoch einen »Sinn des Feuilletonteils, sofern er überhaupt Sinn« habe, ausmachen kann, so liegt dieser allenfalls in dessen subversivem und anarchischem Potential, ›unter dem Strich‹ die Ordnung im »Oberm-Strich-Rayon« in Frage zu stellen. Kuh plädiert in der Folge nicht für eine ›Reinigung‹ des sich sachgebunden wollenden Journalismus vom Ästhetischen und Subjektiven, sondern vielmehr für eine Vermischung von Kunst und Politik und somit für die Aufhebung der Grenze, die die Zeitungsteile ›über‹ und ›unter dem Strich‹ trennt. Mit der Verstrickung der zeitungswissenschaftlichen Feuilletonforschung und speziell ihres wohl bedeutendsten Protagonisten, Wilmont Haacke, in die nationalsozialistische Ideologie setzt sich die Literaturwissenschaftlerin BETTINA BRAUN (Zürich) auseinander. Haackes 1943 erschienene Habilitationsschrift, in der dieser noch die »Ausmerzung des Judentums aus dem deutschen Feuilleton« als die vorrangigen Aufgaben deutscher Feuilletonkunde bezeichnet hatte, avancierte in den fünfziger Jahren – freilich in ›bereinigter‹ Form und unter dem Titel Handbuch des Feuilletons zu dem Standardwerk der Feuilletonforschung. Braun zeigt in ihrem Beitrag, dass die von Haacke betriebene ›Klitterung‹ der Geschichte des Feuilletons Auswirkungen auch noch auf die heutige Feuilletonforschung hat. Der Beitrag der Slawistin IRINA WUTSDORFF (Tübingen) beleuchtet das Wechselverhältnis von journalistischem und literarischem Schreiben am Beispiel der beiden Prager Autoren Jan Neruda und des ›rasenden Reporters‹ Egon Erwin Kisch. Die beiden Grenzgänger zwischen Journalismus und Literatur suchten soziale Wirklichkeiten zu beschreiben und bedienten sich dazu der ästhetischen Formensprache des Feuilletons, die über das rein Faktische hinauszuweisen vermag. Die Vermischung von Faktualem und Fiktionalem prägt das Schreiben des ›Literaten‹ Neruda und des ›Reporters‹ Kisch gleichermaßen. Es stellt sich also die (gattungspoetologische) Frage, ob die Grenze zwischen literarischem und journalistischem Schreiben tatsächlich entlang der Trennlinie von Fiktionalität und Faktualität zu ziehen ist. Anders als die – ungeachtet des ›neusachlichen‹ Objektivitätspostulats – häufig prononciert subjektiv gehaltenen Reportagetexte Egon Erwin Kischs oder Joseph Roths entsprechen die Reportagen der zahlreichen Schriftstellerinnen, die in den zwanziger Jahren für das Feuilleton vor allem sozialdemokratischer Zeitungen schreiben, eher dem ›neusachlichen‹ Ideal, findet sich in diesen doch die Autorinnenposition meist zurückgenommen. Dennoch ist – wie MARTIN ERIAN (Klagenfurt) in seinem Beitrag zeigt – selbst in deren Texten die Grenze zwischen Feuilleton und Reportage nicht eindeutig zu ziehen. Dass sich die beiden ›Antipoden im Gleichschritt‹ bewegen, die Übergänge zwischen ihnen fließend sind, zeigt

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er anhand der Analyse der Sozialreportagen bzw. sozialkritischen Feuilletons Elisabeth Jansteins und Klara Mautners. Neben der Zeitung ist die Literatur das hauptsächliche Bezugssystem des Feuilletons. Dieses ist seit seinen Anfängen der Ort, an dem Literatur nicht nur besprochen, sondern auch veröffentlicht wird. Vor allem im 19. Jahrhundert bestreiten nahezu alle Autorinnen und Autoren ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf ihrer Texte an Zeitungen und Zeitschriften, handle es sich um journalistischliterarische Prosaformen, deren Poetizität sich unter anderem in ihrem Oszillieren zwischen Sachgebundenheit und formaler Verwandlungsfreiheit entfaltet, oder aber um genuin literarische Texte, wie Gedichte, Dramen, Novellen oder Romane. In ihrem Beitrag über Robert Walsers Porträt-Gedicht An Georg Trakl, das Walser wie 80 andere in der Prager Presse veröffentlichte, bespricht SABINE EICKENRODT (Berlin/Bratislava) nicht die kleine Form, sondern das Porträt-Gedicht als Idealfall der feuilletonistischen Gattung. Einerseits Porträt, also ein referentieller Text, andererseits Gedicht, mithin selbstreferentiell, vollziehe es die Gratwanderung zwischen Journalismus und Literatur. Zu den großen Leistungen der editionswissenschaftlichen Feuilletonforschung der letzten Jahrzehnte gehört die Bereitstellung von kritischen, kommentierten Werkausgaben bedeutender Feuilletonistinnen und Feuilletonisten. Erst auf einer gesicherten Textbasis lassen sich Aussagen zur Geschichte oder zur Gattungspoetik von feuilletonistischen Formen treffen. Drei solcher Werkausgaben bilden die Grundlage für Überlegungen zur Literaturkritik: die Kritische, kommentierte Edition der Kritiken und Essays Max Herrmann-Neißes, die Edition der Prosawerke Emmy Hennings‘ sowie die Edition von Vicki Baums Beiträgen für Zeitungen und Zeitschriften. – Dass eine systematische Geschichte der deutschsprachigen Literaturkritik bis heute noch aussteht, betont SIBYLLE SCHÖNBORN (Düsseldorf). Die Herausgeberin der Kritischen, kommentierten Edition der Kritiken und Essays Max Herrmann-Neißes sieht dieses Manko vor allem in der Tatsache begründet, dass die Voraussetzungen für eine solche Gattungsgeschichte mit den aktuellen kritischen Editionen der publizistischen Arbeiten einzelner Autoren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst geschaffen werden. Schönborn stellt ihrerseits mit Max Herrmann-Neiße einen der wichtigsten Literaturkritiker des beginnenden 20. Jahrhunderts vor. Der Kerr-Schüler, der wie sein Lehrer forderte, das Feuilleton als vierte Hauptgattung zu etablieren, hatte eine eigene Form der ›positiven Kritik‹ entwickelt, die den verstehenden, kundigen und solidarischen Kritiker voraussetzt. Hermann-Neiße selbst verstand seine Kritiken als einen Beitrag zu einer umfassenden Literatur-, Kultur- und Zeitkritik. Indem er etwa einen Gegenkanon zur Literaturdoktrin des aufkommenden Nationalsozialismus entwarf, wurde er zum

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Chronisten der Literaturgeschichte der deutschsprachigen Moderne. Darüber hinaus bezog der Moralist Stellung gegen die Kriegsbegeisterung von 1914, gegen die politischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit sowie gegen Rassismus, Antisemitismus und jegliche Form der Diskriminierung. Die Literaturwissenschaftlerin CHRISTA BAUMBERGER (Bern), Kuratorin des Nachlasses und Herausgeberin des Prosawerks von Emmy Hennings, verhandelt in ihrem Beitrag über das bedeutende literaturkritische Werk einer Autorin, die in der Literaturgeschichtsschreibung vor allem als einziges weibliches Gründungsmitglied der Zürcher Dada-Bewegung sowie als Frau und Nachlasswalterin Hugo Balls bzw. als ›Muse‹ der expressionistischen Dichtergeneration firmiert. Emmy Hennings verfasste ab den frühen 1920er Jahren zahlreiche Literaturkritiken, Reiseschilderungen und Feuilletons zu zeitbezogenen Themen, die sich durch hohe Poetizität – einen »zarten und zierlichen Ton« – sowie einen ganz und gar subjektiven Zugang zu ihren Gegenständen auszeichnen. Aus ihren Besprechungen zahlreicher Neuerscheinungen von Autoren und Autorinnen wie Hans Arp, Johannes R. Becher, Paul Claudel, Knut Hamsun, Hermann Hesse oder Else Lasker-Schüler, mit denen Hennings in Kontakt stand, lässt sich ein wichtiges literarisches Netzwerk der Zwischenkriegszeit rekonstruieren, zugleich spiegeln ihre literaturkritischen Texte die Grundzüge von Hennings’ eigener Poetik. Dass Vicki Baum, einer breiten Leserschaft vor allem als Autorin von Bestsellerromanen wie Menschen im Hotel oder Liebe und Tod auf Bali bekannt, auch ein umfangreiches feuilletonistisches Oeuvre aufweist, zeigt die mit der Edition des journalistischen Werks der Autorin befasste Literaturwissenschaftlerin VERONIKA HOFENEDER (Wien). In ihrem Beitrag untersucht sie die kunstkritischen Schriften Baums, die diese über 45 Jahre hinweg in deutsch- und englischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften publiziert. Aus den literatur-, fotografie-, musikoder auch tanzkritischen Feuilletons leitet Hofeneder die ästhetischen und poetologischen Konzepte der Autorin ab und setzt diese zur zeitgenössischen Feuilletonistik in Beziehung. Wie Alfred Polgar erkennt auch Vicki Baum in der Kleinen Form eine der Moderne angemessene Form literarischen Ausdrucks. Der Journalist MARC REICHWEIN (Die Welt, Berlin) und der Literaturwissenschaftler MICHAEL PILZ (Innsbruck) stellen sich in ihrem Beitrag wiederum dem Versuch einer Ehrenrettung der feuilletonistischen Form des Interviews, dessen angebliche Zunahme im Feuilletonteil als Zeichen für die Krise des Rezensionsjournalismus gelesen wird. Die Feststellung Thierry Chervels (Perlentaucher), wonach die Anzahl der Buchbesprechungen im Feuilleton in den letzten 15 Jahren um fast fünfzig Prozent zurückgegangen, gleichzeitig jedoch ein Aufschwung der personenbezogenen Textsorten Interview und Porträt im Kulturjournalismus zu verzeichnen sei, verglichen sie mit Zahlen aus dem Innsbrucker Zeitungsarchiv.

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Reichwein und Pilz konnten weder die starke Abnahme von Besprechungen bestätigen, noch konnten sie eine Zunahme von Interviews zulasten der Rezensionen feststellen. Das Interview als Spielart der Feuilletonisierung habe die Literaturkritik letztlich nicht verdrängt, es stelle lediglich eine andere Form der feuilletonistischen Auseinandersetzung mit Literatur. Stehen bisher die feuilletonistischen Schreibweisen und das Feuilleton als Form im Zentrum des Erkenntnisinteresses, so richtet sich die Aufmerksamkeit in den folgenden Beiträgen auf die Rubrik des aktuellen Feuilletons als diskursiver Ort der Debatte und der Kritik. In ihrem Beitrag über die mediale Inszenierung von Konflikten im Feuilleton der Gegenwart zeigt SIMONE JUNG (Hamburg), wie das traditionell als ›bürgerlich‹ definierte Feuilleton zum Ort der Hybridisierung par excellence und damit zum Ausdrucksmedium einer pluralen Gesellschaft wird. Mit der Auflösung der antagonistischen Differenz von Hochkultur und populärer Kultur vermischen sich unterschiedliche Identitäten, Sinnhorizonte und Lebensräume. Dies zeigt sich nicht nur am Feuilleton selbst, das als hybrides Medium historisch betrachtet schon immer ein widersprüchliches Mischverhältnis der hochkulturellen und populären Diskurse aufwies, sondern auch an den hier verhandelten Konflikten. Exemplarisch an der Volksbühnen-Debatte zeigt Jung die Inszenierung des Politischen im Feuilleton auf, die von Rationalität und Affekt gleichermaßen bestimmt ist, um den Konflikt zwischen der Vielzahl an konkurrierenden Partikularkulturen zu verhandeln, wie sie in der Debatte um das Berliner Theater zum Vorschein kommt. Nicht so sehr um die nachhaltige Aushandlung von Konflikten als vielmehr um die singuläre Produktion von Werturteilen geht es im Beitrag von THOMAS HECKEN (Siegen), der die spezifischen Wertungsweisen und -prinzipien des aktuellen deutschen überregionalen Feuilletons (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit) untersucht und diese zu axiologischen Positionen der Analytischen und Pragmatistischen Philosophie (Carnap, Putnam) in Beziehung setzt. Dabei kommt er zum Ergebnis, dass sich im heutigen Feuilleton (aber auch im ›politischen Buch‹ der Zeitung) kaum ein Text finde, der nicht wertend vorgehe. Auffällig sei jedoch, dass sich ästhetische oder ethische Wertungen jeweils jenseits des dichotomen Beurteilungsschemas von schön/hässlich oder moralisch/unmoralisch bewegen, sich das aktuelle Feuilleton zudem in der Regel abschließender Wertungen entzieht. Dass entgegen anderwärtiger Festlegungen der ›(Medien-)Intellektuelle‹ keineswegs per se ein Geistesmensch und Akademiker ist, sondern im Kern eine Sozialfigur, die erstens politisch engagiert ist, ohne ein politisches Mandat inne zu haben, zweitens im Namen anderer spricht und drittens seine Legitimation zur Intervention aus der Anerkennung seiner Leistungen im Feld der Wissenschaft oder

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Kunst bezieht, zeigt der Soziologe ANDREAS ZIEMANN (Weimar) in seinem Beitrag. Als idealtypischen Intellektuellen nennt er Jean-Paul Sartre, der relativ autonom und unabhängig von Feldern der Ökonomie und Politik agiere, und der die Selbstberufung und Gabe zur Schrift sowie das Bewusstsein, dass Sprechen Handeln und Handeln Enthüllen und Verändern sei, voraussetzte. Ziemann kommt zu dem Schluss, dass das (Debatten-)Feuilleton bis heute eine Plattform für intellektuelle Intervention ist. Der Beitrag von ELKE WAGNER (Würzburg) und NIKLAS BARTH (München) untersucht Formen der Verständigung zwischen Privatpersonen im 21. Jahrhundert am Beispiel des Social-Media-Kanals Facebook. Mit der Digitalisierung und den sozialen Medien entstehen nicht nur neue Möglichkeiten zur Herstellung von Öffentlichkeit, sondern auch neue Formen des Kommunizierens und Kommentierens. Die vernetzte Debattenkultur der Gegenwart leiten Wagner und Barth aus der Tradition der Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts her. Wurde der Austausch von Privatpersonen im Medium des Briefs noch primär unter Ausschluss der Öffentlichkeit und in direktem Bezug aufeinander geführt, so erfolgt die Kommunikation in den sozialen Netzwerken des 21. Jahrhunderts in hybridisierten ›persönlichen Öffentlichkeiten‹ und als ›Befindlichkeitskommunikation‹. Daran anschließend zeigt NADJA GEER (Berlin/Athen) in ihrem Beitrag neue Möglichkeiten der kulturellen Selbstverständigung der Feuilletonistinnen und Feuilletonisten im Netz auf. Ausgehend von einem viel beachtenden Artikel über die Abwanderung der Feuilletondebatte in die sozialen Medien von Ijoma Mangold, Literaturchef der Zeit, und der Auseinandersetzung um das Youtube-Video Wrecking Ball des Popstars Miley Cyrus, fragt sie: Welche Formen der Verständigung generieren sich auf den Facebook-Seiten der Feuilletonmacher und -macherinnen, und welche Auswirkungen haben diese auf die Debattenkultur im 21 Jahrhundert? Die sogenannte ›Postkritik‹, ein Begriff, den Geer von Thomas Edlinger übernimmt, sei dabei maßgeblich von Konzepten wie Algorithmus, Akzeleration und Agency bestimmt. Mit dem Aufbrechen der herkömmlichen Hierarchien habe diese einerseits Bewegung in das Debattenfeuilleton gebracht, andererseits gehe mit ihr aber auch eine Verflachung des Denkens einher, infolgedessen die Kritik als eigene Kunstform an Bedeutung verliere. Die Beiträge zum Politischen im Feuilleton eröffnen einen Einblick in die Entwicklung der Wahrnehmungs- und Bewertungsstrukturen des Feuilletons vom klassischen Print über die sozialen Netzwerke bis hin zu Facebook im Spezifischen. Sie zeigen auf, dass die verschiedenen Kommunikationsmodi des Urteilens und Bewertens in unterschiedlichen Medien zu verschiedenen Zeiten ungleich an Bedeutung gewinnen. Speziell die Debattenkultur im 21. Jahrhundert zeigt sich

E INLEITUNG

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hier als hochgradig transformiert: Reguliert sie sich im Printfeuilleton noch zwischen Rationalität und Affekt (Jung), so verlagert sie sich in den digitalen Strukturen hin zum Affekt, bis Rationalität schließlich selbst zum Affekt wird (Geer) oder gar zur ›Befindlichkeitskommunikation‹ gerinnt (Wagner/Barth). Die Möglichkeit der kulturellen Selbstverständigung zur Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit im Ideal der bürgerlichen Autonomie, die sich im 18. Jahrhundert ausgebildet und im modernen Feuilleton ihre publizistische Fortführung gefunden hat, wird im digitalen Zeitalter folglich zunehmend an den Rand gedrängt und aufgelöst. Zugleich erschließen sich aber auch neue Möglichkeiten der Kritik und der Herstellung von Öffentlichkeit zwischen den analogen und digitalen Kulturen. Einen abschließenden Blick auf die Zukunft des Kulturjournalismus wirft deshalb GUIDO GRAF (Hildesheim), der entlang der Figuren der Mechanik und der Melancholie und im Rückblick auf das Feuilleton des beginnenden 20. Jahrhunderts neue Wege für einen Kulturjournalismus im digitalen Zeitalter zu erschließen versucht. Klassisches Handwerk wie Informationsbeschaffung, Recherche und stilistische Formatierung sind ebenso Voraussetzungen für einen zukünftigen Kulturjournalismus wie die Bereitschaft, das Neue auszuspüren. Gerade mit den neuen Technologien – Graf nennt beispielhaft Smartphones, Apps, Boots oder 360-Grad-Kameras – erschließen sich auch neue kulturjournalistische Themen und Praktiken, unmittelbare Gegenwart zu reflektieren und zu erzählen. Die Beiträge des Bandes gehen zu einem Teil auf die Tagung Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur zurück, die im November 2015 an der Universität Graz stattfand und (als Kooperationsprojekt zwischen den Universitäten Graz und Hamburg) von den beiden Herausgeberinnen konzipiert und organisiert wurde. Um ein historisch wie auch medial differenziertes Bild des Feuilletons als Rubrik, als Form und als Schreibweise zeichnen zu können, wurde der Band noch um eine Reihe von Aufsätzen erweitert. Beim letzten Beitrag des Bandes mit dem Titel Zwischen Ästhetik und Ökonomie. Zur Lage des Feuilletons handelt sich indes um keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern vielmehr um die schriftliche Wiedergabe einer Podiumsdiskussion mit identem Titel, die begleitend zur Tagung im Kunsthaus Graz stattfand. Angesichts der vielerorts diagnostizierten Krise des Zeitungsfeuilletons als traditionell ›bürgerlichem‹ Ort der Selbstverständigung und Kritik diskutierten die Kulturjournalistinnen und Kulturjournalisten DORIS AKRAP (taz. die tageszeitung), EKKEHARD KNÖRER (Merkur), SIGRID LÖFFLER (ehem. u.a. profil, Die Zeit, ZDF) und LOTHAR MÜLLER (Süddeutsche Zeitung) zur Situation des gegenwärtigen Feuilletons. Das letzte Wort gehört somit den Feuilletonistinnen und Feuilletonisten selbst, die Antworten auf die folgenden Fragen geben: Wie definiert sich die Rolle eines zukünftigen Feuilletons angesichts der in der Printkrise zurückgehenden

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Umfänge der großen Feuilletons? Wie kann das Feuilleton seine medialen Funktionen, nämlich die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit, die Entwicklung einer intellektuellen Debattenkultur, nicht zuletzt die fundierte Auseinandersetzung mit Literatur, Musik, Bildender Kunst wahrnehmen? Welche Formen von Kritik entstehen seit dem 21. Jahrhundert und wie inszeniert sich speziell das Feuilleton als Ort der kulturellen Selbstverständigung? Welche Rolle für eine mögliche neue Debattenkultur spielen dabei die Blogs, sozialen Medien und andere digitale Plattformen?

Unterm Strich. Über Grenzverläufe des klassischen Feuilletons E RHARD S CHÜTZ »Mein Leben glich […] einem großen Journal, wo die obere Abteilung die Gegenwart, den Tag mit seinen Tagesberichten und Tagesdebatten, enthielt, während in der unteren Abteilung die poetische Vergangenheit in fortlaufenden Nachtträumen wie eine Reihenfolge von Romanfeuilletons sich phantastisch kundgab.« (HEINRICH HEINE, MEMOIREN)

G ENEALOGIE Die Geschichte des Feuilletons beginnt in den Jahren um 1800. Damals verlängerte eine Reihe französischer Zeitungen ihr Seitenformat und trennte diese Verlängerung durch einen Strich ab. Im Teil ‚unter dem Strich‘, im Feuilleton (dt. Blättchen), erschienen fortan neben den Annoncen und dem Pariser Theaterprogramm Theaterkritiken, Glossen und Plaudereien zu kulturellen Ereignissen. Schnell verband sich der Name mit den ›Feuilletons‹, die Abbé Geoffroy im Pariser Journal des Débats seit dem 2. März 1800 zu publizieren begann.1 Die Einrichtung des Feuilletons wurde im Zuge der napoleonischen Besetzung Europas von deutschen Zeitungen übernommen, und der Begriff hat so bis heute seine Bedeutung behalten. 1813 hat der »Dokter der Gottesgelehrtheit« Joachim Heinrich Campe den Deutschen das Feuilleton erklärt: »Die jetzigen Pariser Zeitungen oder Tageblätter haben die Einrichtung, daß ein durch eine Linie abgeschnittenes Winkelchen dazu bestimmt ist, irgend etwas Gelehrtes oder Witziges zu enthalten« – 1

Vgl. ausführlicher dazu Jakoby, Ruth: Das Feuilleton des Journal des Débats von 1814 bis 1830. Ein Beitrag zur Literaturdiskussion der Restauration, Tübingen: Narr 1988.

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das Feuilleton. Im Deutschen »dürfte Bei- oder Nebenwinkelchen wol besser dafür passen«2. Für den Status des Feuilletons in der Literaturwissenschaft seither jedenfalls traf Campes Eindeutschung für lange Zeit und trifft weithin noch heute zu. Und dies gerade deshalb, weil das Feuilleton nicht in seinem Winkel geblieben und alsbald – wie Gallien – in drei Teile zerfallen ist, jedenfalls den einschlägigen Definitionen nach: Sparte, Form und Stil. War die Sparte suspekt, da das Medium Zeitung der Gelehrsamkeit ein Gräuel schien, so desgleichen die Form, schon deshalb, weil sie ›klein‹ und für den Tag war. Vor allem aber war Feuilleton als Stil verpönt: Feuilletonismus. Die marginale Position, die das Feuilleton selbst in Literaturgeschichten des ›feuilletonistischen Zeitalters‹ (Hermann Hesse) inne hatte,3 ist aber auch einer wissenschaftsinstitutionellen Entwicklung geschuldet. Die seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts nach und nach etablierte Zeitungswissenschaft hatte sich die Befassung mit dem Feuilleton als eine ihrer genuinen Aufgaben gesetzt, freilich weniger wissenschaftlich als – dem frühen Selbstverständnis des Faches folgend – normativ und präskriptiv. Und so sehr sich seit Anfang der dreißiger Jahre eine intensive Feuilletonforschung abzuzeichnen begann, so sehr trugen ihre, um das Mildeste zu sagen, demokratieferne, nationalistische Grundorientierung sowie die explizite Strategie der Politisierung durchs Unpolitische dazu bei, dass es später schwerfiel, daran anzuknüpfen. Mit dem definitiven Anfang in Frankreich wollte man sich allerdings in Deutschland keineswegs begnügen. Darum ruhte man nicht, ehe man andere, weiter zurückliegende und deutsche Anfänge fand. Und wenn nicht deutsche, dann wenigstens antike. So entdeckt Ernst Eckstein,4 der erste Feuilletonhistoriker, Plato und Sokrates als Vorläufer. Wilmont Haacke und Emil Dovifat werden dann im deutschen Mittelalter fündig. Walter von der Vogelweide ist für sie der erste deutsche Feuilletonist.5 Andere, ernster zu nehmende Traditionslinien werden zu den sogenannten Intelligenzblättern und den Moralischen Wochen-/Monatsschriften gezogen, deren Vorbilder wenigstens aus England kamen. Dovifat und Haacke 2

Campe, Joachim Heinrich, Dokter der Gottesgelehrtheit: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke, Braunschweig: Schulbuchhandlung 1813, S. 317f.

3

Eine positive Ausnahme ist Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, Band 9/1: 1870 – 1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende, München: Beck 1998.

4

Eckstein, Ernst: Beiträge zur Geschichte des Feuilletons, 2 Bände, Leipzig: Hartknoch

5

Unter Bezugnahme auf den Germanisten Georg Gottfried Gervinus vgl. Haacke, Wil-

1876. mont: Handbuch des Feuilletons, Band 1, Emsdetten: Lechte 1951, S. 22.

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verweisen zudem ausführlich auf Abraham a Santa Clara (1644–1709), um von da aus das Feuilleton über »Persönlichkeiten« zu bestimmen, die »es klar und sauber schreiben« konnten.6 Der Rekurs auf Abraham a Santa Clara, diesen wortgewaltigen Agitator der Gegenreformation, hat einen spezifischen Aspekt: Er hebt im seinerzeitigen fortgesetzten ›Kulturkampf‹ auf die Stärkung katholischer Positionen ab und indiziert wiederum das Konservative, jedenfalls eher Demokratieabstinente in Dovifats und Haackes Positionen.7 Andererseits ist natürlich der Hinweis auf deutsche Traditionslinien vor und neben der französischen Begriffstradition durchaus berechtigt. Man denke etwa an den – europäisch verbreiteten – Publikationstypus der relationes curiosae, eine Mixtur aus Zeitschrift und Buch, worin bemerkenswerte, aber eben auch merkwürdige Meldungen aus aller Welt und aus allen möglichen Wissensgebieten kaleidoskopisch gemixt waren. In Deutschland stehen dafür vor allem Eberhard Werner Happels Größte Denkwürdigkeiten der Welt (1684ff.).8 Oder man denke an die Tätigkeit von Gotthold Ephraim Lessing für die Berlinische privilegirte Zeitung, die sogenannte Vossische Zeitung ab 1748, und an Karl Philipp Moritz’ Arbeit als Redakteur ebenda. Mit den napoleonischen Eroberungen jedenfalls verbreitete sich auch die Einrichtung des Feuilletons in Deutschland. Das bisher erste nachweisbare Beispiel für die Übernahme der Form und des Namens in Deutschland stammt allerdings erst aus dem Jahr 1812, als der Nürnberger Correspondent ein Feuilleton im Stil des Journal des Débats einführte. Breiter etablierte sich das Feuilleton ab 1848, als sich nach der gescheiterten Revolution die publizistischen Aktivitäten auf die Kulturberichterstattung verlegten. Damit einher ging häufig eine Tendenz zur wissenschaftspopularisierenden Volksbildung (vgl. etwa Ludwig Büchner). So gut wie alle bedeutenderen Figuren des Jungen Deutschland wären hier zu nennen. »Unsere neue Literatur ist eine Tochter der Kritik, unsere besten Schriftsteller haben in den Journalen ihre Studien vor dem Publikum gemacht«9, hatte Georg 6

Vgl. bspw. Haacke, Wilmont: Handbuch des Feuilletons, Band 2, Emsdetten: Lechte 1951, S. 305: »Ein Feuilleton ist ein Stück sauberer, gehobener und ansprechender Prosa, in welchem ein dichterisches Erlebnis mit literarischen Mitteln bei Innehaltung journalistischer Kürze […] so dargestellt wird, daß sich Alltägliches mit Ewigem darin harmonisch und erfreuend verbindet.«

7

Vgl. W. Haacke: Handbuch des Feuilletons, Band 1, S. 273-278, Band 2, S. 26.

8

Happel, Eberhard Werner: Größte Denkwürdigkeiten der Welt oder sogenannte Relati-

9

Herwegh, Georg: »Die neue Literatur«, in: G. H., Werke in drei Teilen, hg., mit Einlei-

ones Curiosae, Berlin: Rütten u. Loening 1990. tungen und Anmerkungen versehen von Hermann Tardel, Band 2, Berlin [u.a.]: Bong & Co. [1909], S. 28 und 78.

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Herwegh 1839 in seiner Schrift Die neue Literatur bemerkt. Freilich gab es früh schon Kritik, etwa von Luise Büchner, der mittleren der drei Büchner-Geschwister. In ihrer Schrift Die Frauen und ihr Beruf plädiert sie zwar 1855 für Zeitungslektüre gerade auch von Frauen, sieht aber einen Gefahrenherd innerhalb der Zeitung, nämlich im Feuilleton, das »nicht die Männer, sondern vornehmlich die Frauen und die jungen Leute anzulocken bestimmt« sei und mit seinen Geschichten »schlüpfrigen Inhalts« und gewagter Lebensverhältnisse zu einem »tropfenweise eingeflößten Opium«10 werde. Das Feuilleton nun als ›Kleine Form‹, als spezifisches literarisch-publizistisches Genre, das den alltäglichen – im doppelten Sinne – Lebenswandel begleitete, entfaltete sich am prägnantesten in Wien seit etwa den sechziger, siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Bedingungen dazu finden sich in der ethnischen und kulturellen Vielfalt der Donaumonarchie. Hier entwickelte sich, ausgehend insbesondere von den sogenannten ›Kulturbildern‹, den ›Genrebildern‹, ›Skizzen‹ und überhaupt Alltagsszenen, die seit dem Biedermeier sehr beliebt waren, der Typus des Feuilletons als ›Kleiner Form‹, wie er dann auch im übrigen Deutschland maßgeblich wurde.

G RENZZIEHUNGEN Unmittelbar von der Herkunft aus dem deutschnationalistisch verpönten Frankreich rührt eine Bestimmung her, die besagt: Das Feuilleton ist ›weiblich‹, genauer: ›weibisch‹. Wiewohl die Tradition des Feuilletons, insbesondere der großen Namen, in Deutschland ganz überwiegend durch Autorschaft von Männern bestimmt ist (was einschließt, dass die wenigen Frauen noch immer nicht hinreichend beforscht werden), gilt die Kleine Form als feminin, gelten ihre Autoren gern als effeminiert. Karl Kraus, der 1911 mit Heine und die Folgen11 ›die‹ Programmschrift gegen den Feuilletonismus lieferte, erklärt darin kategorisch: »Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat.«12 Das spielt zunächst auf die seinerzeit geläufige Bezeichnung der Syphilis an, um sodann ins

10 Büchner, Luise: Die Frauen und ihr Beruf, 4 Bände, 4., vermehrte und verb. Aufl., Leipzig: Thomas 1872, S. 162. 11 Kraus, Karl: »Heine und die Folgen«, in: Die Fackel 13 (8/1911), Nummer 329/330, S. 1-33, hier S. 30. 12 Heines Lyrik: »ein skandierter Journalismus«, seine Polemiken: »Feuilletonistisch […] durch die Unverbundenheit, mit der Meinung und Witz nebeneinander laufen.«

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Geschlechterverhältnis einzusteigen. Die Sprache, so Kraus, sei ein Weib, dessen »Vollkommenheit« der »vollkommene Mangel an Hemmung« sei, sie »reg[e] an und auf, wie das Weib«. »Von den Sprachen bekommt man alles, denn alles ist in ihnen«. Doch damit aus der Lust Gedanken werden, dazu bedürfe es des Mannes. Ein »ganzer Kerl« müsse man sein, um die deutsche Sprache »herumzukriegen«, man müsse potent und fruchtbar sein, denn sie »dichte[] und denk[e]« nur für den, »der ihr Kinder machen« könne. Heine indes, zum französischen »Filou« verdorben, habe sie bloß zur Hure gemacht, habe »der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert […], daß heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können«.13 Zum durchaus auch subtilen Verhältnis von Kraus zu Natur, Frauen und Sprache wäre mehr zu sagen,14 hier soll es nur um das Bild des Feuilletonisten gehen, das als das des Impotenten und Unfruchtbaren, des Effeminierten, gar ›Weibischen‹ aufscheint. Wenn zutrifft, was für die Jahrhundertwende reflektiert worden ist, dass die Männlichkeits-/Weiblichkeits-Rede dort besonders ausgeprägt sei, wo Juden ihr Judentum problematisch, Männern, insbesondere Homosexuellen, ihre ›weibliche‹ Seite peinigend war,15 dann korrespondiert dem der Selbstzweifel der Schreibenden in der, sei’s polemischen, sei’s ironischen, Festlegung des Feuilletons (genauer: dessen, was man am Feuilleton nicht mag) auf das ›Weibliche‹ und ›Weibische‹. (Heinrich Heine übrigens hatte in seinem Streit mit Börne und des-

13 K. Kraus: Heine und die Folgen, S. 7f. 14 Vgl. Schneider, Manfred: Die Angst und das Paradies des Nörglers. Versuch über Karl Kraus, Frankfurt a.M.: Syndikat 1977. 15 Nun ist gerade die Wiener Jahrhundertwende nicht nur durch Otto Weiningers Geschlecht und Charakter untrennbar verbunden mit der höchst ambivalenten Haltung zum Weiblichen, und Jacques Le Rider hat herausgearbeitet, wie sehr es gerade jüdische Männer wie Karl Kraus waren, die so heftig von Männlichkeit sprachen und schrieben. Vgl. Le Rider, Jacques: Das Ende der Illusion. Zur Kritik der Moderne, Wien: ÖBV 1990. Das gilt nicht nur für Wien, sondern auch für Berlin damals, insbesondere für Georg Simmels Überlegungen zur »weiblichen Kultur« als »contradictio in adiecto«, weil die Frau in der Moderne gerade um der Kultur willen geschichts- und reflexionslos bleiben müsse. Vgl. Simmel, Georg: »Weibliche Kultur« [1902], in: G. S., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin: Wagenbach 1983, S. 207-241, hier S. 239; Mülder-Bach, Inka: »›Weibliche Kultur‹ und ›stahlhartes Gehäuse‹. Zur Thematisierung des Geschlechterverhältnisses in den Soziologien Georg Simmels und Max Webers«, in: Sigrun Anselm/Barbara Beck (Hg.), Triumph und Scheitern in der Metropole. Zur Rolle der Weiblichkeit in der Geschichte Berlins, Berlin: Reimer 1987, S. 115-140, hier S. 136.

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sen Schreibweise insofern schon ein Vorbild zum Muster der abwertenden Effeminierung geliefert, als er seinen Gegner Börne immer wieder polemisch in eine Unterrocks- und Schürzenwirtschaft einrückte.) Das Bild und Selbstbild des ›femininen‹ Feuilletons und des ›effeminierten‹ Feuilletonisten jedenfalls hält sich spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert nahezu konstant – nicht zuletzt nietzscheanisch inspiriert. Schon 1906 beispielsweise hatte Alfred Polgar, zu Lebzeiten wie danach allseits der hochgerühmte, einzigartige deutsche Feuilletonist, gegen das Wiener Feuilleton ins Feld geführt: Das Wiener Feuilleton, immer »eine Portion Rührung weich im Gehirn«, sei eine »jokose Mischung von Urjudentum und Urariertum. Von synagogaler Wehmut und Grinzinger Alkohollaune«. Es sei primär »Geplauder«, auf »Intimität« und »Streicheln« aus, »[s]üß, kokett, harmlos, leer, nichtig, von allen Giften frei, glatt und belanglos bis zur Abscheulichkeit«. Kurz, es sei »die purste Damensache. Nichts für Männer«.16 Zuvor schon, 1897, war der Wiener Peter Altenberg für den Breslauer Berliner Alfred Kerr Anlass gewesen, mit dem Wiener Feuilleton abzurechnen: »Die Einfachheit in der Form des Feuilletonismus zu geben: das ist Schicksal dieser müden, erfahrenen Weichlinge. Sie kommen auf dem Wege des gerissensten Raffinements zur Schlichtheit. Das Schlichte ist unter ihren Händen parfümiert.«17 Victor Auburtin wird diese Kritik später für Berlin übernehmen. Von Egon Erwin Kisch über Theodor Lessing bis Joseph Roth gibt es kaum einen Feuilletonisten, der sich nicht affirmativ oder kritisch, ernsthaft oder ironisch dieses Topos vom ›weibischen‹ Feuilleton, vom Feuilleton als »Damensache« bedient hätte.18 Neben der Positionierung und Selbstpositionierung von Feuilletonistinnen und Feuilletonisten im Spektrum von literarischer bzw. journalistischer Autorschaft und der Positionierung der Kleinen Form im Spektrum der literarisch-publizisti-

16 Polgar, Alfred: »Das Wiener Feuilleton« [1906], in: A. P., Kleine Schriften, Band 4, Reinbek b.H.: Rowohlt 1984, S. 200-204, passim. 17 Kerr, Alfred: Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1900, 3. Aufl., Berlin: Aufbau 1997, S. 276f. 18 Der Topos hält sich durch, auch in der Ironisierung. Joseph Roth schreibt 1921: »Die Vollbartmänner, die Ernstlinge und Würderiche, geringschätzen das Feuilleton. […] [N]ur die Frauen und Kinder Gebliebenen würden sich daran freuen. Die Männer dagegen behaupten, sich lediglich mit ewigen Dingen zu beschäftigen.« Roth, Joseph: »Feuilleton« [1921], in: J. R., Werke, Band 1: Das journalistische Werk 1915–1923, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 616-619, hier S. 616. Vgl. dazu ausführlicher Schütz, Erhard: »Die Sprache. Das Weib. Der weibische Feuilletonist«, in: Passage für Kunst bis Politik 3 (1993), Nummer 1, S. 57-70.

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schen Genres ist es aber zumindest auch die Adressatenbezogenheit des Feuilletons, aus der diese Einordnung im Geschlechterstereotyp herrührt. Dazu nur zwei Streiflichter. 1848 kündigte der bekannte 48er Karl Grün die Feuilletonbeilage der Trier'schen Zeitung mit den folgenden Worten an: »Die Form ist das Weibliche, der Gedanke das Männliche; wie die Sprache der Allgemeinheit sich vorzugsweise an den Mann richtet, so entspricht die schön erzählte, gedichtete, geistreiche Einzelheit der Frau. Unter diesem Gesichtspunkte wird das Feuilleton sogar von revolutionärer Wichtigkeit. Das Feuilleton kann die Zeitung des weiblichen Geschlechts werden.«19

Eine ähnliche, nun offiziöse und zart empirisch gestützte Formulierung finden wir dann im ›Dritten Reich‹ wieder: »Es unterscheidet sich […] die Leserschaft des Feuilletons von der des politischen Teils durch einen stärkeren Einschlag des weiblichen Geschlechts. Die Frau ist offenbar öfter und mit größerer Regelmäßigkeit Leserin des Feuilletonteils als der Mann es sein könnte. Wenn die Frau nun politisch beeindruckt werden soll, so bildet das hauptsächliche Mittel für die Zeitung, an sie heranzukommen, eben die Unterhaltung im weitesten Sinne.«20

Das Impressive und Plauderhafte des Feuilletons hat wohl niemand so ausführlich praktiziert und thematisiert wie Robert Walser. Selbstbeschreibungen wie »mit Worten tanzen« gehören hierher wie die extreme Fixation aufs Weibliche, selbst reflektiert, dennoch immer wieder obsessiv fortgeführt.21 Sehr plastisch ist dies an seinem Text Tiergarten (1911) zu beobachten, in dem Walser die impressive, empfängliche Gestimmtheit betont mit Vokabeln des Sanften und Zarten und diese mit Femininität qua Mütterlichkeit, Fürsorglichkeit und zarter Erotik verbindet, freilich um den Preis, dass die dort beobachteten Frauen jeweils jäh hervorbrechen, je fragmentiert als Hut, Bluse und Schoß.22

19 Zit. nach Die Zeit vom 12.03.1993, S. 54. 20 Fritzsche, Georg: Feuilleton und Kulturpolitik. Politische Führung durch das Feuilleton unter besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1918 bis 1933. Dissertation, Leipzig 1938, S. 71f. 21 Vgl. dazu Utz, Peter: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. 22 Vgl. Walser, Robert: »Tiergarten« (1911), in: R. W., Das Gesamtwerk in 12 Bänden, Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 306-309.

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Eins der Probleme beim Versuch eines systematisierenden Umgangs mit dem Feuilleton als Form ist zweifellos, dass es ein formales Chamäleon ist, sich nämlich ebenso als Brief wie als Dialog und Dramolett, Reisebericht, Rede oder Rezension camouflieren kann. Zudem sind bei den bekanntesten der Feuilletonistinnen und Feuilletonisten die Grenzen zwischen Feuilleton, Essay, Kritik und Reportage immer wieder fließend. Schließlich stehen ›unterm Strich‹ jene Texte, die wir am ehesten als genuine Feuilletons apostrophieren, in Kontexten von und im Verbund mit nichtfeuilletonistischen Nachrichten, Notizen, Kritiken, Glossen, Berichten, Reportagen oder Essays. Und zu guter Letzt: Sie stehen nicht immer unter dem Strich, sei es, dass einige Zeitungen den Strich aufgeben, sei es, dass Magazine oder Illustrierte feuilletonistische Texte aufnehmen, sei es schließlich, dass bisherige Feuilletonelemente in Rubriken oder Beilagen einwandern, die sich in den zwanziger Jahren auszudifferenzieren beginnen, Beilagen zur Wochenendunterhaltung, zu Sport, Mode, Film, Technik, Reisen, Haus und Garten. Am ehesten und leichtesten wird man daher das Feuilletonistische an den Feuilletons herauspräparieren können. Nimmt man das von Robert Walser so genial praktizierte wie ironisierte Konzept der Plauderei zum Ausgangspunkt, dann gehören dazu Nichtigkeit und Beliebigkeit der Anlässe, Leichtigkeit in der Auffassung, die Geistesgegenwart, Witz und Aperçuhaftigkeit ebenso wie Humor, Ironie und Selbstironie. Ein hohes Maß an situativer Beobachtung und Selbstbeobachtung, Reflexivität und vor allem Selbstreflexivität. Dazu gehören aber auch Digressionen, also Abschweifung und Sprunghaftigkeit, die Verbindung von vermeintlich oder tatsächlich Entferntliegendem ebenso wie eine spielerische ›Umwertung der Werte‹: Hohes, Emphatisiertes, Pathetisches wird verkleinert oder banalisiert, wie umgekehrt Abseitiges, Nebensächliches, Übersehenes aufgehoben und aufgewertet werden. Mit Letzterem korrespondiert zugleich die Selbstpositionierung des Feuilletons als Kleiner Form – nämlich als Absetzung von den großen Formen (Roman oder Drama) wie in seiner ephemeren Tagesgebundenheit im Gegensatz zu der in jener intendierten Dauer. Von hierher bestimmt es seine Intention und Legitimation, sowohl im Kontext des Mediums wie von Autorschaft, nämlich durch den Unterhaltungscharakter – gefasst sowohl als Unterhaltsamkeit für den Leser als auch in fingierter Unterhaltung mit dem Leser, der Leserin. Dabei nun – und das ist das Anspruchsvolle in der vermeintlichen Unscheinbarkeit – soll zumindest im Selbstverständnis der bedeutenderen Figuren des Feuilletons, nennen wir nur Victor Auburtin, Peter Altenberg oder Alfred Polgar, aber eben auch Robert Walser, die Unterhaltung nicht Selbstzweck sein, sondern Lebens- als Alltagshilfe, kurz, das, was in ursprünglicher Bedeutung Diätetik meinte. (Wobei zumindest bei Altenberg Diätetik im heutigen engeren Sinne durchaus dazugehört.)

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Was das Feuilleton derart zu leisten vermag, wurde dann gern lebensweltlich legitimiert, wenn etwa Wilmont Haacke lobend über Victor Auburtin schrieb, »ihm blieb [zwar] nur die kleine Welt«, aber: »Er wurde nicht müde, der Welt nachzuspüren«23. Zugleich sucht man immer wieder nach Metaphern, die das Kleine, das Ephemere wie Temporäre, zusammenbringen sollen mit der momentanen Perfektion und Vollendung – so in den geläufigen Titulierungen als ›Seifenblasen‹ oder ›Schneeflocken‹. Eine besonders prägnante Formulierung des feuilletonistischen Anspruchs stammt ausgerechnet von einem Nazipropagandisten par excellence. Die Fähigkeit des Feuilletons sei es, schrieb Wilfrid Bade, »in einem Tautropfen den ganzen Kosmos«24 abzuspiegeln. Dass diese Formel 1943 dann in eine offizielle Presseanweisung übernommen wurde,25 schließt wiederum den Kreis zur Funktion unterhaltender Ablenkung von den politischen Ereignissen. Aus der beanspruchten Kombination von Marginalität und Miniatur mit eigentlicher Größe und tieferer Bedeutung her rührt nicht zuletzt, was man als feuilletonistische Arroganz der Bescheidenheit bezeichnen könnte. So ist kaum verwunderlich, dass der vermeintlich unanfechtbare Ironiker Alfred Polgar bitterböse wurde, weil man kränkenderweise das Understatement des Titels einer seiner Feuilletonsammlungen, An den Rand geschrieben, in den zeitgenössischen Rezensionen oder Glossen dazu ernst und Buch wie Inhalt als Marginalie genommen hatte. Wie ambivalent es um das Selbstbewusstsein der für die Tagesunterhaltung Schreibenden tatsächlich bestellt war, indizieren nicht nur die angestrengten Versuche der Feuilletonistinnen und Feuilletonisten, ihre kleinen Texte im Buch zu sammeln und damit über den Tag und möglichst auch noch über die Saison zu retten, sondern auch die auffälligen Selbstthematisierungen der Zuschreibungen, Konditionen und Eigenheiten ihres Schreibens – eben in Gestalt von Feuilletons. Derart wird Selbstreferentialität und Selbsterklärung Teil einer fortlaufenden, immanenten Rechtfertigungspoetologie, in der es zum einen immer wieder um die Positionierungen gegenüber Roman- oder Lyrikautorinnen und -autoren geht wie 23 Haacke, Wilmont: »Victor Auburtin und ›Die kleine Form‹«, in: Victor Auburtin: Einer bläst die Hirtenflöte. Ausgewählte Feuilletons, hg. v. W. H., Berlin: Hugo 1940, S. 201212, hier S. 205f. 24 Vgl. Bade, Wilfrid: »Vom deutschen Feuilleton«, in: Wilmont Haacke (Hg.), Die Luftschaukel. Stelldichein kleiner Prosa, Berlin: Frundsberg 1939, S. 451-458, hier S. 457. Vgl. auch diesen Topos in den Vor- und Nachworten der verschiedenen von ihm herausgegebenen Anthologien. 25 So im Artikel »Bücher« in: Deutscher Wochendienst, Nummer 8657, 205./74. Ausgabe vom 09.04.1943, S. 13f.

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um Positionierungen im Presseumfeld zwischen Politik und Inseraten, Kommentar und ›Fait divers‹, und um Positionierungen im Alltag der Leserinnen und Leser – zwischen Unterhaltung und Nachdenklichkeit. Kurz, es geht um Unterhaltsamkeit und Flüchtigkeit gegen Bedeutsamkeit und Gelehrsamkeit, um Kürze und ›Leichtigkeit‹ vs. Länge und ›Schwere‹, um ›Weiblichkeit‹ oder ›Kindischkeit‹ gegen ›Mannhaftigkeit‹ und ›Reife‹, um ›Mache‹ statt Gewordensein, Virtuosität statt genialem Ringen. Schließlich um das Schreiben für Geld und auf Bestellung, darum also, ob ›unter dem Strich‹ nicht so viel wie anderweitig ›auf dem Strich‹ sei. Von hierher soll nun das Feuilleton als Kleine Form in einigen seiner objektiven Konfigurationen erinnert werden. Deren Grundlage ist allemal Konkurrenz, nämlich Konkurrenz der Autorinnen und Autoren, Konkurrenz der Medien und Verlage wie innerhalb des Mediums – zum einen als Konkurrenz jener von ›über dem Strich‹ mit denen ›unter dem Strich‹, zum anderen die Konkurrenz mit anderen Genres ›unter dem Strich‹. Kommen wir zunächst zur Konkurrenz auf Autorenseite. Man muss nur einmal sich die bekanntesten Feuilletonistinnen und Feuilletonisten der Weimarer Republik in Erinnerung zu rufen versuchen. Dann wird man in einen Aufzählrausch kommen, der ganz schnell über Victor Auburtin, Alfred Kerr, Alfred Polgar, Joseph Roth, Gabriele Tergit oder Kurt Tucholsky hinausführt. Meine eher spontane und sehr unvollständige Liste von Autoren und einigen Autorinnen, die mehr oder weniger regelmäßig Feuilletons lieferten, kam schnell auf ca. 150 Namen, darunter allerdings nur vier oder fünf von Frauen. Was resultiert daraus? Einerseits einmal mehr das Bild einer lebendigen Vielfalt, andererseits aber auch eine Illustration des Zwangs zur Konkurrenz. Und das ist nicht nur die Konkurrenz der professionellen oder professionell zu werden versuchenden Autoren, sondern auch die mit Gelegenheitsautorinnen, Laien und Dilettanten. Wohl nur bei der Lyrik war der Drang von Laienautorinnen und -autoren zur Publikation noch größer als beim Feuilleton. Nicht nur diese freilich ahmten die Etablierten und Erfolgreichen nach oder kupferten sie schlicht ab, sondern diese beobachteten sich durchaus auch untereinander, um sich inspirieren zu lassen. Unter dem Druck von Anschlussaufträgen und Kontinuitätssicherung schlug der Zwang zur Originalität nicht selten in den zur geschickten Nachahmung um. Ein starkes Indiz hierfür ist der Umstand, dass mit der Vervielfachung der Medieneinheiten und -formate seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert permanent Plagiatsnachweise, mehr aber noch -vorwürfe und -verdächtigungen einhergingen. Ein Beispiel dazu sei herausgegriffen, weil es zugleich auf das Konkurrenzverhältnis von über und unter dem Strich zielt.

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Der nachmalige Tübinger Groß-Philosoph und damalige fleißige Gelegenheitsfeuilletonist Ernst Bloch hatte sich 1929 in der Weltbühne über eine Weihnachtsbücherschau des Berliner Tageblatt mokiert.26 Daraufhin hatte man ihm dort nachgesagt, als Plagiator bekannt zu sein.27 Als man Blochs Antwort nicht abdruckte, brachte sie Carl von Ossietzky und ergriff Blochs Partei.28 Daraufhin kartete das Berliner Tageblatt nach,29 worauf wiederum sowohl die Weltbühne antwortete30 als auch die Frankfurter Zeitung Stellung zugunsten ihres Mitarbeiters Bloch bezog.31 Hintergrund dazu war: Ernst Bloch hatte 1925 im Berliner Tageblatt einen Text mit dem Titel Ohrfeige und Gelächter32 veröffentlicht. Darin hatte er ganz augenscheinlich die Grundkonstellation eines Textes von Theodor Fanta übernommen, der unter dem Pseudonym Bohdan kurz zuvor im Berliner Börsen-Courier erschienen war.33 Fanta hatte darin in Ich-Form das Erlebnis eines Clowns dargestellt, der durch einen Sturz in der Manege sein Gedächtnis verloren hatte, es durch eine Ohrfeige seines Partners wiedergewann und für die Szene ausgiebig Gelächter und Applaus erhielt. Bei Bloch ist die Geschichte stärker ausgeschmückt und in der für ihn üblichen Vollmundigkeit instrumentiert, endend mit einer philosophisch-theologischen ›Moral von der Geschicht’‹, »daß es vor Gott diese Titel [Clown oder Schulrat] nicht gibt, daß sie nicht als solche schon dauernd

26 Vgl. Bloch, Ernst: »Bücherschau einer großen berliner Zeitung«, in: Die Weltbühne 25 (1929), S. 854-856. – Vgl. dazu den Hinweis von Nickel, Gunther: [Rez. zu Almut Todorow: Das Feuilleton der ›Frankfurter Zeitung‹ u.a.], in: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik, Band 3 (1997), S. 275-285, hier bes. S. 277f. 27 »Plagiator Ernst Bloch«, in: Berliner Tageblatt vom 06.12.1929, Abendblatt. 28 Vgl. C. v. O. [d.i. Ossietzky, Carl von]: Plagiatsgeschrei, in: Die Weltbühne 26 (1930), S. 180-182; vgl. auch Ossietzky, Carl von: Sämtliche Schriften, Band 5 (1929 – 30), Reinbek b.H.: Rowohlt 1994, S. 290-292 und 646-648. 29 Vgl. F. E. [d.i. Engel, Fritz]: »Konfrontierung«, in: Berliner Tageblatt vom 05.02.1930, Abendausgabe. 30 Vgl. »Antworten«, in: Die Weltbühne 26 (1930), S. 262. 31 Vgl. D. Red.: »Plagiats-Psychose«, in: Frankfurter Zeitung vom 12.02.1930, Morgenausgabe, Literaturblatt. 32 Bloch, Ernst: »Ohrfeige und Gelächter«, in: Berliner Tageblatt vom 29.09.1925, Abendausgabe. 33 Vgl. Bohdan [d.i. Fanta, Theodor]: »Excentrik«, in: Berliner Börsen-Courier vom 12.09.1925, S. 6.

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wesentlich, also ›erinnert‹ sind«34. Außer man ist bedingungsloser Bloch-Anhänger, wird man zumindest darüber streiten können, ob die Bloch’sche Version tatsächlich eine philosophische Vertiefung darstellt oder nicht vielmehr mit der bevormundenden Penetranz ihrer Erklärung eben jener Sphäre angehört, in der »keine Begebenheit uns mehr erreicht, die nicht schon mit Erklärungen durchsetzt« ist, in der nicht »jeder Reporter […] im Handumdrehen erklären würde«, wie das Walter Benjamin wenig später kritisiert hat.35 Was den Plagiatsvorwurf angeht, wird man angesichts der zeitlichen und medialen Nähe der beiden Texte Blochs Einlassung glauben können: »Wäre ich selbst ein Plagiator, so dumm wäre ich doch nicht.«36 Vor allem aber ist das wohl eher ein Zeugnis für das, was Walter Benjamin später bitter die »übertriebene[n] Ansprüche« Blochs genannt hat,37 nämlich sein berstendes Besserwissen.38 Das war zudem tatsächlich wohl kein, wie Bloch selbstgefällig schrieb, »Fällchen Dreyfus«39, aber es ist stattdessen ein prägnantes Beispiel für das Verhältnis der Teile überm und unterm Strich, in dem das über dem Strich Geschriebene mehr oder weniger nur Material-Status für den – sich als reflexiv verstehenden – Teil unterm Strich hatte. Denn so erklärt es Bloch: »Der Bericht […] stand nicht unter, sondern über dem Strich des Börsencouriers. Unmittelbar auf ihn folgten zwei Gerichtsberichte. Nicht nur ich habe danach ›Exzentrik‹[!] für eine Lokal-Reportage gehalten, in Interview-Form eingekleidet, für die Wiedergabe eines wirklich geschehenen Vorfalls«. Als Beispiel für einen »längst veröffentlichten Satz meiner Philosophie« wurde »der ganze Rohstoff verwandelt«.40 Ähnlich hat er sich auch gegenüber Siegfried Kracauer geäußert: »[I]ch hielt den […] Bericht […] für das Eingesandt eines Augenzeugen von einem Vorfall im damals gastierenden Zirkus Sarrasani. Der Rohstoff erregte 34 Eine vor allem im Schluss stark veränderte Version findet sich unter dem Titel »Ein Inkognito vor sich selber«, in: Bloch, Ernst: Spuren, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 119-121. 35 Vgl. Benjamin, Walter: »Kunst zu erzählen«, in: W. B., Gesammelte Schriften, Band 5.1., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 436-438, hier S. 436 und 438. 36 Bloch, Ernst: »Brief an Siegfried Kracauer, Wien, v. 11. 12. 1929«, in: E. B., Briefe 1903–1975, Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 322-328, hier S. 326. 37 Vgl. Benjamin, Walter: »Brief an Alfred Cohn, San Remo, 6. 2. 1935«, in: W. B., Briefe, Band 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966, S. 645-649, hier S. 649. 38 Dazu in Differenz zu Benjamin der Gestus im Text Schweigen und Spiegel, der auf derselben Herodot-Anekdote beruht wie Benjamins Kunst zu erzählen! Vgl. Bloch, Ernst: »Schweigen und Spiegel«, in: E. Bloch: Spuren, S. 108-110. Vgl. auch, ebenfalls in Differenz zu Benjamin, »Potemkins Unterschrift«, in: E. Bloch: Spuren, S. 118f. 39 Bloch, Ernst: Brief an Siegfried Kracauer, S. 325. 40 Zit. nach D. Red.: Plagiats-Psychose.

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ein Zentrum meiner Philosophie«41. Mit anderen Worten: Weil Bloch in demonstrativer oder sträflicher medialer Naivität an den Strich als absolute Differenzmarkierung zwischen Feuilleton und Informationsteil der Zeitung geglaubt haben will, als wäre zu dieser Zeit der Strich nicht längst in beiden Richtungen überschritten worden, machte er aus dem, was er für pure Realitätsbeschreibung hielt, ein philosophisches Denkstück. Bloch selbst hatte freilich andernorts den Kommerz zwischen oberem und unterem Teil durchaus gesehen, in der beliebten Form der Feuilletonfunktionskritik: »[S]o sieht man den müden Mann, der vom Geschäft nach Hause kommt, nur noch die gähnende Zeitung liest. Groß gedruckt das Leben, das er hat, geplaudert ein anderes, das ihn zerstreut und nichts angeht. Aber freilich tun die Männer, welche das Leben unterm Strich der Zeitung schneidend und schreibend spiegeln, erst recht das ihre hinzu, Spaß daraus zu machen, windig und wendig. Teils scheinen sie zu nichts anderem nütze als zum Schönschreiben oder Durchsehen von vielerlei, das sie nicht kennen.«42

Teils liefern sie »Unterhaltung über Vorgänge, die den Geschäftsmann nicht wirklich alterieren, die vor allem möglichst harmlos oder ›bunt‹ dargestellt werden. Hier stehen die gesprochenen Bilderchen unverbunden nebeneinander, ja, noch das Belehrende hat unterhaltsam zu sein. […] [Ü]berall Kunst der Umgehung, Unlust zur Sache«43 – mit Ausnahme natürlich der Blätter, für die er schreibt. Von dieser feuilletonistischen Selbstkritik als Wirkungslosigkeits- und Affirmationskritik her könnte man nun das Selbstverständnis von Autoren wie Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer und – zumindest gelegentlich – Theodor W. Adorno, sowie überhaupt den Typus des ›Denkbilds‹ weiter verfolgen. Indes will ich auf einen anderen, teils harmloseren, teils aber auch subversiveren Aspekt des Verhältnisses der Texte unterm Strich zu denen im Teil darüber hinlenken. Dies am Beispiel von Robert Walser zumindest kurz skizzieren.44

41 E. Bloch: Brief an Siegfried Kracauer, S. 325. 42 Vgl. Bloch, Ernst: »Unter dem Strich«, in: E. B., Gesamtausgabe, Band 4: Erbschaft dieser Zeit. Erw. Ausg., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 36f. 43 Ebd. 44 Hierbei folge ich Sabine Eickenrodt: [Rez. zu Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte, hg. von Wolfram Groddeck/Barbara von Reibnitz, Band III.1: Drucke im Berliner Tageblatt, hg. von Hans-Joachim Heerde, Band III.3.: Drucke in der Neuen Zürcher Zeitung, hg. von B. v. R./Matthias Sprünglin, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Schwabe 2013], in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 24 (3/2014), S. 646-649.

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Am 29. November 1914 veröffentlichte die Neue Zürcher Zeitung den ersten ihrer noch vielen Texte von Robert Walser. Unter dem Titel Denke daran erinnerte er schwelgerisch an die Schönheiten des Frühjahrs, um am Ende zum Totengedenken überzuleiten: »Denke daran, dass es Seligkeiten gibt, und dass es Gräber gibt«. Man wird, wenn man diesen Text in den gesammelten Werken liest, ihn als Memento im Toten- und Trauermonat November lesen, im zeitgenössischen Kontext aber hatte er noch eine andere Dimension. Sieht man sich nämlich die Originalseite an – oder das Schema in der Kritischen Ausgabe –, dann stand dieser Text im Kontext u.a. eines Berichts von Kriegsschauplätzen und einem über die schweizerische Bereitstellung (»Pikettstellung«) von Transportmitteln für den Ernstfall. So verhält er sich als – von der Redaktion gesetzte – Kommentierung zu den politischen Ereignissen seiner Zeit.45 Oder nehmen wir den letzten seiner Texte, die im Berliner Tageblatt veröffentlicht wurden: Der Wald steht am 5. Juli 1933 zwischen einem Vortragsreferat zu Ludwig Klages’ Lehre von den Temperamenten, dem Bericht von einem italienischen Flugbootrekordversuch und einem von der Ernennung Fritz Todts zum Generalinspekteur des Straßenwesens.46 Dass der Feldherr der Autobahnen diese besonders gerne durch den Wald führte, konnten freilich da weder Walser noch die Redakteure wissen. Es gibt noch prägnantere Beispiele, auf die Sabine Eickenrodt aufmerksam gemacht hat. Walsers Text in der NZZ vom 5. September 1915, Beim Militär überschrieben, räsoniert, dass beim Militär manches »riesig nett« sei, z. B. »mit Musik durch friedliche, freundliche Dörfer [zu] marschieren«, um dann über den Widerspruch zu sinnieren, dass das feuilletonistische Ich Militär und Frieden gleichermaßen hübsch finde. Nahezu absurd wird der Text in sich, wenn – die realen Militärkosten im Sinn – darin beklagt wird, welch »Schreckens- und Sündengeld« von den Soldaten fürs Rauchen ausgegeben werde.47 Überm Strich findet man dazu die obligate Berichterstattung von europäischen Kriegsschauplätzen und einen anonymen Artikel eines Deutschen über mögliche Friedensbedingungen, Titel: Deutsche Kriegsziele. Ähnlich zehn Jahre später im Berliner Tageblatt. Im Beitrag Tagebuchblatt sinniert Walser wieder über Krieg und Frieden, Rüstung und Finanzierung, empört sich, dass in einem »kleinen europäischen Land jährlich achtzig Millionen für Militärzwecke verausgabt werden«, unschwer die Schweiz

45 Vgl. Walser, Robert: »Denke daran«, in: R. W., Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte III.3, S. 7f. [dazugehöriges Schema auf S. 6]. 46 Vgl. Walser, Robert: »Der Wald« in: R. W., Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte III.1, S.311f. [dazugehöriges Schema auf S. 310]. 47 Vgl. Walser, Robert: »Beim Militär«, in: NZZ vom 05.09.1915.

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zu erkennen, um zu finden, »daß Staaten anfangen sollten, mehr Vertrauen zu bekunden«48. Überm Strich finden sich u. a. Berichte von der französischen Kabinettskrise und zum damaligen griechisch-bulgarischen Konflikt. Gerade hieran kann man eine nicht unwesentliche Funktion des Feuilletons erkennen, nämlich im rückkoppelnd kommentierenden Wechselverhältnis zu den politischen und wirtschaftlichen Ereignissen überm Strich zu stehen. Zwar erscheint, wenn denn das Feuilleton erscheint, dies im jeweiligen Kontext als Kompositions- oder Regieleistung der Redaktion, aber gerade Walser ist ja jemand gewesen, der obsessiv auf Zeitungslektüre fixiert war. Und so auch im hier zuletzt genannten Beispiel, das im Grunde nicht viel mehr als eine Revue diverser Leseeindrücke der letzten Tage ist. Sicher: Nicht alle Autorinnen und Autoren denken so zeitungsfixiert, ja, zeitungsförmig, wie Walser und bei weitem nicht alle Feuilletonbeiträge lassen eine solche kompositorische Beziehung erkennen, gleichwohl wird auch dort, wo die Kopplung eher lose ist, grundsätzlich deutlich, dass das Feuilleton im Tagesgeschäft eine Entschleunigung des Tagesgeschehens darstellt, sei es durch Brechung oder Ablenkung, sei es durch Kommentierung oder Kontrast. Ganz so symbiotisch freilich, wie das hier scheinen mag, war denn die Beziehung von Feuilletonautorinnen und -autoren mit den Redaktionen keineswegs. Gerade an Walser könnte man weitergehend verfolgen, wie sehr er abhängig war von Sympathien oder Antipathien in den Redaktionen, freilich auch umgekehrt – wo solche Zeugnisse denn erhalten geblieben sind – stellte er diese durch seine ständigen Einlassungen, Wünsche und Anwürfe auf eine harte Probe. Überhaupt muss man sich das Feuilletongeschäft in der Konkurrenz der Zeitungen, Illustrierten und Magazine als wenig idyllisch vorstellen. Texte blieben liegen oder wurden zurückgegeben, vor allem aber: nach dem jeweiligen Gusto und der Platzlage verändert, gekürzt oder gar umgeschrieben. Einmal ganz abgesehen davon, dass insbesondere die Provinzpresse wenig auf das Urheberrecht gab und oft einfach aus der überregionalen Qualitätspresse abschrieb und nicht selten dabei ummodelte. (Dass z. B. das Berliner Tageblatt über die Artikel die Zeile einzurücken pflegte: »Nachdruck verboten«, machte meist keinen großen Eindruck.) Das erschwert nicht nur bis heute der Feuilletonforschung die Arbeit, insbesondre wenn es um den Nachweis aller Abdrucke geht, das erschwert nicht nur öfters dort, wo – wie es die Regel ist – Manuskripte nicht mehr vorhanden sind, den originalen Text zu bestimmen, sondern brachte die Autorinnen und Autoren damals immer wieder um ihre Honorare.

48 Walser, Robert: »Tagebuchblatt«, in: Berliner Tageblatt vom 28.10.1925.

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Oft sind solche Veränderungen allerdings auch nicht eindeutig zuzuweisen, zumal, wenn eben entsprechende Korrespondenzen von Autor, Autorin und Redaktion fehlen. Nehmen wir ein recht harmloses Beispiel. Alfred Polgars nachmals in seiner Sammlung Orchester von oben, aber auch danach immer wieder abgedrucktes Feuilleton Girls war am 11. April 1926 im Prager Tageblatt erschienen, praktisch zeitgleich in der illustrierten Frauenzeitschrift Die Dame. Bedenkt man die längeren redaktionellen Laufzeiten dort, könnte es sich um den ursprünglichen Text handeln. Aber ebenso ist denkbar, dass Polgar selbst zwei Versionen lieferte. Polgar mokiert sich in dem Text über das Kollektivistische der Girls-Revuen und zugleich über die Verdinglichung der jungen Frauen darin. Die Divergenzen der Texte betreffen zunächst Marginales. Heißt es im Prager Tageblatt: »Girls sind ein sogenanntes ›plurale tantum‹. Das heißt, der Begriff erscheint sprachlich nur in der Mehrzahlform. Ein Girl gibt es nicht, so wenig, wie etwa einen Pfeffer«, so ist der »Pfeffer« in der Dame durch »ein Paprika« ersetzt. Dort wird der nachfolgende Satz: »Zumindest in der Beziehung zur Bühne kann man nicht von einem Girl sprechen (hingegen kann man das ohne weiteres in der Beziehung zum Direktor)« gegenüber der Zeitung noch um den Regisseur erweitert. In zwei Elementen weichen die Texte allerdings deutlicher voneinander ab. Eine längere Passage, in der Polgar das Militärische, ja Militaristische der Revuen aufs Korn nimmt – nicht ohne Anspielung auf den amerikanischen Eingriff in den 1. Weltkrieg –, fehlt in der Dame. Ebenso fehlt der gesamte letzte Absatz: »Gespenstisch an den Girls ist, daß sie auch Gesichter haben. Das menschliche Antlitz als Zugabe, als eigentlich sinnloser Annex von Büste, Bauch und Beinen… das ist ein wenig unheimlich. Darum lächeln tüchtige Girls auch ohne Unterlaß, um, den empfindsamen Zuschauer tröstend, anzudeuten, daß ihre Physiognomien sich über die Nebenrolle, die ihnen zugewiesen ist, nicht kränken.«49 Stattdessen findet sich dort abschließend der Satz: »Die braven Mädchen lassen gewissermaßen das Gesicht von der Maske fallen.« Im Übrigen bietet die Dame einen ironisch-kontrastiven Bildkommentar. Denn auf dem beigefügten Foto wirft ausgerechnet ein einzelnes Girl sein rechtes Bein in die Luft. Schließlich noch ein Blick auf eine weitere Konkurrenz, nämlich der zwischen den zeitungsnahen Genres. Neben dem allfälligen internen Hierarchiestreit von Nachrichtenjournalismus und politischem Kommentar mit der Kulturberichterstattung und dem Feuilleton sind es zwei Richtungen, aus denen das Feuilleton seine hierarchische Zurücksetzung erfährt: Essay und Reportage. Der Essay, zumal in seiner alsbald dominierenden kulturkonservativen Variante, galt zwar vor allem in der Wissenschaft ein wenig als gelehrte Frivolität, 49 Polgar, Alfred: »Girl«, in: Prager Tageblatt vom 11.04.1926.

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zugleich aber auch als die Königsdisziplin der Öffentlichkeitswirkung. Umso stärker war man darauf bedacht, den anspruchsvollen Essay gegen das vermeintlich leichtgewichtigere Feuilleton abzugrenzen. Dabei waren und sind die beiden Formen sich wesentlich näher als die Vertreterinnen und Vertreter der Essayistik (und mit ihnen jene der Literaturwissenschaft) wahrhaben wollten. Zwar gibt es dominante Unterschiede im Umfang und im üblichen Publikationsort, das Feuilleton kurz und in der Zeitung, der Essay länger und in der Zeitschrift, aber auch darin sind die Übergänge so fließend wie die charakteristischen Eigenheiten ähnlich: ihre starke Rhetorizität wie metaphorische Kreativität, ihre Prozesshaftigkeit und gedankliche Offenheit, ihre immanente Tendenz zur Abschweifung wie ihre Orientierung auf starke Pointen. Und zumindest der Essay, der sich nicht auf Bacon, sondern auf Montaigne beruft, teilt mit dem Feuilleton seine pragmatisch-alltagsweltliche Orientierung. Zeitgenössisch hat das der Germanist Richard M. Meyer in seiner Deutschen Stilistik 1913 zumindest in den Blick genommen, wenn er eine Grenze zwischen Feuilleton und »buchmäßige[m]« Essay zieht, aber diese Grenze zwischen »ernsteren Feuilletonisten wie Ferd.[inand] Kürnberger, und leichteren Essayisten wie zuweilen selbst H.[ermann] Grimm« uneindeutig werden lässt.50 In der fachlichen Rezeption wurde freilich die Dichotomisierung von Essay und Feuilleton fortgeschrieben, insbesondere dort, wo es um die Ikonen Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer ging, deren kleine Texte wenn irgend möglich dem Essay zugerechnet wurden oder als ›Denkbild‹ aus dem feuilletonistischen Kontext herausgenommen wurden. Erst jüngst hat Georg Stanitzek eine systematischere Subversion der Formkanonisierungen und Wertfestschreibungen des Essays unternommen, indem er etwa Figuren wie Max Goldt zu genuinen Erben des Essays erklärte.51 Jedenfalls wäre von hierher das Verhältnis von buch- respektive zeitschriftengestütztem Essay und zeitungsbasiertem Feuilleton nicht als qualitative Differenz, sondern differenzierter als Funktions- wie Formatübergänge in den Blick zu nehmen. Auf der anderen Seite geriet das Feuilleton in Konkurrenz mit der Reportage. Diese, zunächst in der Hierarchie der Zeitungsgenres ganz unten angesiedelt, beginnt – vorbereitet in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – in dessen Zwanzigerjahren eine steile Karriere in der öffentlichen Wertschätzung. Reportageliteratur nimmt es nicht nur mit dem konventionellen Roman auf, sondern eben auch mit dem Feuilleton. Dabei ist eine Pointe, dass die namhaftesten Reportageautoren aus dem Feuilleton übergelaufen waren – unter Mitnahme von dessen Tricks und Techniken.

50 Vgl. Meyer, Richard M.: Deutsche Stilistik, München: Beck 1913, S. 208. 51 Vgl. Stanitzek, Georg: Essay – BRD, Berlin: Vorwerk 8 2011.

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Die Reportage- oder Tatsachenliteratur wurde propagiert als Männliche Literatur52, so etwa die einschlägige Polemik von Kurth Pinthus 1929. Diese Polemik zielte gegen die Literatur poetisch-georgianischer »Epheben«, die – von Pinthus in der Anthologie Menschheitsdämmerung zuvor noch gefeierte – Jünglingsliteratur der »expressionistischen Dichtung« und eben gegen das ›weibische‹ Feuilleton, zielte emphatisch auf den ›soldatischen Mann‹ und forderte Texte, »unpathetisch, unsentimental, schmucklos und knapp«53. Zugleich markierte das den bis heute gültigen Umstand, dass es überwiegend Männer sind, die Sachliteratur lesen. Das konturierte mithin jenen Aspekt, den ex post Mopsa Sternheim 1950 als »Virilismus« bezeichnete und worunter sie »alles von Prometheus bis Nietzsche, von Nazismus über Hemmingway [sic!] und die amerik. Gangsterromantik bis zum Blubo« fasste und anfügte, dass auch Gottfried Benn, Sartre und Arthur Koestler »Virilismus« seien.54 Es ist das, was zeitgenössisch Hermann Broch an Reportageliteratur und dem von ihm so genannten ›rationalen Roman‹, namentlich an Irmgard Keun, Heinrich Hauser, Ernest Hemingway, Erik Reger und auch Robert Musil kritisiert hatte, jene »verkitschte[] Sieghaftigkeit« im Verein mit einer »einseitige[n] Präferenz des Rationalen«, die sich selbst rational nicht begründen kann.55 Diese Nachkriegsorientierung auf die ›kalten Fakten‹ und ›harten Tatsachen‹ der ›Wirklichkeit‹ hatte auch das Feuilleton damals insgesamt verändert. Am programmatischsten wohl in der Frankfurter Zeitung. Und dies keineswegs nur auf die Person von Siegfried Kracauer beschränkt. Als der Leiter des Unterhaltungsblattes der Vossischen Zeitung, Monty Jacobs, 1929 in einem vielbeachteten Vortrag gesagt hatte, das Feuilleton müsse einen unterhaltsamen »Ausgleich gegen den schweren Inhalt der Zeitung« im Politischen bieten, hatte dem Erik Graf Wickenburg kategorisch widersprochen: Das Feuilleton sei vielmehr dazu da, »Berichte von der Wirklichkeit«56 zu liefern. Wickenburg berief sich dabei auf seinen Kollegen Benno Reifenberg, der statuiert hatte, dass das Feuilleton »den Raum« anzeige, in dem überhaupt Politik gemacht werden könne. »Das Feuilleton ist der fortlaufende Kommentar zur Politik«.57 Dies freilich war anders gemeint als das, was wir am Beispiel von Robert Walser kennengelernt haben. Gemeint 52 Pinthus, Kurt: »Männliche Literatur«, in: Das Tagebuch 10 (1929), Heft 1, S. 903-911. 53 Ebd. 54 Vgl. Sternheim, Mopsa: »Tagebuch vom 16.3.1950«, zit. nach Gottfried Benn/Thea Sternheim: Briefwechsel und Aufzeichnungen, Göttingen: Wallstein 2005, S. 164, vgl. auch S. 214 und 346. 55 Vgl. Broch, Hermann: »Das Weltbild des Romans« [1933], in: H. B., Dichten und Erkennen. Essays, Zürich: Rhein-Verlag 1955, S. 211-238, hier S. 224f. und 233. 56 Wickenburg, Erik: »Das Feuilleton«, in: Frankfurter Zeitung vom 08.07.1929. 57 Reifenberg, Benno: »Gewissenhaft«, in: Frankfurter Zeitung vom 01.07.1929.

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war eine grundsätzliche kritische Intervention gegen Missstände der sozialen Wirklichkeit. Vorbildlich dafür galten in der Frankfurter Zeitung Siegfried Kracauer und Joseph Roth. Dabei gibt es bis heute keine literaturwissenschaftliche Untersuchung darüber, wo bei Roths Textaufkommen das Feuilleton enden würde und die Reportage anfinge, zumal er in seinen behaupteten Reportagen kaum weniger kreativ mit den vermeintlichen Fakten der Wirklichkeit umging, als es dem Feuilleton erlaubt war. Es sind ja nicht zufällig die beiden signifikantesten Vertreter der Reportageliteratur zur Zeit der Weimarer Republik, Joseph Roth und Egon Erwin Kisch, die über das Feuilleton wie über die Feuilletonverächter gleichermaßen spöttelten.58 Indes war ihr zeitgenössischer Ruhm als Reporter gar nicht denkbar ohne ihre mehr (Roth) oder weniger (Kisch) virtuose Überführung feuilletonistischer Mittel und Verfahren in die Reportage. Paradoxaler Weise verdankt sich insbesondere Kischs Ruhm als Faktendokumentarist gerade seinen feuilletonistisch instrumentierten Wortspielereien, Metaphorisierungen, aber auch Digressionen und Formanverwandlungen von etwa Märchen, Legende, Dramolett oder Brief – und eben einer phantasievollen Übersteigerung der vermeintlichen Fakten oder gleich schieren Erfindung seiner ›Tatsachen‹. Zugespitzt könnte man sagen, dass, was dem Feuilleton gegenüber dem Essay an Nobilitierung nicht gelang, hier durch die Camouflage als Reportage – zumindest für annähernd zwei Jahrzehnte – glückte. Interessant wäre daher, von hier aus nicht nur die feuilletonistische Grundausstattung der Reportageliteratur – auch über Kisch und Roth hinaus – zu untersuchen, sondern systematischer zu verfolgen, wie das Feuilleton insgesamt sich dokumentaristischer machte. So könnte man Siegfried Kracauers harsche Abgrenzung gegenüber der Reportage in seinem Angestellten-Buch auch einmal in diesem Licht sehen… Was bleibt nun zu bilanzieren? Ich verstecke mich da hinter dem Wiener Hermann Bahr, der 1890 auf dem Umweg über Paris den Berlinerinnen und Berlinern das Feuilleton so zu erklären versucht hatte: »So ein richtiges Feuilleton ist […] eine ganz merkwürdige und sehr verzwickte Geschichte; und wirklich ein Glück muß man es schon deswegen nennen, daß wir es in Deutschland nicht haben, weil unsere ästhetischen Systematiker sonst wahrhaftig am Ende den letzten Verstand verlören. Eigentlich, genau genommen, ist es gar nichts: aller Gehalt der Wirklichkeit, die etwa irgendwo außer dem Menschen sich Geltung einbildet, wird von ihm schnöde verschmäht und mit Übermuth behandelt. Und es ist dabei doch wieder, noch eigentlicher und noch genauer genommen, es ist zugleich dabei alles: denn was nur immer 58 Vgl. explizit Kisch, Egon Erwin: »Feuilleton« [1917], in: E. E. K., Mein Leben für die Zeitung. 1906–1925, Berlin/Weimar: Aufbau 1983, S. 198-200; vgl. auch J. Roth: Feuilleton, S. 616-619.

50 I ERHARD SCHÜTZ die äußere Alltäglichkeit den Nerven und Sinnen gewähren kann, Lachen und Weinen, Wollust und Entrüstung, Liebe und Haß steckt in seiner Wirkung. Es thut so bescheiden geduckt wie das im Schatten dunkelste Veilchen, kennt sich vor Schüchternheit gar nicht aus, meidet jeden Schein und die große Art – und birst dabei doch vor heimlichem Hochmuth und versteckter Eitelkeit, indem es durchaus auf der ganzen Welt vor nichts als sich selber Respekt hat. Nein, nein, dem deutschen Professor kann man das ja nimmermehr erklären!«59

59 Bahr, Hermann: »Feuilleton«, in: Freie Bühne für modernes Leben 1 (1890), Heft 25, S. 665-667, hier S. 665f.

Zur Frage: Was ist ein Feuilleton? H ILDEGARD K ERNMAYER

1. H ERMANN B AHR ODER F EUILLETONISMUS ALS EPISTEMISCHES V ERFAHREN DER M ODERNE ( QUASI EIN V ORWORT ) Als ›zweite Reihe‹ von Hermann Bahrs ›Gesammelten Aufsätzen‹ erscheint 1891 im Dresdener Verlag Pierson der Essayband Die Überwindung des Naturalismus. Im März des Erscheinungsjahres während einer Reise nach Sankt Petersburg fertiggestellt, enthält die Sammlung Arbeiten des Autors aus seiner Pariser Zeit, die zu einem Teil bereits in den Jahren 1889 und 1890 erschienen sind und von Bahrs Tätigkeit als Korrespondent und Feuilletonist diverser deutschsprachiger Blätter zeugen. Gilt der Band als Ganzes der Literaturwissenschaft mittlerweile als Schlüssel zum Verständnis sowohl von Bahrs Auffassungen der literarisch-künstlerischen Moderne wie auch seiner Rolle als Vermittler, so hat doch ein Text der Anthologie bisher kaum die Aufmerksamkeit der Bahr-Forschung auf sich gelenkt – nämlich ein etwa zehnseitiger Artikel mit dem Titel Feuilleton1. Dass die Bahr-Philologie, die ansonsten akribisch selbst Erledigungslisten oder Rechenoperationen des Autors mitteilt,2 ausgerechnet an einem immerhin an strategischer Stelle des Gesamtwerks platzierten Aufsatz kein Interesse zeigt, mag erstaunen – erstaunt aber auch nicht. Denn zum einen finden sich die in Feuilleton dargelegten programmatischen Aussagen zur ›Überwindung des Naturalismus‹ sinngemäß auch in anderen Aufsätzen des Bandes. Zum anderen zählen die im 1

Bahr, Hermann: »Feuilleton«, in: H. B., Die Überwindung des Naturalismus. Als zweite

2

Vgl. etwa Bahr, Hermann: Tagebücher. Skizzenbücher. Notizhefte, Band 2: 1890-1900,

Reihe von ›Zur Kritik der Moderne‹, Dresden/Leipzig: Pierson 1891, S. 23-32. hg. von Moritz Csáky. Bearbeitet von Helene Zand/Lukas Mayerhofer/Lottelies Moser, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1996, S. 14 und S. 20.

52 I HILDEGARD K ERNMAYER

Text besprochenen Arbeiten zweier französischer Autoren und einer spanischen Autorin nicht zum Kanon der modernen romanischen Literaturen, dessen Vermittlung in den deutschen Sprachraum ja vor allem als Verdienst Hermann Bahrs angesehen wird. Nicht von Barrès’ Homme libre, dem – Bahr zufolge »größte[n] Buch des Jahrhunderts«3, nicht von den Dramen Maeterlincks als der Erfüllung der Décadence4 oder von Villiers de l’Isle-Adam, dem »letzte[n] Romantiker und […] erste[n] Décadent«5, ist in Feuilleton die Rede.6 Bahr bespricht in seinem Artikel vielmehr Texte, die, für die Veröffentlichung in Zeitungen und Zeitschriften produziert, erst im Nachhinein dazu bestimmt wurden, den Tag zu überdauern: die gesammelten Reisefeuilletons des Pariser ›Starjournalisten‹ Jacques SaintCère, alias Armand Rosenthal, der seinen Flaneur Mitschi durch die Städte und Dörfer Deutschlands und Englands schickt; die biografisch-anekdotischen Plaudereien Ernest Legouvés, Mitglied der Académie française, der Bekanntheit vor allem durch seine pädagogischen Ratgeber zur Leseerziehung erlangt hat; schließlich einen Band mit ›Reisebildern‹ der ›Überwinderin‹ des Naturalismus und Wegbereiterin der spanischen Moderne, Emilia Pardo Bazán. Darüber hinaus ist Bahrs Feuilleton selbst nur ein Feuilleton. Im Frühsommer 1890 in Otto Brahms Zeitschrift Freie Bühne für modernes Leben – übrigens das Organ des Berliner Naturalismus, dem Bahr von Mai bis Juli 1890 monatlich »4 feuilletons […] contre 150 Mark« liefert7 – erstmals erschienen, zeugt Feuilleton 3

Bahr, Hermann: »Die neue Psychologie«, in: H. Bahr: Die Überwindung des Naturalis-

4

Vgl. Bahr, Hermann: »Maurice Maeterlinck«, in: H. Bahr: Die Überwindung des Natu-

5

Bahr, Hermann: »Villiers de l’Isle-Adam«, in: H. B., Zur Kritik der Moderne. Gesam-

6

Zur Rezeption der französischen Literatur in den Jahren 1889 und 1890 und zur Genese

mus, S. 101-117, hier S. 101. ralismus, S. 189-198, hier S. 196. melte Aufsätze. Erste Reihe, Zürich: Verlags-Magazin 1890, S. 195-199, hier S. 195. von Bahrs Projekt der ›Überwindung des Naturalismus‹ vgl. Bachleitner, Norbert: »Hermann Bahr und die französische Literatur in den Jahren 1889/90«, in: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes 5 (1998): Hermann Bahr – Mittler der europäischen Moderne. Hermann Bahr-Symposion Linz 1998, S. 145-159. 7

Vgl. Bahr, Hermann: »Feuilleton«, in: Freie Bühne für modernes Leben 1 (1890), S. 665-667. – Peter Sprengel weist darauf hin, dass Bahrs als ›Palastrevolution‹ inszenierter Austritt aus der Zeitschrift seinen Grund auch in der »Unvereinbarkeit seiner subjektivistischen Ästhetik mit den Prinzipien des Berliner Naturalismus« hatte. Vgl. Sprengel, Peter: »Hermann Bahr und Gerhart Hauptmann in Briefen und anderen Zeugnissen«, in: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes 5 (1998), S. 205-215, hier S. 205. – Die Hintergründe von Bahrs Engagement als »fester freier Mitarbeiter« der Zeitschrift recherchiert Susen, Gerd-Hermann: »Das Alte kracht in allen Fugen! Hermann Bahr

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von der weitgehend unsystematischen, flüchtigen, mitunter auch fehlerhaften Auseinandersetzung Bahrs mit den romanischen Literaturen. Diese durchmisst der zu diesem Zeitpunkt stets in Geldnöten befindliche Kritiker wie ein Reporter, ständig auf der Suche nach immer neuem Stoff für ein Feuilleton, dessen Verkauf an eine Zeitung oder Zeitschrift auch das Auskommen sichern würde.8 Insgesamt weist Bahrs Feuilleton wohl alle Charakteristika auf, die die Gegner der Gattung diese als minderwertiges Genus qualifizieren lassen: die Auseinandersetzung mit scheinbar Unwichtigem, den unverbindlichen Plauderton, der die Sache hinter der Form verschwinden lässt, die assoziative Aneinanderreihung von vermeintlich nicht Zusammengehörigem oder, um mit Theodor W. Adorno zu sprechen, »die unverschämte Verachtung des Objekts und der Wahrheit; die Bereitschaft, durch Stimmung, Wortkunst, jonglierende und variierende Wiederholung, den Geist zu verschachern, der doch wiederum in all dem sich manifestiert«9. Was den Wiederabdruck des Feuilletons 1891 jedoch zu rechtfertigen schien und was auch die literaturwissenschaftliche Feuilletonforschung einhundertfünfundzwanzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen noch interessieren kann, ist das Programmatische dieses Textes. Denn tatsächlich enthält Feuilleton den Versuch einer Gattungstheorie der Kleinen Form, in der Bahr nicht weniger als die paradigmatische Textsorte der Moderne erkennt. Im Zentrum dieser Theorie steht die Auffassung, wonach feuilletonistische Poetik genuin moderne Poetik sei. Diese Auffassung argumentativ zu unterstützen, verfährt Bahr in seinem Artikel so, wie er in der Essayistik jener Phase immer verfährt. Er verwirft alles ›Alte‹, um es durch ein von ihm als solches postuliertes ›Modernes‹ zu ersetzen. In Feuilleton gibt das »Plauderbuch«10 Fleurs d’hiver. Fruits d’hiver. Histoire de ma maison des – wie Bahr ihn nennt – »greisen Akademiker[s]« Ernest Legouvé die Rolle des Alten. Ein »bis[s]chen breit« sei dieses Buch und »ein bis[s]chen platt […] und ein bisschen sehr schwatzhaft und unnötig selbstgefällig und langwierig umständlich in glatt ausgestreckten Sätzen«, mit »einem Wort ›vieux jeu‹ von A bis

und die Freie Bühne für modernes Leben«, in: Martin Anton Müller/Claus Pias/Gottfried Schnödl (Hg.), Hermann Bahr: Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden, Berlin u.a.: Peter Lang 2014, S. 39-54, hier S. 45. 8

Vgl. N. Bachleitner: Hermann Bahr und die französische Literatur in den Jahren

9

Adorno, Theodor W.: »Rede über ein imaginäres Feuilleton«, in: Th. W. A., Noten zur

1889/90, S. 147 und S. 159. Literatur, hg. von Rolf Tiedemann. 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 358366, hier S. 361. 10 H. Bahr: Feuilleton, S. 28. Den Titel des Bandes gibt der Kritiker übrigens falsch wieder. Aus Legouvés fruits d’hiver werden bei Bahr nuits d’hiver.

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Z«, wo doch »unsere hastigen Nerven […] ein eiligeres Tempo« verlangten, »unsere müden Sinne […] herbere Würze«11. Dagegen präsentiere die Sammlung Làbas et ailleurs Texte eines »Feuilletonist[en] der modernen Note«12. Jacques Saint-Cère – so Bahr – verfüge über »diese leichtfertige und wirksamste Kunst, aus nichts alles hervorzubringen […]; an alles zu rühren und nichts jemals ernst zu nehmen; und seine Absicht und seinen Entschluß mit Schäkern in den Leser hinein zu lachen, daß er es gar nicht merkt und zu keinem Mißtrauen gelangt, und während er bloß den Suggestionen der Tagesgeschichte zu horchen und zu gehorchen sich stellt, vielmehr hinterrücks seine eigene Persönlichkeit dem ahnungslosen Publikum sachte zu suggerieren.« 13

Bahr erkennt in der feuilletonistischen Inszenierung des Ephemeren, im Gestus der Unbeschwertheit und vor allem in der radikal subjektiven Annäherung an seine Gegenstände jene Charakteristika des Feuilletons, die die Textsorte als ästhetische konstituieren und auch ihre Wirkmächtigkeit ausmachen. Der Feuilletonist selbst erscheint dabei als Figuration jenes impressionistischen Subjekts,14 das, lediglich Produkt der »Suggestionen der Tagesgeschichte«, deren flüchtige ›Wahrheiten‹ mitteilt. Umgekehrt bildet er noch immer das sich seiner selbst gewisse epistemische Zentrum des feuilletonistischen Textes, verfolgt er doch seinerseits »Absichten« und »suggeriert« er »seine eigene Persönlichkeit dem ahnungslosen Publikum«, »turnt« er schließlich »seine Laune auf Dokumenten«15. In seiner Analyse übersieht Bahr jedoch ein wesentliches Merkmal feuilletonistischen Schreibens, nämlich die spezifische Inszenierung ästhetischer Subjektivität im Feuilleton. Diese erfolgt gemeinhin eher in Abhängigkeit von Blattlinien, literarästhetischen Moden oder Publikumsinteressen, als sie ein ästhetisches Begehren des Autors widerspiegelt. Deutlich wird dies auch im komplexen Spiel mit der Autorschaft, das der Journalist Armand Rosenthal in Là-bas et ailleurs

11 Ebd. 12 Ebd., S. 27. 13 Ebd., S. 26f. [Herv. H.K.]. 14 Zur semantischen Dehnbarkeit von Bahrs Impressionismusbegriff vgl. Fliedl, Konstanze: »… ein solcher ›Bube‹. Hermann Bahrs Stellung zum Antisemitismus«, in: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes 5 (1998), S. 131-144, hier S. 138-140. 15 H. Bahr: Feuilleton, S. 27.

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treibt. So firmiert auf dem Titelblatt des Bandes Mitchi16 als Autor der Reiseaufzeichnungen. Diese einzuleiten, obliegt dagegen dem Autor des Vorworts, Jacques Saint-Cère, der seinerseits Leserinnen und Lesern des Pariser Figaro als Leiter des Außenpolitik-Ressorts bekannt ist. ›Le tout Paris‹ erkennt jedoch in SaintCère – der Name verweist in seiner ironisierenden Homophonie auf das Adjektiv »sincère«17 – das Pseudonym und eine der ›Aussagemasken‹ des Starjournalisten Armand Rosenthal.18 Der Flaneur, also die Figur Mitschi, die auf ihren Reisen durch Deutschland und England an alles und alle rührt, ohne jemals etwas ernst zu nehmen (»tu touches à tout et à tous, sans rien prendre au sérieux«19), und deren subjektive Wahrnehmungen der durchstreiften Städte und Landstriche die Texte wiedergeben, ist dabei nur ein Aspekt des feuilletonistischen Ich, das erst durch die Figur Saint-Cères komplettiert wird. »[N]ous ne faisons qu’un«20 (»wir sind nur einer«), erörtert entsprechend Jacques Saint-Cère im Vorwort zum Band sein Verhältnis zu Mitschi. »Ce que tu as vu, je l’ai vu aussi; mais pendant que j’étais obligé de faire de la politique, tu faisais de la fantaisie«21. Das von ein und derselben Figur Wahrgenommene erfährt in den jeweiligen Inszenierungen ästhetischer Subjektivität unterschiedliche Akzentuierungen. Während sich der (freilich immer ironische) Blick des politischen Journalisten Saint-Cère auf das ›Wahrhaftige‹, das Wesentliche, auf die Politik richtet, verhandelt Mitschi das ›Andere‹ der Politik, das mit der Phantasie Assoziierte, das Randständige, unterläuft er in der Rolle des Flaneurs jegliche Faktizität. 16 Im Bandinneren wird die Figur durchgängig mit ›s‹, also Mitschi geschrieben. Bei der Schreibweise auf dem Titelblatt dürfte es sich wohl um einen Druckfehler handeln. Auch Bahr gibt den Namen als Mitschi wieder. 17 Saint-Cère gilt Zeitgenossen als Sinnbild des korrupten Journalisten der Belle Epoque. Sein Pseudonym Saint-Cère (›sincère‹) habe er gewählt – so sein Sekretär Maurice Donnay –, um seinen Hang zur Lüge zu verschleiern (»pour dissimuler l’amour qu’il portait au mensonge«). Donnay, Maurice, zit. nach Bourrelier, Paul-Henri: »Saint-Cère, l'affaire Lebaudy et Le Cri de Paris«, siehe http://revueblanche.over-blog.com/article36109536.html [11.08.2017]. 18 Zu Aufstieg und Fall von Armand Rosenthal, alias Jacques Saint-Cère vgl. Michel, Pierre: »Mirebeau, Jacques Saint-Cère et l’affaire Lebaudy«, in: Cahiers Octave Mirbeau (1996), Heft 3, S. 197-212. Hier zitiert nach: http://mirbeau.asso.fr/darticlesfrancais/PM-OM%20Jacques%20Saint-.pdf [11.08.2017]. – Vgl. auch P.-H. Bourrelier: Saint-Cère, l'affaire Lebaudy et Le Cri de Paris. 19 Mitchi: Là-bas et ailleurs. Préface de Jacques St. Cère, Paris: Publications de la ›Vie Parisienne‹ 1890, S. 3. 20 Saint-Cère, Jacques: »Préface«, in: Mitchi: Là-bas et ailleurs, S. 1-4, hier S. 4. 21 Ebd., S. 1.

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In der spielerischen Inszenierung des Ungefähren, des Beiläufigen, des Flüchtigen, des Gestimmten, von Subjektivitäten, die sich letztlich nur als instabile Komplexe von Sinnesempfindungen erweisen, identifiziert auch Hermann Bahr die Besonderheiten des Feuilletons. Doch damit nicht genug. Eben in diesen Eigenschaften gilt der Feuilletonismus Bahr als mehr denn als Schreibweise, er wird ihm zur Denkweise, mithin zum Mittel eines ›ästhetischen Denkens‹, das Ästhetisches nicht nur zum Gegenstand seiner Reflexion macht, sondern das – mit Wolfgang Welsch – selbst eine »ästhetische Signatur«22 insofern aufweist, als es »in besonderer Weise mit Wahrnehmung – aisthesis«23 assoziiert ist. Schließlich – so Bahr in seinem Aufsatz Wahrheit, Wahrheit! – seien die »Sensationen allein […] Wahrheit, zuverlässige und unwiderlegliche Wahrheit; das Ich ist immer schon Konstruktion, willkürliche Anordnung, Umdeutung und Zurichtung der Wahrheit, die jeden Augenblick anders gerät, wie es einem gerade gefällt, eben nach der Willkür der jeweiligen Stimmung«24. Dem Feuilleton, jener modernen Nervenund Stimmungskunst, erkennt Bahr die Fähigkeit zu, die flüchtigen ›Wahrheiten‹ einer ›aisthetisierten‹ Lebenswelt zu erfassen, ›Wahrheiten‹, die nur »in dem Augenblick [gelten], in welchem [sie] schon wieder aufgehoben«25 werden. »Ich könnte Ihnen noch sagen«, heißt es bei Bahr weiter, dass »diese feuilletonistische Anschauung auch das einzige Instrument zur modernen Wahrheit ist, wie sie die denkende Elite heute begreift, nämlich als Annäherungswert«26. Dem Feuilletonistischen – als dem Ästhetischen – eignet folglich ein Erkenntnispotential, das das wissenschaftlicher Rationalität oder auch gewöhnlicher perzeptiver Erfahrung bei Weitem überschreitet. Dem »deutschen Professor« freilich vermag Bahr das Feuilleton nicht zu erklären,27 allenfalls Nietzsche, den Bahr hier erwähnt,28 oder Mach, dessen Name in diesem Zusammenhang unerwähnt bleibt, oder auch Baumgarten, der 1750 die neue philosophische Disziplin der Ästhetik mit der Bezeichnung ›scientia cognitionis sensitivae‹, Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis, belegt.

22 Welsch, Wolfgang: »Zur Aktualität ästhetischen Denkens«, in: W. W., Ästhetisches Denken. 3. Aufl., Stuttgart: Reclam 1993, S. 41-78, hier S. 46. 23 Ebd. 24 Bahr, Hermann: »Wahrheit, Wahrheit!«, in: H. Bahr: Die Überwindung des Naturalismus, S. 141-151, hier S. 149. 25 H. Bahr: Feuilleton, S. 26. 26 Ebd. 27 Vgl. ebd., S. 24. 28 Vgl. ebd., S. 26.

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Trotz seines »intentional ästhetische[n] Charakter[s]«29 scheint dem Feuilleton das Attribut ›poetisch‹ nicht selbstverständlich zuzukommen. Im Gegenteil hat die affirmative Assoziierung des Feuilletons mit dem Ästhetischen in den zeitgenössischen Reden über das Genre eher Seltenheitswert. Seiner Position im ›Dazwischen‹ dankt es vielmehr seine Abwertung als ›genre mineur‹. Im Kanon der sachgebundenen publizistischen Genera kann das ›literarische‹ Feuilleton bestenfalls als kulinarische Nebensächlichkeit30 firmieren. Und auch einer in der idealistischen Ästhetik gründenden poetologischen Reflexion, deren Verständnis von Literarität auf dem Modell einer geschichtsphilosophisch oder anthropologisch begründeten Gattungstrias basiert (jener im Genette’schen Sinne »lästige[n], zählebige[n] Triade«31) und die die Idee der Autonomie der Kunst hochhält, muss das Feuilleton notgedrungen als Gegenstand entgehen. Weder explizit poetisch noch journalistisch oder gar wissenschaftlich, würde das Feuilleton nämlich der Poetik ein eigenes Gebiet jenseits ihres idealistischen Gattungskonzeptes eröffnen und damit deren triadischen Horizont zwangsläufig auflösen.32 Das im abgegrenzten Bereich ›unter dem Strich‹ situierte Ästhetische selbst war freilich nie autonom. Denn sowohl die Rubrik ›Feuilleton‹, die informierende, kritisierende oder kommentierende publizistische Texte ebenso enthalten kann wie den täglichen Fortsetzungsroman, als auch die Kleine Form des Feuilletons, die die Rubrik vor allem enthält und wohl auch hervorbringt, sind von Anbeginn an durch ihre mehrfache diskursive und generische Bezogenheit charakterisiert. So konstituiert sich das Feuilleton zu allererst durch seine Verbindung mit dem Merkantilen. Tatsächlich danken sowohl die Rubrik wie auch das Genre ›Feuille-

29 Genette, Gérard: Fiktion und Diktion, München: Fink 1992, S. 39. 30 Vgl. Roth, Joseph: »Brief an Benno Reifenberg vom 22.04.1926«, in: J. R., Briefe 19111939, hg. von Hermann Kesten, Köln/Berlin: Kiepenheuer und Witsch 1970, S. 87. Wörtlich heißt es bei Roth: »Man darf nicht nebenbei Feuilletons schreiben. Es ist eine arge Unterschätzung des ganzen Fachs. Das Feuilleton ist für die Zeitung ebenso wichtig, wie die Politik und für den Leser noch wichtiger. […] Die moderne Zeitung braucht den Reporter nötiger, als den Leitartikler. Ich bin nicht eine Zugabe, nicht eine Mehlspeise, sondern eine Hauptmahlzeit.« 31 Genette, Gérard: Einführung in den Architext, Stuttgart: Legueil 1990, S. 57. 32 Vgl. dazu auch Schlaffer, Heinz: »Denkbilder. Eine kleine Prosaform zwischen Dichtung und Gesellschaftstheorie«, in: Wolfgang Kuttenkeuler (Hg.), Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1973, S. 139.

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ton‹ ihre Entstehung und vor allem ihre massenhafte Verbreitung eher wirtschaftlichen Überlegungen der Zeitungsredaktionen denn innerliterarischen Entwicklungen. Denn wenn in den Jahren um 1800 eine Reihe französischer Tageszeitungen ihre Paris-Ausgaben in einem verlängerten Seitenformat erscheinen lassen33, so platzieren sie in dem neu gewonnenen Raum ›unter dem Strich‹, im ›Feuilleton‹, nicht nur theaterkritische Artikel. Diese finden sich vielmehr – wie etwa im Journal des Débats34 des Jahres 1800 – umrankt von Inseraten, die Seidensamte ebenso wie ärztliche Dienste offerieren, von Verlags- und Immobilienanzeigen, dem Pariser Theaterprogramm und gereimten Rätseln, von der Bekanntgabe der Preise und Abfahrtszeiten der Kutsche nach Melun oder der Kundmachung des Finanzministeriums, wonach die Steuern für das zweite Halbjahr des Jahres VII zwischen dem 1. und 10. Pluviôse des Jahres VIII zu entrichten seien.35 Aufgabe des im Feuilleton abgedruckten theaterkritischen Artikels – aus dem letztlich die Kleine Form des Feuilletons hervorgeht – ist dabei vordergründig die Besprechung des auf den Pariser Bühnen Dargebotenen. Dieser dient aber auch durchaus dazu, das im ›Feuilleton‹ beworbene Warenangebot kulinarisch aufzubereiten. Und auch gattungspoetologisch besehen, firmiert das Feuilleton, hier verstanden als Textsorte und als Rubrik, als ›Hybrid‹, der seine spezifische Gestalt in Zusammenführung unterschiedlicher literarischer Textfunktionen und Formtraditionen ausbildet. »Alle Gattungen und Formen, aus denen sich das Feuilleton zusammensetzt, gleichgültig darum, ob es der modernen Zeitung oder der populären Zeitschrift dient, sind Entlehnungen«, konstatiert etwa Wilmont Haacke in seinem Handbuch des Feuilletons. »Der Journalismus hat sie unter freiem Zugriff einfach der Literatur entnommen. Roman und Novelle, Fabel und Märchen, Epigramm 33 Die Ausgaben für die ›Provinz‹ erscheinen noch einige Zeit im ursprünglichen Format mit den kürzeren Seiten. Vgl. dazu ausführlicher Kernmayer, Hildegard: »Feuilleton. Eine medienhistorische Revision seiner Entstehungsgeschichte«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 28 (2018), Heft 1, S. 131-136. 34 Das Journal des Débats wird 1789 unter dem Titel Journal des débats et des decrets als offizielles Protokollorgan der Assemblée Nationale gegründet. Vorerst offiziöses Wochenblatt, das die Debatten und Verordnungen der Assemblée wortwörtlich wiedergibt, wird es im Jahr 1800 mit der Übernahme durch die Gebrüder Bertin in eine Tageszeitung umgewandelt. Die konservative Zeitung, die mehrmals ihren Namen ändert – etwa zur Zeit des Ersten Kaiserreichs Journal de l’Empire heißt, während der Restauration Journal des Débats politiques et littéraires – besteht bis 1944. Bis zur Gründung von Girardins Tageszeitung La Presse ist das Blatt die meistgelesene Zeitung Frankreichs. Vgl. Bellanger, Claude et al. (Hg.), Histoire générale de la presse française, Band 2: De 1815 à 1871, Paris: Presses universitaires de France 1969, S. 37ff. 35 Vgl. etwa Journal des Débats vom 9 Pluviôse des Jahres VIII (d.i. 29. Januar 1800).

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und Essay, Aphorismus und Anekdote, Brief und Gespräch waren […] entwickelte, klar voneinander unterscheidbare Formen poetischer Ausdrucksweise«36, lange bevor das Feuilleton sich ihrer ›bemächtigte‹. Die Übertragung literarischer Formen und Gattungen in das publizistische Medium der Zeitung prägt fraglos die Rubrik des Feuilletons, die sich bereits zu ihrer Entstehungszeit um 1800 als ein Sammelbecken für textuelle Ereignisse unterschiedlicher Generizität präsentiert. Die Kleine Form des Feuilletons dagegen – so meine These – konstituiert sich in der feuilletonistischen Überformung von vor allem publizistischen Zweckformen als Genus. Diese Zweckformen mit ihren vornehmlich referentiellen kommunikativen Funktionen des Aufzeichnens, des Berichtens, des Informierens, des Kommentierens, des Kritisierens oder des Schilderns und ihren spezifischen Wirkungsdispositionen werden im Feuilleton mit »radikale[r], ornamentale[r] Stilgebärde«37 ins Feuilletonistische, sprich: ins Poetische, überführt. Die feuilletonistische ›Anverwandlung‹ erfahren dabei ganz unterschiedliche publizistische Genera, die Literaturkritik ebenso wie der Reisebericht, aber auch die Wochenchronik, der politische Kommentar und nicht zuletzt der Brief. Deren ursprüngliche, häufig referentielle Textfunktionen treten in diesem auch medienübergreifenden Verfahren mitunter in den Hintergrund, sie sehen sich vom literarischen Wirkungsdispositiv mit seinen stilistischen Gesten der spielerischen Leichtigkeit, Oberflächlichkeit, Flüchtigkeit und subjektiven Gestimmtheit überlagert oder lösen sich hinter diesem auch auf.38 Das Feuilletonistische, also die Schreibweise, stabilisiert sich dabei bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur polyfunktionalen, aber eigenständigen Gattung des Feuilletons, also zu einem konventionalisierten Sinnbildungsmuster, zu dessen Muster es wiederum gehört, dem ästhetischen Prinzip der Schreibweise zu folgen.39 Die Literarisierung der Publizistik scheint sich dabei nicht nur zeitungsimmanenten Logiken zu danken, sondern diese stellt sich, nimmt man poetologische Entwicklungen der Literatur des beginnenden 19. Jahrhunderts in den Blick,

36 Haacke, Wilmont: Handbuch des Feuilletons, Band 2, Emsdetten: Lechte 1952, S. 133. 37 Oesterle, Günter: »›Unter dem Strich‹. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert«, in: Jürgen Barkhoff/Gilbert Carr/Roger Paulin (Hg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Edda Sagara im August 1998, Tübingen: Niemeyer 2000, S. 229-250, hier S. 236. 38 Vgl. dazu ausführlicher Kernmayer, Hildegard: »Sprachspiel nach besonderen Regeln«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (2012), Heft 3, S. 509-523. 39 Vgl. dazu Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn: Mentis 2003, S. 187.

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durchaus als Funktion eines erweiterten Konzepts des Poetischen heraus.40 So weist etwa Wolfgang Preisendanz im Hinblick auf Heinrich Heines Reisebilder nach – die Texte gelten neben Ludwig Börnes Briefen aus Paris der Kritik bereits im 19. Jahrhundert als Gründungstexte deutschsprachiger Feuilletonistik –,41 dass in diesen die »publizistische Intention« einen »eigenwertigen, mit […] ästhetischen Kategorien erfassbaren Ausdrucks- und Darstellungswillen[]« motiviere.42 In der Verschränkung von Literatur und Publizistik und damit im komplementären Zusammenwirken von ideologischer Hermeneutik und poetischer Heuristik43 konstituiert sich Preisendanz zufolge der spezifische Prosastil Heinrich Heines, der wiederum vorbildlich für die Entwicklung der deutschsprachigen Feuilletonistik im 19. Jahrhundert sein wird. – »Ohne Heine kein Feuilleton«44, wird Karl Kraus noch 1910 die Wirkmächtigkeit der Heine’schen Prosa beklagen. Dieser danke sich die Verquickung von Ästhetischem und Informatorischem, »die Durchsetzung des Journalismus mit Geistelementen«45, letztlich dessen »Verschweinung […] durch das Ornament«46.

3. R OLLENPROSA –

DAS

S UBJEKT ,

DAS › SICH ‹ MITTEILT

Die Feuilletonisierung der publizistischen Zweckformen äußert sich am augenscheinlichsten in deren Subjektivierung. Mit dieser einher geht auch eine Verla-

40 Den Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik ortet Wolfgang Preisendanz in der Prosa Heinrich Heines. Dieser charakterisiert allerdings die ›moderne‹ feuilletonistische Schreibweise insgesamt. Vgl. Preisendanz, Wolfgang: »Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik«, in: W. P., Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge, München: Fink 1973, S. 25. 41 Zu Börne vgl. ausführlicher Kernmayer, Hildegard: »Wie der Brief ins Feuilleton kam. Gattungspoetologische Überlegungen zu Ludwig Börnes Briefen aus Paris«, in: Gideon Stiening/Robert Vellusig (Hg.), Poetik des Briefromans. Medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven, Berlin: de Gruyter 2012, S. 295-314. 42 Vgl. W. Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik, S. 29. 43 Vgl. ebd., S. 47 und S. 52. 44 Kraus, Karl: »Heine und die Folgen«, in: K. K., Werke, hg. von Heinrich Fischer, Band 8: Untergang der Welt durch schwarze Magie, München: Langen Müller 1960, S. 189. 45 Ebd., S. 191f. 46 Ebd., S. 191.

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gerung der Referentialität des feuilletonistischen Textes. Dessen Selbstbezüglichkeit, mithin Merkmal seiner Poetizität, ist nicht mehr nur eine Selbstbezüglichkeit der Form, sondern zum Eigentümlichen der Form gehört es, dass sich in ihr auch ein Subjekt auf sich selbst bezieht. Resultiert Roman Jakobson zufolge die poetische Funktion der Sprache aus der »Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche, [der] Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen«47, so ist die Botschaft des feuilletonistischen Textes immer auch das darin entworfene ästhetische Subjekt. Das Merkmal der Subjektivität teilt das Feuilleton mit anderen ebenfalls ›subjektivistischen‹ publizistischen Gattungen, etwa dem Essay oder auch dem Brief. Die generische Verwandtschaft von Essay und Feuilleton erhellt dabei deutlich aus der gattungspoetologischen Engführung der beiden Formen. Eignet etwa Theodor W. Adorno zufolge dem Essay die »Spontaneität subjektiver Phantasie«48, so äußert sich das »Wesen des Feuilletons« – folgt man Ernst Ecksteins bereits 1876 erschienenen Beiträgen zur Geschichte des Feuilletons – im »Durchschimmern der Subjectivität«. Der Feuilletonist, so Eckstein, gebe »uns die Dinge, wie sie sich in seiner Persönlichkeit widerspiegeln; er beleuchte[] alles mit den Strahlen seiner individuellen Stimmung; er [verrate] überall die Theilnahme an dem Gegenstande«49. Doch nicht nur die Perspektivierung des Mitgeteilten resultiert aus dem Moment der Subjektivität, auch die stilistischen Gesten des Feuilletons, etwa die ›Gebärde‹ der Leichtigkeit, die Imitation des Mündlichen im Schriftlichen, die Momente des Spielerischen und des Assoziativen (letztere prägen auch den Essay), sind jeweils an im Text entworfene ästhetische Subjekte gebunden, deren Wahrnehmungen und Gestimmtheiten der feuilletonistische Text vor allem wiedergibt. Die Subjektivierung der literarischen Publizistik, wie sie sich im nach 1800 entstehenden Feuilleton vollzieht, ist dabei auch an die Entstehung eines »ästhetisch-subjektive[n] Modus von Selbstdarstellung«50 gebunden, den Karlheinz Bohrer erstmals »in der Selbstreflexion des romantischen Briefs nach 1800«51 ortet. In diesem vollziehe sich »die Ablösung des ästhetischen Subjekts

47 Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik [1960]«, in: R. J., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. von Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 92 [Herv. i.O.]. 48 Adorno, Theodor W.: »Der Essay als Form«, in: Th. A.: Noten zur Literatur, S. 11. 49 Eckstein, Ernst: Beiträge zu einer Geschichte des Feuilletons, Band 1, Leipzig: Hartknoch 1876, S. 9f. 50 Bohrer, Karlheinz: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 25. 51 Ebd., S. 8.

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vom sozialen und philosophischen«52. Eine von der Literaturwissenschaft bislang unbeachtete Entwicklung lässt sich auch in der Publizistik der Epoche ausmachen. Denn tatsächlich scheinen Essay und Feuilleton gerade in den in ihnen präsentierten Formen der Subjektivität zu differieren, eine Differenz, die sich nicht zuletzt den unterschiedlichen medialen Zugehörigkeiten der beiden Textsorten dankt. So ist das Verbreitungsmedium des Essays traditionell die Zeitschrift, also ein Periodikum, das sich an eine sozial vergleichsweise homogene Gruppe von Leserinnen und Lesern richtet und sich – speziell im 18. Jahrhundert – der Vermittlung von Bildung und Wissen, der Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit sowie insgesamt der bürgerlichen Selbstvergewisserung im Prozess der Emanzipation verschrieben hat. Die im Essay präsentierten Formen der Subjektivität stimmen insofern mit dem (teleologischen) Konzept der bürgerlichen Autonomie des 18. Jahrhunderts überein, als in ihnen ein Ich entworfen wird, das, mit Karlheinz Bohrer gesprochen, verallgemeinerbar ist.53 Das Feuilleton dagegen, eine ›Erfindung‹ der tagesaktuellen Presse, besetzt in dieser unzweifelhaft den Raum des Ästhetischen und des Subjektiven. Mit ihm entsteht eine neue Form subjektzentrierter Prosa, die, anders als der Essay und selbst dort, wo sie reflektiert, kritisiert, kommentiert, polemisiert oder auch nur informiert, vor allem unterhalten soll. ›Unter dem Strich‹ betreibt das Feuilleton die Subversion jenes Faktischen, das mitzuteilen oberstes Ziel einer sich sachgebunden wollenden Presse ist. Das Subjekt, dessen Wahrnehmungen der feuilletonistische Text vor allem mitteilt, ist dabei nicht mehr das moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt der Aufklärung,54 sondern ein Ich, das unterschiedliche Formen, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen, erprobt und das sich je nach Bedarf etwa als politisches, als kontemplatives, als spielerisches, als konsumtorisches, aber immer als ästhetisches entwirft. Das feuilletonistische Ich ist mithin auch nicht mit dem Feuilletonisten gleichzusetzen, vielmehr ist es, wie Peter Utz feststellt, der »Oberflächenausdruck des Feuilletonisten, der seine Subjektivität zu Markte tragen muß, wie sie das Medium von ihm verlangt«55.

52 Ebd. 53 Vgl. ebd., S. 25. 54 Zur Begrifflichkeit vgl. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück 2006. 55 Vgl. Utz, Peter: »›Sichgehenlassen‹ unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons«, in: Kai Kauffmann/Erhard Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin: Weidler 2000, S. 142-162, hier S. 158.

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4. P OETIK DES S PAZIERGANGS Die instabile Subjektivität der feuilletonistischen ›Erzählinstanz‹ präsentiert sich je nach Bedarf und auch in Abhängigkeit von den jeweiligen literarästhetischen Moden und Entwicklungen in unterschiedlichen Figurationen und »Aussagemasken«56. So erfolgen die Beobachtungen im Reisefeuilleton bis ins ausgehende 19. Jahrhunderts mitunter durch die Figur eines ›Wanderers‹, der seine visuellen und akustischen Eindrücke von den durchschrittenen Landstrichen, seine Geruchsund Temperaturempfindungen mitteilt.57 Das feuilletonistische Subjekt präsentiert sich aber auch als politischer Kommentator, als Chronist historischer Ereignisse, als ironischer Beobachter von Alltagsgeschehen oder aber als traumwandlerischer Spaziergänger. Beobachtung, Analyse, Kommentar, Erinnerung, Imagination, Meditation, Stimmung, Tagtraum oder Reflexion58 werden dabei jeweils einem Ich zugeordnet, das sich leichtfüßig durch den Textkörper bewegt. In dessen Bewegung lässt alles Wahrgenommene, Imaginierte, Erinnerte, Empfundene, Vernommene oder Gedachte auf anderes geraten und regt – wie Wolfgang Preisendanz im Hinblick auf Heines Reisebilder feststellt – mitunter zu »desultorischen Bewußtseins- und Sprachakten«59 an. Der assoziativ hervorgerufene Wechsel der Sujets und der subjektiven Beschreibungsmodi sowie das ununterbrochene Oszillieren der Texte zwischen Sachgebundenheit und formaler Verwandlungsfreiheit60 lassen jene innertextuelle Bewegung entstehen, die die feuilletonistische Schreibweise wohl am eindringlichsten charakterisiert. Das Moment des Assoziativen als Eigenheit essayistischer Gedankenführung belegt bereits Montaigne mit der Metapher des ›Spaziergangs‹,61 und nicht von

56 Ebd. 57 Man denke etwa an Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg oder auch an Karl Emil Franzosʼ Deutsche Fahrten. 58 Einzelne dieser Beschreibungsmodi konstatiert Preisendanz in der Heine’schen Prosa. Sie lassen sich aber auch in zahllosen anderen Feuilletons finden. Vgl. W. Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik, S. 31. 59 Ebd. 60 Vgl. ebd. 61 »Mon stile et mon esprit vont vagabondant de mesmes.« Montaigne, Michel de: »De la vanité«, in: M. de M., Les Essais, hg. von Fortunat Strowski/François Gebelin, Hildesheim/New York: Georg Olms 1981 [Nachdruck der Ausgaben Bordeaux 1919 und 1920], S. 270.

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ungefähr bildet die großstädtische Konfiguration der ›Flanerie‹62 die epistemische und ästhetische Grundlage feuilletonistischer Poetik.63 Als neuer, genuin großstädtischer Typus des Mobilen wird die Flanerie zu einer wesentlichen Möglichkeit der Auseinandersetzung mit den sich ständig verändernden Gegebenheiten moderner Wirklichkeit und, wie Walter Benjamin feststellt, zur paradigmatischen Existenzform64 innerhalb der modernen Großstadt, die sie gleichzeitig hervorbringt. Die Flanerie definiert sich vor allem über ihr spezifisches Verhältnis zu Raum und Zeit. Die Großstadt als immenser ergehbarer Raum erscheint dem Flaneur zum einen als Panorama, vor dem der Blick, der längst nicht mehr das Ganze wahrnehmen kann, lediglich noch Details, Ausschnitte, Zufälliges erkennt und der Flaneur, »das Auge der Stadt«65, seiner Lust, dem Sehen und Erleben, dem Einfangen des ›Augen-Blickes‹ frönt. Zum anderen ist ihm die Großstadt Landschaft, in der unzählige, voneinander unabhängige Ereignisse simultan ablaufen. Sowohl in der Wahrnehmung wie auch in der Wiedergabe treten die einzelnen Details nicht mehr in linearer Abfolge auf, sie sind scheinbar zusammenhanglos, sie erscheinen als gleichrangige Einzelteile im Raum, sind austauschbar und frei kombinierbar. In der subjektiven Wahrnehmung des Flaneurs wird somit das zeitliche Kontinuum zum räumlichen Agglomerat. Dem Ineinanderfließen der Impressionen, der Diffusion des Raum-Zeit-Gefüges entspricht auf der Ebene des Flanierenden selbst die Diffusion von dessen Identität. Denn nicht mehr als Typus, sondern – so Dietmar Voss – als »unbewußte Eigenschaft von allgemeiner Empfänglichkeit und Exzedierung«66 durchschreitet der Flaneur den großstädtischen Raum, und er überschreitet als Beobachtender im Gehen auch sich selbst.67 Die Möglichkeit der Selbstüberschreitung lässt ihn dabei weder als fest umrissenen 62 Vgl. Stierle, Karlheinz: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München/Wien: Hanser 1993, S. 209. Die Flanerie ebenso wie die Passagen sind neben dem Omnibus und dem Warenhaus die Konfigurationen, die die moderne Großstadt (Paris) seit 1830 prägen. Vgl. auch Voss, Dietmar: »Die Rückseite der Flanerie. Versuch über ein Schlüsselphänomen der Moderne«, in: Klaus R. Scherpe (Hg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek b.H.: Rowohlt 1988, S. 37-60. 63 Vgl. Benjamin, Walter: »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, in: W. B., Gesammelte Schriften, Band V.1.: Das Passagen-Werk, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 45-59. 64 Vgl. ebd., S. 54. 65 K. Stierle: Der Mythos von Paris, S. 214. 66 D. Voss: Die Rückseite der Flanerie. Versuch über ein Schlüsselphänomen der Moderne, S. 40. 67 Vgl. ebd., S. 50.

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Typus noch unmittelbar, sondern »zunächst nur versenkt und verflochten in soziales Rollenhandeln und soziale Charaktermasken«68 erscheinen. In seiner Rollenhaftigkeit ist er zugleich er selbst und viele andere; er ist, wie Walter Benjamin gezeigt hat, Beobachter und Teil der beobachteten Masse in einem. Obwohl ein frühes Symbol großstädtischer Existenz, ist der Flaneur noch nicht vollends von dieser überwältigt. Seine Lebensform umspielt Walter Benjamin zufolge »die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer«69.

5. G ATTUNG ( QUASI

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N ACHWORT )

In den Jahren nach 1830 verfestigt sich ›das Feuilletonistische‹, also die Schreibweise, zur polyfunktionalen Gattung des Feuilletons. Als solche besetzt es in der tagesaktuellen Presse den unabhängigen Spielraum70 ›unter dem Strich‹, der seine eigene, wenn auch räumlich und zeitlich begrenzte Ordnung etabliert, und markiert die Schnittstelle zwischen Poesie und Publizistik; von dort wandert es jedoch – mitunter zeitnah zu seinem ersten Erscheinen in der Zeitung – als ›autonomes‹ textuelles Ereignis in die zahlreichen Feuilletonsammlungen ein, die dem genuin Ephemeren sein Fortleben über den Tag hinaus sichern sollen. Scheinen also der Literatur- und Pressebetrieb des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts über ein – vielleicht auch nur implizites – Wissen darüber zu verfügen, »welche textimmanenten Merkmale (der Thematik, des Stils, der Technik)«71 einen Text als Exemplar des Genres ›Feuilleton‹ ausweisen, so vermögen umgekehrt weder die zeitungswissenschaftliche noch die literaturwissenschaftliche Feuilletonforschung dem Feuilleton bisher definitorisch beizukommen. Der nivellierenden Beschreibung der Gattungstheorie scheint sich das Feuilleton ob seiner »stoffliche[n] Unbegrenztheit«72, seiner formal-stilistischen Verwandlungsfreiheit und seiner Heterogenität per se zu entziehen. In seinem Oszillieren zwischen Referentialität und Selbstreferentialität, seiner mehrfachen diskursiven Bezogenheit sowie vor

68 Ebd., S. 37. Voss erkennt in Benjamins Konzept des Flaneurs die Charaktermasken des Promenierenden, des Bildungsreisenden, des Physiognomikers und des Detektivs. 69 W. Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, S. 54. 70 Allerlei Spielraum lautet etwa der Titel einer von Heinz Knobloch herausgegebenen Feuilletonsammlung. 71 W. Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik, S. 25. 72 Feddersen, Harald: »Grundprobleme des Feuilletons«, in: Zeitungs-Verlag (Berlin) vom 25.05.1923, S. 388.

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allem dem ihm eigenen spielerischen Umformen ›artfremder‹ Genera unterwirft es nicht nur publizistische und literarische Formen seinem Sprachspiel, es scheint vielmehr »mit allen feststehenden Kategorien der Gattungstheorie und -geschichte [selbst] sein Spiel zu treiben, dazu geschaffen, ihre taxonomische Sicherheit, die Verteilung der Klassen und die kontrollierbaren Benennungen der klassischen Nomenklaturen zu erschüttern«73. Seine »Teilhabe ohne Zugehörigkeit«74 und die daraus resultierende ›Poetik des Dazwischen‹, die sich im feuilletonistischen Text manifestiert, verhindern mitunter die Wahrnehmung des Feuilletons als Gattung. Was dabei jedoch übersehen wird, ist, dass die spezifische Generizität des Feuilletons gerade in der spielerischen Inszenierung des Ungefähren, des Beiläufigen, des Flüchtigen, des Gestimmten besteht, diese die Texte erst als feuilletonistische hervorbringt. Das scheinbar unfassbare und gattungsgesetzlose Feuilleton folgt dabei sehr wohl einer Reihe von genuin feuilletonistischen Vertextungsregeln, die es von anderen textuellen (literarischen wie nichtliterarischen) Ereignissen unterscheiden und es auch zur historisch und kulturell etablierten Institution, mithin zur Gattung des Feuilletons werden lassen.

73 Derrida, Jacques: »Das Gesetz der Gattung«, in: J. D., Gestade, Wien: Passagen 1994, S. 245-283, hier S. 257 [Herv. i.O.]. 74 Ebd., S. 258.

»Beim Genick packen und hinauswerfen!« Anton Kuhs Aversion gegen den ›Feuilletonismus‹ als Weltanschauung W ALTER S CHÜBLER

»Gezänk«, »Literatengezänk«, das im »repräsentativen Organ der Immigration« nichts verloren habe! So der Sucus eines Leserbriefs an den New Yorker Aufbau vom 2. August 19401. Er bezog sich auf eine mit »Yorick« unterzeichnete Polemik gegen eine nicht genannte »saubere österreichische Feder«, die im Sonntagsmagazin der New York Times Hitler mit Napoleon verglichen hatte. Unter dem Pseudonym Yorick und unter dem programmatischen Kolumnentitel The Skeptical Reader glossierte Anton Kuh ab Juni 1940 im Aufbau, dem von Manfred Georg geleiteten Nachrichtenblatt des German-Jewish Club, das Tagesgeschehen. Und bei der »saubere[n] österreichische[n] Feder« handelte es sich um Raoul Auernheimer2. Warum stieg Kuh Auernheimer auf die Zehen? – Unter anderem, weil er Hitler ein angeborenes schriftstellerisches und, vor allem, rhetorisches Talent attestiert hatte; Begabungen, die dieser mit Napoleon teile. Kuh widersprach vehement: »Wie gross auch Hitlers Fortschritte in der Weltherrschaft sind, in der Sprache und Aussprache ist er, trotz aller Mühen seiner Sprech- und Deklamationslehrer, der alte: ein Österreicher, der den Akzent […] verleugnet; ein Deutscher, der so spricht, wie eine Hannoveraner Hausgehilfin sich vorstellt, dass ein Münchener Handlungsreisender reden würde, wenn

1

Tross, J. A.: »Letters To the Editor«, in: Aufbau vom 02.08.1940, S. 8.

2

Auernheimer, Raoul: »Two Conquerors, Two Kinds of Men«, in: The New York Times Magazine vom 21.07.1940, S. 4 u. 22.

68 I W ALTER S CHÜBLER er aus Eger in Sudetendeutschland nach Wien ausgewandert ist; und alles in allem: ein Unterbeamter, der alle verwickelten Phrasen des österreichischen Amtsstiles geschluckt hat, bevor er in der Wiege das erste Mal ›Mama‹ rief.«3

Wer nebeneinander die Memoiren von St. Helena und Mein Kampf lese, dem müsse sich unweigerlich eines erschließen: »die Unvergleichlichkeit zweier Personen, von denen die eine auf dem Planeten des Geistes geboren war und die andere im Rattenloch«4. Im sprachlichen Habitus erschloss sich für Kuh die Person, in der Phrase dechiffrierte er die Gesinnung. Immer wieder hatte er die Phantasiesprache Adolf Hitlers, dieses »Schalltrichter[s] mit Umlegekragen«5, parodiert, dem er »grammatikalische Rassenschändung«6 vorwarf. Was Kuh aber abseits solcher Fehleinschätzungen im Einzelnen ganz generell an Auernheimers Aufsatz sauer aufstieß, das sprach er gleich eingangs seiner Polemik an: »Eine saubere österreichische Feder, in der herkömmlichen Wiener Kunst bewandert, die Welt etwas rosiger und parfümierter zu sehen, als sie ist, hat im Sonntagsmagazin der ›New York Times‹ eine Parallele zwischen Hitler und Napoleon gezogen. Es war eine jener ›deutschen Schularbeiten‹, mit dem obligaten Zitatenflitter garniert (vom unumgänglichen ›Kinder Frankreichs, Jahrtausende schauen auf euch herab!‹ bis zum fahrplanmässigen ›Voilà un homme!‹), wie sie die bürgerliche Presse in der diluvialen Zeit vor Hitler ihren Lesern am Sonntag gern zum Morgenkaffee kredenzte.«7

Was Kuh in Rage brachte, das war – in anderen, wieder Kuh’schen Worten, die diesmal auf das Feuilletonistische im Allgemeinen zielen – die »widerliche […] Mischung aus Schularbeitsoptimismus und Konditoreigrazie, Gedankenpunktironie und Parvenügeist«8. Und er stellte in seiner kurzen Glosse dreimal die Frage, ob »noch so fein appretierte Schulaufsätze in dieser Zeit« denn zu irgendetwas nütze seien. Anton Kuhs Widerwille gegen den gedankenpünktelnden Impressionismus datierte nicht erst aus einer Zeit, da es brenzlig, ja die Lage beinahe aussichtslos 3

Yorick [d.i. Kuh, Anton]: »Ein zweiter Napoleon?«, in: Aufbau vom 26.07.1940, S. 4.

4

Ebd.

5

Kuh, Anton: »Personally«, in: Die neue Weltbühne vom 05.03.1936, S. 314f., hier S. 314.

6

Kuh, Anton: »Die Winterhilfe«, in: Die neue Weltbühne vom 17.10.1935, S. 1331.

7

A. Kuh: Ein zweiter Napoleon?, S. 4.

8

a. k. [d.i. Kuh, Anton]: »Einer über den anderen«, in: Prager Tagblatt vom 31.10.1916, Morgen-Ausgabe, S. 4.

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geworden war. Eminent politischer Kopf, der er war, hatte er sich bereits in jungen Jahren publizistisch in die politischen Tagesdebatten eingemischt. Ab März 1917 hatte er in der Wiener Montagszeitung Der Morgen Woche für Woche die laufenden Ereignisse glossiert, hatte er ätzend den waffenbrüderlich-patriotischen Überschwang in der »großen Zeit«9, antisemitische Ausfälle der Klerikalen und kaum verhohlene Aufrufe zum Pogrom kommentiert, die im Verlauf des Kriegs immer weniger verblümt in der deutschvölkischen Presse geäußert wurden, hatte er akribisch Akte von Behördenwillkür und Zensur, die immer wieder auch seine Texte verstümmelten, verfolgt. Im Oktober 1918 hatte er nachdrücklich für einen radikalen Schnitt plädiert: dafür, die Generation, die sich schreibend an der Verherrlichung des großen Schlachtens beteiligt hatte, die Plakatträger und Apologeten der alten Zeit, mit lebenslanger Quarantäne zu belegen. Auf seiner »Proskriptionsliste« fanden sich unter den Propagatoren eines »deutschzentralistischen Großösterreich« neben einem Moriz Benedikt, dem Herausgeber der Neuen Freien Presse, »alle die Herren, die mit der Aufgabe betraut sind, Benedikts Welt mit Farben zu beleben, das heißt, unter dem Strich ästhetisch fortzusetzen, […] die Autoren und Erhalter eines Staatsfeuilletonismus. Sie sind feudal, nobel, träumerisch und aus Brünn. Ihre philosophische Herleitung ist etwa folgende: Eine Zeitung muß als Weltprodukt die Welt bejahen, damit sich der Abonnent in ihr beruhigt, wohlig, sicher fühlt und an sie glaubt. Ergo ist sie für Fortschritt, Entwicklung, Technik, mehr Licht und weniger Denken. Außerdem für alles, was besteht, für Staat, Stadt, Bezirk, Straße, für den Bestand in jeglicher Art. Das macht ihr manchmal Schwierigkeiten. Aber mit bißchen impressionistischem Holldrioh, mit schelmischer Gemütssolidarität und Resignationsbrüderlichkeit bringt man alles zustande – auch auf zerrissenem Boden zu stehen und auf ihm zu hüpfen, ad absurdum geführt zu werden und zu tirilieren. Im gewissen Sinne war darin jeder Österreicher Feuilletonist, der Feuilletonismus geradezu seine Weltanschauung, die einzige Form, in der sich das Widerstreitende zur Bejahung schließen konnte. Die Erde klafft unter den Füßen, die Tschechen ziehen am Seil nach Nordwesten, die Polen nach Nordosten, die Ungarn nach Osten, die Slowenen nach Süden, alle gegen einen, einer gegen alle – was tut er da? Er denkt: es ist nicht schön, aber ihr meint es ja nicht so. Denn das Burgtheater ist doch ein ganz schönes Theater, und der Prater hat sehr alte Bäume, und vom Kahlenberg ist eine sehr hübsche Aussicht, und i bin du, und du bist i, und wir gehören alle zusammen. Der Radetzkymarsch überbraust ja doch euer Gezänk und ihr marschiert eingehängt mit … So löst sich in einer Wurstelpratervision aller Widerspruch.«10 9

Anton [d.i. Kuh, Anton]: »Patriotismus auf Straßentafeln«, in: Der Morgen. Wiener Montagblatt vom 02.07.1917, S. 6.

10 Kuh, Anton: »Proskriptionsliste«, in: Der Friede vom 11.10.1918, S. 272f.

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Unter die »Feuilletontapezierer«, die sich »von der Wirklichkeit zu einer phänomenalen, großstaatlichen Lesebucherinnerung (Karl V., Thugut, Prinz Eugen und die spanische Erbfolge) mit holdseliger Operettengegenwart« gerettet hatten, rechnete Kuh etwa Felix Salten, Hans Müller, Hugo von Hofmannsthal, Richard Schaukal und Mirko Jelusich. Männern wie Jelusich müsse man auf die Finger schauen: »Gebt gut acht, was sie tun und reden! Und ob sie es wagen, sich in den Vordergrund einer Zeit zu stellen, deren größtes Hindernis sie waren.«11 Und er rief dazu auf, diese Herrschaften, sollten sie versuchen, »mit unschuldiger Miene« in die neue Zeit hinüberzuschleichen, »kurzweg beim Genick [zu] packen und wieder hinaus[zu]werfen«12. Seine »Proskriptionsliste« hatte Kuh in der von Benno Karpeles mitten im Krieg lancierten pazifistischen Wochenschrift Der Friede angeschlagen. Alfred Polgar, verantwortlich für den literarischen Teil der Zeitschrift, skizzierte die Blattlinie der Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur, deren erste Nummer am 26. Januar 1918 erschien, ex negativo, indem er die »Nichtmitarbeiter« aufzählte – als da waren: die »sogenannten ›Jungwiener‹«, die »Librettisten«, die »Feuilletonisten«. Zuallererst müsse eine gute Zeitschrift nämlich eine »ZeitSchrift« sein, »eine Art Uhr, die die politische, soziale, literarische Stunde schlägt«; eine Zeitschrift auch, die auf die »wienerische Note« werde verzichten müssen.13 Und mit ebendieser gern als Wiener Note bezeichneten Spielart des Feuilletons, dem heiteren Geplauder, hatte Anton Kuh so gar nichts am Hut. In Tonlage und Gestus sind seine anspielungs- und bilderreichen Texte das genaue Gegenteil der Wiener Feuilleton-»Feinsäuselei«14. Seine Porträts, Skizzen und Geschichten, Besprechungen, Würdigungen und Glossen erschöpfen sich nicht in impressionistischem ›Pointillismus‹, sondern geben die Eindrücke eines hellwachen Zeitgenossen wieder. Ein Jahr nach seiner Gründung, im Januar 1919, lieferte Der Friede, was vor Jahresfrist die Zensur noch verhindert hatte: sein Programm, in dieser »Fiktion aus Schund und Kitsch« namens Österreich ein »Störenfriede« zu sein.15 – Ein 11 Ebd., S. 273. 12 Ebd., S. 272. 13 Vgl. Polgar, Alfred: »Zeitschrift in Wien«, in: Der Friede vom 02.02.1918, S. 46f., hier S. 46. 14 Anton Kuh unter der Überschrift »Marquis des Feuilletons«: »Die Produktivität des Feinsäuslers ist nichts als eine pedantisch verschleißte Sterilität« (Kuh, Anton: Physiognomik. Aussprüche, München: Piper & Co. o. J. [1931], S. 76). 15 Vgl. [Anonym]: »Ein Jahr ›Friede‹«, in: Der Friede vom 17.01.1919, S. 603f., hier S. 604.

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Programm ganz nach dem Geschmack dieses »Ausnahmsfall[s] von renitentem Geist«16 namens Anton Kuh, dem die Rolle des »gebornen Frondeurs«, die er in einem Pamphlet mit dem Titel Pogrom17 im Mai 1918 den Juden generell zuschrieb, auf den Leib geschneidert war. Ein Selbstverständnis, das nicht allseits goutiert wurde: Die christlichsoziale Wiener Reichspost stellte Kuh dafür als Propagator jüdischer Weltherrschaft an den Pranger,18 und der Wiener Landtagsabgeordnete Leopold Kunschak hetzte bei einer Kundgebung des Christlichsozialen Arbeitervereins in der Volkshalle des Neuen Rathauses am 10. Juli 1918 unter dem johlenden Beifall der 2500 Versammelten gegen das verkommene Albion und dessen »wühlerische« Helfershelfer, namentlich gegen einen »jüdische[n] Journalist[en]«, der »in einer jüdischen Zeitung das Wort vom ›Juden als dem gebornen Frondeur‹ geprägt«19 hat. Und es blieb nicht bei verbalen Anfeindungen und Drohungen in der völkischen Presse. Als Kuh am 22. Dezember 1922 im Wiener Konzerthaus wieder einmal als Stegreifredner auftrat, lauerte ihm nach dem Vortrag ein mit Schlagringen, Stöcken und Totschlägern bewaffneter Trupp Hakenkreuzler auf, um ihm, dem Juden, das freche Maul zu stopfen.20 Dass jemandem, der in der publizistischen Auseinandersetzung Kopf und Kragen riskierte, die feuilletonistischen ›Dampfplauderer‹ – jene blutleeren »NichtsRiskierer« und »physiologischen Feiglinge«, deren ganzes Streben dahin gehe, sich keine Blößen zu geben, und die »statt in der Welt im luftleeren Raum der Intellektualität leben«21 – ein Gräuel waren, ist vermutlich nachvollziehbar. Verständlich vermutlich auch die idiosynkratische Aversion gegen die Herrschaften, die auf einer Glatze Locken drehten,22 die, während über dem Strich Tacheles geredet werde, unter dem Strich gemütlich plauderten und die Misslichkeiten der Welt mit einem rosa Zuckerguss drapierten. 16 Viertel, Berthold: »›Pogrom‹«, in: Der Friede vom 07.06.1918, S. 471-473, hier S. 471 und 473. 17 Kuh, Anton: »Pogrom«, in: Der Friede vom 31.05.1918, S. 449f. 18 Vgl. [Anonym]: »Was sie schmerzt …«, in: Reichspost vom 06.06.1918, NachmittagsAusgabe, S. 3. 19 [Anonym]: »Massenkundgebung christlich-sozialer Arbeiter«, in: Reichspost vom 11.07.1918, Morgen-Ausgabe, S. 6. 20 Vgl. Kuh, Anton: »Der exportierte Mord«, in: Der Morgen. Wiener Montagblatt vom 04.09.1933, S. 9. 21 Kuh, Anton: »Material! Material!«, in: Der Querschnitt (August 1927), S. 632-634, hier S. 634. 22 »Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen; aber diese Locken gefallen dem Publikum besser als eine Löwenmähne der Gedanken« (Kraus, Karl: »Heine und die Folgen«, in: Die Fackel vom 31.08.1911, S. 1-33, hier S. 10).

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Der »Sinn des Feuilletonteils, sofern er überhaupt Sinn« habe, konnte für Kuh nur in der Anarchie liegen, »die innerhalb seiner Grenzen im Gegensatz zum Obern-Strich-Rayon« herrsche; und »im Wettbewerb der Feuilletonisten« war für ihn derjenige der beste, »der die eigenste und freieste, sagen wir ruhig: verantwortungsloseste Welt«23 dachte. Diese Maxime findet sich 1928 in einer sarkastischen Glosse über die defensive Halbheit und Kompromisslerei der politischen Mitte der Weimarer Republik, die mit ihren ebenso bieder-naiven wie zeremoniös ins Treffen geführten Parolen, die da lauteten ›Takt‹ – ›Sachlichkeit‹ – ›Verantwortung‹ – ›Würde‹, längst die Macht verspielt hatte und verwundert ihre Felle davonschwimmen sah. Unmittelbarer Anlass für Kuhs Ein- respektive Auslassungen war eine Rede im Rahmen der Kölner Pressa, in der Kultusminister Carl Heinrich Becker öffentlich darüber nachgedacht hatte, die Herrschaften, die den Platz ›unter dem Strich‹ bespielten, im Sinne »kollektiver Verantwortlichkeit« an die Kandare zu nehmen, weil er dort noch allzu viel »Individualismus« und »Atomisierung der öffentlichen Meinung«24 ortete. Damit kam er bei Kuh, diesem »Linksler, Exzedent[en], Schmutzfink der Aufrichtigkeit« und damit »geborene[m] Spielverderber«25, gerade an den Richtigen. Auch wenn dabei nichts andres als Störung der Ruhe herausgekommen wäre, insistierte er: »›Vive l’excès!‹«26 Dass Kuh eine Gelegenheit zu Polemik, zu »Gezänk« nur ungern vorübergehen ließ, war auch eine Sache des Temperaments. Er war einer jener übersensiblen, aufgekratzten Neurastheniker, die als Phänomen der modernen, ›überreizten‹ Jahrhundertwende-Großstadtkultur von Krafft-Ebing und anderen beschrieben wurden. Viel mehr noch aber war das eine Frage seines Selbstverständnisses als Publizist: Für ihn war das Feuilleton ein ›Diskursort‹, ein Ort mithin, wo tagtäglich nicht nur über die ästhetischen Valeurs einer neusachlichen Wedekind-Inszenierung oder eines dramatischen Koloratursoprans oder der Schrittfolge einer Ausdruckstänzerin ge- und verhandelt wurde, sondern und eben auch im Genre der Buchbesprechung, der Theater- und Musikkritik über die Werte ge- und ver-

23 Kuh, Anton: »Die vier Worte des Demokraten«, in: Die Weltbühne vom 12.06.1928, S. 893-897, hier S. 897. 24 [Anonym]: »Staat und Presse. Eine Rede des Kultusministers Dr. Becker in Köln«, in: Berliner Tageblatt vom 03.06.1928, Ausgabe für Berlin, Morgen-Ausgabe, 1. Beiblatt [S. 2]. 25 Kuh, Anton: »Wie zwitschern die Jungen? Eine Rundfrage und eine Idylle«, in: Die Stunde vom 08.04.1926, S. 5. 26 Kuh, Anton: »Adalbert Sternberg«, in: Die Weltbühne vom 06.05.1930, S. 689-693, hier S. 690.

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handelt wurde, auf denen der gesellschaftliche Umgang gründete und die politischem Handeln die Leitlinien zogen. Und »Gezänk«, soll heißen das Austragen von Meinungsverschiedenheiten, ist dabei elementar. Kuh war mitnichten bereit, die Sphäre ›über dem Strich‹ von derjenigen ›unter dem Strich‹ fein säuberlich zu trennen; er war nicht willens, dem »alte[n], fade[n], verlogene[n] Spruch«, man solle »Kunst nicht mit Politik verquicken!«, zu gehorchen. Im Gegenteil – Kuh über das Auftreten von »Hitlers gehätscheltem Maestro« Wilhelm Furtwängler bei den Salzburger Festspielen des Jahres 193727: »Ich werde hier sogleich verquicken. […] [D]ie Welt, die zu Staatsräten und Musikführern ernennt, will den Künstlern eben nicht frei bleiben – daher es schon Politik ist, wenn ein Dortgebliebener anderwärts Musik macht.«28 Wiederum ganz nach seinem Lebensmotto – »Nur nicht gleich sachlich werden! Es geht ja auch persönlich«29 – sehr persönlich, handgreiflich nämlich, und wiederum »verquickend« verfuhr Kuh mit dem 1895 in Wien als Arnold Hans Bronner geborenen Autor, der unter dem um ein »wetterhartes, geniekantiges, prospektbedachtes ›t‹« aufgenordeten Dichternamen Arnolt Bronnen30 in den 1920er Jahren Karriere machen sollte – ganz nach dem auf Bronnen gemünzten Kuh’schen Aperçu: »Wenn der Literat den Raufbold spielt, sollte der Kritiker seinen Hausknecht vorschicken«31. Auf Bronnens Exzesse (1923) hin, diese groteske Szenenfolge drastisch entgrenzter Sexualität um zwei kleine Bankangestellte, Hildegard und Lois, die, getrennt, Erlösung von der Brunst ihrer grellen Geilheit nur ineinander finden können, machte Kuh den »ernstlichen Vorschlag, [ihm] die Hosen straffzuziehen«32. Das »Barbarentum eines Jung-Bronnen«33 und das Fahrwasser, in das Bronnen mit seiner amoralischen, rohen Brutalität geriet, hatte Kuh bei seinen Polemiken von Anfang an im Visier. Zum Drama Anarchie in Sillian (1924), in dem sich mannhafter Arbeitswille und Pflichtfanatismus gegen die erotischen Anfechtungen des korrumpierenden Prinzips ›Weib‹ stemmen: »Hochspannungs-Tinnef. Eine Kinderei von 2000 Volt Handlung. […] Bronnen aber, gleich dem Bordell27 Furtwängler unterschrieb im August 1934 den »Aufruf der Kulturschaffenden« und versicherte darin den »Führer« seiner Gefolgschaft. 28 Kuh, Anton: »Der übernationale Dirigent«, in: Die neue Weltbühne vom 16.09.1937, S. 1188-1192, hier S. 1190. 29 A. Kuh: Physiognomik, S. 121. 30 Vgl. Kuh, Anton: »Exzesse«, in: Prager Tagblatt vom 22.10.1922, S. 8f., hier S. 8. 31 A. Kuh: Physiognomik, S. 76. 32 A. Kuh: Exzesse, S. 8. 33 Kuh, Anton: »Ein Drama des Rassenhasses. Galsworthys ›Loyalties‹ (›Gesellschaft‹) bei Reinhardt«, in: Die Stunde vom 10.04.1925, S. 5.

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Hinauswürfling, der gegen das Haustor gottesanklägerisch und ottoweiningerisch die Fäuste ballt, wirft dem weiblichen Geschlecht den Fehdehandschuh hin: Adieu, Wollust – ich bin produktiv.«34 Und wenn Kuhs Fazit auch bärbeißig-launig lautete: »Ceterum censeo: fünfundzwanzig …«, soll heißen: fünfundzwanzig Schläge mit dem Stock auf den Hintern, war ihm doch klar, dass dieser drastische zeitübliche Umgang mit Rotzbuben dem Übel nicht abhelfen würde: »Ich kann mir das Bravogebrüll in deutschen Gauen vorstellen: ein Neutöner, der alttönt. Das muß etwas für die notorischen Hereinfaller werden, die Redezickzack, Dampf und Schwall für Jugend nehmen. Ein Interpunktionsauslasser, der für Arbeit und Ordnung ist! Der Expressionist als Konterrevolutionär!«35 Kuh setzte dann auf Kurt Tucholskys empörten Verriss des Oberschlesien-Romans O. S. (1929)36, dieser distanzlosen Schilderung der blutrünstigen Exzesse des marodierenden Freikorps-Gesindels, dieser Männerphantasie aus »Blut, Vagina und Nationalflagge« (Tucholsky) noch eins drauf, er wunderte sich nur, dass Tucholsky, wie viele andere auch, in der salonfaschistischen »Pfuscherei« des Konjunkturritters ein neues Gesicht Bronnens erkannt haben wollte. Es sei ganz das alte: »Der exzessive, der neutönerische, der radikale Bronnen, war er ein anderer? […] War nicht schon Jung-Sexual-Bronnen ein Renommist? Trug Eros bei ihm nicht Wickelgamaschen? Und war dieses Stürmer- und Drängertum nicht bereits das umgestülpte Futter des Hakenkreuzlers? Nein, dieser Kopf hat sich nicht verändert; der Stahlhelm war seine vorbestimmte Zier.«37 Ausgerechnet in der Domäne des bürgerlichen Kulturbetriebs exerzierte Anton Kuh über Jahre seinen antibürgerlichen Habitus – als Theaterkritiker. Und gerade als Theaterkritiker war er respektloser, taktloser, polemischer denn je. Er unterlief die eingeschliffenen Routinen der etablierten Theaterkritik mit ihrer betulichen Fadesse und ihren abgegriffenen Klischees. Er versah sein ›Kritikeramt‹ – eine Bezeichnung, die er sich verbeten hätte – nicht als Wegweiser in aestheticis, magistrale Anmutungen waren ihm gänzlich fremd. Der Gestus seiner Theaterkritiken war nicht der des Fachmanns, der seine Leserschaft aus der privilegierten

34 Kuh, Anton: »›Anarchie in Sillian‹. Gestern am Raimund-Theater«, in: Die Stunde vom 17.04.1924, S. 6. 35 Ebd. 36 Wrobel, Ignaz [d.i. Tucholsky, Kurt]: »Ein besserer Herr«, in: Die Weltbühne vom 25.06.1929, S. 953-960. 37 Kuh, Anton: »Schmelz, der Nibelunge«, in: Die Weltbühne vom 02.07.1929, S. 35f., hier S. 36.

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Position des Kritikers heraus belehrt oder der schulmeisternd auf Schauspieler einzuwirken versucht, sondern der des »Gesinnungsenthusiasten«38. Ohne gleich so etwas wie ›Theaterpolitik‹ machen zu wollen, interessierte sich Kuh sehr wohl auch für den ›Betrieb‹, für die Rahmenbedingungen, und hielt etwa mit seiner Meinung über Theaterleiter nicht hinter dem Berg, strafte das Aufheben, das jahrelang, von den späten 1910er bis Mitte der 1920er Jahre um das marode Burgtheater gemacht wurde, mit Verachtung. Statt das Zeitungslesepublikum fünfmal in der Woche mit dem Gejammer über die ›Burgtheaterkrise‹ zu belästigen, solle man das herabgewirtschaftete Burgtheater – »ein dekorativer Lesebuchbegriff, mit einem ganzen Hofstaat von Nichtskönnertum, Erbgesessenheit und Schablonenwirtschaft«39 –, um nicht jedes Mal aus einer Kunst- gleich eine Zeremoniellfrage zu machen, umbenennen in »Stadttheater am Franzensring« und endlich, »statt es ewig zaghaft-prätentiösen Schüler der ihm vorgetrommelten Bedeutung sein zu lassen, einmal die Riesenfeuilleton-Handschuhe, mit denen man jede Reprise und jedes Gastspiel anfaßte«40, ausziehen. Als Wiener Kind von klein auf imprägniert mit dem bildungsbürgerlichen Gewese um den rituell vollzogenen Besuch des Theaters, das die Wirklichkeit ersetzt und wichtiger genommen wird als das Leben – »Denn wenn der Schein einmal vorüber wäre, wär’s mit der Wirklichkeit auch hin«41 –, war er in jungen Jahren auch und vor allem Theaterkritiker – bis er 1926 endgültig genug hatte von diesem »bürgerlichen Galaschmarrn mondän-problematischer Kreuz- und Quernichtigkeiten«42. Mit seiner Geringschätzung dieses »bengalischen bürgerlichen Zaubers«43 hatte er ohnehin nie hinter dem Berg gehalten. Mit seiner Geringschätzung der Schauspieler übrigens auch nicht. Kuh in einem Vortrag 1926:

38 Kuh, Anton: »Robert Hirschfeld. Ein Nachruf«, in: Prager Tagblatt vom 05.04.1914, Morgen-Ausgabe, S. 8f., hier S. 8. 39 Kuh, Anton: »Burgtheaterkrise«, in: Prager Tagblatt vom 21.03.1917, Morgen-Ausgabe, S. 5. 40 Kuh, Anton: »Die Burgtheaterlüge«, in: Wiener Sonn- und Montags-Zeitung vom 11.12.1922, S. 2. 41 Kuh, Anton: »Buntes Allerlei«, in: Der Morgen. Wiener Montagblatt vom 01.04.1918, S. 7. 42 Kuh, Anton: »›Theaterkrisen‹. Prinzipielles zu einem Spezialfall«, in: Prager Tagblatt vom 31.10.1915, Morgen-Ausgabe, S. 11. 43 [ü.]: »Kuhs Kulturkritik. Im Kurfürstendamm-Theater«, in: Vossische Zeitung vom 07.12.1931, Abend-Ausgabe, Unterhaltungsbeilage Nr. 292 [S. 3].

76 I W ALTER S CHÜBLER »Wenn ich der Sozialismus wäre – auf die Schauspieler würde ich verzichten. Der Schrei nach der Hauptrolle ist in ihnen stärker als die Politik. Wenn sie den Lear zugeteilt bekommen, ist es ihnen gleichgültig, ob Sozialismus, ob Fascismus; und ich glaube, daß jeder Empörer unter ihnen seine Gewerkschaftstoga sofort hinwürfe, wenn man ihm den Lear gibt. Ja, ich kann mir gut vorstellen, daß beim Beginn einer österreichischen Mussolini-Ära die brave Frau Niese auf der Bühne ausriefe: ›Jessas, ich kann nicht anders – ich muß dem Mussolini ein Busserl geben!‹«44

Wenn so etwas wie Axiome aus seinen Theaterkritiken zu extrahieren sind, dann zählt dazu zuallererst die Ablehnung des bürgerlichen Verständnisses von Kunst als Behübschung des Feierabends. »Épater le bourgeois« steht auf Kuhs Fahnen geschrieben, den Philister aus seiner Selbstzufriedenheit und Selbstgefälligkeit aufstören. Denn »der letzte Sinn des Theaters« sei es ja gerade, »daß es den Spießer zum Schweben bring[e]«45. Anton Kuhs nassforsche Theaterkritikern vermochte nicht jeder zu goutieren. Arthur Schnitzler etwa kommentierte am 11. Oktober 1924 in seinem Tagebuch Kuhs Bemerkungen zur Uraufführung seiner Komödie der Verführung: »In üblich frechem Recensententon«46. Und am Samstag, dem 15. März 1924, fiel der große Mime Eugen Klöpfer aus der Rolle, um von der Bühne des Raimundtheaters herab seinen Unwillen darüber kundzutun, dass Kuh tags davor sich erfrecht hatte, »ein Kunstwerk von einem Dichter wie Hauptmann [zu] bewitzeln«47. Diesen hatte Kuh boshaft als »Gewerkschaftsolympier«48 bezeichnet. Klöpfer setzte in der Rolle des Michael Kramer im zweiten Akt seinem flammenden Plädoyer für ein weltabgewandtes, heiligmäßiges Künstlertum, das im Satz »Kunst ist Religion« gipfelt, schreiend ein »Ja, ja, Herr Kuh!« hinzu. Den Darstellern auf der Bühne

44 Kuh, Anton: »Breitner, Tacitus, Molnár. Bruchstücke aus einem Vortrag«, in: Die Stunde vom 21.05.1926, S. 5. 45 Kuh, Anton: »Blaufuchs«, in: Der Morgen. Wiener Montagblatt vom 07.09.1917, S. 7. 46 Schnitzler, Arthur: Tagebuch, unter Mitwirk. von Peter Michael Braunwarth/Susanne Pertlik/Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig, Band: 1923-1926, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1995, S. 193. 47 »Eine Erklärung Eugen Klöpfers«, in: Neues 8 Uhr-Blatt vom 17.03.1924, S. 6. 48 Kuh, Anton: Von Goethe abwärts. Essays in Aussprüchen, Leipzig/Wien/Zürich: Tal & Co. 1922, S. 15.

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verschlug die erregte Improvisation den Atem.49 Das Publikum nahm den temperamentvollen Ausritt zwiespältig auf. Klöpfer trat an die Rampe und entschuldigte sich: Er habe nicht anders gekonnt. Kuh hatte sich über den hohen Ton, das Weihevolle von Gerhart Hauptmanns Künstlerdrama Michael Kramer lustig gemacht, es als »dumpf orgelnde Trivialität; Nebeneinander von Problematik und Gugelhupf«, als »Mischmasch aus Wahrheit und Plattheit« beschrieben und die Zeichnung der Künstlerfigur schlicht als frühnaturalistischen »Schmarrn«50. Viel eher als ein Künstler sei Michael Kramer – den Klöpfer »mit rudernden Verkündigungsgesten als Genie hinstellte« – »ein spießiger Dilettant«. Und er hatte damit offenbar den wunden Punkt getroffen, wie er in seiner Antwort auf den improvisierten Text-Seitensprung Klöpfers süffisant bemerkte.51 Das »Narkotikum des unbefreiten Menschen«52, wie Anton Kuh das Theater in einem Berliner Vortrag 1929 bezeichnete, liefert hier auch die Coda – auf dass sich der Text feuilletonistisch schön runde: Im Wiener Theater Die neue Tribüne standen im November 2015 zwei »heitere Einakter um Liebe und Eifersucht«53 von Raoul Auernheimer auf dem Spielplan. Titel des Programms: Wiener Klatsch. Ob Auernheimer damit erneut Unrecht getan wurde oder Kuh im Nachhinein erst recht Recht behielt, bleibe dahingestellt.

49 Vgl. [Anonym]: »Eine Erklärung Eugen Klöpfers«, in: Neues 8 Uhr-Blatt vom 17.03.1924, S. 6; [Anonym]: »Schauspieler und Kritiker. Eugen Klöpfer gegen Anton Kuh«, in: Die Stunde vom 18.03.1924, S. 4. 50 Kuh, Anton: »Gastspiel Klöpfer. ›Michael Kramer‹ von Gerhart Hauptmann (RaimundTheater)«, in: Die Stunde vom 16.03.1924, S. 5. 51 Vgl. Kuh, Anton: »Klöpfer kontra Hauptmann. Zum Zwischenfall im Raimundtheater«, in: Die Stunde vom 19.03.1924, S. 5. 52 Kuh, Anton: »Aber das Publikum …!« (Stegreifrede in Berlin, Die Komödie, am 02.02.1929; referiert von [M., E.]: »Anton Kuh spricht in der Komödie«, in: B.Z. am Mittag vom 04.02.1929, 1. Beiblatt [S. 2]). 53 Programm der Neuen Tribüne.

»Der neue Feuilletonist in Deutschland marschiert auf der Straße mit«1. Die Konzeption einer ›deutschen‹ Textgattung in der zeitungswissenschaftlichen Forschung Wilmont Haackes B ETTINA B RAUN

Die Verstrickung der zeitungswissenschaftlichen Forschung zum Feuilleton mit der nationalsozialistischen Ideologie und der Geschichte ihres Gegenstandes ist hinlänglich bekannt, doch nicht umfassend aufgearbeitet. Die »wohl wichtigste und umfangreichste Leistung«2 innerhalb der ›Feuilletonkunde‹, des Zweigs der Zeitungswissenschaft, der sich der Erforschung des Feuilletons widmete, lieferte Wilmont Haacke. In Arbeiten der germanistischen Feuilletonforschung seit den 1990er Jahren wurde wiederholt nicht nur sein Feuilletonbegriff kritisiert, sondern auch auf die antisemitischen und nationalsozialistischen Wertungen in seiner 1943/1944 erschienenen Habilitationsschrift Feuilletonkunde. Das Feuilleton als literarische und journalistische Gattung3 und anderen Schriften aus dieser Zeit aufmerksam gemacht.4 Erst spät beschäftigte sich die Publizistikwissenschaft mit 1

Haacke, Wilmont: Feuilletonkunde. Das Feuilleton als literarische und journalistische

2

Todorow, Almut: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik.

Gattung, Band 1, Leipzig: Hiersemann 1943, S. 349. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung (= Rhetorik-Forschungen, Band 8), Tübingen: Niemeyer 1996, S. 24. 3

Haacke, Wilmont: Feuilletonkunde. Das Feuilleton als literarische und journalistische

4

Vgl. u.a. Kernmayer, Hildegard: Judentum im Wiener Feuilleton (1848-1903). Exemp-

Gattung, 2 Bände, Leipzig: Hiersemann 1943/1944. larische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne

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der Feuilletonkunde und Haackes NS-Vergangenheit.5 Durch einen Vergleich der Feuilletonkunde mit ihrer Neuausgabe, dem Handbuch des Feuilletons6 (1951– 1953), kam Verena Blaum zum Schluss, dass sich die Unterschiede mit dem Eingreifen der Zensur – wie von Haacke im Vorwort des Handbuch des Feuilletons

(= Conditio Judaica, Band 24), Tübingen: Niemeyer 1998, S. 11-13 und 38-48; A. Todorow: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik, S. 28 und 30; Jäger, Georg: »Feuilleton«, in: Walther Killy/Volker Meid (Hg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Band 13, Gütersloh: Bertelsmann Lexikon 1992, S. 301f., hier S. 302; Schütz, Erhard: »›Ich zeichne das Gesicht der Zeit‹. Skizzen zu Feuilleton und Feuilletonforschung aus der und zu der Zeit von 1918 bis 1945«, in: Kai Kauffmann (Hg.), Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin: Weidler 2000, S. 177-188, hier S. 184-188; Schütz, Erhard: »Unterm Strich. Über Grenzverläufe des klassischen Feuilletons«, in: Juni. Magazin für Literatur und Kunst 51/52 (2016), S. 11-25, hier S. 12. Vgl. auch den Artikel: Reichwein, Marc: »Kleine Form gegen den Kadetten-Drill«, in: Die Welt vom 04.03.2011, siehe https://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article12697031/Kleine-Form-gegen-denKadetten-Drill.html 5

Vgl. Blaum, Verena: »Schmarotzende Misteln. Wilmont Haacke und die so genannte Verjudung des deutschen Feuilletons«, in: Wolfgang Duchkowitsch/Fritz Hausjell/Bernd Semrad (Hg.), Die Spirale des Schweigens. Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Zeitungswissenschaft (= Kommunikation, Zeit, Raum, Band 1), Münster: Lit 2004, S. 181-192; Wiedemann, Thomas: »Wilmont Haacke«, in: Michael Meyen/Th. W. (Hg.), Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft, Köln: Herbert von Halem 2014, siehe http://blexkom.halemverlag.de/wilmont-haacke/ Als „Rassentheoretiker des Feuilletons“ bezeichnete Siegfried Weischenberg Haacke. Vgl. Weischenberg, Siegfried: Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation, Band 1: Mediensysteme, Medienethik, Medieninstitutionen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 58. Kritik an Haackes während der NS-Zeit erschienenen Publikationen und der Umarbeitung der Feuilletonkunde übte der Historiker Helmut Hirsch bereits 1970 und zog einen geplanten Beitrag für Haackes Festschrift zurück. Vgl. Hirsch, Helmut: Lehrer machen Geschichte. Das Institut für Erziehungswissenschaften und das Internationale Schulbuchinstitut. Ein Beitrag zur Kontinuitätsforschung (= Schriftenreihe zur Geschichte und politischen Bildung), Ratingen: Henn 1971, S. 248-250.

6

Haacke, Wilmont: Handbuch des Feuilletons, 3 Bände, Emsdetten: Lechte 1951, 1952, 1953.

W ILMONT H AACKE UND

DAS

F EUILLETON

ALS › DEUTSCHE ‹

TEXTGATTUNG

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behauptet – nicht ausreichend erklären lassen,7 den beiden Fassungen vielmehr »ein aufwändiges, detailliert ausgefeiltes System unterschiedlicher Formulierungen«8 zugrunde liegt. Es seien opportunistische Gründe gewesen, vermutete Heidrun Ehrke-Rotermund, aus denen Haacke sich dem nationalsozialistischen Regime angepasst hat. Um mit seinem Forschungsgegenstand Feuilleton im ›Dritten Reich‹ Karriere zu machen, sei er zur geforderten Anpassung an den Antisemitismus bereit gewesen.9 Da seine Dissertation zu Julius Rodenberg und der Deutschen Rundschau in der Zeit des Nationalsozialismus nicht publiziert werden konnte, habe er mit dem »exzessiven Antisemitismus«10 der Feuilletonkunde möglicherweise auch den Beweis für seine Linientreue erbringen wollen.11 Im Bestreben, der im ›Dritten Reich‹ vertretenen Auffassung, wonach es sich beim Feuilleton um eine »›jüdische‹ oder doch entartete Form der Publizistik«12 7

Vgl. V. Blaum: Schmarotzende Misteln, S. 188f. Zur Frage der Zensur, die bis heute nicht abschließend geklärt ist, vgl. auch M. Reichwein: Kleine Form gegen den Kadetten-Drill.

8

V. Blaum: Schmarotzende Misteln, S. 188.

9

Vgl. Ehrke-Rotermund, Heidrun: »Rudolf Pechel und Wilmont Haacke – zwei Intellektuelle im ›Dritten Reich‹ oder: Vom ›guten Bekannten‹ zur Unperson«, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 108 (2014), Heft 4, S. 417-448, hier S. 438f. Haackes »unbedingten Willen« trotz des Nationalsozialismus zu reüssieren, erwähnt auch der Artikel im Biographischen Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Vgl. T. Wiedemann: Wilmont Haacke. Nach dem Eintritt in die NSDAP erhielt Haacke 1938 eine Stelle als Redakteur beim Berliner Tageblatt und war für die Sonntagsbeilagen Literatur und Zeit und Geistiges Leben verantwortlich. Ab 1939 war er als wissenschaftlicher Assistent mit dem Aufbau eines zeitungswissenschaftlichen Instituts an der Universität Wien betraut, von 1943 bis 1945, nach der Habilitation, war er Direktor am Institut für Zeitungswissenschaft der Universität Freiburg. Nach dem Ende des ›Dritten Reichs‹ wurde er von der Entnazifizierungsbehörde als Mitläufer eingestuft und konnte ab 1949, zunächst als Assistent von Walter Hagemann in Münster, erneut im Fach Fuß fassen. Weitere Stationen umfassten eine außerplanmäßige Professur für Publizistik ab 1955 sowie einen Lehrstuhl für Publizistik in Göttingen und die Direktion des gleichnamigen Instituts ab 1963. Vgl. T. Wiedemann: Wilmont Haacke; M. Reichwein: Kleine Form gegen den Kadetten-Drill.

10 V. Blaum: Schmarotzende Misteln, S. 187. 11 Vgl. H. Ehrke-Rotermund: Rudolf Pechel und Wilmont Haacke, S. 436. 12 Wulf, Joseph: Presse und Funk im Dritten Reich. Eine Dokumentation (= Ullstein-Buch Zeitgeschichte, Band 33028), Frankfurt a.M.: Ullstein 1983, S. 209. In dieser Verbindung ließ sich von den Nationalsozialisten der Vorwurf des Feuilletonismus gegen die angeblich ›verjudete‹ Presse instrumentalisieren. Vgl. Schweikle, Irmgard/Kauffmann,

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handle, entgegenzutreten, behauptete Haacke die Existenz einer ›deutschen‹ Textsorte, die sich vom ›jüdischen‹ Feuilleton unterscheiden lasse.13 Die Texte des Zeitungswissenschaftlers betrieben nicht nur die »kulturelle Ausbürgerung des ›jüdischen‹ F[euilleton]s«14, sie verunglimpften auch zeitgenössische jüdische Feuilletonistinnen und Feuilletonisten, die exiliert waren. Für das ›deutsche Feuilleton‹ führte Haacke in der Feuilletonkunde die Bezeichnung ›Kleine Form‹ in den wissenschaftlichen Diskurs ein und versuchte ab 1939 durch die Herausgabe mehrerer Feuilletonsammlungen, dieses »wertvolle« Feuilleton auch zu vermitteln. Die Sammlungen Die Luftschaukel (1939), Einer bläst die Hirtenflöte (1940), Das Ringelspiel (1940) und Das heldische Jahr (1941 und 1943) werfen ein Schlaglicht auf die kulturpolitische Indienstnahme des Feuilletons im ›Dritten Reich‹. Das Handbuch des Feuilletons revidierte die Positionen.

1. »AUSGESCHIEDEN [ E ] S TILARTISTEN « 15 Haackes Feuilletonkunde legitimierte die Gleichschaltung der deutschen Presse und beschrieb sie in einem Duktus, der an der Drastik der Maßnahmen keinen Zweifel ließ: »Der neue Staat, das nationalsozialistische Reich, brauchte ein anderes Feuilleton als das, welches bis zum 30. Januar 1933 in Deutschland dominierend war. […] An die Ausscheidung der Juden aus der Presse, an die Reinigung der Zeitungshäuser von ungeeigneten Elementen, an das sofortige Verbot landesverräterisch eingestellter Zeitungen und Zeitschriften, an die notwendige Niederlegung alles unbrauchbar Gewordenen, mußte sich die Neuordnung schließen.«16

Kai: »Feuilleton«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 237. 13 Vgl. H. Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton, S. 42. 14 G. Jäger: Feuilleton, S. 302. 15 Haacke, Wilmont: »Die kleine Form«, in: Europäische Revue 15 (1939), Heft 7, S. 8793, hier S. 88. 16 W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 431.

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Die Parallelen zum eigenen Projekt werden offenbar, wenn Haacke als wichtigste Aufgabe der Feuilletonkunde, welche die gleichnamige Habilitationsschrift begründen sollte, »die Ausmerzung des Judentums aus dem deutschen Feuilleton«17 bezeichnete. »Jahrzehnte einer Verjudung des Feuilletons«18 hätten zu einer »völligen Auflösung von Form, Inhalt und Gehalt des Feuilletons«19 geführt, die zu Recht den schlechten Ruf des Feuilletons begründete. Die negativen Urteile über das Feuilleton waren für Haacke unter der Voraussetzung zutreffend, dass sie nur auf das jüdische Feuilleton und dessen Vertreter abzielten,20 die sich des ursprünglich deutschen Feuilletons parasitär bemächtigt und seinen Niedergang herbeigeführt hätten. »Damit wären etwa jene Äste am Baume des deutschen Feuilletons bezeichnet, die – da sie gleichsam von schmarotzenden Misteln über und über bewachsen sind – abgesägt werden müssen.«21 Um das ›deutsche Feuilleton‹, das er auch als »arisches Feuilleton«22 bezeichnete, vom ›jüdischen Feuilleton‹ und seinem Einfluss loszulösen, beharrte Haacke auf seiner deutschen Herkunft23 und konstruierte ihm eine von jüdischen Autorinnen und Autoren freie literarische »Ahnenreihe«24, zu der er u.a. Abraham a Sancta Clara, Rabener, Lichtenberg, Jean Paul, Stifter, Schlögl, Ludwig Thoma und Victor Auburtin zählte,25 während er dem ›jüdischen Feuilleton‹ eine ausschließlich jüdische Genealogie »von Sonnenfels und Mendelsohn im 18. Jahrhundert an bis zu Kerr, Polgar und Tucholski [sic!]«26 zuschrieb.27 Haacke ging es

17 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 9. 18 Ebd., S. 5. 19 Ebd., S. 4. 20 Vgl. ebd., S. 7. 21 Ebd., S. 13. 22 Ebd., S. 12. 23 Vgl. auch Haacke, Wilmont: »Victor Auburtin und ›die kleine Form‹«, in: Wilmont Haacke (Hg.), Einer bläst die Hirtenflöte. Ausgewählte Feuilletons, Berlin: Hans von Hugo 1940, S. 203-212, hier S. 209. Die Anfänge des Feuilletons situiert Haacke hier in Deutschlands moralischen Wochenschriften und Zeitschriften des 18. Jahrhunderts. Zu den neben der französischen Tradition bestehenden deutschen Traditionslinien vgl. E. Schütz: Unterm Strich, S. 12. 24 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 9. 25 Vgl. ebd., S. 60, 254, 259, 282, 295 und 328; W. Haacke: Victor Auburtin und ›die kleine Form‹, S. 211. 26 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 9. 27 Diesem zentralen Anliegen (vgl. V. Blaum: Schmarotzende Misteln, S. 184) verdanken sich auch die Schwerpunkte im Kapitel »Poetische Metaphorik und Symbolik um das

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dabei um eine Identifizierung und Elimination des ›Jüdischen‹ im Feuilleton und damit verbunden um eine Umschreibung seiner Geschichte.28 In diesem doppelten Sinn ist der Begriff der »Ausmerzung« zu verstehen, in dem die Ermordung der Juden mitschwingt.29 Jüdische Autoren werden in der Feuilletonkunde durchgehend negativ beurteilt und als jüdisch gekennzeichnet, im Lauftext durch den Zusatz »Jude« oder »Emigrant«, im Namensregister durch ein Sternchen.30 Enthalten sind außerdem diffamierende Wertungen der bekanntesten exilierten Feuilletonisten und ihrer Texte, die mit gängigen antisemitischen Zuschreibungen belegt werden.31 Als »Prototyp eines in Presse und Schrifttum eingefilzten Klüngels von Sprachschändern«32 figuriert beispielsweise Alfred Kerr. Anton Kuh und Raoul Auernheimer werden als Beispiele für »die schreibfixen Juden«33 angeführt. Kerr, Polgar, Tucholsky und Rudolf Arnheim als Vertretern des ›jüdischen Feuilletons‹ wird vorgeworfen, durch ihre Wortartistik und ihren protzenden Sprachwitz das deutsche Feuilleton von einer Kunstform zum »Kunstgewerbe« degradiert zu haben34: »Unter der jüdischen Herrschaft führte das deutsche Feuilleton an Bord seines Schiffes viel, ja allzuviel Kunstgewerbe mit. Kerr und Polgar, Tucholski [sic!] und Arnheim mit ihrer angestrengten Witzigkeit, durch deren Fugen allenthalben der kalauernde Saphir schaute, haben ihm dies bis zuletzt, bis in die Jahre ihrer Ausquartierung, geschäftig aufgeladen.«35

In Textpassagen wie diesen bezog sich Haacke auf den antisemitischen Literaturhistoriker und Vertreter der Heimatkunstbewegung Adolf Bartels, der Kerr einen Feuilleton. (Von 1709 bis zur Gegenwart)«. Vgl. W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 252f. 28 »Die Geschichte des deutschen Feuilletons, so fragmentarisch sie bisher nur dasteht, ist gewissermaßen einer gründlichen chemischen Reinigung zu unterziehen.« Ebd., S.10. 29 Hildegard Kernmayer sprach in diesem Zusammenhang von »›der Endlösung der Judenfrage‹ im Feuilleton«. H. Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton, S. 40. Auf den Vorabdruck dieser Passagen Haackes 1942 wies Heidrun Ehrke-Rotermund hin. Nach Ehrke-Rotermund erhöhten sie die Akzeptanz der zeitgleich anlaufenden systematischen Ermordungen der Juden. Vgl. H. Ehrke-Rotermund: Rudolf Pechel und Wilmont Haacke, S. 440. 30 Vgl. W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 647-660. 31 Vgl. H. Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton, S. 48. 32 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 204. 33 Ebd., S. 205. 34 Vgl. auch W. Haacke: Die kleine Form, S. 88. 35 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 60.

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»Saphir redivivus ohne [Moritz Gottlieb] Saphirs Witz«36 nannte, und auf Heinrich von Treitschke.37 Haacke verwies auf die Abschnitte Radikalismus und Judentum, Das souveräne Feuilleton und Berlin am Ausgang der Regierung Friedrich Wilhelms III aus Treitschkes Bildern aus der Deutschen Geschichte (1908) und führte aus: »Treitschkes Gedanken erlauben den Schluß, daß vor allem auf dem Wortwitz der verblüffende Erfolg der jüdischen Feuilletonistik mit ihrem rein äußerlichen Appell an das intellektuelle Sensationsbedürfnis des modernen, gehetzten Menschen der Großstadt beruhte.«38 »Das Wesen des jüdischen Feuilletons«, paraphrasierte er Treitschke weiter, sei »sprachlicher und stilistischer Bluff«39 und er sprach von den »Blendeffekte[n]«40 des ›jüdischen‹ Wortwitzes und Stils. Die erzwungene Emigration der Autorinnen und Autoren wird mit Genugtuung erwähnt und gleichsam als Konsequenz der – wie es an anderer Stelle heißt – »kaum mehr überbietbaren Frechheiten der sich prononciert jüdisch gebenden und von 1918 bis 1933 verheerend einflußreichen jüdischen Feuilletonisten«41 dargestellt. Im Handbuchartikel Das Wiener jüdische Feuilleton von 1942 beschloss Haacke den historischen Überblick: »Das jüdische Feuilleton endete, wie es begonnen hatte: als Akrobatik der Sprache. In seiner Tendenz zur Vernichtung hatte es schließlich auch sich selbst zugrundegerichtet, da es kein Zurück mehr zur Besinnung auf Anstand im Denken wie im Stil gab.«42 36 Bartels, Adolf: Heine-Genossen. Zur Charakteristik der deutschen Presse und der deutschen Parteien, Dresden/Leipzig: Koch 1907, S. 105, zit. nach W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 204. 37 Vgl. H. Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton, S. 40. Bartels und Josef Nadler bezeichnete Haacke auch als Vorläufer seines eigenen wissenschaftlichen Vorhabens. Vgl. W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 13. 38 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 33. 39 Ebd., S. 34. 40 Ebd., S. 35. 41 Ebd., S. 5. Auch hier klingt Treitschkes Feuilletonkritik an, der über Heine schrieb, er sei »der Meister des europäischen Feuilletonstils, der Bannerträger jener journalistischen Frechheit« gewesen, »die alle Höhen und Tiefen des Menschenlebens mit einigen flüchtigen Einfällen abtat«. Treitschke, Heinrich: »Das souveräne Feuilleton«, in: Bilder aus der Deutschen Geschichte. Kulturhistorisch-literarische Bilder, Band 2, Leipzig: Hirzel 1908, S. 149-182, hier S. 154, zit. nach W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 34. 42 Haacke, Wilmont: »Das Wiener jüdische Feuilleton«, in: Walther Heide/Ernst H. Lehmann (Hg.), Handbuch der Zeitungswissenschaft, Band 2, Leipzig: Hiersemann 1942, Sp. 2051-2072, hier Sp. 2068.

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Folgt man dieser Argumentation, wurden die jüdischen Feuilletonistinnen und Feuilletonisten nicht vertrieben und verfolgt, die Form hatte durch ihre zersetzende Wortartistik am Ende auch sich selbst vernichtet. Seine Sicht fühlte Haacke dadurch bestätigt, dass die führenden jüdischen Feuilletonisten im Exil »in Emigrantenblättern weiter[schreiben], ohne einen Ideenwechsel vornehmen zu müssen«43. Am ›jüdischen Feuilleton‹ der Wiener Presse wollte Haacke denn auch weitere allgemeine Charakteristika des ›jüdischen Feuilletons‹ wie die intellektualistische Zergliederung des Gegenstands, Zersetzung, innere Unbeteiligtheit und die fehlende Bindung an die Heimat feststellen – antisemitische und antimoderne Stereotypen,44 die sich ebenfalls schon bei Treitschke finden45 – und er stellte sie der Erbauung, der Innigkeit des »Gefühls«46, einer für sein Feuilletonverständnis zentralen Kategorie,47 und der Heimatliebe des ›deutschen Feuilletons‹ gegenüber.48

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Als »den letzten aller größeren jüdischen Wiener Feuilletonisten«49 und zugleich als einen der gefährlichsten, weil »intelligentesten Zeugen intellektualistischen Zerpflückens aller Werte und einer nihilistischen Weltansicht«50 schätzte Haacke Alfred Polgar ein und stellte Polgars Feuilletons wiederholt als beispielhaft für den Höhe- und Endpunkt des ›jüdischen Feuilletons‹ heraus. »Mit Polgar stand das jüdische Feuilleton endgültig Kopf – aus absoluter intellektueller Negation zur Welt. Der Inhalt des Feuilletonthemas war ihm und seinesgleichen vollends

43 Ebd., Sp. 2065. 44 Vgl. H. Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton, S. 43 und 47f. 45 Vgl. H. Treitschke: Das souveräne Feuilleton, S. 149-182. 46 W. Haacke: Das Wiener jüdische Feuilleton, Sp. 1070. 47 Vgl. A. Todorow: Feuilleton, S. 264. 48 Vgl. W. Haacke: Das Wiener jüdische Feuilleton, Sp. 2069f. 49 Ebd., Sp. 2057. 50 Ebd., Sp. 2061. Diese und weitere Stellen führt auch Ulrich Weinzierl in seiner Biographie Alfred Polgars an. Vgl. Weinzierl, Ulrich: Alfred Polgar. Eine Biographie, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1995, hier S. 208.

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gleichgültig geworden. Die Form war alles. Übrig blieb eine artistische Sprachvorführung, die uns kalt lässt.«51

Dies hinderte Haacke nicht daran, den von Polgar verwendeten Begriff ›kleine Form‹ ab 1939 bewusst für das Feuilleton zu verwenden und im Rahmen der Habilitationsschrift 1943/1944 in die Zeitungswissenschaft einzuführen. Um das ›deutsche Feuilleton‹ literaturfähig zu machen, sollte die im ›Dritten Reich‹ gemeinsam mit dem ›jüdischen Feuilleton‹ bekämpfte französische Bezeichnung durch einen deutschen Begriff ersetzt werden, der gleichzeitig seinen literarischen Charakter anzeigen sollte.52 »Von ›kleiner Form‹ hat man schon zwischen 1870 und 1880 und ebenfalls wieder zwischen 1920 und 1930 einige Male gesprochen, wenn von Feuilletons die Rede war. Jedoch hat man diese treffliche Formel noch immer nicht für das spezifische Feuilleton, wie es innerhalb des Zeitungsfeuilletons erscheint, akzeptiert. Das ist erst neuerdings geschehen. Gleichzeitig mit dem Begriff ›kleine Form‹ wurde auch das Kennwort ›kleine Prosa‹ erst in jüngster Zeit wiederholt, bewusst und absichtlich angewendet. Man tat das, um das Fremdwort Feuilleton für eine journalistische Erscheinung von unverkennbar literarischer Prägung aus dem Bereich der deutschen Presse durch eine eigene Begriffsbildung zu ersetzen«53.

Als ›kleine Form‹ verfügte das ›deutsche Feuilleton‹ neben einer deutschen Herkunft und einer einwandfreien Ahnenreihe auch über einen deutschen Namen. Dass diese »eigene Begriffsbildung« durch einen jüdischen Autor mitgeprägt wurde, konnte verständlicherweise nicht erwähnt werden. Polgar wird nicht genannt und der Verfasser rechnet sich »zu den frühen Prägern und Verwendern 51 W. Haacke: Victor Auburtin und ›die kleine Form‹, S. 212. Vgl. auch hier H. Treitschke: Das souveräne Feuilleton, S. 154f., zit. nach W. Haacke, Feuilletonkunde I, S. 34: »In Heine erschien uns zum ersten Male ein Virtuos der Form, der nach dem Inhalt seiner Worte gar nicht fragte. Er rühmte sich seiner ›göttlichen Prosa‹, einer Prosa, welche freilich, weil sie ständig nach dem Effekt haschte, mit den Jahren immer manierierter wurde, aber die sorgsame Feilung nie vermissen ließ.« Zu Polgar vgl. W. Haacke: Das Wiener jüdische Feuilleton, Sp. 2057, 2060f. und 2067. 52 Vgl. A. Todorow: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung«, S. 28f.: »Es ist gerade diese pauschale, diffuse Herabsetzung des Feuilletons und des Feuilletonismus, […], die es den Nationalsozialisten leicht gemacht hat, das Feuilleton als ›drittes politisches Ressort‹ zu okkupieren und das ›jüdische Feuilleton‹ zusammen mit seinem französischen [!] Namen zu vertreiben und auszubürgern.« 53 W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 497.

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dieses Begriffs«54. Das Handbuch des Feuilletons zitiert an dieser Stelle dagegen Polgars Vorwort zur Sammlung Orchester von oben, Die kleine Form, und präzisiert zur Begriffsgeschichte: »Von ›Kleiner Form‹ hat man schon zwischen 1870 und 1880 – und zwar in Wien – gesprochen […]. Alfred Polgar erinnerte sich ihrer Verwendungsfähigkeit als erster […]«55. Verdeckt werden sollte in der Feuilletonkunde möglicherweise auch die österreichische Herkunft der Bezeichnung.56 Haackes strategische Einführung und Funktionalisierung des Begriffs lösten nach eigener Darstellung einen breiten Diskurs um die ›kleine Form‹ und den Begriff aus: »Zeitungswissenschaftler, Kulturpolitiker und Journalisten wie Helmut Andres, Emil Dovifat, Wolfgang Goetz, Heinz Grothe, Otto Brües, Hans Franke, Wilhelm Hammond-Norden, Hanns Braun, Emil Pfeiffer-Belli, Otto Schabbel, Herbert Duckstein und viele andere« hätten sich »um weitere Klärung des Begriffes ›Kleine Form‹ und seine Festigung bemüh[t]«57. Die Bezeichnung ›kleine Form‹ verwendete Haacke erstmals in einem Die kleine Form (1939) betitelten Aufsatz in der Zeitschrift Europäische Revue, der in Deutschland neu erschienene Feuilletonsammlungen besprach. »[I]m Augenblick, da nach einer erheblichen Pause wieder ein Bemühen um die ›kleine Form‹ unter den jungen Prosaisten, die in der deutschen Sprache schreiben, zu beobachten ist, mag es schwerer als je erscheinen, zu klären, was denn ›kleine Form‹ eigentlich sei«58. Trotz der angesprochenen Schwierigkeiten war der Aufsatz ein erster Versuch, die ›kleine Form‹ zu definieren.59 Das Feuilleton oder die ›kleine Form‹ sei 54 Ebd. Polgars Ausführungen zur ›kleinen Form‹ werden auch in Kapitel fünf der Feuilletonkunde, das Aussagen von Feuilletonisten und Schriftstellern über das Feuilleton versammelt, unterschlagen. 55 W. Haacke: Handbuch des Feuilletons II, S. 201. Haacke rechnet sich hier nurmehr zu den »frühen Verteidigern und Verwendern des Begriffs«. Ebd., S. 203. Die Bezeichnung ›die kleine Form‹ bzw. ›Kleine Form‹ scheint über Polgars Vorwort ab 1926 (erneut) Eingang in die Literaturkritik genommen zu haben und wird in den 1930er Jahren für das Feuilleton auch ohne direkten Bezug zu Polgar verwendet. Vgl. bspw. Th. F.: »Musils Nachlass bei Lebzeiten«, in: Pariser Tageszeitung vom 29.09.1936, S. 4: »Die kleine Form, das Feuilleton, wurde in Deutschland nur von wenigen ernsten Autoren gepflegt. Das deutsche Feuilleton, viele Bemühungen um Leichtigkeit, war zumeist eine in die Breite gezogene Platitüde.« 56 Auch aus dem Grund, weil der Anteil jüdischer Autorinnen und Autoren in der österreichischen Presse besonders hoch war. Vgl. W. Haacke: Das Wiener jüdische Feuilleton, Sp. 2052. 57 W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 499. 58 W. Haacke: Die kleine Form, S. 87. 59 Vgl. W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 497.

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eine »eigene kleine Gattung, die natürlich gewisse verwandtschaftliche Beziehungen zu anderen Prosagattungen besitzt, aber sich doch von diesen unterscheidet«60. Die Gattung zeichne sich u.a. dadurch aus, dass der Feuilletonist »die kleinen Vorgänge der Welt« 61 stilisiere. An dieses Merkmal schloss sich ein Einwand gegen die Wortartistik als unverantwortliches Stilisieren an, der sich gegen die jüdischen und exilierten Feuilletonistinnen und Feuilletonisten richtete, von deren Arbeiten Haacke die ›kleine Form‹ absetzen wollte. »Wer unverantwortlich stilisiert – stilisiert nur noch um des Wortfeuerwerks willen –, erniedrigt die kleine Form zum Wortkunstgewerbe. Leute, die daran schuld sind, daß das reine Feuilleton als eine mühevolle Filigranarbeit aus deutscher Prosa von manchen Menschen auch 1939 noch als ›artistische Spielerei‹ unbefugt abgelehnt wird, haben es zu ihrer Zeit ohne Herz und sozusagen nur noch als wortspielerische Abstraktion geschrieben. […] Autoren guter Feuilletons sollte man nicht mit jenen ausgeschiedenen Stilartisten verwechseln.«62

Die Bezeichnung ›kleine Form‹ verwendete Haacke in den während des Nationalsozialismus erschienenen Schriften ausschließlich für Feuilletons ›deutscher‹ Feuilletonisten. ›Kleine Form‹, die »letzte und höchste Kristallisation des Feuilletons«63, bezeichnete das »reine Feuilleton«, das heißt immer auch, nicht nur das von niederen Ausprägungen der Gattung, sondern auch vom ›jüdischen Feuilleton‹ unterschiedene bzw. gereinigte. Die Vorstellung der Reinheit der Gattung, die Haacke an die Bezeichnung koppelte, war eine von der nationalsozialistischen Rassenlehre auf das Feuilleton übertragene. Mit dem Gattungsbegriff ›Kleine Form‹ verband Haacke nicht nur einen normativen Anspruch, er lässt im historischen Kontext auch einen eminent politischen Charakter erkennen. Im Nachwort zu einem Auswahlband Victor Auburtins von 1940 definierte Haacke das Feuilleton bzw. ›die kleine Form‹ dann als »eine besondere Form, teils literarischer, teils journalistischer Herkunft«64. Ziel und grundlegende Idee der

60 W. Haacke: Die kleine Form, S. 88. 61 Ebd. Bereits hier werden die für Haackes Feuilletonbegriff zentrale Wiedergabe einer Stimmung bzw. eines Erlebnisses und die gefühlsmäßige, subjektive Haltung des Feuilletonisten genannt. Vgl. A. Todorow: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung«, S. 25. Zur Haltung schrieb Haacke, der Feuilletonist müsse in erster Linie, »ein sehr augenund herzensoffener Impressionist sein«. W. Haacke: Die kleine Form, S. 88. 62 Ebd. 63 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 60. 64 W. Haacke: Victor Auburtin, S. 209.

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Feuilletonkunde, die auch der Untertitel Das Feuilleton als literarische und journalistische Gattung andeuten, sind hier bereits vorgebildet: die Zeitungswissenschaft und weitere wissenschaftliche Disziplinen, insbesondere die Literaturwissenschaft, »auf einen Gattungsbegriff aufmerksam zu machen, der ihr bisher nicht der Mühe der Agnostizierung wert erschien, nämlich den des dichterischen Feuilletons«65. Dies war auch das Neue, das Haacke in die zeitungswissenschaftliche Forschung zum Feuilleton brachte.66 Im zwei Jahre vor der Feuilletonkunde erschienenen Handbuch der Zeitungswissenschaft unterschied Emil Dovifat, bei dem Haacke promoviert hatte,67 nur zwischen dem Feuilleton als Sparte und dem Feuilletonismus als einer »besondere[n] journalistische[n] Haltung«68. Bereits in der Feuilletonkunde differenzierte Haacke zwischen dem Feuilletonismus bzw. der feuilletonistischen Schreibweise, dem Feuilleton als Sparte, das er in seinen »Arbeitsformeln« als »das Feuilleton«69 bezeichnete, und dem Feuilleton als Gattung bzw. Form, das er als »ein Feuilleton«70 bezeichnet,71 auch wenn für das Lesepublikum der zweibändigen Habilitationsschrift aufgrund der Materialfülle, der verwirrenden Gliederung und der Verwendung des gleichen Begriffs oft unklar 65 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. X. 66 Vgl. Kernmayer, Hildegard: »›Unsterblichkeit eines Tages‹ oder ›interdiskursives Sprachspiel‹? Gattungshistorisches und Gattungstheoretisches zur Frage: Was ist ein Feuilleton?«, in: Sigurd Paul Scheichl (Hg.), Feuilleton – Essay – Aphorismus. Nichtfiktionale Prosa in Österreich. Beiträge eines polnisch-österreichischen Germanistensymposiums (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Band 71), Innsbruck: University Press 2008, S. 45-66, hier S. 56. Haacke bezeichnete Otto Groth als einen Vorläufer. Vgl. W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 60. 67 Vgl. T. Wiedemann: Wilmont Haacke. 68 Dovifat, Emil: »Feuilleton«, in: Walther Heide/Ernst Herbert Lehmann (Hg.), Handbuch der Zeitungswissenschaft, Band 1, Leipzig: Hiersemann 1940, Sp. 976-1010, hier Sp. 984. 69 W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 562. 70 Ebd., S. 561. 71 In einem späteren Handbuchartikel spricht Haacke explizit von »drei verschiedenartige[n] Erscheinungen«, die unter dem Begriff Feuilleton erfasst werden: »Feuilleton als Ressort«, »Feuilleton als Stil«, »Feuilleton als Form«. Haacke, Wilmont: »Das Feuilleton in Zeitung und Zeitschrift. (Unterhaltung, Kultur und Kulturpolitik)«, in: Emil Dovifat (Hg.), Handbuch der Publizistik. Unter Mitarbeit führender Fachleute, Band 3, Teil 2, Berlin: de Gruyter 1969, S. 218-236, hier S. 230f., 233 und 235. Auf den Handbuchartikel bezieht sich Hildegard Kernmayer und datiert die Einführung des Feuilletons als Form auf 1969. Vgl. H. Kernmayer: ›Unsterblichkeit eines Tages‹ oder ›interdiskursives Sprachspiel‹?, S. 56.

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bleibt, ob es gerade um die Schreibweise, die Gattung oder das Ressort geht. Das dreiteilige Begriffsfeld ist bis heute leitend geblieben.72 Zeitpunkt und Kontext der Einführung des Feuilletons als Gattung bzw. Form und des Begriffs ›Kleine Form‹ durch Haacke wurden von der neueren Forschung zum Feuilleton nicht zur Kenntnis genommen.

3. D AS F EUILLETON

ALS POLITISCHES I NSTRUMENT 73

Im Erscheinen von fast zwanzig Feuilletonsammlungen in deutschen Verlagen zwischen 1938 und 1939 hatte Haacke ein positives Vorzeichen gesehen, »daß es weiter und wieder deutsches Feuilleton von gedanklicher und stilistischer Qualität geben wird«74. Als Herausgeber mehrerer Sammlungen hatte er selbst Anteil daran, dass gegen Ende der dreißiger Jahre in Deutschland zunehmend Feuilletons in Buchform veröffentlicht wurden.75 Mit Einer bläst die Hirtenflöte (1940), einer Sammlung ausgewählter Feuilletons Victor Auburtins, und den Feuilletonanthologien Die Luftschaukel. Stelldichein kleiner Prosa (1939) sowie Das Ringelspiel. Kleine Wiener Prosa (1940), für die er bewusst die Gattungsbezeichnungen ›kleine Prosa‹ und ›kleine Form‹76 verwendete, verfolgte Haacke die Intention, durch geeignete Beispiele und die Buchform das Wertvolle der Gattung zu belegen.77 Seiner Ansicht nach hatte die »›kleine Form‹ […] in dieser Zeit eine erneute und vielleicht sogar erhöhte Daseinsberechtigung«78. Feuilletons wie diejenigen

72 Vgl. beispielsweise G. Jäger: Feuilleton, S. 301; Porombka, Stephan: »Feuilleton«, in: Dieter Lamping (Hg.), Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart: Kröner 2009, S. 264-269, hier S. 264. 73 Vgl. das Vorwort der Feuilletonkunde: »Bei voller Würdigung aller Phasen seiner historischen Herkunft und Bildung betrachtet sie [die Feuilletonkunde] das Feuilleton als ein politisches Instrument im weitesten Sinne.« W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. X. 74 W. Haacke: Die kleine Form, S. 93. 75 Vgl. E. Dovifat: Feuilleton, Sp. 1003f. 76 Vgl. W. Haacke: Victor Auburtin und ›die kleine Form‹, S. 209. 77 Vgl. Härtel, Christian: Stromlinien. Wilfrid Bade – eine Karriere im Dritten Reich, Berlin-Brandenburg: Be.Bra Wissenschaft 2004, S. 175. Die Biographie Bades gibt einen Einblick in Haackes Zusammenarbeit mit Bade und die Entstehungsbedingungen der Luftschaukel. 78 W. Haacke: Victor Auburtin und ›die kleine Form‹, S. 209.

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Auburtins, welche die Aufmerksamkeit »auf die kleinen Dinge des Lebens«79 lenken und an das Gefühl appellieren würden, entsprächen einem gesteigerten Bedürfnis des Lesepublikums. Auburtin sei zu Lebzeiten für seine Leserinnen und Leser »so etwas wie ein Hausarzt des Herzens«80 gewesen; die innerlich stärkende Wirkung seiner Feuilletons lässt ihn diese mit »psychotherapeutischen Medizinen«81 vergleichen. »Seine Pillen waren einfach zu nehmen, verschafften spürbare Erleichterung und waren nicht einmal teuer. Wer eines seiner Büchlein kaufte […] besaß gleich eine für Wochen, Monate und Jahre reichende Schachtel dieser stärkenden Bonbons«82.

Das Feuilleton wird vollständig auf die Beruhigung der Leserinnen und Leser abgestellt, als Mittel dargestellt, sie zu unterhalten und von einem schwierigen Alltag abzulenken.83 Es besitze die Fähigkeit, »Kraft und Besinnung auf heitere Weise – gewissermaßen im Lächeln zu schenken«84 und »jeden einzelnen persönlich an[zusprechen]«85. Als Kennzeichen des guten Feuilletons, in Absetzung zum Wortwitz der jüdischen Feuilletonistinnen und Feuilletonisten, stellte auch Dovifat die »Herzensfreudigkeit«86 heraus. Wie bei Haacke ist damit sowohl der Ausdruck von Gefühl als auch der »Appell an das Herz«87 gemeint. Im Vermögen, Leserinnen und Leser über das Gefühl anzusprechen und darüber auch für die politischen Ziele zu gewinnen, lag für Dovifat die hohe kulturpolitische Bedeutung der Sparte und der feuilletonistischen Schreibweise.88 Das Feuilleton und der

79 Ebd. 80 Ebd., S. 206. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 207. 83 Vgl. E. Schütz: Unterm Strich, S. 16. 84 Haacke, Wilmont: »Vom Wiener Feuilleton«, in: W. H. (Hg.), Das Ringelspiel. Kleine Wiener Prosa, Berlin: Frundsberg 1940, S. 425-433, hier S. 432. 85 Ebd., S. 433. 86 E. Dovifat: Feuilleton, Sp. 992. 87 W. Haacke: Victor Auburtin und ›die kleine Form‹, S. 212. 88 Die Umwandlung des Feuilletons in den ›kulturpolitischen Teil‹ und dessen Erhebung zum »dritten politischen Ressort« schließe nicht aus, schrieb Dovifat, »daß auch der kulturpolitische Teil journalistische Formen wählt, die dem Leser zum Herzen sprechen, die ihn ganz gewinnen und durch ihre persönliche Werbekraft sein Vertrauen in die Ztg [Zeitung] stärken und damit für deren politische Führung gewinnen.« E. Dovifat: Feuilleton, Sp. 984.

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Feuilletonismus würden eines der besten Mittel darstellen, einen Leserkreis nicht nur zu gewinnen, sondern auch dauerhaft zu binden89: »Sie [die Lesergemeinde] greift aus echter Wärme des Herzens und in der Freude seelischer Beteiligung zur Ztg [Zeitung], sie vertraut der Ztg. In dieser Wirkungsrichtung haben das F. [Feuilleton] und der Feuilletonismus gerade in der Presse der Führerstaaten große und unaufschiebbare Aufgaben. Eine junge Generation von Feuilletonisten im besten Sinne des Wortes muß dafür gewonnen werden.«90

Inwiefern Dovifats Theorie der publizistischen Führung als Beitrag zu einer spezifisch nationalsozialistischen Propagandawissenschaft gewertet werden muss, ist umstritten.91 In Übereinstimmung mit Vorstellungen und Praktiken der nationalsozialistischen Propaganda bildet jedoch der Appell an die Emotionen des Publikums darin eine feste Komponente.92 Ein Teil der genannten jungen Generation deutscher Feuilletonistinnen und Feuilletonisten war mit Haackes Anthologie Die Luftschaukel (1939) erstmals gemeinsam vor die Öffentlichkeit getreten.93 Beiträge der bekanntesten Feuilletonisten Sigismund von Radecki, Walter Kiaulehn oder Friedrich Sieburg zum Beispiel nahm Haacke bewusst nicht in die Sammlung auf, sondern wählte Autorinnen und Autoren, die noch kaum eigene Feuilletonbände veröffentlicht hatten. Ein Großteil

89 Vgl. ebd., Sp. 1005. 90 Ebd. 91 Vgl. Bussemer, Thymian: Propaganda. Konzepte und Theorien, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 206. 92 Vgl. ebd., S. 220f.; Scriba, Arnulf: »Die NS-Propaganda«, in: LeMO – Lebendiges Museum Online, siehe https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/innenpolitik/ns-propaganda.html vom 15.07.2015. In diesem Zusammenhang wird oft aus Hitlers Mein Kampf zitiert: »Gerade darin liegt die Kunst der Propaganda, daß sie, die gefühlsmäßige Vorstellungswelt der großen Menge begreifend, in psychologisch richtiger Form den Weg zur Aufmerksamkeit und weiter zum Herzen der breiten Masse findet.« Hitler, Adolf: Hitler, mein Kampf. Eine kritische Edition, Christian Hartmann et al. (Hg.), Band 1, München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte 2016, S. 501. 93 »Von den Jüngeren ist 1939 eine erste gemeinsame Sammlung unter dem Titel ›Die Luftschaukel‹ (Stelldichein kleiner Prosa) erschienen.« E. Dovifat: Feuilleton, Sp. 1003.

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unter ihnen war nach 1900 geboren.94 Die Anthologie sollte ihnen eine Plattform bieten und ihre Bekanntheit vergrößern. Primär ging es Haacke jedoch wohl darum, in der Öffentlichkeit die Wahrnehmung für ein anderes Feuilleton und eine neue Generation von Feuilletonistinnen und Feuilletonisten zu schärfen. Der Sammlung der »jungen, zeitgenössischen deutschen Feuilletonisten«95 waren als musterhaft eingeschätzte Texte Auburtins vorangestellt, was auf den Anspruch einer Kanonisierung hinweist, der mit der Anthologie verbunden war.96 Für das durch die Sammlung repräsentierte, ausdrücklich als ›deutsches Feuilleton‹ deklarierte Feuilleton fand Wilfried Bade im Nachwort Vom deutschen Feuilleton das Bild eines Tautropfens, in dem sich der ganze Kosmos spiegle;97 ein »Stück Augenblicksgeschehen« werde im Feuilleton »durch das Prisma des Allgemeingültigen widergespiegelt«98. Es entsprach Haackes Auffassung, dass das Feuilleton im Teil Ganzheit und im Augenblick Ewigkeit wiedergebe.99 In Dovifats Darstellung ist die »Wendung zum Allgemeinen«100 immer auch als »Wendung ins Gesinnungsmäßige«101 zu betrachten und wird als notwendiges Wesensmerkmal des Feuilletonismus gegen die jüdischen Feuilletonistinnen und Feuilletonisten stark gemacht.102 Wie direkt die Texte der Luftschaukel teilweise Propaganda für das ›Dritte Reich‹ betrieben und wie sich eine solche »Wendung ins Gesinnungsmäßige« im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie äußern konnte, wird etwa an Bades Beitrag Jene blaßgrauen Bänder offenbar, der in der für Feuilletons typi-

94

Vgl. Haacke, Wilmont (Hg.), Die Luftschaukel. Stelldichein kleiner Prosa, Berlin: Frundsberg, S. 461-474. Von Ascan Klée Gobert, Ernst Heimeran und Erik Graf Wickenburg waren bereits Feuilletonsammlungen erschienen. Vgl. W. Haacke: Die kleine Form, S. 88-93.

95

W. Haacke: Die Luftschaukel, S. 461.

96

Vgl. den von Härtel zitierten Brief Haackes an Bade in C. Härtel: Stromlinien, S. 175.

97

Vgl. Bade, Wilfrid: »Vom deutschen Feuilleton«, in: W. Haacke: Die Luftschaukel,

98

Ebd.

99

Vgl. W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 300-305; W. Haacke: Die kleine Form, S. 88:

S. 451-458, hier S. 457.

»Er [der Feuilletonist] zeigt sozusagen die Linien, die von einem Punkt ausgehen, ja die von jedem Punkt aus ins Weltall mit seiner Ewigkeit schneiden können.« Zur Prägung von Haackes Feuilletonbegriff durch idealistische Strömungen vgl. H. Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton, S. 13; A. Todorow: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung«, S. 25. 100 E. Dovifat: Feuilleton, Sp. 986. 101 Ebd. 102 Vgl. ebd. Dazu G. Jäger: Feuilleton, S. 302.

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schen Briefform gehalten ist. Die Nachricht des Schreibers an die entfernte Geliebte gerät zusehends zu einer Verherrlichung der Leistungen Hitlers, darunter das »Wunder« der deutschen Autobahnen.103 Haackes Zusammenarbeit mit dem NS-Schriftsteller und hohen Funktionär im Propagandaministerium Bade,104 die offenbar zu einem Teil auch die Funktion hatte, das Projekt gegen Angriffe abzusichern,105 zeigt wohl am deutlichsten sowohl die Einbindung der Anthologie in propagandistische Zwecke als auch die Kongruenzen zwischen Haackes wissenschaftlicher Programmatik und der nationalsozialistischen Kulturpolitik.106 Bade, unter anderem der Verfasser einer Goebbels- und Horst Wessel-Biographie (1933, 1936) und des vierbändigen Propagandawerks Der Weg des Dritten Reiches (1933–1937), hielt bereits 1933, auf der sogenannten »ersten Konferenz des deutschen Feuilletons«107, eine vielbeachtete Rede zu den kulturpolitischen Aufgaben der deutschen Presse und der Erneuerung des Feuilletons, die das Feuilleton auf »eine Manifestation des Blutes, ein integrales Bekenntnis, ein[en] Glaube[n] zum Leben der Väter und eine Verpflichtung an die Zukunft von Reich und Volk«108 festlegten. In der Feuilletonkunde würdigte Haacke Bades Rede als entscheidende Etappe des »Neuschaffens eines deutschen Feuilletons«109.

103 Vgl. Bade, Wilfried: »Jene blaßgrauen Bänder«, in: W. Haacke: Die Luftschaukel, S. 22-27, hier S. 23: »Viele Wunder hat der Führer gewirkt. Viele Dinge hat er dem deutschen Volke geschenkt, die zu hoffen vor ihm niemand wagte, ja kaum zu erträumen sich unterfangen mochte. Oder sollte man nicht das Recht haben, die Wiederaufrichtung unseres Reiches und die Wiederherstellung unseres Volkes, die Heimführung der Ostmark und des Sudetengaues ein Wunder zu nennen? […] Und sollen wir endlich nicht auch diese Autobahnen so bezeichnen, die uns nicht einen technischen Fortschritt schenken, sondern ein neues Weltgefühl?« 104 Bade war ab 1938 im Propagandaministerium der für Zeitschriften und Kulturpresse zuständige Regierungsrat, 1940 stieg er zum Ministerialrat auf. Vgl. H. Ehrke-Rotermund: Rudolf Pechel und Wilmont Haacke, S. 434f. 105 Vgl. C. Härtel: Stromlinien, S. 174. 106 Dazu passt, dass Bades Feuilletondefinition 1943 sogar in eine offizielle Presseanweisung übernommen wurde. Vgl. E. Schütz: Unterm Strich, S. 16. 107 W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 432. 108 Bade, Wilfried: Kulturpolitische Aufgaben der deutschen Presse. Eine Rede. Berlin: Junker & Dünnhaupt 1933, zit. nach Hilles, Jürgen/Michael, Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien, Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, S. 22. Vgl. C. Härtel: Stromlinien, S. 47-52. 109 W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 432. Vgl. die ausführliche Wiedergabe und Kommentierung ebd., S. 432-439.

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In Format und Ausstattung identisch zur Luftschaukel, die als Geschenkbuch auch ein großer kommerzieller Erfolg wurde,110 erschien im Jahr darauf Das Ringelspiel. Kleine Wiener Prosa. Die Herausgabe der Anthologie »des gegenwärtigen Feuilletons Wiens und seiner deutschen Donau- und Alpengaue«111 war auch mit den gleichen Zielsetzungen wie Die Luftschaukel verbunden. Das Ringelspiel erfüllte außerdem die für die Feuilletonkunde als zentral betrachtete Aufgabe der »Einbeziehung des Wiener Feuilletons ins kulturelle Reichsbewusstsein«112. Dass das Wiener Feuilleton lediglich als regionale Variante des ›deutschen Feuilletons‹ zu betrachten sei, legt neben der Aufmachung auch der ebenfalls eine Jahrmarktsattraktion bezeichnende Titel nahe. Als Vorbild ist dieser Feuilletonanthologie Stifters Text Der Prater aus seiner Sammlung Wien und die Wiener (1844) beigegeben, nach Haacke »eines der schönsten und eines der innigsten Feuilletons, die Deutschlands Feuilletongeschichte aufbewahrt«113. Für die Sammlung Wien und die Wiener beanspruchte Haacke kurzerhand den Titel »Deutschlands erste Feuilleton-Anthologie«114 und beabsichtigte in einem Aufsatz, Stifter als Feuilletonisten zu rehabilitieren. Der Ansicht Gustav Wilhelms, des Germanisten und Herausgebers Stifters, der Autor sei seinem Stil nach kein Vorläufer der großen Wiener Feuilletonisten gewesen,115 setzte Haacke den Ernst der Texte und einmal mehr das Gefühl, das sie bei den Leserinnen und Lesern ansprechen würden, entgegen. »Die Phalanx der deutschen Feuilletonisten, die über ein trauriges oder tragisches Geschehen mit tiefem Ernst und mit echter Herzenswirkung – nicht anders als Stifter an zahlreichen Stellen seiner Anthologie – zu schreiben verstanden, ist unübersehbar.«116 Diese Front sah Haacke wohl auch in der eigenen Sammlung kleiner Wiener Prosa verkörpert. Beitragende waren mit Bruno Brehm, Franz Karl Ginzkey, Hugo Greinz, Maria Grengg, Josef Leitgeb, Max Mell, Franz Tumler, Karl Heinrich Waggerl und anderen mehrheitlich jene Autorinnen und Autoren,

110 Vgl. C. Härtel: Stromlinien, S. 176. 111 W. Haacke: Vom Wiener Feuilleton, S. 433. 112 Vgl. das entsprechende Kapitel in W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 13-16. 113 Haacke, Wilmont: »Deutschlands erste Feuilleton-Anthologie. Adalbert Stifters ›Wien und die Wiener‹ aus dem Jahre 1844«, in: Zeitungswissenschaft 19 (1944), Heft 9/10, S. 236-252, hier S. 247. 114 Ebd., S. 236. Dazu führte er aus: »Einzelne Feuilletons waren schon früher, viel früher zu Büchern gesammelt und vereinigt worden. Aber es geschah zum ersten Male, daß ein Herausgeber, der selbst Feuilletons schrieb, sich mit einem Kreis von Mitarbeitern umgab, die ebenfalls Feuilletons schrieben.« 115 Vgl. ebd., S. 250. 116 Ebd.

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die sich öffentlich zum ›Anschluss‹ Österreichs bekannt hatten.117 In Bezug auf die in den Anthologien vertretenen Feuilletonistinnen und Feuilletonisten sprach Haacke von der »Rückeroberung eines artechten, entjudeten deutschen Feuilletons von diesen nach 1900 geborenen Dichtern, Schriftstellern und Journalisten«118. »Von einem ›Sterben des Feuilletons‹, das László Vincze aus der ungarischen Presse berichtet«, betonte er 1944, »kann nun allerdings in Deutschland gar keine Rede sein. Seit 1933 ist bei uns eine ganze Garde junger Feuilletonisten erst journal- und dann literaturfähig geworden«119. Zu dieser Generation junger, im ›Dritten Reich‹ erfolgreicher Feuilletonistinnen und Feuilletonisten zählte der 1911 geborene Haacke nicht zuletzt auch sich selbst. In der Luftschaukel waren auch eigene Texte abgedruckt, 1941 erschien in demselben Verlag seine Feuilletonsammlung mit dem programmatischen Titel Notizbuch des Herzens120. Das Feuilleton habe sich, schrieb Haacke, im nationalsozialistischen Deutschland »zu staatsbejahender Mitarbeit«121 politisiert, Politik und Feuilleton seien je länger je mehr untrennbar miteinander verschmolzen.122 »Das Feuilleton hat seine künstlerischen und journalistischen Ausdrucksformen stärker als je ahnbar der Politik zur Verfügung gestellt.«123 Liest man die Feuilletonkunde, entsteht der Eindruck, das Potential des Feuilletons, wie es Dovifat herausstellte, neue, möglicherweise auch unpolitische Lesekreise anzusprechen und für die politische Linie zu gewinnen, sei im Laufe der Kriegsjahre realisiert worden.124 Als Beispiel nannte Haacke die 1940 gegründete Wochenschrift Das Reich und die darin erscheinenden Beiträge beispielsweise von Goebbels und Reichspressechef Otto Dietrich: »In sorgfältig feuilletonistischer Form sprechen sie den Leser an, packen und durchdringen ihn.«125 Des Weiteren führte er die Kriegsberichterstattung der Pro-

117 Vgl. Amann, Klaus: Zahltag. Der Anschluss österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich, Bodenheim: Philo 1996. 118 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 352. 119 W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 568. 120 Haacke, Wilmont: Notizbuch des Herzens, Berlin: Frundsberg 1941. Zu Haackes Tätigkeit als Feuilletonist vgl. M. Reichwein: Kleine Form gegen den Kadetten-Drill. 121 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 244. 122 Vgl. ebd. 123 Ebd. 124 Für die späteren Leserinnen und Leser der Feuilletonkunde ist nicht einsichtig, inwiefern Haacke lediglich den Status quo beschrieb und inwiefern seine Darstellung auch darauf abzielte, seinen Forschungsgegenstand als machtvolles kulturpolitisches Instrument herauszustellen. 125 W. Haacke: Feuilletonkunde, S. 69.

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pagandakompanien der Wehrmacht an, die er als »vorzüglic[h], lebendi[g], zumeist im besten Sinne feuilletonistisch gehalte[n]«126 lobte, und die feuilletonistische Schreibweise bewertete er auch bei der Kriegsberichterstattung als positiv, da sie das Publikum aufnahmefähiger und empfänglicher für die Inhalte mache. »Je feuilletonistischer ein politischer Artikel geschrieben ist, je herzhafter ein Kriegsbericht gehalten ist, um so leichter wird er begriffen, umso stärker setzt sich sein Inhalt im Leser fest.«127 Unter dem Titel Das heldische Jahr (1941, 1943) gab Haacke gemeinsam mit Bade, auf den die Idee zurückging,128 zwei Sammlungen mit Kriegsfeuilletons129 heraus. Das Gewand des Verspielten der Luftschaukel und des Ringelspiels hatten diese Bände gänzlich abgestreift. Die Auswahl bestand mehrheitlich aus Beiträgen der Propagandakompanien, für die während des Krieges zahlreiche Journalisten sowie Schriftsteller tätig waren;130 das Vorwort der Sammlung von 1941 verfasste Reichspressechef Otto Dietrich; der Umschlag zeigte ein Eisernes Kreuz mit Hakenkreuz und Eichenlaub. Mit dem Heldischen Jahr befand sich Haacke vollkommen in Übereinstimmung mit dem NS-Regime,131 vertreten durch Bade und den Reichspressechef, der an der Kulturpolitischen Pressekonferenz 1940 bekannt geben ließ, dass sich »das Feuilleton an der Willenserklärung der Nation zum Siege beteiligen müsse. […] Die Pflege eines guten kräftigen Feuilletons müsse auf die Soldaten an der Front und in der Heimat ausgerichtet sein.«132 Das heldische Jahr stieß bei den Lesern auf positive Resonanz; allein vom ersten Band wurden über 126 Ebd., S. 9. Zu den Mitarbeitern der Propagandakompanien gehörte beispielsweise auch Walter Kiaulehn. Vgl. Rutz, Rainer: Signal. Eine deutsche Auslandsillustrierte als Propagandainstrument im Zweiten Weltkrieg, Essen: Klartext 2007, S. 155. 127 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 70. 128 Vgl. C. Härtel: Stromlinien, S. 177. 129 Bade, Wilfried/Haacke, Wilmont (Hg.), Das heldische Jahr. Front und Heimat berichten den Krieg. 97 Kriegsfeuilletons. Mit einem Vorw. von Reichspressechef Dr. Dietrich, Berlin: Zeitgeschichte 1941; Bade, Wilfried/Haacke, Wilmont (Hg.), Das heldische Jahr. Zweite Folge. 85 Kriegsfeuilletons, Berlin: Zeitgeschichte 1943. 130 Vgl. C. Härtel: Stromlinien, S. 178. Seine Aufgabe als Herausgeber der Sammlungen beschrieb Haacke in seinem Stifter-Aufsatz als »aus dem Meer der PK. [Propagandakompanien]-Berichte das deutsche Kriegsfeuilleton unserer Zeit abzuschöpfen«. W. Haacke: Deutschlands erste Feuilleton-Anthologie, S. 239. 131 Vgl. C. Härtel: Stromlinien, S. 177. 132 Ebd. Vgl. W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 464: »[J]ener unbezähmbare Wille zur Wehrhaftigkeit« des deutschen Volkes sei durch Zeitungen und Zeitschriften »und in ihnen wiederum durch die feuilletonistischen Augenzeugen- und Erlebnisberichte wesentlich gesteigert worden«.

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60.000 Exemplare verkauft.133 Auch hinsichtlich dieser Sammlungen sprach Haacke in der Feuilletonkunde von einer »echte[n] Poetisierung des neuen deutschen Feuilletons«134 – es war in erster Linie eine Verklärung des Krieges und des Sterbens: »In ihnen [den Kriegsfeuilletons] wird die grausame Realität des Krieges, legt man ein historisches Zeitmaß an, zur Marginalie. […] Diese Texte führen mitten ins Herz der Finsternis hinein. Nicht, indem sie zu Kampf und Vernichtung aufrufen (solche Texte gibt es freilich auch), sondern indem sie den Blick in ein ›besseres Jenseits‹ öffnen, das man nur mit Opferwillen erreichen kann.«135

4. H ANDBUCH DES F EUILLETONS (1951–1953) Die Neufassung der Feuilletonkunde, das 1951 bis 1953 in drei Bänden erschienene Handbuch des Feuilletons, unterscheidet sich in der Distanznahme zum Nationalsozialismus und seiner Kulturpolitik grundlegend von der alten Fassung.136 War die Feuilletonkunde selbst Teil der Bestrebungen, das »Feuilleton […] aus einer Unterhaltungsform in ein kulturpolitisches Kampfmittel für innen- und außenpolitische Zwecke zu verwandeln«137, werden im Handbuch des Feuilletons

133 Vgl. C. Härtel: Stromlinien, S. 177. 134 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 70. 135 C. Härtel: Stromlinien, S. 185. 136 Verena Blaum bemerkte dazu pointiert: »Auf bemerkenswerte Weise mutiert der Nationalsozialismus vom Heilsbringer zum Vollstrecker des Totalitarismus.« V. Blaum: Schmarotzende Misteln, S. 186. Deutlich macht dies bereits der Vergleich einander entsprechender Kapitelüberschriften: »1933 – das Jahr entscheidender Wandlungen für das deutsche Feuilleton« (Feuilletonkunde) / »Die kulturpolitische Reglementierung des Feuilletons im dritten Reich« (Handbuch des Feuilletons). Neben erheblichen Kürzungen sind ganze Passagen systematisch umgeschrieben. Teilweise wurden nur kleine Textänderungen angebracht, die jedoch eine andere Bewertung ergeben: »Der neue Staat, das nationalsozialistische Reich, brauchte ein anderes Feuilleton als das, welches bis zum 30. Januar 1933 in Deutschland dominierend war.« (W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 431) / »Der Nationalsozialismus verlangte daher ein anderes Feuilleton als das, welches bis zum 30. Januar 1933 in Deutschland dominierend war.« (W. Haacke: Handbuch des Feuilletons II, S. 106). Für weitere Stellen vgl. V. Blaum: Schmarotzende Misteln, S. 182-187. 137 W. Haacke: Handbuch des Feuilletons II, S. 106.

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die Veränderungen der Sparte und der Gattung aus einer vorgeblich objektiven und unbeteiligten Perspektive geschildert. Wohl um die eigene Teilhabe zu verdecken, zeichnet das Handbuch des Feuilletons auch ein anderes Bild des Feuilletons im ›Dritten Reich‹. Die »unverkennbare Gegnerschaft«138 gegen das Feuilleton und gegen die Bezeichnung ›Feuilleton‹ wird in der Feuilletonkunde auf einige Jahre nach 1933 beschränkt; danach habe sich »das allgemeine Verhältnis zum Begriff Feuilleton von neuem regulieren«139 können, nicht zuletzt durch Arbeiten der Zeitungswissenschaft und die immer zahlreicher in Buch und Zeitung veröffentlichten Feuilletons ›deutscher‹ Feuilletonistinnen und Feuilletonisten.140 Das Handbuch des Feuilletons spricht hingegen von einer »vieljährigen […] Mißdeutung des alten zeitungshandwerklichen Begriffes Feuilleton«141, die auch nach 1945 noch nicht vollständig überwunden sei.142 In der Darstellung von 1943 folgen »[d]er Epoche der Überfeuilletonisierung von vor 1933« denn auch nur »einige magere Feuilletonjahre«143, während 1951 der gesamte Zeitraum des Nationalsozialismus als qualitativ und quantitativ unergiebig gekennzeichnet wird: »Der Epoche der Überfeuilletonisierung von vor 1933 folgten magere Feuilletonjahre. […] In den unterhaltenden Teil rückte an die Stelle der Plauderei und der Kurzgeschichte […] gebieterisch ihren Platz fordernd: die Aussprache über die sogenannte kulturpolitische Programmatik und deren Erfüllung. Das eigentliche Feuilleton aber verlor nach der Umwälzung seine bisherige Rolle. Wenn von Seiten der Zeitungswissenschaft zwischen 1933 und 1945 eine Erhaltung des Begriffes Feuilleton versucht wurde, war jedes Mal schärfste Ablehnung durch Partei-Politiker die Antwort.«144

Es ist möglich, dass Haacke manches auch anders bewertete, auf diese Weise spielte er jedoch die Bedeutung herunter, die dem Feuilleton nach seiner früheren Darlegung als Form weicher Propaganda145 im ›Dritten Reich‹ zukam, und konnte 138 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 5. 139 Ebd., S. 7. 140 Vgl. ebd., S. 8. 141 W. Haacke: Handbuch des Feuilletons I, S. 12. Vgl. die Veränderung von »mehrjährig« zu »vieljährig«, W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 7: »[S]o wäre es nicht zu jener mehrjährigen […] Mißdeutung des alten zeitungshandwerklichen Begriffes Feuilleton gekommen […].« 142 Vgl. W. Haacke: Handbuch des Feuilletons I, S. 12. 143 W. Haacke: Feuilletonkunde I, S. 8. 144 W. Haacke: Handbuch des Feuilletons I, S. 12f. 145 Zur Bedeutung populärer massenmedialer Formen und Kulturtechniken im ›Dritten Reich‹ vgl. Schütz, Erhard: »Das ›Dritte Reich‹ als Mediendiktatur. Medienpolitik

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sich als Verfechter einer von den Nationalsozialisten geächteten Gattung darstellen. Die Vorstellung, dass das Zeitungsfeuilleton und die ›kleine Form‹ im ›Dritten Reich‹ kaum eine Rolle gespielt haben, wurde wesentlich durch Haacke geprägt und hat sich als persistent und äußerst wirkmächtig erwiesen.146 Im Handbuch des Feuilletons getilgt sind auch die Anleihen an die nationalsozialistische Terminologie und eindeutig antisemitische Stellen. In dieser Form konnte es als Standardwerk über das Feuilleton rezipiert werden, von dem sich die neuere Forschung freilich distanziert. Die jüdischen Autorinnen und Autoren erfahren teilweise eine völlige Neubewertung. Tucholsky fungiert beispielsweise als der »best[e] Schreibe[r], den die alte ›Weltbühne‹ zwischen 1918 und 1933 hatte«147. Die positiven Urteile entbehren teilweise nicht eines negativen Beigeschmacks, so wenn es heißt: »Mit Kürnberger, Speidel, Wittmann, Bahr und Hugo von Hofmannsthal hat das Wiener Feuilleton seine seelische Höhe erreicht; die höchste stilistische Glätte gewann es in Autoren wie Daniel Spitzer, Karl Kraus, Egon Friedell und Alfred Polgar.«148 Das die Feuilletonkunde ergänzende, nach Epochen gegliederte Verzeichnis Deutsche Feuilletonisten im dritten Band des Handbuch des Feuilletons mit Angaben zu Lebensdaten, Schaffensorten und Veröffentlichungen umfasst auch exilierte Autoren, die auf diese Weise in die Gattungsgeschichte reintegriert werden. Wie oberflächlich die Anpassung ist, zeigen jedoch bereits die zahlreichen Fehler in den biographischen Angaben, insbesondere die falschen Sterbedaten von Exilautoren.149 Deren Mitarbeit bei Exilzeitungen oder der Presse außerhalb des ›Dritten Reichs‹ ist nicht verzeichnet, außer mit

und Modernisierung in Deutschland 1933-1945«, in: Monatshefte 87 (1995), Heft 2, S. 129-150. 146 Vgl. E. Schütz: Ich zeichne das Gesicht der Zeit, S. 184-186. Vgl. die kritische Anmerkung zu Haackes Darstellung im Handbuch des Feuilletons ebd., S. 186: »Jedenfalls kann keine Rede davon sein, daß mit der Ersetzung des Feuilletons durch den Terminus ›Kulturpolitischer Teil‹ es keine Vielfalt der Formen und insbesondere keine ›Kleine Form‹ mehr gegeben habe. Eher verdichtet sich der Eindruck, daß es nach der kurzen Umbruchsphase 1933-1934, nach der auch in anderen medialen Bereichen Phase heftiger Mobilisierung, nicht nur zur Stabilisierung, vielmehr zu einer kontinuierlichen Ausweitung gekommen ist.« 147 W. Haacke: Handbuch des Feuilletons II, S. 163. 148 W. Haacke: Handbuch des Feuilletons I, S. 356. 149 Vgl. die Todesdaten von Georg Bernhard, Robert Musil, Joseph Roth und Franz Hessel in W. Haacke: Handbuch des Feuilletons III, S. 144, 147, 153 und 164.

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einer fehlerhaften Bezeichnung bei Georg Bernhard.150 Die Einbeziehung der jüdischen Feuilletonistinnen und Feuilletonisten veränderte auch Haackes Feuilletondefinition in keiner Weise151 und noch das Handbuch des Feuilletons zitiert zustimmend Literaturwissenschaftler wie Heinz Kindermann und Josef Nadler, die sich prominent der völkischen Ideologie verschrieben hatten.152 Insgesamt fehlt im Handbuch des Feuilletons jede explizite Erwähnung von Exil und Vertreibung, während in der Feuilletonkunde und anderen Schriften Haackes die »Emigranten« und die »Emigrantenpresse« zumindest als Negativfolie präsent blieben.153 In Haackes weiteren Veröffentlichungen verstärkten sich diese Tendenzen noch. Der Antisemitismus und die Verfolgung von Feuilletonistinnen und Feuilletonisten aus rassischen und politischen Gründen während der nationalsozialistischen Herrschaft werden auch darin nicht thematisiert,154 dafür das allgemein unterdrückte Feuilleton. Im Herbst 1944 habe das Feuilleton vorläufig zu existieren aufgehört, »nachdem ihm durch mehr als ein Jahrzehnt lang unfreundliche Fußtritte genug versetzt worden waren«155. »Nur ungern« sei es »im Dritten Reich geduldet worden«156, hieß es in Das deutsche Feuilleton nach 1945 (1952). Als Versuche zur Rettung des Feuilletons stellte Haacke neben Bemühungen der Zeitungswissenschaft die Feuilletons von Journalisten aus den Propagandakompanien dar, die versucht hätten, »als Kriegsberichter das musische Feuilleton nicht sterben zu lassen«157. Auch sie seien »von oben her misstrauisch«158 beobachtet und dann zum Schweigen gezwungen worden.159 Angedeutet wurde damit eine widerständige Haltung der den Propagandakompanien angehörenden Feuilletonisten.160 150 Bernhard wird als »Redakteur: ›Pariser Zeitung‹ (seit 1933)« anstatt ›Pariser Tageblatt‹/ ›Pariser Tageszeitung‹ genannt. Vgl. ebd., S. 144. 151 Vgl. W. Haacke: Feuilletonkunde II, S. 561; W. Haacke: Handbuch des Feuilletons II, S. 305. 152 Vgl. unter anderen Stellen W. Haacke: Handbuch des Feuilletons I, S. 15 und 23. 153 Eine Ausnahme bildet der Eintrag zu Gerhart Hermann Mostar, dieser vermerkte »Berlin, Emigration, Stuttgart«. W. Haacke: Handbuch des Feuilletons III, S. 157. 154 Vgl. V. Blaum: Schmarotzende Misteln, S. 191. 155 Haacke, Wilmont: »Das deutsche Feuilleton nach 1945«, in: Mimus und Logos. Eine Festgabe für Carl Niessen, Emsdetten: Lechte 1952, S. 64-71, hier S. 65. 156 Ebd., S. 65. 157 Ebd., S. 66. Kriegsberichter wurden die bei der deutschen Wehrmacht ausgebildeten Soldaten genannt, die in den Propagandakompanien eingesetzt wurden. 158 Ebd., S. 66. 159 Vgl. ebd. 160 Vgl. H. Ehrke-Rotermund: Rudolf Pechel und Wilmont Haacke, S. 442.

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Mit einem nicht näher erläuterten Zitat zum Feuilleton »als Schlupfwinkel oppositioneller Gedanken«161 schloss der Handbuchartikel Das Feuilleton in Zeitung und Zeitschrift (1969). Haackes Gewährsmann war – ob gewollt oder ungewollt der Logik seiner früheren Argumentation entsprechend – der Feuilletonist Hans Bayer, der nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Pseudonym Thaddäus Troll als Schriftsteller und Journalist bekannt wurde. Im ›Dritten Reich‹ hatte er als Kriegsreporter Karriere gemacht.162 In Haackes letztem Beitrag zum Feuilleton,163 Das Feuilleton des 20. Jahrhunderts (1976), wurde schließlich politische »Widerständigkeit […] zum Gattungsmerkmal erhoben«164. »Zwischen den Zeilen – gegen politische Herrschaft«165 lautete eine das Feuilleton charakterisierende Überschrift. Pauschal gehörte zum Feuilleton laut Haacke nicht nur Opposition, sondern auch Camouflage. Sich des Topos des ungreifbaren Feuilletons bedienend beschrieb er das Feuilleton als Chamäleon, das dank seiner Fähigkeit, seine kritischen Aussagen zu tarnen, alle politischen Systeme seit Beginn der Neuzeit überdauert hatte166 und auch für die nationalsozialistische Kulturpolitik eigentlich »unangreifbar« blieb. Das »Parademonstrum ›NS-Kulturpolitik‹« habe »die leise Aussageweise des Feuilletons niemals gänzlich erstickt. Der Geist des Feuilletons verfügte über Geister, die sich im Sinne ständigen Tarnens auf stilistisch meisterhafte Wortund Satzprägungen verstanden. […] Solcherlei geschickte Hantierungen klären zugleich darüber auf, warum das Feuilleton während mannigfacher Epochen durch seine stets zeitkritischen Äußerungen den von ihm ›Verrissenen‹ zum Ärgernis wurde. Jederzeit zu Angriffen bereit, bleibt es, weil kaum zu greifen, im Grunde unangreifbar. […] Jedesmal, wenn nach Regime-Änderungen die Freiheit öffentlichen Meinens durch Maulkorbverordnungen zu Unfreiheit degradiert wird, wechselt das Feuilleton Farbe oder Färbung. Unter erzwungener Anpassung bewahrt es die Fähigkeit, sich froh oder frech, kritisch oder bitter, 161 Troll, Thaddäus: »Nur ein Feuilletonist!«, zit. nach W. Haacke: Das Feuilleton in Zeitung und Zeitschrift, S. 236. 162 Vgl. Schröder, Christian: »Sein schöner, schmutziger Krieg«, in: Der Tagesspiegel vom 18.08.2014, siehe http://www.tagesspiegel.de/kultur/ausstellung-ueber-ns-krieg sreporter-hans-bayer-sein-schoener-schmutziger-krieg/10344468.html/ vom 18.08.2014. 163 Vgl. V. Blaum: Schmarotzende Misteln, S. 190. 164 H. Ehrke-Rotermund: Rudolf Pechel und Wilmont Haacke, S. 442. 165 Haacke, Wilmont: »Das Feuilleton des 20. Jahrhunderts«, in: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung 21 (1976), Heft 3, S. 285-312, hier S. 287. 166 Vgl. auch ebd., S. 288: Die Feuilletonrubrik und die ›Kleine Form‹ hätten »dank stilistischer Gewandung oder Kostümierung Zeiten der Verfolgung oder durch Revolutionen ausgelöste Freiheitlichkeiten« überstanden.

104 I BETTINA B RAUN schlimmstenfalls ein wenig närrisch, jedoch beizeiten zur Zeit zu äußern. Dies Erbgut haftet ihm seit Erasmus von Rotterdams ›Lob der Torheit‹ […] unaustilgbar an.«167

Eine Anpassung an die herrschenden Mächte, auch an das nationalsozialistische Regime, wurde negiert beziehungsweise als Tarnung gekennzeichnet und so verharmlost. Die zitierte Stelle ist auch insofern aussagekräftig, als sie zeigt, was für Haackes Schriften ab den fünfziger Jahren kennzeichnend war: ein nur andeutendes, Klarheit vermeidendes Sprechen über die Zeit des Nationalsozialismus. Das Feuilleton der Jahre 1933 bis 1945 wird außerdem hauptsächlich summarisch behandelt.168 Es stellt in seinen Veröffentlichungen eine wahrnehmbare Lücke dar.

167 W. Haacke: Das Feuilleton des 20. Jahrhunderts, S. 286f. 168 Vgl. V. Blaum: Schmarotzende Misteln, S. 190.

An der Schnittstelle von Faktizität und Fiktionalität: Zum Grenzgängertum der Prager Autoren Jan Neruda und Egon Erwin Kisch zwischen Journalismus, Feuilleton und Literatur I RINA W UTSDORFF

Die Frage dieses Bandes nach dem Verhältnis von Literatur und Journalismus soll hier insofern aus einer historischen Perspektive beleuchtet werden, als es um zwei Prager Autoren aus der ›klassischen‹ Zeit des Feuilletons geht, die als Grenzgänger zwischen beiden Bereichen gelten können: Jan Neruda zählte mit seinen umfangreichen journalistischen Arbeiten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den Begründern des tschechischen Feuilletons; Egon Erwin Kisch erlangte in der Blütezeit des Journalismus zwischen den beiden Weltkriegen zwar als »Rasender Reporter« Berühmtheit, war in seinem Schreiben aber auch ganz wesentlich durch das Feuilleton geprägt. Kischs erste entsprechende Textsammlung, die er 1912 unter dem Titel Aus Prager Gassen und Nächten herausbrachte, geht auf jene aus seiner Arbeit als Lokalreporter gewonnenen Skizzen zurück, die er ab 1910 unter dem Serientitel Prager Streifzüge im Feuilleton der Sonntagsausgabe der liberalen Prager Bohemia veröffentlichen konnte – was Kisch durchaus als »eine Art von Beförderung zum Mann der Literatur«1 ansah (wie sein Biograph Dieter Schlenstedt dies ausdrückt). Dass Kisch um die Spezifik wie Problematik des Feuilletons sehr wohl wusste, zeigt nicht zuletzt sein entsprechend als Feuil-

1

Schlenstedt, Dieter: »Feuilletons: Annäherungen an eine poetische Prosa. Roth, Kracauer, Kisch und andere«, in: Weimarer Beiträge 48 (2002), Heft 3, S. 420-433, hier S. 420.

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leton betitelter Text aus dem Jahre 1917, der mittlerweile aufgrund des selbstreflexiven Gestus, der weit über die Titelwahl hinausgeht, zu jenen Texten zählt, an denen gern die Besonderheiten dieser Textgattung demonstriert werden.2 Zunächst bezeichnet Feuilleton ganz einfach eine Sparte innerhalb der Zeitung, den Kulturteil, in dem sich Texte verschiedenster Sorte finden – seien sie wertender (also v.a. Rezensionen, Kritiken) oder informierender (Berichte, Mitteilungen, auch Reportagen) oder unterhaltender Art (wie Skizzen, Anekdoten, vielfach auch Erzählungen oder Romane in Fortsetzungen).3 Allerdings ist der Erscheinungsort dieser Texte seit dem 19. Jahrhundert auf den ersten Seiten der Zeitung durch einen Strich vom oberen Teil abgetrennt, der den tagespolitischen und tagesaktuellen Nachrichten und Kommentaren vorbehalten ist.4 Die Autorinnen und Autoren des Feuilletons sehen ihre Texte also stets in einem Spannungsverhältnis zu jenem nicht nur vom Umfang, sondern auch von der Wertschätzung her 2

Vgl. etwa Schönborn, Sibylle: »›…wie ein Tropfen ins Meer‹. Von medialen Raumzeiten und Archiven des Vergessens. Das Feuilleton als ›kleine Form‹«, in: Thomas Althaus/Wolfgang Bunzel/Dirk Göttsche (Hg.), Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, Tübingen: Niemeyer 2007, S. 197-211. Sibylle Schönborn erläutert dort anhand dieses Textes sowie Alfred Polgars Ein Tag und Robert Walsers Bleistiftnotiz grundsätzliche Merkmale des Feuilletons. Programmatisch in diesem selbstreflexiven Sinne ist auch der Titel An den Rand geschrieben, den Alfred Polgar seiner Sammlung von Feuilletons 1930 gab (s. auch ebd., S. 205). Hinzuzunehmen wäre außerdem Joseph Roths ebenfalls als Feuilleton betitelter Text, den er 1921 im Berliner Börsen-Courier veröffentlichte und der sich, wie auch Kischs Text, vor dem Hintergrund des beißenden Spotts lesen lässt, mit dem Karl Kraus in seiner Polemik Heine und die Folgen 1910 die feuilletonistische Schreibweise überzogen hatte. Vgl. zu diesem Bezug D. Schlenstedt: Feuilletons: Annäherungen an eine poetische Prosa.

3

Vgl. den Eintrag von Todorow, Almut: »Feuilleton«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 3, Tübingen: Niemeyer 1996, Sp. 259-266, hier Sp. 260.

4

Die Pariser Tageszeitung Journal des Débats hatte mit Feuilleton zunächst ein Annoncenbeiblatt bezeichnet, »seit Anfang des Jahres 1800 dann den typographisch durch einen horizontalen Querstrich abgetrennten Raum auf dem unteren Teil der ersten Seite« (ebd., Sp. 261). Als frühester Beleg für den Querstrich in Deutschland gilt der Nürnberger Korrespondent von und für Deutschland von 1812 (vgl. ebd., Sp. 262); Hildegard Kernmayer verweist für die österreichische Monarchie auf die Wiener Zeitung, die ab dem 1. Januar 1848 »den entscheidenden Strich zieht[.]« Kernmayer, Hildegard: »Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012), S. 509-523, hier S. 509.

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gewichtigeren Teil über dem Strich. Sie reflektieren diese Marginalität des Feuilletons gern als eine scheinbare, indem sie den Vorwurf der lediglich beiläufigen Unterhaltung aufgreifen, um ihn zu überbieten und eine andere, im Ästhetischen fundierte Gültigkeit des feuilletonistischen Schreibens über den Tag hinaus als kritisches Bild der Zeit zu postulieren.5 Genau dies gelingt Kisch mit seinem Feuilleton-Text, wenn er einerseits das Klischee von dem leichthin und nebenbei entstandenen Feuilleton gleichermaßen aufgreift und desavouiert, indem er während der Wartezeit auf eine Helene im Kaffeehaus ein Feuilleton beginnt und dabei zunächst vor allem die Uneinholbarkeit des eben noch Gegenwärtigen im Schreibprozess demonstriert, um dann mit einem scheinbar zufälligen und Nebensächliches treffenden Blick auf die Anzeigenseite eines konservativ-deutschnationalen Blattes (der Deutschen Tageszeitung aus Berlin) anhand der dortigen Zuchtbullengesuche die nicht nur nationalistische, sondern im Kern rassistische Grundstimmung der Zeit zu entlarven.6 Im Folgenden wird es mir nun darum gehen, zu zeigen, in welchem Maße das Feuilletonistische die Schreibweise der beiden Autoren auch im Bereich der Belletristik beeinflusst hat beziehungsweise wie es in der Poetik ihrer Prosawerke fortklingt. Das ist hinsichtlich Nerudas Kleinseitner Geschichten (Malostránské Povídky), die auf der Grundlage pointierter Beobachtung und mit ironischem Unterton exemplarische Episoden aus dem Leben der Kleinseitner Bevölkerung wiedergeben, sicherlich näherliegend als im Falle der Reportagen Kischs, mit denen man zunächst eher den Anspruch auf Faktentreue verbinden mag. Gerade in der Art und Weise aber, mit der Kisch in seinen Texten das Problem der Faktizität behandelt, finden sich auch bei ihm Spuren einer dem Feuilleton abgewonnenen Poetik. Zeigen lässt sich dies nicht nur in einem typologischen Vergleich, sondern insbesondere anhand einer expliziten Bezugnahme Kischs auf Neruda: Der deutsch schreibende, aber des Tschechischen kundige Kisch nämlich führte Neruda, der ebenfalls beide Sprachen beherrschte und zu Beginn seiner journalistischen Tätigkeit noch auf Deutsch publizierte, als ein Vorbild an. In seiner 1923 herausgegebenen Anthologie Klassischer Journalismus. Die Meisterwerke der Zeitung präsentierte Kisch Neruda mit der Übersetzung eines Textes unter dem 5

So vergleicht Joseph Roth das Feuilleton in seinem entsprechend gattungsreflexiv betitelten Text gerade mit einer Seifenblase. Roth, Joseph: »Feuilleton«, in: J. R., Werke, Band 1: Das journalistische Werk. 1915-1923, hg. v. Klaus Westermann, Köln: Kiepenhauer & Witsch, S. 616-619.

6

Vgl. detaillierter zu diesem Feuilleton Kischs Schönborn, Sibylle: »Kulturelle Topografie Mitteleuropas. Das Prager Feuilleton«, in: Vittoria Borsò/Reinhold Görling (Hg.), Kulturelle Topografien, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 243-254; Schönborn, Sibylle: »…wie ein Tropfen ins Meer«.

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Titel Aus den Aufzeichnungen eines Lokalnotizenschreibers, den Neruda sowohl 1870 in den Národní Listy [National- oder Volksblatt]7 (das ist die journalistische Quelle, die Kisch angibt) als auch in seinem 1864 zusammengestellten Prosazyklus Arabesky [Arabesken] – und damit im Modus des Literarischen – veröffentlicht hatte.8 Gerade an derartigen Übergangsstellen zwischen Zeitung und Belletristik lässt sich an den Texten Nerudas und an jenen Kischs gleichermaßen beobachten, wie sich ein emanzipatorischer Impuls mit einem ästhetischen verbindet: Wo es um die textuelle Präsentation des mit journalistischem Interesse Beobachteten geht, wird dieses nämlich in doppelter Hinsicht gestaltet, wenn es zum einen mit Hilfe ästhetischer Verfahren dargeboten wird und damit zum anderen letztlich eine Umgestaltung, eine Verbesserung der realen Zustände erzielt werden soll. Ein emanzipatorischer Impetus ist bei beiden deutlich zu erkennen – bei Jan Neruda ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ziel die weitere nationale Emanzipation der Tschechen, bei Egon Erwin Kisch ist es in der Zwischenkriegszeit die erstrebte soziale Emanzipation der unteren Bevölkerungsschichten. Indem Neruda in seinen so bekannten Arbeiten über die Prager Kleinseite auf die tschechisch(sprachig)e Bevölkerung fokussierte, stellte auch er die kleinbürgerlichen (wenn auch weniger die proletarischen) Schichten in den Mittelpunkt. Nicht nur deshalb mag er für Kisch Vorbild- oder Vorläuferfunktion gehabt haben,9 sondern eben auch wegen der dem Feuilleton abgewonnenen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von emanzipatorischem und ästhetischem Anspruch des Schreibens.

7

Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir: I.W.

8

Nerudas Titel lautet Z notiční knihy novinkářovy [Aus dem Notizbuch eines Zeitungsmenschen/Reporters]. Auf die durchaus usurpierende Strategie, die Kisch bei der Übersetzung der titelgebenden Berufsbezeichnung wählt, nachdem er in seinem einleitenden Vorspann die deutsche Übersetzung der Kleinseitner Geschichten in Bausch und Bogen als »scheußlich« verurteilt hat, gehe ich weiter unten ein. Vgl. Neruda, Jan: »Aus den Aufzeichnungen eines Lokalnotizenschreibers« [1864; 1870], übers. u. eingel. von Erwin Egon Kisch, in: E. E. K. (Hg.), Klassischer Journalismus. Die Meisterwerke der Zeitung [1923], Nachwort von Christian Siegel, Frankfurt a.M.: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins o.J., S. 447-460, hier S. 447.

9

Eine Vorbildfunktion hatte Jan Neruda offenbar auch für den international wesentlich bekannteren chilenischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Pablo Neruda, der sich in Verehrung für den sozialkritischen Zug in Jan Nerudas Prosa nach ihm benannte.

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1. Z UM F EUILLETON ( ISTISCHEN ) Zunächst ist allerdings eine Einschränkung bzw. eine dem kulturellen Kontext geschuldete Besonderheit von Nerudas feuilletonistischem Schreiben vorauszuschicken: Wenn eines der Charakteristika des so schwer einzugrenzenden, geschweige denn als Gattung zu bestimmenden Feuilletons eine ästhetisierende Akzentuierung von Subjektivität ist, dann stimmt diese Beobachtung einerseits durchaus auch für Neruda und andererseits auch wieder nicht. Ich beziehe mich hierbei auf die Überlegungen Hildegard Kernmayers »Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, das sie als »Sprachspiel nach besonderen Regeln«10 bezeichnet. Zunächst ist demnach für »die feuilletonistische[n] Texte« im Unterschied zur »referentialisierenden Zeitungsprosa«, also den tagesaktuellen Meldungen über dem Strich, eine Poetizität im gut Jakobson’schen Sinne zu vermerken, insofern sie eine gewisse »Selbstbezüglichkeit, mithin Autonomie der Form«11 aufweisen. Grenzen gesetzt sind dieser Autonomie allerdings von vornherein durch die »Verbindung mit dem Merkantilen«, das die Zeitung in allen Rubriken prägt, auch oder sogar besonders im Feuilleton, das in der Frühform in enger Verbindung zum Annoncen-Beiblatt steht.12 Selbstbezüglichkeit kennzeichnet die Form feuilletonistischer Texte aber auch insofern, als »sich in ihr auch ein Subjekt auf sich selbst bezieht«13. Hierher gehören die für den Gestus des Feuilletons als so typisch empfundene »›Gebärde‹ der Leichtigkeit«, die »Momente des Spielerischen und des Assoziativen«, die häufig anzutreffende Selbstthematisierung des Schreibenden und des Schreibprozesses, womit »im Text selbst […] ästhetische Subjekte [entworfen]«14 werden. Helmut Stalder hat (mit Bezug auf Kracauer) die Relevanz des Publikationsortes des Feuilletons auch für diesen Aspekt spielerischer Selbstbezüglichkeit betont, den engen Bezug, in dem die inneren Regeln und Eigentümlichkeiten dieser Textgattung und die äußeren Produktions- und Rezeptionsbedingungen zueinander stehen.15 Er plädierte deshalb für eine kommunikationswissenschaftliche

10 H. Kernmayer: Sprachspiel nach besonderen Regeln, S. 509. 11 Ebd., S. 510. 12 Vgl. ebd., S. 511. 13 Ebd., S. 514. 14 Ebd., S. 515. 15 »Der Versuch einer funktionalen Bestimmung des Zeitungsteils Feuilleton hat angesichts dieser Fülle unterschiedlich zweckgerichteter Textsorten meines Erachtens höchstens dann Aussicht auf Erfolg, wenn man das Feuilleton einer bestimmten Zeitung zu einer bestimmten Zeit im Auge hat […] und wenn man fragt, was denn die Zeitung

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Sichtweise auf das Feuilleton, die »auch die Rückkoppelungen mit dem Publikum einbezieht«: »Das Prozesshafte ist zu beachten, wenn man einen Zeitungsteil wie das Feuilleton definitorisch erfassen will. Ebenso wenig wie die Leserschaft die Präsentation allein diktiert, bestimmt die Zeitung das Massenbedürfnis allein. Tatsächlich besteht ein Wechselverhältnis, nicht nur zwischen der außertextlichen Wirklichkeit und dem Text, sondern auch zwischen Text und Leser; der Leser bekommt vom Text gewisse Standards aufgedrängt und fordert zugleich von ihm gewisse Standards ein.«16

Jene Autoren, die aufgrund ihres markanten, subjektiven und doch breit konsumierbaren Stils zu ›Stars des Feuilletons‹ mit Wiedererkennungswert avancieren, sind in ein ambivalentes Verhältnis zwischen Affirmation und Subversion der Zirkulationsprinzipien des Kapitalismus gespannt, wenn sie der Marktgängigkeit und Massentauglichkeit ihres Stils einerseits den eigenen kommerziellen Erfolg verdanken, andererseits aber von einer Konfektionalisierung des eigenen Stils bedroht sind.17 Auch dieses Spannungsverhältnis bleibt dem Feuilleton eingeschrieben, wenn es sich gerade in seinem Gestus des Fragmentarischen einerseits als adäquate Antwort auf jene Zumutungen erweist, die die in der Erfahrung der Großstadt kumulierende Moderne im Simmel’schen Sinne für die Wahrnehmung bereit hält, und wenn es dabei andererseits und zugleich in genau dieser Fragmentarizität, mit der die Leerstelle des fehlenden Ganzen ausgestellt wird, ein subversives Moment enthält. Allerdings: Solche Charakterisierungen des Feuilletons sind seiner hochmodernen Gestalt in der Zwischenkriegszeit abgelesen. Für Neruda gelten sie noch nicht gänzlich, wenn auch tendenziell. Dies lässt sich noch einmal mit Hildegard Kernmayer an dem Unterschied zwischen den spezifischen Formen von Subjektivität, die Essay bzw. Feuilleton entwerfen, demonstrieren18: So richte sich der Essay vor allem im 18. Jahrhundert

damals mit ihrem Feuilleton bezweckte. Erst daran kann die Frage anknüpfen, mit welchen Strategien sie diese Funktion zu erfüllen trachtete, wie sich also die verschiedenen Textsorten in die funktionale Ausrichtung des jeweiligen Feuilletons einfügen.« Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. Das journalistische Werk in der ›Frankfurter Zeitung‹ 1921-1933 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Band 438), Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 72. 16 Ebd., S. 76. 17 Vgl. ebd., S. 81. 18 Kernmayer (vgl. H. Kernmayer: Sprachspiel nach besonderen Regeln, S. 515) schließt mit dieser Unterscheidung von Formen der Subjektivität an Karlheinz Bohrers Unter-

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traditionell über die Zeitschrift als Verbreitungsmedium an eine vergleichsweise homogene Gruppe von Leserinnen und Lesern und diene dabei der bürgerlichen Selbstvergewisserung im Prozess der Emanzipation. »Die im Essay präsentierten Formen der Subjektivität stimmen insofern mit dem (teleologischen) Konzept der bürgerlichen Autonomie des 18. Jahrhunderts überein, als in ihnen ein Ich entworfen wird, das […] verallgemeinerbar ist.«19 Mit dem Feuilleton dagegen, das in der tagesaktuellen Presse erscheint, entstehe eine »neue Form subjektzentrierter Prosa«20, die vor allem unterhalten solle. Das Subjekt, das der feuilletonistische Text mitteilt, sei »ein Ich, das unterschiedliche Formen, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen, erprobt und das sich je nach Bedarf als politisches, als kontemplatives, als spielerisches, als konsumtorisches, aber immer als ästhetisches entwirft«21. An diesem Punkt differieren Nerudas Feuilletons insofern, als sie zwar eine ästhetische Subjektivität entwerfen, die aber noch nicht in dem Maße wie im weiteren Verlauf der Moderne erst genau daraus erwachsen würde, dass das Konzept der Subjektivität als immer brüchiger und krisenhafter empfunden wird und eben nur mehr in der Form eines Entwurfs performativ umzusetzen wäre. Nerudas Feuilletons aus den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zielen über das durchaus vorhandene ästhetische, spielerische Moment hinaus auch auf den Entwurf einer kollektiven Identität und insofern auf jene verallgemeinerbare Form von Subjektivität ab, wie Kernmayer sie typologisch anhand des Essays für die bürgerliche Selbstvergewisserung des 18. Jahrhunderts beschrieben hat. Denn ihnen ist jenes Projekt eingeschrieben, dessen Teil sie in Nerudas Selbstverständnis, aber auch in der Erwartungshaltung des angesprochenen Publikums waren: das Projekt der nationalen Emanzipation des tschechischen Volkes. Die dem Feuilleton stets inhärente, immer auch eine merkantile Dimension umfassende Orientierung auf das Publikum gestaltet sich im Falle Nerudas also auf eine (kultur-)spezifische Art und Weise. Sie beinhaltet eine didaktische, eben auf Emanzipation und Volksbildung zielende Dimension, der seitens des Publikums eine entsprechende Erwartungshaltung gegenübersteht. Denn der Auf- oder Ausbau eines tschechischsprachigen Zeitungswesens inklusive Feuilleton gehört zu den damals

suchungen der Briefkultur des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts an: Bohrer, Karlheinz: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München: Hanser 1987. 19 H. Kernmayer: Sprachspiel nach besonderen Regeln, S. 515. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 516.

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allgemein geteilten Bemühungen, eine vollgültige, alle Bereiche umfassende Kultur zu begründen.22

2. J AN N ERUDAS F EUILLETONS IM K ONTEXT DER NATIONALEN W IEDERGEBURT Ab den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ist ein rasantes Anwachsen der Zahl von Periodika zu verzeichnen: So erschienen 1863 noch lediglich 45 amtlich erlaubte tschechische Zeitungen und Zeitschriften in Böhmen, 1879 waren es bereits 122 und 1895 sogar 395, davon 120 politische.23 Das heißt, dass sich das Konkurrenzverhältnis weg von einem zwischen deutsch- und tschechischsprachiger Publizistik hin zu einem zwischen verschiedenen tschechischsprachigen Blättern entwickelt hatte. Auf Seiten der national gesinnten Leserschaft, die den Bezug ihrer Zeitung durchaus als patriotischen Akt zur Förderung des tschechischen Schrifttums verstand, entstand eine hohe Erwartungshaltung, was das Niveau des Feuilletons betraf. Dass der Erwartungsdruck sich insbesondere an das Feuilleton mit seiner vordergründigen Unterhaltungsfunktion richtete, lag daran, dass dieser Teil der Zeitung am wenigsten der Zensur ausgesetzt war und gerade deshalb dann auch – im typisch feuilletonistischen Gestus der Plauderei – durchaus politisch konnotierte Themen verhandelte.24 Als weiteres Spezifikum kommt die soziale Zusammensetzung der Leserschaft hinzu: Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstammen die patriotisch gesinnten tschechischen Intellektuellen noch

22 Vgl. zu einer kultursemiotischen Typologisierung der sog. tschechischen ›Wiedergeburt‹ Macura, Vladimír: Znamení zrodu. České národní obrození jako kulturní typ. 2., neue u. erw. Aufl., Jinočany: H & H 1995. Macura hebt vor allem für die Anfangsphase der ›Wiedergeburt‹ die häufig synkretistischen Bemühungen hervor, möglichst alle Felder der Kultur abzudecken, sie sozusagen zu ›beackern‹. Symptomatisch in dieser Hinsicht sei der Vergleich mit einem Garten, der sich im Diskurs der Zeit häufig findet. Macura (ebd., S. 27f.) zeigt, wie Metaphern gärtnerischer Arbeit – er spricht vom »metaphorischen Ideogramm des Gartens« (»metaforický ideogram zahrady«, ebd., S. 28) – die Vorstellungen vom eigenen kulturellen Schaffen bestimmten. 23 Diese Zahlen nennt Dalibor Tureček, auf dessen Untersuchungen zum Feuilleton Jan Nerudas (Tureček, Dalibor: Fejeton Jana Nerudy, Praha: ARSCI 2007) ich mich bei meinen folgenden Ausführungen vor allem stütze. Tureček (vgl. ebd., S. 96) verweist dabei auf Kořalka, Jiří: Vzestup národa a národní stát, in: Přítomnost 3 (1992), Heft 2, S. 22-23, hier S. 23. 24 Vgl. D. Tureček: Fejeton Jana Nerudy, S. 96f.

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überwiegend agrarisch geprägten Schichten oder dem Kleinunternehmertum – anders als die ›Community‹ der Prager Deutschen, unter denen sich auch zahlreiche Großunternehmer finden und die mit einem anderen, durchaus großbürgerlichen Gestus auftreten.25 Hier setzt die didaktische Funktion des tschechischen Feuilletons ein, das nicht nur unterhalten, sondern auch Bildung und Gewandtheit befördern will. In einem Inserat, das für Abonnements der Zeitung Hlas [Die Stimme] für das Jahr 1862 wirbt, wird die Rubrik des Feuilletons folgendermaßen angepriesen: »Fejeton Hlasu, jehož vedení svěřeno jest v tomto oboru všeobecně uznávanému Janu Nerudovi, bude zábavným a poučným, jednak vážnost doby méně opravdovým způsobem vyjasňuje, jednak podávaje národopisnými, cestopisnými i historickými články jakýsi výklad k dějinám okamžitě nejdůležitějším. Týdenními obrázky líčiti se budou zjevy a směry společenského života našeho a života slovanského vůbec, zvláštní úvahy promluví nestranně o všech úkazech literárních, o českém divadle, o pokrocích a veřejných zjevech umění našeho hudebního a výtvarného.«26 »Das Feuilleton von Hlas, dessen Leitung dem auf diesem Gebiet allgemein anerkannten Jan Neruda anvertraut ist, wird unterhaltsam und lehrreich sein, mal die Ernsthaftigkeit der Zeit auf weniger wahrhaftige Weise erhellend, mal mit ethnographischen Beschreibungen, Reiseberichten oder historischen Artikeln gewissermaßen eine Auslegung zur gerade wichtigsten Historie gebend. Wöchentlich werden mit Bildern die Erscheinungen und Richtungen unseres gesellschaftlichen wie überhaupt des slawischen Lebens geschildert werden, eigene Erwägungen werden unparteiisch über alle literarischen Äußerungen, über das tschechische Theater, über die Fortschritte und öffentlichen Erscheinungen unserer Musik und bildenden Kunst sprechen.«

Jan Neruda war, wie aus diesem Zitat auch hervorgeht, dominierender Autor des tschechischen Feuilletons der Zeit. Für die hier annoncierte liberal-demokratische Zeitung Hlas schrieb er neben Vítězslav Hálek die überwiegende Mehrzahl der Feuilletons, später, als Hlas mit Národní listy fusioniert hatte, dann ebenso für diese Zeitung. Den stilistischen Unterschied zwischen Háleks und Nerudas Um-

25 Vgl. ebd., S. 97. 26 Hlas 2 von 1862, Nr. 1, S. 1; bei D. Tureček: Fejeton Jana Nerudy, S. 97f., zit. nach Beránková, Milena: Hlas. 1862-1865. Vznik, vývoj a politické zaměření, Band 1, Praha: Ústav pro teorii a dějiny hromadných sdělovacích prostředků Univerzity Karlovy 1970, S. 220.

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gangsweise mit dem volksaufklärerischen Anspruch an das Feuilleton charakterisiert Tureček folgendermaßen27: Während Hálek den Anspruch verfolgt habe, den Standard durch poetisierende Verfahren zu heben, die ange-sprochenen breiten Volksschichten also dem eigenen Niveau anzunähern, sei Neruda genau umgekehrt verfahren, indem er Elemente der mündlichen und der volkstümlichen Sprache einband und Momente der urbanen Folklore aufgriff. Hierher gehören die in Nerudas Feuilletons häufig anzutreffenden Leseransprachen in kolloquialem, jovialem Ton, die Vorwegnahme möglicher Leserreaktionen in quasi-dialogischer Form, die zugleich ein ironisches Spiel mit der Autostilisierung als Verfasser eröffnen.28 Im folgenden Einstieg zu einem Feuilleton kommt eine Ironisierung des allseits und immerfort erwarteten Beitrags zum Projekt der nationalen Wiedergeburt hinzu. Auffällig ist nicht nur der nonchalante Ton, in dem hier der ›Ruhm des Volkes‹ verhandelt wird, sondern auch die Verbindung dieser Thematik mit dem Verb ›týti‹ [dick, feist werden], das auch im agrarischen Kontext Verwendung findet und damit in gerade jenem Kontext, dem das Volk, das doch Größe und Ruhm erlangen soll, wie auch zu einem nicht geringen Anteil die angesprochene Leserschaft angehören: »Všemu se musí trochu pomáhat, i slávě slavného národa, aby se udržel a tyl v slávě té. Proto jsem také již ondy vyhledával i uváděl důkazy, že Praha je městem již opravdu velkým, a národ náš tedy v poměru dle toho. Důkazy moje byly sic, ale byly slaby, nyní mám důkaz nový, nezvratný. Pamatujete se ještě na minulé desítiletí?«29 »Allem muss man ein wenig nachhelfen, auch dem Ruhm eines berühmten Volkes, auf dass es sich halte und feist werde in diesem Ruhm. Deshalb habe ich auch dereinst schon Beweise dafür gesucht und angeführt, dass Prag eine wirklich große Stadt ist und unser Volk also im Verhältnis entsprechend. Meine Beweise gab es zwar, aber sie waren schwach, jetzt habe 27 Vgl. D. Tureček: Fejeton Jana Nerudy, S. 111-115. 28 Tureček bringt u.a. folgendes Beispiel: »Váš uctivý služebník, vážení čtenářové a laskavé čtenářky; jakpak se ráčíte? – Nemusíte mě odpovídat, tážu se jen tak, abych měl začátek.« Neruda, Jan: Česká společnost II (= Spisy Jana Nerudy, Band 22, bearb. von Josef Polák), Praha: Státní nakladatelství krásné literatury, hudby a umění 1956, S. 389, zit. nach D. Tureček: Fejeton Jana Nerudy, S. 114. [»Ihr ergebener Diener, [meine] verehrte[n] Leser und liebenswürdige[n] Leserinnen; wie geht es Ihnen? – Sie müssen mir nicht antworten, ich frage nur so, um einen Anfang zu haben.«] 29 Neruda, Jan: »Skoro – či polo. Rozličné druhy veseloherních figur« [Národní listy vom 20.10.1867], in: J. N., Drobné klepy II (= Spisy Jana Nerudy, Band 27, bearb. von Věra Vrzalová/Jarmila Sirotková), Praha: Státní nakladatelství krásné literatury, hudby a umění 1959, S. 29-31, hier S. 29.

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ich einen neuen, unumkehrbaren Beweis. Erinnern Sie sich noch an das vergangene Jahrzehnt?«

Wie in der Forschung bereits mehrfach aufgezeigt wurde,30 sind es genau diese Momente – die ironische Selbstreflexion des Schreib- bzw. Erzählprozesses und der Rolle des aussagenden Ich, die Vielfalt der aufgerufenen Perspektiven und der mit ihnen verbundenen Stilebenen, das Schwanken zwischen distanzierter Beobachtung und involviertem Kommentar, die Dynamik des Ausschnitthaften – , die Neruda aus der journalistischen Arbeit in seine literarische hinüberträgt und in denen die Modernität seiner Prosa gründet.31 Diese Punkte führte bereits in den achtziger Jahren die tschechische Literaturwissenschaftlerin Jaroslava Janáčková für Nerudas Ausgestaltung der kleinen Form an – wenn auch nicht direkt unter diesen Bezeichnungen, sondern in einem Duktus, der sich deutlich dem Dogma des sozialistischen Realismus verdankte. Ihre Argumentation zielte nämlich darauf ab zu zeigen, dass Nerudas Kurzprosa den tschechischen Bedingungen adäquat und vor allem dem ›großen‹ sozialen Roman, wie er in anderen Literaturen der Zeit zu finden ist, durchaus an die Seite zu stellen sei.32 Denn gerade in dem der kleinen Form des Feuilletons abgewonnenen Modus des Ästhetischen gelinge es Neruda, jene sozialkritische Dimension zu erreichen, die gewöhnlich der großen Form des Romans zugeschrieben werde.33 30 Vgl. Janáčková, Jaroslava: »Fejeton a fejetonistická novela«, in: J. J., Stoletou alejí. O české próze minulého věku, Praha: Československý spisovatel 1985, S. 89-105; Mocná, Dagmar: »Podivuhodný labyrint každodennosti. Fikční svět Povídek malostranských«, in: Česká literatura 55 (2007), S. 145-166; D. Tureček: Fejeton Jana Nerudy. 31 Tureček sieht hierin in seinem Fazit die Spezifik und Innovativität Nerudas: Bis 1870 seien vor allem Versuche zu beobachten, Formen und Verfahren der Belletristik für die Stilbegründung einer künstlerischen Publizistik heranzuziehen. Neruda sei der bedeutendste Vertreter der umgekehrten Tendenz, nämlich des Versuchs, die Form-Möglichkeiten der künstlerischen Literatur um Verfahren des Feuilletons zu bereichern. Vgl. D. Tureček: Fejeton Jana Nerudy, S. 180. 32 Vgl. S. J. Janáčková: Fejeton a fejetonistická novela. 33 Janáčková demonstriert dies anhand einer Artikelserie mit dem bezeichnenden Titel Trhani, der auf einer Metaebene nicht nur auf die Zerrissenheit der modernen Arbeitsbedingungen dieses Berufstands bzw. des von allen Standeszugehörigkeiten ausgeschlossenen Lumpenproletariats verweist, sondern auch auf dem korrespondierenden ausschnitthaften Modus des Feuilletons. Neruda selbst reflektierte, wie Janáčková anführt, die Unübersetzbarkeit dieses Titels: »Jak myslíš, že by se mohli do němčiny přeložit Trhani? Zas s tím vedlejším smyslem snad – odtrhanců? Bylo by dobře Die Reisser? – Erdspalter? Sprenger? Prosím, navrhni mně něco« [»Wie, glaubst du, ließe

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3. Z WISCHEN F AKTIZITÄT UND F IKTIONALITÄT : E GON E RWIN K ISCHS R EPORTAGE -K ONZEPT Diese Sichtweise ist für den Vergleich mit Kisch insofern von Interesse, als sie genau jenen Punkt im Wechselverhältnis von Nerudas journalistischem und literarischem Schreiben betrifft, der auch für Kisch virulent war: das Verhältnis zwischen (sozialkritischem) Inhalt und (feuilletonistisch-ästhetisierter) Form bzw. zwischen dem Darzustellenden und der Darstellungsweise. Für Kisch gestaltete es sich als Herausforderung, größtmögliche Tatsachentreue mit einem möglichst großen Effekt zu verbinden, soziale Missstände auf aufrüttelnde Weise darzustellen. Er wählte, wie man weiß, gerade mit Blick auf die sozialkritische Intention seiner Texte die Gattungsbezeichnung Reportage. Damit verband er den Anspruch, »Tatsachen« »aus erster Hand«, »aus dem Leben«34 zu schildern, und sah dies als die Grundlage jedweden Journalismus an. So schreibt er in dem kurzen Text Wesen des Reporters von 1918: »An sich ist immer die Arbeit des Reporters die ehrlichste, sachlichste, wichtigste. […] Er mag übertreiben, unverläßliche Nachrichten bringen – dennoch ist er immer von der Tatsache abhängig, immer von der Sachlichkeit, immer ist ein Patrouillengang, ein Weg, ein Gespräch oder ein Anruf die Grundlage selbst der kleinsten Notiz.«35

Zugleich aber – und darin drückt sich bereits ein Problembewusstsein im Hinblick auf die hier interessierende Thematik aus – fügt er metaphorisch hinzu, der Reporter »bedarf auch eines Fernrohres: der ›logischen Phantasie‹«36. Mit dieser müsse er das niemals lückenlose Bild der Sachlage, das er bei seiner Recherche erhalte, mithilfe einer »Wahrscheinlichkeitskurve«, die »durch die ihm bekannten

sich Trhani ins Deutsche übersetzen? Wiederum mit diesem Nebensinn vielleicht von – Abgerissenen? Wäre gut Die Reisser? – Erdspalter? Sprenger? Bitte, schlag mit etwas vor«], schrieb er demnach Anfang Oktober 1874 an seinen in Wien lebenden Freund Kazimír Vrastislav Šembera, zit. nach J. Janáčková: Fejeton a fejetonistická novela, S. 96. 34 Kisch, Egon Erwin: »Wesen des Reporters« [1918], in: E. E. K., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 8: Mein Leben für die Zeitung 1906-1925. Journalistische Texte 1, hg. von Bodo Uhse et al., Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1983, S. 205-208, hier S. 205f. 35 Ebd., S. 205f. 36 Ebd., S. 206.

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Tatsachen (die gegebenen Punkte der Strecke) führt«37, miteinander verbinden. Wie Erhard Schütz in einer Studie zu Kischs Wahrheitsbegriff deutlich machte, steht dokumentarische Faktentreue bei diesem in einem Spannungsverhältnis zum sozialen Engagement: Gerade aus Gründen der Tendenz, die er von der guten Reportage erwartet, erhebt Kisch sich mehr und mehr über die gegebenen, vorgefundenen Fälle und ›erfindet‹ Vorgänge und Fakten38 im Zuge einer Plausibilität, die sich für ihn auf einer dann nicht mehr allein faktographischen Ebene doch wiederum von Nachweisbarkeit und Überprüfbarkeit ableitet.39 Das Bewusstsein um die Kunsthaftigkeit der eigenen Arbeit ist Kischs Texten dabei abzulesen.40 Wenn Kisch dann 1924 im Vorwort zu seiner Sammlung Der rasende Reporter proklamiert, »Der Reporter hat keine Tendenz […] und hat keinen Standpunkt. Er hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern, so verläßlich, wie sich eine Aussage geben läßt«41, dann steht dies auf eine Art und Weise im Widerspruch zum Gestus der dann folgenden Texte, dass Keith Williams gar von einem ironischen oder zumindest ambigen Verhältnis zwischen Vorwort und Reportagen gesprochen hat.42 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Scott Spector, wenn er »in dem radikalen anti-ästhetischen Programm von Kisch« eine »ironische Wende« enthalten sieht, insofern die »Anwesenheit des Reporters« im Text erkennbar bleibe.43 Hans-Albert Walter hat die mit dem Titel gegebene Gattungs-

37 Ebd. 38 In einer neueren Studie fragt Erhard Schütz deshalb: »Egon Erwin Kisch – Faktograph oder Fiktio-Fürst?«, in: Andy Hahnemann/David Oels (Hg.), Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Lang 2008, S. 183-200. 39 Vgl. Schütz, Erhard: »Moral aus der Geschichte. Zur Wahrheit des Egon Erwin Kisch«, in: Text und Kritik 67 (1980), S. 38-47, hier S. 45. 40 Vgl. ebd., S. 43. 41 Kisch, Egon Erwin: »Der rasende Reporter. Vorwort« [1924], in: E. E. K., Der rasende Reporter u.a. [ehemals in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 5, hg. von Bodo Uhse/Gisela Kisch]. 6. Aufl., Berlin/Weimar: Aufbau Taschenbuch 2010, S. 7f., hier S. 7. 42 »However, on analysis, the relationship of Kisch’s foreword, to the reportages themselves turns out to be largely ironic or ambiguous, and his ›objectivity‹ to be a far from straightforward ›reflection‹ of the facts.« Williams, Keith: »The Will to Objectivity. Egon Erwin Kisch’s ›Der rasende Reporter‹«, in: The Modern Language Review 85 (1990), S. 92-106, hier S. 93. 43 »Der Reporter, der die Distanz zwischen dem Dichter und der Realität des alltäglichen Lebens aufhebt, findet sich selbst in den ästhetischen Gegenstand verwandelt.« Spector, Scott: »Egon Erwin Kisch. Der Reporter, das Feuilleton und Mitteleuropa«, in: Sibylle

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bezeichnung aufgrund des Widerspruchs, in dem sie zu den »ja hochgradig artifiziellen Texten des Buches« stehe, als Selbstinszenierung gekennzeichnet und auf die Formel gebracht: »Ein Reporter, der keiner war«44. Offenbar gründet Kischs Produktivität in jenem Spannungsverhältnis, in dem für ihn ein mit Faktizität verbundener emanzipatorischer und ein ästhetischer Anspruch zueinander stehen.

4. N ERUDA BEI K ISCH Und genau in diesem Punkt ist auch Neruda von Interesse für ihn. In seiner Anthologie Klassischer Journalismus stellt er ihn folgendermaßen vor: »Über zweitausend Feuilletons hat er geschrieben, fast alle mit der Spannung des inneren Lyrikers, mit der Liebe zu den kleinen Typen und mit der Ironie eines noblen Menschen«45. Der Text, mit dem er Neruda präsentiert, betrifft die Praxis sowohl journalistischer wie literarischer Schriftstellerei und ist in hohem Maße metapoetisch46: Gerahmt durch eine Herausgeberfiktion, werden Auszüge Aus den Aufzeichnungen eines Lokalnotizenschreibers (wie Kisch den Originaltitel Z notiční

Schönborn (Hg.), Grenzdiskurse. Zeitungen deutschsprachiger Minderheiten und ihr Feuilleton in Mitteleuropa bis 1939, Essen: Klartext 2009, S. 159-167, hier S. 166. 44 Walter, Hans-Albert: »Ein Reporter, der keiner war«, in: Hannelore Mundt/Egon Schwarz/William J. Lillyman (Hg.), Horizonte. Festschrift für Herbert Lehnert zum 65. Geburtstag, Tübingen: Niemeyer 1990, S. 205-213, hier S. 207: »Weder der Titel war ein Versehen noch seine kurzgeschlossene Übertragung auf den Autor durch die Leser. Auch diese Reaktion des Publikums war vorausberechnet, war Teil der Selbstinszenierung. Den Zugang zur ›hohen‹, zur ›richtigen‹ Literatur wollte sich Kisch gleichsam durch die Hintertür erzwingen und mit einer List. Das allgemeine Vorurteil gegen die als unseriös, wenn nicht als verlogen geltende Reportage sollte besiegt werden unter Zuhilfenahme eben dieses Vorurteiles selbst. Mit dem reißerischen Titel parodistisch auf die Spitze getrieben, wurde es zu gleicher Zeit von den ja hochgradig artifiziellen Texten des Buches widerlegt.« 45 E. E. Kisch: Klassischer Journalismus, S. 447. 46 Barbara Köpplova hat bereits in den achtziger Jahren in einer Studie zu Kischs Anthologie darauf hingewiesen, dass Nerudas Text hier keine Ausnahme bildet, sondern eine relativ hohe Anzahl der präsentierten Texte einer »eher literarischen Ebene« (»spíše literární rovině«, S. 132) zuzuordnen wären. Die Anthologie sei insofern »Bestandteil von Kischs Bestreben, der journalistischen Tätigkeit den Status kulturellen Schaffens zu verschaffen in einem Umfeld, das mehr als anderswo an der Abtrennung der Literatur als schöner Kunst von der Journalistik als einem Notwendigkeiten des Augenblicks

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knihy novinkářovy übersetzt) präsentiert, der über sein Handwerk reflektiert. Ähnlich wie Kischs Texte des Rasenden Reporters war auch dieser Text Nerudas sowohl in der Zeitung (Národní Listy, 1870), als auch in einer Prosasammlung (Arabesky, 1864) erschienen. Der Text ist also nicht nur von den Publikationsorten her zwischen Journalismus und Literatur angesiedelt, sondern thematisiert das Schreiben und jenes Verhältnis von Fiktionalität und Faktizität, das Kisch offensichtlich beschäftigt hat, in mehrfacher Hinsicht.47 Gleich zu Beginn wird die Gegenüberstellung von Lüge und Wahrheit auf wahrhaft ironische Weise aufgerufen: »Kdybych čtenáři vypravoval, jakým spůsobem jsem k následujícím listům přišel, buď by mne lhářem nazval, nebo by se mně vysmál; že ani jednoho ani druhého si nepřeju, netřeba abych se zaručoval. Staň se však, co staň, já chci čtenářům svým jen pravdu povědít a protož zcela krátce svou předmluvní historku vypravím.«48 »Wollte ich dem Leser erzählen, auf welche Art ich in den Besitz der nachfolgenden Blätter gelangte, er würde mich einen Lügner schelten oder mich auslachen; daß mir nun weder das eine noch das andere erwünscht sein kann, brauch ich nicht erst zu beteuern. Dem sei, wie ihm wolle, ich will dem Leser nur die Wahrheit sagen und fasse darum meine einleitende Historiette ganz kurz zusammen.«49

Dass es sich um eine Herausgeberfiktion handelt, wird mit der Distanzierung von den als »wertlos« bezeichneten Notizen am Schluss der einleitenden Passage, die von deren Fund berichtet, überdeutlich gemacht: »[C]hci je uveřejnit, přiznávaje se však, že nejsou mé, abych se tím každé pokutě vyhnul.«50 – »Ich tue es [die

dienenden Handwerk hing.« (»[…] součást[] Kischova úsilí získat žurnalistickému působení status kulturní tvorby v prostředí, které více než jinde lpělo na oddělení literatury jako krásného umění od žurnalistiky jako řemesla, sloužícího potřebám okamžiku.«, Köpplova, Barbara: »Znovu po mnoha letech o Kischově knize Klasický žurnalismus«, in: Sešity novináře XIX (1985) Heft 1, S. 120-137, hier S. 121.) 47 Vgl. zum selbstreflexiven Modus von Nerudas Text und zur mitteleuropäischen Verortung von Kischs Bezugnahme auf Neruda Schönborn, Sibylle: Kulturelle Topografie Mitteleuropas. 48 Neruda, Jan: »Z notiční knihy novinkářovy«, in: J. N., Arabesky [1864] (= Spisy Jana Nerudy, Band 3, bearb. von Karel Polák), Praha: Československý spisovatel 1952, S. 110-121, hier S. 110. 49 J. Neruda: Aus den Aufzeichnungen eines Lokalnotizenschreibers, S. 447f. 50 J. Neruda: Z notiční knihy novinkářovy, S. 111.

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Notizen veröffentlichen] an dieser Stelle, jedoch mit dem ausdrücklichen Bemerken, daß nicht ich der eigentliche Urheber bin, und so glaube ich denn auch jeglicher Beschuldigung aus dem Wege zu gehen.«51 Die sodann folgenden Notizen – jeweils mit Angabe des Datums und der Tageszeit – sind die Aufzeichnungen eines Reporters, der eine neue Wohnung auf der Prager Kleinseite bezogen hat, allmählich Bekanntschaft mit seiner Umgebung macht, über das Ausbleiben berichtenswerter Ereignisse klagt (was ihm nicht nur Langeweile, sondern auch Geld- und Nahrungsmangel einträgt), eine hübsche jüdische Nachbarin vis-à-vis durchs Fenster beobachtet und dabei wahrnimmt, dass sie offenbar einen Säugling versorgt und sehnsuchtsvoll einem Brief entgegenharrt. Eines Morgens sieht er einen Menschenauflauf in ihrem Zimmer. Es stellt sich heraus, dass sie sich und das Kind vergiftet hat, nachdem ihr Geliebter ihr brieflich mitgeteilt hat, dass seine (offenbar gesellschaftskonforme) Vermählung bevorstehe. Die Aufzeichnungen enden mit einer Reflexion des Journalisten über sein Handwerk: »Mám o tom psát? – Musím! – Náš list to bude mít nejlíp! – Ale až půjdu dolů, vypovím z bytu. –«52 – »Soll ich darüber schreiben? – Ich muß! – Unser Blatt wird es am schönsten haben! – Aber wenn ich hinunterkomme, will ich [die Wohnung] kündigen. –«53

5. K ISCH : G ESTALT ( UNG ) EN EINES R EPORTERS Kisch präsentiert als letzten Text seiner Sammlung des Rasenden Reporters von 1924 eine ganz ähnliche Konstellation. Die Mutter des Mörders und ein Reporter54 ist ein in höchstem Maße selbstreflexives Kurzprosa-Stück: Der Reporter von der Zeitung stattet der Mutter eines des Mordes Verdächtigen den üblichen Besuch ab, um Näheres über den Fall zu erfahren, kann von der völlig aufgelösten Frau aber nichts in Erfahrung bringen und steigert ihr Unglück noch, indem er von Raubmord spricht. »Nichts zu machen! Der Reporter verabschiedet sich mit einer Phrase, dass er sie nicht belästigen wollte, er habe nur gedacht, sie könnte ihrem Sohn vielleicht helfen, wenn sie ihm einige Auskünfte...«55

51 J. Neruda: Aus den Aufzeichnungen eines Lokalnotizenschreibers, S. 449. 52 J. Neruda: Z notiční knihy novinkářovy, S. 121. 53 J. Neruda: Aus den Aufzeichnungen eines Lokalnotizenschreibers, S. 460. 54 Kisch, Egon Erwin: »Die Mutter des Mörders und ein Reporter« [1924], in: E. E. K., Der rasende Reporter, S. 335-346. 55 Ebd., S. 337.

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Von solchen Einschüben, die nicht nur die Repliken des Reporters, sondern auch seine Gedanken – und zwar mehrfach in Bezug auf die journalistische Verwertbarkeit des In-Erfahrung-Gebrachten – wiedergeben, ist die gesamte Darstellung durchzogen. Mit der Frage nach einer möglichen erblichen Vorbelastung des Sohnes, die vor Gericht mildernde Umstände bewirken könnte, bringt er ungewollt einen Stein ins Rollen. Die alte Frau erzählt nun von zwei Situationen aus ihrer Jugend, in denen sie selbst beinahe zur Mörderin geworden sei: Als junges Dienstmädchen wurde sie vom Bruder ihrer Gnädigsten nicht nur verführt, sondern, nachdem dieser ihrer überdrüssig geworden war, auch noch bei einem nächtlichen Gelage an einen seiner Freunde weitergereicht; als ihre Herrschaft ihr am nächsten Morgen kündigt, weil sie sich die Nacht über herumgetrieben habe, stürzt sie sich am Abend mit einem Messer auf ihren einstigen Verführer. Die zweite Situation betrifft die Abstammung ihres gerade unter Mordverdacht stehenden Sohnes: Als sie von ihrem damaligen Freund, einem Polizisten, schwanger geworden war, nötigte dieser sie dazu, mit einem anderen, ihrem späteren Mann, zu gehen, um ihm dann die Vaterschaft unterzuschieben. Wieder will sie sich mit dem Messer rächen, der Kindsvater erscheint aber nicht mehr zum verabredeten Treffen und auch ihre Abtreibungsversuche scheitern. Die Darbietung dieser Erinnerung, die die Erzählung einer Erzählung ist, ist durchbrochen von Überlegungen des Reporters über die eigene Rolle, über die Verwertbarkeit des Erzählten für die Zeitung und schließlich über die Unangemessenheit der Situation, als der Sohn nach Hause kommt, aus der Haft schon wieder entlassen, weil der wirkliche Mörder bereits gefunden ist. In einer späteren Fassung, die Kisch der 1942 im Exil in Mexiko zusammengestellten Sammlung Marktplatz der Sensationen unter dem (nun um den Reporter gekürzten) Titel Die Mutter des Mörders einreihte, sind die Fragen und die Gedanken des Reporters, die den Erzählfluss der Mutter unterbrechen, zwar weiterhin in indirekter Rede wiedergegeben, er selbst tritt nun aber als erzählendes Ich in Erscheinung und nicht mehr als Figur, von der in distanzierterer Er-Form erzählt wird. An die Stelle der scheinbaren Objektivität eines in der ersten Fassung noch im Titel genannten Reporters und einer unpersönlicheren Erzählhaltung tritt nun wesentlich deutlicher die Subjektivität des Ich, das das Geschehen präsentiert. Die oben zitierte Passage lautet dort: »Nichts zu machen. Ich verabschiede mich mit der Phrase, ich hätte sie nicht belästigen wollen, hätte nur gedacht, sie könnte ihrem Sohn vielleicht helfen, wenn sie mir einige Auskünfte gäbe.«56

56 Kisch, Egon Erwin: »Die Mutter des Mörders« [1942], in: E. E. K., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 7: Marktplatz der Sensationen. Entdeckungen in Mexiko, hg. von Bodo Uhse et al. 3. Aufl., Berlin/Weimar: Aufbau 1974, S. 162-172, hier S. 164.

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In dieser Text-Version thematisiert der Schlusssatz direkt das Spannungsverhältnis zwischen Journalismus und Literatur: »Und ich verlasse die Wohnung, ohne eine Notiz, ohne auch nur eine Zeile zu haben.«57 Dieser Satz, am Ende einer durchaus vorhandenen Erzählung platziert, wird durch die Existenz der Erzählung, die er beendet, selbst negiert. Was journalistisch betrachtet Ereignischarakter gehabt hätte und insofern eine Meldung wert gewesen wäre, ließ sich nicht eruieren: nämlich Hintergrundinformationen über den vermeintlichen Mörder; und zwar schlicht aus dem Grund, dass der Mörder am Ende kein Mörder ist. In narratologischer Hinsicht aber sehr wohl ereignishaft ist die Erzählung der alten Frau, und zwar auf zweierlei Weise: erstens durch den Umstand, dass sie erzählt, was sie sonst unter keinen Umständen und schon gar nicht einem Fremden erzählt hätte; zweitens durch das, was sie erzählt, weil sich ihr Verhalten so gar nicht in das übliche Schema des verführten Dienstmädchens fügt.

6. S CHLUSS In Kischs Behandlung des Stoffes lässt sich also eine Verschiebung von der Betonung der Reportage hin zu einer subjektiveren, aber auch in höherem Maße selbstreflexiven, literarischen Fassung erkennen. Wie sehr Kisch in den zwanziger Jahren zumindest nominell dem Prinzip der Reportage verhaftet war, zeigt eine translatorische Nuance. Er übersetzt Nerudas Titelwort ›novinkář‹ zwar in der Überschrift noch als ›Lokalnotizenschreiber‹, im Fließtext dann als ›Reporter‹, usurpiert den Neuigkeiten-Sammler Nerudas also gewissermaßen für sein ReportageKonzept. Denn das nur schwer ins Deutsche zu übersetzende Wort ›novinkář‹ ist mit ›Reporter‹ zwar nicht ganz falsch wiedergegeben, dennoch handelt es sich um eine Verschiebung: ›Zeitungen‹ sind im Tschechischen wörtlich ›Neuheiten‹ (›noviny‹), die ›Nachrichten‹ (›zprávy‹) von ›Neuigkeiten‹ (›novinky‹) bringen, die der ›novinkář‹ zusammenträgt.58 Wenn Kisch hier aus dem Neuigkeiten- und

57 Ebd., S. 172. 58 Neruda selbst hat die Etymologie des tschechischen Wortes für ›Zeitung‹ in einem seiner Feuilletons mit dem Titel Novinkářství (also etwa: Zeitungs- bzw. Neuigkeiten-Macherei) auf wortspielerische Weise reflektiert: »Mezi novinami a novinkami je rozdíl, právě tak jako mezi dnem a minutou, mosaikovým obrazem a jednotlivým kamínkem jeho. Avšak novinky jsou právě to nejdůležitější na novinách. Úvodní článek může být tuze moudrá věc a fejeton může být zcela pěkná věc, snad někdo přečet onen hádá, kdo as jej psal, nebude-li proces z něho atd., a přečet tento řekne: ›Inu, psát umí!‹ – ale přečteno je zároveň zapomenuto a mimo to má článek nad i pod čarou jen skrovné své

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Nachrichten-Sammler einen Reporter macht, dann nähert er diese bei Neruda in so reflektiert ironischem und damit höchst literarischem Modus dargestellte Figur einerseits der eigenen journalistischen Reportage-Praxis an. Andererseits beleuchtet er damit das poetische Moment, das die Bezeichnung Reporter implizit betont: nämlich seine Tätigkeit als Übermittler von Nachrichten, die immer ein Gestalten der überbrachten Nachricht umfasst. So zeigt sich Kisch in der Auseinandersetzung mit Neruda, nicht nur weil er einen literarischen Text von ihm als ein Beispiel für »klassischen Journalismus« heranzieht, selbst als ein Autor, der möglicherweise mehr Journalist sein wollte, als auch er – wie Neruda ganz selbstverständlich – Literat war. Beide Autoren stießen in ihrer journalistischen Tätigkeit auf das ganz konkret ihre Schreibpraxis betreffende Problem, wie mit der Faktizität des Zu-Berichtenden umzugehen, wie oder in welchem Maße überhaupt so etwas wie Faktentreue zu erreichen sei, wenn doch die Niederschrift je schon von der Subjektivität nicht nur des Beobachtungsstandpunkts (in räumlicher wie axiologischer Hinsicht), sondern auch des Schreibprozesses geprägt ist. Gerade diesen zu reflektieren aber war beiden in ihrer feuilletonistischen Arbeit zur Selbstverständlichkeit geworden. Wenn beide in den hier betrachteten hochgradig selbstreflexiven Texten das Berichtete hinter die Befindlichkeiten und Schwierigkeiten des Berichtenden im Prozess des Berichtens zurücktreten lassen, unterstreichen sie damit das fiktionale Moment, das Gemachte ihrer zunächst doch (scheinbar) auf Faktizität basierenden Texte. Während Neruda dabei die nationale Emanzipation verfolgte, zielte Kisch auf die soziale. Seinen emanzipatorischen Wirkungsanspruch aber, so sollte hier exemplarisch an Kischs Auseinandersetzung mit Neruda gezeigt werden, löste er in seinen zu Reportagen stilisierten Texten gerade mit einer in höchstem Maße reflektierten und durchgearbeiteten Schreibweise ein – mit einem Gestus, den er

čtenářstvo.« Neruda, Jan: »Novinkářství« [Národní listy vom 6.3.1868], in: J. N., Drobné klepy II (= Spisy Jana Nerudy, Band 27, bearb. von Věra Vrzalová/Jarmila Sirotková), Praha: Státní nakladatelství krásné literatury, hudby a umění 1959, S. 6871, hier S. 68. [»Zwischen Zeitungen und Neuigkeiten gibt es einen Unterschied, genauso wie zwischen dem Tag und der Minute, dem Mosaikbild und seinen einzelnen Steinchen. Allerdings sind die Neuigkeiten gerade das Wichtigste an der Zeitung. Der Leitartikel kann eine ganz weise Sache sein und das Feuilleton kann eine gänzlich hübsche Sache sein, vielleicht rätselt einer, der diesen durchgelesen hat, wer ihn wohl geschrieben hat, ob nicht etwa ein Prozess daraus hervorgehen wird usw., und einer, der jenes durchgelesen hat, wird sagen: ›Ja, schreiben kann er!‹ – aber Durchgelesen ist zugleich Vergessen und außerdem haben der Artikel über und unter dem Strich nur seine begrenzte Leserschaft.«]

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ebenso wie Neruda nicht zuletzt dem zum Literarischen tendierenden ästhetisierenden Modus des Feuilletonistischen abgewinnen konnte.

Reportage und Feuilleton – Antipoden im Gleichschritt? Zur operativen Publizistik Elisabeth Jansteins und Klara Mautners M ARTIN E RIAN

1. D ER E INBRUCH DER R EPORTAGE DER L ITERATUR

IN DIE

W ELT

»Der Journalismus«, so spitzte es Paul Fechter in der von Ludwig Marcuse herausgegebenen Sammlung Weltliteratur der Gegenwart 1924 zu, »hat die Rolle der Dichtung wenigstens zur Hälfte übernommen«1. Dieses Urteil, das auf die Möglichkeiten der Publizistik bei der Interpretation und Reflexion gesellschaftlicher wie kultureller Entwicklungen seit der Jahrhundertwende abzielt, reiht sich retrospektiv in eine der hinteren Reihen einer Debatte um Journalismus und Literatur in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ein, an der sich unter anderem Georg Lukács und Siegfried Kracauer prominent beteiligten und die im ›rasenden Reporter‹ Egon Erwin Kisch nicht nur ihr schillerndes Sprachrohr fand, sondern auch jene Figur, deren populäres Werk für die Aufhebung vermeintlicher Genregrenzen mitverantwortlich war. Mit ihm war, wie es Leo Lania 1926 formulierte, der Journalismus »literaturfähig geworden«2, in einer von »Sachlichkeitsfanatismus« und irrationalem »Tatsachenhunger«3 (Robert Neumann) gekenn-

1

Fechter, Paul: »Dichtung und Journalismus«, in: Ludwig Marcuse (Hg.), Weltliteratur der Gegenwart, Band 2, Berlin/Leipzig: Schneider 1924, S. 209-272, hier S. 262.

2

Lania, Leo: »Reportage als soziale Funktion«, in: Die literarische Welt 2 (1926), Num-

3

Neumann, Robert: »Zum Problem der Reportage«, in: Die Literatur. Monatsschrift für

mer 26, S. 5. Literaturfreunde 30 (1927/28), Heft 8, S. 3-6, hier S. 5.

126 I M ARTIN ERIAN

zeichneten Zeit. Kisch, der sich in seinen Texten und insbesondere in den durchkomponierten Reportagebänden selbst keineswegs auf das tendenzlose Dokumentieren jenes »platten Mensch[en]« im Sinne Schopenhauers, auf den er als mögliches Leitbild des Reporters verwiesen hatte,4 beschränkte, nannte in einer Umfrage des Jahres 1929 die Reportage die »literarische Nahrung der Zukunft«: »Der Roman ist die Literatur des vergangenen Jahrhunderts. […] Nach dem Krieg sind alle Romanfabeln nichtig geworden […]. Die Reportage ist das aktuelle Problem. Ich glaube, einmal werden die Menschen über die Welt nichts als die Wahrheit lesen wollen.«5 Die Reportage bietet dem Leser als illustrierende Ergänzung zur tagesaktuellen Berichterstattung – »Der Bericht ist eine einfache fotografische Aufnahme, die Reportage ist ein Röntgenbild, oder, noch präziser ausgedrückt, ein RöntgenFilm«6– nicht nur Unterhaltung, Abenteuer und Exotik gemäß ihrer Wurzeln in den Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts, sie ermöglicht durch die Überwindung geographischer wie sozialer Distanzen und Barrieren die direkte Anteilnahme an einer stilisierten, einen Einzelfall zum Sinnbild erhebenden Wirklichkeit. Im frühen 20. Jahrhundert teilte sie sich in die Schlagrichtungen vorrangig bürgerlicher Technikfaszination und meist politisch linksgerichteter Sozialkritik, die den Reporter nicht selten vom Chronisten zum politischen Agitator erhob. Dabei erfuhr die Reportage getragen von herausragenden Autoren wie Kisch und Joseph Roth als das neusachliche Genre par excellence besondere Nobilitierung, gelang ihr doch durch das narrative Anreichern des Berichts die Emanzipation von ihren journalistischen Anfängen. Diese das Genre kennzeichnende Gestaltungsweise führte die Reportage – zulasten des propagierten Objektivismus – an die 4

Vgl. Kisch, Egon Erwin: »Vorwort zu: Der rasende Reporter« [1924], in: Anton Kaes (Hg.), Weimarer Republik (= Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur, 19181933), Stuttgart: Metzler 1983, S. 162f., hier S. 162. Diese Sichtweise steht in Konflikt mit Kischs früherem Programmtext Das Wesen des Reporters aus dem Jahr 1918, in dem er den »ganz platte[n] Mensch[en]« als ungeeignet ablehnt. Vgl. Kisch, Egon Erwin: »Wesen des Reporters«, in: E. E. K., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 8: Mein Leben für die Zeitung. 1906-1925, Berlin/Weimar: Aufbau 1983, S. 205-208, hier S. 207.

5

Kisch auf eine Umfrage der Prager Zeitschrift Cin 1929, zit. nach Zimmermann, Peter: »Die Reportage. Literatur und Journalismus nach dem Ersten Weltkrieg«, in: Thomas Koebner (Hg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Band 20, Wiebelsheim: Aula 1983, S. 141-160, hier S. 141.

6

Frei, Bruno: »Von Reportagen und Reportern« [1934], in: Erhard H. Schütz (Hg.), Reporter und Reportagen. Texte zur Theorie und Praxis der Reportage der zwanziger Jahre. Ein Lesebuch, Gießen: Achenbach 1974, S. 36-39, hier S. 36.

R EPORTAGE

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F EUILLETON – E LISABETH J ANSTEIN

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Romanproduktion heran, wovon etwa die Rundfrage Reportage und Dichtung in der Literarischen Welt 1926 oder Essays von Kurt Pinthus, Hermann Broch und anderen zeugen.7 Diese lebhafte Debatte macht zugleich auf die anhaltende Trennung zwischen Journalismus und Literatur aufmerksam, die mitunter mit der gegenseitigen Geringschätzung von Reportern und Schriftstellern einhergeht. Daran änderten auch die vehemente Fürsprache mancher Autoren – »Die Reportage ist die Avantgarde, der erste Vorstoß einer kommenden Dichtung in ein neues Diesseits«8, schrieb beispielsweise Johannes R. Becher als maßgeblicher Funktionär der proletarisch-revolutionären Literaturbewegung 1928 – und der zwischen faktenbasierter Reportage und fiktiver Literatur vermittelnde, in sich jedoch problematische Gattungsbegriff der ›literarischen Reportage‹ wenig.9 Bereits als Max Winter, seit der Jahrhundertwende Wiener Leitfigur der deutschsprachigen Sozialreportage,10 die Sammlung Strottgänge publizierte, hielt Alfred Polgar bei aller Würdigung der Rechercheleistung Winters nicht ohne merklichen Zynismus fest,

7

Vgl. Geisler, Michael: Die literarische Reportage in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen eines operativen Genres (= Monographien Literaturwissenschaft, Band 53), Königsstein i.T.: Scriptor 1982, S. 110-118; Uecker, Matthias: Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik, Oxford u.a.: Lang 2007, S. 351-361. Zur Sozialreportage bei Max Winter, Egon Erwin Kisch und Joseph Roth siehe auch Herczeg, Petra: »Zwischen Aufklärung und Aufdeckung. Die Bedeutung der Sozialreportage in der österreichischen Zwischenkriegszeit«, in: Francesco Saverio Festa et al. (Hg.), Das Österreich der dreißiger Jahre und seine Stellung in Europa, Frankfurt a.M.: Lang 2012, S. 77-89.

8

Becher, Johannes R.: »Wirklichkeitsbesessene Dichtung« [1928], in: A. Kaes (Hg.),

9

Geisler plädiert mit Verweis auf divergente Produktionsbedingungen, Intentionen und

Weimarer Republik, S. 325-328, hier S. 327. Publikationsorte für eine vollständige Trennung von literarischer und Zeitungsreportage, fordert zugleich aber auch, nicht einen mehrmals so als besonderes Merkmal des Genres angeführten, wie immer gearteten »künstlerischen Mehrwert« zum kaum überprüfbaren Kriterium zu erheben. Vgl. M. Geisler: Die literarische Reportage in Deutschland, S. 122-134. Vgl. kritisch dazu Haas, Hannes: Empirischer Journalismus. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1999, S. 207; M. Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 356f. 10 Zur Funktion und Entwicklung der (Sozial-)Reportage siehe grundlegend H. Haas: Empirischer Journalismus, S. 187-261; Haller, Michael: Die Reportage (= Praktischer Journalismus, Band 8). 6. Aufl., Konstanz: UVK 2008; Lindner, Rolf: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus Erfahrung der Reportage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 17-49.

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der Journalist habe »sich sozusagen zum Schriftsteller summiert«11. Ähnlich ambivalent fiel mehr als zwei Jahrzehnte später Kurt Tucholskys Urteil über das Genre und seine Proponenten in einer Besprechung von Kischs Rasendem Reporter aus: »Reportage ist eine sehr ernste, sehr schwierige, ungemein anstrengende Arbeit, die einen ganzen Kerl erfordert. Kisch ist so einer. Er hat Talent, was gleichgültig ist, und er hat Witterung, Energie, Menschenkenntnis und Findigkeit, die unerläßlich sind.«12

2. »E IN NEUER T YPUS S CHRIFTSTELLERIN «: V ON UNERWÜNSCHTEN R EPORTERINNEN UND UMTRIEBIGEN P HILANTHROPINNEN Daher überrascht es nicht, dass wechselseitige Grenzüberschreitungen vor allem vonseiten der Literaten kritisch beäugt wurden, sowohl die aus ihrer Sicht unangemessene Erhöhung des Reporters zum Schriftsteller als auch das ökonomisch erzwungene Herabsinken des Dichters zum Journalisten. Karl Kraus, der in seiner Feuilleton-Schelte Heine und die Folgen kritisierte, dass »der Reporter, der als Kehrichtsammler der Tatsachenwelt sich nützlich machen könnte, […] immer mit einem Fetzen Poesie gelaufen«13 komme, mahnte schon früh in der Fackel, die hohe Reputation der Wiener Presse rühre daher, dass »der Reporter den Schriftsteller verschlungen« und die Entwicklung des Zeitungswesens »sich auf Kosten aller besseren Kunstmöglichkeiten«14 vollzogen habe. Neutraler erscheint der Befund des im Schatten der Wiener Moderne stehenden – und von Kraus geschätzten – Schriftstellers Jakob Julius David, den die literarische Öffentlichkeit selbst, so Stefan Zweig, »in journalistischer Tretmühle verkommen ließ«15. In seiner Abhandlung Die Zeitung, neben Arbeiten Werner Sombarts, Georg Simmels und

11 Polgar, Alfred: »Im dunkelsten Wien. (›Strottgänge‹ von Max Winter.)« [1904], in: A. P., Werke, Band 4: Literatur, hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zs.arb. mit Ulrich Weinzierl, Reinbek b.H.: Rowohlt 1984, S. 196-199, hier S. 196. 12 Panter, Peter [d.i. Tucholsky, Kurt]: »Der rasende Reporter«, in: Die Weltbühne 21 (1925), Heft 7, S. 254f., hier S. 255. Siehe dazu ebenfalls P. P.: »Die Reportahsche«, in: Die Weltbühne 27 (1931), Heft 4, 151f. 13 Kraus, Karl: Heine und die Folgen, München: Langen 1910, S. 15. 14 Kraus, Karl: »[Brief an Maximilian Harden]«, in: Die Fackel 1 (1899), Heft 2, S. 6-18, hier S. 8. 15 Zweig, Stefan: »Dem Gedächtnis J. J. Davids«, in: Österreichische Rundschau (1906), Heft 9, S. 217-219, hier S. 219.

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Fritz Mautners 1906 in der von Martin Buber verantworteten Reihe Die Gesellschaft erschienen, konstatierte David auch auf Basis eigener Erfahrungen die verderbliche Wirkung des Eintritts in eine Redaktion, die sich in der Untauglichkeit für jedwede andere geistige Aufgabe äußere. Zugleich wies er jedoch auch auf ökonomische Notwendigkeiten des am Markt nicht reüssierenden Dichters und das leichte Spiel der Herausgeber mit ihren Feuilletonisten und Leitartiklern hin. »Sie [die Zeitung, Anm.] schöpft aus dem unermeßlichem [!] Reservoir des gebildeten Proletariats, das zunächst einmal froh sein muß, überhaupt eine Verwendung für sich und seine Kenntnisse zu finden.«16 David, der als zugewanderter Student aus Mähren in Wien lange in Armut lebte und es wegen hoher Prüfungstaxen erst spät zum langersehnten Doktorat brachte, steht hier selbst für jene Gruppe geisteswissenschaftlich gebildeter Autoren, die in der publizistischen Arbeit eine Möglichkeit sah, auf diesem Umweg einen Zugang zum literarischen Feld und zugleich eine minimale ökonomische Absicherung zu erlangen. Er weist damit implizit aber auch auf die Dominanz männlicher Intellektueller in den Redaktionen hin, blieb den Frauen der Weg an die Wiener Universität bis zur Jahrhundertwende doch verwehrt. Tatsächlich hatte die Zahl der schreibenden Frauen im späten 19. Jahrhundert zwar deutlich zugenommen – Sophie Pataky listete 1898 in einem umstrittenen Lexikon etwa 6.000 Schriftstellerinnen und Journalistinnen auf17 –, als feste Mitglieder der Redaktionen spielten sie jedoch nahezu keine Rolle, was nicht zuletzt an der verbreiteten Vorstellung des Ideals des (männlichen) Journalisten lag.18 Quantitativ stieg die Anzahl der Journalistinnen vor und vor allem in der veränderten publizistischen Landschaft nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Österreich gleichermaßen an. In Wien stellte 1919 auch der prestigeträchtige Journalisten- und Schriftstellerverein Concordia nach mehreren abgelehnten Anträgen die formale 16 David, Jakob Julius: Die Zeitung (= Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, Band 5), Frankfurt a.M.: Rütten & Loening 1906, S. 42 17 Vgl. Pataky, Sophie: Lexikon deutscher Frauen der Feder. Eine Zusammenstellung der seit dem Jahr 1840 erschienenen Werke weiblicher Autorinnen nebst Biographien der lebenden und ein Verzeichnis der Pseudonyme. Zwei Bände, Berlin: Carl Pataky 1898. Siehe dazu Duttenhöfer, Barbara: »Keine ›quantité négligeable‹. Typologie des Frauenjournalismus um 1900«, in Medien & Zeit 24 (2009), Heft 3, S. 17-27; Kinnebrock, Susanne: »Journalismus als Frauenberuf anno 1900. Eine quantitativ inhaltsanalytische sowie quellenkritische Auswertung des biografischen Lexikons ›Frauen der Feder‹«, in: RatSWD Research Note (2008), Nummer 21, S. 2-22. 18 Vgl. Kinnebrock, Susanne: »Frauen und Männer im Journalismus. Eine historische Betrachtung«, in: Martina Thiele (Hg.), Konkurrenz der Wirklichkeiten. Wilfried Scharf zum 60. Geburtstag, Göttingen: Universitätsverlag 2005, S. 101-132, insb. S. 110-121.

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Gleichstellung der beiden Geschlechter her, nachdem Frauen bereits in der 1917 gegründeten Standesvertretung Organisation Wiener Presse Platz gefunden hatten. Zwischen 1918 und 1933 sollte der Anteil an Angestellten und freien Mitarbeiterinnen in der Wiener Presse sowie jener der freien Journalistinnen von 4,2 auf 10,9 % anwachsen, wenn er sich auch unterschiedlich auf die einzelnen Redaktionen verteilte. Beschäftigten 23 der 38 Tageszeitungen Journalistinnen, gehörten nur bei Der Tag, Der Abend, Die Stunde, der Neuen Freien Presse und der Wiener Allgemeinen Zeitung mehr als drei Frauen zum Team, nicht jedoch beispielsweise bei der Arbeiter-Zeitung, dem Kleinen Blatt, dem Neuen Wiener Journal, dem Neuen Wiener Tagblatt oder der amtlichen Wiener Zeitung.19 Dieser leichte Aufschwung täuscht zudem nicht über die anhaltend starken Vorbehalte gegenüber dem ›schwachen Geschlecht‹ im Journalismus hinweg. Daran konnte auch die ähnlich wie in der Weimarer Republik erfolgende Professionalisierung bzw. Akademisierung des weiblichen Personals – nach 1918 hatte ein Viertel der Journalistinnen der Wiener Tagespresse ein Studium begonnen, ein Drittel davon ein Doktorat erworben, andere wirkten als Übersetzerinnen und Lehrerinnen20 – nichts ändern. Joseph Roth präsentierte noch 1929 in der Frankfurter Zeitung, von deren Redaktionskonferenz Frauen dezidiert ausgeschlossen waren,21 mit Fräulein Larissa einen Typus der Journalistin, die »ein Objekt, ein Werkzeug, ein Organ des Luxus [blieb], auch wenn sie sich mit dem Elend befaßte. Und selbst ihre Berichte über aktuelle Angelegenheiten der öffentlichen Armut blieben liegen, weil man glaubte, es wären Berichte über Blumenfeste«22. Wie bereits Pataky drei Jahrzehnte zuvor aufgezeigt hatte, blieben Journalistinnen auch Ende der zwanziger Jahre thematisch stark eingeschränkt, die »Ghettoisierung der

19 Vgl. Seethaler, Josef/Oggolder, Christian: »Frauen in der Wiener Tagespresse der Ersten Republik. Ein Beitrag zur Entwicklung des tagesaktuellen Journalismus«, in: Medien & Zeit 24 (2009), Heft 3, S. 4-16, hier S. 6-12. 20 Vgl. ebd., S. 15. 21 Vgl. Todorow, Almut: »Frauen im Journalismus der Weimarer Republik«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 16 (1991), Heft 2, S. 84103, hier S. 85f. 22 Roth, Joseph: »Fräulein Larissa, der Modereporter« [1929], in: J. R., Werke, Band 3, Frankfurt a.M./Wien: Büchergilde Gutenberg 1994, S. 59-62, hier S. 61. Vgl. dazu Schütz, Erhard: »Von Fräulein Larissa zu Fräulein Dr. Kohler? Zum Status von Reporterinnen in der Weimarer Republik – das Beispiel Gabriele Tergit«, in: Walter Fähnders/Helga Karrenbrock (Hg.), Autorinnen der Weimarer Republik (= Studienbuch, Band 5), Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 214-237.

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Frauen«23 verfestigte sich sowohl durch die soziale Randstellung innerhalb der Redaktion als auch durch den weitgehenden Ausschluss aus den prestigeträchtigen Ressorts ›Politik‹ und ›Wirtschaft‹. Otto Groth, mit dem vergleichbar eingestellten Emil Dovifat einer der Gründerväter der Zeitungwissenschaft, schrieb in seiner 1930 erschienenen vierbändigen Zeitungskunde: »Aber die Frauen sind sogar trotz der großen Zahl der Schriftstellerinnen auch im Feuilleton, wo sie hauptsächlich als Kunst-, Theater- und Musikrezensentinnen verwendet werden, nicht häufig. Und man könnte doch meinen, daß ihnen diese Tätigkeit bei ihrem Subjektivismus und ihrer Fähigkeit zu plaudern naheliege. In der Hauptsache wirken sie als Leiterinnen von Hauswirtschafts-, Frauen-, Kinder- und Modebeilagen, auf den Gebieten der Frauenbewegung, sozialen Fürsorge usw.«24

Das skizzierte Themenrepertoire, »[d]er weiblichen Natur entsprechend«25, bestätigt den hohen Wahrheitsgehalt von Roths bitterer Satire. Selbst aktive Befürworter gesellschaftlicher Liberalisierung blickten mitunter abschätzig auf das Eintreten ›der Frau‹ in den Journalismus. So spottete Johann Ferch, Schriftsteller und in den frühen zwanziger Jahren als Mitstreiter Hugo Bettauers engagierter Publizist im Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen,26 retrospektiv, dass Frauen nach dem Ersten Weltkrieg »Heuschreckenschwärmen gleich […] die Schriftleitun-

23 A. Todorow: Frauen im Journalismus der Weimarer Republik, S. 94, vgl. auch S. Kinnebrock: Frauen und Männer im Journalismus, S. 118f. 24 Groth, Otto: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik), Band 4, Mannheim/Berlin/Leipzig: Bernsheimer 1930, S. 73, zit. nach Klaus, Elisabeth: »Aufstieg zwischen Nähkränzchen und Männerkloster: Geschlechterkonstruktionen im Journalismus«, in: Johanna Dorer/Brigitte Geiger (Hg.), Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 170-190, hier S. 173. Zu Dovifat vgl. A. Todorow: Frauen im Journalismus der Weimarer Republik, S. 89. 25 Dresler, Adolf: »Die Frau im Journalismus«, Berlin: Knorr & Hirth 1936, zit. nach Hausjell, Fritz: »Die Journalistinnen. Urteile von Zeitgenossen«, in: Medien & Zeit 2 (1987), Heft 1, S. 22-28, hier S. 26. 26 Vgl. exemplarisch Ferch, Johann: »Sind das noch Menschen? Die Tortur des § 144«, in: Der Morgen vom 24.03.1924, S. 3.

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gen« mit einem Übermaß an »Zudringlichkeit und Entäußerung ihrer Persönlichkeit« überfallen und »vom Kochlöffel bis zum Himalaya, unbeschwert von sachlicher Kenntnis«27 geschrieben hätten. Diese von Stereotypen und problematischen Zuschreibungen geprägten Debatten verstellen den Blick darauf, dass sich Journalistinnen in Österreich seit der Jahrhundertwende gerade im Bereich der sozialdemokratischen Publizistik auch in der Politikberichterstattung Möglichkeiten eröffneten. Eine Reihe von Frauen trat mit sozialkritischen Reportagen in Erscheinung und ließ wiederholt publizistische mit politischer Parteinahme und karitativem Engagement (Ferch: »soziale Anwandlungen«28) einhergehen, darunter Else Feldmann, Käthe Leichter, Marianne Pollak und Adelheid Popp.29 Allerdings erfolgte dabei anders als bei Kisch tatsächlich häufig jene in den Reportagedebatten geforderte Zurücknahme der Autorin, die eine Profilbildung verhinderte. Bezugnehmend auf die Ideale patriarchalisch bestimmter Geschlechterverhältnisse beschrieb Erika Mann in der Zeitschrift Tempo einen »neuen Typ Schriftstellerin«: »Sie bekennt nicht, sie schreibt sich nicht die Seele aus dem Leib, ihr eigenes Schicksal steht still beiseite, die Frau berichtet, anstatt zu beichten.«30 Dass diese Haltung des Verzichts keineswegs für alle Reporterinnen der Zeit kennzeichnend ist, ließe sich an einer Vielzahl von (bisher von vereinzelten Qualifizierungsarbeiten abgesehen nahezu unerforschten) produktiven Publizistinnen der Zwischenkriegszeit nachweisen. Als Angehörige unterschiedlicher sozialer Gruppen und damit verbunden divergenten journalistischen Identitäten und Karrierewegen sollen im Folgenden Beispiele sozialkritischer Publizistik der dem Briefadel entstammenden Elisabeth (von) Janstein sowie der gutbürgerlichen Klara Mautner einer Untersuchung unterzogen werden, nicht nur hinsichtlich ihrer inhaltlichen Diskurse, sondern auch in Hinblick auf narrative Verfahrensweisen

27 Freiner, Johann [d.i. Ferch, Johann]: Verhält sich Frau Eva richtig? Eine launige Betrachtung des Ewigweiblichen, Braunschweig: Verlag der Freude 1939, zit. nach F. Hausjell: Die Journalistinnen, S. 26. 28 Ebd. 29 Vgl. J. Seethaler/Ch. Oggolder: Frauen in der Wiener Tagespresse der Ersten Republik, S. 15; H. Haas: Empirischer Journalismus, S. 244. 30 Mann, Erika: »Frau und Buch« [1931], in: E. M., Blitze überm Ozean. Aufsätze, Rede, Reportagen, hg. von Irmela von der Lühe/Uwe Naumann, Reinbek b.H.: Rowohlt 2000, S. 84f., hier S. 85. Vgl. dazu M. Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 157f.; Karrenbrock, Helga: »›Das Heraustreten der Frau aus dem Bild des Mannes‹. Zum Selbstverständnis schreibender Frauen in den Zwanziger Jahren«, in: W. Fähnders/H. K. (Hg.), Autorinnen der Weimarer Republik, S. 21-38.

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und einer damit verbundenen Entwicklung und Inszenierung ihrer Autorinnenschaft.

3. E LISABETH J ANSTEIN : L YRIKERIN – ENGAGIERTE R EPORTERIN – AUSLANDSKORRESPONDENTIN Jakob Julius David hatte in einer autobiographischen Skizze seine Zerrissenheit zwischen Dichtung und Journalismus bedauert und in einem Essay die Frage aufgeworfen, »ob der Journalismus nicht eine schlimmere und verderblichere Frone sei als die Beamtenlaufbahn, die vordem unsere Dichter mit ihrem Schaffen zu vereinigen suchten«31. Auf Elisabeth Janstein scheint dies noch stärker zuzutreffen als auf den zeitlebens auch dichtenden David. Als Janstein Felix Braun in einem Brief aus dem englischen Exil Anfang September 1942 von ihren jüngsten literarischen Versuchen, einem niemals in Druck gegangenen autobiographischen Roman mit wechselndem Arbeitstitel, berichtete, schilderte sie ihre Bemühungen um die Rückkehr des zum Paradies erhobenen Reichs der Dichtung in ungewohnt christlicher Metaphorik. »Aber leider ist es wie eine verschlossene Türe. Ich hab in all den Jahren 1 Gedicht geschrieben u. das ist schlecht. Es ist wie eine Strafe für den Sündenfall, den ich beging, als ich mich dem Journalismus zuwendete.«32 1893 in Iglau in Mähren als Elisabeth Jenny Janeczek – die Namensänderung und die Erhebung in den Adelsstand erfolgten in den Kriegsjahren 1916/17 – geboren, wuchs Janstein als Tochter eines Gendarmeriekommandanten und Oberstleutnants der Reserve in verschiedenen Städten der Habsburgermonarchie auf, zu-

31 David, Jakob Julius: »Von der Zeitung«, in: J. D. J., Vom Schaffen. Essays, Jena: Diederichs 1906, S. 1-30, hier S. 23, siehe auch J. D. J.: »Im Spiegel. Autobiographische Skizze«, in: Das literarische Echo 4 (1902), Heft 8, S. 528-530. 32 Elisabeth Janstein an Felix Braun am 01.09.1942, zit. nach Seeber-Weyrer, Ursula: »›Obwohl ich immer Österreicherin sein werde…‹ Elisabeth Janstein (1893-1944): Suchvorgänge für eine literarische Biografie«, in: Charmian Brinson et al. (Hg.), Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933-1945 (= Publications of the Institute of Germanic Studies, Band 72), München: Iudicium-Verlag 1998, S. 137-156, hier S. 137 [Herv. i.O.].

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letzt in Wien, wo sie ab 1914 als Telefonistin am Post- und Telegraphenamt arbeitete. Ab 1913 erschienen in Österreichs Illustrierter Zeitung erste Gedichte,33 nach dem Krieg konnte sich Janstein im Umfeld des Expressionismus etablieren. Gleich acht lyrische Werke fanden in Emil Alphons Rheinhardts als österreichisches Pendant zu Kurt Pinthus’ Menschheitsdämmerung konzipierter Anthologie Die Botschaft neben Arbeiten von Franz Blei, Max Brod, Albert Paris Gütersloh, Georg Trakl, Franz Werfel und Stefan Zweig Aufnahme, weitere Texte gelangten in Benno Karpeles’ Wochenschrift Der Friede, Rudolf Brettschneiders Die Initiale sowie Friedrich F. Kocmatas Zeitschriften Das Gesindel und Ver! zum Abdruck.34 Zudem veröffentlichte Janstein, von Emil Lucka entdeckt und von E. A. Rheinhardt und dem Verleger Eduard Strache gefördert, zwischen 1919 und 1921 in rascher Abfolge die Lyrikanthologien Gebete um Wirklichkeit und Die Landung sowie die Prosasammlung Die Kurve. Aufzeichnungen. Obwohl sich Janstein, wie auch Kritiker festhielten, von den avantgardistischen Formen des Expressionismus abgrenzte und sich, so die autobiographisch-programmatische Lesart ihrer Prosaskizze Um die Moderne35, irritiert von der Atemlosigkeit der zeitgenössischen Literatur traditioneller Formen besann, erfuhr sie sowohl in Wien als auch in der Weimarer Republik breite wie wohlwollende Aufnahme. Nicht nur der Germanist Moriz Enzinger erkannte in Janstein »eine volle Hoffnung«, dazu »berufen, unserer deutschen Lyrik Wertvollstes zu spenden«36, einzelne Gedichte waren es auch, die nach 1945 wiederholt in Anthologien berücksichtigt wurden. Die literarische Karriere nahm allerdings ein jähes Ende, als Janstein, die bereits zuvor 33 Siehe dazu die Bibliographie von Früh, Eckart: Elisabeth Janstein (erweiterte Fassung) (= Spuren und Überbleibsel. Bio-bibliographische Blätter, Band 45), [o.O.]: Eigenverlag 2004. Darüber hinaus erschienen vereinzelt Beiträge im Prager Tagblatt, dem Berliner Börsen-Courier und dem Tage-Buch. 34 Vgl. Wallas, Armin A.: Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus in Österreich. Zwei Bände, München u.a.: Saur 1995; zu Janstein siehe Band 2, S. 602f. 35 Janstein, Elisabeth: »Um die Moderne«, in: E. J., Die Kurve. Aufzeichnungen, Wien/Prag/Leipzig: Strache 1920, S. 14-17. 36 Enzinger, Moritz [!]: »Unterschiedliche Lyrik«, in: Reichspost vom 20.06.1922, S. 2f., hier S. 3. Siehe als weitere Rezeptionszeugnisse u.a. Urbanitzky, Grete von: »Von neuen Büchern«, in: Bade- und Reise-Journal vom 01.04.1921, S. 10 und 12; Weißenböck, Anselm: »Von neuer Lyrik«, in: Reichspost vom 15.05.1921, S. 25; Petzold, Alfons: »Buchanzeigen«, in: Wiener Zeitung vom 12.05.1921, S. 3f.; Wied, Martina: »Zwei Bücher von Elisabeth Janstein«, in: Der Merker 12 (1921), Heft 12, S. 303f.; Loerke, Oskar: Der Bücherkarren. Besprechungen im Berliner Börsen-Courier 19201928, unter Mitarb. von Reinhard Tghart hg. von Hermann Kasack, Heidelberg/Darmstadt: Schneider 1965, S. 42f. und S. 121f.

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vereinzelt Feuilletons und Kritiken in der Grazer Tagespost, der Arbeiter-Zeitung und der Neuen Freien Presse veröffentlicht hatte, 1922 auf Anraten Eugenie Schwarzwalds die ungeliebte Stelle als Telefonistin37 gegen einen Redakteursposten bei der um Maximilian Schreier und Hugo Bettauer gegründeten Tageszeitung Der Tag eintauschte. Fortan schrieb sie für den Tag wie die ebenfalls von Schreier und Bettauer geleitete Montagszeitung Der Morgen Gerichtssaalreportagen, Feuilletons und Rezensionen, ehe sie 1925 zum linksliberalen Abend und wenig später zur Neuen Freien Presse wechselte. Für sie berichtete Janstein ab Herbst 1925 als Korrespondentin aus Paris und wiederholt auch aus Brüssel und Berlin. Ihre zeitweilige Nähe zur Sozialdemokratie tat dem selbst in den dreißiger Jahren keinen Abbruch – sie war eine von nur vier Korrespondentinnen und Korrespondenten der Neuen Freien Presse auch nach dem ›Anschluss‹ –, ehe sie noch im selben Jahr ins englische Exil ging.38 Sowohl dem Ständestaat als auch dem Dritten Reich gegenüber offenbarte Janstein einen deutlichen Hang zur Systemkonformität.39 Mitte der zwanziger Jahre erlangte Janstein, die sich 1926 erfolglos um den Preis der Stadt Wien für Dichtkunst beworben hatte, insbesondere im linksliberalen Spektrum als umtriebige Journalistin breites Ansehen; Bettauers Wochenschrift setzte sie unter dem Titel Selbständige Wiener Frauen als Vorreiterin einer progressiven Gesellschaft ins Bild: »Elisabeth Janstein, die bekannte Schriftstellerin und Redakteurin des Abend – eine elegante Erscheinung mit dunklem Pagenkopf«40. Dabei sei es, so Felix Braun fast zwölf Jahre nach ihrem frühen Tod, ihre

37 Ihre Erfahrungen verarbeitete sie bereits früh literarisch. Vgl. Janstein, Elisabeth: »Die Telephonistin«, in: E. J.: Die Kurve, S. 54-57 sowie die seltene Verteidigung des Berufstands gegen die öffentliche Kritik, E. J.: »Der Telephondienst«, in: Arbeiter-Zeitung vom 29.08.1920, S. 9. 38 Ein letzter Beitrag Jansteins in der Neuen Freien Presse ist für 12.07.1938 nachgewiesen. Nach Angaben Ursula Seeber-Weyrers wurde sie jedoch auch Anfang 1939 noch als einzige freie Auslandskorrespondentin des Blattes geführt. Vgl. U. Seeber-Weyrer: »Obwohl ich immer Österreicherin sein werde…«, S. 146. 39 Georg Bernhard, Begründer des Pariser Tageblattes, beklagte etwa 1936 gegenüber Rudolf Olden, dass das »Fräulein Janstein ungefähr die radikalste journalistische Vertreterin bis zur Faschisierung Oesterreichs gewesen ist« und nun die ständestaatliche Gewerkschaft der Journalisten stütze. Ihre uneindeutige Haltung Hitlerdeutschland gegenüber gestand sie im September 1944 Felix Braun in einem Brief. Vgl. dazu U. Seeber-Weyrer: »Obwohl ich immer Österreicherin sein werde…«, S. 145-148. 40 N., N.: »Selbständige Wiener Frauen«, in: Bettauers Wochenschrift 12 (1925), Heft 6, zit. nach U. Seeber-Weyrer: »Obwohl ich immer Österreicherin sein werde…«, S. 144.

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»angeborene, andauernde Großherzigkeit« gewesen, die ihr die Entfaltung als Reporterin ermöglicht hatte, »bis zur Selbstvergessenheit, bis zur Kongruenz von Ich und Du«. Diese maßlose Empathiefähigkeit sollte Janstein, so Braun, in kürzester Zeit von der ambitionierten Lyrikerin in eine Redakteurin verwandeln, die sich vor allem durch die Parteinahme für die Stimmlosen der Gesellschaft auszeichnet. »Elisabeth Janstein wurde angezogen von allem Geächteten: das war die für so viele befremdliche Ursache, warum sie Journalistin wurde, warum sie radikale Gesinnungen unterstützte«41. Schon in ihren frühen literarischen Texten, vorrangig der Lyrik, hatte sie nicht nur Bewusstseinsströme der Expressionistin zwischen schillernder Traumwelt und grauer Realität offengelegt, etwa in Meine Welt, wie ich dich hassen kann, sondern auch ihren Blick für soziale Krisenmomente, von dem die Texte Beim Arzt und Herz steh still zeugen.42 Sie sind, wenn auch nur vereinzelt explizit benannt, im urbanen Raum verortet; als Fazit erscheint der die zweite Sammlung beschließende Gesang gegen die Stadt, die als dem Individuum »Staub und Stein« entgegenspeiendes »Ungeheuer« die Naturerfahrung, Hoffnung und Zuversicht zunichtemacht und das Miterleben des anonymen Leids anderer erzwingt: […] Wieder haben Kräne und Fabriken Eingestampft, was zärtlich aufgeblüht. Weißt du Seele – Jubel und Entzücken – Heute ist der Mund der Flüche müd. Sind wir solche Sünder, wir Verdammten, Daß uns ewig diese Hölle schreckt, In den eklen, dunklen Strom Gerammten, Den nur Fäulnis, Qual und Tod verdeckt. Häuser, Wände – duldender Verächter Deines Kerkers, wird dein Hassen müd? Ober mir zerklirrendes Gelächter, Neben mir – ein Leben, das verglüht. […]43

41 Braun, Felix: »Elisabeth von Janstein«, in: Wiener Zeitung vom 12.08.1956, Beilage, S. 5. 42 Alle in Janstein, Elisabeth: Gebete um Wirklichkeit. Gedichte, Wien/Prag/Leipzig: Strache 1919. 43 Janstein, Elisabeth: »Gesang gegen die Stadt«, in: E. J., Die Landung. Gedichte, München: Drei Masken 1921, S. 88-92, hier S. 90.

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Jansteins Einstehen für den »abgeirrte[n] Mensch[en]«44 am Schauplatz Großstadt sollte auch ihre Feuilletons und Reportagen bis Mitte der zwanziger Jahre dominieren. Neben zahlreichen Gerichtssaalreportagen, die geprägt von ihrer Auseinandersetzung mit den individualpsychologischen Ansätzen Alfred Adlers45 und den Erkenntnissen der Kriminalwissenschaft – »Es fand sich unter ihren Büchern eine ganze Bibliothek der Kriminologie«46 – nicht nur Prozesse lebhaft begleiteten, sondern auch mit der Justiz, dem Wesen des Strafvollzugs und der Gesellschaft hart ins Gericht gingen,47 setzte sie sich anhaltend und vielfältig mit dem sozialen Wandel auseinander, den der durch die Genfer Protokolle erwirkte Sozial- und Beamtenabbau herbeiführte. So dokumentierte Janstein nicht nur die schlagartige Deklassierung des zum Schneeschaufeln gezwungenen Kleinbürgertums, sondern nützte dies auch zur Kritik der Politik der regierenden Christlichsozialen Partei unter Bundeskanzler Ignaz Seipel und des Völkerbundes – durch die Artikulation politischer Forderungen. »Denn ein Programm kann man nicht essen, nur Arbeit setzt sich in Brot um. Und man wird Arbeit schaffen müssen, Arbeit, um jeden Preis, weil Arbeit allein Sanierung bedeutet.«48 Sie tat dies aber auch durch beißenden Zynismus, als sie in der Heiligabend-Ausgabe des Tag 1922 die Idee eines »Abbauspiels« entwickelte, bei dem der Kommissar des Völkerbundes für seinen Erfolg einzig Sorge zu tragen habe, die Beamten rechtzeitig aus dem Geschehen zu nehmen. »Es könnte sonst geschehen, daß die Wochen des Hungerns, in denen die Abgebauten gleich knurrenden, scheuen Tieren vor den allzu reichlich geschmückten Schaufenstern der Eßwarenhandlungen stehen werden […], [d]aß die Reihe der Menschen, die sich aus Not das Leben nehmen, die Reihe der Mädchen, die durch Hunger der Prostitution in die Arme getrieben werden, als ein endloser, gespenstischer Zug vor den »Kriegsspielenden« erscheinen und ihnen Angstträume verursachen könnten.«49

44 F. Braun: Elisabeth von Janstein, S. 5. 45 Vgl. Janstein, Elisabeth: »Neurose und Verbrechen. Die Forschungen Alfred Adlers«, in: Der Tag vom 12.12.1918, S. 7; dazu U. Seeber-Weyrer: »Obwohl ich immer Österreicherin sein werde…«, S. 144. 46 F. Braun: Elisabeth von Janstein, S. 5. 47 Vgl. exemplarisch Janstein, Elisabeth: »Aus der Vorstadt. Alltägliches vom Jugendgericht«, in: Der Tag vom 20.01.1924, S. 6; J., E.: »Der Weg der Verzweiflung. Wie wir strafen. – Ein Schicksal für Tausende«, in: Der Morgen vom 05.01.1925, S. 8. 48 Janstein, Elisabeth: »Kaltes Brot. Florstrümpfe und Schneeschaufel«, in: Der Tag vom 10.12.1922, S. 3. 49 Janstein, Elisabeth: »Das Kriegsspiel des Abbaues«, in: Der Tag vom 24.12.1922, S. 4.

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Gerade die sozialkritische Berichterstattung aus dem Wiener Leben macht auf die variantenreiche Publizistik Jansteins dieser Tage aufmerksam. Sie umfasst meinungsbetonte Essays ebenso wie erzählende Feuilletons und durch präzise Verortung und mitunter großflächige Illustrationen Authentizität vermittelnde Lokalaugenscheine50 – und vermischt mitunter die einzelnen Bestandteile, sodass dem Lesepublikum die Orientierung zwischen wahrheitsgetreuer Reportage mit Augenzeugenbericht und Figurenrede und literarische Fiktion verwehrt bleibt. Dabei ist es Janstein aber auch wiederholt daran gelegen, sich als journalistische Instanz kenntlich zu machen, wenn sie etwa als deutliche Störerin der Situation ihre teilnehmende Beobachtung im Frauengefängnis absolviert (»Pssst. Ruhe! Es ist doch Besuch da! […] Wegen der Klanen sollen wir still sein!«), zugleich dem Publikum die »ummauerte Anstalt« erschließt und sich selbst an die »Pflicht der objektiven Berichterstattung«51 erinnert – oder sich selbst zur Anlaufstelle, Hoffnungsträgerin und Gönnerin stilisiert. So schildert Janstein den überraschenden Redaktionsbesuch der aus der Südsteiermark stammenden Valerie Kotzbeck, die als Dienstmädchen spätnachts Gedichte schreibt und einen Verleger ihrer Antworten eines jungen Menschen sucht. Dieser wird nicht gefunden, doch Janstein bringt fünf Texte zum Abdruck.52 Die Einzelfälle, die »wahllos herausgegriffen aus der endlosen, stummen Kolonne der Arbeitsmaschinen«53 als paradigmatisch zu betrachten sind, erscheinen ebenso aus dem Leben gegriffen wie austauschbar, wie sie dazu dienen, aktuelle gesellschaftliche Stimmungen, habituelle Veränderungen (»Das Wunder der Entschlossenheit wurde zum täglichen Ereignis«54) und ein neues, identitätsstiftendes Zusammengehörigkeitsgefühl der Unterlegenen, die Janstein »die Entwurzelten« 50 Vgl. exemplarisch Janstein, Elisabeth: »Die Waggonstadt auf dem Meidlinger Bahnhof. Obdachlose Eisenbahnerfamilien in Viehwaggons«, in: Der Morgen vom 19.02.1923, S. 4; J., E.: »In der Großmarkthalle«, in: Der Tag vom 01.05.1923, S. 5. 51 Janstein, Elisabeth: »Hinter den Mauern. Die Frauenanstalt von Wiener-Neudorf«, in: Der Tag vom 20.04.1924, S. 7. 52 Vgl. Janstein, Elisabeth: »Mühsamer Weg. Das Schicksal einer Unbekannten«, in: Der Tag vom 27.04.1924, S. 10. Valerie Kotzbeck lässt sich für das Jahr 1917 nachweisen, als das Grazer Tagblatt nahe ihrer Heimat – und jener Jansteins Vater, der sich in Graz niedergelassen hatte – mehrfach auf Texte von einer Autorin dieses Namens im Familienblatt Die deutsche Umschau hinweist. Vgl. Grazer Tagblatt vom 01.07.1917, S. 3. Eine Buchpublikation Kotzbecks konnte nicht ausgemacht werden. 53 Janstein, Elisabeth: »Die Entwurzelten. Das Schicksal fünf Abgebauter«, in: Der Tag vom 30.03.1924, S. 10. 54 Janstein, Elisabeth: »Das Schicksal der Entwurzelten. Aus den Tagen des Abbaues«, in: Der Tag vom 23.03.1924, S. 9.

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nennt, zu vermitteln. Zugleich ist es aber auch Aufgabe des Feuilletons und namentlich der Reportage, die Sensationslust der Leserinnen und Leser zu befriedigen – gerade als Sonn- und Feiertagsbeigabe: »Feiertage – die Leute haben Zeit zum Zeitunglesen. Sie genießen die Berichte über Morde, Explosionen und Entführungen mit innigerer Ruhe als sonst. […] Personen, Ereignisse, Orte, sonst durch die dicke, trübe Wand der Hast getrennt, sind ihnen mit einem Male ganz nahe gekommen – sie unterhalten sich sogar bei Tisch von den Figuren, die über die tägliche neu aufgestellte Bühne ziehen. Wir armen Reporter! Wir kennen diesen Hunger und vermögen ihn nicht zu stillen, ahnen den Durst, den wir nicht löschen können. Sensationen, Sensationen. […] Wir suchen, spüren, warten. Und wenn wir zu einer Stunde zu Bett gehen, die die anderen Sterblichen schon durch das Tor des dritten Traumes führt, ist selbst unser Schlaf zerrissen, von Explosionen, Bränden, Hilferufen und Feueralarm.«55

Das Eingeständnis Jansteins lässt sie trotz der kämpferischen Haltung ihrer Texte – gewollt oder ungewollt – von jenem Ideal abrücken, das Max Winter mit seinen Arbeiten vorzuleben versuchte: Das Entlarven sozialer Missstände sollte politische Veränderung hervorrufen und nicht der Lust am Voyeurismus dienen, wie es die sozialdemokratische Presse Emil Kläger und Hermann Drawe mit ihren populären Lichtbildvorträgen über den Wiener Untergrund vorgeworfen hatte.56 Zähneknirschend führt Janstein die Reflexion ihres Tuns dazu, die ethische Verpflichtung der engagierten Reportage durch die Betonung ihrer Aufgabe, zum benötigten Zeitpunkt ansprechende ›Storys‹ zu liefern, zu ersetzen, um den Bedürfnissen von Zeitungsmachern und Publikum nachzukommen und damit ihr eigenes Auslangen zu sichern. Die deutlich auflagenstärkere Tageszeitung Der Abend, für die Janstein 1925 arbeitete, führte seit ihrer Gründung durch Carl Colbert 1915 das Motto »Wo es Stärkere gibt, immer auf der Seite des Schwächeren« und verfügte insbesondere durch die Arbeiten Bruno Freis zum jüdischen Wohnungselend und Else Feldmanns Reportagereihe Bilder vom Jugendgericht im Bereich des engagierten Feuilletons bereits seit 1917/18 über ausgetretene Pfade. Bei ihrem halbjährigen Intermezzo für das linksliberale Blatt knüpfte Janstein vor allem an ihre Gerichts-

55 Janstein, Elisabeth: »Reporterfeiertage«, in: Der Tag vom 28.12.1923, S. 5. 56 Vgl. Mattl, Siegfried: »Das wirkliche Leben. Elend als Stimulationskraft der Sicherheitsgesellschaft. Überlegungen zu den Werken Max Winters und Emil Klägers«, in: Werner Michael Schwarz/Margarethe Szeless/Lisa Wögenstein (Hg.), Ganz unten. Die Entdeckung des Elends, Wien: Brandstätter 2007, S. 111-117.

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saalreportagen an, veröffentlichte aber mit Ein dienender Mensch zudem eine umfänglichere Erzählung, die als ihre letzte Arbeit für den Abend vor ihrem Wechsel zur Neuen Freien Presse in fünf Teilen abgedruckt wurde. Sie erzählt in der IchForm in sieben Kapiteln das tragische Schicksal einer betont naiven jungen Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, der aufgrund des plötzlichen Todes des Vaters (»der arme Vater war von einem Auto überfahren worden und wir hatten Geld bekommen«57) eine Ausbildung verwehrt bleibt und die sich fortan als Dienstmädchen verdingt. Dabei muss sie immer wieder mit Untreue, häuslicher Gewalt und Prostitution die Schattenseiten des bürgerlichen Lebens der Großstadt kennenlernen und verliert nach kurzer Zeit stets ihre Stellung. Als sie, mittlerweile Vollwaise, nach einem Gasunfall wegen fahrlässiger Tötung ihrer Dienstherrin drei Monate Haft verbüßt hat, verlässt sie Wien für eine Anstellung in einem Hotel in Südamerika, trotz Warnung der Behörden. »Vielleicht haben sie dort recht. Aber schlechtere Erfahrungen als hier, kann ich dort auch nicht mehr machen. Es ist mir alles gleichgültig geworden.«58 Erst die Übersiedlung für die Neue Freie Presse nach Paris sollte eine merkliche Akzentverschiebung im Werk Jansteins herbeiführen. Nach ihrem Debüt als Auslandskorrespondentin mit einer Kritik zur Pariser Premiere von Charlie Chaplins Goldrausch59 sollte sie vorrangig als Rezensentin aus dem Kultur- und Gesellschaftsleben der französischen Hauptstadt berichten, weiterhin aber auch über aufsehenerregende Justizfälle sowie politische Entwicklungen. 1935/36 übernahm sie die Funktion der Vizepräsidentin der 1926 in Paris gegründeten Féderation Internationale des Journalistes. In Reportagen kontrastierte sie zudem Paris-Imaginationen mit proletarischen Realitäten, beschränkte sich dabei aber auf die sachliche Dokumentation in Diensten der Unterhaltung ihrer Leser.60 In der Ferne war, zumal unter veränderten politischen Vorzeichen, eine Parteinahme nicht opportun.

57 Janstein, Elisabeth: »Ein dienender Mensch«, in: Der Abend vom 18.09.1925, S. 5. 58 Janstein, Elisabeth: »Ein dienender Mensch«, in: Der Abend vom 23.09.1925, S. 5. 59 Janstein, Elisabeth: »Der Weg zum Golde. Zur Pariser Uraufführung des neuen Chaplin-Films«, in: Neue Freie Presse vom 20.10.1925, S. 11. 60 Janstein, Elisabeth: »Vor der Fabrik Citroën«, in: Neue Freie Presse vom 10.01.1935, S. 9; J., E.: »Aristokraten in der Unterwelt«, in: Neue Freie Presse vom 16.11.1937, S. 8.

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4. K LARA M AUTNER : »ARZTENSGATTIN « MAHNENDE B ÜRGERSFRAU

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Verglichen mit der dynamischen Entwicklung Jansteins von der jungen Lyrikerin zur rastlosen Reporterin erscheint die journalistische Existenz Klara Mautners nahezu statisch. 1879 als Tochter eines jüdischen Bürgerschullehrers und späteren Schuldirektors geboren und in Wien-Leopoldstadt aufgewachsen, wirkte sie nach dem Studium am Konservatorium ab 1900 zunächst als Klavierlehrerin. Auch wenn sie sich später über fünf Jahrzehnte lang dem Journalismus widmen sollte, gab sie nach der Eheschließung mit dem galizischen Arzt Jakob Mannheim 1907 als Beruf zeitlebens »Arztensgattin« an und blieb anders als Janstein Berufsvereinigungen fern.61 Es greift jedoch zu kurz, Mautners publizistisches und karitatives Wirken – sie betätigte sich im Hilfsverein für Lehrmädchen und jugendliche Arbeiterinnen Wien und im Allgemeinen Österreichischen Frauenverein (AÖFV) – als die sozial erwünschte Wohltäterei einer Frau aus der Komfortzone einer gutbürgerlichen Lebenswelt zu diskreditieren. Mautner, die deutlich für die Ideen der Sozialdemokratie eintrat,62 schrieb aktiv gegen das Bürgertum an – und stilisierte sich dabei gezielt zur Nestbeschmutzerin. Ab 1905 vor allem als Rezensentin tätig, feierte Mautner mit dem Mahnruf einer bürgerlichen Frau63 zur von der Bourgeoisie bereits im Kindesalter herbeigeführten sozialen Segregation im September 1915 36-jährig ihr Debüt im Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.64 In der Folge trieb sie ihre Positionierung gegen das Establishment gezielt voran, insbesondere in Reflexionen über die karitative Arbeit der Oberschicht in

61 Vgl. Haunold, Ingrid: Die österreichische Journalistin Klara Mautner (1879-1959). Ein Beitrag zu ihrer Biographie sowie eine Themenanalyse ihrer journalistischen Leistungen in der Wiener »Arbeiter-Zeitung« (1915-1933 und 1947-1959). Diplomarbeit, Wien 1992, S. 79. 62 Informationen über eine Mitgliedschaft bei der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei liegen nicht vor. Anlässlich ihres Todes würdigte die Arbeiter-Zeitung als Parteiorgan Mautners jahrzehntelange Treue. Vgl. N.,N.: »Klara Mautner gestorben«, in: ArbeiterZeitung vom 24.10.1959, S. 4; siehe auch I. Haunold: Die österreichische Journalistin Klara Mautner (1879-1959), S. 82-85. 63 Mautner, Klara: »Die zwei Schulen. Der Mahnruf einer bürgerlichen Frau«, in: Arbeiter-Zeitung vom 03.09.1915, S. 6f. 64 Vgl. zur Bibliographie Früh, Eckart: Klara Mautner (= Spuren und Überbleibsel. Biobibliographische Blätter, Band 50), [o.O.]: Eigenverlag 2004 sowie Ingrid Haunolds Fortschreibung, siehe http://www.viaductdreams.com/projects/klara-mautner/ [25.02. 2017].

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Kriegstagen und – auf den Spuren Max Winters65 – durch die damit verbundene Polemisierung gegen das ›goldene Wiener Herz‹. »Wenn die Bourgeoisie aus guten Gründen nirgends sonderlich geneigt ist, sozialen Tatsachen und sittlichen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen, so ist sie bei uns von einer fast krankhaften Abneigung dagegen erfüllt.«66 Diese Annahme lässt sich also nicht allein als ein Zugeständnis an die Leserschaft und die Programmatik des Parteiblatts abtun, charakterisierte Mautner die karitative Haltung bürgerlicher Frauen, hier prononciert jene jüdischen Glaubens, acht Jahre später in der Wiener Morgenzeitung zwar bildlich, doch keineswegs undeutlicher: »Während der Kriegszeit floß man in Wien von sozialem Sinn über wie eine ProtektionsMelange von Schlagobers. Namentlich die Frauen badeten förmlich drin […]. Uebrigens gibt es auch nicht gar so wenige jüdische Frauen, für die sich das ganze Problem des vorbrechenden Hakenkreuzlertums in der Frage zusammenfassen läßt: »Wohin werden wir aufs Land gehen, wenn es in Tirol auch anfängt?«67

Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass Mautners trotz wiederholter Relativierungen offen geäußerte antibürgerliche Weltanschauung nicht mitunter verschieden akzentuierte Arbeiten je nach Publikationsort zugelassen hätte, schrieb sie doch insbesondere in der Zwischenkriegszeit für »ideologisch sehr divergierende«68 Blätter. Neben den mehr als einhundert Texten, die die Autorin mit Unterbrechungen bis zum Verbot im Februar 1934 für die Arbeiter-Zeitung, aber auch für den Arbeiterwille und Das Kleine Blatt verfasste, publizierte Mautner vereinzelt 1928/29 in Der Abend, 1934/35 im Neuen Wiener Tagblatt und nach den frühen Kritiken und Feuilletons gelegentlich in der Neuen Freien Presse. Von 1930 bis 1938 war sie, die bereits 1922 im Wiener Sesamverlag die norwegischen Märchen von Fjord und Fjell herausgegeben hatte, wiederholt für Die Stunde als Übersetzerin aktiv. Ihre produktivste Phase erlebte Mautner jedoch in den frühen Jahren der Ersten Republik, als sie zwischen 1918 und 1926 neben der ArbeiterZeitung auch häufig für das Neue Wiener Journal, Der Tag, Der Morgen und die 65 Vgl. Winter, Max: Das goldene Wiener Herz (= Großstadt-Dokumente, Band 11), Berlin/Leipzig: Seemann 1905. 66 Mautner, Klara: »Gedanken über Wohltätigkeit. Von einer bürgerlichen Frau«, in: Arbeiter-Zeitung vom 26.01.1916, S. 5f., hier S. 5. Vgl. auch M., K.: »Die nächstliegende soziale Frauenpflicht«, in: Arbeiter-Zeitung vom 22.06.1916, S. 6f. 67 Mautner, Klara: »Sozialer Sinn der Frauen«, in: Wiener Morgenzeitung vom 02.03.1924, S. 5. 68 Hecht, Dieter J.: »Nischen und Chancen – Jüdische Journalistinnen in der österreichischen Tagespresse vor 1938«, in: Medien & Zeit 18 (2003), Heft 2, S. 31-39, hier S. 33.

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Wiener Morgenzeitung publizierte. Zieht man die Arbeiten dieser Jahre in Betracht, ergeben sich deutliche inhaltliche Leitlinien des Œuvres Mautners, die stets zu sozialen Brennpunkten führen, doch auch gestalterische Differenzen, die Schlussfolgerungen hinsichtlich medienspezifisch variierender journalistischer Verfahrensweisen und ein verändertes Selbstverständnis der Autorin nahelegen. Wie Janstein mit ihren Gefängnisreportagen und Berichten über Dienstmädchenschicksale, so blickte auch Mautner wiederholt auf den öffentlichen Prostitutionsdiskurs der frühen zwanziger Jahre, der eine der Kehrseiten gesellschaftlicher wie wirtschaftlicher Umbrüche offenbarte. Ausgehend von der Kritik an der staatlichen Praxis im Umgang mit minderjährigen Prostituierten – meist 48 Stunden Arrest und dann »schickt man das junge Geschöpf wieder auf die Straße, hoffend und erwartend, daß es einen besseren, Gott und der Gesellschaft wohlgefälligen Lebenswandel führen werde«69 – präsentiert Mautner in zwei Teilen in der Montagszeitung Der Morgen die Arbeit eines Hilfsvereins, zu dessen Unterstützung sie aufruft. Zugleich macht sie darauf aufmerksam, dass die ›Gelegenheitsprostitution‹ im Krieg auch in den bürgerlichen Familien Einzug gehalten habe. Dabei sei es »fast nie die Not […], die sie [die Mädchen, Anm.] dazu treibt. Für die bürgerlichen Kreise ist dieses Motiv von vornherein ausgeschaltet. Da ist es die Neugier, die Sensationslust und vor allem die wachsende, unersättliche Putzsucht der jungen Dinger. Für eine hübsche Bluse […] sind die bei allem Raffinement so unerfahrenen Menschenkinder zu allem zu haben.«70

Für Mautners Auseinandersetzung mit der käuflichen Liebe ist ein für die Publizistik der Zwischenkriegszeit seltenes Rezeptionszeugnis überliefert, das auf den Bericht folgend zum Abdruck kam. Es ist der Brief einer Frau, die sich einerseits zum Dasein als »geheime Prostituierte« bekennt, zugleich aber den Wert respektive die Kaufkraft jeglicher Moral offen infrage stellt. »Ich bin 25 Jahre alt und mir meiner Handlungen wohl bewußt. Sollte ich einmal ein Kind, ein Mädchen bekommen, so wird es bis zum 14. Lebensjahr auf das Dirnentum vorbereitet und dann eine große Dirne.«71 Die Verzwicktheit zwischen aktivem Eintreten für die Akzeptanz des Karrierewegs der Kokotte (»der bessere Ausdruck für eine elegante, bessere Dirne«72) und der Berufsausübung in der Anonymität geht einher 69 Mautner, Klara: »Aus dem Wiener Sumpf. Wie schützen wir unsere Mädchen?«, in: Der Morgen vom 20.10.1919, S. 5f., hier S. 5. 70 Ebd., S. 6. 71 Mautner, Klara: »Der Sumpf von Wien. ›Dirne‹ und ›anständige Frau‹«, in: Der Morgen vom 03.11.1919, S. 6. 72 Ebd.

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mit dem Vorwurf, die Reporterin würde – die beiden Berufsgruppen hinsichtlich ihrer moralischen Integrität gleichsetzend – zugunsten der Absatzsteigerung ihren Scheinwerfer auf dieses Feld richten. »Gnädige Frau, warum haben Sie es auf die armen Dirnen so abgesehen und wissen sich kein anderes Thema zu erörtern als gerade die Prostitution? Man kann über letztere viel erzählen und der Zeitungsbericht trägt ebensoviel Geld. Denn ausschließlich ist Ihnen, so wie mir […] doch last not least, nur um das Geld zu tun.«73

Diese Debatte täuscht über die anhaltende wie vielfältige Beschäftigung der Autorin mit dem Thema hinweg, die sich nicht nur anlässlich eines Gerichtsurteils kritisch mit Fragen sittlich-moralischer Verantwortung von Staat und Legislative auseinandersetzte,74 sondern auch schon früh, Janstein ähnlich, mittels Augenzeugenberichten aus Heimen und vom Sittenamt, die »Sittengesetze der Dirnenwelt«75 aufzudecken versuchte und darauf aufmerksam machte, dass die Prostituierte nicht mehr nach August Bebel die »Jungfer des Proletariats« bildete, sondern in der Mitte der Gesellschaft angekommen war. »Die Zeiten, die in den Romanen der großen Franzosen noch fortleben, da die Dirne ein isoliertes, besonderen Lebensbedingungen unterworfenes Geschöpf war, sind vorbei.«76 Vor allem für die Arbeiter-Zeitung verfasste Mautner zahllose Reportagen über staatliche Stellen und Versorgungseinrichtungen wie Mädchenheime und Frauenhospize, Jugendämter, Alters- und Obdachlosenheime, Arztpraxen und die Tuberkulosefürsorgestelle. Dabei ging es ihr als teilnehmende Beobachterin weniger um das von Siegfried Kracauer propagierte analytische Entziffern der »Hieroglyphe irgendeines Raumbildes«, das den »Grund der sozialen Wirklichkeit«77 offenlege, als um das Abstrafen der Gesellschaft durch die Ausleuchtung ihrer Abgründe und Präsentation ihrer Opfer. Als sie 1920 eine Kinderfürsorgestelle in 73 Ebd. 74 Vgl. Mautner, Klara: »›Schuld daran sind doch nur die Männer.‹ Die Gefahr in allen Gassen«, in: Der Morgen vom 04.10.1920, S. 4. 75 Mautner, Klara: »Das Spital der Hoffnungslosen«, in: Arbeiter-Zeitung vom 21.09.1919, S. 9. 76 Mautner, Klara: »Bei den kranken Freudenmädchen«, in: Arbeiter-Zeitung vom 06.04.1919, S. 7. Vgl. dazu auch Mautners wenige Tage nach dem Leserbrief in Der Morgen erschienene Reportage »Eine Stunde im Sittenamt«, in: Arbeiter-Zeitung vom 09.11.1919, S. 6f. 77 Kracauer, Siegfried: »Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes« [1930], in: S. K., Schiften, Band 5.1: Aufsätze 1927-1931, hg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 185-192, hier S. 185f.

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Wien-Favoriten besuchte, nutzte sie dies, um mit der Monarchie und dem Weltkrieg abzurechnen. »Es sind die Opfer Habsburgs. […] Dort wird die Rechnung abgelegt, die Rechnung über unsühnbare Schuld.«78 Die Sichtbarmachung sozialer Realitäten sollte zudem der Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten dienen, wie sie Kurt Tucholsky 1925 in der Weltbühne mit seinem Plädoyer für einen ›vertikalen Journalismus‹ einforderte.79 So empfand die Reporterin ihr Werk durchaus als Akt der Aufklärung, wenn sie von jenem selbst beobachteten Elend berichtete, »von dem ich erzählen will, um den Unwissenden zu zeigen, wie die Kriegsgewinnerfreuden der Arbeiterschaft aussehen«80. Ihr anhaltender Drang, den Finger in die Wunde zu legen, sollte zumindest ein weiteres Mal deutlichen Widerspruch erfahren, namentlich als sie 1923 im Tag eine Krankenhausreportage veröffentlichte; die Reichspost beurteilte ihren Bericht als »bloßes Geflunker«: »Alle diese Fälle und noch andere, die Klara Mautner erwähnt, sind ohne genaue Angabe der Namen von betroffenen Personen, hängen also vollständig in der Luft. Wohl aber sind sie geeignet, das Vertrauen der Kranken in das Spital zu untergraben.«81 Damit stellte der anonyme Kritiker des konservativen Blattes mit ihrer Glaubwürdigkeit nicht nur das wesentliche Kapital der Journalistin infrage (Kisch: »Aber ein Chronist, der lügt, ist erledigt.«82), sondern auch die soziale Funktion der Reportage. Mit dem Hinweis auf die fragwürdige Faktenlage erfuhr das Genre im Handumdrehen eine Umdeutung von der journalistischen Methode der Aufklärung hin zu einem die öffentliche Ordnung gefährdenden Mittel zur Stillung der Sensationsgier. Wie gezeigt wurde, beschränkte sich Mautner in ihren Reportagen trotz des Einsatzes eines »journalistischen Realitätsindex«83, etwa der Lokalisierungen des Geschehens an realen Orten, des vermeintlich ungefilterten Sprechens der Beobachteten und der historischen und empirischen Erläuterungen, keineswegs auf die von Kisch geforderte unbefangene Zeugenschaft und nutzte wie Janstein die

78 Mautner, Klara: »Kinderfürsorgestelle«, in: Arbeiter-Zeitung vom 30.05.1920, S. 9. 79 Vgl. Wrobel, Ignaz [d.i. Tucholsky, Kurt]: »Horizontaler und vertikaler Journalismus«, in: Die Weltbühne 21 (1925), Heft 2, S. 49-52. 80 Mautner, Klara: »Bei den ›Kriegsgewinnern‹ in Ottakring«, in: Arbeiter-Zeitung vom 11.01.1920, S. 7f., hier S. 7. 81 N., N.: »Schrecknis: Spital«, in: Reichspost vom 27.02.1923, S. 5. 82 Kisch, Egon Erwin: »Debüt beim Mühlenfeuer«, in: E. E. K., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 7: Marktplatz der Sensationen, Berlin/Weimar: Aufbau 1984, S. 128-138, hier S. 131. 83 M. Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 367.

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gestalteten Wirklichkeitsausschnitte84 zur Kritik von Politik und Wirtschaft. Essay, Feuilleton und Reportage sind einem gemeinsamen Ziel, der Veränderung der sozialen Zustände, untergeordnet und erlauben keine scharfe Trennung. Zugleich lassen sich zumindest tendenziell nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Differenzen je nach Publikationsort ausmachen. Veröffentlichte Mautner in der Arbeiter-Zeitung und in Der Morgen in der unmittelbaren Nachkriegszeit vorrangig Lokalaugenscheine, so widmete sie sich im Neuen Wiener Journal in über einhundert Beiträgen vorrangig in erzählenden Feuilletons gesellschaftlichen Veränderungen, alltagskulturellen Phänomenen und neuen Geschlechterrollen. Zwei Arbeiten Mautners zu den Lebensverhältnissen Pensionierter, beide erschienen am 12. April 1920, machen die Unterschiede deutlich: Während die agile Reporterin unter dem Titel Die Schande der Altersversorgung in Der Morgen Musterfälle aufsucht, um auf die mangelnde Versorgung von Kleinbürgern aufmerksam zu machen und das Publikum direkt in die Pflicht zu nehmen (»Wir schieben die Schuld den Arbeitsinvaliden selbst zu, ihren Kindern, der Allgemeinheit, dem Krieg oder dem lieben Gott. Statt zu sehen und zu sorgen, daß hier eine Pflicht liegt, eine Pflicht, deren [!] wir uns entschlagen.«85), lässt sich die Erzählinstanz im Feuilleton Die ›Großmama‹ von Döbling, veröffentlicht im Neuen Wiener Journal, von ihrem Thema selbst finden. »Es läutet. Vor dem Guckloch erscheint eine Hand im Wollhandschuh. Er ist grün, gelb, rot und blau. […] Es ist meine alte Freundin, von halb Döbling die Großmama Berdach genannt.«86 Sie überlässt der Rentnerin das Wort, um ihre Geschichte zu präsentieren. Als eine vermeintliche Nebensache findet die durch die Kleidung bereits angezeigte Armut der liebenswürdigen Alten Erwähnung, deren selbstbewusster Umgang damit der Erzählinstanz zur Gesellschaftskritik gereicht: »Großmama Berdach ist übrigens die einzige meiner Bekannten, die die Beziehung zu den Wanzen nicht schnöde verleugnet. Während jede andere Wienerin schon aus Sittlichkeitsgründen sich gebärdet, als hätte sie dergleichen nie gesehen, stellt Großmama Berdach psychologische Betrachtungen über die reizenden Tierchen an. »Ich glaub immer«, erklärt sie, »die Wanzerl müssen ganz besonders kluge Tiere sein. Und so originell –«87

84 Vgl. zur Brechung der Realität in der Reportage M. Geisler: Die literarische Reportage in Deutschland, S. 96-122. 85 Mautner, Klara: »Die Schande der Altersversorgung«, in: Der Morgen vom 12.04.1920, S. 6. 86 Mautner, Klara: »Die ›Großmama‹ von Döbling«, in: Neues Wiener Journal vom 12.04.1920, S. 4. 87 Ebd.

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Wenige Wochen zuvor war Mautner regelmäßige Beiträgerin der Wiener Morgenzeitung geworden und führte ihren bisherigen Weg mit Feuilletons und Reportagen fort, wenn auch der Fokus nun verstärkt dem jüdischen Leben galt. Bei der Wiener Morgenzeitung handelte es sich um die einzige deutschsprachige jüdische Tageszeitung der Zeit, 1919 unter der Führung von Chefredakteur und Mitherausgeber Robert Stricker angetreten, um »eine scharfe, gewichtige Waffe«88 des Zionismus zu sein. Dass sie der Arbeiter-Zeitung ideologisch »diametral entgegengesetzt«89 war, hemmte Mautner offensichtlich nicht. Zwischen 1922 und 1924 trat sie auch als ständige Theaterkritikerin in Erscheinung und erlebte als Autorin eine deutliche Profilschärfung. Nach dem Rücktritt Strickers als Chefredakteur verließ auch Mautner das Blatt, das im September 1927 eingestellt werden sollte; die Zionistische Weltexekutive kritisierte die nach Stricker eingezogene »bürgerliche Orientierung und die sozialistenfeindliche Haltung der Zeitung«90 und verweigerte weitere finanzielle Unterstützung. Mautner kehrte schließlich zur Arbeiter-Zeitung zurück, für die sie auch nach ihrer Zeit im englischen Exil bis zu ihrem Tod 1959 schreiben sollte, fortan vorrangig Reiseberichte, Lokalfeuilletons und Jugenderinnerungen.

5. »Ü BER DAS SOZIALE E LEND PLAUDERN « – Z UR VERMEINTLICHEN U NVEREINBARKEIT VON S OZIALREPORTAGE UND F EUILLETON In einem seltenen programmatischen Text sprach sich Mautner 1923 anlässlich wiederkehrender Einladungen, bei Vereinssitzungen und Tischgesellschaft ungezwungen über »Fürsorge-Erlebnisse oder soziale Fragen« zu parlieren, deutlich für eine Trennung von feuilletonistischem Plauderton und sozialkritischer Berichterstattung aus. »Auf den ersten Blick glaubt man natürlich, daß die beiden Begriffe [Plaudern und soziale Not, Anm.] herzlich wenig miteinander zu schaffen haben. […] Aber ich bin eines Besseren belehrt worden. Und das kam so: von Zeit zu Zeit erscheint bei mir der Abgesandte eines Jugendvereins, einer Tischgesellschaft, eines Frauenvereins usw. und bittet mich um einen

88 Stricker, Robert: »Ein Judenblatt«, in: Wiener Morgenzeitung vom 19.01.1919, S. 1. 89 D. Hecht: Nischen und Chancen, S. 35. 90 Hecht, Dieter: »Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt«, in: Frank Stern/Barbara Eichinger (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2009, S. 99-114, hier S. 111.

148 I M ARTIN ERIAN Vortrag. […] »Ach, gnädige Frau, Sie plaudern doch so reizend. Es muß ja kein wirklicher Vortrag sein, plaudern Sie nur ein wenig für uns. Ueber Fürsorge-Erlebnisse oder soziale Fragen.« […] [W]enn ich die Zusammenstellung von Plaudern und Fürsorge-Fall höre, dann wird mir immer sehr weh ums Herz.«91

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die wiederholte Gleichsetzung von falscher Anteilnahme und häufig durch Voyeurismus realisierte Spektakularisierung des Elends mit seiner Literarisierung, kritisiert Mautner doch vorrangig die »falsche Einstellung der Heranwachsenden zu den Wirklichkeiten des Lebens«: »Für gar viele ist die soziale Not nichts als ein Kapitel aus einem mehr oder minder spannenden Roman. Sie lassen sich die Fälle erzählen […], wie man ins Theater oder gar ins Kino geht und werten das Elend sozusagen vom literarischen Standpunkt: ob der Fall etwas Neues bringt, ob er psychologische Besonderheiten birgt, ob er eindrucksvoller ist als andere, kurz ob er als »neuer Einfall« der Not betrachtet werden kann.«92

Diese Auffassung lehnt gemäß den Prinzipien des ›rasenden Reporters‹ das subjektiv gestaltete Erlebnis entschieden ab und erklärt das in der Debatte stets mit luftig-leichter Belanglosigkeit assoziierte Feuilleton damit entschieden zum minderwertigen Antipoden der Reportage, wie es Kisch schon 1917 – mit den Werkzeugen des Feuilletonisten – unternommen hat. »Nur keine geistige Anstrengung! Ich will Ihnen lieber ein Feuilleton schreiben. […] Über irgend etwas, das ich vor mir sehe, damit ich mich nicht anstrengen muß. Also einmal über etwas, wozu man keine Vorstudien und keine Erlebnisse braucht.«93 Diese Vorstellung der feuilletonistischen Arbeitsweisen läuft nicht nur der Idee des stets zur Recherche gezwungenen Schriftstellertums zuwider. Sie ruft mit ihrer scharfen Kontrastierung zudem, wie Uecker betont, ins Bewusstsein, dass die Reportage vor ihrer Popularisierung durch Kisch im publizistischen Feld eine »nur vage festgelegte

91 Mautner, Klara: »Vom Plaudern und von der sozialen Not«, in: Wiener Morgenzeitung vom 27.03.1923, S. 4. 92 Ebd. Analog dazu: »Ihr [jenes einer zur Prostitution gezwungenen 16-Jährigen, Anm.] Schicksal wird eben von der Mehrzahl nicht menschlich, sondern gewissermaßen literarisch gewertet, und das ist leider, bewußt oder unbewußt, überhaupt der Maßstab, mit dem die Frauen soziale Erscheinungen messen.« – K. Mautner: Sozialer Sinn der Frauen, S. 5. 93 Kisch, Egon Erwin: »Feuilleton« [1917], in: E. E. K.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben VIII, S.196-200, hier S. 196f.

R EPORTAGE

UND

F EUILLETON – E LISABETH J ANSTEIN

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K LARA M AUTNER I 149

Position […] zwischen lokaler Nachrichtenrecherche, feuilletonistischer Betrachtung und literarischer Stilübung«94 besessen hat. So handelt es sich auch bei den Arbeiten Jansteins und Mautners zumeist um Texte, die vor allem dann produktiv werden, wenn sie aus dem beschriebenen, in seiner Bedeutung beschränkten Einzelereignis – Kracauer prägte hierfür den Begriff der »unscheinbaren Oberflächenphänomene«95 – Rückschlüsse auf allgemeine soziale wie kulturelle Entwicklungen zulassen. Je mehr (Rück-)Übersetzung vom subjektiv geschilderten Erlebnis zum gesellschaftspolitisch relevanten Befund und damit vom literarisch zum Sinnbild Verdichteten ins Journalistische der Leserschaft abverlangt wird, so scheint die Conclusio, desto eher ist von feuilletonistischen Verfahrensweisen anstatt von einer Reportage zu sprechen, ohne dass, wie die Textbeispiele gezeigt haben, eine klare Abgrenzung möglich oder auch zielführend ist. Kisch selbst hat, seine frühere Programmatik über Bord werfend, 1935 dem »sozial bewußten«, dem »wahre[n] Schriftsteller« eine doppelte Tätigkeit zugeschrieben: »die des Kampfes und die der Kunst […] [E]r soll das grauenhafte Modell mit Wahl von Farbe und Perspektive als Kunstwerk, als an-klägerisches Kunstwerk gestalten«96. Erscheint gerade im Spannungsfeld von Sozialreportage und sozialkritischem Feuilleton der Begriff der ›literarischen Reportage‹ angesichts deutlicher gemeinsamer Absichten, Schreibhaltungen und Publikationsorte bestenfalls als ein verbindendes Element, so ist für das publizistische Werk vorrangig linksgerichteter Tagesschriftstellerinnen und -schriftsteller jener des ›operativen Genres‹ zu stärken.97 Unter diesem Sammelbegriff rücken mitunter nur schwer unterscheidbare narrative Verfahrensweisen zwischen gestalteter Beobachtung und literarisierter Reflexion in den Hintergrund zugunsten der insbesondere medienspezifisch bedeutsamen Kategorien Intention und Wirkung, etwa der Artikulierung von Sozialkritik. Darunter ließen sich auch maßgebliche Teile des vergessenen Werks Elisabeth Jansteins und Klara Mautners vereinen.

94 M. Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 361. 95 Kracauer, Siegfried: »Das Ornament der Masse« [1927], in: S. K., Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachw. von Karsten Witte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 50-63, hier S. 50. 96 Kisch, Egon Erwin: »Reportage als Kunstform und Kampfform« [1935], in: E. E. K., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 9: Mein Leben für die Zeitung. 19261947, Berlin/Weimar: Aufbau 1983, S. 397-400, hier S. 397 und 399. 97 Vgl. M. Geisler: Die literarische Reportage in Deutschland; Knobloch, Heinz: Vom Wesen des Feuilletons (= Beiträge zur Gegenwartsliteratur, Band 23), Halle a.d.S.: VEB 1962, S. 69.

Lyrische Porträts im Feuilleton der Prager Presse – am Beispiel von Robert Walsers Gedicht An Georg Trakl (1928) S ABINE E ICKENRODT

»Ich bin tschechoslovakischer Attasché«1 – so schreibt Robert Walser in einem Brief vom 25. Januar 1926. Wenngleich der ironische Unterton des Satzes kaum zu überhören ist, so macht er doch deutlich, dass der Briefschreiber in Bern sich des politischen Selbstverständnisses der Prager Presse bewusst war. Diese war 1921 vom ersten Präsidenten der ČSR, Tomáš Garrigue Masaryk, gegründet worden und galt als Organ für ein »neue[s] Zentral-Europa«, wie der Außenminister Edvard Beneš in seinem Leitartikel vom 28. Januar 1928 programmatisch titelt. Einen Tag nach Überreichung des Sicherheits-memorandums von der deutschen Gesandtschaft in Prag, das den Pariser Pakt zur völkerrechtlichen Ächtung des Kriegs im August 1928 vorbereitete, galt es, den Zerfall der Habsburgermonarchie als Voraussetzung für eine – um den Widerstand »bestimmte[r] Kreise des Westens«2 wissende – Neuordnung Europas zu besiegeln. Walsers Mitarbeit in der Prager Presse begann 1925 und reichte bis in die dreißiger Jahre hinein. In Prag erschienen über 250 Texte Walsers, darunter Beispiele der Porträt- und Widmungslyrik wie das am 05. Februar 1928 erschienene Gedicht An Georg Trakl3,

1

Walser, Robert: »Brief an Fräulein H. [Fanny Bertha Häsler] vom 25.01.1926«, zit. nach Ifkovits, Kurt: »Robert Walsers Prager Spuren«, in: Wolfram Groddeck et al. (Hg.), Robert Walsers ›Ferne Nähe‹. Neue Beiträge zur Forschung, München: Fink 2008, S. 107-124, hier S. 116.

2

Beneš, Edvard: »Das neue Zentral-Europa«, in: Prager Presse vom 28.01.1928,

3

Walser, Robert: »An Georg Trakl«, in: Prager Presse vom 05.02.1928, Dichtung und

Titelseite. Welt, S. I. – Im Folgenden wird das Gedicht nach diesem Erstdruck zitiert.

152 I S ABINE E ICKENRODT

das bisher nur wenige Interpreten gefunden hat.4 Dass Trakl in einem durch das Außenministerium der ČSR verantworteten Periodikum kaum als ›unpolitisch‹ gelten konnte, liegt auf der Hand. Im Gegenteil: Sein Tod als Soldat der K.-u.-kMonarchie nach der verheerenden Schlacht in Grodek 1914 war zu einem AntiKriegs-Symbol geworden. Das Gedicht Walsers steht somit in einem europäischen Kontext, der durch die Verortung seiner späten Lyrik im Prager Feuilleton allererst zu erschließen ist und als eine Voraussetzung für jede Detailanalyse gelten muss. Diese erfolgt im zweiten Teil des Beitrags mit Bezug auf eine den Dichter überhöhende »Trakl-Kirche«5 im Kreis um Ludwig von Ficker, der den toten Dichter sakralisierte und zugleich beklagte, dass dieser in »Luxusdrucken […] und neuestens sogar im Animierbereich der großen Welttheaterfestspiele seiner Heimatstadt«6 (Salzburg) vermarktet werde. Walsers Gedicht antwortet – so meine These – auf diese Denkmalsetzung in der zeitgenössischen Trakl-Rezeption, auf das in der Öffentlichkeit zur Totenmaske erstarrte ›Gesicht‹ des Dichters, der nach 4

Hendrik Stiemer erwägt, dass Walser dem Dichter Trakl »mit einem ironischen Augenzwinkern« begegne. Vgl. Stiemer, Henrik: Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung. Text- und Kontextstudien zu Robert Walser (= Epistemata Literaturwissenschaft), Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 230-233, hier S. 230; vgl. auch Stiemer, Henrik: Feuilletonistische Reimereien auf »anspruchsvolle Jungen« und »hochgeschätzte Knaben«. Der späte Walser und die hohe Lyrik. Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft in Bern vom 16.10.2010, S. 1-14, siehe http://www.robertwalser.ch; zum Trakl-Gedicht: ebd., S. 11-14. Winfried G. Kudszus weist intertextuelle Bezüge zu Trakls und Hölderlins Lyrik nach: Kudszus, Winfried G.: »Acknowledgments: ›An Georg Trakl‹, by Robert Walser«, in: Eric Williams (Hg.), The Dark Flutes of Fall. Critical Essays on Georg Trakl, Columbia: Camden House 1991, S. 264-283. Dieser Beitrag bleibt bei Marion Bönnighausen unerwähnt, die betont, dass der »gewohnt sarkastisch-spöttische Duktus aller seiner Gedichte, die in diesem Kontext anderen Autoren gewidmet sind«, in Walsers An Georg Trakl fehle – ohne allerdings ihrerseits eine Lektüre des Gedichts zu bieten. Vgl. Bönnighausen, Marion: »›Ich ist ein Anderer‹. Robert Walser und Georg Trakl«, in: Sprachkunst XXXV, 1. Halbband (2004), S. 55-73, hier S. 55.

5

Diesen Ausdruck hat Otto Basil geprägt: Basil, Otto: Georg Trakl in Selbstzeugnissen

6

Ludwig von Ficker hatte bereits ab 1922 Geld gesammelt, zunächst mit dem Ziel des

und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965, S. 32. Erhalts von Trakls Grab in Krakau. Er nahm den Aufruf zum Anlass, sich gegen diese Vermarktung zu verwahren. Vgl. Ficker, Ludwig von: »Für Georg Trakls Grab«, in: Der Brenner, 7. Folge, 2. Halbband (Spätherbst 1922), S. 226-230, hier S. 228. Auch im Folgenden zit. nach der Online-Ausgabe: http://corpus1.aac.ac.at/brenner/ [22.01.2017].

L YRISCHE P ORTRÄTS IM F EUILLETON

DER

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Überführung von dessen Grab nach Innsbruck 1925 zur ›Passionsgestalt‹ geworden war.7 Die poetischen ›Maßnahmen‹ Walsers sind gewissermaßen denen vergleichbar, die er im Feuilleton bereits gegenüber einer Monumentalisierung Nietzsches nach dem Ersten Weltkrieg8 ergriffen hatte: Peter Utz hat deutlich gemacht, dass die Auseinandersetzung Walsers mit den ›Denkmälern‹ seiner Zeit sich allerdings kaum auf ein »konsistentes Programm«9 festlegen läßt. Dies gilt ebenfalls für die Porträtierung Trakls, denn auch das Wissen um intertextuelle Bezüge zu dessen Werk bietet keine zuverlässige Entscheidungshilfe in der Frage, ob es sich um »ein Spott- oder ein Huldigungsgedicht«10 handle. Gleichwohl scheinen sich die meisten der Porträtgedichte Walsers in der Prager Presse wie die zu van Gogh, Renoir, Rilke, Kleist, Hauff, Hesse, Tolstoi, Stifter, Goethe, Delacroix und anderen auf den ersten Blick als Gelegenheitsgedichte zu erweisen, sie folgten den Erfordernissen des journalistischen Tagesgeschäfts auch in Prag. Vermittelt wurden sie durch Max Brod ans Prager Tagblatt, und an die Prager Presse gelangten sie durch eine Empfehlung des frühen Walser-Förderers Franz Blei an den Feuilletonchef Otto Pick.11 Walser erhielt somit das Eintrittsbillet in eine gute Gesellschaft von Beiträgern; vor ihm hatten bereits andere – der Prager Presse kritisch

7

Die Rezeption Trakls ist ab Mitte der zwanziger Jahre eher rückläufig. Vgl. hierzu Orendi-Hinze, Diana: Wandlungen des Trakl-Bildes. Zur Rezeptionsgeschichte Georg Trakls. Dissertation, Washington University 1972/73. Auf diese Studie beziehen sich auch Rusch, Gebhard/Schmidt, Siegfried J.: Das Voraussetzungssystem Georg Trakls, Wiesbaden: Springer 1983, S. 227: »Als sich Mitte der 20er Jahre im deutschsprachigen Raum der Modernismus-Begriff mehr und mehr zu wandeln beginnt, gerät auch Trakl (wie die Expressionisten) an den Rand des (literatur-)öffentlichen Interesses; sein Werk wird ›Besitz einer kleinen Gemeinde‹ […]. Die erste Dissertation über Trakl stammt von Bayerthal (1926).«

8

Peter Utz hat das »Spiel mit Nietzsches Schatten« als »Tanz mit dem Monument« ausgewiesen. Vgl. Utz, Peter: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 170-191, hier S. 178.

9

Ebd., S. 179.

10 Stiemer schließt sein Kapitel mit der Unentscheidbarkeit dieser Frage. Vgl. H. Stiemer: Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung, S. 233. 11 Vgl. Gabrisch, Anne: Robert Walser und Franz Blei. – Oder: Vom Elend des literarischen Betriebs. Vortrag an der Jahrestagung der Robert-Walser-Gesellschaft in Berlin 1999, siehe http://www.robertwalser.ch

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gegenüberstehende – Autoren wie Robert Musil mit dem Chefredakteur Arne Laurin vertrauensvoll zusammengearbeitet und waren in den Inflationsjahren auf die »harten tschechischen Kronen«12 durchaus angewiesen.

1. W ALSERS G EDICHTE – IM K ONTEXT DER P RAGER P RESSE 1.1. Ein »tschechoslovakischer Attasché« in Bern – Überlegungen zum Publikationsort Prag An der Qualität dieser späten Zeitungs-Lyrik Walsers zweifelten nicht nur die Leserinnen und Leser der deutschsprachigen Prager literarischen Pressewelt, wie Max Brod in seiner Autobiographie13 nahelegte, sondern auch dieser selbst macht

12 Pfohlmann, Oliver: »Literatur- und Theaterkritik«, in: Birgit Nübel/Norbert Christian Wolf (Hg.), Robert Musil Handbuch, Berlin/Boston: de Gruyter 2016, S. 414-429, hier S. 418; eine Liste der Publikationen Musils in der Prager Presse findet sich ebd., S. 409-412. Zur »stabilisierten Währung« in der ČSR vgl. auch Todorow, Almut: »Ekphrasis im Prager Feuilleton der Zwischenkriegszeit. Malerei-Texte von Robert Walser«, in: Sibylle Schönborn (Hg.), Grenzdiskurse. Zeitungen deutschsprachiger Minderheiten und ihr Feuilleton in Mitteleuropa bis 1939, Essen: Klartext 2009, S. 193208, hier S. 197. – Ifkovits (K. Ifkovits: Robert Walsers Prager Spuren, S. 116) geht davon aus, dass viele deutschsprachige Autorinnen und Autoren die Bindung der Prager Presse an das Außenministerium für problematisch hielten. Eine »kultur- und literaturwissenschaftliche Erforschung des deutschsprachigen Zeitungsbiotops Prag« der Zwischenkriegszeit gehört zu den Desideraten der Forschung, vgl. Reibnitz, Barbara von: »Feuilletons für Zürich, Berlin, Frankfurt und Prag. Zum druckortbezogenen Editionskonzept der Kritischen Robert Walser-Ausgabe«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (3/2012), S. 581-598, hier S. 593. – Wichtig wäre die Einbeziehung weiterer medialer Zentren der ČSR. Trotz des sinkenden Anteils der deutschsprachigen Bevölkerung im dreisprachigen Bratislava, dem slowakischen Teil der ČSR, stieg die Zahl der deutschsprachigen Periodika nach 1918 rapide an. Vgl. Urbán, Péter: »Erinnerung und Selbstimagination in der deutschsprachigen Presse Bratislavas in den Jahren 19181920«, in: Sabine Eickenrodt/Lucia Lauková/Tomáš Sovinec/Péter Urbán (Hg.), Germanistische Studien in der Slowakei. Beiträge zur Doktorandenkonferenz in Bratislava 2011, Frankfurt a.M.: Lang 2013, S. 115-127. 13 Von Reibnitz weist auf diese Stelle in Max Brods Autobiographie Streitbares Leben hin. Vgl. B. v. Reibnitz: Feuilletons für Zürich, Berlin, Frankfurt und Prag, S. 595; auch

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DER

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aus seinen Vorbehalten kein Hehl. Noch in seiner Besprechung der von Carl Seelig zwei Jahre nach Walsers Tod herausgegebenen Unbekannten Gedichte (1958) klingt diese Geringschätzung an, wenn er von einer »recht skurrile[n] Spätblüte« einer »ebenso einfachen, ja manchmal primitiven, aber dennoch zum Teil auch recht schwierig zu erfassenden Verskunst«14 spricht. Auch Seelig ließ keinen Zweifel daran, dass er die »abgedruckten Verse« für »zum großen Teil wirklich schwach, ja, oft kindisch«15 hielt und es der Prager Leserschaft kaum verargen könne, dem Autor »[d]ankbaren Applaus« verweigert zu haben. Diese und ähnliche Urteile erklärter Walser-Sympathisanten geben zu denken, nicht nur, weil sie die abschätzige Deklassierung des Feuilletons als »weibisch«16 zu revitalisieren schienen, sondern zugleich auch die Grenzlinie zwischen ›hoher Lyrik‹ und feuilletonistischem Schreiben neu zu verorten suchten: Noch Werner Morlangs Wertung, dass Walsers umfangreiche Publikationstätigkeit in Prag auf die »geographische Abgelegenheit ihres Erscheinungsortes« zurückzuführen sei und dieser selbst andererseits gerade die »randständige Skurrilität dieser Gebilde«17 belege, zeigt die zirkuläre Argumentationsstruktur dieser Kritik. Nicht nur hielt Morlang es für unwahrscheinlich, dass die »rund 80 in der Prager Presse und die 30 im Prager Tagblatt veröffentlichten Gedichte […] auf die prager-deutsche Literaturszene einen nennenswerten Eindruck machten«18. Angesichts der zunehmenden Erfolglosigkeit Walsers und seiner psychischen Krisen der Berner Jahre vor Eintritt in die Heilanstalt Waldau 1929 habe der Autor in der Beitragstätigkeit für Prager Zeitungen einen Ausweg gefunden. Wie Seelig argumentiert Morlang mit der Biographie Walsers und verzichtet auf die Reflexion über den Erscheinungsort Prag, das sich nach 1918 selbst keineswegs für abgelegen, sondern ganz im Gegenteil für das »Herz Europas« hielt, wie noch der spätere Staatspräsident Masaryk in der Brod, Max: »Erinnerung an einen Dichter«, in: Die Zeit vom 07.04.1955, S. 6: »Der Chef mochte das ›verrückte Zeug‹ nicht, der Krach blieb nie aus.« 14 Brod, Max: »Gedichte aus der Schuhschachtel«, in: Die Zeit vom 11.12.1958, siehe http://www.zeit.de/1958/50/gedichte-aus-der-schuhschachtel [20.01.2017]. 15 Seelig, Carl: »Robert Walser als Lyriker«, in: C. S., Robert Walser. Unbekannte Gedichte, St. Gallen: Tschudy 1958, S. 93-111, hier S. 95. 16 Vgl. den orientierenden Beitrag von Schütz, Erhard: »Unterm Strich. Über Grenzverläufe des klassischen Feuilletons«, in diesem Band, S. 31-50, hier S. 35-37. 17 Morlang, Werner: »Gelegenheits- oder Verlegenheitslyrik? Anmerkungen zu den späten Gedichten Robert Walsers«, in: Klaus-Michael Hinz/Thomas Horst (Hg.), Robert Walser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S.115-133, hier S. 117. 18 Ebd. – Zu den Textüberlieferungen vgl. Stiemer, Hendrik: »Lyrik der Berner Zeit«, in: Lucas Marco Gisi (Hg.), Robert Walser-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 207-214, hier S. 209f.

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Forderung nach einem autonomen demokratischen Staat kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs argumentierte.19 Diese Perspektive und die daraus sich ergebende Wertung einer regional bedingten ›Randständigkeit‹ von Walsers feuilletonistischen Gedichten wird von Werner Morlang später im Nachwort der Mikrogrammausgabe noch einmal radikaler weitergeführt, indem nun eine wesentliche Verbindung zwischen der aus der Not entstandenen Freisetzung auf der ›Spielwiese‹ des Prager Feuilletons und einer ›sich gehen lassenden‹20 journalistischen Praxis in den Berner Jahren angenommen wird. Gerade die »geographische Ferne Prags und das Wohlwollen der dortigen Redakteure« hätten Walser zudem dazu angestiftet, die »Leser mit den krausesten Gebilden seiner Imagination vor den Kopf zu stoßen«21. So beschwichtigend der Gedanke auch sein mag, dass die prekäre Situation einer ›freischwebenden Intelligenz‹ immerhin die Grundlage für die Virtuosität journalistischer Verfahrensweisen im Feuilleton sein könne, so fragwürdig wird sie im Rahmen einer Kontextualisierung der Prager Zeitungsgedichte. Eine Erklärung für die – von Walser selbst stolz benannte – Tatsache, dass Otto Pick nahezu alles von ihm druckte, was er ihm zusendete,22 kann diese räumliche Entfernung von Prag, das er nie gesehen hat, nicht bieten. Zu wenige Faktoren sind bisher bekannt, um über anekdotisches Wissen hinaus zuverlässige Informationen zur Rezeption der Gedichte, zu Reaktionen deutschsprachiger Leserinnen und Leser der Prager Zeitungen einbeziehen zu können. Im Jahre 1921 gab es über drei Millionen Angehörige der deutschsprachigen Minderheit in dem neuen Staat, der sich aus Böhmen, Mähren, Schlesien, der Slowakei und der Karpatenukraine zusam-

19 Masaryk, Tomáš Garrigue: Das neue Europa. Der slavische Standpunkt. Autorisierte Übertragung aus dem Tschechischen von Emil Saudek, Berlin: Schwetschke & Sohn 1922, S. 90: »Die geographische Lage Böhmens mit der Slowakei im Herzen Europas verleiht unserer Nation eine bedeutsame Stellung.« Masaryks Europa-Schrift wurde 1917 in St. Petersburg geschrieben, erschien 1918 in England und Frankreich, schließlich 1920 in einer tschechischen Ausgabe. Diese lag der deutschen Übersetzung von 1922 zugrunde. 20 Vgl. P. Utz: Tanz auf den Rändern, S. 185; P. U.: »›Sichgehenlassen‹ unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons«, in: Kai Kauffmann/Erhard Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der Kleinen Form, Berlin: Weidler 2000, S. 142-162. 21 Morlang, Werner: »Nachwort«, in: Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet, Band 4: Mikrogramme aus den Jahren 1926-1927, hg. von Bernhard Echte/W. M., im Auftrag des Robert Walser-Archivs der Carl Seelig-Stiftung/Zürich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 412-430, hier S. 419. 22 Vgl. B. v. Reibnitz: Feuilletons für Zürich, Berlin, Frankfurt und Prag, S. 595.

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mensetzte. Zwar wurde ihnen der Schutz der Behörden zugesichert, aber nicht wenige reagierten mit Skepsis oder gar manifester Ablehnung, die zumindest teilweise auf die Tschechisierungspolitik nach 1918 und eine faktische Marginalisierung der deutschen Sprache zurückgeführt werden kann. Dennoch wird man von einer einheitlichen Leserschaft mit ›deutscher‹ Identität kaum sprechen können – angesichts einer hybriden und mehrsprachigen Kultur, die sich aus tschechischen, slowakischen, jüdischen, magyarischen, polnischen, ukrainischen und ruthenischen Bevölkerungsteilen zusammensetzte.23 Dass Walser nicht als ein Schwergewicht der deutsch-tschechoslowakischen Kulturvermittlung – wie etwa der Feuilletonist, Kolumnist und Übersetzer Paul Eisner24 – gelten konnte, wusste er, wie Carl Seelig überliefert, selbst am besten, denn es habe in Prag »Aufregenderes zu lesen gegeben als ›Walsereien‹«25. Will man diesen Satz nicht als bloße Koketterie deuten, wäre Kurt Ifkovits These zu konkretisieren, dass Walser bereits seit 1912 »innerhalb der Prager deutschen Literaten derart etabliert« gewesen sei, dass er als »Maßstab«26 gegolten habe. Jedenfalls war er kein Unbekannter mehr in Prag. Dafür spricht, dass Walser in dem bei Kurt Wolff 1913 erschienenen Jahrbuch Arkadia27 neben Kafkas Urteil und Texten namhafter Autoren wie Franz Blei, 23 Prag bildete zudem – wie Sibylle Schönborn anmerkt – »ein höchst modernes Zentrum, dessen Besonderheiten in der Mehrsprachigkeit und diskursiven Vernetzung der Zeitungen begründet lag.« Schönborn, Sibylle: »Das Prager Feuilleton«, in: Reinhold Görling/Vittorio Borso (Hg.), Kulturelle Topografien, Stuttgart: Metzler 2004, S. 243-254, hier S. 245. 24 Paul (Pavel) Eisner war der wohl wichtigste Kulturvermittler deutsch-jüdisch-tschechischer Herkunft und dominierte mit seinen Übersetzungen und Beiträgen die Seiten der Prager Presse. Er hat 1935 die erste tschechische Übersetzung von Kafkas Schloß vorgelegt. 25 Seelig, Carl: Wanderungen, zit. nach Müller, Dominik: »›In Prag gab es doch Aufregenderes zu lesen als Walsereien‹. Zur Publikation von Robert Walsers Feuilletontext ›Hodlers Buchenwald‹ in der Prager Presse«, in: Norbert Christian Wolf/Rosemarie Zeller (Hg.), Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne, Band 32, Berlin/Boston: de Gruyter 2011/2012, S. 162-179. 26 K. Ifkovits: Robert Walsers Prager Spuren, S. 111. Diese These wird von Jiří Stromšík, der Ifkovits nicht erwähnt, in Frage gestellt, da wir nicht wüßten, »welche Rolle Walser in den Debatten des ganzen Prager Kreises spielte«. Vgl. Stromšík, Jiří: »Robert Walser und seine Prager Anhänger«, in: Eva Berglová (Hg.), »… und jedes Wort hat fließende Grenzen …«. Gedenkschrift für Prof. PhDr. Alena Šimečková, CSc, Praha: Univerzita Karlova – Filozofická fakulta 2007, S. 105-113, hier S. 111. 27 Brod, Max (Hg.), Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst, Leipzig: Wolff 1913. Walsers hier abgedruckte Beiträge decken alle drei Gattungen ab: In der Rubrik »Dramatisches«

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Max Brod und Otto Pick gleich vier Beiträge publizieren konnte, also der am meisten präsente Autor war. Ohne diese Frage des frühen Prager Ruhms aufzuwerfen, geht Jiří Stromšík davon aus, dass die tschechische Avantgarde der zwanziger Jahre auf anderen Bühnen spielte und »Walser an den Rand des zeitgenössischen literarischen Betriebs, oder aber der ›Zeit‹ überhaupt« geraten sei; und dass das deutschsprachige Prag eben auch zu jenen ethnischen Enklaven gehört habe, die dazu neigten »Kulturwerte, die sich in einer offenen Gesellschaft weiterentwickeln, zu bewahren oder gar zu konservieren«28. Wollte man dieser These folgen, wäre indes vorab zu klären, ob tschechischsprachige Zeitungen wie das liberale Intelligenzblatt Lidové noviny (dt. ›Volksblatt‹), das dem Berliner Tageblatt vergleichbar war,29 ein grundlegend anderes literarisches Programm als die deutschsprachige Prager Presse offerierte – und dies wiederum setzte eine vergleichende Inhaltsanalyse voraus. Vorsichtiger erwägt Dominik Müller, dass »ein Autor, der aus einem verhältnismäßig fernen, neutralen Land leicht anachronistische und damit politisch unverdächtige Texte von hohem Niveau einsandte«30, der Redaktion der Prager Presse gerade recht gewesen sei. Wie auch immer die Qualitätsurteile über das Phänomen ›Walser in Prag‹ ausfallen mögen – sie weisen argumentative Brüche auf, solange sie nicht den Widerspruch lösen können, dass seine feuilletonistischen Arbeiten – und insbesondere die offensiv ›dilettierenden‹31 Gedichte – in einer Zeitungslandschaft erschienen, der sie weder einen Anstrich ›hoher‹ Poesie (mit Orientierung an der Jahrhundertwende) geben noch sich selbst als Spitze der zentraleuropäischen Avantgardekunst32 empfehlen konnten. Ein Verfahren, das die lyrische ›Produktion‹ Walsers in Prag literatur- bzw. regionalgeschichtlich verorten wollte, ohne die Gedichte einer Detailanalyse zu unterziehen, wäre deshalb ebenso verfehlt wie die Frage nach der Qualität der späten Lyrik aufzuwerfen, findet sich Tobold (S. 9); unter »Episches« Zwei Aufsätze: Rinaldini – Lenau (S. 211); unter »Lyrisches« das Gedicht Handharfe am Tag (S. 218). 28 J. Stromšík: Robert Walser und seine Prager Anhänger, S. 112. 29 Vgl. hierzu Mongu, Blanka: Stadt – Frau – Amerika. Zum Modernisierungsdiskurs im deutschen und im tschechischen Feuilleton von 1918 bis 1938. Dissertation, HU Berlin 2010, S. 201, siehe http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/mongu-blanka-2010-1208/PDF/mongu.pdf [22.01.2017]. 30 D. Müller: »In Prag gab es doch Aufregenderes zu lesen als Walsereien«, S. 166. 31 Vgl. H. Stiemer: Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung. 32 Diese wurde von 1924 bis 1930 in der ČSR durch den »Poetismus« der Gruppe Devĕtsil (mit deren Sprecher Karel Teige) dominiert, die sich an der russischen und französischen Avantgarde orientierte und eigene Zeitungen herausgab. Vgl. Schamschula, Walter: Geschichte der Tschechischen Literatur, Band 3: Von der Gründung der Republik bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2004, S. 14-21.

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ohne die Kontexte ihrer Entstehungs- und Druckorte33 mitberücksichtigen zu wollen. Eine Durchsicht der Jahrgänge 1927 und 1928 der Prager Presse legt nahe, dass die Redaktion eher eine doppelte Publikationsstrategie verfolgte. In einem Brief von 1921 an den Chefredakteur Arne Laurin hatte Musil seiner Befürchtung Ausdruck verliehen, dass die Prager Presse gegen den Widerstand der deutschen Minderheit instrumentalisiert werden könnte, und angemahnt, dass der »Möglichkeit von Mißdeutungen im Inhalt des Blattes mehr Rechnung getragen« werden müsse, und zugleich aber betont, dass er sich »lebhaft vorstellen« könne, »welchen Eiertanz Sie zu tanzen haben«34. Dieser »Eiertanz« zeigt sich in der Literaturbeilage etwa darin, dass sich Kritik an einer Sakralisierung von Dichterautoritäten und literarische Traditionspflege durchaus nicht ausschlossen. Es war vielmehr ein redaktionelles Gebot der politischen Klugheit, die deutschsprachige Leserschaft in ihren unterschiedlichen Interessenslagen erreichen, jedenfalls aber doch nicht verprellen zu wollen. Dass die Redaktion der Prager Presse insbesondere auch an Beiträgen aus der Schweiz interessiert war, kann nicht überraschen. Noch in seiner Streitschrift Das neue Europa (1917; dt. Übers. 1922) gegen einen Pangermanismus bzw. ein »von den Deutschen beherrschtes Zentraleuropa«, dessen »Kern Preußen und das preußische Deutschland mit Österreich-Ungarn bilden würde«35, wird von Masaryk das alternative Konzept einer »böhmischen Schweiz« präsentiert, die Schweiz also als Beispiel für die entstehende tschechoslowakische Republik verstanden: »Leider hat Böhmen kein Meer (außer bei Shakespeare), und dies ist gewiß ein großer Nachteil, wenn man Böhmen zum Beispiel mit dem kleinen Dänemark und mit anderen Seestaaten vergleicht. Aber die Stellung Böhmens ist in dieser Beziehung nicht schlechter als die Serbiens, Ungarns oder der Schweiz. Das Beispiel der Schweiz beweist, daß ein Land ohne Meer seine Selbständigkeit nicht nur behaupten, sondern daß es dank den modernen Transportverhältnissen sogar eine blühende Industrie unterhalten kann. Die Schweiz hat ja nicht einmal Kohle und Eisen, und doch ist es ihr gelungen, ein Industrieland zu werden.«36 33 Die Prager Feuilletons Walsers werden im Band III,4 der KWA erscheinen. Bisher liegen die feuilletonistischen Arbeiten in der Neuen Zürcher Zeitung (Band III,3), dem Berliner Tageblatt (Band III,1) und in der Zeitschrift Die Schaubühne/ Die Weltbühne (Band II,3) vor. 34 Musil, Robert: »Brief an Arne Laurin vom 23. April 1921«, in: Barbara Köpplová/Kurt Krolop (Hg.), Robert Musil. Briefe nach Prag, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1971, S. 23-27, hier S. 25. 35 T. G. Masaryk: Das neue Europa, S. 129. 36 Ebd., S. 109.

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Diese Orientierung leitete die redaktionelle Komposition der in der Prager Presse publizierten Beiträge noch in den zwanziger Jahren. Aber auch die etablierte und gefeierte Literatur des in Prag gebürtigen Rilke und des Salzburgers Trakl galt nach 1918 offensichtlich für eine größere Gruppe der deutschsprachigen, an der Moderne der Vorkriegsliteratur orientierten Zeitungsleserinnen und -leser in der ČSR weiterhin als Muster für literarische Werturteile. Die auf Ausgleich und Völkerverständigung bedachte Prager Presse verband in ihrer Literaturbeilage denn auch höchst unterschiedliche, ja konträre Positionen: Auf Rilkes Gedicht Elegie, das in der Januar-Ausgabe Nr. 1 (1927) in der Beilage Dichtung und Welt nach dem Tod des Dichters im Dezember 1926 als ein lyrisches Vermächtnis – mit dem Untertitel »von Rainer Maria Rilke†« – publiziert worden war, konnte bereits wenig später, im Januar 1927 ein unmissverständliches Spottgedicht Walsers (Rilke †37) folgen. Walsers Gedichte sind somit nicht als ahnungslose Zufallsprodukte in einem ihm unbekannen politischen Kontext zu verstehen. Sie nutzen diesen vielmehr für ein poetisches Verfahren des Norm- und Traditionsverstoßes, der Kritik »an der poetischen Ideologie des ›Formvollendeten‹ und des ›Gültigen‹«38. 1.2. Das Profil der Beilage Dichtung und Welt – ein ›Sample‹ der Ausgabe von 1928 Das Gedicht An Georg Trakl erschien in der Literaturbeilage zur Prager Presse. Eine tschechische Ausgabe der 1915 im Kurt Wolff-Verlag herausgegebenen Sammlung von Sebastian im Traum (tsch.: Sebastian v Snu) war 1924 in einer Übersetzung des katholischen Autors Bohuslav Reynek39 erschienen. Trakls Lyrik

37 Walser, Robert: »Rilke†«, in: Prager Presse vom 04.01.1927, Morgenausgabe, Kultur der Gegenwart, S. 6. 38 Groddeck, Wolfram: »Gedichte auf der Kippe. Zu Robert Walsers Mikrogrammblatt 62«, in: Davide Giuriato/Stephan Kammer (Hg.), Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld 2006, S. 239-268, hier S. 241. Der Position Groddecks folgen auch die Arbeiten Stiemers (H. Stiemer: Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung, S. 197) und Christian Walts, der darüber hinaus auf die »performative Reflexion der Gattung« in Walsers Lyrikproduktion der letzten Schaffensperiode hinweist: Walt, Christian: Improvisation und Interpretation. Robert Walsers Mikrogramme lesen, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld 2015, S. 80. 39 Bohuslav Reynek, der selbst Dichter und Graphiker war, gehörte zur Gruppe der katholisch-modernistischen Autorinnen und Autoren. Vgl. hierzu Schamschula, Walter: Geschichte der tschechischen Literatur, Band 3, S. 311ff.; 1926 gab es erst wenige Übersetzungen Trakls, vgl. hierzu die Vorbemerkung in: [Anonym, d.i. Ficker, Ludwig von]

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war also 1928 in der ČSR keineswegs mehr nur für die deutschsprachige Leserschaft ein Begriff, sondern hatte über den Weg dieser Übertragung auch tschechische Autoren nachhaltig beeinflusst. Auf der doppelseitigen Zeitungsseite der Prager Presse steht das Gedicht neben Beiträgen von etablierten tschechischen, polnischen, österreichischen, deutschen, pragerdeutschen und französischen Autorinnen und Autoren, die von renommierten Übersetzerinnen, Übersetzern und Kulturmittlern wie Paul Eisner, Jakob (Jankew) Seidmann,40 Ossip Kalenter (eigentlich Johannes Burckhardt), der ab 1934 zum Redakteur des Prager Tagblatts avancierte, oder Grete Reiner,41 der Übersetzerin des Schwejk, ins Deutsche übertragen wurden. Namen wie Antonín Sova, Julian Tuwim, Jan Wiktor, dessen Erzählung mit Illustrationen der tschechischen Künstlerin und gelegentlichen Mitarbeiterin der Prager Presse, Milada Marešová, versehen sind, wie Stanisław Przybyszewski, Oskar Wiener, Honoré de Balzac, Jiří Mahen (eigentlich Antonin Vančura) und auch Franz Blei belegen das publizistische Programm von Weltoffenheit und Internationalismus. Eine Skizzierung der Literaturbeilage dieser Ausgabe kann das Desiderat einer exemplarischen Inhaltsanalyse, die deren Bezüge auch zur politischen Berichterstattung ›über dem Strich‹ systematisch zu untersuchen hätte, zweifellos nicht ersetzen. Sie zeigt aber, dass Walsers Trakl-Gedicht durchaus nicht aus der redaktionellen Komposition der literarischen Beilage herausfiel. Es nimmt auf der Seite in der ersten, linken Spalte (von insgesamt vier) eine Mittelposition ein: Direkt über Walsers Gedicht findet sich ein – von Paul Eisner übersetztes – Poem des tschechischen Symbolisten Antonín Sova (In neue Möglichkeit, 1898), der zu den Unterzeichnern des Manifests Česka moderna (1895) gehörte und bis 1920 Direktor der Prager Stadtbibliothek war.42 Direkt unter Walsers An Georg Trakl ist ein (Hg.), Erinnerung an Georg Trakl, Innsbruck: Brenner 1926, S. 14f., hier S. 15. Genannt werden neben der tschechischen Übersetzung Reyneks Übertragungen in einer französischen Anthologie und einer rumänischen Monatsschrift. Einen Überblick über die Übersetzungen Trakls geben Finck, Adrien/ Weichselbaum, Hans (Hg.): Trakl in fremden Sprachen, Salzburg: Otto Müller 1991. 40 Vgl. Heuer, Renate (Hg.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Band 19: Sand-Stri, Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 218. 41 Grete Reiner wurde nach Theresienstadt deportiert und in Auschwitz ermordet, ebenso Oswald Wiener. Jiří Mahen wählte nach der Besetzung der Tschechoslowakei 1939 den Freitod. Paul Eisner hielt sich in der Wohnung seiner nicht-jüdischen Frau versteckt und entkam der Deportation. Milada Marešová wurde 1942 wegen Hochverrats vom Volksgerichtshof in Berlin zu zwölf Jahren Haft verurteilt, die sie überlebte. 42 Vgl. Petrbok, V.: Antonín Sova, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950 (ÖBL), Band 12, Lieferung

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Gedicht des polnischen Lyrikers Julian Tuwim (Die Reise), einem Vertreter des literarischen Kabaretts der zwanziger und dreißiger Jahre und Meister der Onomatopoesie, zu lesen. Tuwim, zunächst ein Anhänger Piłsudskis, macht nach dem Maiputsch 1926 in Polen aus seiner Desillusionierung kein Hehl, wenn er die Sehnsucht eines Reisenden nach einer kaum mehr verlockenden Heimat in Verse setzt. Einen ähnlichen Abgesang bietet das Gedicht Antonín Sovas (von 1898), das die gescheiterte Hoffnung auf ein Ende des Brudermords benennt und schließlich in der Klage über die Wiederkehr des Tötens mündet. Auch die beiden anderen Texte auf der ersten Seite – eine Erzählung Jan Wiktors (Tauben vor der Kirche) und ein Brief (von »Anfang September 1899«) des polnischen, zunächst auf Deutsch schreibenden Autors Przybyszewski,43 der im November 1927 verstorben war – sind Zeugnisse des Verlusts: Wiktors Erzählung beschreibt eine dem Schneefall und dem Taubenschwarm ausgesetzte Christusfigur auf einem Kalvarienberg; und der Brief Przybyszewskis beklagt die Tristesse und Einsamkeit des Schreibens in Zakopane, unweit und doch jenseits von Krakau. Auf der zweiten Seite der Literaturbeilage sind ›über dem Strich‹ drei Erzählungen versammelt. Die linke Spalte füllt der Prosatext Auf der Terrasse des tschechischen Dichters und Publizisten Jiří Mahen aus, der ebenfalls (in den Jahren 1910–1919) Redakteur der Zeitung Lidové noviny war: Er erzählt vom melancholischen König David, der – als er nicht wußte, »wovon er Gott singen sollte« – auf der Terrasse seines Palastes den Tod trifft, der die Welt erstarren lässt, sodass der König nun wieder »wußte, was er auf dieser so wenig großartigen Welt singen soll«. Über drei Spalten geht die Erzählung Der schöne Knabe von Oskar Wiener: Sie erzählt von einer Männer bestrickenden Dame mit Namen »Liane«, die aber doch an allen »etwas auszusetzen« hatte, bis ein vierzehnjähriger Knabe in der Schneeeinöde auftaucht. Als ein komisches Gegenstück zu dieser unmöglichen Liebe, die Liane durch ihre Abreise in die Großstadt beherzt beendet, zeigt sich die – erstmals 1881 in der Zeitschrift La Caricature erschienene – Erzählung Balzacs (Von der Cheviothose und dem Sterne Sirius), in der ein Verehrer mehrfach durch slapstickhafte Umstände das Treffen mit seiner Angebetenen verpasst. Alle abgedruckten Texte nehmen somit Motive der Hoffnungslosigkeit auf, die in

58, Wien: 2005, S. 436f., siehe http://www.biographien.ac.at/oebl?frames=yes [22.01.2017]; zu Antonín Sova auch W. Schamschula: Geschichte der tschechischen Literatur, S. 380. 43 Vgl. Klein, Georg: Stanisław Przybyszewski. Leben, Werk und Weltanschauung im Rahmen der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Biographie, Paderborn: Igel 1992.

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einem – wider jede Zeitungskonvention hier ›unter dem Strich‹44 platzierten – politischen Essay Franz Bleis mit dem Titel Studenten zu kulminieren scheinen: Dieser zieht (im Rahmen der Literaturbeilage) das Fazit aus den ›oben‹ von scheinbar ›menschlich-allzumenschlichem‹ Kommunikationsverlust erzählenden Texten. Knapp zehn Jahre nach Max Webers soziologischer Streitschrift Wissenschaft als Beruf (1919) beklagt Blei das Scheitern des universitären Bildungsauftrags an völkisch-nationalsozialistischer Geistlosigkeit: »Ich habe an der größten deutschen Hochschule vor einigen Monaten einen ordentlichen Professor der Philosophie Dinge sagen hören, die wir uns vor dreißig Jahren als Studenten im philosophischen Seminar zu sagen geschämt hätten, – Trivialitäten, die aber das Beifallsgetrampel der jungen Zuhörerschaft hatten, von denen keiner so aussah, als ob er nach dem Examen je wieder das Wort Kant oder Hume in den Mund nehmen würde. Sicher eher Ludendorff oder Hitler.«

2. D AS B EISPIEL A N G EORG T RAKL . V ORSCHLÄGE L EKTÜRE VON W ALSERS P ORTRÄTGEDICHT

ZUR

2.1. Ein »Denk-, ein Dankmal«: Erinnerung an Georg Trakl und An Georg Trakl Auf die mystifizierende Rezeption des 1914 im galizischen Krakau unter teils ungeklärten Umständen verstorbenen Trakl folgte nach dessen Überführung vom Krakauer Friedhof Rakowice nach Innsbruck und zweiter Bestattung auf dem Friedhof von Mühlau 1925 eine weitere Welle der Verehrung, die vor allem durch Ludwig von Ficker ausgelöst wurde. Dieser gab dann 1926 einen Band unter dem

44 Diese Position ›verkehrt‹ die Grundregel des Feuilletons: Hildegard Kernmayer weist darauf hin, dass dieses »[u]nter dem Strich« die »Subversion jenes Faktischen« betreibe, »das mitzuteilen oberstes Ziel einer sich sachgebunden gebenden Presse ist.« Kernmayer, Hildegard: »Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (3/2012), S. 509-523, hier S. 515f.

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Titel Erinnerung an Georg Trakl45 heraus, der – so meine These – als eine mögliche Quelle46 für Walsers Gedicht gelten kann. Die Ankündigung des Bandes als »Gedenkbuch«47 nahm nicht zufällig auf die Grabrede von Fickers Bezug. Dieser hatte bereits in seinem Nachruf am Grab auf diesen Nekrolog-Band indirekt verwiesen, indem er eine assoziative Verbindung von Gedenkbuch und Grabstein nahelegte und den »toten Freun[d]« Trakl zum Monument erhob: »Sieh hier den alten Stein – versenkt in unsere Herzen: ein Denk-, ein Dankmal, aufgerichtet!«48 Vor dem Hintergrund dieser Denkmalsetzung scheint der Titel des Gedichts An Georg Trakl durch eine einfache, aber höchst wirkungsvolle Extraktion aus dem Titel des Brenner-Gedenkbands Erinnerung an Georg Trakl gewonnen zu sein:

45 [Anonym, d.i. L. v. Ficker] (Hg.): Erinnerung an Georg Trakl. Auf diesen Band weist auch Stiemer in der Fußnote hin, allerdings ohne dieses Buch als einen möglichen Prätext von Walsers Trakl-Gedicht zu erwägen. 46 Inwieweit Walser mit dem Brenner vertraut war, ist nicht zu belegen. In der Schweizer Presse wurde regelmäßig über die Halbmonatsschrift berichtet, so etwa in der Neuen Zürcher Zeitung durch den Schweizer Schriftsteller (und Trakl-Verehrer) Hans Limbach, der bis zu seiner Rückkehr aus Russland auf einem Landgut bei Odessa gelebt hatte. Vgl. hierzu unter der Rubrik Mitteilungen Haerle, Ernst: »Nachruf auf Hans Limbach«, in: Der Brenner, 9. Folge (Herbst 1925), S. 287-290, hier S. 288. Weitere Informationen zu Limbach im Brenner-Kreis finden sich bei Klettenhammer, Sieglinde: »Hans Limbach als Schriftsteller und ›Brenner‹-Leser«, in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 5 (1986), S. 38-49. Limbach hatte zudem im Francke Verlag, in dem Walsers Kleine Prosa 1917 erschienen war, einen Band über seine Erlebnisse während der russischen Revolution publiziert: Limbach, Hans: Ukrainische Schreckenstage. Erinnerungen eines Schweizers, Bern: Francke 1919. Ausführlicher hierzu Happel, Jörn: »Die Revolution an der Peripherie«, in: Heiko Haumann (Hg.), Die Russische Revolution 1917. 2. überarb., erw. Aufl., Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2016, S. 91-104. 47 Die Ankündigung des Bandes erschien unter der Rubrik Mitteilungen im Brenner, 9. Folge (Herbst 1925), S. 284: »Da dem Fonds zur Errichtung eines Grabmals für Georg Trakl, um die Kosten der Überführungsaktion voll decken zu können, Mittel entzogen werden mußten, wird der Brenner-Verlag demnächst ein Gedenkbuch ›Erinnerung an Georg Trakl‹ herausgeben, aus dessen Erträgnis der Sammelfonds neuerdings so gestärkt werden soll, daß die Errichtung eines Grabsteins nach Maßgabe der vorhandenen Mittel im nächsten Frühjahr erfolgen kann.« 48 Ficker, Ludwig von: »Die Heimführung Georg Trakls«, in: Der Brenner, 9. Folge (Herbst 1925), S. 281f.

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An Georg Trakl. von Robert Walser. 1

In irgend einem fremden Lande würde ich dich lesen, oder auch zu Hause, und immer würden deine Verse mir zum Schmause gereichen, und in einem ganz

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bestimmten Sinne käme mich im Zimmer, umglänzt vom Glanz und von dem Schimmer der wundervollen Worte, die du fandest, kein einz’ger trauriger Gedanke an. Wie mit umschmeichelndem Gewande angetan,

10

erschiene ich mir in der Schlucht des Lesens, in der49 Beschäft’gung mit der Schönheit deines Wesens, das Schwan und Kahn und Garten und der Duft, der draushinaufsteigt, ist, du blätterreiche, unsäglich seelenvolle, weiche Eiche,

15

herabgefall’ner Felsblock, Schwänzeln eines Mäuschens, eines Töchterchens Tänzeln, verzagter Riese, hier auf einer Jurawiese richte ich, spielerisch, als wenn ich träumte, diese Ansprach’ an deinen Genius.

20

Haben dich Hölderlin’sche Schicksalsfortsetzungen in deiner Wiege und auf deiner Lebensbahn umklungen und zu goldnem Wahn bestimmt? Wenn ich Gedichte von dir lese, ist mir, als trüg’ mich eine prächt’ge Chaise.

Zumindest formal weist das Gedicht die Gattungsmerkmale der Widmungs- und Porträtlyrik auf: Bereits auf den ersten Blick wird eine reflexive Annäherung des lyrischen Ichs an den Porträtierten nahegelegt. Gewissermaßen lässt sich hier das

49 Im Erstdruck der Prager Presse heißt es »in die Beschäft’gung«. Jochen Greven liest hier, offenbar von einem Druckfehler ausgehend, wie Stiemer hervorhebt, »in der Beschäft’gung«. Vgl. H. Stiemer: Über scheinbar naive und sentimentale Dichtung, S. 230. Zwar ist diese Konjektur, der ich folge, plausibel, aber der Wortlaut im Zeitungsdruck ist zumindest grammatisch möglich, wenn man ihn auf das – erst Zeilen später folgende – Verb »richte ich« (V. 18) bezöge.

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literarische Muster eines homo viator assoziieren, der vor einem Grabstein (wie vor einem Buch) innehält und des Toten gedenkend liest. Wulf Segebrecht hat aus dieser barocken Tradition der Grabschriften das »Paradigma lyrischer Möglichkeiten überhaupt«50 entwickeln wollen, in der es konstante Positionen wie Leser, Ort, Mitteilungsform gibt – und auch variable, wie die der Figur des Sprechers und des Toten als Mitteilungsgegenstand.51 Zwar ist Walsers Gedicht kein lyrischer Nachruf, sondern formal ein Anlass-Gedicht, das dem Datum des Dichtergeburtstags am 3. Februar 1887 geschuldet ist. Auch wird ihm kein Porträt des Verstorbenen beigefügt, sondern auf eine bildliche Vergegenwärtigung verzichtet – wenngleich in der Prager Presse Porträtskizzen nicht selten zu finden waren.52 Aber Walsers Trakl-Gedicht misst dem vergegenwärtigenden und zugleich auf Distanz bleibenden Lesen eine zentrale Rolle bei und entlehnt seinen hohen Ton dem poetischen Duktus des 18. Jahrhunderts. Ausdrücklich präsentiert sich das lyrische Ich als ein – zumindest potentiell – immer und überall Trakl lesendes Ich, das zugleich, im Gedicht den Toten ansprechend, über den Weg dieser vorgestellten ubiquitären Lektüre reflektiert. Diese sprechend erzeugte Imagination wird durchgängig im Konjunktiv gehalten: »würde ich/ dich lesen« (V. 1f.), »käme mich im Zimmer/ […] kein einz’ger trauriger Gedanke an« (V. 5-8), »erschiene ich mir in der Schlucht des Lesens« (V. 10). Die Reflexion des lyrischen Ichs wird einem toten ›Du‹ in vertraulicher Huldigung, in »einer Ansprach’« (V. 19) dargeboten und schließlich in den Indikativ überführt; und indikativisch wird diese – quasi als einzige Sicherheit des Gedichts – nun auch thematisiert: »hier auf einer Jurawiese/ richte ich, spielerisch, als wenn ich träumte, diese/ Ansprach’ an deinen Genius« (V. 17-19; Herv. S.E.). Das deiktische »hier« markiert eine Zäsur, es initiiert die Rede des lyrischen Ichs von sich selbst. Wie auch am Schluss des Gedichts wird zugleich die Mehrdeutigkeit der Sprache ausgelotet und ein poetischer Spielraum eröffnet, in dem Lektürereminiszenzen und Aspekte des Klartraums nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Die »Jurawiese« ist wohl als Anspielung auf den biographischen Kontext Walsers, auf dessen Geburtsstadt Biel-

50 Segebrecht, Wulf: »Steh, Leser, still! Prolegomena zu einer situationsbezogenen Poetik der Lyrik, entwickelt am Beispiel von poetischen Grabschriften und Grabschriftenvorschlägen in Leichencarmina des 17. und 18. Jahrhunderts«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1978), Heft 3, S. 430-468, hier S. 465. 51 Vgl. ebd., S. 466. 52 So etwa Martha Musils Skizzen zu Moissi, Musil, Barbusse, Elisabeth Bergner, vgl. B. Köpplová/K. Krolop (Hg.), Robert Musil, S. 102 (Anm. 89, 90, 91) und S. 119 (Anm. 208).

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Bienne bzw. den Berner Jura, zu verstehen.53 Erst im übernächsten Vers (V. 19) wird deutlich, dass diese Zeilen eine monologische Kommunikationssituation evozieren, die zudem selbst noch im Augenblick einer sich im Gedicht ereignenden »Ansprach’« vom lyrischen Ich zugleich reflektiert wird. Auch metrisch wird deutlich ein Bruch markiert, indem sich das jambische Versmaß ab »richte ich« (V. 18) verändert: Diese Zäsur zeigt schließlich auch den Übergang von der »Ansprach’« zu einer Frage an: »Haben dich Hölderlin’sche Schicksalsfortsetzungen/ […] bestimmt?« (V. 20); und sie mündet in ein Statement, das den Akt des Lesens nun in einen indikativischen Temporalsatz setzt und in der dann folgenden Zeile den Eindruck dieser Lektüre auf das lyrische Ich konjunktivisch ins RätselhaftBanale führt: »Wenn ich Gedichte von dir lese,/ ist mir, als trüg’ mich eine prächt’ge Chaise.« (V. 23f.). Darüber hinaus wird die Lektüre schließlich noch in die Sphäre des Unernsten (»spielerisch«) und Unwirklichen (»als wenn ich träumte«) verwiesen. (Vgl. V. 18f.) Das Auffinden intertextueller Bezüge wird insofern erschwert, als Walser in einer »Ästhetik der Anspielung«54 Prätexte verschiedenster Herkunft als ›Steinbruch‹ für sein Gedicht nutzt und den Eindruck der bloß zufälligen Montage erzeugt. Dass die auf diese Weise verrätselten Bilder jedoch nicht planlos zusammengeklaubt sind, sondern einer erkennbaren Ordnung folgen, soll im Weiteren exemplarisch gezeigt werden. Die »[a]n Georg Trakl« gerichtete »Ansprach’« wird zwar von (potentiellen) Selbst-Verortungen des lyrischen Ichs, nicht hingegen von Selbst-Charakterisierungen unterbrochen. Auch die Worte »du blätterreiche,/ unsäglich seelenvolle, weiche Eiche,/ herabgefall’ner Felsblock […]/ verzagter Riese, hier auf einer Jurawiese« (V. 13-17) beziehen sich eindeutig auf den ›angesprochenen‹ Trakl.55 Geht man dem in der »Ansprachʾ« aufgerufenen Bild »herabgefall’ner Felsblock« (V. 15) und dem dann im übernächsten Vers folgenden – »verzagter Riese« (V. 17) – nach, so führt die Spur zu der im Gedicht erst später erfolgenden Frage »Haben dich Hölderlin’sche Schicksalsfortsetzungen/ in deiner Wiege […] zu goldnem Wahn/ bestimmt?« (V. 20-24). Evident sind Übernahmen aus Trakls lyrischem Werk – wie »Kahn« und »Garten«56 – und auch aus

53 Dass »Jura« auch die slawische Variante von Georg (so im Slowakischen: Juraj und im Mährischen: Jura) ist, sei hier nur erwähnt. 54 H. Stiemer: Lyrik der Berner Zeit, S. 207. 55 Hierin ist Stiemer zu widersprechen, der das Oxymoron »verzagter Riese« (V. 17) auf das lyrische Ich bezieht; vgl. H. Stiemer: Feuilletonistische Reimereien, S. 12. 56 Auf diese weist bereits Kudszus hin. Vgl. W. G. Kudszus: An Georg Trakl, S. 275; auch H. Stiemer: Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung, S. 231.

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einigen Gedichten Hölderlins, der in Walsers Arbeiten mehrfach genannt wird.57 Nicht geklärt ist damit aber die Frage, welche Funktion der durch Montage erzeugten Irritationen in Walsers Berner Lyrik zukommt. Die Wortfolge »Hölderlin’sche Schicksalsfortsetzungen«58 spielt offen auf Hölderlin an, und es ist naheliegend, dass Hyperions »Schiksaalslied«, dem im zweiten Band des Briefromans viermal die Bemerkung »Fortsetzung«59 folgt, hier auch formal Modell gestanden hat. Walser kannte dieses zweifellos; und dass Trakl in dergleichen ›Fortsetzungen‹ einzubeziehen wäre, wird bereits in zeitgenössischen Arbeiten vorgedacht: Erwin Mahrholdt bringt diese poetische Verwandtschaft zwischen Hölderlin und Trakl im Erinnerungsbuch von 1926 auf die Formel: »Was Hölderlin im ›Hyperion‹ anbahnte, hat Trakl fortgesetzt: eine ganz ins Eigenwesen gezwungene Sprache.«60 Gleichwohl kann auch dieser Prätext nur mit Vorsicht für eine Interpretation von Walsers Gedicht herangezogen werden. Weitere Texte Hölderlins wären als Bildspender – denkt man an die des »Riesen« und des »Felsblock[s]« – zumindest zu prüfen: etwa das Gedicht Das Schiksaal61, das 1793 – zwei Jahre nach Hölderlins Reise durch die Schweiz – in der Thalia erschien. Hölderlins Gedicht thematisiert einen erst aus der Not erzeugten ›heroischen‹ Geist, der die Voraussetzung der Freiheit garantiere. In der sechsten Strophe heißt es:

57 Vgl. etwa das Hölderlin-Porträt Walsers in der Vossischen Zeitung vom 24.09.1915, Morgenausgabe, S. 2f. Es wurde – wie auch das Trakl-Porträt – von Bernhard Echte in die Sammlung der Dichter-Porträts aufgenommen: Echte, Bernhard (Hg.), Robert Walser. Dichteten diese Dichter richtig? Eine poetische Literaturgeschichte, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 2002, S. 62-65 (Hölderlin) und S. 344 (An Georg Trakl). 58 Bernhard Echte verwendet in einem – an der Biographie Walsers orientierten – Vortrag diese Gedichtzeile als Überschrift: Echte, Bernhard: »Hölderlin’sche Schicksalsfortsetzungen«. Vortrag an der Jahrestagung der Robert-Walser-Gesellschaft in Herisau vom 27.10.2001, siehe http://www.robertwalser.ch 59 Hölderlin, Friedrich: »HYPERION oder der Eremit in Griechenland« [1799], in: Michael Knaupp (Hg.), Sämtliche Werke und Briefe, Band 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Lizenzausgabe des Carl Hanser Verlags) 1998, S. 609-760, hier S. 744-754. 60 Mahrholdt, Erwin: »Der Mensch und Dichter Georg Trakl«, in: [Anonym, d.i. L. v. Ficker] (Hg.), Erinnerung an Georg Trakl, S. 21-82, hier S. 79. 61 Hölderlin, Friedrich: »Das Schiksaal« [1793], in: M. Knaupp (Hg.), Sämtliche Werke und Briefe I, S. 146-148; vgl. auch das Gedicht Kanton Schweiz (ebenfalls von 1793), in: ebd., S. 134-136.

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»Die Klagen lehrt die Noth verachten, Beschämt und ruhmlos läßt sie nicht Die Kraft der Jünglinge verschmachten, […] Sie kömmt, wie Gottes Blitz, heran, Und trümmert Felsenberge nieder, Und wallt auf Riesen ihre Bahn.«62

Allerdings wird im Gedicht An Georg Trakl eine solche bei Hölderlin in aktiven Verbkonstruktionen heroisierte »Noth« auffällig depotenziert, ja geradezu in ihr Gegenteil verkehrt – bzw. mit den Folgen von Zerstörung (»Schicksalsfortsetzungen«) konfrontiert: »herabgefall’ner Felsblock«, so lautet das Epitheton in Vers 15, und aus den bei Hölderlin auf die Schweizer Alpen bezogenen »Riesen« wird in Walsers Zeilen nun die Trakl-Anrede »verzagter Riese« (V. 17; Herv. S.E.). Die Stelle belegt eindrücklich das poetische Verfahren der Überblendung von Tönen und lyrischen Bildern in Walsers Gedicht: Die Hölderlin’sche Heroisierung der kraftsteigernden »Noth« erfährt in der »Ansprach’« des Gedichts An Georg Trakl durch die dem »Riesen« Trakl zugeschriebene Eigenschaft »verzagt« eine radikale Umwertung. Diese vollzieht allerdings nicht, wie man erwarten könnte, einen Wechsel vom Tragischen zum Komischen bzw. Lächerlichen (wie dies in Walsers Rilke-Gedicht von 1927 zu beobachten ist). Theodor Haecker hatte im Osterheft des Brenner 1928 Trakl als einen Poeten beschrieben, dem – wie George – »in seinem Schöpferischen« der Humor fehle. Aber es sei – anders als bei George – »bei Trakl, ähnlich wie bei Hölderlin ein tragisches Fehlen«: Über die Schule Georges »lacht man, jene sind unserer Tränen sicher«63. Walsers Umwertung hält vielmehr in der Komprimierung des Sprach- und Bildmaterials aus Hölderlin’schen, Trakl’schen und ›eigenen‹ Beständen einen deutlichen Abstand zur Karikatur oder Parodie: Das Adjektiv ›verzagt‹, das in Walsers Werk häufig vorkommt, erhält – substantiviert – auch im Bericht Ludwig von Fickers über das letzte Treffen mit Trakl im Krakauer Garnisonsspital, der im Gedenkbuch abgedruckt wurde, einen besonderen Stellenwert: Nachdem der Dichter Augenzeuge der Kriegsgräuel in Grodek geworden war, so gibt von Ficker Trakls Worte im letzten Gespräch wieder, sei dieser »beim Nachtmahl, im Kreis der Kameraden, plötzlich aufgestanden« und habe erklärt, sich erschießen zu wollen. Der Verstörte, so Ludwig von Ficker, habe ihm schließlich seine »Wahnvorstellung« gestanden, »wegen jenes Vorfalls vor ein Kriegsgericht gestellt und hingerichtet zu 62 F. Hölderlin: Das Schiksaal, S. 147. 63 Haecker, Theodor: »Humor und Satire«, in: Der Brenner, 12. Folge (Ostern 1928), S. 175-204, hier S. 180.

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werden. Verzagtheit, wissen Sie«, so zitiert er ihn, »Äußerung der Mutlosigkeit vor dem Feind – ich muß darauf gefaßt sein«.64 2.2. Die Entwürfe des Gedichts An Georg Trakl im Mikrogramm-Blatt 30 Weitere Motive und Wortkonstruktionen lassen sich als Entlehnungen aus Trakls Gedichten identifizieren. Ein wichtiger Prätext wurde von Kudszus ausgewiesen, der die zweite Fassung von Trakls Gedicht Frühling der Seele65 aus dem Zyklus Sebastian im Traum von 1915 für einen Vergleich heranzieht.66 Er zitiert daraus die Anrede an die »Schwester« in den Versen 17-20: »Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung Des Waldes und Mittag war und groß das Schweigen des Tiers; Weiße unter wilder Eiche, und es blühte silbern der Dorn. Gewaltiges Sterben und die singende Flamme im Herzen.«67

In Walsers Trakl-Gedicht wird aus dieser Ansprache an die »Schwester« (»Weiße unter wilder Eiche«) eine »Ansprach’« an den ›Dichter‹. Die Abfolge »unsäglich seelenvolle, weiche Eiche« (An Georg Trakl, V.14) behält also die Anredeform aus Trakls Frühling der Seele bei – allerdings in Abwandlung des Adressaten. Kudszus geht zurecht davon aus, dass diese Belegstellen gerade im Motiv des

64 L. v. Ficker: Erinnerung an Georg Trakl, S. 156-165, hier S. 159 (Herv. S.E.). – Dieser Bezug ist auch deshalb naheliegend, weil der Bericht Ludwig von Fickers mit einem Zitat seiner Abschiedsworte an Trakl endet, die – ähnlich wie Walsers 18. Gedichtzeile – den Modus des Träumens für diese letzten Worte betont: »›Leben Sie wohl, lieber Freund! Auf baldiges Wiedersehen!‹ sagte ich wie im Traum« (ebd., S. 165; Herv. S.E.). 65 Trakl, Georg: »Frühling der Seele«, in: Walther Killy/Hans Szklenar (Hg.), Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, 2 Bände, Band 1, Salzburg: Otto Müller 1969, S. 146f. 66 Vgl. W. G. Kudszus: An Georg Trakl, S. 278-280. Auch Stiemer erwähnt dieses Gedicht, vgl. H. Stiemer: Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung, S. 232 (Anm. 659). 67 G. Trakl: »Frühling der Seele«, zit. nach W. G. Kudszus: An Georg Trakl, S. 278 [Herv. S.E.].

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Schweigens68 vergleichbar seien. Auffälliger noch scheint aber die Veränderung von »wilder Eiche« (bei Trakl) in das Oxymoron »weiche Eiche« (bei Walser) zu sein, wenn man bedenkt, dass die Wortfolge (»unter wilder Eiche«) in Frühling der Seele die – nahegelegte, biographisch gelesen: inzestuöse – Selbstmetaphorisierung Trakls (›wilde Eiche‹) noch in der Schwebe hält. Durch die Anredeform in Walsers Gedicht An Georg Trakl wird sie vereindeutigt, ist in der Identifikation von »Eiche« und ›Trakl‹ gewissermaßen als eine poetische Disambiguierung zu lesen: Walser überdeckt die in Trakls Frühling der Seele nahegelegte und verrätselte ›Selbstzuschreibung‹ des lyrischen Ichs (›wild‹) durch eine nicht verurteilende, sondern ›ansprechende‹ Zuschreibung an den Dichter (›seelenvoll‹, ›weich‹). Das Mikrogrammblatt 30 weist zwei frühere Fassungen des Gedichts aus: einen sechszeiligen Entwurf und weitere sechs Zeilen, die dem Gedicht angehängt waren, jedoch in die Druckfassung nicht aufgenommen wurden.69 Ein Manuskript des Gedichts ist nach Aussage des Berner Robert Walser-Archivs im Prager Nachlass des Chefredakteurs der Prager Presse, Arne Laurins, nicht überliefert.70

68 W. G. Kudszus: An Georg Trakl, S. 279: »Both passages communicate with realms of silence, Walser’s explicitly with ›unsäglich‹, Trakl’s in the hymnal charge of the line that is preceded by ›das Schweigen des Tiers‹«. 69 Ms. RWZ Bern; MS Mkg. 030, Text 4. Ich danke den Herausgeberinnen und Herausgebern der KWA, insbesondere Christian Walt und Angela Thut, für die vorläufige Entzifferung der Gedicht-Entwürfe des von Jochen Greven auf Mai bis Juni 1927 datierten und bisher unveröffentlichten Mikrogramm-Blatts 30. Die Transkription kann, solange der entsprechende Band noch nicht vorliegt, nur unter Vorbehalt zitiert werden. Bisher wurden die Mikrogramme aus den Jahren 1924/25 gedruckt: Walser, Robert: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte, hg. von Wolfram Groddeck/Barbara von Reibnitz, Band. VI,1: Mikrogramme 1924/25, hg. von Angela Thut/Christian Walt/Wolfram Groddeck, Basel: Stroemfeld und Schwabe 2016. Die schematische Übersicht in Bernhard Echtes sechsbändiger Auswahl-Edition informiert über die Titel und Druckorte der weiteren Texte auf dem Mkg. 30 (diese weisen keine inhaltlichen Bezüge zu Walsers Gedicht auf). Vgl. R. Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Band 6: Mikrogramme aus den Jahren 1925-1932. Gedichte und Dramatische Szenen, hg. von Werner Morlang/Bernhard Echte, im Auftrag des Robert Walser-Archivs der Carl Seelig-Stiftung/Zürich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 751. 70 Der Nachlass befindet sich im Prager Literaturarchiv des Museums des nationalen Schrifttums (Památník národního písemnictví – PNP). Vgl. hierzu L. M. Gisi (Hg.), Robert Walser-Handbuch, S. 360f. – Zum zweistufigen Schreibverfahren Walsers vgl. zuletzt Ch. Walt: Improvisation und Interpretation, S. 15-29.

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Die provisorische Transkription der beiden Mikrogramm-Entwürfe durch die Herausgeber der KWA weisen – bei aller Vorsicht, die der gegenwärtige Stand der Entzifferung erlaubt – aber doch Varianten der Wortfügung »weiche Eiche« auf, die nahelegen, dass die betreffende Formulierung kein Resultat des Zufalls ist. Der sechszeilige Mikrogramm-Entwurf setzt ein mit den Zeilen »Seidenweiche Eichen/ Warum denke ich heute/ an’s […] Geläute/ deiner Verse, die ich liebe, als wären/ sie wie Tänzerinnen, deren/ Leichtigkeiten sich aus schweren […]«. Und auch die letzten – in der Druckfassung der Prager Presse fehlenden – Zeilen des Gedichtentwurfs nehmen das Wort ›weich‹ – nun in adverbialer Verwendung – wieder auf: »viel weicher als es mir gelang/ wollte sich gestalten der Gesang«.71 Deutlicher als im Gedicht der Prager Presse wird in diesen Mikrogramm-Versen, dass die Adjektive ›seidenweich‹ und ›weich‹ nicht allein auf die Person Trakls, sondern auf den Klang der Trakl’schen Verse bezogen sind und dass das lyrische Ich diesen auch für den eigenen ›Gesang‹ in Anspruch nimmt.

71 Stiemer, der diese beiden Verszeilen des Mikrogramms wiedergibt, liest: »viel reifer als es mir gelang« (Herv. S.E.). Plausibler wäre hier allerdings: »weicher«. Dies legt auch die provisorische Transkription nahe. Weitere Parallelstellen – wie etwa im Gedicht Jesus, Unerklärlicher, das im Mai 1925 im Prager Tagblatt erschienen war – können eine solche Lektüre bekräftigen: »Das kreiden-/ weiß angefärbte Leiden,/ und ihn darf sein seiden-/ weiches Mitleid so herrlich kleiden?« Vgl. Walser, Robert: Sämtliche Werke in zwanzig Bänden, Band 13: Die Gedichte (= suhrkamp taschenbuch, Band 1113), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 135 [Herv. S.E.].

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Abbildung 1: Robert Walser, Mikrogramm 030

Quelle: Keystone / Robert Walser-Stiftung Bern Die Forschung konstatiert für Trakls Gedichte eine Dominanz des Klanglichen (vor dem Inhaltlichen). Kemper spricht sogar von einer »Serialisierung als Häufung von miteinander alliterierenden und assonierenden Motiven«72, die sich tendenziell der Referentialisierbarkeit entziehen. Dass auch Walsers Gedichte in die Nähe des klanglich erzeugten Unsinns zu geraten scheinen, hat zweifellos zum schlechten Ruf seiner späten Zeitungslyrik beigetragen. Unter Unsinnsverdacht fallen insbesondere solche Zeilen, die weder intertextuell abzuleiten sind noch sich in die Bildlogik des Gedichts einfügen: Auf die Wortfolge »unsäglich seelenvolle, weiche Eiche, / herabgefall’ner Felsblock« (V. 14f.) folgen im Gedicht An Georg Trakl die Bilder »Schwänzeln/ eines Mäuschens, eines Töchterchens Tänzeln« (V. 15.f). Ein Versuch, diese Zeilen zu verstehen, ist – neben dem Vergleich 72 Kemper, Hans-Georg: »›Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt.‹ Zur magischen Verwandlung von sprachlichem ›Un-Sinn‹ in Traklschen ›Tief-Sinn‹«, in: Károly Csúri (Hg.), Georg Trakl und die literarische Moderne, München: Niemeyer 2009, S. 15.

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mit den Mikrogramm-Entwürfen, die das Wort »Tänzerinnen« enthalten und sich deutlich auf die Verse Trakls beziehen – somit vor allem auf Parallelstellen in Walsers Werk angewiesen: Eine wichtige Spur führt zum Prosastück Rückblick, das als unveröffentlichtes Manuskript in Grevens Walser-Ausgabe aufgenommen und auf 1919 datiert wurde. In ihm findet sich der Satz eines Ich-Erzählers, der von einer schlaraffenartigen Fürsorge durch eine »liebe Frau« berichtet: »Ich kam mir manchmal wie ein seidenfeines weißes Mäuschen vor, das verhätschelt und von weichen Händen liebkost wurde.«73 Es folgen Reflexionen über den Genuss des »langanhaltende[n] Lesen[s]«, das in eine Welt »wie in einem Traum«74 führe. Verschiedentlich wurde auf die poetologische Valenz von Tieren in der Prosa Walsers bzw. auf »Tiere als Reflexionsfiguren des Schreibens«75 hingewiesen. Kirsten Scheffler leitet eine solche poetologische Qualität des »Mäuschen«-Bildes im Prosastück Rückblick aus Briefen Walsers an Verlage (von 1919) ab, in denen er das Projekt eines Miniatur-Buchs unter dem Titel Liebe kleine Schwalbe entworfen hatte und dieses Titel-Tier später dann durch das eines »Mäuschens« zu ersetzen gedachte.76 Dass die Schwalbe im dann schließlich publizierten Prosastück Liebe kleine Schwalbe77 als »Tänzerin«78 bezeichnet wird, stützt diese These, denn die ›papierne Qualität‹ des Tanzes kommt – wie Peter Utz angemerkt hat – in einem Brief von 1927 zum Ausdruck, in dem Walser seine »kleinen Prosastücke […] mit kleinen Tänzerinnen«79 verglich. Auch »eines Töchterchens Tänzeln« (V. 16) könnte in diesem Sinne gedeutet werden, wenn man bedenkt, dass in einem weiteren Mikrogramm der Schreibende als ein »Tanzbegabte[r]« charakterisiert wird, »der sich selbst Vater und Mutter und Bruder und Freund und Freundin ist«80, also jegliche Verwandtschaftsbeziehung aus sich selbst heraus entwirft. 73 Walser, Robert: »Rückblick« (1919), in: R. W., Sämtliche Werke in zwanzig Bänden, Band 16: Träumen. Prosa aus der Bieler Zeit. 1913–1920 (= suhrkamp taschenbuch, Band 1116), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 244-247, hier S. 245 (Herv. S.E.). Zeitgleich erschien ein Gedicht mit dem Titel Mäuschen (1919), in: ebd., Band 13, S. 6163. 74 Ebd., Band 16, S. 246. 75 Vgl. Gisi, Lucas Marco: »Tiere«, in: L. M. G. (Hg.), Robert Walser-Handbuch, S. 321. 76 Vgl. Scheffler, Kirsten: Mikropoetik. Robert Walsers Bieler Prosa. Spuren in ein »Bleistiftgebiet« avant la lettre, Bielefeld: Transcript 2010, S. 183ff. 77 Walser, Robert: »Liebe kleine Schwalbe« [1919], in: Neue Zürcher Zeitung vom 08.06.1919 (Sonntag), S. 1, zit. nach KWA III,3: Drucke in der Neuen Zürcher Zeitung, S. 131-134. 78 Ebd., S. 134. 79 Walser, Robert: Brief, zit. nach P. Utz: Tanz auf den Rändern, S. 450. 80 Zit. nach ebd., S. 448.

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Entsprechend heißt es im Gedicht Mäuschen: »Hatt’st du Brüderchen und Schwestern, Onkel, Tante, Bas’ und Vettern? Warst du etwa gar vermählt?«81 Walser verzichtet in seinem Trakl-Gedicht, vom ›Schwesterchen‹ zu reden, aber gerade diese Ersetzung – der biographisch naheliegenden Geschwisterbeziehung Trakls – durch »Töchterchen« lässt das Ausgesparte nur noch deutlicher hervortreten. In den für die Druckfassung gestrichenen Zeilen des Mikrogramm-Entwurfs taucht auch das Wort »Sünderinnen« auf: »wie bei den Sünderinnen, die vom leisen Wind/ ihres Empfindens schon die Verse vom Kuß […]«. Es ist anzunehmen, dass Walser gerade diese direkte Thematisierung der inzestuösen Schwester-Beziehung Trakls vermeiden und sie vielmehr in den Bereich des Gleichklangs von »Schwänzeln« und »Tänzeln« verwiesen hat. In die Abfolge der vorangehenden Worte »unsäglich seelenvolle, weiche Eiche« (V. 13f.) gehört auch das Adjektiv »blätterreiche«, das bereits Kudszus auf die Poesie bezogen lesen wollte.82 Zu bedenken ist, dass diese Epitheta des angesprochenen toten Dichters nicht nur Huldigungen sind an dessen »Verse, die ich liebe«, wie es im Entwurf des Mikrogramm-Blatts heißt. Auf eine derartige Liebeserklärung an die Poesie Trakls wird im Gedicht vielmehr verzichtet – wohl auch, weil sie sich allzu sehr der Parodie angenähert hätte. 2.3. Zeitungslyrik unter Unsinnsverdacht: Irritationen in der Bildlogik des Gedichts Das Gedicht evoziert zwar den Klang der Trakl’schen Poesie, weist aber zugleich deutliche Brüche auf, die die Bildlogik stören. Stolpern wird man insbesondere über zwei Substantive, die in Trakls Lyrik keinesfalls anzutreffen wären und eher biedermeierliche Behaglichkeit zu suggerieren vermögen: »zu Hause« (V. 2) reimt sich auf »zum Schmause« (V. 4) und die Zeile »Wenn ich Gedichte von dir lese« (V. 23) reimt sich mehr schlecht als recht auf »prächt’ge Chaise« (V. 25). Spätestens in dieser Zusammenschau wird deutlich, dass das Gedicht mit doppeltem Boden arbeitet, auf dem auch Spott gedeiht. Ein hier vorgestelltes originäres Lesen der Verse Trakls scheint durch die Lektüre einer den Dichter überhöhenden Denk- und Dankmalsetzung immer schon überblendet zu sein: durch eine sakralisierende Rezeption, in der die Gedichte des toten Dichters den Status von ›Brod und Wein‹ erhielten. In deutlicher Distanz zu einem solchen Verfahren der Hei-

81 R. Walser: Mäuschen, S. 61f. 82 W. G. Kudszus: An Georg Trakl, S. 279: »There is a consolation in the ›blätterreiche‹ growth of a tree that also recalls the leaves of poetry.«

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ligsprechung nutzt das im Gedicht imaginierte Lesen auch die Mittel der Karikatur, indem es sich mit übertreibendem Gestus einer Trakl-Rezeption annähert, in der die Verse des Dichters »zum Schmause/ gereichen« (V. 3f.) pseudo-liturgisch ritualisiert werden: Dass die Formulierung »Schlucht des Lesens« (V. 10) ebenfalls als Trakl-Reminiszenz nicht in Frage kommt, spricht für diese Beobachtung. In der poetischen Sprache des 18. Jahrhunderts wird ›Schlucht‹ auch als ›Schlund‹ bezeichnet und – so in direkter Konnotation von Schlund und Mund gelesen – lässt die Verszeile bei Walser die Assoziation zu, dass das Lesen gewissermaßen als ›Lese-Schmaus‹ aufzufassen sei.83 Walsers Stilmischung lässt sich auch an der Zeile des Gedichts deutlich machen, die den in der »Ansprach’« formulierten potentiellen Akt des Lesens als Selbstreflexion des lyrischen Ichs ausweist: »Wie mit umschmeichelndem Gewande angetan,/ erschiene ich mir in der Schlucht des Lesens« (V.9f.; Herv. S.E.) – es heißt also nicht, wie man von einem Porträtgedicht erwarten könnte: ›erschienest du mir‹. Der Wechsel des Personalpronomens suggeriert eine imaginierte Identifikation des Lesenden mit dem angesprochenen toten Autor seiner Lektüre. Aber darüber hinaus lässt sich hier eine changierende Bedeutung des Verbs ›erscheinen‹ nicht übersehen, die wiederum als Spur zum Gedenkbuch Erinnerung an Georg Trakl führt, in dem der »Erscheinung« Trakls ein zentraler Stellenwert im Prozess der Genialisierung des Dichters zukommt. Gerade im Rahmen dieser feierlichen Überhöhung des Toten ist zudem an die biblische Herkunft des Wortes ›Erscheinung‹ zu denken: Die betreffende Szene im Lukas-Evangelium (Luk. 24,13-35) markiert das Erscheinen des Herrn vor den Jüngern von Emmaus als Zeichen der Auferstehung und als Initial der Verwandlung. Eine solche erfahren die Jünger dann im Ritual des Erkenntnis stiftenden Abendmahls.84 Im Widmungs- und Porträtgedicht An Georg Trakl wird nun diese Vision an den Akt einer 83 Neben dem Bezugstext Mäuschen gibt es ein – von Greven auf 1930 datiertes – Gedicht (Die abenteuerliche Maus; R. Walser: Sämtliche Werke, Band 13, S. 229), das den Reim von »Maus« und »Schmaus« wieder aufnimmt. Dieses und das Mäuschen-Gedicht wurden von Carl Seelig in seine Sammlung Unbekannte Gedichte integriert. C. Seelig: Robert Walser. Unbekannte Gedichte, S. 43 und 73. 84 Eine interessante Parallelstelle findet sich in Walsers 1919 für die »von Jakob Bührer herausgegebene Serie schweizerischer Autoren« geschriebenen Aufsatz Die Gedichte, der in einer selbstständigen Publikation mit zwei Radierungen und einem Holzschnitt von Gregor Rabinovitch erschienen ist. Carl Seelig hat diesen Text im Nachwort seines Bands Robert Walser. Unbekannte Gedichte auf S. 104 bis 111 abgedruckt. Die entsprechende Stelle (»Einmal stand nachts ein Mann am Weg, den ich für Jesus Christus hielt«) befindet sich auf den Seiten 108ff. Vgl. auch R. Walser: Die Gedichte (II), in: R. W., Sämtliche Werke, Band 16, S. 254-260, hier S. 258ff.

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›Selbst-Erscheinung‹ auf dem Weg der imaginierten Trakl-Lektüre bzw. der Nachrufe auf Trakl gebunden: Auch die im Gedenk-Buch 1926 versammelten Beiträge sprechen formelhaft von der »Erscheinung eines Wesens«85, die sie vor allem aus einer Zeile in Trakls Helian-Gedicht ableiten (»Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel«); eine Zeile, die in Karl Borromäus Heinrichs Beitrag Die Erscheinung Georg Trakls86 für das Gedenkbuch leitmotivisch eingesetzt worden war. Trakl wird bereits in diesem Text als der Unwandelbare stilisiert: »Er war«, so heißt es bei Heinrich, »unweigerlich er, im Sprechen, im Gehen, im Lachen, im Essen und Trinken, in allem; und in allem von unvergleichlichstem Gleichmaß, weil immer der Gleiche, immer er selbst!«87 Heinrich weist zudem auf Trakls »monologische Art zu sprechen« hin; seine Augen hätten nie die ihn »Umgebenden« angesehen, »sondern, selbst bei direkter Ansprache stets irgendwohin in die Ferne«88 geblickt. Das lyrische Ich in Walsers Gedicht ›reflektiert‹ sich nun gerade in dieser Pose einer auf Antwort nicht hoffenden Einbahnkommunikation; und es nimmt auch den Mythos von Trakls Unwandelbarkeit in der Vielfalt wieder auf: »[E]rschiene ich mir in der Schlucht des Lesens,/ in der Beschäft’gung mit der Schönheit deines Wesens,/ das Schwan und Kahn und Garten und der Duft,/ der draushinaufsteigt, ist« (V. 10-13; Herv. S.E.). Das sprechend-lesende Ich überlässt sich zwar dem Gedanken einer konjunktivischen ›Selbst-Erscheinung‹ (durch Lektüre); die Wortwahl macht allerdings deutlich, dass eine Identifikation mit der ontologischen Ästhetik (Trakls) nicht in Frage kommt, sondern dass das lyrische Ich gehörige Distanz wahrt: Die sowohl auf Zeitvertreib als auch auf ernsthafte Auseinandersetzung verweisende prosaische Formulierung »Beschäft’gung mit der Schönheit deines Wesens« (V. 11; Herv. S.E.) deutet dies an. Der Versuch einer Beschreibung des Gesichts oder der Gestalt des Dichters wird in diesem lyrischen Porträt nun allerdings gar nicht erst unternommen. Hingegen thematisiert der im Gedenkbuch abgedruckte Bericht des 1924 gestorbenen Schweizer Schriftstellers Hans Limbach ausdrücklich die äußere Erscheinung des

85 Ficker, Ludwig von: »Nachruf am Grabe« [1925], in: L. v. F.: Erinnerung an Georg Trakl, S. 88. 86 Heinrich, Karl Borromäus: »Die Erscheinung Georg Trakls«, in: L. v. Ficker: Erinnerung an Georg Trakl, S. 83-99, hier S. 91. Der Beitrag wurde für diesen Band geschrieben; ein erster Teil war bereits 1913 – also noch zu Lebzeiten Trakls – im Brenner unter einer längeren Überschrift publiziert worden: K. B. H.: Briefe aus der Abgeschiedenheit II. Die Erscheinung Georg Trakls, in: Der Brenner, 3. Jahr, 2. Halbband (1913), Heft 11, S. 508-516. 87 K. B. Heinrich: Die Erscheinung Georg Trakls, S. 97. 88 K. B. Heinrich: Briefe aus der Abgeschiedenheit II, S. 511f. [Herv. S.E.].

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Dichters.89 Kurz vor seiner ersten Begegnung mit Trakl anlässlich einer Innsbrucker Lesung von Karl Kraus im Januar 1914 habe ihm Ludwig von Ficker – so Limbach – ein »sonderbares Selbstporträt von Trakl« gezeigt, »wie er, aus dem Traume aufspringend, sich nachts einmal im Spiegel gesehen habe: eine bleiche Maske mit drei Löchern: Augen und Mund.« Das von Limbach gesehene Selbstporträt Trakls geht also der Szene voraus, in der dieser wenig später »selber ins Zimmer« getreten sei, und wird nun durch dessen leibhaftigen Anblick bestätigt: »[W]ie eine Maske starrte sein Antlitz; der Mund öffnete sich kaum, wenn er sprach, und unheimlich nur funkelten manchmal die Augen.«90 Über den Umweg dieser Passage rückt nun die zweite ›Störung‹ des Gedichts An Georg Trakl – die sich auf »lese« reimende »Chaise« – ins Visier: »Wenn ich Gedichte von dir lese,/ ist mir, als trüg’ mich eine prächt’ge Chaise.« (V. 23f.; Herv. S.E.).91 Auffällig ist, dass der korrekte Konjunktiv I in der entsprechenden Gedichtzeile doch anders lauten müsste, nämlich: ›als trage mich eine prächt’ge Chaise‹ (V. 24). In der hier auffälligen grammatischen Abweichung entfaltet sich nun aber die doppelte Bedeutung von »trüg’ mich«,92 in der die Verbformen von ›tragen‹ und ›trügen‹ im Sinne von ›täuschen‹ zusammenfallen. Die im Gedicht vorgestellte Trakl-Lektüre erhält damit für die konjunktivische ›Selbst-Erscheinung‹ des lesenden lyrischen Ichs (»erschiene ich mir in der Schlucht des Lesens«; V. 10) eine noch komplexere Bedeutung, denn das Gedicht endet in dieser »als ob«-Konstruktion des Scheins. Diese distanziert sich von einer Identifikation mit der Pracht der Trakl’schen Verse, widersteht der Gefahr des lesenden ›Davongetragenwerdens‹. Walsers Gedicht weist somit den Weg einer verdichtenden Anverwandlung, und ›verdichtend‹ ist hier sowohl im affirmativen Sinn (als poetische Komprimierung) als auch im pejorativen Sinn (als poetische Verzerrung) zu verstehen. Der Gefahr einer distanzlosen Einverleibung der Trakl’schen Verse entgeht dieses lyrische Ich ebenso wie der einer Parodie oder kritischen bzw. satirischen Abwertung. Porträt-Gedichte sind besonders geeignet, beide Möglichkeiten in der 89 Limbach, Hans: »Begegnung mit Georg Trakl«, in: L. v. Ficker: Erinnerung an Georg Trakl, S. 101-109. Zur Frage der Zuverlässigkeit dieser Erinnerung vgl. Zwerschina, Hermann: »›Erinnerungen‹ an Georg Trakl und ›Erinnerungslücken‹. Probleme ihrer Edition«, in: Jochen Golz (Hg.), Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 264-276. 90 H. Limbach: Begegnung mit Georg Trakl, S. 104. 91 Eine »Chaise« – oder auch ein »Chaisli« – ist im Schweizerischen ein einspänniger und gefederter Reisewagen, ein Fuhrwerk, das nicht selten auch (so bei Gotthelf) als »Bernerwägeli« vorkommt. 92 Auf diese Wortambivalenz verweist auch Kudszus. Vgl. W. G. Kudszus: An Georg Trakl, S. 270.

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Schwebe zu halten. In dieser Ambivalenz bilden sie einen Idealfall der feuilletonistischen Gattung, die zwischen Referentialität und Selbstreferentialität zu oszillieren scheint.93 Mehr als andere literarische Formen des Feuilletons ist PorträtLyrik darauf angewiesen, sich quasi-dialogisch zwischen verschiedenen Personen, Texten und Zeiten zu bewegen und zugleich die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte des je Porträtierten in die poetische Reflexion einzubeziehen, die in aller Regel auf Lektüreprozessen beruht. Mehr als andere Formen ›unter dem Strich‹ vollziehen Porträt-Gedichte die Gratwanderung zwischen Literatur und Journalismus, bewegen sich in einem öffentlichen ›Spielraum‹ der Sprache, die äußerste Nähe zu ihrem Gegenstand mit äußerster Distanz verschmelzen und die Vergangenheit, die sie evoziert, als Bild-Destillat der Gegenwart zeigen kann. Eine Zeitung, die wie die Prager Presse Traditionspflege und politischen Traditionsbruch, Rücksicht auf die Leserschaft und aktuelle Staatsraison sowie das publizistische Ziel der Friedenssicherung in Krisenzeiten vertrat, hatte eine Gratwanderung zu vollziehen, die sich auch ›unter dem Strich‹ deutlich zeigt. Erst auf der Grundlage einer komparatistischen Studie zur Geschichte und Poetik des lyrischen Porträts im Feuilleton94 auf einer möglichst breiten Materialbasis wären zuverlässige Aussagen über dessen Funktion und Gattungsmerkmale zu treffen. Walsers Porträt-Gedichte sind in ihrer offensiven Ambivalenz provozierend und für den ›Unterbau‹ journalistischer Berichterstattung geradezu prädestiniert. Weit entfernt von jeglichem Tiefsinn scheinen auch sie von einer irritierenden, aber »unbeirrbaren Oberflächlichkeit«95 zu sein. In dieser zeigt sich das literarische Qualitätssiegel des zeitgenössischen Feuilletonismus.

93 Vgl. H. Kernmayer: Sprachspiel nach besonderen Regeln, S. 523. 94 Vgl. zuletzt hierzu Eickenrodt, Sabine: Dichterporträts, in: L. M. Gisi (Hg.), Robert Walser-Handbuch, S. 317-321. 95 Benjamin, Walter: »Robert Walser« (1929), in: W. B., Gesammelte Schriften, Band 2.1, hg. von Rolf Tiedemann/Herbert Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 324-328, hier S. 327.

Selbstreflexion und Poetik der Kritik und des Feuilletons am Beispiel der Kritiken und Essays Max Herrmann-Neißes S IBYLLE S CHÖNBORN

Wenn schon das Feuilleton als schillernde, hybride Gattung zwischen Literatur, Essay und Reportage eine Randexistenz innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung und literaturwissenschaftlichen Theoriediskussion führt, wie Hildegard Kernmayer ausführlich dargelegt hat,1 so gilt dies in ganz besonderem Maße, ja potenzierter Form für die Sparte der Kritik innerhalb des Feuilletons. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten wird das Genre der Kritik im Kontext der vielen neu entstandenen und entstehenden kritischen Ausgaben überhaupt als eine eigenständige Kleine Form, wenn nicht gar als eigenständige Gattung wahrgenommen. Dazu werden Aspekte ihrer Theorie, Geschichte und Poetik in Ansätzen diskutiert. Max Herrmann-Neiße kann in diesem Zusammenhang als ein typischer Vertreter dieser Sparte des Feuilletons während ihrer Blütezeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstanden werden, wobei seine ausgedehnte kritische Tätigkeit neben seinem ›eigentlichen‹ literarischen Werk bisher kaum wahrgenommen wurde. Denn Max Herrmann-Neiße war nicht nur Autor eines immensen lyrischen Werks, mehrerer Theaterstücke, Erzählungen und dreier Romane, sondern auch wie viele seiner Zeitgenossen in einem ganz erheblichen Umfang als Kritiker, genauer als Literatur-, Theater-, Kabarett-, Zirkus- und Operettenkritiker, tätig. Sein literaturkritisches Werk im Feuilleton der Tagespresse und in literarischen Zeitschriften erstreckt sich so über den langen Zeitraum von 1909 bis 1939. Insgesamt sind ca.

1

Vgl. Kernmayer, Hildegard: »Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (3/2012), S. 509-523.

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neunhundert Kritiken und Essays2 aus seiner Feder nachweisbar. Damit gehört Max Herrmann-Neiße wie Max Brod, Heinrich Mann, Kurt Tucholsky, Siegfried Kracauer und viele andere zu den Autorinnen und Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit eine ebenso große Produktivität im Bereich der Kritik aufweisen. Die Edition der Kritiken und Essays, Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften 1909 – 1939, die zur Zeit am Germanistischen Institut der HeinrichHeine-Universität in Zusammenarbeit mit dem Max-Herrmann-Neiße-Institut entsteht, ist als Hybridausgabe angelegt, wobei die analoge Edition mit einer Förderung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages unter Beteiligung von polnischen und deutschen Wissenschaftlerinnen im Juni 2017 abgeschlossen wird. Die dreibändige Ausgabe wird damit erstmalig insgesamt über neunhundert verstreut in Zeitungen und Zeitschriften publizierte Kritiken und Essays des Autors präsentieren.3 Die digitale Edition soll über die Printausgabe hinaus durch eine weitgehende Tiefenerschließung der Texte über einen Einzelstellenkommentar, eine globale Verschlagwortung sowie Register und Verknüpfungen mit externen Ressourcen (GND, DB, DNB, DLA u.a.) nicht nur Möglichkeiten eröffnen, die Texte in verschiedenen Ansichten zu präsentieren, sondern sie durch detaillierte Such- und Filteroptionen auch weitergehend zu erforschen. Die Edition soll damit einen Bei-

2

Vgl. dazu die am Max Herrmann-Neiße-Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf von der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages geförderte und zurzeit im Entstehen begriffene dreibändige kritische, kommentierte Hybridausgabe seiner Kritiken und Essays.

3

Die Ausgabe ordnet die Texte zunächst chronologisch innerhalb der einzelnen Jahrgänge nach Erscheinungsdatum und Publikationsorganen, da der Entstehungszeitraum ebenso bedeutsam und aufschlussreich für die Entwicklung des kritischen Werks wie der mediale Publikationsort ist. So kann mit dieser Anordnung sichtbar gemacht werden, in welchem Jahr der Autor in welchen Zeitungen/Zeitschriften wie viele und welche Texte publizieren konnte oder wie spezifische Inhalte, Themen, Formen und Stile mit bestimmten Publikationsorten verknüpft sind und wie sich dieses Publikationsverhalten sowohl synchron als auch diachron zu der Produktion seiner Zeitgenossen und Freunde in denselben Organen verhält. Dem kritisch-edierten Text schließen sich im Kommentarteil der Printausgabe der Nachweis der Textgrundlage, die Überlieferungsgeschichte und der kritische Apparat an, der die Korrektur von offensichtlichen Druckfehlern und Konjekturen durch die Herausgeberinnen verzeichnet und in dem Textvarianten im Falle von späteren Drucken dargeboten werden. Ein Personen- und Werkregister schließt die analoge Ausgabe ab.

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trag zur Geschichte der Gattung Kritik und ihrer Sparten (Literatur, Theater, Kabarett, Musik, Kunst) leisten und versteht sich als Pilotprojekt zur weiteren digitalen Erschließung synchroner Produktions- und Rezeptionsprozesse innerhalb des Feuilletons der verschiedenen Tageszeitungen wie der Vernetzung von Autorinnen, Autoren und Publikationsorganen untereinander. Oliver Pfohlmann hat in seiner kenntnisreichen Einführung in die Literaturkritik in der literarischen Moderne4 darauf hingewiesen, dass die Kritik in diesem Zeitraum nicht nur zu einer hochgeachteten, eigenständigen literarischen Gattung avancieren konnte, sondern dass ein Großteil der Autorinnen und Autoren der Zeit das Feuilleton der Tageszeitungen, Zeitschriften und eigens für die Gattung gegründeten Rezensionsorgane regelmäßig belieferte.5 Marie-Claire Méry fasst diese Entwicklung, die zur »Gründung neuer Kulturzeitschriften« führte, wie folgt, zusammen: »Viele Künstler, darunter vorrangig Schriftsteller, widmen sich parallel sowohl ihrem eigentlichen künstlerischen Schaffen als auch der kritischen Tätigkeit: Zugleich als Künstler oder Dichter und als Kritiker zu schreiben ist also eine Gleichung.«6 Auch Max Herrmann-Neißes Kritiken erscheinen bis zu seinem Gang ins Exil unmittelbar nach dem Reichtagsbrand in nahezu allen bedeutenden deutschsprachigen Zeitungen zwischen Berlin, Frankfurt, Breslau und Königsberg. Er beginnt als Theaterkritiker für die Provinzzeitung seiner Heimatstadt, das Neißer Tageblatt, und arbeitet bis zu seiner Übersiedlung nach Berlin im Jahr 1914 intensiv für die Breslauer Zeitung. In Berlin ist er als Kritiker für das Berliner Tageblatt, den Berliner Börsen-Courier, das Kölner Tageblatt, die Frankfurter Zeitung, die Prager Presse, die Zeitschriften des Expressionismus wie Die Erde, Mistral, Sirius, Wiecker Bote, Der Strom, Das Kunstblatt, Zeit-Echo, Die Weißen Blätter und für Die neue Rundschau, Die neue Bücherschau und Die literarische Welt sowie für linksorientierte Blätter wie die Aktion, die Arbeiter-Lite-

4

Pfohlmann, Oliver: »Literaturkritik in der literarischen Moderne«, in: Thomas Anz/Rainer Baasner, Literaturkritik. Geschichte. Theorie. Praxis, München: Beck 2004, S. 94113.

5

Allerdings wertet Pfohlmann dieses Faktum hier in Bezug auf die naturalistische Literaturkritik durchaus auch kritisch: »Literaturkritik wird zur Waffe im Kampf um die Deutungshoheit über naturalistische Wertmaßstäbe, aber auch im sozialdarwinistischen ›Kampf ums Daseins‹ auf dem Literaturmarkt. Publizistisch als Kritiker und Autoren tätig, dient das Rezensieren vielen Naturalisten der Selbstreklame[.]« Ebd., S. 98.

6

Méry, Marie-Claire: »Die Kritik im Ästhetizismus der Jahrhundertwende oder: Der Kritiker als Künstler. Zur Theoriegeschichte eines populären Begriffs«, in: Ulrich Breuer/Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann (Hg.), Der Begriff der Kritik in der Romantik (= Schlegel-Studien, Band 8), Paderborn: Schöningh 2015, S. 269-286, hier: S. 270.

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ratur und Der Pionier tätig. So erscheinen beispielsweise im Jahr 1919 einundvierzig, 1921 siebenundsechzig, 1924 siebzig Kritiken und Rezensionen in fünfzehn verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Dass Max Herrmann-Neiße bis 1933 ganz wesentlich auch als Kritiker gearbeitet hat, kann kaum aus materiellen Gründen zur Absicherung des Lebensunterhalts geschehen sein, wie es Pfohlmann7 ganz allgemein für diese Zeit nachgewiesen hat, sondern ist vielmehr einem Kritikverständnis und einer Wertschätzung der Textsorte als bedeutender und eigenständiger literarischer Gattung geschuldet, die er wie viele seiner Schriftstellerkolleginnen und Kollegen der Zeit als produktive Ergänzung, wenn nicht sogar als Voraussetzung für die eigene literarische Produktion begriffen hat. Dieses Verständnis der Kritik als eigenständiger literarischer Form verdankt sich soziologisch betrachtet einer Zeit, in der literarische Autorschaft und Kritikertätigkeit noch nicht vollständig personal voneinander getrennt sind, sondern vorwiegend in Personalunion von Kritiker-Autoren wahrgenommen werden, wie Stefan Neuhaus8 dargestellt hat. Damit korrespondieren Theorien der Kritik von Alfred Kerr und Siegfried Kracauer bis Walter Benjamin9, die diese im Rückgriff auf ein romantisches Kritikverständnis als eigenständige literarische Gattung begreifen und im Einzelfalle als Metaliteratur oder Literatur zweiter Ordnung im Wert sogar über allen anderen Gattungen ansiedeln.10 Denn erst in der Kritik, die das Werk auf zweiter Stufe 7

Pfohlmann erläutert die materielle Seite der Kritikertätigkeit, wenn er darlegt, dass für Rezensionen ein Zeilenhonorar von 10 bis 15 Pfennigen gezahlt wurde und eine Rezension meist nicht mehr als 50 Zeilen umfassen durfte. Dazu kommt, dass »viele Zeitungsverleger […] die Honorierung mit dem vom Verlag gestellten Rezensionsexemplar für abgegolten« erachteten. Vgl. O. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 105.

8

Vgl. Neuhaus, Stefan: »Dichter als Kritiker: Schiller und Fontane«, in: Sigurd Paul Scheichl (Hg.), Große Literaturkritiker, Innsbruck/Wien/Bozen: Studien Verlag 2010, S. 31. Dort heißt es: »In der frühen Phase der Entwicklung von Literaturkritik, wie wir sie auffassen, also im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, hat sich überhaupt erst der Beruf des Literaturkritikers entwickelt. Die Kritiker waren in erster Linie Schriftsteller, die den Markt beobachteten, den Leser über die Entwicklung der Literatur informieren und oftmals auch programmatisch in die Entwicklung von Literatur eingreifen wollten.«

9

Vgl. dazu: Kaulen, Heinrich: »Nachwort«, in: Walter Benjamin, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Band 13.2: Kritiken und Rezensionen, hg. von H. K., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011, S. 972-1010.

10 Vgl. dazu O. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 100; M.-C. Méry: Die Kritik im Ästhetizismus der Jahrhundertwende, S. 277 und 283 (Méry weist auch sehr deutlich auf die Unterschiede zwischen dem romantischen Begriff der Kritik

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nach- und neuschöpft, kann es für den Moment vollendet bzw. seiner grundsätzlich unerreichbaren Vollendung jeweils ein Stück näher gebracht werden. Oliver Ruf spricht in diesem Zusammenhang von einer »Genialisierung der Kritik«11: »Die Kritik liefert hier nicht einfach Kriterien und Maßstäbe zur Beurteilung der ›Praxis‹, sondern sie vollendet erst das Kunstwerk und wird dabei selbst praktisch und substanziell.«12 In der Forschung besteht Einverständnis13 über die zentralen Merkmale einer »impressionistischen«14 oder »ästhetischen Kritik«15 um die Jahrhundertwende, die in dem Kunstwerkcharakter, der Poetizität, dem Dichterstatus des Kritikers, dem Subjektivismus des kritischen Urteils und ihrem ästhetisch programmatischen Charakter zum Ausdruck komme. So erhebt Alfred Kerr den Kritiker programmatisch zu einem anderen Dichter und Kritik zu einer Form von Dichtung, genauer zur Metadichtung: »Der wahre Kritiker bleibt für mich ein Dichter: ein Gestalter. […] Der Dichter ist ein Konstruktor. Der Kritiker ist ein Konstruktor von Konstruktionen.«16 Max Herrmann-Neiße bezieht seine Vorstellung von literarischer Kritik und sein Selbstverständnis als Kritiker von seinem schlesischen Landsmann und Mentor Alfred Kerr, der im Jahr 1917 in einem einleitenden Essay zu seinen Gesammelten Schriften Kritik mit Oscar Wilde und Heinrich Heine als Kunst, als vierte und herausragende Gattung neben »Epik, Lyrik und Dramatik« und den Kritiker als »nicht unzurechnungsfähigen Dichter«17,

und dem des Ästhetizismus in Bezug auf das Schöpfersubjekt und den absoluten Wahrheitsanspruch der Kritik hin, vgl. ebd., S. 284-286); Wildenhahn, Barbara: Feuilleton zwischen den Kriegen. Die Form der Kritik und ihre Theorie, Paderborn: Fink 2008. 11 Ruf, Oliver: »›Was ist [ästhetische] Kritik?‹. Zur Theoriegeschichte eines populären Begriffs«, in: U. Breuer/A.-St. Tabarasi-Hoffmann (Hg.), Der Begriff der Kritik in der Romantik, S. 305-336, hier: S. 315. 12 Ebd., S. 314. 13 Vgl. dazu Berman, Russell A.: »Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933«, in: Peter Uwe Hohendahl (Hg.), Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980), Stuttgart: Metzler 1985, S. 205-273; Kerschbaumer, Sandra: »Romantische Literaturkritik bei Heine, Hofmannsthal, Kerr und einigen Kritikern der Gegenwart«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 47 (2003), S. 240-265, hier: S. 255; M.-C. Méry: Die Kritik im Ästhetizismus der Jahrhundertwende; O. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne; O. Ruf: »Was ist [ästhetische] Kritik?«. 14 O. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 102. 15 O. Ruf: »Was ist [ästhetische] Kritik?«, S. 305. 16 Kerr, Alfred: Gesammelte Schriften. Welt im Drama, Band 1, Berlin: Fischer 1917, S. 7. 17 A. Kerr, Welt im Drama I, S. 4.

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»Weltenrichter« und »Gesetzesfinder«18, als »exaktesten Anatom« und »Wahrheitssager«19 definiert hatte. Hier sind die drei entscheidenden Funktionen und Aufgaben des Kritikers versammelt, die Kerr mit einer umfassenden, nicht auf die Literatur beschränkten Wertungsaufgabe (Weltenrichter), mit der die Aufgabe der Findung, Formulierung und Vermittlung von Wahrheit (Wahrheitssager) verknüpft ist, und einer konzeptionellen und programmatischen Funktion im Sinne der Entwicklung einer eigenen und neuen Ästhetik (Gesetzesfinder) auf der Grundlage einer genauen Analyse (exaktester Anatom) umreißt. Sandra Kerschbaumer fügt dieser Funktionsbeschreibung der Kritik bei Kerr eine weitere Aufgabe hinzu, die sie als »rekonstruierende Aufgabe«20, d.h. als hermeneutische Arbeit der Rekonstruktion des Bedeutungshorizontes eines Werks beschreibt. Die unverkennbare Beziehung von Kerrs Kritikverständnis zur romantischen Kritik führe nach Kerschbaumer darüber hinaus zu einer »Perspektivierung [der Kritik] durch das schreibende Subjekt«21, die Kerr als Bedingung für die Moderne formuliere und die jedes »Kunsturteil« zu einem »zwangsläufig« »subjektiven« und damit perspektivisch begrenzten mache. Auf die kämpferisch-politische Aufgabe der Kritik bei Kerr, die er mit seiner Parteinahme für alle Marginalisierten vertritt, geht ausschließlich Berman ein, wenn er auf Kerrs Selbstbeschreibung als Kritiker über die König-David-Figur mit Harfe und Schleuder anspielt: »›Es ist das Singen einer Harfe, die eine Schleuder ist; das Klingen einer Schleuder, die zur Harfe wird‹ […]. Daß Kerr sich in dieser bekannten Passage mit dem biblischen König David identifiziert – der mit seiner Schleuder den Riesen der Philister besiegte, und der mit der Harfe die lyrischen Psalmen vortrug – zeugt wieder von seiner gesteigerten Selbstschätzung. Zugleich weist es hin auf den hybriden Charakter der Kritikerauffassung, die Kunst als subjektive Lyrik mit kämpferischer Polemik zu vereinbaren trachtete[.]«22

Kerrs Selbstbeschreibung weist über Bermans Deutung hinaus auf die genuin ›jüdische‹ Position des Kritikers hin, die die eines Sprechens aus der existenziell beglaubigten Position des Paria ist. Max Herrmann-Neißes Kritikertätigkeit muss im Horizont dieses Kritik- und Kritikerverständnisses gelesen werden.

18 Ebd., S. 5. 19 Ebd., S. 6. 20 S. Kerschbaumer: Romantische Literaturkritik bei Heine, Hofmannsthal, Kerr und einigen Kritikern der Gegenwart, S. 255. 21 Ebd., S. 257. 22 R. A. Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933, S. 229.

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Von Max Herrmann-Neiße, dessen Kritiken zu Lebzeiten nicht wie Kerrs in einer Werkausgabe gesammelt erschienen, ist keine explizite Theorie der Literaturkritik überliefert, wohl aber eine implizite, die er am Beispiel seiner Würdigung der gesammelten Literaturkritiken seines Kritikerideals Max Brod entwickelt. Diesem fühlt sich Max Herrmann-Neiße als Autor und Kritiker aufs Engste verbunden, wenn er am Beispiel von Brods Kritikertätigkeit sein Verständnis des Kritikers und zugleich ein Konzept der Kritik entwirft. Im Wesentlichen propagiert Max Herrmann-Neiße eine, wie er es nennt, »positive Kritik«, d.h. eine mit dem Autor oder den darstellenden Künstlern und den Rezipienten »solidarische« Kritik, die aus echter »Begeisterung« und »Leidenschaft« des Kritikers für das Werk, seiner Fähigkeit des »Lieben- und Bewundernkönnens«23 entsteht. Der Bedeutung des »Rezeptionserlebnisses« und »d[er] Wiedergabe von Gefühlen und Assoziationen des Kritikers bei der Lektüre«, die Pfohlmann als Merkmale der »impressionistischen« Kritik ausmacht,24 verpflichtet sich auch Max Herrmann-Neiße mit diesem Text. Die Aufgabe des Kritikers sieht Max Herrmann-Neiße denn auch in einem »Mittlertum« zwischen Dichter und Leser und beschreibt sie darüber hinaus als »demütiges, ergriffenes Zeugnisablegen« über die Wirkung der Lektüre auf den Kritiker und damit über den Wert und die Bedeutung des besprochenen Werks für seinen Leser. Voraussetzung für eine solche verstehende Kritik ist die »Gewissenhaftigkeit eines Kundigen«, denn echte Kritik entsteht aus »innerer Berufung«, die nichts anderes meint als eine »Berufung zum Dichtersein[]«. Der kongeniale Kritiker ist für Max Herrmann-Neiße daher selbst Dichter und seine Kritik ist ganz in dem aus der romantischen Tradition stammenden Kerr’schen Sinne selbst wieder Dichtung. Max Herrmann-Neiße versteht Kritik daher als Bekenntnis zum eigenen Dichtungsverständnis im Werk des Dichterkollegen. Brods Literaturkritik kennzeichnet der Kritiker abschließend als »Dichtung der Zärtlichkeit« und die Publikation seines literaturkritischen Werks als »Liebesbuch«25. Dichten und Kritisieren werden damit als zwei Seiten einer Medaille begriffen: Nur wer auch selbst dichtet, hat die Voraussetzung zur Tätigkeit des Kritikers und umgekehrt; Kritik und Dichtung bedingen und befruchten sich im Idealfalle wechselseitig; Kritik versteht sich als Potenzierung von Dichtung und vice versa. So treiben beide Bereiche der Dichtung wechselseitig ihre Qualität in die Höhe: An der nachschöpfenden, identifikatorischen Lektüre der Dichtung des Kollegen bildet und entwickelt der Dichter seinen eigenen Stil, aus dem eigenen Werk schöpft er dazu 23 Herrmann-Neiße, Max: »Max Brod als Kritiker«, in: Klaus Völker (Hg.), Die neue Entscheidung. Aufsätze und Kritiken, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1988, S. 549-551, hier S. 549. 24 Vgl. O. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 99f. 25 M. Herrmann-Neiße: Max Brod als Kritiker, S. 550.

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seine kritischen Maßstäbe. Kritik ist bei Max Herrmann-Neiße daher, wenn sie gelingt, selbst wieder Literatur, Poesie, kongeniale Nachdichtung des Werks eines Gleichgesinnten und Seelenverwandten. Dies wird etwa in seinen Referenzen an Franz Werfels Einander, Meyrinks Der Golem und Brods Tycho Brahes Weg zu Gott deutlich, Kritiken, die selbst unter Einsatz höchsten künstlerischen Gestaltungswillens entstanden sind und eine eigene Poetizität aufweisen. Stellvertretend für diesen unbedingten Kunstanspruch des Kritikers seien hier nur die einleitenden Sätze seiner Kritik von Brods Tycho Brahes Weg zu Gott aus dem Zeit-Echo von 1916 zitiert: »Menschen wandeln ihren Schicksalsweg, stolpern, stürzen, stehen wieder auf, ducken sich, recken sich hoch, unterliegen und feiern Triumphe, heucheln oder sind wahr, sind wahr, wenn sie heucheln, oder heucheln, wenn sie wahr sind – und die einen erleben dies alles auf eine seltsame Weise noch einmal, indem sie es wissen, und die andern schattenspielen dies alles auf eine noch seltsamere Weise blindtappend – und was ist das Glück?«26

So lautet die große rhetorische, weil nicht zu beantwortende Frage, mit der Max Herrmann-Neiße, alle Register seines poetischen Handwerks27 ziehend, seine emphatische Würdigung des Buches seines geschätzten Dichterkollegen eröffnet. Dass der Autor gerade an Max Brod sein Ideal der Kritik entfaltet, kommt nicht von ungefähr. Vielmehr gehört Brod zu den bevorzugten Autoren seiner dreißigjährigen Kritikertätigkeit, die als Beitrag zur Kanonbildung der Literatur seiner Zeit und alleine über die behandelten Autorinnen und Autoren und Werke auch als Literaturgeschichtsschreibung deutsch-jüdischer Literatur begriffen werden muss. Zu den Autoren, deren Werkentwicklung er nahezu lückenlos kritisch begleitet, gehören Max Brod, Franz Werfel, Carl Sternheim, Leonhard Frank, Albert und Carl Ehrenstein. Darüber hinaus rezensiert er Werke von Franz Kafka, Else Lasker-Schüler, Alfred Polgar, Peter Altenberg, Egon Erwin Kisch, Bruno Frank, Karel Čapek, Lion Feuchtwanger, Arthur Schnitzler, Alfred Wolfenstein, Carl Einstein, Alfred Döblin, Erich Mühsam, Ernst Toller, Ludwig Rubiner sowie Gustav Meyrink, und er verfasst ein längeres, vermutlich zu Lebzeiten nicht publiziertes Porträt über Joseph Roth. So findet man auch bei Max Herrmann-Neiße

26 Herrmann-Neiße, Max: »Max Brod: Tycho Brahes Weg zu Gott«, in: K. Völker (Hg.), Die neue Entscheidung, S. 340-341, hier: S. 340. 27 Vgl. dazu auch O. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 101: »Der quasi-literarische, primär an das Gefühl appellierende Stil vieler Rezensionen, garniert mit seltenen Adjektiven, Neologismen, Metaphern und Vergleichen, hebt den Unterschied von Kritik und Literatur auf«.

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eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, die nicht nur dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallen sind, sondern deren Werke auch dauerhaft aus der deutschen Literaturgeschichte getilgt wurden. Hier wären Namen zu nennen wie Arthur Silbergleit, Julius Levin, Ludwig Lewisohn, Hans Sochaczewer, Otto Soyka, Martin Beradt, Hermann Sinsheimer oder Felix Halpern. Dass sich unter den von Max Herrmann-Neiße literaturkritisch betrachteten Texten überwiegend Werke von deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren befinden, ist kaum verwunderlich, bildet dieser Tatbestand doch nichts anderes als die Normalverteilung des Anteils jüdischer Literaturschaffender an der deutschsprachigen Literatur der Zeit ab.28 Zu den von Max Herrmann-Neiße grundsätzlich favorisierten Autorinnen und Autoren nicht nur der 1920er und frühen 1930er Jahre gehören neben Max Brod Jacob Wassermann, Walter Mehring, Lion Feuchtwanger, Ludwig Strauß, Franz Werfel, Paul Leppin, Karel Čapek, Peter Baum, Gustav Landauer, Irmgard Keun, Joseph Roth, Robert Neumann, Alfred Polgar, Robert Walser, Peter Altenberg und Hans Siemsen. Da grundsätzlich auch andere Faktoren bei der Auswahl, die nicht auf den Rezensenten, sondern auf Verlage und Redaktionen zurückgehen, eine Rolle gespielt haben, weist Max Herrmann-Neiße im Falle der Kleinen Prosa Alfred Polgars explizit auf das Zusammenfallen von Kritikerberuf und persönlichem Lesegenuss hin. Denn diese zieht er entschieden der »Mußlektüre«, dem »von Redaktionen mir aufoktroyierten, unfruchtbaren und lustlosen Lesestoff an Zeitschriften und Durchschnittsromanen« als ›Erholung‹ vor und formuliert seine Hochschätzung für diese »amüsanten, zivilisierten, freien und erfrischenden Aperçudichtungen des Polgarbuchs«29. Alfred Polgar, der Kleinen Prosa und dem Feuilleton kommt im Übrigen nicht von ungefähr in Max Herrmann-Neißes zeit- und kulturkritischem Werk eine zentrale Bedeutung zu. So nimmt er sich als Kritiker der Kleinen Formen im Feuilleton immer wieder an und entwirft nebenbei so etwas wie eine Theorie oder Poetik des Feuilletons als eigenständiger Gattung, zu deren konstitutivem Bestandteil auch die Kritik als Sparte des Feuilletons zählt. Das Feuilleton als ›Kurzdichtung‹ und damit genuin poetische Form schätzt er besonders hoch und bezeichnet es am Beispiel einer Handvoll von Autoren, die er in diesem Zusammenhang immer wieder nennt, nicht nur als Literatur, sondern sogar als Dichtung. Über Alfred Polgar

28 Vgl. dazu auch die grundlegende Untersuchung von Hildegard Kernmayer zum Judentum im Feuilleton: Kernmayer, Hildegard: Judentum im Wiener Feuilleton (18481903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne (= Conditio judaica, Band 24), Tübingen: Niemeyer 1998. 29 Herrmann-Neiße, Max: »Alfred Polgar: Schwarz auf Weiß«, in: K. Völker (Hg.), Die neue Entscheidung, S. 750-752, hier: S. 750.

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schreibt er in einem ausführlichen Porträt anlässlich des Erscheinens seiner gesammelten Feuilletons im Jahr 1926: »Außerdem gehört er zu den paar wirklichen Prosadichtern unsrer Zeit, wobei der Ton auf Dichtern liegt. Ich meine damit Künstler, deren hoher formaler Reife eine menschliche Gefühls- und Gesinnungsmagie entspricht, ein schwer definierbares Mehr von dem, was unsereins als Poesie empfindet, nein, wovon unsereins bestimmt weiß, daß es Poesie ist.«30

Damit zählt er die Kleine Form des Feuilletons wie vorher schon die Kritik zu einer gleichberechtigten, höchsten ästhetischen Maßstäben genügenden Gattung der Literatur. In seinem Polgar-Essay schlägt der Kritiker die Kleine Prosa im Feuilleton sogar der von ihm am höchsten geschätzten Gattung der Lyrik zu, wenn er den ästhetischen Genuss bei der Lektüre dieser seit Baudelaires Petits Poèmes en prose »Prosagedichte«31 genannten Texte als charakteristisches Merkmal benennt: »Aber intimere, zärtlichere Freuden spenden die poetischen Bagatellen, die Minutendichtungen, von denen man hier und da eine pflücken, ihren Reiz auf der Zunge feinschmeckerisch zergehen lassen kann, diese Delikatessen, die sich für lange frisch erhalten und immer wieder eine Zierde der literarischen Tafel bilden. Ich denke an die lyrisch lakonische Prosa von Peter Altenberg, Else Lasker-Schüler, Alfred Kerr, Robert Walser, Alfred Polgar, Kurt Tucholsky, Hans Siemsen.«32

In insgesamt drei Beiträgen zu Alfred Polgar, die zugleich mehr sind als bloße Rezensionen oder Dichterporträts, entwickelt der Kritiker so etwas wie eine Gattungspoetik des Feuilletons, dessen zentrale Kennzeichen er in seiner Nähe zur Lyrik, seiner Poetizität, sprachlichen Virtuosität und künstlerischen Originalität ausmacht. Seine Einzigartigkeit liege wie bei der Lyrik in seiner sprachlich verdichteten Kürze, die es als »Kleinkunst (in des Wortes bester Bedeutung)«33 zu einer ganz großen mache, indem es »im Winzigen die ganze Welt«, im »Stäubchen

30 Herrmann-Neiße, Max: »Alfred Polgar«, in: K. Völker (Hg.), Die neue Entscheidung, S. 267-280, hier: S. 267. 31 Ebd., S. 272 32 M. Herrmann-Neiße: Alfred Polgar: Schwarz auf Weiß, S. 750. 33 Ebd.

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den ganzen Weltentwurf«34, »im Beiläufigen, Belanglosen […] das Wesentliche«35 erfasse. Dahinter verbirgt sich nach Herrmann-Neiße allerdings ein literarisches Programm mit durchaus politischem Anspruch, das zum ästhetischen Genuss, den die Kleine Form wie die Lyrik dem Leser zu bereiten vermag, zugleich eine subtile und weitreichende Kritik an der allen gemeinsamen Gegenwart liefere. Denn die Form des Kleinen enthält bereits das politische Programm der Umkehrung von Hierarchien wie klein/groß, schwach/stark, arm/reich, da sie dem Kleinen, dem Marginalen, allem Randständigen einen Platz einräumt und ihm so »literarisches Asyl«36 bietet. Alle Definitionen des Feuilletons spielen bei Herrmann-Neiße daher mit einem hintergründigen Bescheidenheitsgestus auf das Minoritäre der Gattung an, das gerade ihre Größe ausmacht, wenn er die Kurzprosa im Feuilleton mit vielen unterschiedlichen Namen als »Kleine Lebensbilder«, »poetische Bagatellen«, »Minutendichtungen«, »Kurzdichtungen«37, »Momentaufnahmen«38, »Skizzen«, »Miniaturen« und »lyrische Telegramme«39, eben als »Kleinkunst« bezeichnet. Sein genuin kritisches Potential erhält das Feuilleton aus seiner mehrfachen – thematischen, literarischen und medialen – Position des Ephemeren, weit entfernt von den Zentren der Macht und der Mächtigen. Hier richtet es einen fremden Blick auf das aus der allgemeinen Wahrnehmung Ausgeschlossene, scheinbar Bedeutungslose, indem es die Bewegungsgesetze der Zeit, die Verfassung der Gesellschaft in ihren verborgenen Strukturen, Gesetzen und Regeln zu erkennen vermag: »Im Beiläufigen, Belanglosen wird ebenso das Wesentliche, im sogenannten Kuriosum das volle Maß Tragik oder Lebensbravour entdeckt, wie im großen aufgemachten Gepränge der Haupt- und Staatsaktionen, im allseits gewürdigten Sensationsfaktum die menschliche Schwäche und Banalität. Anmaßung wird zerbröckelt, Berechnung entlarvt, die dumm, dreist, selbstgerecht machende Illusion zerstört, das Kleine des Großen gezeigt und das Große im Kleinen. Die Gefühle und Gedanken, die Dinge und die Meinungen von den Dingen werden ernsthaft zur Verantwortung gezogen, Zagheiten ins Selbstbewußte verzaubert, geblähte Amtswichtigkeiten auf ihr tatsächliches Liliputmaß gebracht. Es ergeben sich voll-

34 M. Herrmann-Neiße: Alfred Polgar, S. 271. 35 Ebd., S. 270. 36 M. Herrmann-Neiße: Alfred Polgar: Schwarz auf Weiß, S. 751. 37 Ebd., S. 750. 38 M. Herrmann-Neiße: Alfred Polgar, S. 272. 39 Herrmann-Neiße, Max: »Peter Altenberg. Neues Altes. (S. Fischer, Berlin)«, in: Breslauer Zeitung vom 30.06.1912, Siebente Beilage der Breslauer Zeitung, Literarische Rundschau, O.S.

192 I SIBYLLE SCHÖNBORN kommene, wie durch eine umgedrehte Lupe haarscharf verkleinerte Schauspiele und Romane, winzige Dichtungen über Natur und Menschengeschick, winzige Attacken, winzige Literaturkritiken und Kunstglossen, und alle schöpfen aus ihrer Winzigkeit durable Kunstkraft, kritische Intensität, äußerste Wahrhaftigkeit.«40

Diese weitreichende Poetik der neuen Gattung und ihrer kulturkritischen Funktion lässt sich auch als Charakteristik seiner eigenen Tätigkeit als Kritiker für das Feuilleton der vielen verschiedenen Tageszeitungen und Zeitschriften der Zeit lesen. Denn Max Herrmann-Neiße definiert das Feuilleton über seinen medialen Ort, seine Position innerhalb der Tagespresse, zu der es ein parasitäres, reflektierendes und kritisch-kommentierendes Verhältnis einnimmt, sodass es zum Korrektiv, zum Richter über die öffentliche Verlautbarung, die offizielle Meinungsbildung der Tagespresse werde. Noch einmal spielt er das Kleine gegen das Große aus, die Kulturkritik des Feuilletons gegen die politische Meinungsmache der Tagespresse: »Auch das ist den Kurzdichtern gemeinsam, daß ihre Tribüne zuerst einmal die Zeitung ist, sie stehen im Tag und dienen ihm doch nicht, sofern man unter ›dienen‹ eine untergeordnete und gewissenlos nach dem Munde redende Funktion versteht. Sie adeln das Journal, dem sie das unverdiente Vertrauen erweisen, es zur Schatzkammer ihres Reichtums zu machen. Sie machen alles, was sonst darin steht, zunichte, sie machen es anständig, rehabilitieren es, oder sie heben es auf, daß es nur noch kläglicher Anhang der Hauptsache, eben dieser Kurzdichtung, ist.«41

Abschließend kann festgehalten werden, dass Max Herrmann-Neiße das Feuilleton über die Poetizität seiner hybriden, »zugleich realistisch[en] und poetisch[en]«42 Erscheinungsform zwischen Journalismus, Reportage, Reflexion, Erzählung, Anekdote und Lyrik definiert und seine Funktion in einer kritischen Beobachtung einer allen zugänglichen und gemeinsamen Gegenwart sieht. Diese poetische Kunstform im Medium Zeitung repräsentieren für ihn jene Autorinnen und Autoren, die er immer wieder in einem Atemzug nennt: Peter Altenberg, Else Lasker-Schüler, Alfred Kerr, Robert Walser, Alfred Polgar, Kurt Tucholsky und Hans Siemsen. Mehrfach stellt er diese im Kontext seiner PolgarEssays als kongeniale Vertreterinnen und Vertreter der Gattung heraus:

40 M. Herrmann-Neiße: Alfred Polgar, S. 269f. 41 Ebd., S. 269. 42 Ebd.

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»Solche Dichter in Prosa sind Altenberg und Kerr und Robert Walser und nun auch Tucholsky und Siemsen. […] Jeder dieser Kurzdichter und Miniaturkünstler ist wirklich eine Persönlichkeit für sich, hat seine eigene, nicht zu verwechselnde Luftschicht um sich, schafft auf seinem eigenen Stern die ihm gemäße Vegetation.«43

Schon 1912 hatte Herrmann-Neiße in der Breslauer Zeitung44 eine Würdigung Peter Altenbergs verfasst, dessen »Dichtung« er in einem »bedeutungsvollen Bezirk« innerhalb seiner Gegenwartsliteratur ansiedelt, um sie zu einem zentralen Bestandteil einer noch zu schreibenden Literaturgeschichte seiner Gegenwart zu erheben. Damit erkennt er in der Kleinen Form des Feuilletons eine typische Erscheinung der poetischen Moderne, deren Beginn Peter Altenbergs Prosagedichte markieren. Den Autor begreift er im Sinne von Schillers ästhetischer Theorie als »›naiven‹ Nervendichter« der Moderne im Gegensatz zu dem »›sentimentalischen‹« Przybyszewski und spart in diesem – seinerseits hoch poetischen – Altenberg-Porträt nicht mit einer Vielzahl von bilderreichen Vergleichen, wenn er ihn als »symmetrischen Jean Paul, einen kondensierten Flaubert, einen stilisierten Ibsen, einen Rilke der Prosa« apostrophiert. Der Feuilletondichter Altenberg wird zur Inkarnation von Herrmann-Neißes Dichterideal, so er als säkularer Heiliger, als »Sankt Franziskus unserer Tage« und »Heiliger der elektrischen Zeit« eine »kindlich-gütige Diesseitigkeit« und eine Vertrautheit mit den kleinsten Dingen in seinen Texten erkennen lässt, die von Menschlichkeit und Moral in einer nachreligiösen Moderne Zeugnis ablegen. Des Weiteren nennt er Altenberg einen »Dandy des milden Herzens«, einen »seelenwunde[n] Dekorateur« und »wirrsälige[n] Märtyrer«, schließlich sogar einen »himmlisch=irdische[n] Prophet[en] und ein[en] königliche[n] Sänger«, den er zum Protagonisten einer neuen »(anti=philologischen) Literaturgeschichte vom neuen Rhythmus« ernennt. Altenbergs Texten gesteht Herrmann-Neiße zugleich aber auch etwas »Kämpferisches, Soziales, Propagandistisches, Fanatisches, Predigendes« zu, das bei den Wiener Literatinnen und Literaten zumeist selten anzutreffen sei und ihn in die Nähe von Karl Kraus rücke. Altenberg und Polgar werden so allen voran, flankiert von Kerr, Tucholsky, Walser und Hessel, zu seinen bevorzugten Feuilletondichtern. Ebenso sprachgewandt wie -kritisch mit Swift’schem Humor, Ironie und vor allem auch Selbstironie werden diese Dichter zu genauen Beobachtern und kritischen Chronisten ihrer Zeit. Zuletzt mahnt Herrmann-Neiße noch einmal im Jahr 1930 in einem Beitrag mit dem Titel Die Vernachlässigten mit einem nun deutlich sachlich-nüchterneren Ton davor, Peter Altenberg als Vertreter der alten Genera-

43 Ebd., S. 268. 44 Vgl. M. Herrmann-Neiße: Peter Altenberg, O. S.

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tion des Feuilletons neben Alfred Kerr aus dem Kanon einer neuen Literaturgeschichtsschreibung der Gegenwart zu verdrängen: »Ich finde, daß man sehr unrecht daran tut, Peter Altenbergs lebensweise, lebenszärtliche Kleinkunst zu vergessen.«45 Franz Hessel würdigt der Kritiker neben Joseph Roth und Kurt Tucholsky als Protagonisten einer neuen Generation und als letzten Vertreter der von ihm entworfenen Tradition von Altenberg und Kerr bis zu Walser und Polgar, der sich mit seinem melancholisch-poetischen Beschreibungsstil der nüchternen Neuen Sachlichkeit verweigere und dennoch eine eigene Sachlichkeit behaupte, da er seine Texte »mit Worten photographiert, so unterhaltsam und wahr zugleich, so in ihrer Dinglichkeit und dem Plus an Rätselhaftem, das alles Irdische hat, daß der Tatbestand ›Sachlichkeit‹ mit geradezu generöser Laune gegeben ist.«46 In Hessel findet Herrmann-Neiße den letzten Repräsentanten des Baudelaire’schen Prosadichters vor, der als Großstadtflaneur wahre Petits Poèmes en prose erschafft, denn »der wahre Lyriker muß spazieren gehen können«. Als einen solchen Spaziergänger in der Großstadt aber hat sich Max Herrmann-Neiße auch selbst verstanden und sich in dem Feuilletonisten, mit dem er die Lebensform der ménage à trois teilte, ein alter ego entworfen. Wie sich am Beispiel von Max Herrmann-Neiße zeigt, muss Kritik als eine eigenständige Gattung im Feuilleton begriffen werden, weil sie sich nicht nur durch eine eigene Poetik und deren immanente Reflexion, sondern auch durch ihre programmatische Poetizität auszeichnet. Als bedeutender, genuiner Bestandteil des Feuilletons erweist sich Kritik aber aus mindestens zwei Gründen: Zum einen tragen die verschiedenen Sparten der Kritik zum Hauptgeschäft des Feuilletons bei, indem sie Kultur auf ihre eigene Weise, nämlich als Beobachtung zweiter Ordnung, kritisch verfolgen und kommentieren, und zum anderen weisen sie mit ihrer Konzentration auf alltägliche Gegenwart der radikalen Subjektivität ihrer Beobachterposition und ihrer hybriden Form zwischen Faktualität und Poetizität47, zwischen Kleiner Prosa, Essay und Reflexion typische Merkmale des Feuilletons auf. Neben den vielen unterschiedlichen Spielarten des literarischen Feuilletons zeichnet sich die Kritik als eine Form der Metareflexion aus, die anstelle der Unmittelbarkeit feuilletonistischer Beschreibungsprosa auf die Reflexion eben dieser Beobachtungsprozesse und deren Poetisierungen setzt. Schließlich folgt auch die Kritik in einem ganz erheblichen Umfang dem feuilletonistischen Prinzip

45 Herrmann-Neiße, Max: »Die Vernachlässigten«, in: K. Völker (Hg.), Die neue Entscheidung, S. 787-788, hier: S. 787. 46 Herrmann-Neiße, Max: »Nachfeier«, in: K. Völker (Hg.), Die neue Entscheidung, S. 765-766, hier: S. 766. 47 Vgl. H. Kernmayer: Sprachspiel nach besonderen Regeln, S. 514ff. u. 523.

P OETIK DER K RITIK BEI M AX H ERRMANN -N EISSE

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der Dialogizität, indem sie zwischen Autorinnen, Autoren und Publikationsorganen ein dichtes Netz von Verweisungszusammenhängen und Korrespondenzen aufspannt.

Ein »leichter und zierlicher Ton«: Emmy Hennings als Literaturkritikerin C HRISTA B AUMBERGER

K RISE DES F EUILLETONS ALS K RISE Z ÄSUREN UM 1900 UND 2000

DER

K RITIK :

»Die Krise des Feuilletons ist eine Krise der Kritik«1, konstatiert 2008 Roman Bucheli, seines Zeichens Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung und langjähriger Beobachter des Feuilletonsystems. Seit den 1990er Jahren haben die Kulturteile in Tages- und Wochenzeitungen ein neues Selbstverständnis entwickelt und sich inhaltlich neu positioniert. Dabei lässt sich gemäß Bucheli eine Ausweitung der feuilletonistischen Zuständigkeiten und Kompetenzen festhalten. Von Zeitfragen über politische Themen oder Wirtschafts- und Wissenschaftsdebatten hin zu Freizeit, Sport und – last but not least – Kultur: Alles kann im Feuilleton abgehandelt werden. An den Rand gedrängt wurde dabei laut Bucheli das eigentliche Kerngeschäft, die Kritik: von der Musik- über die Kunst- bis zur Literaturkritik. Seitdem das Debattenfeuilleton Einzug in den Kulturteil der Zeitungen hielt und diesen gar neu zu erfinden vorgab, droht die Kritik vollends ins Abseits zu geraten. ›Rezensionsfeuilleton‹ heißt seither leicht abschätzig das trockene Brot der Kunstkritik. Sie wird zwar weiterhin auf hohem Niveau betrieben, doch: »Die Selbstprofilierung des Feuilletons vollzieht sich nun vornehmlich über kulturfremde Themen oder künstlich erzeugte Erregungen«2. 1

Bucheli, Roman: »Plädoyer für eine leidenschaftliche Literaturkritik«, in: Viceversa. Jahrbuch der Literaturen der Schweiz 2 (2008), S. 151-154. Für einen Forschungsüberblick über aktuelle Tendenzen der Literaturkritik siehe Kaulen, Heinrich/Gansel, Christina (Hg.), Literaturkritik heute. Tendenzen – Traditionen – Vermittlung, Göttingen: V&R unipress 2015.

2

Ebd.

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Aktueller Anlass für diesen Artikel war die Zeitungskrise, die durch den Zusammenbruch des Werbemarktes für Tageszeitungen nach der Jahrtausendwende ausgelöst wurde und zu einem bedeutsamen Schrumpfungsprozess des Feuilletons führte. 2013 kommt Bucheli erneut auf die Krise der Literaturkritik zu sprechen, legt nun allerdings den Fokus auf die digitale Wende.3 Nicht die wirtschaftliche Krise sieht er am Ursprung des tiefgreifenden Wandels der Medien, sondern die Digitalisierung. Diese stellt laut Bucheli aber nicht zwangsläufig eine Bedrohung dar, sie kann auch eine Chance für eine Neudefinition und Profilierung der Literaturkritik bieten. Denn ihr obliege es weiterhin, eine kritische Öffentlichkeit herzustellen, die ein Buch allein noch nicht garantiere. Kritik und Information gelte es jedoch konsequenter zu trennen. Erforderlich sind, so Bucheli, die »Schärfung des kritischen Urteils, eine intellektuelle Profilierung im Wettbewerb der Meinungen und eine Vertiefung des argumentativen Sachverstandes«4. Differenzierte Literaturkritik, so lässt sich ableiten, basiert auf drei Parametern: Erstens hat sie einem Informationsauftrag nachzukommen, indem sie ein möglichst breites Spektrum an Neuerscheinungen möglichst zeitnah be-spricht; zweitens obliegt ihr die kritische Einordnung der Bücher, wobei die Bewertung zugleich das Besondere eines Werks wie das Allgemeine der Ästhetik zum Ausdruck bringen soll; drittens muss sie kritische Transparenz anhand eines nachvollziehbaren und differenzierten Kriterienkatalogs herstellen. Drei Jahre später stellt Bucheli einen erneuten Profil- und Relevanzverlust der Literaturkritik fest. Frei nach Rainald Goetz’ Diktum »Kunst haut einen um, Kritik bringt einen zum Denken« postuliert er nun eine Literaturkritik, die zum Denken anstiftet. Dabei erinnert er an Walter Benjamins dreizehn Thesen zur Technik des Kritikers, deren zehnte lautet: »Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.«5 Blenden wir von da in die Zeit nach 1900 zurück. Denn was Bucheli als Charakteristika des Feuilletons seit der Jahrtausendwende beschreibt, findet man in der Weimarer Republik bereits weitgehend ausgeprägt. Und auch seine Metakritik des Feuilletonsystems ist keineswegs neu. In der Weimarer Republik häufen sich 3

Vgl. Bucheli, Roman: »Literaturkritik unter Druck. Ein Leben nach dem Papier«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 11.05.2013, siehe https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/ ein-leben-nach-dem-papier-1.18079214

4

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5

Bucheli, Roman: »Literaturkritik. Den Kannibalen fallen die Zähne aus«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 08.10.2016, S. 45. Benjamins »Technik des Kritikers in dreizehn Thesen« findet sich in: Benjamin, Walter: Einbahnstraße, in: W. B., Gesammelte Schriften, Band 4.1, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 83148, hier S. 108.

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die Klagen über das Niveau der Literaturkritik und die kritische Beobachtung der Kritik stimuliert seit jeher die Selbstreflexion der Institution. Aus heutiger Sicht ist allerdings festzuhalten, dass die Literaturkritik zu keiner Zeit vielfältiger und anspruchsvoller war als im Feuilleton der Weimarer Republik. Und nie zuvor waren ihre gesellschaftliche Bedeutung und ihre Wirkung größer.6 Das hängt damit zusammen, dass Presse und Buchproduktion zwischen 1920 und 1930 eine Vielfalt von bislang ungekannten Dimensionen erlangen. Die jährliche Buchproduktion steigt innerhalb von drei Jahren um rund 7000 Titel und erreicht 1927 knapp 25.000 Titel. Und die Zahl der Zeitschriften steigt von 4552 im Jahr 1920 auf 7303 im Jahr 1929.7 Besonders imposant ist die Pressevielfalt in den Metropolen Berlin und Wien: So erscheinen 1928 allein in Berlin rund hundert Tageszeitungen, darunter zehn in fremden Sprachen, etwa hundert Unterhaltungs- und etwa hundert Fachzeitschriften, davon zwanzig fremdsprachige.8 Von vielen Tageszeitungen gibt es mehrere Ausgaben pro Tag, auch Literaturzeitschriften erleben in der Weimarer Republik eine Blütezeit, jede Gruppierung und Bewegung kreiert sich ihr mediales Sprachrohr. Gleichzeitig kommen Illustrierte Zeitschriften auf, die mit neuartigen Ensembles von Text und Bild bestechen und als Unterhaltungsblätter, aber auch in anspruchsvollen Formaten und in der Kombination von literarischen und fotografischen Reportagen eine Marktlücke füllen und großen Absatz finden. Dies führt zur Ausdifferenzierung eines eigentlichen Feuilletonstils, dessen Charakteristika Hildegard Kernmayer als generische Merkmale der Kleinen Form des Feuilletons ausweist.9 Feuilletontexte vermitteln typischerweise den Anschein

6

Vgl. Pfohlmann, Oliver: »Literaturkritik in der Weimarer Republik«, in: Thomas Anz/Rainer Baasner (Hg.), Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis, München: Beck 2004, S. 114-129, hier S. 119.

7

Vgl. ebd., S 116.

8

Diese Zahlen liefert: Scholz, Hans: »Feuilleton über das Feuilleton«, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1974 (1975), S. 103-115, hier S. 107. Vgl. auch die medienökonomische Studie: Melischek, Gabriele/Seethaler, Josef: »Die Berliner und Wiener Tagespresse von der Jahrhundertwende bis 1933. Medienökonomische und politische Aspekte«, in: Kai Kauffmann/Erhard Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin: Weidler 2000, S. 60-80.

9

Vgl. Kernmayer, Hildegard: »Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (3/2012), S. 509-523. Zu Stil und Form des Feuilletons siehe auch: Utz, Peter: »›Sichgehenlassen‹ unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons«, in: K. Kauffmann/E. Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der Kleinen Form, S. 142-162.

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von Mündlichkeit: Gesprächsszenen, Dialoge, auch ›Originaltöne‹, werden eingeflochten, es wird geplaudert und erzählt. Daraus resultieren Formen von Mehrstimmigkeit, Polyphonie und Pluriperspektivität. Die Mündlichkeit erzeugt Nähe zwischen der Erzählinstanz, den Figuren und der Leserschaft, sie ist aber insofern fingiert, als sie gleichzeitig Distanzierungseffekte enthält. Charakteristisch für feuilletonistisches Schreiben ist zudem der hohe Grad an Selbstreflexivität und Selbstreferenzialität. Das Feuilleton ist ein Genre, das sich gerne immer wieder selber zum Thema macht. Literaturkritiken, Buchbesprechungen, Einzel- und Sammelrezensionen machen in der Weimarer Republik einen wichtigen Teil des Feuilletons aus. Immer neue Bücher, Autorinnen und Autoren buhlen um Aufmerksamkeit und die Neugier der Leserschaft muss ständig neu geweckt und aufrechterhalten werden. Literaturkritiken vermitteln zwischen den Büchern, den Autoren und der Leserschaft und tragen so ihren Teil zur »Interessenserregung« bei.10 Als eine der Grundfunktionen des Feuilletons führt die »Interessenserregung« auch zur Ausdifferenzierung und Pluralisierung der literaturkritischen Formen. Die Übergänge zwischen eigentlichen Kritiken und verwandten Textsorten sind fließend: Neben Rezensionen findet man im Feuilleton ebenso Porträts und Erinnerungstexte an Autorinnen und Autoren sowie öffentliche Briefe an Dichterkolleginnen und -kollegen. Gleichzeitig lässt sich eine ›Feuilletonisierung der Kritik‹ feststellen, die sich nicht nur im Stil der Texte, sondern auch in sich wandelnden Auffassungen von den Aufgaben der Kritik spiegelt und insgesamt zu einem Schwinden des Sachbezugs zugunsten des Subjektbezugs führt.11 Exemplarisch sichtbar wird diese Verschiebung erstmals in der ›impressionistischen Literaturkritik‹, die sich um die Wende zum 20. Jahrhundert parallel zu den nach-naturalistischen Literaturströmungen entfaltet. Diese ist durch eine deutliche Subjektivierung und eine Wende nach innen charakterisiert. Die Lektüreerlebnisse der Kritikerinnen und Kritiker, ihre Eindrücke, Assoziationen und Gefühle dominieren gegenüber der Wertung oder einer Wiedergabe von Inhalten.12 Programmatiker dieser neuen Richtung ist

10 Vgl. zu diesem Begriff: Kernmayer, Hildegard/Reibnitz, Barbara von/Schütz, Erhard: »Perspektiven der Feuilletonforschung«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (3/2012), S. 494-508, hier S. 499. 11 Vgl. H. Kernmayer: Sprachspiel nach besonderen Regeln, S. 517 und 519. 12 Vgl. weiterführend: Pfohlmann, Oliver: »Literaturkritik in der literarischen Moderne«, in: Th. Anz/R. Baasner (Hg.), Literaturkritik, S. 94-113; O., P.: »Impressionistische Literaturkritik (1890-1910)«, siehe http://cgi-host.uni-marburg.de/~omanz/forschung/ modul_druckfassung.php?f_mod=Eh03 vom 31.10.2016; zur Problematik der Begriffsbildung und zur Kritik als »Eindruckskunst« um 1900 siehe: Fliedl, Konstanze: »Come

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Hermann Bahr, er schildert den Kritiker als einen »Verwandlungsmenschen«13, da er sich in ganz unterschiedliche Werke einzufühlen habe. Einer der wichtigsten Exponenten dieser Strömung ist Alfred Kerr, er erhebt die Kritik zu einer neuen Form von Kunst und stellt sie als vierte Gattung neben die Epik, Lyrik und Dramatik.14 Leitmaxime seiner Theaterkritiken ist: »Immer wieder horchen; immer wieder feststellen: Welche Gefühle hat man?«15 In seinen Notizen zum Thema Dichtung und Kritik (1930) argumentiert Hermann Hesse ähnlich: Der wahre, berufene Kritiker schreibt nicht nur »gut und lebendig«, sondern zeichnet sich durch »Gnade der Schöpfung« aus.16 Die Persönlichkeit und subjektive Sichtweise des Kritikers, gar seine Leidenschaft komme dabei klar zum Ausdruck. Der Objektivität erteilt Hesse eine deutliche Absage: »Neutralität beim Kritiker ist beinahe immer verdächtig und ein Mangel: ein Mangel nämlich an Leidenschaft im geistigen Erleben.«17 Hesse positioniert sich damit als ein später Vertreter impressionistischer Kritik. Zeitgleich findet in der Weimarer Republik allerdings eine deutliche Abwendung von einer solch subjektiven und subjektzentrierten Literaturkritik statt. Literatur und Kritik sollen nun als Aufklärer und Wegweiser neu legitimiert und als »Instrumente gesellschaftlichen Engagements« funktionalisiert werden.18 Walter Benjamin bringt es so auf den Punkt: »Funktion der Kritik, heute vor allem: Die Maske der ›reinen Kunst‹ zu lüften und zu zeigen, daß es keinen neutralen Boden der Kunst gibt.«19 Ihm wie auch Herbert Ihering zufolge hat der here, good dog. Literaturkritik der Jahrhundertwende«, in: Wendelin Schmidt-Dengler/Nicole Katja Streitler (Hg.), Literaturkritik. Theorie und Praxis, Innsbruck/Wien: Studien-Verlag 1999, S. 57-77. 13 Bahr, Hermann: Die Überwindung des Naturalismus. Als zweite Reihe von »Zur Kritik der Moderne«, Dresden/Leipzig: Pierson 1891, S. 123, zit. n. O. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 100. 14 Vgl. Kerr, Alfred: »Einleitung«, in: A. K., Gesammelte Schriften. Die Welt im Drama, Band 1: Das neue Drama, Berlin: Fischer 1917, S. VI. 15 Kerr, Alfred: »Shakespeare. Zu Richard III«, in: A. K., Gesammelte Schriften, Das Welt im Drama, Band 3: Die Sucher und die Seligen, Berlin: Fischer 1917, S. 304. Allgemein und zu Kerr siehe: Albrecht, Wolfgang: Literaturkritik, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 121ff. 16 Vgl. Hesse, Hermann: Notizen zum Thema Dichtung und Kritik, in: Die Neue Rundschau 31 (1930), Band 2, S. 761-773, hier S. 760 und 764. 17 Ebd., S. 765. 18 Vgl. O. Pfohlmann: Literaturkritik in der Weimarer Republik, S. 114. 19 Benjamin, Walter: »Zur Literaturkritik«, in: W. B., Gesammelte Schriften, Band 6, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 161-184, hier S. 164 [Herv. W.B.].

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Kritiker eine Ordnungsfunktion, er soll auf Wertvolles und Wegweisendes aufmerksam machen. Dazu gehört auch die explizite Hinwendung zur Massenkultur. Die rein ästhetisch orientierte Tageskritik soll durch literatursoziologische Analysen abgelöst werden, so kann sie eine Rolle bei der politischen Meinungsbildung übernehmen und zugleich der Selbstaufklärung der Literatinnen und Literaten dienen. Zwischen den hier skizzierten Polen – einer Kritik, die die Wahrnehmung und das Empfinden des Kritikersubjekts ins Zentrum rückt, und einer sozialkritischen, auf die Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge ausgerichteten Literaturkritik – besteht ein weites Feld unterschiedlicher literaturkritischer Strömungen. Kaum ein Kritiker lässt sich eindeutig einer Richtung zuordnen, viele wechseln im Laufe ihrer Tätigkeit Haltung und Stil.

Z U H ENNINGS ’ F EUILLETONS

UND

L ITERATURKRITIKEN

Hennings ist von 1913 bis zu ihrem Tod 1948 für das Feuilleton diverser Zeitschriften und Zeitungen tätig.20 Erste Gedichte und Prosaskizzen erscheinen in den 1910er Jahren in den Avantgarde-Zeitschriften Die Aktion, Die Schaubühne und Die neue Kunst. Nach der Übersiedlung nach Zürich publiziert sie auch in Schweizer Organen, darunter der anarchistischen Zeitschrift Der Revoluzzer oder in Cabaret Voltaire, der von Hugo Ball herausgegebenen programmatischen Publikation der Zürcher Dada-Bewegung. In den Literaturzeitschriften Die Ähre und Literarische Welt stehen ihre Texte Seite an Seite mit denen von Robert Walser.21 Seit den 1920er Jahren intensiviert Hennings ihre feuilletonistische Tätigkeit:

20 Zur Feuilletonistin Hennings siehe auch: Baumberger, Christa/Behrmann, Nicola: Kritiken, Plaudereien, Reiseschilderungen: Emmy Hennings (1885-1948) im Feuilleton der 1920er und 1930er Jahre, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (3/2012), S. 633634; Baumberger, Christa: »Schöne Aussicht: Emmy Hennings’ Tessinfeuilletons«, in: Stefanie Leuenberger et al. (Hg.), Literatur und Zeitung. Fallstudien zur deutschsprachigen Schweiz von Jeremias Gotthelf bis Dieter Bachmann, Zürich: Chronos 2016, S. 121-138. 21 »Drei Gedichte« von Emmy Hennings und »Zwei Studien« von Robert Walser erscheinen nebeneinander in: Die Ähre (Zürich) vom 25.02.1916, S. 173f. Unter dem Titel »Kleine lyrische Anthologie« bringt die Literarische Welt (Nr. 21/22) vom 21.05.1926 je ein Gedicht von Hermann Hesse (»Betrunkner Dichter«), Robert Walser (»Gedicht auf Paul Verlaine«), Emmy Hennings (»Ich bin so vielfach…«) und Gertrud Aulich (»Junge Lyrik«).

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Während ihrer ausgedehnten Italienreisen verfasst sie zahlreiche Städteporträts und Berichte über ihre Aufenthalte in Rom, Neapel und Sizilien sowie Feuilletons über das Leben, die Landschaft und die Leute im Tessin. In typischer Feuilletonmanier lässt sie als Flaneurin, Wanderin und Spaziergängerin den Blick schweifen, wobei neben der Landschaft auch Kirchenfeste, Messen und Heiligenbildnisse ihre Beachtung finden. Daneben schreibt sie über Alltags- und sogenannte ›Frauenthemen‹ wie Freundschaft, Schönheit, Mode, das Wetter oder den Fremdenverkehr. Hennings’ Feuilletons, ihre Gedichte und Prosatexte erscheinen in den wichtigsten überregionalen Zeitungen wie dem Berliner Tageblatt oder der Neuen Zürcher Zeitung, aber auch in regionalen Blättern wie der Badischen Landeszeitung, der Kölnischen Volkszeitung dem Berner Bund und der Weltwoche. In den 1930er und 1940er Jahren ist sie in der Basler Nationalzeitung präsent, deren Feuilleton für Exilautoren überragende Bedeutung hat. Daneben schreibt sie wie Robert Walser oder Franz Hessel für die Beilage der Frankfurter Zeitung Für die Frau und die Schweizer Frauenzeitschrift Sie und Er. In der literarischen Zeitschrift Wissen und Leben (später Neue Schweizer Rundschau) ist sie ebenso präsent wie in den katholischen Blättern Der Gral, Hochland oder der Luzerner Tageszeitung Vaterland. Hennings ist im Feuilleton der 1920er Jahre zugleich Beiträgerin und rezensierte Autorin: So werden ihre zwei Romane Gefängnis (1919) und Das Brandmal (1920) weitherum besprochen. Neben Artikeln in diversen Wiener und Berliner Tages- und Wochenzeitungen finden sich Rezensionen in der regionalen und überregionalen Presse von Norddeutschland über Böhmen und die Schweiz bis nach Wien. Die Romane werden aber auch in den wichtigsten deutschsprachigen Tagesfeuilletons rezensiert, in der Frankfurter Zeitung, dem Berliner Tageblatt, der Vossischen Zeitung und der Königsberger Hartungschen Zeitung. Und auch bedeutende Literaturzeitschriften wie die Deutsche Rundschau, Die Weltbühne, Die literarische Welt22 besprechen ihre Werke. Neben Richard Huelsenbeck, Ossip 22 Vgl. die Rezensionssammlungen in: Hennings, Emmy: Werke und Briefe. Kommentierte Studienausgabe, Band 1: Gefängnis – Das graue Haus – Das Haus im Schatten, hg. von Christa Baumberger/Nicola Behrmann, Göttingen: Wallstein 2016, S. 457-503 sowie der zugehörige Kommentar: Baumberger, Christa: »›Ich bin gewiss nicht unschuldig.‹ Emmy Hennings und das Gefängnis«, in: ebd., S. 512-560, hier S. 532-536. Außerdem: Hennings, Emmy: Werke und Briefe. Kommentierte Studienausgabe, Band 2: Das Brandmal – Das ewige Lied, hg. von Nicola Behrmann/Christa Baumberger, Göttingen: Wallstein 2017, S. 376-428 sowie der zugehörige Kommentar: Behrmann, Nicola: »Die Straße schreiben. Emmy Hennings’ Das Brandmal und Das ewige Lied«, in: ebd., S. 429-478, hier S. 448-451.

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Kalenter oder Francisca Stoecklin veröffentlicht auch Hermann Hesse mehrere Artikel zu Hennings, darunter einen Brief an eine Dichterin23, mit dem er (vergeblich) einen Neudruck ihres ersten Romans Gefängnis zu erwirken sucht. Hennings schreibt seit den 1920er Jahren auch selber Rezensionen: Im Nachlass sind mehr als achtzig Texte zu Autoren wie Hans Arp, Johannes R. Becher, Paul Claudel, Jeremias Gotthelf, Knut Hamsun, Hermann Hesse, Ernst Jünger, Else Lasker-Schüler oder Max Picard überliefert. Arp, Ball, Becher und Francisca Stoecklin sind (zeitweilig) enge Weggefährten; mit Hesse bleibt sie über den Tod von Ball hinaus in engem Kontakt und sie bespricht fast jede seiner Neuerscheinungen. In den 1930er und 1940er Jahren rezensiert sie hauptsächlich katholische Literatur: religionsgeschichtliche Publikationen von Piero Bianconi etwa oder Heiligenbiografien über Bruder Klaus, Katharina von Siena und Margaretha von Wildensbuch. Zudem beschäftigt sie sich in dieser Zeit schwerpunktmäßig mit ihrer Wahlheimat Tessin. Hennings bespricht Bücher zur Lokalgeschichte, Kirchenkunst und zum Brauchtum des Tessins und vermittelt Kurzprosa von Francesco Chiesa oder Giovanni Laini an ein deutschsprachiges Publikum. Einen weiteren Schwerpunkt bilden in diesen Jahren Märchensammlungen, Literatur von Frauen sowie Kinder- und Jugendliteratur. Von 1945 bis 1948 folgen noch einzelne Erinnerungstexte und Nachrufe auf Sophie Taeuber-Arp, Else LaskerSchüler, Georg Heym und Eleonora Duse.24 Schreiben Dichterinnen und Dichter über Kollegen, so entsteht eine besondere Form von Literaturkritik. Die Artikel sagen ebenso viel über die Kritikerin bzw. den Kritiker wie über das besprochene Buch aus. Meine These ist, dass der fremde Text die eigene künstlerische Selbstreflexion anregt und befördert: In der Auseinandersetzung mit anderen Autoren wird die eigene Poetik geschärft und in den daraus resultierenden literaturkritischen Texten kommen zwei Poetiken miteinander in Berührung. Das von der impressionistischen Literaturkritik monierte hierarchische Gefälle zwischen Kritiker- und Autorschaft wird eingeebnet, denn die zwei Schreibenden begegnen sich im Text auf gleicher Augenhöhe. Die objektive kritische Distanz tritt hingegen in den Hintergrund. Nicht nur geben somit Literaturkritiken von Autoren, so lässt sich die These weiterführen, Auskunft über die 23 Hesse, Hermann: »Brief an eine Dichterin«, in: Vossische Zeitung vom 01.01.1930, Morgen-Ausgabe, S. 31f. Mehrere Wiederabdrucke, darunter: H. H.: »Emmy Ball-Hennings«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 17.01.1935; H. H.: »Brief an eine Dichterin«, in: Berliner Tageblatt vom 12.04.1936, 7. Beiblatt. 24 Vgl. die Artikelsammlung (Typoskripte und Druckbelege) im Nachlass Hennings/Ball, Schweizerisches Literaturarchiv (Bern), HEN A-05; HEN D-03-d-01; HEN D-03-d-02. Drucknachweise bleiben in den meisten Fällen zu erbringen; im Folgenden wird auf die Texte im Nachlass verwiesen.

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jeweiligen Lektüren, sondern das kritische Urteil lässt auch Rückschlüsse zum künstlerischen Selbstverständnis und zur Poetik der jeweiligen Autoren zu. Diese Thesen sollen am Beispiel von Hennings’ Rezensionen und Autorenporträts überprüft werden. Das Interesse dieser Texte gründet darin, dass sich poetologische Äußerungen eingestreut finden. Neben dem Buch und der porträtierten Autorin bzw. dem porträtierten Autor steht in ihren literaturkritischen Texten immer auch sie selber im Zentrum: Im Schreiben über andere erhält die Dichterin Hennings Konturen Ein anschauliches Beispiel ist Emmy Hennings’ Artikel zu Johannes R. Becher, der unter dem Titel Gefangene Dichter25 am 6. Januar 1926 im Berliner Tageblatt erscheint. Becher, zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied des Zentralkomitees der KPD, publiziert Anfang 1926 den Antikriegsroman Levisite oder Der einzig gerechte Krieg. Der Roman ist der »kommenden deutschen sozialen Revolution« gewidmet.26 Er enthält die apokalyptische Vision eines Giftgaskrieges, der zur Zerstörung des kapitalistischen Systems führt und in eine kommunistische Revolution mündet. Das Buch wird kurz nach der Auslieferung verboten und konfisziert; es spielt eine wesentliche Rolle in dem Prozess wegen literarischen Hochverrats, der schon im Juni 1925 gegen Becher eröffnet wurde und im Zuge dessen der Autor im August desselben Jahres für fünf Tage in Untersuchungshaft kam. Das Verfahren wird 1928, nach nationalen und internationalen Protesten, wieder eingestellt. Im selben Jahr wurde Becher Vorsitzender des Bundes proletarischrevolutionärer Schriftsteller.27 Bechers Inhaftierung ist für Hennings in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Auch wenn der Artikel nicht davon spricht, so verbindet die beiden seit den 1910er Jahren eine gemeinsame ›Gefängnis-Geschichte‹, denn zehn Jahre vor Becher war Hennings selbst eine ›Gefangene Dichterin‹: 1914/15 kommt sie zwei Mal in mehrwöchige Untersuchungshaft und muss eine einmonatige Haftstrafe absitzen. Becher bemüht sich mit Erich Mühsam um ihre Freilassung. Die Haft hinterlässt tiefe Spuren in Hennings’ Werk. Die Autorin beschäftigt sich in der Folge fast 25 Hennings, Emmy: »Gefangene Dichter«, in: Berliner Tageblatt vom 06.01.1926, Abendausgabe, S. 3. 26 Vgl. Bechers Einleitung vom 4. August 1925, in: Johannes R. Becher, Gesammelte Werke, Band 10, Berlin/Weimar: Aufbau 1969, S. 9-11, hier S. 11. 27 Zum Roman und den politischen Hintergründen siehe das Nachwort und den Kommentar von Tamara Motyljowa ebd., S. 531-571, insbesondere S. 553f.; sowie: Vollmer, Jörg: »Gift/Gas oder das Phantasma der reinigenden Gewalt. Johannes R. Becher: (CH Cl = CH)3 As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg (1926)«, in: Thomas F. Schneider/Hans Wagener (Hg.), Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, Amsterdam/New York: Rodopi 2003, S. 181-195.

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zwei Jahrzehnte intensiv mit dem Verhältnis von Freiheit und Gefangenschaft, Schuld und Strafe sowie den Praktiken der Strafjustiz und des (ungerechtfertigten) Freiheitsentzugs. Zum Zeitpunkt von Bechers Inhaftierung hat sie bereits zwei ›Gefängnisromane‹ verfasst, ein dritter folgt 1930.28 In ihrer eigenen Prosa richtet sie das Augenmerk auf die Auswirkungen der Haft auf das betroffene Subjekt und blendet den politischen Kontext und die jeweiligen Inhaftierungsgründe weitgehend aus. Dies tut sie auch im Fall von Becher. In völliger Verkehrung der Tatsachen stellt sie ihn in einem Brief an Hesse als apolitischen, träumerischen DichterRevolutionär dar: »Der Dichter Becher ist verhaftet, vermutlich aus politischen Gründen. Ach, du mein Gott, ich kenne Becher so gut; seit Jahren, und er weiss von Politik so wenig, wie das Kätzchen. Er ruft nur Immer Drauf! und Dran! und hin und her! und dann dichtet er schön. […] Wie kann so ein Mensch gefährlich sein? Aber ich trau mich nichts gegen die Verhaftung zu tun. Denn, wenn ich sage, er hat hübsche Glühwürmer im Kopf, ein paar Raketen, meinetwegen Sterne, dann besorge ich, dass er selbst gekränkt ist.«29

Weder in diesem Brief noch im Zeitungsartikel Gefangene Dichter nennt sie die Fakten und politischen Hintergründe von Bechers Inhaftierung. Ganz im Gegenteil: Sie bleibt ganz bei sich. Der erste Satz des Artikels ist ebenso überraschend wie symptomatisch: »Seit einigen Jahren bin ich von einer leisen Trauer befangen, die wohl nie von mir weichen wird.«30 Damit ist der Ton gesetzt: Hennings geht vom eigenen Empfinden aus, ihrer Trauer, die daher rührt, dass es »Gefängnisse in der Welt gibt«31. Darauf zeichnet sie die Vision eines Landes ohne Gefängnisse, von dem sie gelesen hat, an dessen Namen sie sich aber nicht erinnert. Auch die Verbindung zu Becher stellt sie über einen Traum her, in dem plötzlich Bechers Gedichte erklingen. Über den Justizfall erfährt man nichts: keine Fakten, keine Hintergründe zur Untersuchungshaft, sein Buch wird nicht einmal erwähnt. Hennings belässt es beim tänzerischen Umspielen grundlegender Themen wie der Redefreiheit.

28 Abdruck in der Kommentierten Studienausgabe E. Hennings: Werke und Briefe I. Zu den werkbiografischen Hintergründen siehe: Ch. Baumberger: »Ich bin gewiss nicht unschuldig«, S. 512-545. 29 Hennings, Emmy: undatierter Brief an Hermann Hesse, Albori oder Vietri sul mare [Herbst 1925]. Brief im Nachlass Hennings/Ball, HEN B-01-HESSE-01/25. Orthographie und Interpunktion werden hier und im Folgenden unverändert wiedergegeben. 30 E. Hennings: Gefangener Dichter, S. 3. 31 Ebd.

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Es zeigt sich hier ein Argumentationsmuster, das typisch für Hennings’ Feuilletontexte ist: Ihr Zugang zum Thema ist subjektiv, vom ersten Satz an stellt sie einen direkten Bezug zu sich selbst her, sie betont die eigene Unwissenheit und evoziert eine Traumwelt, in der sich die Fakten auflösen. Alles wird ins Ungefähre verschoben, jede Aussage bleibt vage oder wird sofort zurückgenommen. Typische Formeln sind: »Wie, das kann ich nicht sagen« oder »Es scheint so zu sein«32. Dieses diskursive Muster lässt sich ausdifferenzieren, wenn man die Gesamtheit von Hennings’ Kritiken und Autorenporträts in den Blick nimmt. Emmy Hennings’ literaturkritische Texte bewegen sich, wie jegliche Feuilletonistik, im Spannungsverhältnis von Subjektivität und Objektivität. Im Feuilleton der Weimarer Republik entsteht eine neue Form subjektzentrierter Prosa, die unterhalten will, selbst wenn sie »reflektiert, kritisiert, kommentiert, polemisiert oder auch nur informiert«33. Typisch ist dabei die Inszenierung von Subjektivität: Feuilletonistinnen und Feuilletonisten ebenso wie Kritikerinnen und Kritiker inszenieren sich selbst in ihrer Rolle. Das schreibende ›Ich‹ ist allerdings nicht Ausdruck eines stabilen Subjektes, sondern eine Aussagemaske.34 Dem Gestus der Inszenierung scheinen Hennings’ literaturkritische Texte auf den ersten Blick zu widersprechen. Gerade weil ihr Zugang radikal subjektiv und emotional ist, wirken ihre Texte ungebrochen authentisch und geprägt von großer Nähe zu den besprochenen Büchern. Sie lässt sich »begeistern« und »gefangen« nehmen von einem Stoff, einem bestimmten Tonfall oder Stil. Immer wieder findet man Äußerungen folgenden Zuschnitts: »So etwas Liebes und Hübsches wie diese zwölf kleinen, sinnreichen Geschichten aus dem Engadin habe ich seit langem nicht gelesen.«35 Der emphatische Grundton kann sich bis ins Hymnische steigern, so schreibt sie etwa über Jakob Wassermanns Christoph Columbus: »Ich weiß: Für dieses Buch wird meine Begeisterung nicht leicht eine Grenze finden, denn es ist uferlos schön.«36 In Hennings’ Texten dominiert der ungebrochene Ausdruck emotionaler Ergriffenheit und Begeisterung. Es finden sich aber immer wieder Momente der Selbst32 Ebd. 33 H. Kernmayer: Sprachspiel nach besonderen Regeln, S. 515. 34 Utz fasst es als »Oberflächenausdruck des Feuilletonisten, der seine Subjektivität zu Markte tragen muß, wie sie das Medium von ihm verlangt«. P. Utz: »Sichgehenlassen« unter dem Strich, S. 158. 35 Hennings, Emmy: »Neue Schweizer Bücher. ›Das Pulverhorn Abrahams‹. Geschichten aus dem Romanischen von Schimun Vonmoos« [Zürich: Schweizer Spiegel-Verlag 1938]. Artikel im Nachlass Hennings/Ball, HEN A-05-52. 36 Hennings, Emmy: »Der Don Quichote des Ozeans«. Druckbeleg im Nachlass Hennings/Ball, HEN D-03-d-01-a. Mit handschriftlichem Zusatz: »Basler Nachrichten 1930«. Rezension zu Wassermann, Jakob: Christoph Columbus, Berlin: Fischer 1930.

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reflexion, wenn sie etwa über Hermann Hesses Gedichtband Trost der Nacht sagt: »Beinahe nimmt mich dies Buch Hermann Hesses zu sehr gefangen, als dass ich darüber frei aussagen könnte. Es macht mich glücklich und zage.«37 An solchen Stellen manifestiert sich eine bewusst inszenierte Rhetorik der Ergriffenheit. Denn die hier evozierte Bewunderung für den großen Dichter mündet nicht ins andächtige Staunen und Verstummen. Im Gegenteil: Der Gestus der Befangenheit bildet den Auftakt zu einer ausführlichen Beschreibung von Hesses Gedichten. Hennings verlässt sich dabei auf ihre intuitive Meinung, anstelle einer ausgefeilten Argumentation tippt sie an, sie gibt ihre subjektiven Leseeindrücke wieder und illustriert diese mittels Zitaten. Hennings’ Kritiken bestechen nicht durch scharfsinnige Argumentationen und nicht einmal ansatzweise bemüht sie sich um objektive Distanz oder kritische Transparenz. Ihr Zugang ist voller Emphase, geprägt von Leidenschaft und Spontaneität. Damit bewegt sich Hennings ganz im Bereich impressionistischer Kritik, ihr eigenes subjektives Empfinden ist alleiniger Maßstab. Dazu gehört auch, dass Hennings in ihren Artikeln jegliche negative Wertung umgeht, es gibt von ihr keinen einzigen Verriss. Einmal spricht sie diesen Sachverhalt auch ganz direkt an: »Man verzeihe mir, das Kritisieren liegt mir nicht […]. Meine Sache ist, dankbar sein.«38 Der Kommunikationsmodus ihrer Literaturkritiken ist das Lob, in vielerlei Variationen: von der Würdigung über die Empfehlung bis zur hymnischen Begeisterung. Mit der Subjektivität geht eine ständige Relativierung der eigenen Kritikerposition einher: Hennings erhebt ihre Stimme und nimmt sie sofort wieder zurück. Setzen zeitgenössische Kritiker wie Karl Kraus die eigene Wertung absolut und fällen mit schneidender Härte Verdikte, so misst sie ihrem eigenen Urteil bloß bescheidene Relevanz bei. Über Knut Hamsuns Roman Hunger schreibt sie etwa: »Dieses Buch vor Jahren als Erstlingswerk des Dichters erschienen, hat schon so oft Erwähnung gefunden, daß es keines Wortes mehr bedarf. Es geschieht lediglich aus Ueberfluß, daß ich noch einmal auf den Hunger hinweise. Er selbst ist längst durchgesetzt.«39

In der Tat ist der Roman Hunger bereits 1890 in deutscher Übersetzung erschienen und Hamsun, der 1920 den Nobelpreis für Literatur erhält, wird während der Weimarer Republik in Deutschland begeistert rezipiert. Zu seinem 70. Geburtstag 1929 wird er von Schriftstellern und Künstlern wie Thomas Mann, Robert Musil, 37 Hennings, Emmy: »Hermann Hesse: Trost der Nacht« [Berlin: Fischer 1929]. Druckbeleg im Nachlass Hennings/Ball, HEN D-03-d-01-a. 38 Hennings, Emmy: »Hamsuns Hunger«. Druckbeleg im Nachlass Hennings/Ball, HEN D-03-d-01-a. Mit handschriftlichem Zusatz: »Neue Badische Landeszeitung«. 39 Ebd., S. 1.

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Hermann Hesse, Arnold Schönberg oder Stefan Zweig geehrt. Wie ein leise insistierendes ›Surplus‹ schmiegt sich Hennings’ Stimme an Hamsuns Werk und fügt sich in den großen Chor seiner Bewunderer. Man kann diese ostentative Selbstbescheidung als eine weibliche ›captatio benevolentiae‹ auffassen, eine bewusst eingesetzte Rhetorik, mit der Hennings um Aufmerksamkeit wirbt. Das von ihr verwendete Wort »Ueberfluss« ist in seiner Mehrdeutigkeit bedeutsam: Sie erachtet ihre eigene Stimme nicht zwingend als überflüssig oder hinfällig, sondern vielmehr als einen ganz besonderen Luxus. Sie ist sich der Marginalität ihrer Stimme bewusst, doch verstummt sie auch angesichts eines Nobelpreisträgers nicht. Vielmehr gibt sie ihr ein unverkennbares Gepräge. In ihren literaturkritischen Texten beweist sie generell ein feines Gespür für Marginalität und weiß mit Phänomenen des ›Abseitigen‹ produktiv umzugehen. In scheinbar beiläufigen Nebensätzen finden sich grundsätzliche Betrachtungen. So hängt sie bei der Präsentation eines Gedichtbandes noch ein paar allgemeine Reflexionen zur Lyrik an. Wortreich hebt sie hervor, dass die Lyrik als Gattung nur einen abseitigen Nischenplatz besetze und vom Publikum kaum wahrgenommen werde: »Es ist so hübsch, über neue Gedichte zu schreiben, aber ach, so vergeblich. Gedichte und Blumen blühen in unserer materiellen, entgötterten, zerrissenen, notbedrängten Zeit beinahe umsonst. Wer findet Muße, sie zu betrachten?«40

Gerade indem sie betont, wie marginal eine Sache ist, verschafft sie dieser Gehör. Dies ist ein typischer Gestus von Hennings’ Literaturkritiken: Zeitkritik formuliert sie nicht im Ton der Klage oder gar Anklage, sondern sie schmückt ihren Text damit. Anstelle direkter Appelle an die Leserschaft verpackt sie ihre Botschaften in Nebenbemerkungen. Das ›Abseitige‹ äußert sich aber nicht nur als Form indirekter Kommunikation, sondern es ist für Hennings ein Signum der Zeit: »Unsere unruhevolle Epoche selbst hat etwas ›Abseitiges‹ an sich und wird sich einmal nicht leicht in die Geschichte einordnen lassen«41, heißt es zu Carola GiedionWelckers Anthologie der Abseitigen (1946). In diesem Artikel wird Hennings’ Dichterideal sichtbar: sich an den Rändern der Gesellschaft zu bewegen und sich durch eine distanzierte Haltung zu den Zeitläuften auszuzeichnen. In diesem mehrseitigen Artikel nimmt Hennings ein fremdes Werk zum Anlass, um ihr eigenes künstlerisches Selbstverständnis zu formulieren. Doch solche 40 Hennings, Emmy: »Lina Staabs ›Neue Gedichte‹« [München: Bachmair 1931]. Druckbeleg im Nachlass Hennings/Ball, HEN D-03-d-01-a. Mit handschriftlichem Zusatz: »Generalanzeiger Ludwigshafen, 15.9.1931«. 41 Hennings, Emmy: »›Anthologie der Abseitigen‹ von Carola Giedion-Welcker« [BernBümpliz: Benteli 1946]. Druckbeleg im Nachlass Hennings/Ball, HEN A-05-14.

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Metareflexionen sind rar. In den meisten ihrer literaturkritischen Texten beschränkt sich Hennings auf die Vermittlerrolle zwischen Buch und Lesepublikum. Auffällig ist dabei die Nähe zur Leserschaft, sie spricht die Leserinnen und Leser direkt an und empfiehlt Bücher: »Vielleicht sollte ich anführen, zitieren, aber da möchte ich am liebsten alles noch einmal sagen, und das Buch liegt ja vor. Lest!«42 Oder sie wirbt gar explizit für den Kauf: »Dieses von Carigiet allerliebst ausgestattete, schön gedruckte, wohlfeile Werklein sollte sehr dankbar angenommen, viel gekauft und viel verschenkt werden.«43 Direkte Leseranreden schaffen Nähe – Hennings kennt dieses Prinzip und setzt es gezielt ein. Ein weiteres rhetorisches Mittel ist die häufig verwendete Wir-Form. Damit schließt die Kritikerin ihre Leserschaft mit ein, und ihre Stimme erhält größere Verbindlichkeit, da sie im Namen der gesamten Leserschaft zu sprechen scheint. »Interessenserregung« funktioniert, indem das Bekannte aufgerufen und mit Neuem angereichert wird. Präsentiert Hennings Schweizer Bücher, so erübrigen sich lange Inhaltsparaphrasen. Es genügen ein paar Reizwörter, um bekannte Bilder zu evozieren. Die Atmosphäre eines Buches wird mit Landschaftsvergleichen eingefangen: Ein Band mit Bündner Geschichten verströmt etwa die »Würze des Waldes aus einem Tal des Engadins«44. Dies geschieht im Wissen, dass das Engadin als Fremdenverkehrsziel einer breiten Schicht bekannt ist, und das Bild darum für sich allein wirkt. In einer Kurzrezension zu Kurt Guggenheims Riedland (1938) verzichtet Hennings sogar ganz auf Hinweise zum Inhalt. Der Autor ist in den 1930er Jahren so bekannt in der Schweiz, dass ein paar Stichwörter zum Schauplatz und der Schönheit des oberen Zürichsees genügen, um Neugier zu erregen.45 Bei eingängigen Themen wie auch bei komplexeren Stoffen trägt der charakteristische Feuilletonstil zur Vermittlung bei. Denn ein gewichtiges Feuilleton steckt voller ›federleichter‹ Artikel und der Stil bringt die Texte ungeachtet ihrer Inhalte in Schwebelage. Doch wie beim Spitzensport ist der Feuilleton-Stil das Resultat harten Trainings, der »leichte Ton« schwer errungen. Hennings kennt die Erfordernisse des Feuilletons und sie versucht sich daran anzupassen. Das geht manchmal allerdings nur mühevoll, wie sie 1932 festhält:

42 E. Hennings: Hermann Hesse: Trost der Nacht. Vgl. auch: »[D]ieses Buch zu lesen bedeutet ein Fest, das man sich nicht entgehen lassen sollte.« Hennings, Emmy: »Neue Schweizer Bücher. ›Riedland‹ Roman von Kurt Guggenheim« [Zürich: Schweizer Spiegel-Verlag 1938]. Artikel im Nachlass Hennings/Ball, HEN A-05-52. 43 E. Hennings: Neue Schweizer Bücher. »Das Pulverhorn Abrahams«. 44 Ebd. 45 E. Hennings, Neue Schweizer Bücher. »Riedland« Roman von Kurt Guggenheim.

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»[I]ch muss viel für Zeitungen schreiben. Aber es braucht einen gewissen leichten zierlichen Ton, der mir nicht immer zur Verfügung steht. Am leichtesten kann ichs, wenn ich auf Reisen bin und Eindrücke sammle, aber das ist wiederum anstrengend und man wird ja nicht jünger.«46

Anders als bei ihren Feuilletons, bei denen sie das Thema selber suchen muss, wirkt bei ihren Kritiken oftmals bereits die Auswahl der Bücher unterstützend. Hennings’ Besprechungen fügen sich auch deshalb so passgenau ins Feuilleton der Zeit, weil sie seit den 1930er Jahren häufig Bücher rezensiert, die selbst in einem »zierlichen Ton« verfasst sind: Märchensammlungen, Heimaterzählungen und christliche Erbauungsliteratur. Mit den Erfordernissen des Feuilletons vertraut, hebt sie den »behaglichen Plauderton« dieser Werke hervor und lobt die »warme Sprache«, den »gütigen Humor«, die »lächelnden Drollerien«47 oder die »kostbare Auswahl«48 eines Gedichtbandes. Auch die Materialität der Bücher wird mit ›zierlichen‹ Epitheta bedacht, sie sind »allerliebst ausgestattet« oder »schön gedruckt«49. Bei der Ausgabe von Gotthelfs Die schwarze Spinne lobt sie die »vornehme und doch nicht prunkende Ausstattung«, die »schöne typographische Gestaltung« und die »vorbildlich gute Reproduktion der Zeichnungen«50. Hennings erweist sich als bibliophile Genießerin, die sich an der Aufmachung eines Buches zu erfreuen weiß. Auch damit stellt sie sich in die Traditionslinie impressionistischer Literaturkritik, die nicht nur die formal-ästhetischen Qualitäten eines Textes beachtet, sondern besonderes Augenmerk auf die Materialität des Buches richtet, vom Einband, über den Schriftsatz bis zu den Illustrationen.51 Gleichzeitig ist Hennings aber auch mit den Erfordernissen des Mediums Zeitung vertraut. Dieses zeichnet sich durch Punktualität und Dispersität aus. Vor allem Letzteres kommt ihr entgegen. Denn sie hat eine Vorliebe für das Unfeste, die Vagabondage – nicht nur in der eigenen Lebensgestaltung, sondern auch in literarischen Belangen. Ihr Ideal ist nicht der in einer gebundenen Gesamtausgabe gesicherte, gut sortierte und fundiert kommentierte Text. Sie favorisiert vielmehr die endlose Zirkulation von Einzeltexten in ständig changierenden Variationen. 46 Hennings, Emmy: Brief an Maria Hildebrand vom 18. Januar 1932. Brief im Nachlass von Hennings/Ball, HEN B-01-HILD-02/01. 47 Alle Zitate aus: E. Hennings: Neue Schweizer Bücher. »Das Pulverhorn Abrahams«. 48 E. Hennings, Hermmann Hesse: Trost der Nacht. 49 E. Hennings: Neue Schweizer Bücher. »Das Pulverhorn Abrahams«. 50 Hennings, Emmy: »Jeremias Gotthelf Die schwarze Spinne. Zeichnungen von Gunter Böhmer« [Zürich: Fretz und Wasmuth 1942]. Artikel im Nachlass Hennings/Ball, HEN A-05-15. 51 Vgl. O. Pfohlmann: Impressionistische Literaturkritik (1890-1910).

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Ihre eigenen Gedichte tippt Hennings in den 1910er Jahren in immer neuen Variationen auf Durchschlagpapier, das sie zu kleinen Heften faltet und im Cabaret Voltaire für wenige Rappen verkauft.52 Diese Praxis findet Jahrzehnte später ein Echo in ihren Buchbesprechungen. Sie nimmt Gedichtbände und Anthologien als Sammelwerke vieler kleiner Einzeltexte in den Blick; manchmal bedauert sie gar, dass diese nun sortiert und gebündelt vorliegen. Die Gesammelten Gedichte von Hermann Hesse kommentiert sie: »Es hat mir von jeher recht gut gefallen, dass die Gedichte Hermann Hesses zerstreut in vielen Verlagen, in entzückenden Bändchen, in Zeitschriften und Zeitungen, in rührenden, reizenden Sammlungen, sogar in Privatdrucken, kurzum, ein wenig überall anzutreffen waren […]. Vielleicht wollten die Gedichte selbst vagabondieren, überall daheim sein, von Tausenden geliebt und Tausende beglückend.«53

Das Medium Zeitung zieht Hennings auch deshalb dem Buch vor, weil es sich durch seine weite Verbreitung ebenso wie durch seine Flüchtigkeit auszeichnet. Zeitungstexte überdauern kaum den Tag, an dem sie erschienen sind; sie sind volatil, doch sind sie auch beweglicher als die stillgelegten, gleichsam statischen Texte zwischen zwei Buchdeckeln. Feuilletontexten und losen Gedichten ist das Vermögen zur Zirkulation inhärent, man kann sie leichter teilen und weitergeben. Hennings beschreibt die literarische Vagabondage sogar als eigentliches Wesen der Lyrik und rückt sie in die Nähe des Volkslieds: »So sind die Gedichte, dass sie sich gleich dem Volksliede von Mund zu Mund, von Seele zu Seele verbreiten würden und auch auf diese Weise nie verloren gehen könnten.«54 Hier zeichnet sich ab, dass Hennings oralen Überlieferungsformen den Vorrang gegenüber der Schrift gibt. Die mündliche Tradierung ist ihrer Ansicht nach nicht nur sicherer, sondern die Texte bleiben so auch lebendiger, während sie, aufgehoben in Büchern, gleichsam erstarren. Einer solchen Festlegung durch die Schrift versucht sie mit verschiedenen literarischen Mitteln entgegenzuwirken. Das auffälligste ist die Poetisierung von Fakten. Ungeachtet der Anstrengung wird alles zum ›Märchen‹, wenn Hennings zur Schreibmaschine greift. Fakten verwan-

52 Vgl. das »rote Heft« im Kunsthaus Zürich, Dada-Sammlung, Dada II:01. 53 Hennings, Emmy: »Zur Gesamtausgabe von Hermann Hesses Gedichten« [Zürich: Fretz und Wasmuth 1942]. Artikel im Nachlass Hennings/Ball, HEN A-05-20, S. 1. 54 Ebd. Im selben Artikel zu Hesse heißt es: »Menschen aus verschiedenen Kreisen kenne ich, denen es Freude machte, Gedichte aus Zeitungen zu sammeln, nochmals schön abzuschreiben, oder gar auf edlem Papier einzeln drucken zu lassen, um sie als Kostbarkeit an Freunde weiterzuverschenken.«

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deln sich in Ungefähres, die Realität transformiert sich in einen unendlichen Möglichkeitsraum. Hennings setzt in ihrem kritischen Schreiben einen Fiktionalisierungsprozess aktiv in Gang. Dieser ist umso fundamentaler, als sie nicht bei den Büchern, sondern bei den Autoren selbst ansetzt. Diese werden zu Figuren und ihr Leben verwandelt sich in ein »Märchen«. Am deutlichsten wird dies in einem Nachruf auf die 1945 verstorbene Else Lasker-Schüler: »Else Lasker-Schüler, die Dichterin, stammte zwar aus Elberfeld, aber sie passte wenig in die Fabrikstadt, denn sie war wie ein Traum aus dem Orient, und schon als Kind mutete sie an wie das Mädchen von nirgend her.«55

Wie zwanzig Jahre zuvor Becher entrückt sie Lasker-Schüler in diesem Nachruf in eine Traumsphäre. Sie schildert Erinnerungen an Kindertage, darunter LaskerSchülers Sehnsucht nach Schönheit, die sich auch bei deren späteren Auftritten als Liedsängerin geäußert habe. Dabei überblenden sich die Person und die vorgetragenen Lieder, Lasker-Schüler wird zur Verkörperung von Kunst, zu einer Kunstfigur: »Sie war selbst, was sie vortrug, ein versunkenes Liebeslied, eine hebräische Ballade«56. Ähnlich verfährt Hennings in einem Artikel zu Hans Arp: Nicht nur die märchenhaft-versponnenen Züge seines künstlerischen Werkes und Arps Dichtung als ein »Werben um Traum« werden hervorgehoben, sondern er selbst wird als ein träumendes Kind beschrieben: »Ein Kind spielt und spricht geheimnisvoll, lebt versponnen in seinem Zauberkreis, gebannt durch die Magie seines verwunschenen Seins.«57 Es äußert sich hier erneut Hennings’ Dichterideal: Zeitenthoben schöpfe der Dichter aus der Unbefangenheit, der »Kinderharmonie«, einem »sorglosen Grunde«. Leises Staunen ergreife ihn über das eigene »Verwandeltsein« und Verwunderung angesichts der »naiven Strophen«, die wie von selbst aus ihm strömten, ohne dass es Arbeit kosten würde. Seine Augen blickten in die Welt, als sähen sie alles immer wieder zum ersten Mal. Am Beispiel Arps entwickelt Hennings eine Apotheose der Seinsweise des Kindes, das in seinem »paradiesische[n] Land«, »in seiner Reinheit Tiefe und Grund das Leben ahnend« ausspreche.58 Der

55 Ball-Hennings, Emmy: »Erinnerung an Else Lasker-Schüler« [ca. 1948]. Druckbeleg im Nachlass Hennings/Ball, HEN E-02-D-01-b. 56 Ebd. 57 Dieses und die folgenden Zitate in: Hennings, Emmy: »Hans Arp: Holzschnitte und Gedichte«. Typoskript im Nachlass Hennings/Ball, HEN A-05-01. 58 Vgl. ebd.

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Dichter hat aber Hennings zufolge auch ein Sendungsbewusstsein: Er sei »Anwalt der Seele« und Botschafter der Liebe und künde vom Licht und Dasein der Seele.59 Ein weiterer von Hennings gern verwendeter Topos ist die Herkunftslosigkeit. Die von ihr bewunderten Autorinnen und Autoren sind heimatlos, sie haben weder Wurzeln noch eine fassbare Identität. Am deutlichsten tritt dies im Artikel zu Hamsun zutage: »Man sagt, daß Hamsun Bücher schreibe. Ich kann es mir nicht denken. Niemand hat Hamsun gesehen, ich habe mich genug danach erkundigt. Er soll aus Norwegen stammen. Das sagt sich so leicht. Aus Norwegen kommen die seltsamsten Sagen. Es kann sein, daß Hamsun das Wetterleuchten über dem offenen Meer ist, oder das Abendgold hinter weißen Firnen. Man bedenke, nach Norwegen kann vielleicht die Mitternachtssonne ihre Strahlen werfen, wie eine weiße Ahnung. Und einer wird davon überfallen. Mensch und Naturspiel! Hamsun kann doch nicht aus Norwegen sein, nicht nur aus Norwegen, er stammt auch aus unserem Lande, dem Land voll Lieb und Leben. Haben nicht gerade wir den ›Hunger‹ begriffen, an ihn geglaubt?«60

Die historische Person Hamsun verschwindet hinter seinen Romanen, er wird zu einer sagenumwobenen Gestalt aus einem Land, das reich an Sagen und Mythen ist. Was bleibt, ist das Buch, und dieses hat sich längst von seinem Entstehungskontext und seinem Autor gelöst. Der fiktionale Text übersteigt die Fakten.

H ENNINGS ALS » IMPRESSIONISTISCHE L ITERATURKRITIKERIN « Kommen wir zum Schluss noch einmal auf Buchelis Metakritik und die von ihm postulierten drei Faktoren einer differenzierten Literaturkritik zurück: Schärfung des kritischen Urteils, intellektuelle Profilierung im Wettbewerb der Meinungen und Vertiefung des argumentativen Sachverstandes. Misst man Hennings’ Kritiken an diesen Kriterien, so sind sie allesamt misslungen. Denn ihre Stärke ist keinesfalls die intellektuelle Durchdringung eines fremden Stoffes und dessen Bewertung. Anstelle einer klaren Meinungsäußerung hält sie mit Kritik zurück, Polemik ist ihr fremd. Ihre Meinung äußert sie, wenn überhaupt, dann mittels ziselierter Vergleiche. Ihre Texte schmiegen sich an die besprochenen Bücher und sie schmeicheln sich als Empfehlungen ins Ohr der Leserschaft. Damit – und mit ihrer

59 Vgl. E. Hennings: Zur Gesamtausgabe von Hermann Hesses Gedichten, S. 2. 60 E. Hennings: Hamsuns Hunger, S. 1.

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radikal subjektiven Herangehensweise an Literatur – bewegt sich Hennings in der Traditionslinie impressionistischer Kritik. Interessant sind ihre Texte, weil sie sich so geschmeidig ins Feuilletonsystem der Zeit einfügen. Sie übernehmen den im Feuilleton geforderten Ton und Duktus, spielen mit den rhetorischen Mitteln und Inhalten. Dieses Spiel ist keineswegs naiv, sondern wohl durchdacht, das zeigen Hennings’ Äußerungen zum Zeitungssystem. Sie bedient sich bewusst einer Aussagemaske. Und sie treibt die Regeln dieses Feuilletonspiels bis an seine Ränder, indem sie die Fakten ein ums andere Mal weit in die Fiktion hinein biegt. Hennings praktiziert in ihren Kritiken mit Verve, was der Theaterkritiker Julius Bab abfällig als »Dichtung aus zweiter Hand, ein Dichten über Dichter«61 taxiert. Ihre Kritiken sind selbst poetische Texte, im eigenen Selbstverständnis sieht sie sich auch nicht primär als Kritikerin, sondern als Dichterin. Ihre Kritiken offenbaren nicht nur Hennings’ weit gefächertes literarisches Netzwerk, sondern aus den Texten zu Arp, Hamsun, Lasker-Schüler oder Becher lässt sich ein Dichter-Bild und eine dichterische Existenzweise ablesen, der sie selbst verpflichtet ist. In diesen Artikeln erhält die Dichterin Emmy Hennings poetische Konturen.

61 Julius Bab in: Die Schaubühne 2 (1906), S. 586, zit. nach O. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 102.

Vom Schreiben, Tanzen, Musizieren – Vicki Baums feuilletonistische Betrachtungen künstlerischer Ausdrucksformen V ERONIKA H OFENEDER

Mit Romanbestsellern wie Menschen im Hotel, Hotel Shanghai oder Liebe und Tod auf Bali schrieb sich die als Weimarer Superfrau und Zugpferd von Verlagsgiganten wie Ullstein oder Doubleday massenmedial perfekt vermarktete Vicki Baum (1888–1960) in die Herzen ihrer Leserinnen und Leser sowie die internationalen Literaturcharts. Die gefeierte Starautorin hat jedoch nicht nur ein gleichermaßen umfang- wie erfolgreiches Romanwerk vorzuweisen, das sie nach ihrer Emigration in die USA auch souverän auf Englisch verfasste, neben Dramen und Novellen zählen insbesondere zahlreiche feuilletonistische Texte zu ihrem schriftstellerischen Werk. Baum verstand sich zeitlebens bestens darauf, aktuelle Trends zu erkennen und symptomatische Zeitphänomene literarisch zu verarbeiten, so hat sie auch Alfred Polgars programmatisches Plädoyer für »die kleine Form« verinnerlicht, die »der Spannung und dem Bedürfnis der Zeit gemäß [sei], gemäßer jedenfalls, als […] geschriebene Wolkenkratzer«1 es seien. Der von Polgar in seinem Prosaband Orchester von oben eingemahnten »episodische[n] Kürze«2, also seinem Gebot, in schriftstellerischen Erzeugnissen die »kürzeste Linie von Punkt zu Punkt«3 zu suchen, kommt Baum in über 160 Kurztexten nach. Auch in dieser Gattung gelingt es ihr, sich den wandelnden Produktions- und Publikationsbedin-

1

Polgar, Alfred: »Die kleine Form (quasi ein Vorwort)«, in: A. P., Orchester von oben,

2

Ebd., S. 11f.

3

Ebd., S. 13.

Berlin: Rowohlt 1926, S. 9-13, hier S. 11.

218 I V ERONIKA H OFENEDER gungen anzupassen, ab den späten 1920er Jahren schreibt sie auch für den amerikanischen Zeitschriftenmarkt – natürlich auf Englisch – und erweitert ihr Themenspektrum für das amerikanische Lesepublikum. Baum waren Polgars Feuilletons und dessen flammendes Eintreten für die kleine Literaturgattung der »fliehenden Stunde«4 nachweislich bekannt, in ihrer Eigenschaft als Redakteurin der Modeillustrierten Die Dame rezensierte Baum den Prosaband Orchester von oben in deren Literaturbeilage. Polgars Texte vergleicht sie hier mit sehr nahrhaften, lange eingekochten »Krankensuppen« aus »ururalten Kochbüchern«5: Polgar presse »ein Leben aus – das leidensvolle von allen Erkenntnissen, Skeptizismen und Resignationen des Geistigen beschwerte Leben – und er [presse] einen Fingerhut voll essentieller Ergebnisse daraus«6. Dabei bewahre er aber eine Leichtigkeit und (sprachliche) Geschicklichkeit, die es mit der Kunstfertigkeit eines Jongleurs aufnehmen könnten: »Er jongliert mit den Dingen der Welt und der Seele, er jongliert mit Worten und Begriffen, alles steht am Kopf, fliegt davon, kehrt zurück und kommt in Ordnung. Es gibt keine Schwerkraft mehr.«7 Im ebenfalls in der Dame veröffentlichten Text Vergessenes Parfüm greift Baum das Thema der kleinen Form auf und verhandelt es im Kontext einer konkret zu schreibenden Erzählung, der Text trägt dann auch den bezeichnenden Untertitel Eine ungeschriebene Novelle. In der Rahmenerzählung ringt ein Schriftsteller um die passende Form einer Geschichte über einen jungen Mann und dessen Suche nach einer geheimnisvollen Frau mit einem ganz speziellen Duft: »Mit den Einfällen geht es wie mit den Kindern: wenn man sie kriegt, sind sie bezaubernd, aber bis man sie großgezogen hat, sehen sie aus wie jedermann, nämlich gar nicht sehr schön. […] Ja, wenn man das festhalten könnte, dieses ganz Flüchtige, dieses Fliehende, Unausdrückbare, das, was einem so durch den Kopf geht, wie ein Stück vergessener Melodie, oder wie ein Parfüm, das voll ist mit Erinnerungen und Assoziationen – wenn man das so erzählen könnte, ohne die Qual der Formung und ohne daß es auf dem Weg vom Kopf zum Papier den Duft verliert –«8

4

Ebd., S. 13.

5

B.,V. [d.i. Baum, Vicki]: »Alfred Polgar: ›Orchester von oben‹«, in: Die Dame 54 (1927), Nummer 8, Erstes Januarheft, Beilage: Die losen Blätter, S. 127.

6

Ebd.

7

Ebd.

8

Baum, Vicki: »Vergessenes Parfüm. Eine ungeschriebene Novelle«, in: Die Dame 57 (1929), Nummer 23, Erstes Augustheft, S. 15f., 30, 32, 34, 36 und 38, hier S. 15.

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Die Novelle, die der Schriftsteller zu schreiben im Begriff ist, thematisiert nicht nur einen starken Sinneseindruck, in der Rahmenerzählung wird auch als Auslöser für die schriftstellerische Produktion ein olfaktorischer Reiz genannt, nämlich das parfümierte Taschentuch der Gesprächspartnerin des Dichters: »›Aus?‹ fragte die hübsche Frau, bei der der Dichter jeden Mittwoch den Tee trank. ›Aus‹, sagte der Dichter und legte das parfümierte Taschentuch der hübschen Frau, das er bisher in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch zurück.«9

Klassischerweise ist die kleine Form, das Feuilleton, eng mit der Reproduktion von Sinneseindrücken verbunden, insbesondere die visuelle Wahrnehmung gilt als prototypisch für diese literarische Form. So bedient sich auch Baums Erzähler für seine Geschichte immer wieder der beinahe schon leitmotivisch verwendeten Formulierung »ich sehe«, die insgesamt zehnmal im Text vorkommt, einmal sogar noch verstärkt durch die haptische Ebene bei der Beschreibung körperlichen Kontakts: »Ich sehe –, nein, ich spüre – nur manche ihrer Liebkosungen mit meinem jungen Clemens.«10 Ein weiteres Kriterium für die äußere Form des Textes ist bei Baum – wie bereits ganz zentral bei Polgar11 – dessen Umfang: »Das würde nun in einer Novelle einen großen Raum einnehmen, diesen Laden zu schildern […]. Aber dazu habe ich keine Lust. Ich brauche nur zu erzählen, daß Clemens schließlich den Laden verläßt, mit einem Fläschchen Parfüm, das süß und bitter und geheimnisvoll ist, dem Duft jener Frau am Morgen sehr ähnlich.«12 Ganz im Sinne Polgars wirft Baum das »überflüssige[] Gepäck«13 des lang(atmig)en Fabulierens ab und verlegt sich auf knappes Berichten, prägnantes Feststellen und kurze Übergänge. Alternative narrative Techniken sieht sie im Film, wo beispielsweise Zeitsprünge probate Erzählstrategien darstellen: »›Zwanzig Jahre später‹, heißt es im Film, und das ist bequem. Der Dichter, der eine Novelle schreiben will, hat die verzwickte Pflicht, Brücken über die Zeit zu bauen und unverknüpfbare Dinge zu

9

Ebd., S. 38.

10 Ebd., S. 32. 11 »Das Leben ist zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schildern und Betrachten, zu psychopathisch für Psychologie, zu romanhaft für Romane, zu rasch verfallen der Gärung und Zersetzung, als daß es sich in langen und breiten Büchern lang und breit bewahren ließe.« – A. Polgar: Die kleine Form, S. 12. 12 V. Baum: Vergessenes Parfüm, S. 30. 13 A. Polgar: Die kleine Form, S. 13.

220 I V ERONIKA H OFENEDER verknüpfen.«14 In der Literatur seien diese Strategien jedoch schwieriger umzusetzen, da die vermeintlich richtige Vorstellung dominiere, dass der Text ein einheitliches und festes Ganzes präsentiere: »Denn der Dichter muß die Fiktion aufrechterhalten, als sei der Mensch vom Anfang der Geschichte und der vom Ende ein und derselbe. In Wirklichkeit ist beispielsweise der Clemens von vor zwanzig Jahren ein durch und durch anderer als der von heute. Um die Wahrheit zu sagen: es gibt überhaupt keinen Anfang und kein Ende, sondern alles ist nur ein Fließen, ist immer da oder nie dagewesen …«15

Die Flüchtigkeit, die schon Polgar zum Paradigma der der aktuellen Zeit entsprechenden kleinen (Literatur-)Form machte, sieht auch Baum als wesentlich an. Sie versinnbildlicht »dieses ganz Flüchtige, dieses Fliehende«16 zusätzlich noch durch den Parfumduft und dessen Bedeutung für ihren Protagonisten, der trotz einer Lungenkrankheit mit ursprünglich schlechter Prognose ein langes und erfülltes Leben lebt und auf dessen vorläufigem Höhepunkt von dem »vergessene[n] Parfüm«17 eingeholt wird.

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UND DIE KLEINE

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Poetologische Äußerungen dieser und allgemeiner Art von Vicki Baum sind rar und in erster Linie in ihrer kleinen Prosa zu finden, die sie im Lauf von über 45 Jahren18 für über 35 unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Obwohl Baum in der Forschung schon lange keine ›vergessene Autorin‹ mehr ist, werden ihre feuilletonistischen Texte nach wie vor eher sporadisch und selektiv rezipiert. Es werden vor allem jene Texte wahrgenommen, die Baum zur Zeit der Weimarer Republik im Kontext des Ullstein Verlages verfasst hat und die die Themen Mode,

14 V. Baum: Vergessenes Parfüm, S. 36. 15 Ebd., S. 36. 16 Ebd., S. 15. 17 Ebd., S. 38. 18 Der erste bisher nachgewiesene Text stammt aus der Muskete aus dem Jahr 1908 (Baum, Viki: »Diskretion«, in: Die Muskete vom 23.01.1908, Band 5, Nummer 121, S. 134.), der letzte aus dem Jahr 1954, aus der Saturday Evening Post (Baum, Vicki: »Backstairs Bachelor«, in: Saturday Evening Post vom 17.07.1954, S. 26f.).

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Kosmetik sowie weibliche Geschlechterrollenbilder verhandeln.19 In der Folge soll nun der Fokus auf jenen Texten von Vicki Baum liegen, in denen sie poetologischen Fragestellungen nachgeht sowie Überlegungen zu weiteren künstlerischen Ausdrucksformen wie der Musik, dem Tanz, der Photographie und dem Film anstellt. Diese Sichtweise beleuchtet nicht nur bisher noch wenig beachtete Aspekte des breitgefächerten Themen- und Interessensspektrums von Vicki Baum, der man aufgrund ihrer Etikettierung als unterhaltende Bestsellerautorin derartige Reflexionen kaum zutraut(e), sondern lenkt auch den Blick auf bisher noch nicht bekannte Texte ihres Schaffens. Denn bereits vor Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere veröffentlichte Baum in den ausgehenden 1910er Jahren Texte in österreichischen und deutschen Zeitungen und Zeitschriften wie z.B. Erdgeist, Ost und West, Der Merker, Jugend, Ton und Wort, Licht und Schatten, Bunte Stadt, Bergstadt sowie Die Gegenwart. In den 1920er und frühen 1930er Jahren schrieb sie neben ihrer Redaktionsmitgliedschaft im Ullstein Verlag, bei dem sie für die Dame, den Uhu, die Berliner Illustrirte Zeitung, die Vossische Zeitung, Ullsteins Blatt der Hausfrau und die Grüne Post tätig war, auch für weitere Wiener Tageszeitungen und Zeitschriften wie z.B. die Wiener Allgemeine Zeitung, die Neue Freie Presse, das Neue Wiener Journal, das Neue Wiener Tagblatt und das sozialdemokratische Kleine Blatt sowie für die amerikanischen Magazine Good Housekeeping, Ladies’ Home Journal, The Living Age oder Pictorial Review. Und nach 1932, dem Jahr ihrer Emigration in die USA, schrieb sie für die Exilpresse, die Pariser Tageszeitung oder die Basler National-Zeitung, vorwiegend jedoch für amerikanische Blätter wie die Saturday Evening Post, The Reader’s Digest, The Magazine of Short Story, die 19 Vgl. z.B. Bertschik, Julia: »Die Ironie hinter der Fassade. Vicki Baums neusachliche Komödie aus dem Schönheitssalon ›Pariser Platz 13‹ (1930)«, in: Vicki Baum, Pariser Platz 13. Eine Komödie aus dem Schönheitssalon und andere Texte über Kosmetik, Alter und Mode, hg. v. J. B., Berlin: AvivA 2006, S. 192-216; B., J.: »Vicki Baum und die luminose Konstruktion der ›goldenen zwanziger Jahre‹ in der Zeitschrift Die Dame. Ein Beitrag zum transnationalen Literatursystem der Weimarer Republik«, in: Susanne Blumesberger/Jana Mikota (Hg.), Lifestyle – Mode – Unterhaltung oder doch etwas mehr? Die andere Seite der Schriftstellerin Vicki Baum (1888-1960), Wien: Praesens 2013, S. 13-36; B., J.: »Vicki Baum«, in: Ein Epochenprofil, siehe litkult1920er.aau.at [August 2016]; Florack, Ruth: »Prinz Jussuf und die Neue Frau. Else Lasker-Schüler und Vicki Baum im ›Uhu‹«, in: Gunter E. Grimm (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 71-86; Hofeneder, Veronika: »Die ›neue Frau‹ – weibliche Errungenschaft der Moderne, männliches Konstrukt oder bizarre Modelaune? Lektüren journalistischer Texte von Vicki Baum und Gina Kaus«, in: S. Blumesberger/J. Mikota (Hg.), Lifestyle – Mode – Unterhaltung oder doch etwas mehr?, S. 37-59.

222 I V ERONIKA H OFENEDER Los Angeles Times oder Woman’s Home Companion, aber auch nach wie vor für europäische Zeitungen wie die Schweizer Illustrierte Zeitung und den Wiener Montag sowie die überseeischen Journale Sydney News oder Nippon. Da Baum außerdem unter Pseudonymen publizierte bzw. nur ihre Initialen zur Zeichnung ihrer Arbeiten verwendete, sind viele dieser Texte auch noch nicht als ihrer Autorschaft zugehörig bekannt und fehlen in gängigen Werkbibliographien.20 So veröffentlichte Baum bereits in ihrer frühen Schaffensperiode nicht nur unter ihrem eigentlichen Namen, sondern auch unter »Viki Prels« oder »Viki Baum-Prels« bzw. dem Namen ihres ersten Ehemannes Max Prels. Und während ihrer Zeit als Redakteurin bei Ullstein verwendete sie Pseudonyme: Zahlreiche ihrer Texte in der Dame, im Uhu und der Vossischen Zeitung zeichnete sie mit »Mix«, darüber hinaus sind viele ihrer Texte, insbesondere Rezensionen, nur mit ihren Initialen »V. B.« gezeichnet.21 Baums Pseudonym »Mix« wurde 2007 von Karin Kerb im Rahmen ihrer Diplomarbeit22 an der Universität Wien entschlüsselt. Kerb verweist auf den sich in Baums Nachlass im Archiv der Akademie der Künste in Berlin befindlichen Text Der Schwan Friedrich, der in der Dame unter »Mix« abgedruckt wurde.23 Ebenfalls unter »Mix« erschien in der Dame der Text Makkaroni in der Dämmerung24 – ein Begriff, den Baum im Ullstein-Haus für die

20 Siehe die Bibliographien zu Baums Zeitschriftenbeiträgen in King, Lynda J.: Best-Sellers by Design. Vicki Baum and the House of Ullstein, Detroit: Wayne State University Press 1988, S. 240-242; Nottelmann, Nicole: Strategien des Erfolges. Narratologische Analysen exemplarischer Romane Vicki Baums, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 330-335. Dieses Desiderat soll im Rahmen meines vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank geförderten Projektes über Vicki Baum (Nr. 16090), das eine möglichst vollständige Edition der feuilletonistischen Texte von Baum in Buchform vorsieht, eingelöst werden. 21 Das Pseudonym »Der alte Gärtner«, unter dem sie in Ullsteins »Sonntagszeitung für Stadt und Land« namens Die grüne Post Beiträge verfasst haben soll (Ankum, Katharina von: »Rückblick auf eine Realistin«, in: apropos Vicki Baum, Frankfurt a.M.: Neue Kritik 1998, S. 8-45, hier S. 21), konnte hingegen bislang noch nicht verifiziert werden. 22 Kerb, Karin: Vicki Baum als Journalistin? Diplomarbeit, Wien 2007. Zu Baums Pseudonym »Mix« bes. S. 112f. sowie in weiterer Folge V. Hofeneder: Die ›neue Frau‹; Bertschik, Julia: »Die Dame. Illustrierte Modezeitschrift 1911-1943«, in: Ein Epochenprofil, siehe litkult1920er.aau.at [September 2016]. 23 Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Der Schwan Friedrich«, in: Die Dame 55 (1928), Nummer 23, 1. Augustheft, S. 6, 46-48. 24 Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Makkaroni in der Dämmerung«, in: Die Dame 58 (1931), Nummer 9, 2. Januarheft, Beilage: Die losen Blätter, S. 139.

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moderne Photokunst, alltägliche Gegenstände mit einer speziellen Technik zu verfremden, prägte.25 Des Weiteren zeigt Kerb auch literarische Parallelen zwischen »Mix« und Baum auf: Beide schrieben über die Dirigenten Felix Weingartner und Bruno Walter,26 Baums Roman Hell in Frauensee (1927) handelt von einem Schwimmlehrer in finanziellen Nöten und der im selben Jahr mit »Mix« gezeichnete Text Das Strandbad27 stellt ebenfalls einen Schwimmlehrer ins Zentrum des Geschehens. Karin Kerbs Vermutung (die sich auf Eva Noack-Mosse stützt), wonach das Pseudonym »Mix« auf eine männliche Autorschaft verweisen sollte und von Baum verwendet wurde, um auch Männern die Themen Mode und Kosmetik auseinandersetzen zu können,28 trifft jedoch nicht zu. Auch wenn die Artikel Kosmetik für Herren29 und Wie denken Sie über die Herrenmode?30, die justament diese Thematik aufgreifen, mit »Mix« gezeichnet sind, wird in einem anderen Mix-Text, der die darstellerischen Fähigkeiten des Schauspielers Harald Paulsen würdigt, dezidiert auf die Weiblichkeit der hinter dem Pseudonym stehenden Autorin hingewiesen: »Und ob es ganz einfach und ohne Ihr Zutun aus Ihrer Natur kommt, oder ob es Kunst ist, von jener Sorte großer Kunst mit drei Sternen, das mögen Kenner entscheiden; nicht ich, – eine wortungewandte Frau, die Ihnen für die erfrischende und erfreuliche Tatsache Ihrer Existenz hiermit zu danken wünscht … Für die Richtigkeit der Abschrift: Mix.«31

25 Vgl. Noack-Mosse, Eva: »Uhu«, in: W. Joachim Freyburg/Hans Wallenberg (Hg.), Hundert Jahre Ullstein. 1877-1977, Band 2, Berlin: Ullstein 1977, S. 177-207, hier S. 188. 26 Vgl. Baum, Viki: »Kapellmeister und Dirigenten«, in: Ton und Wort 2 (1912), Nummer 6, S. 1-4; Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Dirigenten«, in: Die Dame 56 (1928), Nummer 2, 2. Oktoberheft, S. 8f. 27 Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Das Strandbad«, in: Die Dame 54 (1927), Nummer 18, 1. Juniheft, S. 4f. und 35-37. 28 Vgl. E. Noack-Mosse: Uhu, S. 195; K. Kerb: Vicki Baum als Journalistin, S. 112. 29 Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Kosmetik für Herren«, in: Uhu 5 (9/1929), Nummer 12, S. 8892. 30 Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Wie denken Sie über die Herrenmode?«, in: Uhu 5 (6/1929), Nummer 9, S. 20-28; wieder unter Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Gefällt Ihnen die Herrenmode? Der rückständige Mann«, in: Vossische Zeitung vom 30.05.1929, Morgen-Ausgabe, Beilage: Das Unterhaltungsblatt. 31 Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Ein Brief an Harald Paulsen«, in: Die Dame 55 (1928), Nummer 22, Zweites Juliheft, S. 16.

224 I V ERONIKA H OFENEDER Mag »Mix« in diesem Fall auch lediglich die ›Abschrift‹ des Textes aus der Hand einer weiblichen Schreiberin vorgenommen haben und daher nicht zwingend ein Hinweis auf eine eindeutige Geschlechtszuordnung sein, lassen sich jedoch auch aus den weiteren (bisher) bekannten, mit »Mix« gezeichneten Texten keine verlässlichen Schlüsse auf eine klare Geschlechtsidentität ziehen. Denn die insgesamt 34 Mix-Texte (inklusive einer Rezension) verhandeln – völlig geschlechtsneutral – Themen wie moderne Kunst, Mode für Frauen (und Männer), Kindererziehung, zeitgenössische Lebensstile oder die (neu-)sachliche Beziehungspraxis,32 also genau dieselben Themen, über die Baum unter ihrem tatsächlichen Namen schreibt.

N EUSACHLICHER K ITSCH UND SPRACHLICHE P RÄZISION Im (ironischen) Gestus der Bescheidenheit33 behauptet die sprechende Instanz »Mix«, die mit Peter Utz als »feuilletonistische Aussagemaske«34 zu verstehen ist, in der oben zitierten Textstelle nicht nur die angebliche Minderwertigkeit weiblichen Schreibens, sie thematisiert auch Fragen nach der Qualität von Kunst. Das Thema der Bewertung künstlerischen – insbesondere literarischen – Schaffens begleitet Baum zeitlebens, noch in ihrer Autobiographie versucht sie gegen ihr

32 Vgl. z.B.: Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Die schönste Frau. Mutterbildnisse berühmter Maler«, in: Die Dame 54 (1927), Nummer 12, Erstes Märzheft, S. 5-8; Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Der schöne Hut. Eine Frauenfrage«, in: Uhu 3 (9/1927), Nummer 12, S. 16 und 74-80; Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Kinder beim Photographen«, in: Die Dame 54 (1926), Nummer 7, Zweites Dezemberheft, S. 4-6, 32; Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Worauf die Leute immer wieder hereinfallen … Gespräch mit einem Hochstapler«, in: Uhu 5 (11/1928), Nummer 2, S. 80-83; Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Quartett unter der Verkehrsampel«, in: Die Dame 58 (1930), Nummer 3, Erstes Novemberheft, S. 6-8. 33 In ihrer Autobiographie nennt Baum als ihr Lebensmotto: sich selbst nicht so wichtig nehmen. Den Titel Nicht so wichtig wollte sie auch ursprünglich ihren Lebenserinnerungen geben. Vgl. Baum, Vicki: Es war alles ganz anders, Berlin: Ullstein 1962, S. 17f. und 148f. 34 Utz, Peter: »Ausgeplauderte Geheimnisse. Die Verwandtschaft von Brief und Feuilleton am Beispiel Robert Walsers«, in: Isolde Schiffermüller/Chiara Conterno (Hg.), Briefkultur. Transformationen epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 181-199, hier S. 192; grundlegend P.U.: »›Sichgehenlassen‹ unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons«, in: Kai Kauffmann/Erhard Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin: Weidler 2000, S. 142-162, bes. S. 158.

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Image als kommerzielle Trivialautorin anzuschreiben. Und so eignet sich besonders das Genre der ›kleinen Form‹ für die Beobachtung und Analyse des »Phänomens Vicki Baum«35, denn, so auch Julia Bertschik, »nur, wer neben ihren literarischen Texten auch ihre journalistischen Artikel kennt, kann an diesem Bezugssystem teilhaben«36. In der Gattung der kleinen Form treffen Diskurse über das Schreiben von Frauen, den Trivialitätsvorwurf, kommerzielle Aspekte des Schreibens und die massenhafte Verbreitung von Literatur aufeinander.37 So bietet die kleine Form, in welcher der handwerkliche Aspekt des Schreibens den Genie-Gestus überlagert und welche Themen aus der Alltagsrealität verhandelt und weniger ästhetischen denn funktionellen Maximen verpflichtet ist, insbesondere Autorinnen die Möglichkeit, literarisch aktiv zu werden und ihre Produkte auch öffentlich zu präsentieren. Da diese Texte in (zum Teil sehr auflagenstarken) Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht und dort von einer breiten Leserschaft rezipiert werden, rücken die Verfasserinnen und Verfasser allerdings in die Nähe der wenig prestigeträchtigen Unterhaltungsliteratur, deren Qualität ob ihrer Erfolge bei einem Massenpublikum angezweifelt wird. Rezeptionsästhetische Aspekte bei der Produktion von Literatur miteinzubeziehen, ist jedoch nicht nur als Kennzeichen

35 Vgl. L. King, Best-Sellers by Design. 36 J. Bertschik: Vicki Baum und die luminose Konstruktion der ›goldenen zwanziger Jahre‹ in der Zeitschrift Die Dame, S. 30. 37 Vgl. auch Gruber, Eckard: »Was wird mein Roman einst sein, ohne daß ›einhundertfünfzigtausendstes‹ drauf steht? Vicki Baums Roman ›Menschen im Hotel‹ und der Ullstein Verlag«, in: Anne Enderlein (Hg.), Ullstein Chronik. 1903-2011, Berlin: Ullstein 2011, S. 179-189, hier S. 189: »Paradoxerweise ist jedoch gerade die massenhafte Verbreitung ihrer Titel in Zeitschrift, Buch, Bühne und Film eine der Hauptursachen dafür gewesen, dass – unabhängig vom literarischen Kanon – das Interesse am Werk Vicki Baums weiterlebte, was schließlich dazu führte, dass die literarischen Qualitäten ihrer Schriften wiederentdeckt und mittlerweile gewürdigt wurden.« Zur Problematik und Situation schreibender Frauen in der Zwischenkriegszeit vgl. z.B. Ackermann, Georg/Delabar, Walter (Hg.), Schreibende Frauen. Ein Schaubild im frühen 20. Jahrhundert, Bielefeld: Aisthesis 2011; Fähnders, Walter/Karrenbrock, Helga (Hg.), Autorinnen der Weimarer Republik, Bielefeld: Aisthesis 2003; Gürtler, Christa/Schmid-Bortenschlager, Sigrid: Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918– 1945, Salzburg/Wien: Residenz 2002, S. 7-24; Schmid-Bortenschlager, Sigrid: Österreichische Schriftstellerinnen 1800–2000. Eine Literaturgeschichte, Darmstadt: WBG 2009, bes. S. 89-125.

226 I V ERONIKA H OFENEDER von Unterhaltungsliteratur, sondern vor allem als Bestandteil neusachlicher Programmatik zu sehen.38 Literatur wird zunehmend in den Zirkel des Warenangebots integriert, das gekauft und gelesen werden sowie gleichzeitig denen, die sie hervorbringen, den Schriftstellerinnen und Schriftstellern – ganz profan – finanziellen Gewinn bescheren soll. Diesen kommerziellen Anspruch löst auch die als ›merkantil‹ geltende Textsorte des Feuilletons ein, das seinen Ursprung als Werbebeiblatt des Journal des Débats hat, also vornehmlich aus wirtschaftlichen Überlegungen, weniger aus innerliterarischen Entwicklungen entstanden ist.39 So weiß auch die stets kommerziell erfolgreiche Vicki Baum, die neben dem künstlerischen Anspruch auch den finanziellen Ertrag ihrer Literatur als wesentlich erachtet, ihre schriftstellerische Produktion professionell mit den ähnlich gelagerten Interessen der ihre Texte publizierenden Zeitungen und Zeitschriften zu vereinen. Das Schreiben gilt ihr als berufliches Handwerk, mithilfe dessen sie ihren Lebensunterhalt verdient: »Übrigens ist es schwieriger, so zu schreiben, daß es einem breiten Lesepublikum gefällt, als so, wie man’s selbst mag. Gut lesbare Erzählungen verfassen ist eine Frage handwerklichen Könnens, was die Franzosen le mêtier nennen.«40 Nicht nur in ihrer posthum erschienenen Autobiographie versucht Baum ihren literarischen Ruf als »erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte«41 zu rehabilitieren, schon zu Lebzeiten macht sie aus ihrer pragmatischen Schreibhaltung keinen Hehl und verteidigt das eigene Schreiben gegen die Vorwürfe von Kitsch und Kommerz. Vor dem Hintergrund des Erfolges ihres Romans Menschen im Hotel und dessen missverständlicher Rezeption als trivialem Kolportageroman gesteht sie unumwunden in der Dame: »Romane schreiben, ist ein sauberes, schönes

38 Vgl. Becker, Sabina: »Großstädtische Metamorphosen. Vicki Baums Roman Menschen im Hotel«, in: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 5 (1999/2000), S. 167194, bes. S. 175. 39 Vgl. Kernmayer, Hildegard: »Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (3/2012), S. 509-523, hier S. 511. 40 V. Baum: Es war alles ganz anders, S. 476. Ausführlich zum Arbeitsdiskurs in Baums Autobiographie vgl. Hofeneder, Veronika: »Leben als Beruf? Schreiben als Arbeit? Tätigkeitsfelder und Arbeitsbedingungen in Vicki Baums Autobiographie Es war alles ganz anders«, in: Iuditha Balint et al. (Hg.), Opus und Labor. Arbeit und auto/biographisches Erzählen, Essen: Klartext 2017 [in Vorbereitung]. 41 V. Baum: Es war alles ganz anders, S. 386.

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Handwerk; muß ich mich schämen, zu gestehen, daß ich verliebt in dieses Handwerk bin?«42 Ein Text im kritisch-intellektuellen Zeitgeistmagazin Uhu einige Monate später trägt dann den provokatorischen Titel Angst vor Kitsch, in dem sie die als modern geltende distanzierte Einstellung gegenüber Gefühlen kritisch hinterfragt: »Kitsch ist jedes Gefühl, das man äußert, zeigt oder sonstwie betätigt. Nur wenn man’s runter würgt, daß keiner etwas davon merken kann, geht es bei den Leuten durch, die Angst vor Kitsch haben. Kitsch vor allem ist alles und jedes, was die Liebe betrifft.«43 Das Kennzeichen der Unsentimentalität gilt als modern und erfolgversprechend, auch im Bereich der Literatur. Ein »guter, konjunkturkräftiger Lustspielschreiber«44 rät Baum auf keinen Fall ein ›Happy End‹ beim Schreiben zuzulassen, denn »[d]ie Leute wollen keinen Kitsch. Sie möchten so etwas Unbefriedigendes mit nach Hause nehmen«45. Baum, deren mit sentimentalen und märchenhaften Formeln durchzogener Roman stud. chem. Helene Willfüer im Jahr 1928 einen sensationellen Erfolg feierte, sieht das differenzierter: »Angst vor Kitsch – das ist schlechtes Gewissen vor Dingen, die man schön findet.«46 Sie plädiert dafür, der ihrer Ansicht nach zutiefst menschlichen Sehnsucht nach Harmonie nachzugeben, Emotionen zuzulassen und keine Scheu zu haben, Gefühlsund Geschmacksempfindungen zu artikulieren. Und wie in vielen ihrer (vor allem späteren) Kurztexte, die um die Themenkomplexe Wohlbefinden und Lebensglück kreisen47, schließt Baum mit der Aufforderung, sich selbst »nicht so wichtig« zu nehmen, »[k]ompliziert euch das Dasein nicht unnütz. Habt nur Courage. Spürt nur. Lebt nur.«48 Baums Eintreten für ein gewisses Maß an Bescheidenheit, 42 Baum, Vicki: »Ich wundere mich«, in: Die Dame 58 (1931), Nummer 10, 1. Februarheft, S. 8-10, hier S. 8. Vgl. auch K. v. Ankum: Rückblick auf eine Realistin, S. 8f. 43 Baum, Vicki: »Angst vor Kitsch«, in: Uhu7 (7/1931), Nummer 10, S. 104-106, hier S. 106. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 104. 47 Vgl. v.a. Baum, Vicki: »Mein schönstes Reiseerlebnis«, in: Berliner Illustrirte Zeitung 37 (7/1928), Nummer 28, S. 1193; B., V.: »The Lesson of the Old Sock«, in: Reader’s Digest 39 (9/1941), Nummer 233, S. 37-39; B., V.: »Lesson from the Moon«, in: Los Angeles Times vom 29.11.1953, S. 2; B., V.: »How I keep well« o. D. Typo-skript 8 S., in: AdK, Berlin, Vicki-Baum-Archiv, Nummer 120; B., V.: »One way of relaxing« o. D. Typoskript 3 S., in: AdK, Berlin, Vicki-Baum-Archiv, Nummer 120; anonym [vermutlich Baum, Vicki]: o. T. [Strolling through native markets]. o. D. Typoskript 7 S., in: AdK, Berlin, Vicki-Baum-Archiv, Nummer 120; B., V.: »Thank Heaven, I’m average!« o. D. Typoskript 6 S., in: AdK, Berlin, Vicki-Baum-Archiv, Nummer 120. 48 V. Baum: Angst vor Kitsch, S. 106.

228 I V ERONIKA H OFENEDER für die Wertschätzung der ›kleinen Dinge des Lebens‹ ist durchaus auch im poetologischen Sinne zu verstehen, wenn sie – Polgars Postulat folgend – sich von »überflüssigem Gepäck« und »Ballast«49 zu befreien sucht und die Konzentration auf das ›Wesentliche‹ einfordert. Diese Suche nach dem ›Essenziellen‹ vollführt Baum auch auf der Ebene der Sprache, wo sie sich für höchste Präzision ausspricht. In zwei ihrer mit »Mix« gezeichneten Texte aus der Dame erörtert sie die Relevanz sprachlicher Genauigkeit. Während das erzählende Ich in Das richtige Adjektiv50 ein Damenkleid mit der aus marketingtechnischer Perspektive perfekten Attributierung als »neiderregend« zum Verkaufsschlager macht, wird in Ein Wort wird gesucht dazu aufgerufen, den Wandel moderner Beziehungen auch sprachlich zu vollziehen. Weil die Bezeichnungen »Freund« oder »Freundin«, die »jahrhundertelang« einen Menschen bezeichneten, »mit dem mich Wärme, Verständnis, Treue, Dankbarkeit, gemeinsame Richtung verbinden, kurz das, was sonst Freundschaft hieß«, heute nicht mehr »ohne Gänsefüßchen und Beigeschmack« verwendet werden können, da man sofort »mit Augenzwinkern«51 an (heimliche) Liebschaften und (leidenschaftliche) Affären denke, fordert Baum nun ein neues Wort für diese alte Beziehungsform.

K UNST

VERSUS

T ECHNIK

Baum konstatiert Veränderungen und sich daraus ergebende neue Anforderungen nicht nur auf dem Gebiet der Literatur und Sprache, sondern auch im Bereich weiterer Kunstformen. Ihr feines Gespür für kulturhistorisch und -soziologisch bedingte Umbrüche erweisen auch ihre Texte über Musik, Tanz und Photographie. Selbst ausgebildete und einige Jahre lang praktizierende Harfenistin, hat Baum zur Musik über Interesse und Begeisterung hinaus auch ein sehr professionelles Verhältnis. Zu ihren frühesten Publikationen gehören Konzert-, Opern- und Theaterkritiken in der von ihrem ersten Ehemann Max Prels gegründeten Musikzeitschrift Ton und Wort. In dieser veröffentlicht sie Gedichte, Erzählungen sowie Reportagen, und darüber hinaus schreibt sie wohl auch noch den Großteil der mit dem

49 A. Polgar: Die kleine Form, S. 13. 50 Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Das richtige Adjektiv«, in: Die Dame 54 (1927), Nummer 16, Erstes Maiheft, Beilage: Die losen Blätter, S. 255f. 51 Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Ein Wort wird gesucht«, in: Die Dame 57 (1930), Nummer 15, Zweites Aprilheft, S. 9.

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Namen ihres damaligen Ehemanns gezeichneten Texte,52 der unter einer Schreibblockade leidet. Das Forum als Musikkritikerin nützt Baum auch für soziologische Analysen, so entlarvt sie in ihrem beinahe schon satirischen Text Schlussproduktion die alljährlich stattfindenden Klassenabende in der Musikschule als Jahrmarkt der Eitelkeiten, auf dem jegliches Kunstempfinden fehle: »Nun aber ist der Strom entfesselt und nichts bleibt dem Publikum erspart: nicht das distonierende Geigenduo, nicht der wacklige Kinderchor, nicht der verzweifelte Kampf um die Vorherrschaft in einem Haydn-Quartett und nicht die Stars, die das dritte Beriot-Konzert und – weiß Gott – sogar die Variations serieuses von Mendelssohn exekutieren«53. In Orchestermusiker analysiert sie die Unterschiede zwischen wirklichen Künstlerinnen und Künstlern einerseits und Berufsmusikerinnen und Berufsmusikern andererseits, die »die Freude an der Musik verlernt«54 hätten und deren Musizieren von Routine und militärischem Drill statt von künstlerischem Anspruch bestimmt sei. Baum belässt es aber nicht bei dieser oberflächlichen Feststellung, sondern macht auf die soziale Problematik dahinter aufmerksam: Die »geistige Elite« eines Orchesters sei nämlich auch die mit den »größten Gagen«55, demnach fänden sich bei den – gut bezahlten – Wiener Philharmonikern auch kaum typische »Orchestermusiker«. In ihrer abschließenden Forderung, den Orchestermusikerinnen und Orchestermusikern neben sozialer Absicherung (wie z.B. Mindestgagen, Dienstzeitenregelung, Überstundenbezahlung) auch die Begeisterung für die Mu-

52 Nottelmann, Nicole: Die Karrieren der Vicki Baum. Eine Biographie, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007, S. 46f. Mit Sicherheit von Baum stammen folgende mit ihren Namen oder zumindest ihren Initialen gekennzeichnete Texte in Ton und Wort: Baum, Viki: »Inschrift in Stein«, in: Ton und Wort 1 (6/1911), Nummer 7, S. 12; B., V.: »Mahler-Probe«, in: Ton und Wort 2 (3/1912), Nummer 5, S. 5-7; B., V.: »Kapellmeister und Dirigenten«, in: Ton und Wort 2 (3/1912), Nummer 6, S. 1-4; B., V.: »Konzerte«, in: Ton und Wort 2 (4/1912), Nummer 7, S. 11; B., V.: »Konzerte«, in: Ton und Wort 2 (4/1912), Nummer 8, S. 12; B., V.: »Orchestermusiker«, in: Ton und Wort 2 (5/1912), Nummer 9, S. 1-4; B., V.: »Schlussproduktion«, in: Ton und Wort 2 (5/2012), Nummer 10, S. 8f.; B., V.: »Abend in Zelész«, in: Ton und Wort 2 (6/1912), Nummer 11f., S. 17-23. Vermutlich sind ihr auch folgende nur mit dem Kürzel des letzten Buchstabens ihres Nachnamens gezeichneten Kritiken zuzuschreiben: –m: o. T., in: Ton und Wort 2 (1912), Nummer 5, S. 9f.; –m: o. T., in: Ton und Wort 2 (3/1912), Nummer 5, S. 10; – m: »Gastspiele. Berliner Lessingtheater und Albert Bassermann«, in: Ton und Wort 2 (3/1912), Nummer 5, S. 9f. 53 V. Baum: Schlussproduktion, S. 9. 54 V. Baum: Orchestermusiker, S. 1. 55 Ebd., S. 3.

230 I V ERONIKA H OFENEDER sik wiederzugeben, erweist sich Baums unerschütterliche Überzeugung, dass gerade in einem künstlerischen Beruf die Anerkennung (und hier auch die finanzielle) ein wesentlicher Motivationsfaktor ist. Über den Musikerberuf schreibt Baum jedoch nicht nur in der einschlägigen Musikzeitschrift Ton und Wort, sondern auch in der mondänen Dame: Während sie in Kapellmeister und Dirigenten56 anhand verschiedener historischer und zeitgenössischer Dirigenten wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Gustav Mahler, Felix Weingartner oder Bruno Walter unterschiedliche Arbeitsweisen analysiert, legt sie das Thema für das Lesepublikum der Modeillustrierten etwas unterhaltsamer an. In Dirigenten erörtert sie den Mangel an sozialer Kompetenz, der diesem Berufsstand anhaftet: »Wenn man berühmte Dirigenten in Gesellschaft kennenlernt, sind sie eine Enttäuschung […]. Dirigenten essen viel, sie können schlecht tanzen, sind zu zerstreut zum Flirten. Aber seht einmal den gleichen geistesabwesenden und traumwandelnden Mann an, wenn er an seinem Pult steht, wie hellwach er da ist, mit dem geschmeidigen Rücken eines ersten Liebhabers, den beschwörenden Händen eines Zauberers.«57

Die Qualitäten dieser Berufsgruppe erweisen sich nämlich erst direkt an ihrem Arbeitsplatz, am Dirigentenpult, wo sie es meisterhaft verstände, selbst unmusikalische Menschen für Musik zu begeistern. Das Augenmerk liegt allerdings nicht mehr auf der musikalischen Arbeitsweise der spezifischen und namentlich aufgezählten Dirigenten, sondern auf deren Wirkung beim Publikum,58 die ganz neusachlich mit den Tempounterschieden verschiedener Verkehrsmittel verglichen wird: »Furtwängler ist wie ein großes Schiff, das einen fortträgt, immer weiter fort, immer weiter fort. Weingartner – das ist ein wunderbarer Frack, der sehr schöne Musik macht, obwohl manchmal kein Mensch drin steckt. Kleiber, ein wilder kleiner Jockei auf einem rassigen Pferd – oder auch ein guter Wagen mit 120 Kilometer Geschwindigkeit auf der Avus. Bei Walter aber fährt man in einer Postkutsche durch verzauberte Wälder, und manchmal bläst er in sein altmodisches Hörnchen ein Stückchen Romantik.«59

56 V. Baum: Kapellmeister und Dirigenten. 57 Mix [d.i. Baum, Vicki]: Dirigenten, S. 8. 58 Diese Ebene setzt sich auch in der Bebilderung des Artikels fort, die z.B. Erich Kleiber, Dirigent an der Berliner Staatsoper, im Kreise seiner Familie zeigt. – Ebd. 59 Ebd., S. 9.

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Der Besuch eines Konzertes steht dann ganz im Zeichen einer modernen auf Unterhaltung und Wohlbefinden ausgerichteten Lebenseinstellung gleichberechtigt neben dem einer Sportveranstaltung: »Alles in allem fühlt man sich nach einem Konzert mit zwei ausgewachsenen Sinfonien besser durchgearbeitet und erfrischt als nacheinem Ritt, einem Golfmatch oder einer gründlichen Massage«60. Den sportlichen Aspekt der Kunstebene betont Baum auch in ihren Texten über den Tanz. Selbst begeisterte Tänzerin, war Baum der Tanzszene zeitlebens eng verbunden. Befreundet mit vielen Protagonisten der zeitgenössischen (modernen) Tanzszene, zeigte sie sich – nicht nur auf literarischer Ebene – interessiert an alternativen und (spi-)rituellen Tanzformen.61 In ihrem ebenfalls in der Dame (und kurz darauf in leicht gekürzter Form im Neuen Wiener Tagblatt) publizierten Text Von Tanz und Tänzern versucht Baum eine Rehabilitierung des Tanzes und insbesondere des tanzenden Mannes, der in Mitteleuropa immer leicht abschätzig beurteilt werde, da ihm etwas Oberflächliches und ›Unmännliches‹ anhafte. Dabei sei das Tanzen eine ernstzunehmende und vor allem körperlich anstrengende Tätigkeit, die dem Bereich des Sports zuzurechnen sei: »Denn der Tänzer braucht Kraft, dies zuallererst, mindestens so viel Kraft wie der Sportsmensch, und diese Kraft zeichnet seinen Körper in erlesen schönen Linien. Da er auch Geist, Schwung und Nerven haben muß, wenn er ein guter Tänzer sein soll, so kommen ein paar Eigenschaften zusammen, die nicht eben unmännlich sind.«62 Der Tanz ist für Baum ein wichtiges Medium der Kulturbeobachtung, in Ballettstunde zeichnet sie den Wandel des Balletttanzes nach, von strengem Drill und militäri-

60 Ebd., S. 9. 61 So wirkt sie beispielsweise selbst als Tänzerin in einer Aufführung der Händel-Festspiele in Hannover mit, mit Ikonen des modernen Tanzes wie Mary Wigman, Harald Kreutzberg und Max Terpis ist sie auch freundschaftlich verbunden (N. Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum, S.87f.). Literarisch verhandelt Baum das Tanzthema mit seinen vielen Facetten u.a. in ihren Romanen Die Tänze der Ina Raffay (1921), Liebe und Tod auf Bali (1937) sowie Theme for Ballet (1958, dt. Die goldenen Schuhe), außerdem verfasst sie einige Rezensionen zu Tanzbüchern (z.B. Baum, Vicki: »Der tanzende Schwerpunkt. Von L. W. Rochowanski« und »Die Revolution des Gesellschaftstanzes. Von Heinz Pollack«, in: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 25 (5/1923), Nummer 15/16, Sp. 849; B., V.: »Das Tanzbuch«, in: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde 27 (1924/1925), Nummer 6, S. 375. 62 Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Von Tanz und Tänzern«, in: Die Dame 58 (1930), Nummer 1, Erstes Oktoberheft, S. 10-12, hier S. 10. Leicht gekürzt wieder als Mix: »Tänzer«, in: Neues Wiener Tagblatt vom 25.10.1930, S. 2.

232 I V ERONIKA H OFENEDER scher Hierarchie hin zum freudigen Miteinander »in dieser bezaubernden Atmosphäre von Arbeit, von Kameradschaft, von Sachlichkeit und Konzentration«63. Das Erlernen sozialer Kompetenzen und die den Tänzern inhärente Leichtigkeit sei auch in Belangen abseits des Balletts nützlich: »Und so lernt man im Ballettsaal das, was auch im Leben schwer ist, und was man trotzdem können sollte: Das Ernste so zu tun, als wenn es ein Spiel wäre …«64. Das ›Spielerische‹, die ›Leichtigkeit‹ und die ›Beweglichkeit‹ sind auch formale Kennzeichen des Feuilletons, das damit eine spezifische Weise der Anschauung einer sich definitivem Erfassen entziehenden Wirklichkeit generiert und nach Polgar und Hermann Bahr als deren einzig mögliche Erkenntnisform firmiert.65 Gerade dieses Spielerische ist auch in der Ausbildung der ganz jungen Ballettelevinnen zentral, wie Baum beim Besuch einer Ballettstunde der Allerkleinsten erfährt: »Kinder sind ideale Tänzer«, sagte der berühmte Ballettmeister zu mir (ich möchte seinen Namen nicht nennen, er ist zu berühmt), ›alles, was man tun muß, ist, die latente Bewegungsfreude, die im kindlichen Körper wohnt, aufzuwecken. Spielbetrieb plus Phantasie, plus Bewegungsfreude – da haben Sie das Ideal des Tänzers, wie er heute noch bei den Eingeborenenstämmen Ostafrikas –.‹«66

Baum beobachtet dann allerdings ein kleines Mädchen, das sich der allgemeinen kindlichen »Bewegungsfreude« scheinbar widersetzt, bei der allgemeinen Tanzimprovisation dreht es sich zur Wand und rührt sich nicht. Auf Nachfrage gibt es zur Antwort, dass es »die Fliege, die an der Wand einschläft«67, darstelle, womit der Ballettmeister zumindest als Erfolg verbuchen kann, die kindliche Phantasie angeregt zu haben. Ihren kritischen Blick mit leiser Ironie wirft Baum auch auf die zeitgenössische neusachliche Photographie, deren modernistische Verfremdungstechniken sie mit dem im Ullstein Verlag zum geflügelten Wort gewordenen Begriff »Makkaroni in der Dämmerung« bezeichnet:

63 Baum, Vicki: »Ballettstunde. Bilder aus der Schule der Berliner Staatsoper«, in: Berliner Illustrirte Zeitung 35 (11/1926), Nummer 47, S. 1587-1589, hier S. 1587. 64 Ebd., S. 1589. 65 Vgl. H. Kernmayer, Sprachspiel nach besonderen Regeln, bes. S. 514-523; Bahr, Hermann: »Feuilleton«, in: H. B., Die Überwindung des Naturalismus, Dresden/ Leipzig: Pierson 1891, S. 23-32, bes. S. 26. 66 Mix [d.i. Baum, Vicki]: »Bewegungsfreude«, in: Die Dame 59 (1932), Nummer 10, Erstes Februarheft, S. 4f., hier S. 4. 67 Ebd., S. 5.

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»Es gibt da eine Art von Fotografien, die sehr überhandgenommen haben. Ich habe zu meiner inneren Erleichterung den Sammelnamen ›Makkaroni in der Dämmerung‹ dafür erfunden. Weiß man, was ich meine? Ich meine: Zweihundert Zwirnspulen auf einer Tischplatte, ein bißchen Lichtspielerei und ein bißchen Perspektivzauber. Ich meine: Achtzehn Paar Schuhe hintereinander aufgestellt, und so von schräg unten aufgenommen, daß sie wie eine Straße oder ein Turm aussehen. Marke: Sachliche Fotografie. Ich meine: Aus einem Jutesack (wunderbar wie das Material lebt! sagt der Kenner) fließen dreieinviertel Pfund geschälter Reis. Sieht das nicht wunderbar aus? […] Aber beim hundertstenmal fängt es an, langweilig zu werden. […] Achthundert Teerfässer. Gut. Tausend Glasplatten. Schön. Zwölfhundert Holzlöffel. Ausgezeichnet. Zweitausend Allgäuer Käse. Prachtvoll. Viertausend Pfund Makkaroni. Wunderbar, wie das aussieht. Und so sachlich – nicht?«68

Baums Kritik richtet sich jedoch nicht allein gegen die künstlerisch einfallslosen Photographen, denen offenbar vor allem daran gelegen ist, ihre technischen Fertigkeiten vorzuführen, sondern auch gegen die prinzipielle Simplifizierung und Nivellierung intellektueller Fähigkeiten, nämlich »jene[] infantilen Eigenschaften, die sich im Wesen des modernen Erwachsenen großgezüchtet haben: Ungeduld und Neugierde«69.

ALBTRAUMFABRIK H OLLYWOOD Simplifizierungstendenzen und der Missachtung kreativer oder intellektueller Leistungen steht Baum stets ausgesprochen skeptisch gegenüber – schon in Ich wundere mich beklagt sie die Umarbeitung ihrer plastischen Romanfiguren für die Dramatisierung von Menschen im Hotel zu schablonenhaften »Abziehbilder[n]«70: »Zum Theater kommen, am Theater aufgeführt werden – das ist nämlich so ein Gefühl, als käme man unter eine Dampfwalze. Eben war man noch gesund und hatte seine plastischen drei Dimensionen. Da wird man vom Theater erfaßt, zu Boden gedrückt, ausgewalzt. Man kommt vollkommen platt wieder heraus; alles, was man gedacht oder geschrieben hat, wird vollkommen platt.«71

68 Mix [d.i. Baum, V.]: Makkaroni in der Dämmerung, S. 139. 69 Ebd. 70 V. Baum: Ich wundere mich, S. 9. 71 Ebd., S. 8f.

234 I V ERONIKA H OFENEDER Aus diesem Grund kann sich Baum auch nicht mit den Arbeitsbedingungen der Filmindustrie in Hollywood arrangieren. Obwohl das Schreiben von Filmscripts, ›Treatments‹ und Dialogen gut bezahlt ist, hat es nichts mit dem Schreiben von Romanen oder Kurzgeschichten zu tun, das sie bisher gewohnt war. Die in Hollywood übliche Praxis der Teamarbeit, das oftmalige Ab- und Umändern von Entwürfen sowie das Ausgeliefertsein an die Launen von Regisseuren, Produzenten und Schauspielern erträgt die selbstbewusste und an eigenständiges Arbeiten gewöhnte Schriftstellerin nicht. Wie sie bereits in einigen ihrer Romane und Kurzgeschichten sowie später in ihrer Autobiographie mit der ›Traumfabrik‹ Hollywood rigoros abrechnet und die dort geschaffenen Illusionen schonungslos demontiert,72 spart sie auch in ihrer kleinen Prosa nicht mit Kritik an der Filmindustrie. Hier verhandelt sie insbesondere die Austauschbarkeit und Oberflächlichkeit, den Zwang zu (Selbst-)Inszenierung und Rollenspiel sowie die trügerischen Möglichkeiten des sozialen Aufstieges durch eine Filmkarriere.73 Genauso wie Elli Kleineckes Filmtraum in Karriere in der Holzmarktstraße zerplatzt, weil sie zum Casting genauso ›gestylt‹ erscheint wie alle ihrer Mitbewerberinnen, ist auch Frau Drigalskys leiderfülltes Filmgesicht nur solange passend, solange seine Furchen aus echtem Elend resultieren. Als sie ihr Statistengehalt dazu nutzt, ihren Lebensstandard zu verbessern, sich satt zu essen und gut zu kleiden, müssen ihre vormals authentischen Leidenszüge geschminkt werden und sie verliert ihr Engagement: »Und mit gebogenem Rücken verließ Frau Drigalsky diese unbegreifliche Welt, in der man für Erfolg mit Menschenglück bezahlen mußte, und wandte sich heimwärts in die Stolpische Straße …«74. Baums essayistische Texte mit den wenig Positives verheißenden Titeln Unglücklich in Hollywood! und Zwangsarbeit in Hollywood, die sie in den frühen 1930er Jahren basierend auf tatsächlichen eigenen Erfahrungen im Filmgeschäft verfasste, sind eine schonungslose Abrechnung mit der Hollywooder ›Tretmühle‹, die Autoren und Schauspieler gleichermaßen zu »Sklaven des Kinos«75 macht. So 72 Vgl. z.B. Baum, Vicki: Leben ohne Geheimnis, Berlin: Ullstein 1932; B., V.: »Once I Wore Ermine«, in: Pictorial Review 35 (12/1933), S. 14f., 26f. und 30; B., V.: o. T. [in Hollywood war es wie immer]. o. D. Typoskript einer Erzählung, in: AdK, Berlin, Vicki-Baum-Archiv, Nummer 119. 73 Baum, Vicki:»Das Auto im Film«, in: Die Dame 54 (1926), Nummer 3, Drittes Oktoberheft, S. 32, 34 und 38; B., V.: »Das Filmgesicht«, in: Berliner Illustrirte Zeitung 37 (10/1928), Nummer 43, S. 1829 und 1831; B., V.: »Karriere in der Holzmarktstrasse. Eine wahre Geschichte aus dem Glashaus«, in: Uhu 5 (8/1929), Nummer 11, S. 74-88. 74 V. Baum: Das Filmgesicht, S. 1831. 75 Baum, Vicki: »Zwangsarbeit in Hollywood«, in: Pariser Tageszeitung vom 02.12.1936, S. 3.

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ist das Klima von Hollywood zwar »gut, um Datteln blühen zu lassen – aber nicht gut genug, um sie auszureifen. Datteln – und andere Dinge auch«76. Für die Schauspielerinnen und Schauspieler erweist sich Hollywood als Schlachtfeld, auf dem nur die wenigsten erfolgreich, die meisten hingegen unglücklich sind. Abseits der kleinen Anzahl von Stars, deren Ruhm jedoch auch ein Ablaufdatum hat, gebe es »eine Armee« von erfolglosen und enttäuschten Menschen; diese »[w]arten auf die Rolle, warten auf die Chance, warten auf den großen Augenblick, warten auf eine Karriere – die in neunzig von hundert Fällen niemals kommt«77. Den Schriftstellerinnen und Schriftstellern ergehe es nicht besser, man schätze weder ihre geistige und kreative Arbeit, noch wisse man, wie diese eigentlich vonstattengehe: »Wie gross sein [des Schriftstellers] Talent und sein Ruf auch sein mögen, sobald er engagiert ist, wird er zum Lohnempfänger, ebenso gut wie jeder Maschinist, und hat sein Arbeitspensum zu leisten, ob er nun in Stimmung ist oder nicht.«78 Baum kritisiert, dass die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in den Diensten des Films nicht mehr eigenverantwortlich arbeiten können und ihre kreativen Leistungen gering geschätzt werden. Sie kommen nämlich erst nach dem ›big business‹, das aus Hausautorin oder -autor und Produzentin oder Produzent bestehe, an die Reihe, »wie man einer Konfektionsarbeiterin den zugeschnittenen Stoff aushändigt, mit dem er sich nun in die box zurückzieht, in Begleitung der Sekretärin«79. Die Vorstellung, wie geistige Arbeit funktioniere, sei völlig absurd, notwendige Schaffenspausen oder die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, seien durch den massiven Erfolgsdruck und die permanente Anwesenheit zusätzlicher ›Co-Worker‹ nicht gegeben. Schlafen könne man nur noch »nach Einnahme von Aspirin« und nicht einmal den Feier-abend könne man genießen, denn da müsse »man aus Gründen der Gewissenhaftigkeit alle Filmvorführungen besuchen«80. Die Groteske gipfelt Baum zufolge darin, dass nach nervenzermürbender Arbeit, Kritik und Umarbeitungen von allen Seiten, dann kurzfristig eine Version als passend erscheine, die schlussendlich dem Regisseur vorgelegt werde, der seinerseits »bald alles auf seine Art in Ordnung«81 bringe.

76 Baum, Vicki: »Unglücklich in Hollywood! Das Leben der großen und kleinen Sterne«, in: Uhu 8 (5/1932), Nummer 8, S. 105-108, hier S. 105. 77 Ebd., S. 106. 78 V. Baum: Zwangsarbeit in Hollywood, S. 3. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Ebd.

236 I V ERONIKA H OFENEDER In ihren Betrachtungen über unterschiedliche künstlerische Ausdrucksformen, wie Tanz, Musik, Photographie, Film und nicht zuletzt das Schreiben, zeigt sich Baum als aufmerksame Beobachterin kreativen Schaffens. Sie nimmt diese künstlerischen Betätigungsfelder zum Anlass, um zum einen sozio-politische Missstände aufzuzeigen, wie im Bereich der sozial unzureichend abgesicherten und daher musisch wenig ambitionierten Orchestermusikerinnen und Orchestermusiker oder der in der Filmindustrie zum Teil üblichen ausbeuterischen Beschäftigungspraxis von Schauspielerinnen, Schauspielern, Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Zum anderen sieht sie diese Kunstformen als Spiegel zeitgenössischer Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft: Als Kehrseite von Technikbegeisterung und Leistungsmaximierung macht sie einen Mangel an zwischenmenschlicher Empathie und Rücksichtnahme aus. Baums Aufruf zu Bescheidenheit und Selbstgenügsamkeit ist über ihren zeitdiagnostischen Befund hinaus auch im poetologischen Sinne zu verstehen. Im Kontext aktueller Diskurse der Zwischenkriegszeit um angemessene Möglichkeiten literarischen Ausdrucks tritt sie für einen »feuilletonistischen Zugang[] zur Realität«82 ein, der auf formaler Ebene nur mehr durch die kleine Form möglich ist. Ihre Reflexionen über Essenz und Wesen einer zeitgemäßen Literatur beinhalten sowohl narratologische als auch semantische Postulate, die sie auf praktischer Ebene souverän ausgestaltet. So erweist sich Baum auch im Bereich des feuilletonistischen Schreibens als höchst produktive Schriftstellerin, die sich ambitioniert und engagiert mit dem gattungspoetologischen Potenzial innovativer Literaturformen auseinandersetzt.

82 H. Kernmayer, Sprachspiel nach besonderen Regeln, S. 520.

Das Interview. Quantitative und qualitative Aspekte einer feuilletonistischen Form M ARC R EICHWEIN UND M ICHAEL P ILZ

Warum hat das Interview im Feuilleton einen so schlechten Ruf? Wieso wird es – ähnlich wie das Porträt – für den Niedergang des Rezensionsfeuilletons verantwortlich gemacht? Und gibt es diesen Niedergang überhaupt? Der nachfolgende Beitrag untersucht Korrelationen zwischen dem vermeintlichen Verschwinden der Rezension und dem gefühlten Aufschwung von Interview und Porträt im Feuilleton der deutschsprachigen Tages- und Wochenpresse. Neben dem negativ konnotierten Image im Feuilleton (1.) soll der Status des Interviews in quantitativen und qualitativen Aspekten der Feuilletonforschung (2.) beleuchtet werden.1 Ziel unseres abschließenden Ausblicks auf die Praxis (3.) ist es, Qualitäten des Interviews zu beschreiben, die diese journalistische Form als originär feuilletonistisch markieren können.

1. D AS

SCHLECHTE I MAGE DES I NTERVIEWS

Wann immer die Rede vom Rückgang des klassischen Rezensionsjournalismus ist, gibt es einen Parallelbefund: »Die personenbezogenen Textsorten Interview und Autorenporträt nehmen immer mehr Raum auch in den seriös informierenden Tageszeitungen ein«2, konstatiert der Literaturkritiker Hubert Winkels. »Die Kri-

1

Die qualitativen Aspekte wurden von Marc Reichwein, die quantitativen von Michael

2

Winkels, Hubert: »Die Schöne und der Markt. Wohin strebt die Literaturkritik?«, in: H.

Pilz bearbeitet. W., Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995-2005, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 34-54, hier S. 49.

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tik ist in keiner privilegierten Situation mehr.« Sie sei »ein Nebenaspekt des Journalismus geworden, sie [müsse] journalistischen Kriterien genügen und sonst gar keinen«3, sekundiert sein Kollege Helmut Böttiger. Journalismus als Bedrohung der Kritik? Das klingt beinahe so, als käme das Feuilleton höchstselbst gar nicht aus dem Journalismus des Journal des Débats, als stünde jedes Interview und jedes Porträt dem ominösen ›Wesen‹ des Feuilletons diametral entgegen. Doch schon Günter Oesterle hat geltend gemacht, dass die Kritik in ihren Ursprüngen das Premierengespräch simuliert: »Julien-Louis Geoffroy erfindet das literarische Kunststück, die Atmosphäre des mündlichen Theaterraisonnements in Salon und Café in die schriftliche Form des Feuilletons zu übertragen. Auf diese Weise wird die Causerie des Feuilletons geboren. Das Feuilleton saugt gleichsam die oralen Möglichkeiten einer großen Stadt an, die Sprachspiele, die Deklamationen, die Anekdoten, die Witze, die Klatschgeschichten und frivolen Anspielungen, um sie ins Schriftliche zu verwandeln. Die Simulation des gesellig-urbanen Gesprächs in der verschriftlichten Form des Feuilletons birgt den Keim des Ornamentalen.«4

Hildegard Kernmayer hat die Text- und Stilmerkmale dieser simulierten Konversation als konstitutiv für die Kleine Form beschrieben und die dieser Gattung inhärente Vielstimmigkeit als Programmatik feuilletonistischer Sprechhandlungen insgesamt charakterisiert.5 Im vorliegenden Aufsatz werden Interview und Porträt als ›personalisierende‹ Formen und als Konkurrenz zur Rezension im Feuilleton gleichrangig behandelt. 3

»Die Kunst des Lesens – Positionen der Literaturkritik. Podiumsdiskussion mit Reinhard Baumgart, Helmut Böttiger, Sigrid Löffler, Jörg Magenau, Joachim Scholl, Gustav Seibt (6. Februar 2002) «, in: Sprache im technischen Zeitalter, Sonderheft: Positionen der Literaturkritik (2002), S. 159-203, hier S. 169 und 178.

4

Oesterle, Günter: »›Unter dem Strich‹. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert«, in: Jürgen Barkhoff et.al. (Hg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998, Tübingen: Niemeyer 2000, S. 229-250, hier S. 237f.

5

Vgl. Kernmayer, Hildegard: »›Unsterblichkeit eines Tages‹ oder ›interdiskursives Sprachspiel‹? Gattungshistorisches und Gattungstheoretisches zur Frage: Was ist ein Feuilleton?«, in: Sigurd Paul Scheichl (Hg.), Feuilleton – Essay – Aphorismus. Nichtfiktionale Prosa in Österreich, Innsbruck: Innsbruck University Press 2008, S. 45-66; Kernmayer, Hildegard: »Flüchtige Wahrheiten oder die Episteme der Kleinen Form. Zu Hermann Bahrs ›Feuilleton‹«, in: Susanne Hochreiter et. al. (Hg.), Ein Zoll Dankfest. Konstanze Fliedl zum 60. Geburtstag, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 37-43.

D AS I NTERVIEW

ALS FEUILLETONISTISCHE

FORM I 239

Tatsächlich sind Interview und Porträt insofern verwandt, als beiden ein Gespräch und/oder eine Begegnung zugrunde liegen kann, wobei das Porträt die Variante wäre, in der der Inhalt dieses Gesprächs nicht im wörtlichen Frage-Antwort-Modus wiedergegeben wird, sondern als »Interview-Story«, wie Gernot Stegert sie in seiner Übersicht von Feuilleton-Beitragstypen nennt.6 Gegenüber der Rezension stehen Interview und Porträt im Ruf, stärker auf die Person als auf das Werk zu fokussieren, wobei auch das nicht notwendig der Fall sein muss; ein Porträt kann ein Werkporträt im Sinne der Charakterisierung eines Œuvres sein. Dennoch: Am ›personalisierenden‹ Charakter der Textsorten Interview und Porträt macht sich der Vorwurf fest, diese würden einem unkritischen ›Weichspül‹- und ›People‹Journalismus Vorschub leisten, einem ›human interest‹-Journalismus also, der vor allem die Nähe zu den Personen statt die kritische Distanz zu den ästhetischen Objekten der Werke sucht.7 »Nähe«, dekretiert Böttiger mit Blick auf den Personality- und Lifestyle-Journalismus, »ist ein […] journalistisches Kriterium, es steht in direktem Gegensatz zur Distanz, die den […] Kritiker auszeichnet«8. Dies unterstellt, dass nur der Rezensionsjournalismus Distanz zu seinen Gegenständen wahrt, – und übersieht, dass sich Kulturjournalismus als solcher nicht in Kritik erschöpft. »Kritik ist nicht die einzige Form, mit Literatur umzugehen«9, gibt sich Burkhard Müller, Literaturkritiker für die Süddeutsche Zeitung und Kerr-Preisträger des Jahres 2008, überzeugt. »Unsere Literaturseiten sind Rezensionsfriedhöfe«10, haben die Kommunikationswissenschaftler Peter Glotz und Wolfgang Langenbucher schon 1969 diagnostiziert. Sie mahnten: Eine größere Formenvielfalt der journalistischen Textsorten könne das Feuilleton interessanter machen und für größere Leserkreise öffnen. Ähnlich forderte Gunter Reus in seinem Programm für Kulturjournalismus in den Massenmedien noch dreißig Jahre später: »Buchkritik soll den Dialog ermöglichen. Rezension ist in ihrer Textgestalt ein Monolog. Das Interview mit

6

Vgl. Stegert, Gernot: Feuilleton für alle. Strategien im Kulturjournalismus der Presse,

7

Vgl. ebd., S. 203f.

8

Böttiger, Helmut: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegen-

Tübingen: Niemeyer 1998, S. 326.

wartsliteratur, Wien: Zsolnay 2004, S. 19. 9

Zit. nach Kahlefendt, Nils: »Totgesagte leben länger«, siehe http://www.boersenblatt. net/291127/ vom 13.11.2008.

10 Glotz, Peter/Langenbucher, Wolfgang R.: Der mißachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1969, S. 90f.

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einem Autor kann, wenn der Frager gewappnet und durch Nähe nicht zu korrumpieren ist, weitaus kritischer geraten als der Monolog einer Rezension«11. Monolog und Dialog, aber auch Distanz und Nähe sind zentrale Stichwörter, die die Debatte über die Formenvielfalt im Feuilleton prägen. Stehen Interview und Porträt wirklich für die Vermeidung und Abschaffung der klassischen Kritik? Oder setzen sie – siehe Geoffroy – nicht eine ureigene feuilletonistische Tradition fort, weil das Gespräch als Keimzelle des kritischen Diskurses und des Rezensionswesens überhaupt betrachtet werden kann? Schon in der Epoche der Aufklärung lanciert der Leipziger Gelehrte Christian Thomasius ein journalistisches Format mit Pionierkraft. Seine von 1688 bis 1690 erscheinenden Monats-Gespräche12 nehmen das Prinzip der Buchbesprechung durch mehrere Parteien vorweg – sie sind eine Art fiktionalisiertes Literarisches Quartett avant la lettre13 und beweisen, dass die fingierte ›disputatio‹ über Literatur der Ausgangspunkt aller Literaturkritik ist. Auch die Geschichte der Essayistik weist das Motiv des Dialogischen beständig auf – man denke nur an Hugo von Hofmannsthals Erfundene Gespräche oder die Gesprächsessays eines Josef Hofmiller,14 die beide auf eine Traditionslinie referieren, die sich über die Gebrüder Schlegel und die Dialogliteratur des Humanismus letztlich bis auf das platonische Gespräch der Antike zurückverfolgen lässt.15 Angesichts der gesprächigen Traditionen der Kritik muss es also verwundern, dass die gleichermaßen auf Begegnung und Gespräch basierenden Genres ›Interview‹ und ›Porträt‹ ein gegenüber der Rezension so nachhaltiges Negativ-Image aufweisen. Eine feldsoziologische bzw. systemtheoretische Erklärung dieses scheinbar paradoxen Befunds wäre: Das Feuilleton der Gegenwart muss sich von Ressorts wie ›Sport‹, ›Politik‹ oder ›Vermischtes‹ abgrenzen, wo Interviews und

11 Reus, Gunter: Ressort: Feuilleton. Kulturjournalismus für Massenmedien, Konstanz: UVK 1999, S. 99f. 12 Vgl. Martus, Steffen: »Christian Thomasius«, in: Stephan Porombka/Erhard Schütz, 55 Klassiker des Kulturjournalismus, Berlin: Siebenhaar 2008, S. 23-26. 13 Zu dieser Lesart vgl. G. Stegert: Feuilleton für alle, S. 245f. 14 Vgl. Pilz, Michael: Konservative Literaturkritik und ihre Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Beispiel Josef Hofmiller, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2012, S. 106-111. 15 Zur Geschichte und Tradition des Gesprächsessays im frühen 20. Jahrhundert vgl. Burdorf, Dieter: »Gespräche über Kunst. Zur Konjunktur einer literarischen Form um 1900«, in: D. B./Andreas Beyer (Hg.), Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900, Heidelberg: Winter 1999, S. 29–50.

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ALS FEUILLETONISTISCHE

FORM I 241

Porträts inzwischen »omnipräsent«16 sind. Die Sprechhandlung des Rezensierens hat das Feuilleton exklusiv. Auch deswegen wird die Rezension gern zur »Königsdisziplin des Kulturjournalismus«17 erklärt. Zudem gelten im Feuilleton Bourdieus Regeln der Kunst – die ›illusio‹ auf dem Markt der symbolischen Güter hält dazu an, Werken ein Primat gegenüber Personen einzuräumen, und sie trägt möglicherweise dazu bei, jeden ausgestellten Biografismus geringzuschätzen. Spuren dieser Diskreditierung reichen bis in die jüngste Belletristik über das Zeitungswesen, wie der folgende Abschnitt aus Gerhard Stadelmaiers Schlüsselroman Umbruch aus dem Jahr 2016 zeigt: »Und da das Genre des Interviews, also die billige, oberfaule, bequeme Fragerei zeitungsferner, mehr oder weniger prominenter Personen damals noch bei der großen Staatszeitung verpönt, ja verboten war; und da man auch sich noch nicht der blödsinnigen und später dann förmlich seuchenhaft ausbrechenden Unsitte verschrieben hatte, zu Autoren, Malern, Regisseuren, Schauspielern, Dirigenten, Musikern und Sängern, über deren Arbeit und Kunst man eigentlich kritisch und absolut distanziert zu schreiben hatte, hinzufahren, und sie dann kumpelselig oder auch korrumpelhaft aus der Nähe zu porträtieren, es sei denn, man verfertigte für die auf herrlichem, teurem Hochglanzpapier gedruckte Wochenendbeilage der großen Staatszeitung ein Porträt des Betreffenden, das sich allein aus seinen Lebenswerken, nicht aus seinen Kaffeetrinkgewohnheiten, zeichnen ließ, fügten sich die Königreichsprodukte der Redakteure zu einem Feuilleton der Souveräne.« 18

2. D AS I NTERVIEW

IN DER

F EUILLETONFORSCHUNG

2.1 Quantitative Aspekte Wie ist es nun aber – jenseits gefühlter Werte und Annahmen – um das tatsächliche Verhältnis von personalisierenden Formen und Rezensionsfeuilleton bestellt? Lässt sich das vielfach geäußerte Unbehagen über die Krise des letzteren und das postulierte Aufblühen ersterer quantitativ belegen und somit durch ›harte Zahlen‹ stützen? Antworten darauf kann nur eine empirische Feuilletonforschung geben, die freilich noch ein weitgehendes Desiderat darstellt, sowohl von literatur- als auch von kommunikations- und medienwissenschaftlicher Seite. Zu den wenigen

16 Linden, Peter/Bleher, Christian: Das Porträt in den Printmedien, Berlin: ZV Zeitungsverlag 2004, S. 10. 17 H. Winkels: Die Schöne und der Markt, S. 37. 18 Stadelmaier, Gerhard: Umbruch, Wien: Zsolnay 2016, S. 187f.

242 I M ARC R EICHWEIN UND M ICHAEL PILZ

inhaltsanalytischen Studien, die bislang zum Thema durchgeführt wurden, zählt eine Längsschnittanalyse von zwei regionalen und zwei überregionalen Zeitungsfeuilletons im Zeitraum 1983 bis 2003, die Gunter Reus und Lars Harden 2005 in der Zeitschrift Publizistik veröffentlicht und zehn Jahre später ebendort um eine Folgeuntersuchung für das Jahr 2011 ergänzt haben.19 Reus und Harden gehen in ihrer Langzeitstudie auch auf das Spektrum der journalistischen Darstellungsformen ein und kommen zum Resümee: Anders als in den Feuilletondebatten behauptet, kann vom Verschwinden der Rezension im bearbeiteten Zeitraum keine Rede sein. Ihr Anteil liegt, zumindest in den vier untersuchten Zeitungen (neben zwei Hannoverschen Regionalzeitungen waren das immerhin die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung), zwischen 1983 und 2003 bei durchschnittlich 24 %, während personalisierende Formen wie Porträts oder Interviews rund 3 % aller Feuilletonartikel ausmachen und im Untersuchungszeitraum auch nur unwesentlich zugenommen haben.20 Im Jahr 2011 stieg der Anteil der Rezensionen gegenüber 2003 sogar um 17 Prozentpunkte auf 41 % an, während sich das Interview zusammen mit anderen journalistischen Genres weiterhin »zwischen 1 und 4 % auf niedrigstem Niveau«21 bewegt. Reus und Hardens Fazit einer ungebrochenen »Dominanz der Rezension im Feuilleton«22 der deutschsprachigen Tagespresse lässt sich mit Befunden stützen, die im Datenbestand des Innsbrucker Zeitungsarchivs zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA) am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck erhoben werden können. Das IZA wertet seit nunmehr über fünfeinhalb Jahrzehnten systematisch die deutschsprachige Zeitungslandschaft nach Artikeln zur Literatur und zum Literaturbetrieb (im weitesten Sinne) aus, seit Oktober 2001 im Rahmen einer im Web allgemein zugänglichen bibliographischen Datenbank, die ein differenziertes Spektrum an Suchabfragen – nicht zuletzt nach einzelnen journalistischen Genres und Subgenres – ermöglicht.23 Erste Ergebnisse einer solchen Analyse in Hinblick auf die quantitative Entwicklung von Rezensionen belletristischer Titel während der letzten eineinhalb Jahrzehnte wurden 2015 und 2016 im Zuge

19 Vgl. Reus, Gunter/Harden, Lars: »Politische ›Kultur‹. Eine Längsschnittanalyse des Zeitungsfeuilletons von 1983 bis 2003«, in: Publizistik 50 (2005), S. 153-172; Reus, Gunter/Harden, Lars: »Noch nicht mit der Kunst am Ende. Das Feuilleton setzt wieder deutlicher auf angestammte Themen und zieht sich aus dem politischen Diskurs zurück«, in: Publizistik 60 (2015), S. 205-220. 20 Vgl. G. Reus/L. Harden: Politische ›Kultur‹, S. 168. 21 G. Reus/L. Harden: Noch nicht mit der Kunst am Ende, S. 215f. 22 Ebd., S. 216. 23 Vgl. https://www.uibk.ac.at/iza/

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ALS FEUILLETONISTISCHE

FORM I 243

der Debatten veröffentlicht,24 die (überwiegend im Netz) über den vorgeblichen Niedergang der deutschsprachigen Literaturkritik am Beispiel des Rezensionsfeuilletons geführt wurden.25 Ausgangs- und Angelpunkt für diese Debatten hatte die wiederholt in der Öffentlichkeit aufgegriffene Behauptung von Thierry Chervel gebildet, die Zahl der Buchrezensionen in der deutschsprachigen Presse habe sich zwischen 2001 und 2013 glatt halbiert, was sich durch statistische Werte aus der von ihm herausgegebenen Online-Presseschau perlentaucher.de belegen lasse.26 Zumindest für die Besprechung belletristischer Publikationen, und damit für die Literaturkritik im engeren Sinne, wie sie das IZA dokumentiert, lässt sich

24 Vgl. Pilz, Michael: »Zahlenspiele. Aus gegebenem Anlass: Ein abermaliges Plädoyer für die Bedeutung der Statistik bei der Erforschung von Literaturkritik«, in: literaturkritik.de, Nummer 2 (2015), siehe http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id =20272&ausgabe=201502 vom 09.02.2015; Pilz, Michael: »Platzfragen. Einige historische Einlassungen zur aktuellen Debatte über die Literaturkritik«, in: literaturkritik.de, Nummer 7 (2015), siehe http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez _id=20865 vom 07.07.2015; Pilz, Michael: »Zum Status der Rezension im deutschen Feuilleton. Versuch einer Bilanz in Kurven und Balken«, in: literaturkritik.at, Ausgabe Winter (2015/16), siehe https://www.uibk.ac.at/literaturkritik/zeitschrift/1386022.html vom 01.02.2016; jüngst Pilz, Michael/Schuchter, Veronika: »Literatukritik in Zahlen. Eine statistische Auswertung des Innsbrucker Zeitungsarchivs zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur«, in: literaturkritik.de, Nummer 1 (2017), siehe http://literaturkritik.de/literaturkritik-zahlen-eine-statistische-auswertung-innsbruck er-zeitungsarchivs-zur-deutsch-fremdsprachigen-literatur,22917.html 25 Vgl. dazu den Kommentar von Ekkehard Knörer: »Neuigkeiten aus dem Betrieb«, in: Merkur 69 (2015), Nummer 793, S. 61-68; Überblick über anschließende Beiträge zur »Perlentaucher-Debatte Literaturkritik im Netz«, siehe https://www.perlentaucher.de/ essay/perlentaucher-debatte-literaturkritik-im-netz.html vom 26.06.2015. 26 »Im Jahr 2001 habe der ›Perlentaucher‹ noch 4330 Kritiken auswerten können, im Jahr 2013 dagegen nur noch 2200«, heißt es in der Zusammenfassung eines Radio-Interviews mit Chervel auf Deutschlandradio Kultur vom 09.12.2014, das am Anfang aller weiteren Diskussionen stand, vgl. »Zeitungskrise: Der Niedergang der Literaturkritik. ›Perlentaucher‹-Chefredakteur Thierry Chervel über Buchrezensionen«, in: Lesart Archiv, siehe http://www.deutschlandradiokultur.de/zeitungskrise-der-niedergang-der-literaturkritik.1270.de.html?dram:article_id=305666 vom 09.12.2014. Vgl. dazu als späteren Nachtrag auch Chervel, Thierry:

»Kritische Zahlen«,

siehe https://

www.perlentaucher.de/blog/565_kritische_zahlen.html vom 10.02.2016.

244 I M ARC R EICHWEIN UND M ICHAEL PILZ

diese These auf Grundlage des Innsbrucker Datenbestandes allerdings nicht aufrechterhalten.27 Dies sollen auch die folgenden Zahlen demonstrieren, die sich im vorliegenden Zusammenhang nicht nur auf Buchrezensionen beschränken, sondern vergleichend dazu die personalisierenden Genres ›Interview‹ und ›Porträt‹ (samt Nachrufen und Jubiläumsartikeln) in den Blick nehmen. Dazu ist vorauszuschicken: •

Für die Erfassung von Belletristik-Besprechungen erhebt das IZA einen größtmöglichen Vollständigkeitsanspruch ohne vorhergehende Selektion etwa nach thematischer Relevanz oder Artikellänge. Es werden mithin auch Kurz- und Kürzestbesprechungen sowie Sammelrezensionen erfasst, Kritiken zu Sachbüchern jedoch nur, wenn die behandelten Publikationen einen inhaltlichen Bezug zu literarischen Themen aufweisen. Sachbuchbesprechungen sind deshalb im Folgenden nicht in die Auszählung einbezogen worden.



Stärker personalisierende Formen des journalistischen Gattungsspektrums wie Interviews oder Porträtartikel werden im IZA nicht nur berücksichtigt, wenn sie sich auf Schriftsteller oder Schriftstellerinnen beziehen, sondern auch dann, wenn sie sich mit Angehörigen des literarischen Feldes im weitesten Sinne befassen. Es werden also auch Interviews und Porträts zu Personen des Verlagswesens, der Liedermacherszene oder der Literaturwissenschaft erfasst, darüber hinaus aber auch Texte über Personen aus dem Theaterbetrieb – von Schauspielerinnen und Schauspielern, Regisseurinnen und Regisseuren bis hin zu Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildnern.

Im chronologischen Anschluss an die nach anderen Gesichtspunkten und mit differenter Methodik vorgehende Analyse von Reus und Harden wurden aus der IZA-Datenbank statistische Werte für die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Berichtszeitraum 2005 bis 2014 erhoben.28 27 Zwischenzeitlich hat Thierry Chervel gewisse Inkonsequenzen in seiner Erhebungsgrundlage eingestanden und damit die Validität seiner Halbierungs-These relativiert: »Es bleibt also festzuhalten, dass die Redaktionen bei schrumpfendem Umfeld die Zahl der eigentlichen Literaturrezensionen einigermaßen hochgehalten haben […]«, stellte er am 12.02.2016 in einem Online-Kommentar zu seinem Beitrag »Kritische Zahlen« vom 10.02.2016 fest, siehe https://www.perlentaucher.de/blog/565_kritische_zah len.html [25.09.2016]. 28 Ausgewertet wurden nur die Inhalte der Druckausgaben, nicht aber die parallel oder komplementär erscheinenden Online-Angebote zu den jeweiligen Printprodukten.

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Abbildung. 1: Quantitative Entwicklung der Artikelanzahl in der Süddeutschen Zeitung 2005–2014 im Vergleich von kurzen und langen Beiträgen.

Abb. 1 zeigt exemplarisch am Beispiel der Süddeutschen Zeitung das zahlenmäßige Verhältnis von Besprechungen belletristischer Titel einmal zur Gesamtsumme der erfassten personalisierenden Textgenres insgesamt (Interviews, Porträts, Nachrufe und Jubiläumsartikel) sowie noch einmal separat dargestellt im Verhältnis zur Teilmenge der Interviews zwischen 2005 und 2014. Um eine differenzierte Unterscheidung zu gewinnen, die auf den Umfang bzw. die Länge und damit die potentielle Relevanz der einzelnen Artikel Rücksicht nimmt, wurde in drei weiteren Kurven die Anzahl nur jener Beiträge eingetragen, die nicht mehr als ›journalistische Häppchenware‹ bezeichnet werden können, da sie einen Umfang von über 500 Wörtern aufweisen und damit als hinlänglich ›lange‹ Artikel einzustufen sind.29 Die Graphik zeigt, dass bei der Süddeutschen Zeitung über die Jahre hinweg eine leichte Zunahme an Rezensionen insgesamt bei leichter Abnahme der personalisierenden Genres insgesamt zu verzeichnen ist (wobei die Menge der Interviews die geringsten Schwankungen aufweist). Zugleich wird deutlich, dass diese Zunahme an Belletristik-Besprechungen insgesamt keineswegs auf Kosten der langen Rezensionen erfolgt ist: Die ›klassische‹ Rezension wird also keineswegs durch kürzere Besprechungsformate ersetzt. Letztere kommen vielmehr zu den 29 Die Länge der einzelnen erfassten Zeitungsartikel ist in der IZA-Datenbank durch die automatisierte Angabe der Wortanzahl transparent gemacht und kann entsprechend bei der statistischen Auswertung berücksichtigt werden.

246 I M ARC R EICHWEIN UND M ICHAEL PILZ

längeren hinzu, ohne sie zu verdrängen, wie sich insbesondere an der Peak-Bildung des Jahres 2010 ablesen lässt: Die Gesamtmenge an Rezensionen hat hier ebenso einen Anstieg zu verzeichnen, wie die Teilmenge der langen Besprechungstexte. Gleichzeitig ist 2010 sogar ein paralleler Einbruch bei den personalisierenden Formen erkennbar, während die absolute Zahl an Interviews den identischen Stand des Jahres 2005 hält. Eine Gefährdung der unbestrittenen Vorrangstellung des Rezensionsfeuilletons durch den Persönlichkeitsjournalismus kann für die Literaturberichterstattung der Süddeutschen Zeitung also nicht ausgemacht werden. Abbildung 2: Verhältnis der Belletristik-Rezensionen zu einzelnen personalisierenden Genres in der SZ (Artikelumfang über 500 Wörter).

Noch deutlicher lässt sich dies anhand des Balkendiagramms in Abb. 2 illustrieren, das für denselben Zeitraum und dieselbe Zeitung lediglich die Menge der ›langen‹ Artikel nach Genres weiter aufschlüsselt. Die eingezogenen Trendlinien zeigen für die Rezensionen deutlich eine ansteigende Tendenz, während sie für die Gesamtmenge an personalisierenden Formaten ebenso wie für die Interviews im Speziellen eine fallende markieren. In absoluten Zahlen stellt sich die Entwicklung für die Artikel mit einem Umfang von über 500 Wörtern wie folgt dar:

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SZ

ALS FEUILLETONISTISCHE

FORM I 247

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

Besprechungen Belletristik

370

362

380

382

426

438

384

371

389

377

Personalisierende Formen insges.

235

266

295

267

297

242

248

254

233

201

Interviews

101

126

117

104

111

98

89

108

90

80

Nachrufe

35

24

45

37

43

35

39

30

47

33

Jubiläumsartikel

59

57

64

67

87

72

74

80

52

52

Porträts (sonstige)

40

59

69

59

56

37

46

36

44

36

Abbildung 3: Verhältnis der Belletristik-Rezensionen zu einzelnen personalisierenden Genres in der FAZ (Artikelumfang über 500 Wörter).

Vergleicht man diese Werte mit den entsprechenden Daten für die FAZ in Abb. 3, so ist erkennbar, dass auch hier zumindest im Bereich der Belletristik-Rezensionen ein analoger Trend über die Jahre hinweg auszumachen ist:

248 I M ARC R EICHWEIN UND M ICHAEL PILZ

FAZ

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

Besprechungen Belletristik

507

455

467

503

534

530

601

594

506

447

Personalisierende Formen insges.

148

160

197

194

185

165

202

179

195

183

Interviews

20

49

48

50

41

46

37

46

57

57

Nachrufe

17

31

39

28

37

25

44

27

44

49

Jubiläumsartikel

79

57

63

70

59

56

57

49

59

48

Porträts (sonstige)

31

23

47

46

48

38

64

57

35

29

Als unbestrittenes Flaggschiff des deutschen Rezensionsfeuilletons – das in Summe die meisten Besprechungen in der deutschsprachigen Tagespresse überhaupt aufzuweisen hat30 – räumt die Frankfurter Allgemeine Zeitung in noch viel stärkerem Maße als die Süddeutsche Zeitung Platz für Besprechungstexte ein (wobei auch hier aus Gründen der besseren Darstellbarkeit nur die Zahlen für die langen Artikel mit einem Umfang von über 500 Wörtern berücksichtigt worden sind). Gegenüber den Besprechungen fallen die Interviews in der FAZ kaum ins Gewicht, auch die übrigen Genres des Persönlichkeitsjournalismus können die dominante Rolle des hier notabene lediglich ausschnitthaft erfassten Rezensionsfeuilletons nicht gefährden. Zwar gibt es in der FAZ anders als in der Süddeutschen Zeitung auf lange Sicht betrachtet sowohl bei der Teilmenge der Interviews als auch bei der Gesamtsumme an personalisierenden Texten einen Aufwärtstrend zu verzeichnen, doch gilt es auch hier festzuhalten, dass diese Tendenz keineswegs auf Kosten des Rezensionsanteils geht: Interviews, Porträts usw. treten vielmehr komplementär zum klassischen Rezensionsfeuilleton hinzu, ohne dieses auch nur ansatzweise zu verdrängen.

30 Vgl. M. Pilz: Zum Status der Rezension im deutschen Feuilleton. Erst in allerjüngster Zeit hat sich dies leicht verändert: Wie eine erst nach Abschluss des vorliegenden Beitrags erstellte Auswertung ergeben hat, hat die SZ im Jahr 2015 mit 583 Artikeln insgesamt geringfügig mehr Belletristik-Besprechungen enthalten als die FAZ mit 573 Artikeln. Auch im Jahrgang 2015 allerdings hielt das Frankfurter Blatt gegenüber der Münchner Konkurrenz die Spitzenposition bei den längeren Besprechungen belletristischer Titel mit einem Umfang von über 500 Wörtern. Hier lag das Verhältnis im besagten Zeitraum bei 460 Artikeln (FAZ) zu 374 (SZ), vgl. Innsbrucker Zeitungsarchiv zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (Hg.), Literaturkritik in Zahlen. Berichtsjahr 2015, Innsbruck: IZA 2016, siehe https://www.uibk.ac.at/iza/literaturkritik-in-zahlen/pdf/2015_statistik.pdf (dort auch zum Verhältnis von personalisierenden Formen und Rezensionen im genannten Berichtsjahr).

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ALS FEUILLETONISTISCHE

FORM I 249

Weitere Längsschnittanalysen für andere deutschsprachige Tageszeitungen dürften zu ähnlichen Ergebnissen kommen, wie sie hier für die SZ und die FAZ ermittelt wurden, zumal auch Reus und Harden unter Einbeziehung der Regionalpresse nachgerade eine »neue ›Rezensionsseligkeit‹ des Feuilletons«31 konstatieren können. Subjektive Eindrücke von einer etwaigen Gefährdung der traditionellen Literaturkritik und ihres klassischen Formats in Gestalt der Rezension durch stärker personalisierende Genres wie Porträts und Interviews (oder auch durch Kurzformen der Kritik) scheinen einer Verifizierung durch empirische Daten keineswegs standhalten zu können – die hier vorgestellten Befunde sprechen jedenfalls eindeutig gegen eine solche Entwicklung. Unabhängig davon müssten alle quantitativen Analysen freilich von weiteren qualitativen Untersuchungen flankiert werden, um stichhaltige Aussagen über den Zustand der Literaturberichterstattung im zeitgenössischen Feuilleton treffen zu können. 2.2 Qualitative Aspekte Die qualitative Feuilletonforschung kann mit Roland Barthes davon ausgehen, dass jedes Autorenporträt und/oder Interview in den Medien »Biographeme« erzeugt32 und ergo Einfluss auf die Wahrnehmung von Schriftstellerinnen, Schriftstellern und ihrer Œuvres, kurzum: auf ihr Image nimmt.33 Generell lassen sich Statements von Autorinnen und Autoren in Interviews und ihre Darstellung in Porträts als Paratexte im Sinne von Gérard Genette lesen.34 Inzwischen herrscht

31 G. Reus/L. Harden: Noch nicht mit der Kunst am Ende, S. 218. 32 Vgl. Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 12f.: »Der aus seinem Text heraus- und in unser Leben hineintretende Autor ist keine Einheit: er ist für uns ganz einfach eine Vielzahl von ›Reizen‹, der Ort einiger zerbrechlicher Details und doch Quelle lebendiger romanesker Ausstrahlung […].« 33 Vgl. Niefanger, Dirk: »Biographeme im deutschsprachigen Gegenwartsroman (Herta Müller, Monika Maron, Uwe Timm)«, in: Peter Braun/Bernd Stiegler (Hg.), Literatur als Lebensgeschichte. Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript 2012, S. 289-306; Stüssel, Kerstin: »Autorschaft und Autobiographik im kultur- und mediengeschichtlichen Wandel«, in: Ulrich Breuer/Beatrice Sandberg (Hg.), Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Band 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität, München: Iudicium 2006, S. 19-33. 34 Vgl. Reichwein, Marc: »Diesseits und jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Vermittlung von Paratexten«, in: Stefan Neuhaus/Johann Holzner (Hg.),

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ein profundes literaturwissenschaftliches Bewusstsein für die Funktion auktorialer Paratexte bei der Inszenierung35 von Autorschaft durch Interview, Briefe, Tagebücher und Nachlässe; dennoch scheint sich eine eigentliche, auf das literarische Feld bezogene Interviewforschung36 erst in jüngster Zeit zu etablieren. Qualitative Feuilletonforschung hat darüber hinaus die ›Erzähltheit‹ journalistischer Textsorten in den Blick zu nehmen. Hierfür benötigt sie ein grundlegendes medienhistorisches Verständnis der journalistischen Gattungen Interview37 und Porträt38. Aber auch wenn ein solches Textsortenwissen wiederholt eingefordert

Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 89-99. 35 Vgl. Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011; Blumenkamp, Katrin: »Authentizität in literarischem Text und Paratext. Alexa Hennig von Lange und Amélie Nothomb«, in: Evi Zemanek/Susanne Krones (Hg.), Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld: Transcript 2008, S. 345-360. 36 Vgl. Hoffmann, Torsten/Kaiser, Gerhard (Hg.), Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb, Paderborn: Fink 2014; Kasaty, Olga Olivia: Entgrenzungen. Vierzehn Gespräche mit Schriftstellern. München: edition text + kritik 2007; Lenz, Daniel/Pütz, Eric: LebensBeschreibungen. Zwanzig Gespräche mit Schriftstellern, München: edition text + kritik 2000. Zur Gattung der Rundfrage und ihrem Florieren in der Zwischenkriegszeit vgl. Reichwein, Marc: »›Was verdanken Sie dem deutschen Geist?‹ Die Rundfrage als Paradedisziplin der ›Literarischen Welt‹ (1925–1933)«, in: Gunhild Berg/Magdalena Gronau/Michael Pilz (Hg.), Zwischen Literatur und Journalistik. Generische Formen in Periodika des 18. bis 21. Jahrhundert, Heidelberg: Winter 2016, S. 267-284. 37 Vgl. Haller, Michael: Das Interview. Ein Handbuch für Journalisten, Konstanz: UVK Medien 21997; Pekar, Thomas: »Interview«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band. 4 (Hu-K), Tübingen: Niemeyer 1998, Sp. 533-539. 38 Vgl. Linden, Peter/Bleher, Christian: Das Porträt in den Printmedien, Berlin: ZV Zeitungsverlag 2004.

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FORM I 251

worden ist,39 scheint es bislang doch nur selten praktiziert worden zu sein.40 Stattdessen begegnet man in Handbüchern und Überblicksartikeln eingeübten Deutungsmustern kulturkritischer Provenienz, die über Jahrzehnte hinweg fortgeschrieben werden: Noch in seinem einschlägigen Handbuch des Feuilletons etwa bekundet Wilmont Haacke41 seine unverhohlene Skepsis gegenüber der »Interviewseuche«42 – und Skepsis regiert bis heute, wenn etwa bei Oliver Pfohlmann kolportiert wird, dass ein Schriftsteller XY erstaunt sei, »wie oft er von Journalisten, die ihn erkennbar nicht gelesen hätten, um Interviews gebeten werde. Offenbar hielten sie das für die beste Gelegenheit, sich vom Autor einiges über seine Bücher erzählen zu lassen und sie dadurch kennen zu lernen«43. Ähnlich reserviert wie dem Interview tritt man auch dem Porträt im Feuilleton entgegen, das Haacke vor allem durch »Geburtstage, Jubiläen, Sterbefälle etc.« motiviert sieht.44 Pfohlmann immerhin bindet es generisch an Schlegels ›Charakteristiken‹ aus der Zeit der Frühromantik zurück.45 Nachholbedarf besteht also sowohl hinsichtlich der Beschreibung stilistischer und rhetorischer Textmerkmale von Interview und Porträt als auch im Hinblick auf ihre funktionalen Qualitäten. Denn nur wer das Ensemble feuilletonistischer Textsorten kennt, wird charakteristische Verschiebungen einordnen können. So lässt sich der Einsatz von Porträts und Interviews tatsächlich als Umgehung von (negativer) Kritik interpretieren. Wenn die Zeit-Journalistin Iris Radisch den 39 Vgl. Thiele, Martina: »Buntes Kulturallerlei – Das Feuilleton als Allzuständigkeitsressort«, in: Günther Rager et.al. (Hg.), Zeitungsjournalismus. Empirische Leserschaftsforschung, Konstanz: UVK 2006, S. 204-213, hier S. 211; Todorow, Almut: »Das Feuilleton im medialen Wandel der Tageszeitung im 20. Jahrhundert. Konzeptionelle und methodische Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Feuilletonforschung«, in: Kai Kauffmann/Erhard Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin: Weidler 2000, S. 25-39, hier S. 28. 40 Um kursorisches Textsortenwissen bemühen sich Haacke, Wilmont: Handbuch des Feuilletons, Band 2, Emsdetten: Lechte 1952; G. Stegert: Feuilleton für alle; O. Pfohlmann: Kleines Lexikon der Literaturkritik; ferner (als Versuch einer Genre-Anthologie auf der Basis eigener Texte) Hage, Volker: Kritik für Leser. Vom Schreiben über Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. 41 Zur Problematik von Haackes Feuilletonforschung siehe den Aufsatz von Bettina Braun im vorliegenden Band. 42 W. Haacke: Handbuch des Feuilletons II, S. 191-194. 43 Pfohlmann, Oliver: Kleines Lexikon der Literaturkritik, Marburg: Verlag LiteraturWissenschaft 2005, S. 26. 44 Vgl. W. Haacke: Handbuch des Feuilletons II, S. 243-245. 45 O. Pfohlmann: Kleines Lexikon der Literaturkritik, S. 6f.

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Schriftsteller Navid Kermani für ein großes Interview trifft, obwohl sie dessen neues Buch erklärtermaßen für gescheitert hält, dann muss sie sich dafür rechtfertigen.46 Wollte Radisch einen Verriss vermeiden – weil dieses Genre aus der Mode47 gekommen ist? Gibt es generelle Anzeichen dafür, dass Feuilletonredaktionen statt eines Verrisses manchmal lieber ein Interview bringen, weil Gespräche als Artikelgattung attraktiver erscheinen als umfängliche Verrisse? Man könnte solche Fälle mithilfe der Dokumentation des IZA empirisch überprüfen. In qualitativen Analysen wird man sich nicht nur mit solchen Verdrängungskonstellationen, sondern auch mit Textsortenkomparatistik auseinanderzusetzen haben. Ergiebig ist ein Vergleich des Interviews mit der Kleinen Form. Obwohl beide journalistischen Genres mit simulierter Mündlichkeit operieren und obwohl der zirkulierende Perspektivwechsel, wie ihn Kernmayer beschreibt,48 beiden inhärent ist, scheinen sie doch konträr konnotiert: Die Kleine Form gilt als Veredelung feuilletonistischer Sprechweise, das Interview hingegen als »strukturell stereotypisierte Form von genregewordener Redewiedergabe«49. Wo die Nachahmung einer Konversation in der Textsorte Feuilleton in eine assoziative Erzählweise mündet, bemüht sich das Interview – zumal das gründlich redigierte, dramaturgisch kuratierte und aussagentechnisch inszenierte – in aller Regel um Nachdrücklichkeit, Eindeutigkeit und Bestimmtheit, sprich: um jene »apophantischen«50 Merkmale von Publizistik, denen sich das Feuilleton als Textsorte und als Ressort eher verweigert.

46 »Ich verstehe auch nicht, wieso Sie mit diesen Autorenporträts kommen in Ihren Literaturbeilagen – statt wie früher das Buch zu besprechen, um das es geht«, moniert Navid Kermani in einem Gespräch, das seine eigenen Entstehungsbedingungen ziemlich offen thematisiert. Vgl. Radisch, Iris: »Es gibt nun mal Menschen, die Jutta heißen«, in: Die Zeit vom 06.10.2016, siehe http://www.zeit.de/2016/40/navid-kermani-roman-sozusa gen-paris/komplettansicht [30.09.2016]. 47 Zum Schwund vgl. Süselbeck, Jan: »Verschwinden die Verrisse aus der Literatukritik? Zum Status polemischer Wertungsformen im Feuilleton«, in: literaturkritik.de, Nummer

2

(2015),

siehe

http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20273

[30.09.2016]. 48 Vgl. H. Kernmayer: ›Unsterblichkeit eines Tages‹ oder ›interdiskursives Sprachspiel‹?, S. 45-66. 49 Gehr, Martin/Kurz, Josef: »Interview«, in: J. K. et al. (Hg.), Stilistik für Journalisten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 22010, S. 200-241, hier S. 200. 50 Zur Gegenüberstellung von apophantisch (von griech. apophánai, ›bestimmt berichten‹) und mehrdeutig im kulturjournalistischen Sinne vgl. H. Kernmayer: ›Unsterblichkeit eines Tages‹ oder ›interdiskursives Sprachspiel‹?, S. 58; ebenso Porombka, Stephan:

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FORM I 253

Die qualitative Feuilletonforschung kann solche strukturellen Erkenntnisse mit diachronen Analysen verknüpfen: Wann verändern sich Notierungen einzelner Genres im Diskurs der Journalismusbeobachter? Wie und wodurch zeichnet sich ein Wandel in ihrer Poetik ab? Wenn die Kritikerin Sigrid Löffler im Jahr 2002 Potenziale für das Porträt sieht, hat das beispielsweise mit ihrer damaligen Funktion als Herausgeberin von Literaturen zu tun – einer Zeitschrift, die auf eine Genrevielfalt des Literaturjournalismus dezidiert Wert legte: »Da wird von den Dogmatikern immer gesagt: […] Das Porträt ist kontaminiert […]. Dem habe ich immer widersprochen. Ich weiß, dass das Porträt eine heruntergekommene und verwahrloste Form ist, aber das muss die Herausforderung sein, dass man das Porträt als Form wieder hochschreibt.«51

Images von feuilletonistischen Textsorten sind also wie alle Sorten symbolischen Kapitals konvertierbar. Legen Literaturredakteure wie Volker Weidermann ihre gesammelten Schriftsteller-Porträts in Buchform52 vor, entspricht dies einer Logik der Aufwertung: Die Anthologie mit Texten einer Feuilletonistin oder eines Feuilletonisten, die traditionsgemäß vor allem gesammelten Kritiken und Kolumnen (in Gestalt der Kleinen Form) vorbehalten war, öffnet sich dem Autoren-Porträt. Teil dieser Aufwertung ist die demonstrative Negierung sämtlicher Rollenkonflikte, die sich aus einer Personalunion beim Verfassen von Homestorys und Rezensionen ergeben könnten: »Wenn ich Schriftsteller treffe, komme ich nicht als Kritiker. Ja, ich glaube schon, dass man das so aufspalten kann.«53

3. D IE P RAXIS

DES I NTERVIEWS

Im Wissen darum, dass die qualitative Auseinandersetzung mit der Gattung Interview eine weitgehende ›terra incognita‹ der Feuilletonforschung ist, sollen mit André Müller, Moritz von Uslar und dem Fall Tom Kummer abschließend drei prominente Interviewer in ihrem feuilletonistischen Potenzial betrachtet werden. ›Feuilletonistisch‹ wird dabei als Oberbegriff für stilistische Gepflogenheiten des

»Kulturjournalismus«, in: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Band 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart: Metzler 2007, S. 270-280, hier S. 276. 51 Zit. nach Die Kunst des Lesens – Positionen der Literaturkritik, S. 198. 52 Weidermann, Volker: Dichter treffen. Begegnungen mit Autoren, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016. 53 Ebd., S. 11.

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Kulturjournalismus verstanden, wie sie Gernot Stegert54, Stephan Porombka55 oder Hildegard Kernmayer56 exemplarisch beschrieben haben. Im Unterschied zum vorherrschenden Handwerksethos57 der Journalistik inszenierten sich MüllerInterviews als »Show«58; sie wurden vom literarischen Feld als »Erzählung« des Interviewers rezipiert.59 3.1 André Müller60 André Müller (1946–2011) erwarb sich einen Nimbus als »Gesprächskünstler«61 und wurde schon zu Lebzeiten als »Klassiker des Kulturjournalismus«62 geführt. Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek hat Müllers Gespräche einmal als »Literatur« bezeichnet – in diesem Sinne sei es letztlich egal, »ob es diese Menschen wirklich gibt oder ob sie von André Müller erfunden worden sind«. Die Art und Weise, wie Müller Menschen zur Geltung bringe, plädiert für eine Subjektivität, wie sie im besten Sinne des Wortes auch für das Feuilleton konstitutiv ist – mit Jelineks Worten: »Da laufen die Menschen herum und leisten sich Subjektivität, etwa Besseres können sie sich nämlich […] nicht leisen.«63

54 Vgl. G. Stegert: Feuilleton für alle, S. 225-250. 55 Vgl. St. Porombka: Kulturjournalismus, S. 270-280; Porombka, Stephan: Kritiken schreiben. Ein Trainingsbuch, Konstanz: UVK 2006. 56 Vgl. Kernmayer, Hildegard: »Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik 3 (2012), S. 509-521. 57 Vgl. (beispielhaft für dieses Ethos) das Kapitel »Interviewen: Handwerk und keine Kunst« bei Friedrichs, Jürgen/Schwinges, Ulrich: Das journalistische Interview, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 9-11. 58 André Müller, zitiert nach V. Weidermann: Dichter treffen, S. 196. 59 Zu dieser Rezeptionshaltung in Bezug auf André Müller vgl. ebd., S. 12f. 60 Vgl. u.a. Müller, André: Interviews, Hamburg: Hoffmann und Campe 1982; Müller, André: … über die Fragen hinaus. Gespräche mit Schriftstellern, München: dtv 1998; Müller, André: Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe! Letzte Gespräche und Begegnungen, München: Langen Müller 2011. 61 V. Weidermann: Dichter treffen, S. 12. 62 Porombka, Stephan: »Ben Witter«, in: St. P./Erhard Schütz, 55 Klassiker des Kulturjournalismus, Berlin: Siebenhaar, S. 174-177, hier S. 177. 63 Jelinek, Elfriede: »Wer oder was? Zu André Müllers Interviews«, in: A. Müller: Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe, S. 7-10, hier S. 7. Zu Jelineks Zwiesprachen mit André Müller vgl. auch Tuschling, Jeanine: »Im Sprechen nachdenken«, in: T. Hoffmann/G. Kaiser (Hg.), Echt inszeniert, S. 257-274.

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Müller-Interviews waren Ereignisse, ein Gutteil ihrer Sprengkraft lag darin, dass Müller sie seinen prominenten Gesprächspartnern nie zur Autorisierung64 vorlegte, weswegen die in vertraulicher Gesprächssituation geäußerten Statements ungefiltert an die Öffentlichkeit gelangten.65 In dem Maße, in dem Müller-Interviews berühmt waren, gefielen sich Exponenten des kulturellen und öffentlichen Lebens in der Rolle der oder des von Müller Interviewten. »Mein Interview mit Joseph Beuys wurde in Penthouse, wo es erschien, als ›Verhör‹ angekündigt: eine vollkommen falsche Bezeichnung. Beuys mit Fragen zum Reden zu bringen, ist nicht nötig gewesen. Der Künstler begann, kaum war ich eingetreten, aus eigenem Antrieb zu sprechen. Meine Aufgabe war es, ihn erst einmal zum Schweigen zu bringen.«66 Auch vor dem Hintergrund solcher Anekdoten wird Müller gern eine Fähigkeit zur »Geschwätzvernichtung«67 attestiert. Realisieren seine Gespräche also genau das Gegenteil der Plauderei, die als Causerie ins Arsenal des landläufigen Feuilletonismus eingegangen ist? Bei den Begegnungen mit seinen Interviewpartnern darf man sich Müller durchaus als Mitspieler in »einem dramatischen Kunstwerk für zwei Personen« vorstellen. Das Interview als »Zweipersonendrama«68 simuliert die Theatralität einer Konversation, die man – mit dem Wissen um die Anfänge der Theaterkritik bei Geoffroy – als Spielart der Feuilletonisierung fassen kann. 3.2 Moritz von Uslar69 Der 1970 geborene Journalist, der mit seinen 100 Fragen im Süddeutsche Zeitung Magazin bekannt wurde, die er inzwischen als 99 Fragen-Interviews im Zeit-Ma-

64 Vgl. Sievert, Volker: »Das nehme ich zurück. Über den Autorisierungswahn«, in: Holger Hettinger/Leif Kramp (Hg.), Kultur. Basiswissen für die Medienpraxis, Köln: Halem 2013, S. 92-96. 65 Zur Anbahnung und Abwicklung eines Müller-Gesprächs vgl. exemplarisch: Peymann, Claus: Mord und Totschlag, Berlin: Alexander 2016, S. 292-312. 66 A. Müller: Interviews, S. 56. 67 Henrichs, Benjamin: »Preisrede zur Verleihung des Ben-Witter-Preises an André Müller«, in: A. Müller: Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe, S. 357-363, hier S. 361. 68 Ebd., S. 362. 69 Vgl. Uslar, Moritz von: 100 Fragen an, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004; U. M. von: 99 Fragen an, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014.

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gazin weiterführt, steht für einen Habitus, in dem »Gesten der Sprachmächtigkeit«70 eine wichtige Rolle spielen. Man kann bei Uslar mit dem Besteck der Feuilletonforschung »Stilgebärden«71 und »Aussagemasken«72 identifizieren, die ihn mit typischen Sprechhaltungen und affirmativen Posen des Pop-Feuilletons73 in Szene setzen. Seine im Folgenden betrachteten 99 Fragen an Elyas M’Barek veranschaulichen dies exemplarisch. Schon das Intro zum Interview markiert M’Barek mit Archivisten-Geste74 als ›shining star‹ und Sexidol des deutschen Kinos: »Die Frage ist, wann das erste Mädchen vorbeikommt und nach einem Handy-Selfie mit Elyas M’Barek fragt. Er zeigt einem den neuesten Quatsch aus seiner ›Fack ju Göthe‹-WhatsApp-Chat-Gruppe mit Katja Riemann, Karoline Herfurth und Jella Haase.« Ziemlich unvermittelt schließt Uslar diesen Vorspann dann mit maskulin konnotierter Kumpanei ab: »Sollen wir losballern? Bitte.«75 Ein weiteres Uslar-Stilmittel sind eingeschobene Selbstkommentare: Die vom Frage-Antwort-Wortlaut abgesetzten, kursiv gedruckten Passagen, die die eigentliche Interviewsituation mit der zusätzlichen Stimme eines Erzählers versehen, vollziehen ein typisches Muster ironischer Popkultur. In diesen Passagen tritt Uslar gezielt aus seiner Rolle als Interviewer heraus; er positioniert sich in plötzlicher Distanz zu seinem Tun und amtiert jetzt als Erzähler und Dramaturg seiner eigenen Interviews, indem er die konkrete Interviewsituation gegenüber dem Leser vergegenwärtigt. So evoziert er gegenüber Elyas M’Barek eine Verhörsituation, sprich: Er simuliert eine klassische Blaupause des Interviews: »Lächeln. Marlboro. Augustiner. Ja, er findet sein Image wirklich bescheuert, er kann darüber wirklich lachen, das glauben wir ihm. Und das ist für uns die Aufforderung, jetzt richtig

70 Frank, Gustav/Scherer, Stefan: »Zeit-Texte. Zur Funktionsgeschichte und zum generischen Ort des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik 3 (2012), S. 524-539, hier S. 524. 71 Zu diesem zentralen Begriff feuilletonistischer Sprechweise vgl. G. Oesterle: ›Unter dem Strich‹, S. 236. 72 Zu dieser originellen Begriffsprägung vgl. Utz, Peter: »Sichgehenlassen unter dem Strich. Beobachten am Freigehege des Feuilletons«, in: K. Kauffmann/E. Schütz (Hg.): Die lange Geschichte der Kleinen Form, S. 142-162, hier S. 158. 73 Vgl. Bleicher, Joan Kristin/Pörksen, Bernhard (Hg.), Grenzgänger. Formen des New Journalism, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 74 Zu diesem konstitutiven Verfahren für popliterarisches und popjournalistisches Sprechen vgl. Baßler, Moritz: Der deutsche Poproman, München: Beck 2002, S. 101-110. 75 Uslar, Moritz von: »99 Fragen an Elyas M’Barek«, in: Zeit-Magazin 37 (2015), S. 74-82, hier S. 75.

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bescheuert zu werden und die Fragen rauszuholen, die seine Instagram-Follower gerne stellen würden oder die Zeitschrift Bravo, wenn Bravo heute noch eine Bedeutung hätte. Sexfragen an Elyas M’Barek, die schönsten, die plattesten.«76

Der Modus der kommentierenden Einschübe, den die Popkultur auch aus ›Mockumentarys‹ kennt und der die »Perspektivierung des Mitgeteilten« extrem verstärkt,77 ist ein hochgradig feuilletonistisches Mittel der Subjektivierung. Der Leser rezipiert durch dieses Stilmittel nicht nur Gespräche, sondern auch »Porträts«78 der Gesprächssituation. Interviews, die Moritz von Uslar auf diese Weise inszeniert, sind denkbar weit weg von Interviews, wie sie im Politik- oder Wirtschaftsressort alltäglich stattfinden. Die Anverwandlung und Umverwandlung publizistischer Zweckformen ist für Hildegard Kernmayer ein konstitutives Merkmal für Feuilletonismus.79 Uslar steht für eine individuell herausragende Überformung der Interviewkonvention. 3.3 Tom Kummer80 Tom Kummer stellt im Rahmen unserer kleinen Interviewer-Trias einen Sonderfall dar, denn er ist mit ›Fakes‹ in die jüngere Mediengeschichte eingegangen.81 Der Starreporter aus Los Angeles, der sie angeblich alle kannte, die Reichen, Schönen und Wichtigen in Hollywood, hat sie so nie gesprochen. Er hatte sich die Star-Interviews, die zwischen den Jahren 1996 und 2000 im Magazin der Süddeutschen Zeitung, im Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers und im Stern abgedruckt wurden, systematisch ausgedacht. Der Betrug flog jahrelang nicht auf: der Medienskandal82 ist inzwischen aufgearbeitet. Auch die Frage, wie statt-haft Kummers

76 Ebd., S. 80. 77 Vgl. Kernmayer: Sprachspiel nach besonderen Regeln, S. 514. 78 Moritz von Uslar im Gespräch mit Felicitas Hoppe, Hauke Hückstädt und Heinz Drügh, vgl. »Reden! Podiumsdiskussion über die Praxis des Schriftstellerinterviews«, in: T. Hoffmann/G. Kaiser: Echt inszeniert, S. 319-341, hier S. 326. 79 Vgl. H. Kernmayer: Sprachspiel nach besonderen Regeln, S. 511. 80 Für die gesammelten Gespräche vgl. Kummer, Tom: Gibt es etwas Stärkeres als Verführung, Miss Stone? Star-Interviews, München: dtv 1997. 81 Vgl. Ruh, Boas: »Tom Kummers unlautere Textcollagen«, in: NZZ online, siehe http://www.nzz.ch/feuilleton/medien/plagiate-in-weltwoche-und-reportagen-tomkummers-unlautere-textcollagen-ld.104200 vom 09.07.2016. 82 Vgl. Doll, Martin: Fälschung und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens, Berlin: Kadmos Kulturverlag 2011, S. 305-330.

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Verhalten dahingehend ist, dass er seinen Betrug nach Enttarnung als »Konzeptkunst«83 verstanden wissen wollte, kann hier nicht debattiert werden. Medien- und feuilletonhistorisch von Interesse ist der Fall Kummer als Anachronismus: Er verwies das Gespräch als journalistische Textsorte just in dem Moment ins Reich der fingierten Konversation etwa eines Thomasius zurück, als das Interview mit Hollywood-Schauspielerinnen und -Schauspielern zur banalisierten Massenware geworden war: In so genannten ›Junkets‹ müssen sich die Reporter, dirigiert von PR-Leuten, ihren Interviewgast teilen und dürfen bestenfalls eine persönliche Frage stellen. Die scheinbare Exklusivität, mit der Tom Kummer die Stars nicht nur bekam, sondern darüber hinaus zu originellen Antworten anstiftete, musste also von Anfang an verwundern. Unterschwellig schwang gleichwohl die Hoffnung mit, dass eine Pamela Anderson oder ein Mike Tyson tatsächlich origineller, intelligenter, geistreicher, ja im besten Sinne feuilletonistischer sein könnten, als sie es vorderhand schienen. Kummer projizierte die Sehnsüchte einer Medienpopkultur auf seine Interviewpartnerinnen und -partner, indem er die Stars aus ihrer unoriginellen Erwartbarkeit befreite und ihre Antworten fingierte. Dass er hierbei mit einer hochstaplerisch-betrügerischen Energie zu Werke ging, ficht ihn selbst nicht an. Tom Kummer bezeichnet die dialogische Orchestrierung seiner Gespräche in seiner Autobiografie rückblickend als »Rollenprosa«84. Martin Doll hat herausgearbeitet, dass Kummer sich in seinen fingierten Interviews vor allem die Methode des »verdeckten Zitierens« zu eigen gemacht hat, das heißt, er hat (beispielsweise) Ivana Trump Zitate von Andy Warhol untergeschoben, »Mike Tyson zitiert Fassbinders Katzelmacher, Sharon Stone verweist ungenannt auf Kierkegaards Tagebuch des Verführers, […] Nicole Kidman auf Carl Schmitt, […] Sean Penn auf Robert Musil und Winona Ryder auf Dennis Johnson«85. Tom Kummer hat also eigentlich gar keine Interviews, sondern Porträts verfasst – Porträts, die er »als faktische Textform des Interviews«86 auswies. So entstand ein »kaleidoskopisches Konstrukt«87 aus zugeschriebenen und fingierten Aussagen, das in bester Tradition der Kleinen Form, aber mit betrügerischer Energie, auf der

83 Büscher, Wolfgang: »Der Kummer mit Tom«, in: Die Welt vom 31.02.2000; vgl. auch Pörksen, Bernhard: »Der Fake ist die neue Realität?«, in: Der Tagesspiegel online, siehe http://www.tagesspiegel.de/medien/tom-kummer-hat-wieder-zugeschlagen-der-fakeist-die-neue-realitaet/13863476.html vom 13.07.2016. 84 Kummer, Tom: Blow up, München: Blumenbar 2007, S. 198. 85 M. Doll: Fälschung und Fake, S. 315f. 86 Ebd., S. 319. 87 Ebd., S. 316.

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Diskurs-Höhe der Zeit stand. Rückblickend empfahl Kummer seine Sample-Technik »allen Hollywood-Reportern in Not«88. Die pure Langeweile der von ihm Interviewten konnte indes nie die alleinige Motivation seiner ›Fakes‹ gewesen sein. Wie inzwischen bekannt wurde, klaubte der in den Jahren 2013 bis 2016 wieder journalistisch tätig gewesene Kummer auch für seine Reportagen in der Zeitschrift Weltwoche und im Magazin Reportagen nach Belieben zusammen.89

4. F AZIT

UND

AUSBLICK

Unser Ausgangspunkt war das schlechte Image der Textsorte ›Interview‹ im Feuilleton. Auf Basis quantitativer und qualitativer Analysen konnte aufgezeigt werden, dass Interviews und Porträts a), wenn überhaupt, dann nicht zu Lasten der Rezension zunehmen und dass ihnen b) durchaus feuilletonistische Eigenschaften zugeschrieben werden können, insoweit sie Stilemente kultivieren, die die Forschung bislang exklusiv für die Kleine Form beschrieben hat. Gleichwohl bergen Interviews und Porträts auch ›apophantische‹ Elemente, denen sich das Feuilleton als Textsorte und als Ressort eher verweigert. Welchen funktionalen und unterschätzten Bestandteil Interviews im Feuilletonressort ausmachen, sollte die Forschung im Sinne der unter 2.1. und 2.2. aufgezeigten Desiderate weiter untersuchen.

88 T. Kummer: Blow up, S. 224 89 Vgl. Ruh, Boas: Tom Kummers unlautere Textcollagen.

Hochkultur, Populärkultur, Pop. Zur medialen Inszenierung von Konflikten im Feuilleton am Bespiel der Volksbühnen-Debatte S IMONE J UNG

Am 26. März 2015 wird im Feuilleton einer Berliner Zeitung bekannt gegeben, dass der belgische Kurator Chris Dercon Nachfolger von Frank Castorf, dem langjährigen Intendanten an der Berliner Volksbühne, wird.1 Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gilt als ein sozialer und symbolischer Ort des ästhetischpolitischen Widerstands mit postdramatischen Mitteln.2 Als kulturelles Kraftzentrum in linker Tradition gehört es seit den neunziger Jahren zu den wichtigsten Theatern im deutschsprachigen Raum. Das zunächst harmlos anmutende kulturelle Ereignis eines Personalwechsels an einem Berliner Theater entzündet einen Streit über das Theater der Gegenwart. Claus Peymann, Intendant am Berliner Ensemble, eröffnet ihn mit einem offenen Brief an den Kultursenator und Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, in dem er die Personalentscheidung als einen »Super-GAU« bewertet. »Die einst so ruhmreiche Volksbühne« werde »zum soundsovielten Event-Schuppen der Stadt« gemacht, der »Nimbus

1

Vgl. Scherer, Rudolf: »Wenn der Kurator kommt«, in: Tagesspiegel vom 26.03.2015. Zu diesem Zeitpunkt handelt es sich noch um ein Gerücht, das von der Berliner Kulturpolitik nicht dementiert wird. Die offizielle Verkündung durch Michael Müller und Tim Renner erfolgt auf einer Pressekonferenz in Berlin am 22. April 2015.

2

»In postdramatischen Theaterformen wird der Text, der (und wenn er) in Szene gesetzt wird, nurmehr als gleichberechtigter Bestandteil eines gestischen, musikalischen, visuellen usw. Gesamtzusammenhangs begriffen.« Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Darmstadt: Verlag der Autoren 2005, S. 73. Zur Volksbühne vgl. Bogusz, Tanja: Institution und Utopie: Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne, Bielefeld: Transcript 2007.

262 I SIMONE J UNG

Berlins« als »Theaterhauptstadt Europas leichtfertig verspielt«. Den für die Entscheidung mitverantwortlichen Kulturstaatssekretär Tim Renner bezeichnet Peymann als »größte Fehlbesetzung des Jahrzehnts«. Im Postskriptum fügt er hinzu: »Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich diesen Brief zugleich der Presse übergebe.«3 Die Provokation im polemischen Gewand erfüllt ihren Zweck: Sie wird im deutschen Feuilleton zahlreich kommentiert. Beispielhaft spricht der ehemalige Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Gerhard Stadelmaier, in einer Glosse von einem »Event-Schuppen«, der nun von einem »neuen Dogmatiker« und »neuen Eventmanager« geleitet würde, der vom »Theater keine«, vom »Managen aber viel Ahnung«4 habe. Frank und Felix Raddatz schreiben in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: »Der beabsichtige Sprung vom Lokalen zum Globalen« sei »ein Moment der allgegenwärtigen Standardisierung und Homogenisierung«5. Und der Theaterkritiker Peter Laudenbach wie auch seine Kollegin Christine Dössel sprechen in der Süddeutschen Zeitung von einem »Paradigmenwechsel«: Es sei »eine Weichenstellung in Richtung jenes neoliberalen, von Outsourcing-Strategien und Marktgängigkeit beherrschenden Denkens, das womöglich auch in der Kunst obsiege«6. Matthias Lilienthal wiederum, einer der Intendanten der von Peymann als solche bezeichneten »Eventschuppen«, mittlerweile Direktor an den Münchner Kammerspielen, bewertet die Personalentscheidung in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung seinerseits als »eine super interessante Entscheidung«, »für den Fall, dass man etwas Neues«7 wolle. Für Amelie Deuflhard, Intendantin vom Kampnagel Hamburg, ist die Wahl gar ein »Coup«. Sie fragt in der Zeit: »Woher kommt die Angst vor Internationalisierung, Interdisziplinarität, Neujustierung, wo sich doch die Welt um uns herum radikal verändert?«8

3

Siehe den offenen Brief von Claus Peymann vom 1. April 2015 unter https://www.3sat. de/kulturzeit/pdf/Offener_Brief_von_Claus_Peymann_an_Kultursesnator_Michael_ Mueller.pdf

4

Stadelmaier, Gerhard: »Berliner Dogma«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom

5

Raddatz, Frank/Raddatz, Felix: »Die Logik der Betriebsabläufe«, in: Frankfurter All-

6

Dössel, Christine: »Erst das Theater und dann?«, in: Süddeutsche Zeitung vom

24.04.2015. gemeine Sonntagszeitung vom 21.06.2015. 18/19.04.2015. Vgl. auch: Laudenbach, Peter: »Wird die Berliner Volksbühne zum neoliberalen Event-Angebot?«, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.04.2015. 7

Lilienthal, Matthias: »Hallo Hybrid«, in: Süddeutsche Zeitung vom 18.05.2015.

8

Deuflhard, Amelie: »Es geht um Pfründe«, in: Die Zeit vom 29.04.2015.

D IE V OLKSBÜHNEN -D EBATTE IM FEUILLETON

I 263

Es ließen sich noch weitere Positionen und Argumente für und wider die Entscheidung anführen. Die Diskussion um den Intendantenwechsel an der Volksbühne in Berlin zeigt exemplarisch nicht nur mediale Strategien zur Inszenierung einer kulturpolitischen Debatte auf, sondern auch die fortschreitende Differenzierung im künstlerischen Feld: Der Streit ist nicht nur ein Streit um eine womöglich neue Theaterkultur; die unterschiedlichen und widersprüchlichen Auffassungen offenbaren vielmehr eine plural umkämpfte Kultur. Der Theaterstreit betrifft letztlich die Ordnung der Kultur selbst: Über welche Werte bestimmen sich ›bedeutsame‹ und ›relevante‹ Kultur, ›ernsthafte‹ und ›gute Kunst‹? Was bedeutet ›Hochkultur‹ heute? Kultur erscheint dann nicht mehr nur als sinnstiftender Möglichkeitsraum von Denk- und Sprechweisen, von Praktiken und Ritualen, sie wird vielmehr selbst zum Konflikt.9 Für das Feuilleton als Forschungsgegenstand lässt sich eine zentrale These ableiten: Das Feuilleton der Gegenwart wandelt sich zu einem Ort, an dem die Heterogenität der Kulturen ihre Verhandlung findet. Zu diesen gehören bürgerliche Hochkulturen wie auch massenmediale Populär- und Unterhaltungskulturen, Pop, alternative Widerstands- und Protestkulturen oder politische Bewegungen. Auf diese Weise vermischen und überlagern sich in den großen deutschsprachigen Feuilletons der überregionalen Zeitungen unterschiedliche Denk- und Lebensräume, Lebensstile und Sinnhorizonte. Nach Günther Grass, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas formen sich neue Sprecherfiguren wie Navid Kermani, Slavoj Žižek oder Carolin Emcke. Der ›Pop-Theoretiker‹ Diedrich Diederichsen schreibt in der Süddeutschen Zeitung über Rock und Film. Dietmar Dath (»Lenin 2.0«10) über Marx und Science Fiction in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Deutsche Fernsehserien wie der Tatort, US-amerikanische Serien wie Lost und Unterhaltungssendungen wie Dschungel-Camp oder Germany’s Next Topmodel finden genauso Verhandlung wie popkulturelle Hybride; Lady Gaga und Beyoncé ebenso wie Bob Dylan oder David Bowie. Klassische Interpretationsstücke stehen neben postdramatischen Theaterstücken wie jenen von René Pollesch, Frank Castorf und Christoph Schlingensief. Mit dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne brechen die klassischen Produktions- und Rezeptionsweisen des Feuilletons auf, wie sie seit dem 19. Jahr-

9

Vgl. Mouffe, Chantal: »Hegemony, Power and the Political Dimension of Culture«, in: Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr & Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Hg), The Contemporary Study of Culture, Wien: Turia + Kant 1999, S. 47-52, hier S. 50.

10 Bröckers, Mathias: »Dietmar Daths Essay ›Maschinenwinter‹ Lenin 2.0«, in: die tageszeitung vom 06.06.2008.

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hundert bis in das 20. Jahrhundert hinein generiert wurden. Vor allem die Auflösung der antagonistischen Differenz zwischen der bürgerlichen Hochkultur und der Unterhaltungs- und Populärkultur stellt das Feuilleton vor neue Herausforderungen. Soziologisch betrachtet, produziert es nicht mehr als privilegierter Ort für eine bildungsbürgerliche Hegemonie im kulturellen Feld, sondern öffnet sich und tritt in die Verhandlung mit einer pluralistischen Gesellschaft ein, deren Denkund Artikulationsmuster in sich hochgradig differenziert und instabil sind. Die neue Vielfalt der Kulturen führt nicht nur zu einer Ausdifferenzierung des Feuilletons in thematischer Hinsicht (so werden neben Film, Pop oder Comic auch Mode, Technik, Konsum und Lifestyle verhandelt), sondern auch zu einer Vielfalt an Antagonismen, die in den hier lancierten Debatten zum Ausdruck gebracht und ausgetragen werden. Das Feuilleton erhält immer dann politische Konjunktur, wenn gesellschaftliche Routinen unterbrochen werden, wenn vertraute Gewissheiten als überkommen erscheinen und neue Sinn- und Deutungsweisen produziert werden. Kultur wird dann zu einem Ort des Sozialen, »an dem Machtverhältnisse verhandelt werden, an dem um die Definition und Redefinition von Unterordnung und Unterdrückung gekämpft wird, an dem soziale Ausschlüsse produziert und legitimiert werden, an dem aber auch sozialer Einschluss reklamiert werden kann«11. Das Feuilleton ist dann »sowohl Ort als auch Einsatz des Kampfes«12.

1. D AS F EUILLETON ALS S PANNUNGSRAUM HETEROGENER K ULTUREN Das Feuilleton erscheint in diesem Aufsatz als ein Spannungsraum zwischen der bürgerlichen Hochkultur und den neueren Populärkulturen. Von dieser These ausgehend, möchte ich drei Dimensionen unterscheiden, die das Feuilleton als Medium und politischen Raum bestimmen: das Hybride, das Populäre und das Agonale. Während die erste Dimension das Feuilleton als hybrides Medium und Ermöglichungsraum von Dissens und Kritik vorstellt, wie es sich historisch herausgebildet hat, fragt die zweite Dimension des Feuilletons nach den Strategien der Popularisierung: Auf welche Art und Weise öffnet sich das Feuilleton dem Populären? Davon ausgehend können im nächsten und letzten Schritt die Strategien der medialen Inszenierung von Dissens im Feuilleton exemplarisch am Fallbeispiel

11 Marchart, Oliver: Cultural Studies, Konstanz: UTB 2008, S. 252. 12 Hall, Stuart: »Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen«, in: St. H., Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften, Band 1, Hamburg/Berlin: Argument 1989, S. 126-149, hier S. 126.

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der Volksbühnen-Debatte untersucht werden. Auf welche Art und Weise wird das Politische im Feuilleton medial inszeniert und agonal verhandelt? Das Feuilleton erscheint hier als politisches Medium, das Sprecherinnen und Sprecher aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld an einen gemeinsamen Ort zusammenführt und in Bezug setzt, um über kulturelle Phänomene öffentlich debattieren zu lassen. Das untersuchte Material bezieht sich auf den Beginn der Debatte im April 2015 und berücksichtigt die mit ›Feuilleton‹ überschriebenen Rubriken der überregional bedeutenden Qualitätszeitungen in Deutschland. Die kulturhistorisch konstituierte Unterscheidung zwischen einer bürgerlichen Hochkultur und ihren traditionellen Gegenspielern, der Massen-, Unterhaltungs- und Populärkultur, bildet dabei den Fluchtpunkt, von dem aus die verschiedenen Ebenen diskutiert werden können. Es wird empirisch zu prüfen sein, ob die antagonistische Differenz trotz ihrer propagierten Auflösungserscheinungen auch heute noch Bestand hat und – falls ja – unter welchen Bedingungen sie in welcher Art und Weise mit welcher Diskursfunktion im Feuilleton aktualisiert wird. 1.1 Das Hybride In historischer Perspektive erscheint das Feuilleton als hybrides Medium, das sich im 19. Jahrhundert im kulturellen Überlagerungsprozess von verschiedenen Diskursen, Praktiken und Technologien unterschiedlicher Herkunft herausbildet.13 Es können zwei historische Konstitutionsdiskurse benannt werden, die sich zunächst relativ unabhängig voneinander entwickelt haben, um sich nach und nach zu einem neuen Medium zu vernetzen: der literarische Diskurs der Hochkultur und der populäre Diskurs der Massenmedien. Der literarische Identitätsdiskurs generiert vor dem Wahrnehmungshorizont der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert neue Praktiken der kritischen Selbstverständigung, wie sie auch heute noch im Feuilleton zu finden sind: die Möglichkeit der Reflexion der eigenen Lebensform und die Bildung seiner selbst, die Praktiken der ästhetischen Verständigung über Kunst und Gesellschaft, kurz das »Räsonnement als Prozess der Selbstaufklärung der

13 Das Modell der Hybridität eignet sich für eine Beschreibung des Feuilletons, weil es eine Konstellation bezeichnet, in der nicht eine einzige homogene und widerspruchsfreie kulturelle Logik herrscht, sondern »eine Überschneidung und Kombination von mehrdeutigen kulturellen Mustern unterschiedlicher Herkunft«, »die teilweise miteinander konkurrieren und Friktionen hervorrufen, die teilweise synkretistisch miteinander verwoben werden und dabei unberechenbar neue Produkte hervorbringen«. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück 2006, S. 86.

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Privatleute«14. Die ›anti-hegemoniale Kultur‹, wie sie sich im Kampf gegen den Feudalismus und die Klerikalkultur ausgebildet hat, transformiert sich im späten 19. Jahrhundert schließlich zu einer hegemonialen Kultur: der bürgerlichen Kultur. Reflektierte Distanznahme, praktisches Weltwissen, souveräne Verfügung über relevante Kenntnisse, moralische Kompetenz und ästhetischer Geschmack werden die Leitkategorien der Moderne.15 In diesem Zeitraum etabliert sich auch das professionelle Printsystem und mit ihm die ›Massenpresse‹ und der Zeitungsmarkt. Die technische Innovation der Schnell- und Rotationspresse leitet im 19. Jahrhundert als zweite konstitutive Bedingung den Institutionalisierungsprozess des Feuilletons von einem Teil ›unter dem Strich‹ zu einem eigenständigen Ressort in der bürgerlichen Zeitung ein.16 Auf diese Weise wird der hochkulturelle Diskurs aus dem literarischen Feld herausgelöst und in den populären Diskurs eines tagesaktuellen Massenmediums überführt. In Verschränkung der beiden Diskurse konstituiert sich das Feuilleton als eine widersprüchliche Doppelstruktur, die als solche nicht nur unterschiedliche, sondern auch widerläufige Elemente in sich vereinigt: Der hochkulturelle Diskurs verweist traditionell auf Elemente wie Innerlichkeit und Erkenntnis, Vertiefung und Ernsthaftigkeit, Authentizität und Transzendenz, Schöpfertum und Genie, Wahrheit und Moral, Geschichte und Tradition. Der populäre Diskurs hingegen umfasst Elemente wie Funktionalismus und Konsumismus, Äußerlichkeit und Begehren, das Reizvolle und Serielle sowie eine Tendenz zum Künstlichen und Spektakulären, letztlich die Lust an der Oberfläche, dem Flüchtigen und Vergänglichen.17 In fortlaufender Grenzüberschreitung traditionell getrennter Diskurse bringt das Feuilleton einen beweglichen und experimentellen Spielraum im

14 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 88. 15 Vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 171. 16 Zur historischen Entwicklung der Zeitungsressorts vgl. Maier, Klaus: Ressort, Sparte, Team. Wahrnehmungsstrukturen und Redaktionsorganisation im Zeitungsjournalismus, Konstanz: UTB 2002, S. 110-198. Zum Feuilleton vgl. Kernmayer, Hildegard: »›Unsterblichkeit eines Tages‹ oder ›interdiskursives Sprachspiel‹? Gattungshistorisches und Gattungstheoretisches zur Frage: Was ist ein Feuilleton?«, in: Sigurd Paul Scheichl (Hg.), Essay, Feuilleton, Aphorismus. Nicht-fiktionale Prosagattungen in Österreich, Innsbruck: Innsbruck University Press 2008, S. 45-66; Todorow, Almut: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, Tübingen: Niemeyer 1996, S. 9-12. 17 Vgl. Grossberg, Lawrence: Whatʼs Going on? Cultural Studies und Populärkultur, Wien: Turia + Kant 2000.

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journalistischen Feld hervor, wie er auch in der Feuilletonforschung vielfach beschrieben wird: Es unterhält und affiziert, es polemisiert und wird zum Ort des Streits, es irritiert und überrascht, es informiert und archiviert, es räsoniert und fordert zum Nachdenken auf, es bildet und zerstreut, es belehrt und moralisiert.18 Ausgehend von seinen Entstehungsbedingungen, bewegt sich das Feuilleton bis heute in einem komplexen wie widersprüchlichen Wahrnehmungs- und Produktionsgefüge, aus dem heraus es seine spezifischen Praktiken, medialen Strategien, Formate und Programme generiert. Im Einzelnen sind vier Existenzbedingungen des Feuilletons zu nennen: Ästhetik, Journalismus, Technik und Ökonomie. Das Element der Ästhetik bildet dabei das zentrale Unterscheidungsmerkmal zum klassischen (Zeitungs-)Journalismus im Allgemeinen wie auch zur politischen Berichterstattung im Speziellen. In soziologischer Perspektive reduziert sich der Begriff der Ästhetik weder auf das Schöne und Wahre, auf die Bildung und den guten Geschmack, noch rein auf die Kunst als autonome Sphäre, sondern verweist im Sinn der Aisthesis vielmehr auf die Teilhabe an einem kollektiven Wahrnehmungsraum, aus dem heraus das Feuilleton denkt und spricht. Verknüpft mit dem künstlerisch-intellektuellen Feld, bildet das Feuilleton nicht nur einen spezifischen Wahrnehmungshorizont im journalistischen Diskurs aus, vor dem es die Ereignisse deutet und mit Sinn belegt, sondern auch einen spezifischen Möglichkeitsraum, aus dem heraus es seine Sprecher und Artefakte selektiert. Der kulturelle Raum, der sich in einer pluralistischen Gesellschaft aus einer Vielzahl an Partikularkulturen und ihren sozialen Milieus zusammensetzt, bildet unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Wahrnehmungshorizonte und Weltanschauungen aus, die sich potenziell in den verschiedenen Zeitungsfeuilletons artikulieren können und in Beziehung gesetzt eine Debatte bilden. Institutionell eingebunden in das Medienunternehmen ›Zeitung‹ ist die Rubrik »Feuilleton« der journalistischen Professionalität (Objektivität, Periodizität, Aktualität und Universalität) jedoch genauso verpflichtet wie der politischen und 18 Vgl. beispielhaft Echte, Bernhard: »Das Feuilleton als Forschungsgegenstand. Propädeutische Beobachtungen«, in: Hans-Ulrich Jost (Hg.), Littérature ›bas-de-page‹ = Literatur ›unter dem Strich‹, Lausanne: Editions Antipodes 1996, S. 133-145; Kernmayer, Hildegard: »Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (3/2012), S. 509-523; Oesterle, Günter: »Unter dem Strich. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im 19. Jahrhundert«, in: Jürgen Barkhoff/Gilbert Carr/Roger Paulin (Hg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Edda Sagara im August 1998, Tübingen: Niemeyer 2000, S. 229-250; Frank, Georg/Scherer, Stefan: »Zeit-Texte. Zur Funktionsgeschichte und zum generischen Ort des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (3/2012), S. 524-539.

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ethischen Leitlinie des jeweiligen Blattes. Die Technik hingegen ermöglicht zuallererst die serielle Produktion und Verbreitung des Feuilletons an ein disperses Publikum. Zugleich bringt sie ein spezifisches Setting an Regeln und Vorgaben hervor, das die Produktion reguliert und begrenzt. In Orientierung an den Konstellationen des Marktes und den damit verbundenen Anforderungen der Gewinnerzielung setzt die Ökonomie schließlich Strategien der Inszenierung im Kampf um Aufmerksamkeit in Gang, die sich mit der fortschreitenden Digitalisierung und Vernetzung gegenwärtig verstärken.19 Die hybride Form bringt einen flexiblen Ermöglichungsraum hervor, der im relationalen Spiel seiner Elemente seine Möglichkeiten abruft und immer wieder neu in Beziehung setzt, um ein reizvolles Angebot zu generieren.20 Das Feuilleton erscheint in dieser Perspektive als ein Netzwerk, dessen einzelne Elemente durch ihre Relation zueinander zwar unscharf und uneindeutig werden, gerade in ihrer Unbestimmtheit aber Irritation und Dissens auslösen können. Zwischen »Zweck und Normorientierung« und »relativ eigengewichtigen sinnlichen Wahrnehmungsakten und Empfindungen«21 bildet es spezifische Reflexions- und Sprechweisen aus, die medial vermittelt in den kulturellen Diskurs eingeführt werden, um ihn zu dynamisieren und zu erweitern, letztlich zu irritieren und zu stören. In dieser Hinsicht unterläuft das Feuilleton von Beginn an nicht nur jenen hochkulturellen Diskurs, aus dem es sich historisch herausgebildet hat, sondern auch die Denk- und Sprechweisen des klassischen Journalismus. 1.2 Das Populäre Die Kontroverse um die Berliner Volksbühne im März 2015 verhandelt einen Konflikt, der seit Jahrzehnten in den künstlerisch-intellektuellen Spezialdiskursen zwischen Theater, Kunst und Wissenschaft kursiert und durch das kulturpolitische Ereignis des Intendantenwechsels an der Volksbühne erneut aktualisiert wird.22 In dieser Hinsicht erscheint das Feuilleton zunächst als ein Verbreitungsmedium, das 19 Vgl. Hickethier, Knut: »Medien-Aufmerksamkeit. Zur Einführung«, in: Joan Kristin Bleicher/K. H. (Hg.), Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie, Münster: Lit-Verlag 2002, S. 5-13. 20 Vgl. Jäger, Christian: »Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Überlegungen zur Bestimmung des feuilletonistischen Diskurses«, in: Les Annuelles 7 (1996), S. 149-159. 21 Reckwitz, Andreas: »Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen«, in: A. R./Sophie Prinz/Hilmar Schäfer (Hg.), Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 29. 22 Vgl. Schneider, Wolfgang (Hg.), Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste, Bielefeld: Transcript 2013.

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über Ereignisse aus dem kulturellen Raum berichtet, um sie durch technische Reproduktion auch für ein breiteres Publikum zugänglich und sichtbar werden zu lassen. In diesem Sinn gilt: »Nur was publik ist, kann populär werden.«23 Die Zusammenführung verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche im Feuilleton geht mit der Herstellung einer größeren Öffentlichkeit einher, die eine Entspezifizierung des Spezialwissens erfordert, um allgemeinverständlich zu werden.24 Das Wissen muss also notwendig popularisiert werden, um für eine »Vielzahl unterschiedlicher Kontexte anschlussfähig«25 zu werden. Historisch betrachtet, erfolgt die Popularisierung von Spezialwissen jedoch nicht nur im aufklärerischen Interesse zur Verbreitung von Wissen und zur Verbesserung des Geschmacks, sondern zunehmend ökonomisch bedingt.26 Überschriften wie »Rettet uns vor dem Kurator«27, »Der Renner muss weg!«28 oder »Kaufen Sie sich mal wieder eine Hose, lieber Claus Peymann«29 dienen weniger der allgemeinen Verständlichkeit, als vielmehr der Erzeugung von öffentlicher Aufmerksamkeit durch Moralisierung und Emotionalisierung. Die Möglichkeit 23 Helmstetter, Rudolf: »Der Geschmack der Gesellschaft«, in: Christian Huck/Carsten Zorn (Hg.), Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur, Wiesbaden: VS Verlag 2007, S. 44-73, hier S. 52. 24 Zum Konzept des feuilletonistischen Interdiskurses vgl. Todorow, Almut: »Feuilletondiskurs und seismographische Funktion von Kulturkommunikation«, in: Heinz Bondafelli (Hg.), Seismographische Funktion von Öffentlichkeit im Wandel, Wiesbaden: VS Verlag 2008, S. 281-299; G. Frank/St. Scherer: Zeit-Texte; H. Kernmayer: »Unsterblichkeit eines Tages« oder »interdiskursives Sprachspiel«? 25 Stäheli, Urs: »Das Populäre als Unterscheidung. Eine theoretische Skizze«, in: Gereon Blaseio/Hedwig Pompe/Jens Ruchatz (Hg.), Popularisierung und Popularität, Köln: VS Verlag 2005, S. 146-168, hier S. 160. Produziert das Feuilleton weder für ein relativ homogenes Publikum aus Literaten-, Kritiker- und Gelehrtenkreisen mit spezifischem Fachwissen noch für ein Bildungsbürgertum, das über ein relativ einheitliches historisches Wissen verfügt, sondern für verschiedene Publika mit unterschiedlich kultureller Bildung, wie sie sich seit der Spätmoderne im Spannungsfeld von bürgerlicher Hochkultur und Pop(ulär)kultur herausgebildet haben, so müssen die Deutungsangebote offen genug sein, um möglichst viele Identitäten zu kollektivieren. 26 Vgl. Stegert, Gernot: Feuilleton für alle: Strategien im Kulturjournalismus der Presse, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 163-165. 27 Brug, Manuel: »Rettet uns vor dem Kurator«, in: Die Welt vom 30.01.2017. 28 Kümmel, Peter: »Der Renner muss weg!« [Interview mit Claus Peymann], in: Die Zeit vom 09.04.2015. 29 Renner, Tim: »Kaufen Sie sich mal wieder eine Hose, lieber Claus Peymann«, in: Die Zeit vom 16.04.2015.

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des Populären wird unter den Bedingungen der Massenmedien zu einer strategischen Notwendigkeit und verlagert sich zunehmend in den Bereich des Performativen, in dem Strategien der Inszenierung und Skandalisierung Raum gewinnen.30 Wird die reflexive Praxis der Kritik unter den massenmedialen Bedingungen als Performance in Szene gesetzt, um die Anschlussfähigkeit zu steigern, nimmt sie den Charakter von Erlebnis, Spektakel und Entertainment an. Medieninhalte werden dann mit den »Mitteln der Faszinations- und Aufmerksamkeitserzeugung«31 derart gestaltet und codiert, dass sie nicht nur vor einem allgemeinen Bedeutungshorizont verständlich werden, sondern auch das Interesse des Publikums erregen. Eingebunden in einen regulierenden Markt als auch integriert in die Alltagspraktiken der Rezipientinnen und Rezipienten, wird das Feuilleton schließlich selbst zum Konsumobjekt und damit Teil jener Populärkultur, von der es sich traditionell abgrenzt.32 Feuilletonkommunikation muss unterhalten und affizieren, in Stimmung versetzen und berühren. Affizierung meint hier zunächst die Herstellung einer sinnstiftenden Verbindung zwischen Text und Lesepublikum. Gerade Medien im kulturellen Segment zeigen sich als identitätsstabilisierende Kräfte, über die sich die Kulturinteressierten nicht nur informieren, sondern auch ihrer selbst vergewissern. Ästhetische Praktiken zur Steigerung und Intensivierung von Affekten werden jedoch nicht nur zur kulturellen Selbstverständigung eingesetzt, sondern auch medial strategisch, um politische Debatten zu entzünden. Öffentliche Stellungnahmen im Feuilleton begründen sich in der Regel nicht allein rational, über die Vernunft und den Intellekt, sie aktualisieren sich auch im Affekt, der zur Emotion verdichtet politische Mobilisierungsprozesse einleiten kann. Beispielhaft werden die Beobachter aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld häufig dann zu Sprecherinnen und Sprechern, wenn »ihnen der Kragen platzt«33, wenn sie emotional erregt

30 Vgl. Höhne, Andrea/Ruß-Mohl, Stephan: »Der ›Homo Oeconomicus‹ im Feuilleton. Zur Ökonomik der Kulturberichterstattung«, in: Thomas Wegmann (Hg.), Markt. Literarisch, Bern: Lang 2005, S. 229-248; Streim, Georg: »Feuilleton an der Jahrhundertwende«, in: Kai Kauffmann/Erhard Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin: Weidler 2000, S. 122-141. Zur Geschichte der Populärkultur vgl. auch Hecken, Thomas: Theorien der Populärkultur: Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies, Bielefeld: Transcript 2007. 31 Stäheli, Urs: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 26. 32 Vgl. Lünenborg, Margreth: Journalismus als kultureller Prozess: zur Bedeutung von Journalismus in der Mediengesellschaft, Wiesbaden: VS Verlag 2005. 33 Peymann, Claus: Der Renner muss weg!

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und in den Diskurs ›hineingezogen‹ werden.34 Zugleich erzeugen sie im Affekt wiederum Affekte, die zu jener Anschlussfähigkeit führt, die einen Streit erst auslöst und ereignishaft am Laufen hält. Metaphorisch verfasste Reizbegriffe wie »Event-Schuppen« und »Super-Gau« (Peymann) erzeugen nicht nur Aufmerksamkeit im medialen Getriebe, sie unterbrechen auch vertraute Wahrnehmungsstrukturen und mobilisieren zu leidenschaftlichen Gegenreaktionen, wie sie in den zahlreichen Kommentaren im Feuilleton zum Ausdruck kommen. Affekte werden dann zur Bedingung von kritischen Interventionen und Debatten. Neben der technologisch bedingten Zugänglichkeit und Verständlichkeit lässt sich somit ein weiteres Merkmal bestimmen, das für die populäre Feuilletonkommunikation charakteristisch wird: die affektive Verankerung. Die bereits erwähnte ›Unschärfe‹ und Unbestimmtheit als zentrales Charakteristikum des Feuilletons wird sichtbar: In Überlagerung affektiv-ästhetischer und rational-kognitiver Kommunikationsmodi bewegt sich das Feuilleton im fortlaufenden Widerspruch zwischen ernsthafter Deutung spezieller Wissensbestände und ihrer Aufbereitung für ein heterogenes Publikum in verständlich-unterhaltsamer Form. Oszillierend zwischen Ernsthaftigkeit und Unterhaltung, Spiel und Rationalität, Analyse und Spektakel hybridisieren und verflüssigen sich jene Diskursstrukturen, aus denen das Feuilleton historisch hervorgegangen ist. Die ›Hyper-Konnektivität‹35 des Populären erlaubt es nicht mehr, die feuilletonistische Logik vollständig an den traditionell hochkulturellen Diskurs und seine Ideale der Analyse, Moral und Reflexion zurückzubinden. Das Populäre generiert vielmehr »einen forcierten Inklusionsmodus«36, indem es durch seine hohe Anschlussfähigkeit das Publikum in den medialen Diskurs hineinzieht und funktional integriert. Auf diese Weise wirkt das Populäre nicht nur als »Attraktor für Kommunikationen« mit »persuasiven Strategien«, dann verbliebe es im Modus eines animierenden Kaufanreizes ohne Rückkopplungseffekte auf das vermittelnde Medium; es 34 Der Begriff des Affekts ist somit wesentlich durch einen relationalen Charakter bestimmt, der es ermöglicht, »eine soziale Beziehung zu denken, die nicht ausschließlich auf signifikatorischen Praktiken beruht, sondern ein Anziehung- und Abstoßungsverhältnis meint«. Stäheli, Urs: »Von der Herde zur Horde? Zum Verhältnis von Hegemonie- und Affektpolitik«, in: Martin Nonhoff (Hg.), Diskurs, radikale Demokratie, Hegemonie, Bielefeld: Transcript 2007, S. 123-138, hier S. 132. 35 »Unter ›Hyper-Konnektivität‹ verstehe ich die Verwendung semantischer Formen, die in einer Vielzahl unterschiedlicher Kontexte anschlussfähig sind.« U. Stäheli: Das Populäre als Unterscheidung, S. 160. 36 Stäheli, Urs: »Das Populäre zwischen Cultural Studies und Systemtheorie«, in: Udo Göttlich/Rainer Winter (Hg.), Politik des Vergnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies, Köln: Halem 2000, S. 321-336, hier S. 327.

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greift vielmehr in die Produktions- und Übersetzungsprozesse ein und gestaltet sie mit.37 Infolgedessen weicht das Feuilleton in seiner Außendarstellung »häufig deutlich von den intern verwendeten Identitätskonstruktionen und anspruchsvollen Reflexionstheorien ab«38. Dies zeigt sich nicht bloß in Überschriften und visuellen Momenten, sondern auch im kritischen Räsonnement selbst, das sich nicht allein gemäß dem hochkulturellen Ideal der Logik des besseren Arguments vollzieht. Beispielsweise wird weder genau begründet, was Dercon als »neoliberal« erscheinen lässt, noch wird zunächst erklärt, was ein »Kurator« oder ein »Event« in diesem Kontext ist. Argumente und Inhalte werden vielmehr verallgemeinert, verkürzt und mit bestimmten Kommunikationsmodi zugespitzt, um nicht nur für ein heterogenes Publikum verstehbar und attraktiv zu werden, sondern auch um jene Aufmerksamkeit und Leidenschaft zu erzeugen, die einen Streit erst auslösen. Nicht nur das Publikum wird affekthaft inkludiert, auch die Debattenteilnehmenden kommen durch ein »leidenschaftliches attachement«39 im Feuilleton zusammen, infolge dessen sich ein politisches Spielfeld zwar erst entfaltet, zugleich aber auch eine ernsthafte und vernünftige Auseinandersetzung mit der Sache erschwert wird. Im unauflösbaren Widerspruch muss das Feuilleton seine Kommunikationsprozesse zwischen populärer Entgrenzung und hochkultureller Begrenzung fortlaufend regulieren, will es Feuilleton in Unterscheidung zur unterhaltenden Boulevardpresse einerseits und zur intellektuellen Kulturzeitschrift andererseits bleiben. Nicht fixiert auf einen Diskurs (und seine Publika) testet es permanent die Grenzen des Mach- und Sagbaren aus, innerhalb dessen sich die spezifisch feuilletonistische Kommunikation ereignen kann, die von ernsthafter Semantik und populärer Unterhaltung gleichermaßen bestimmt ist. Wie affekthaft müssen Debatten geführt werden, um Anschlusskommunikation zu erleichtern, und wie affekthaft können sie geführt werden, um die Anschlusskommunikation wiederum nicht zu gefährden? In welchem Rahmen kann sich die Entspezialisierung von Wissen bewegen, um für verschiedene Diskurskontexte anschlussfähig zu werden, ohne dabei die ursprüngliche Substanz und damit die Glaubwürdigkeit zu verlieren? Wie tiefgründig und differenziert kann die Analyse von Kunst und Gesellschaft betrieben werden, ohne den Anschluss an ein allgemeines Publikum und an den Kulturbetrieb zu gefährden? 37 Vgl. Stäheli, Urs: »Bestimmungen des Populären«, in: Christian Huck/Carsten Zorn (Hg.), Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur, Wiesbaden: VS Verlag 2007, S. 306-321, hier S. 313. 38 U. Stäheli: Das Populäre zwischen Cultural Studies und Systemtheorie, S. 327. 39 Butler, Judith: ›Excitable Speech‹: A Politics of the Performative, New York: Routledge 1997, S. 129, zit. nach U. Stäheli: Bestimmungen des Populären, S. 316.

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1.3 Das Agonale Die strukturelle Unbestimmtheit und Unabgeschlossenheit des Feuilletons, wie sie hier in der hybriden und populären Dimension beschrieben wurde, erhält in der Dimension des Agonalen eine weitere Bedeutung: Sie wird zur Voraussetzung für symbolisch ausgetragene Kämpfe. Die Notwendigkeit der Popularisierung wie auch die ästhetischen Praktiken und feuilletonistischen Subjektivierungsweisen potenzieren eine semantische Offenheit, die politische »Definitions- und Benennungskämpfe«40 ermöglicht.41 Insbesondere emotional aufgeladene Begriffe wie ›Event‹, ›Spektakel‹, ›Hochkultur‹ und ›Pop‹ sind ambivalent und regen zum Widerspruch an. In ihrer Mehrdeutigkeit produzieren sie Leerstellen, die eine klare Bedeutungszuschreibung erschweren und eine Vielzahl an Interpretationen und Sichtweisen ermöglichen, um die gestritten werden kann. Debatten im Feuilleton entzünden sich in der Regel dann, wenn kulturelle Bestände und Gewissheiten aufgebrochen und in Frage gestellt werden. Auch die Personalentscheidung durch die Berliner Kulturpolitik im Frühjahr 2015 bricht jeden Diskurs einer Theaterlandschaft ereignishaft auf, wie er sich seit dem 18. Jahrhundert ereignet und unter den wandelnden Bedingungen bis in die Gegenwart fortschreibt. Die Berufung von Chris Dercon an die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz offenbart alternative Möglichkeiten der Theaterproduktion, wie sie nicht nur an der Volksbühne, sondern auch an anderen deutschen Produktionshäusern und Plattformen der freien Szene wie dem Hebbel am Ufer und den Sophiensælen in Berlin, dem Mousonturm in Frankfurt am Main, in Hamburg auf Kampnagel und mit der Berufung von Matthias Lilienthal auch an den Münchner Kammerspielen praktiziert werden.42 Aus dem Kunstfeld kommend, steht Dercon als ehemaliger Direktor der Tate Gallery of Modern Art in London

40 Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche: eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 188. 41 Vgl. Reckwitz, Andreas: »Elemente einer Soziologie des Ästhetischen«, in: A. R., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld: Transcript 2008, S. 259283. 42 »Performance ist daher nicht nur eine Bezeichnung für eine spezifische theatrale Praxis, sondern meint eine ästhetische Praxis, die sich intermedial zwischen Theater und Tanz, Musik, Film und bildender Kunst konstituiert und sich hier als eine sehr wandelbare und innovative künstlerische Form zeigt.« Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang: Performance als soziale und ästhetische Praxis, Bielefeld: Transcript 2005, S. 13.

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für eine weitere Entgrenzung, die von einer »internationalisierten und genreübergreifenden Kultur«43 bestimmt wird, »um ein Modell für das internationale Theater des 21. Jahrhundert [zu] entwickeln«44. Blickt man auf die Dramaturgie der Debatte, wie sie sich im April 2015 im Feuilleton ereignet, so können drei Phasen identifiziert und unterschieden werden, die jeweils nicht nur spezifische Wissenskulturen generieren, sondern auch mediale Strategien und Funktionen, die für die Inszenierung eines Dissenses im Feuilleton notwendig werden: (1) Die Phase der Aktualisierung: Mit den Mitteln der Provokation werden affektive Reize gesetzt, um einen Antagonismus zu installieren und einen medialen Dissens zu entzünden. (2) Die Phase der Politisierung: Die Re-Artikulation im Feuilleton entfaltet einen politischen Raum, in dem sich prozesshaft nicht nur unterschiedliche, sondern auch divergierende Deutungsweisen ausbilden und zu Allianzen versammeln. (3) Die Phase der Aushandlung: Der Antagonismus wird in eine agonale Auseinandersetzung überführt, die weniger von Abgrenzungs- und mehr von Auseinandersetzungsprozessen geprägt ist. (1) Wie entzündet sich die Debatte im Feuilleton? Wie wird aus einem politischen Ereignis ein mediales Ereignis, aus einer Personalentscheidung eine Debatte? Der metaphorisch konstituierte Reizbegriff »Event-Schuppen«, wie er von Claus Peymann im offenen Brief an die Berliner Kulturpolitik artikuliert und zugleich an die Feuilletons der Berliner wie auch überregionalen Presse weitergeleitet wird, kann als Auslöser und diskursiver Knotenpunkt der Debatte identifiziert werden. Die Metapher dient hier nicht nur als Medium der Transformation von nicht Sagbarem und zur Vereinfachung komplexer Sachverhalte noch als »fröhliche Wortspielerei«45 und »ästhetischer Genuss an sprachlicher Artistik«46, sondern vielmehr als Kampfmittel zur Legitimation und Durchsetzung von politischen Zielen. Wird das Element ›Event‹ mit dem Element ›Schuppen‹ oder ›Bude‹ kontextualisiert, erfährt es eine negative Konnotierung: Assoziationen wie ›Jahrmarkt‹, ›Hütte‹, ›Sozialer Klub‹ oder ›Kiosk‹ rufen das Bild einer bedrohlichen Zukunft hervor, in der die künftige Volksbühne als ›Nicht-Theater‹ erscheint. In Verknüpfung verschiedener Diskurse verweist die Metapher letztlich auf einen Antagonismus, der sich im 19. Jahrhundert zwischen der bürgerlichen Hochkultur 43 Kreye, Andrian: »Alte Revolutionäre, neue Monopole« [Interview von Andrian Kreye mit Tim Renner und Dieter Gorny], in: Süddeutsche Zeitung vom 10.06.2015. 44 Presse- und Informationsamt des Landes Berlin: Chris Deron wird neuer Intendant der Volksbühne. Pressemitteilung vom 24.04.2015. 45 Armstrong, Richards Ivor: »Die Metapher«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 31-54, hier S. 32. 46 Lüdemann, Susanne: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München: Fink 2004, S. 40.

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und der neu aufkommenden Unterhaltungs- und Populärkultur historisch konstituiert hat und das kulturelle Feld bis heute in Spannung hält. Hochkultur erscheint in dieser Leseart als die wertvolle Kultur, die als solche erhalten und gegen Vereinnahmungs- und Vermischungsprozesse durch Ökonomie, Politik und Medien verteidigt werden muss. Das Spektakuläre und Kommerzielle, das Schnelle und Flüchtige, das Management und der Markt werden hier als kulturell Anderes platziert, das sich außerhalb dieser Ordnung bewegt.47 Als ›Eventkultur‹ bezeichnet, mutiert das künftige Theater unter Dercon zum Feind, der die bestehende ›gute‹ Kultur in ihrem Bestand bedroht.48 Kulturhistorisch betrachtet, entstehen mit den kulturindustriellen Produktionen und den visuell-auditiven Medien im 19. Jahrhundert neue populäre Kulturen und Praktiken, die jene Auflösung der bürgerlichen Identität vorantreiben, wie sie sich in der Moderne ausgebildet und hegemonialisiert hat. Die neuen Populärkulturen der Kultur- und Medienindustrie bilden nicht nur eine kommerzielle Alternative zu den bürgerlichen Praktiken des Empfindens und Versenkens, sie sind als Formen der Zerstreuung und der Unterhaltung auch widerläufig. Vor diesem Hintergrund kann auch die antagonistische Leitdifferenz zwischen einer ›guten Hochkultur‹ und einer ›trivialen Populärkultur‹ verstanden werden. Die beiden Sphären agieren jedoch nicht unabhängig voneinander, das verworfene Außen der Populärkultur installiert vielmehr ein Spannungsverhältnis zwischen den beiden Polen, die in wechselseitiger Subversion eine neue Vielfalt an neuen Kulturen und künstlerischen Stilen entstehen lassen. Von der Avantgarde über die Pop-Art, von der Counter Culture zur Popkultur. Auch das ›postdramatische Theater‹ der Volksbühne bildet sich in diesem antagonistischen Spannungsraum aus: In Tradition eines postmodernistischen Iden-

47 Zur theoretischen Denkfigur des Anderen vgl. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie, Wien: Passagen 2000. 48 Der Begriff Event (dt. ,Ereignisʻ) ist vieldeutig und wird je nach Kontext unterschiedliche gedeutet. Der Soziologe Gerhard Schulze beispielsweise definiert Event als »spielerische Kulisse« des inszenierten Erlebens und Projektionsflächen für Gefühle, Wünsche und Phantasien. Vgl. Schulze, Gerhard: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 7. Kritischer formuliert es Winfried Gebhardt, der für spätmoderne Gesellschaften eine »akzelerierende Eventisierung der Festlandschaft« feststellt. Die Festkultur unterliege hier Prozessen der Deinstitutionalisierung, Entstrukturierung, Profanisierung und Kommerzialisierung. Gebhardt, Winfried: »Feste, Feiern und Events. Zur Soziologie des Außergewöhnlichen«, in: W. G./Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Events: Soziologie des Außergewöhnlichen, Opladen: Leske Budrich 2000, S. 17-23, hier S. 20.

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titätsdiskurses und in Auseinandersetzung mit dem als etabliert empfundenen Theater produziert es in der Nachwendezeit der 1990er Jahre alternative, der bürgerlichen Kultur entgegenstehende Theaterpraktiken. Theoretisch fundiert experimentiert es mit den performativen Praktiken aus der bildenden Kunst, bezieht sich in seinen multimedialen Inszenierungen reflexiv auf zeitgenössische Populärkulturen wie Fernsehshows, Werbetexte, Popsongs und Alltagsmythen und übernimmt Techniken und Verfahren aus der Popkultur wie Sampling, Covern und Zitation. Im experimentellen Spiel zwischen den Kulturen stellen die postdramatischen Theaterkulturen nicht nur »die Festschreibung der Künste nach Gattungen in Frage«, sie »destabilisieren (auch) die Grenzen zwischen populärer Kultur und Kunst«49 und fordern auf diese Weise den tradiert bürgerlichen Theaterdiskurs in seinem Bestand heraus. Die hybriden Formationen bilden einen neuen kritischen Diskurs in der Spätmoderne aus, der sowohl traditionell hochkulturelle wie auch nicht-hochkulturelle Elemente enthält und die einst scharfe Grenze zwischen den legitimen und illegitimen Künsten durchlässig werden lässt. Die kulturelle Entgrenzung, die mit Dercon »den nächsten Schritt«50 in Richtung Tanz, Interdisziplinarität, Internationalisierung und Digitalisierung geht, löst nicht nur die traditionelle Logik weiter auf, sie fordert auch ein neues Kulturverständnis heraus, wie es im Konflikt um die Volksbühne öffentlich zur Verhandlung gebracht wird. Die literarische Transformation der Konfliktstrukturen durch die Metapher »Event-Schuppen« ermöglicht in ihrer spektakulären Form nicht nur eine schnelle Verständigung der komplexen Verhältnisse, sie aktualisiert auch ein kulturell Anderes, das von Peymann wiederum in der Figur Renners personalisiert wird: »Der Kulturstaatssekretär Tim Renner ist die größte Fehlbesetzung des Jahrzehnts.«51 Renner wird hier zur Projektionsfläche im Kampf gegen Dercon. Als moralische Abwertung erzeugt die Strategie der Personalisierung nicht nur Aufmerksamkeit, sie ermöglicht auch eine eindeutige Diskursposition durch die Benennung eines Gegners: »Mir bricht buchstäblich der Angstschweiß aus, wenn ich mir vorstelle, was dieser unerfahrene und in dieser Position völlig überforderte Mann bereits angerichtet hat – und was uns noch erwartet«52. Formulierungen wie »Angstschweiß« verweisen letztlich auf bestimmte Identitätskonstruktionen, die

49 G. Klein/W. Wolfgang: Performance als soziale und ästhetische Praxis, S. 10. 50 T. Renner: Alte Revolutionäre, neue Monopole. 51 Siehe den offenen Brief von Claus Peymann vom 1. April 2015 unter https:// www.3sat.de/kulturzeit/pdf/Offener_Brief_von_Claus_Peymann_an_Kultursenator_ Michael_Mueller.pdf 52 Ebd.

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mit der ›Personalentscheidung Dercon‹ herausgefordert werden und zur öffentlichen Intervention mobilisieren.53 Die aggressive Polemik von Peymann, dessen Engagement am Berliner Ensemble nach 18 Jahren ebenfalls nicht verlängert wird, äußert sich nicht als vernünftige Kritik, sondern vielmehr als Furcht vor der Verdrängung und Auflösung der bestehenden Ordnung. Die Polemik betrifft letztlich die Machtverhältnisse im kulturellen Raum, die mit der Personalentscheidung an der Volksbühne neu geordnet werden. Die Berufung zeigt: Die vom klassischeren Theaterdiskurs als ›anders‹ empfundenen, mithin peripheren (Gegen-)Kulturen des Performancetheaters, wie sie in Berlin, Hamburg, Frankfurt und München marginal produziert werden, setzen sich nach und nach durch und werden zunehmend selbst hegemonial.54 Damit sind sie nicht nur eine ernstzunehmende Konkurrenz im Wettbewerb um Kulturförderung und Publikum auf einem umkämpften Kulturmarkt, sie stellen auch eine kulturelle Bedrohung dar, produzieren sie doch alternative, der klassischen Theaterkultur entgegenstehende Praktiken, die wiederum in die tradierten Spielformen einwandern, um sie zu hybridisieren. Die Sprechweisen verlagern sich dann von einer sachlich geführten Auseinandersetzung zu einem affekthaft stimulierten Dissens, in dem nicht die argumentative Verständigung im Vordergrund steht, sondern der Kampf um öffentliche Anerkennung des kulturell Eigenen in Abgrenzung und Abwertung von einem Anderen. 53 Die Emotionalisierung kann auch auf die mangelnde Kommunikation seitens der Berliner Kulturpolitik bei gleichzeitiger Förderung der ›Anderen Kulturen‹ zurückgeführt werden. Laut Brief bat Peymann um ein persönliches Gespräch. »Einem solchen Gesprächswunsch hat Ihr Vorgänger Klaus Wowereit in der Regel innerhalb von 14 Tagen entsprochen, bei Diepgen dauerte es eine Woche, beim Bundespräsidenten Köhler maximal drei Wochen – und beim Kulturstaatssekretär Schmitz wäre es eine Frage von wenigen Stunden gewesen. Bei Ihnen war es so: Vier Wochen nach meinem Brief rief Ihr Referent an und stellte Ihren Besuch im BE anlässlich einer Peymann-Inszenierung in Aussicht. Seither: Funkstille.« Siehe https://www.3sat.de/kultu-zeit/pdf/Offener_ Brief_von_Claus_Peymann_an_Kultursenator_Michael_Mueller.pdf Zugleich verkündet Tim Renner in einem Kulturzeit-Interview auf 3sat: »Es ist an der Zeit, die Volksbühne weiterzudenken.« Siehe www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/ themen/181296/index.html. Damit wird deutlich: Traditionelle Allianzen, Netzwerke und Praktiken, wie sie in der alten Kulturpolitik unter dem ehemaligen Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit generiert und etabliert wurden, greifen nicht mehr. 54 Vgl. Matzke, Annemarie: »Das Theater wird den Pop nicht finden – Medialität und Popkultur am Beispiel des Performance-Kollektivs She She Pop«, in: Marcus S. Kleiner/Thomas Wilke (Hg.), Performativität und Medialität populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken, Wiesbaden: VS Verlag 2013, S. 373-389, hier S. 374.

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Während Emotionen primär auf bestimmte identitätsgebundene Bedeutungen und damit auch auf Machtverhältnisse verweisen, steuern Affekte die Resonanz, um die Anschlüsse zu steigern. Die Entgegensetzung von Hochkultur und populärer Unterhaltungskultur, die in der Metapher ›Event-Bude‹ implizit artikuliert wird, dient hier als affektiver Reiz, um in den Medien Aufmerksamkeit zu erregen und einen Dissens zu entzünden. Als Provokationsmittel behauptet sie nicht nur die Abweichung des Bestehenden; in Abgrenzung zu einem kulturell Anderen leitet sie auch die Polarisierung des kulturellen Raums in zwei politische Lager durch die Möglichkeit der (Nicht-)Identifikation ein. Die Provokation entfaltet einen antagonistischen Spannungsraum zwischen der traditionellen Hochkultur und den neueren Pop(ulär)kulturen, innerhalb dessen sich nicht nur verschiedene, sondern auch divergierende Positionen ausbilden können, um ihre Vorstellung von Kultur und ihre Deutung der Ereignisse zu präsentieren. (2) Die Polemik im kulturkritischen Modus erregt die gewünschte Aufmerksamkeit der Feuilletons. Auf welche Art und Weise wird das ›Ereignis Peymann‹ im Feuilleton nun re-artikuliert? Welche Deutungs- und Interpretationsweisen bilden sich im feuilletonistischen Diskurs aus? Mit welchen Ausschlüssen gehen diese einher und welche Effekte haben diese für die Konfiguration des kulturellen Raums? Der von Peymann entfachte Antagonismus wird vom Feuilleton aufgegriffen und zunächst normativ in eine Dichotomie übersetzt, die zwischen einem traditionell bestimmten Repertoire- und Ensembletheater und einem »neoliberal geführten Projekttheater« unterscheidet, das als »austauschbares, für den globalen Festivalmarkt produziertes Durchreise- und Containertheater«55 fungiere. Die Differenz, die auch durch »Abbau-Ängste«56 geprägt ist, wird von einer kulturellen Logik flankiert, in der die Kunst der Ökonomie und dem Markt moralisch überlegen ist.57 Beispielhaft schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung: »Viele denken ähnlich wie Peymann; sie befürchten, unter einem Kunstkurator, der mit Schauspiel nichts am Hut hat, könnte der Charakter der Volksbühne als eigenständiges, stilbildendes Repertoire- und Ensembletheater verloren gehen. Und läutet der Trend weg von der Schauspielbühne hin zum kuratierten, spartenübergreifenden, international festivaltauglichen Spielplan nicht den Niedergang des Theaters ein?«58

55 Kümmel, Peter: »Warum der Zorn«, in: Die Zeit vom 29.04.2015. 56 Dössel, Christine: »Angeschossen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.04.2015. 57 Zur Moral in den Massenmedien vgl. Ziemann, Andreas: Medienkultur und Gesellschaftsstruktur: Soziologische Analysen, Wiesbaden: VS Verlag 2011, S. 237-277. 58 Dössel, Christine: »Claus Peymann«, in: Süddeutsche Zeitung vom 04./05./06.04.2015.

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Auch Peter Laudenbach spricht in derselben Zeitung von einem grundlegenden Wandel der Theaterkultur, wenn er das Repertoire-Theater gegen »Dercon, den Museumsmann mit einem Faible für Perfoming arts« in Stellung bringt: »Ein experimentierfreudiges Sprechtheater zu einem Ort für alles Mögliche zu machen und ein Repertoire-Theater durch das neoliberale Modell eines von einem Kurator mit Einzelprojekten bespielten Angebots zu ersetzen, käme einem Paradigmenwechsel im deutschen Theaterbetrieb gleich.«59

Unter dem Druck der medialen Öffentlichkeit tritt schließlich Tim Renner in die feuilletonistische Debatte ein. In seiner öffentlichen Stellungnahme in der Zeit sucht der Kulturstaatssekretär die sachliche Diskussion, wenn er sich mit den gesetzten Behauptungen von Peymann auseinandersetzt (»Was genau ist eigentlich eine Eventbude?«). Dabei dementiert er nicht nur die im Feuilleton befürchtete Reduzierung des Ensembles an der Volksbühne (»Niemand […] ist jemals auf die Idee gekommen, diese noch weiter reduzieren zu wollen«), er bietet Peymann auch das zuvor verweigerte Gespräch an (»Lassen Sie uns essen gehen. An Themen für ein anregendes Tischgespräch sollte es uns nicht mangeln«). Schließlich führt er neben der Differenz das Gemeinsame ins Feld: »Das Theater muss Brücken in die Lebenswirklichkeit der Stadt schlagen, um relevant zu sein. Nur so kann es der ›Stachel im Fleisch der Mächtigen‹ sein, von dem Peyman zu Recht träumt.« Grundlage seiner Argumentation ist die Auflösung der von Peymann propagierten Dichotomie zwischen Hochkultur und Pop(ulär)kultur: »Relevanz erzielt das Theater aber nicht, indem man alte Gräben zwischen sogenannten Bildungsbürgern und mit Popkultur sozialisierten Menschen aufmacht, wie es Claus Peymann zwischen sich und mir zu tun versucht. Es geht nicht mehr darum, dass die eine Kulturform E wie ernsthaft ist und die andere U wie unterhaltend.«

Insbesondere an der Berliner Volksbühne habe die »von Peymann gefürchtete Verschränkung der Künste bereits seit langem stattgefunden«. Von »Yoko-Ono oder Patti Smith Konzert bis zur Installation Liebeslaube von Georg Schneider oder ›Der Oper‹ von Rene Pollesch mit Tocotronic«60. Renners Gastbeitrag in der Zeit mündet in ein Paradox: Während die sachliche Auseinandersetzung mit Peymanns Aussagen eine Entschärfung des potenziellen

59 Laudenbach, Peter: »Wird die Berliner Volksbühne zum neoliberalen Event-Angebot?«, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.04.2015. 60 T. Renner: Kaufen Sie sich mal wieder eine Hose, lieber Claus Peymann.

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Antagonismus durch Verständigung anstrebt, trägt das hier artikulierte Kulturverständnis wiederum zu seiner Verschärfung bei. Renner führt die Popkultur als Identifikationsdiskurs alternativ zur abendländischen Kultur der Moderne ins Feld, wie sie Peymann vertritt, der dem bildungsbürgerlichen Kanon zugeordnet wird. Popkultur erscheint hier als kulturelle Entität, die nicht nur neue Möglichkeiten der Sinnstiftung generiert, sondern auch Entgrenzungs- und Vermischungsprozesse im traditionell hochkulturellen Raum einleitet, sorge die Popkultur doch »seit über einem halben Jahrhundert für die Erneuerung der Hochkultur«61. Mit dem Eintritt von Renner in die feuilletonistische Debatte verlagert sich diese weg von Fragen zur Ästhetik und zur Struktur des Theater(-betriebs) hin zu Fragen der kulturellen Identität. Die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Identitäten, wie sie in der Position von Renner zum Ausdruck gebracht wird, politisiert die Debatte und inszeniert einen Dissens, in dem sich zwei Gegner gegenüberstehen: der Identitätshorizont der europäischen Aufklärung und die postmodernistisch orientierte Identität. Die Frontenstellung wird zugespitzt auch in der Polemik von Ulf Poschardt deutlich, der mit Renner eine Allianz in der feuilletonistischen Debatte eingeht: »Peymann hat eine Idee vom Bildungsbürger aus dem 19. Jahrhundert und kann nicht verstehen, dass sich dieses Konzept weiterentwickelt hat.«62 Bezugnehmend auf ein Interview mit Peymann in der Zeit63 deutet auch Poschardt die Popkultur als eine neue ›Bildungskultur‹ und Praktik der kulturellen Selbstverständigung:

61 T. Renner: Alte Revolutionäre, neue Monopole. Zur popkulturellen Sozialisation siehe auch Chris Dercon selbst: »Ich interessiere mich beispielsweise sehr für Popmusik – wegen des ritualisierten Charakters der Zeremonie. Deshalb finde ich auch das Berghain so interessant. Dort geht es nicht nur um Ritualisierungen von Sexualität, sondern vielmehr um eine Auseinandersetzung zwischen der Technik – der Musik, dem Licht – und den Körpern. Das ist auch eine Form von Theater heute«. Dercon, Chris: »Das ist meine Idee von Freisein«, in: Die Zeit vom 29.04.2015. 62 Poschardt, Ulf: »Tim Renner sollte Claus Peymann rausschmeißen«, in: Die Welt vom 09.04.2015, Meinung. 63 Peymann antwortet auf die Frage, warum Tim Renner eine Fehlbesetzung ist: »Wowereit hat sich den Renner in diese Hip-Hop-Hauptstadt geholt. Der Renner ist jung, frisch, ein bisserl dumm, immer nett lächelnd und auf Rhythmus aus. Ich hab mich ein paarmal mit dem getroffen – der weiß vom Theater nix. Da ist keinerlei Geschichtsbewusstsein, kein Hintergrund. Da können Sie genauso gut mit dem Pförtner sprechen. Er ist einer dieser Lebenszwerge, die jetzt überall die Verantwortung haben.« Peymann, Claus: Der Renner muss weg!

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»Peymanns Verachtung für Berlin als ›Hip-Hop-Hauptstadt‹ erinnert an den Gegenwartsekel der AfDler. Hip-Hop als Musikgattung weiß so viel von der Gegenwart, ihren Rissen, sozialen Verwerfungen und Dramen, weil sie nicht zu Tode subventioniert und öffentlich beschmeichelt worden ist.«

In Abgrenzung zu Peymann bezieht er schließlich eindeutig Stellung: »Tim Renner tut das Richtige, wenn er den feisten Revolutionsopa rausschmeißt. Es ist genug.«64 Der von Peymann polemisch herausgeforderte Antagonismus führt zu einer Verschärfung der Debatte, in deren Verlauf die Positionen zunehmend in Richtung der beiden Pole im Spannungsfeld von traditioneller Hochkultur und Pop(ulär)kultur wandern.65 In Versammlung der Stimmen bilden sich schließlich Allianzen aus, die im Widerspruch zueinander stehen: Während sich die Mehrheit im Feuilleton für das Ensemble- und Repertoiretheater in der Tradition der Aufklärung und sein künstlerisches Ideal des literarisch-dramatischen Theaters ausspricht, bestimmt sich ›das Andere‹ mehr oder weniger scharf über Elemente wie Kosmopolitismus, Kreativität, Kurator, Festival, Performance, Projekt, Kollaboration, Globalisierung und Interdisziplinarität, wie sie von Chris Dercon vertreten werden, der sein künftiges Team an der Volksbühne auch als ›Komplizen‹ bezeichnet. (3) Durch Wiederholung verfestigt sich die behauptete Entgegensetzung im feuilletonistischen Diskurs zu einer temporären Deutungshoheit. Die moralisch konstituierte Wir-/Sie-Unterscheidung, die immer auch mit einer Ab- und Ausgrenzung einhergeht, mobilisiert zugleich aber auch neue Stimmen, die in den Diskurs eintreten, um ihn zu entschärfen. Beispielhaft schreibt der Intendant der Berliner Festspiele Thomas Oberender im Tagesspiegel: »Plötzlich erscheinen Stadttheater wieder als Bollwerke einer hehren Kunst und Arbeitswelt und wirken irgendwie auch wieder konservativ. Plötzlich wird die vermeintlich progressive Szene der freien Produzenten zu Agenten des Events und Marktliberalismus deklariert. Aber

64 U. Poschardt: Tim Renner sollte Claus Peymann rausschmeißen. 65 Vgl. dazu den offenen Brief an Tim Renner von Joachim Lux (Thalia Theater Hamburg), Ulrich Khuon (Deutsches Theater Berlin), Martin Kusej (Bayrisches Staatsschauspiel München) vom 19.04.2015, in dem von »Abwicklung« und »Zerstörung« die Rede ist und der fordert: »Berlin braucht keinen Aufbruch in die Zukunft, der mit der Abrissbirne daherkommt. Berlin braucht Frank Castorf und sein Künstlerkollektiv.« Siehe http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/181490/index.html

282 I SIMONE J UNG stimmen Begriffe wie Stadttheater und konservativ oder freie Szene und Festivalisierung noch?«66

Und auch Andrian Kreye fragt in der Süddeutschen Zeitung: »Was aber will die Kultur?« »Folgt man dem Schlagabtausch, tat sich da plötzlich ein Graben auf, den beide Seiten ja eigentlich mit ihrer eigenen Arbeit längst geschlossen hatten – hier die Hochkultur, da der Pop, dazwischen das Minenfeld der beiderseitigen Ressentiments.«67 Eva Behrendt verweist in der tageszeitung wiederum auf die Verengung des politischen Sprechraums und fordert: »Mehr Differenz in der Theaterlandschaft wäre gut.«68 In Unterscheidung zu Peymann (»Waterloo des europäischen Theaters«, »Der Renner muss weg«69) und zu Tim Renner (»Ist das nicht ein ganz stark popkultureller Kulturbegriff?«70) setzen Kreye, Oberender und Behrendt nicht auf den einen oder anderen Pol, auf die Hochkultur oder den Pop. Sie betonen vielmehr die Pluralisierung der Hegemonien im kulturellen Raum und die Vielfalt der Möglichkeiten von Hochkultur im 21. Jahrhundert. Beispielhaft schreibt Oberender: »Dass diese Kultur, für die wir stehen, nun als Event- und Marktkultur vom Tisch gewischt wird, ist unfair gegenüber den Künstlern […]. Denn sie ist Teil einer sehr vielgestaltigen Form von Hochkultur, zu der natürlich auch an Opernhäusern die modernen Inszenierungen der Klassiker oder des experimentellen Musiktheaters von Iannis Xenakis bis Olga Neuwirth zählen.«71

Die Verschärfung des Konflikts führt neue Positionen in den feuilletonistischen Diskurs ein, die sich zwischen den beiden Polen bewegen. Auf diese Weise hybridisieren sie die radikalen Positionen, entschärfen also die Debatte, um sie in eine agonale Auseinandersetzung überzuführen.72 Im Unterschied zu den bisherigen 66 Oberender, Thomas: »Kulturkampf? Welcher Kulturkampf?«, in: Tagesspiegel vom 26.04.2015. 67 Kreye, Andrian: »Sportfreunde Peymann«, in: Süddeutsche Zeitung vom 25./26. 04.2015. 68 Behrendt, Eva: »Castorf geht und alle haben Angst«, in: die tageszeitung vom 22.04.2015. 69 C. Peymann: Der Renner muss weg! 70 T. Renner: Alte Revolutionäre, neue Monopole. 71 Th. Oberender: Kulturkampf? Welcher Kulturkampf? 72 Beispielsweise entschärft Oberender die radikale Position der Theaterintendanten im offenen Brief an Renner (siehe Fußnote 65): »Die Autorentheatertage, das FIND-Festival, das Wien-Festival, das Infektion- oder das Augenblickmal-Festival: Veranstaltet

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Standpunkten, sind die ›neuen‹ Stimmen von einer Anerkennung der Vielfalt der Partikularkulturen geprägt, in der die ›Anderen‹ nicht als Feinde wahrgenommen werden, sondern als Gegner, die als solche ihre Interessen im kulturellen Feld zwar durchsetzen wollen, zugleich teilen sie mit ihnen aber auch »einen gemeinsamen symbolischen Raum, in dem der Konflikt stattfindet«73. Sie erkennen sich also als derselben kulturellen Gemeinschaft zugehörig. Insofern charakterisiert sich die Sprechweise der ›neuen Stimmen‹ nicht über eine Abgrenzung zum kulturell Andersdenkenden. Es kommen aber auch alle jene Stimmen aus dem Theaterdiskurs im Feuilleton zu Wort, die sonst als peripher wahrgenommen werden: Neben Thomas Oberender von den Berliner Festspielen ist es Amelie Deuflhard vom Hamburger Kampnagel, die in der Zeit für ein »Theater als Labor – Ort der Erfindung, Entwicklung und Innovation«74 plädiert, schließlich Chris Dercon selbst, der in verschiedenen Interviews seine künftigen Aufgaben und Ziele öffentlich verkündet und der sich grundsätzlich weniger als »Revolutionär« und mehr als »Moderator der Veränderung«75 begreift. Christine Dössel wiederum versammelt beispielhaft in einem Feuilletonbericht über F.I.N.D., ein Festival für internationale neue Dramatik, die Intendanten der Berliner Theater-Szene, um die Meinungsvielfalt aus dem Milieu zum »Museumsmann Dercon« abzubilden. Der Dramaturg Bernd Stegemann spricht hier etwa von »Rüpelhaftigkeit«, die künftige Programmdirektorin an der Volksbühne Marietta Piekenbrock von einer »German Angst« – es »sei die Angst vor dem Unbekannten, vor Kontrollverlust« –, und Thomas Ostermeier von der Berliner Schaubühne kommentiert: »Unser Haus kann davon nur profitieren«. Auch Nicolas Stemann, der an den Münchner Kammerspielen bei Matthias Lilienthal inszeniert, bleibt gelassen: »Mal abwarten, wird alles nicht so schlimm.«76 Schlussendlich erscheint das Feuilleton in dieser Debatte als Versammlungsraum für die neue Vielfalt an ›Hochkulturen‹, wie sie sich im Spannungsfeld zwischen den bürgerlichen Hochkulturen und den neueren Pop(ulär)kulturen seit dem das die freie Szene? Nein, das machen (als Förderfonds- und stiftungsfinanzierte Extras) die Stadttheaterintendanten Ulrich Khuon, Thomas Ostermeier, Claus Peymann, Jürgen Flimm und Kai Wuschek, und das ist völlig in Ordnung. Die Robert-Wilsonund Peter-Stein-Events am Berliner Ensemble oder die Luigi-Nono-Millionen der Staatsoper im Kraftwerk Mitte sind Lotto- und Hauptstadtkulturfonds-Geschenke an Berlin, die auch die Touristen belohnen. Wer beklagt sich da eigentlich über was?« Ebd. 73 Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 29. 74 A. Deuflhard: Es geht um Pfründe. 75 Ch. Dercon: Das ist meine Idee von Freisein. 76 Dössel, Christine: »Nichts überstürzen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.04.2015.

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18. Jahrhundert herausgebildet haben. Als politisches Medium wird es zur ›Bühne‹, auf der die Antagonismen aus dem kulturellen Raum zusammengeführt und in Beziehung gesetzt werden, um über die gegenwärtige und künftige Bedeutung von Theater im Speziellen und Kultur im Allgemeinen zu streiten. Die Analyse fokussierte dabei die verschiedenen Verweisketten aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld, die aufeinander bezogenen einen temporär politischen Raum im Feuilleton ausbilden, um den Signifikanten ›Hochkultur‹ exemplarisch am Theaterdiskurs zu verhandeln. Während die erste und zweite Phase die Verschärfung des Konflikts durch die Herstellung eines Antagonismus im Fokus haben, um einen Dissens zu entzünden, erfolgt in der dritten Phase im Idealfall seine Aushandlung, um den Konflikt durch eine sachliche Verständigung zu entschärfen. Das ›postdramatische Theater‹ und die Popkultur konnten dabei als hybride (Hoch-)Kulturen entlarvt werden, wie sie sich im Spannungsfeld von traditioneller Hochkultur und den neueren Populärkulturen historisch ausgebildet haben. Weder der einen noch der anderen Sphäre eindeutig zuordenbar, vereinen sie hochkulturelle und populäre Elemente auf unterschiedlichen Ebenen, um neue künstlerische Formationen und Identitätsdiskurse zu begründen. Als solche fordern sie ein neues Kulturverständnis heraus, das tradierte Praktiken der Selbstreflexion und Selbstbildung nicht verwirft, sondern mit den neuen Erfahrungen und Mechanismen der Medien- und Populärkultur in Beziehung setzt, um sie zu modifizieren und erneut zugänglich zu machen. Auf diese Weise lösen sie ein homogenes Kulturkonzept ab und ersetzen es durch ein heterogenes, welches das Ideal der Selbstentfaltung des Menschen zwar beibehält, es aber unter den Bedingungen der kulturindustriellen Produktion wie auch der Globalisierung und Digitalisierung neu aushandelt. In diesem Sinn erfolgt keine radikale Absage an das bürgerlich-humanistische Konzept; seine auf Selbstentfaltung verweisende Struktur erscheint lediglich im neuen Gewand, das auch neue Begriffsverständnisse und Kritikweisen einfordert. Letztlich wirft der Streit um die Volksbühnen-Debatte eine zentrale Frage auf, die nicht nur das Theater, sondern den kulturellen Raum im Gesamten betrifft; eine Frage, die letztlich offen bleibt: Wie lässt sich ›Hochkultur‹ im 21. Jahrhundert definieren? Macht dieser traditionell normativ geprägte Begriff noch Sinn, weil er trotz seiner wechselnden Identität und Sinnhaftigkeit immer noch die bedeutsamere Kultur inkludiert und sich so von der allgemeinen Kultur abgrenzt. Oder muss ein neues Definitionsangebot erschlossen werden, das die kulturellen Verhältnisse der Gegenwart präziser zu beschreiben vermag?

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2. AUSBLICK Die Debatte offenbart: Hochkultur erschließt sich im 21. Jahrhundert nicht mehr rein über den bürgerlichen Kanon, sie erweitert sich um die populären Kulturen und den Pop, die globalen Kulturen und die digitalen Künste, die sich über ihre Einbindung in den traditionell hochkulturellen Diskurs letztlich selbst zu einer bedeutsamen Kultur transformieren. Pop(ulär)kultur stellt dann nicht mehr das Andere dar, sie wird selbst zur herrschenden, mithin ›hohen Kultur‹, begreift man diese nicht als bürgerlich bestimmt, sondern als die ›bedeutsame Kultur‹. In dieser Perspektive erscheint ›Hochkultur‹ als ein umkämpfter Partikulardiskurs im kulturellen Raum, der im Feuilleton seine Verhandlung findet. An dieser Stelle erschließt sich auch die Problematik des Feuilletons, das im 21. Jahrhundert nicht mehr auf ein gemeinsames Wissen und einen gemeinsamen Wahrnehmungshorizont als zu verhandelnden Maßstab zurückgreifen kann, wie er sich im bildungsbürgerlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat und seit dem 20. Jahrhundert in Auflösung befindet. Wie deutlich wurde, gibt es weder das eine Feindbild noch einen vom bürgerlichen Publikum geteilten Deutungshorizont, um den gestritten wird, sondern eine Vielfalt an hybriden Kulturen und konkurrierenden Sinnhorizonten, wobei für keinen in Anspruch genommen werden kann, er sei der einzig ›wahre‹. Dies führt nicht nur zu einer Entpolitisierung des Streits im kulturellen Raum. Der Kampf um Macht und kulturelle Identität, wie er beispielhaft zwischen Peymann und Renner in der Volksbühnen-Debatte geführt wird, erschwert auch eine differenzierte Auseinandersetzung, muss doch erst einmal das jeweilige Kulturverständnis präsentiert und machtvoll verteidigt werden, von dem aus die Interessen und Forderungen der einzelnen Sprecherpositionen formuliert werden können. Kulturpolitische Debatten zur Kulturförderung oder Diskussionen über zeitgemäße Strukturen an Stadttheatern werden dadurch an den Rand gedrängt. Der Verlust eines gemeinsamen Bodens verschiebt die Logik der Fragen in den Feuilletondebatten immer wieder ins Grundsätzliche und wirft das Feuilleton letztlich immer auch auf sich selbst zurück: Welche Normen und Werte können als Maßstab für eine sachliche Prüfung des Partikularen geltend gemacht werden? Was ist Kultur, was ist Hochkultur? Insofern scheint das traditionell bürgerlich bestimmte Feuilleton in einer Krise.77 Zugleich erschließt sich gerade in der kulturellen Unentschiedenheit das politische Potenzial des Feuilletons: Als Versammlungsraum der heterogenen Kultu-

77 Vgl. dazu auch Steinfeld, Thomas (Hg): Was vom Tage bleibt. Das Feuilleton und die Zukunft der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland, Frankfurt a.M.: Fischer 2004.

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ren kann es die Vielfalt der Identitäten an einem gemeinsamen Ort zusammenführen und in Bezug setzen, um sie nicht nur sichtbar und diskursfähig zu machen, sondern auch konflikthaft auszuhandeln. In dieser Hinsicht erweist sich gerade die Auflösung des Bürgerlichen als äußerst produktiv, was das Politische anbelangt: Sie lässt die Kultur und ihre Verhandlung zu einem spannungsreichen Ort in der Spätmoderne werden, definiert diese sich doch nicht mehr über einen gemeinsamen Wahrnehmungshorizont, sondern als fortlaufender Aushandlungsprozess zwischen den partikularen Hochkulturen, die sich im Spannungsfeld der traditionell bürgerlichen Kultur und den neueren Pop(ulär)kulturen ausbilden. Das Feuilleton der Spätmoderne wird so zu einem integrativen Spannungsraum, in dem die kulturellen und künstlerischen Grenzen permanent ausgehandelt werden. In dieser Hinsicht wäre es nicht mehr das (Deutungs-)Zentrum einer bürgerlichen Kultur, das vorgibt, was sag- und denkbar ist, es wäre vielmehr ein Ort, an dem der kulturelle Konflikt zum Ausdruck gebracht und ausgetragen wird. In Unterscheidung zu den digitalen Kanälen und sozialen Medien, die gegenwärtig von einer relativen Homogenisierung ihrer Diskurse geprägt sind, kann es trotz aller Krisensemantik auch gegenwärtig noch soziale Relevanz erlangen, macht es von seiner traditionellen Strategie Gebrauch, das »Kulturgespräch einer Gesellschaft«78 zwischen den verschiedenen Interessen und Identitäten zu inszenieren und zu moderieren. Möchte man abschließend eine praktische Handlungsanleitung für den feuilletonistischen Diskurs im hier verstandenen Sinn geben, so könnte man eine noch weitreichendere Öffnung einfordern, hin zu den Kulturen und ihren Praktiken, ihren Stimmen und Ideen, um den ohnehin schon bestehenden Versammlungsraum zu erweitern, letztlich um neue Perspektiven auf Weltgeschehnisse zu ermöglichen oder Ereignisse überhaupt erst verhandelbar zu machen. Nicht das Feuilleton mit seiner Praxis des Beobachtens und des In-Beziehung-Setzens, des Versammelns und Verdichtens, erfährt einen Tod, wie es Georg Seeßlen im Kulturteil der tageszeitung im Sommer 2012 beschrieben hat, sondern sein bürgerliches Kulturverständnis, das spätestens im 21. Jahrhundert nicht mehr aufrechterhalten werden kann.79 Für die Zukunft des Feuilletons stellt sich dann die Frage neu: Für wen und mit wem spricht es im 21. Jahrhundert?

78 Jäger, Georg: »Feuilleton«, in: Volker Meid (Hg.), Literaturlexikon. Begriffe, Realien, Methoden, Band 13, München: Bertelsmann Lexikon 1998, S. 301f., hier S. 301. 79 Vgl. Seeßlen, Georg: »Schafft das Feuilleton ab!«, in: die tageszeitung vom 08.08.2012.

Werturteile im heutigen Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeit T HOMAS H ECKEN

Die Verlage und Redaktionen deutscher Zeitungen sehen nach wie vor – soweit in Verlautbarungen ersichtlich – als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an, tatsachengemäß zu berichten. Sogar im Redaktionsstatut der tageszeitung, abgekürzt taz, in dem es heißt, die »taz engagiert sich für eine kritische Öffentlichkeit«, steht kurz danach der Satz: »Die Zeitung ist der wahrheitsgetreuen Berichterstattung verpflichtet«1. Einen Konflikt zwischen »wahrheitsgetreue[r] Berichterstattung« und ›Engagement‹ befürchtet man offenkundig nicht, ›Engagement‹ muss sich demnach nicht bloß in ›engagierten‹ Kommentaren zeigen. Eine Aufhebung der Unterscheidung von ›Bericht‹ und ›Kommentar‹ nimmt die taz dennoch nicht vor, der »Kommentar« wird von ihrer Redaktion als solcher für die Leserschaft kenntlich gemacht. Nach gängiger Auffassung bestehen solche Kommentare unter anderem in bestimmten Aussagen, die in Berichten nur in Form von Zitaten derjenigen, über die berichtet wird, vorkommen dürfen, nicht in Form von Aussagen des Berichterstatters: Der Kommentar »bewertet aktuelle Ereignisse«2, er fügt einer »neutralen Berichterstattung ein wertendes Urteil hinzu«3, lauten die Hinweise in journalistischen Ratgebern und Handbüchern. Zwar besteht der Kommentar nicht nur aus

1

Siehe Redaktionsstatut der taz unter http://www.taz.de/!114802/ vom 26.11.2008.

2

Wolff, Volker: ABC des Zeitungs- und Zeitschriftenjournalismus, Konstanz: UVK

3

Häusermann, Jürg: Journalistisches Texten. 3., überarb. Aufl., Konstanz: UVK 2011,

2006, S. 126. S. 219.

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wertenden Aussagen der Kommentarschreiber, sie bilden aber nach Auskunft und Anweisung der angeführten Bücher den Hauptunterschied zu Berichten. Blickt man nun in gedruckte Zeitungen, mag man überrascht sein: Viele Zeitungen weisen Textsorten gar nicht aus. Falls ihre Redaktionen Journalistinnen und Journalisten beauftragen sollten, einen Kommentar oder Bericht zu schreiben, machen sie dies jedenfalls der Leserschaft gegenüber nicht deutlich. Langjährige Leserinnen und Leser der FAZ zum Beispiel mögen wissen (oder meinen zu wissen), dass auf der Titelseite die beiden von ihnen aus gesehen rechten Spalten die Kommentarspalten sind, über den jeweiligen Artikeln steht aber keine entsprechende Angabe. Durch das Layout wird zwar ein Unterschied zu anderen Artikeln hergestellt, es gibt aber in der Zeitung selbst keine Erläuterung, dass zum Beispiel ein bestimmter Strich einen ›Kommentar‹ anzeigt. Anders sieht es am oberen Rand der Zeitungsseiten aus. Hier stehen durchgehend Wörter, mit denen die Redaktionen Angaben zu Besonderheiten der Artikel machen, die unter diesen Wörtern stehen. Meist traditionell gefasst (»Politik«, »Wirtschaft«, »Finanzen«, »Leserbriefe«, »Reisen« etc.), in seltenen Fällen mit vage-euphemistischen (»Chancen«) und irreführenden (»Dossier«) neueren Titeln. Mit ihnen werden – mit der Ausnahme der »Leserbriefe« und des »Dossier[s]« – immer Themenbereiche angezeigt, nicht Textsorten.

F EUILLETON

ALS

T EXTSORTE

Einigermaßen rätselhaft unter den Angaben bleibt allein das »Feuilleton«. Einige deutsche Tageszeitungen (etwa die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, abgekürzt: WAZ) haben einen »Kultur«-Teil, kein »Feuilleton« – ist ›Feuilleton‹ also ein altmodischer Ausdruck für ›Kultur-Berichte‹? Wenn man sich die bekanntesten deutschen Feuilletonseiten – über denen »Feuilleton«4 steht –, ansieht, die von FAZ, SZ und der Zeit, kann man in Zweifel geraten, weil dort manchmal auch Artikel abgedruckt sind, die politische Themen behandeln. Oder ist »Feuilleton« doch eine Angabe zur Textsorte? – Diese und andere Fragen sollen nun überprüft werden. Einige Exemplare bekannter Feuilletonseiten wurden dafür per Zufallsauswahl herausgegriffen, damit die Auswahl nicht von vorab gefassten Anschauungen bzw. Ergebniserwartungen beeinflusst werden konnte; es handelt sich um folgende Ausgaben: FAZ vom 22. April 2015; SZ vom 20. Juni 2016; Die Zeit vom 21. Juli 2016. – Für die Textsorten-Hypothese spricht

4

Wenn um den Begriff doppelte Anführungsstriche stehen, sind hier und im Folgenden immer die jeweiligen Seiten der Zeitungen gemeint, über denen ebendieses Wort steht.

W ERTURTEILE IM HEUTIGEN F EUILLETON

I 289

zunächst einmal, dass der Begriff ›Feuilleton‹ tatsächlich wiederholte Male zur Bezeichnung einer Textsorte gebraucht worden ist: der »kleinen Prosaform ›Feuilleton‹«5. Wenn mit ihr Textsorten wie ›Anekdote‹, ›Humoreske‹, ›Sentenz‹, ›Aphorismus‹, ›Rätsel‹, ›Erzählung‹ angesprochen werden,6 dann muss man konstatieren, dass es im heutigen »Feuilleton« der FAZ, Zeit, SZ – und nur um die von ihren Redaktionen so bezeichneten Seiten soll es hier ja gehen – diese Textsorte ›Feuilleton‹ nicht (mehr) gibt (auf solche Feuilletons stößt man zum Teil noch in den Beilagen dieser Zeitungen, in der Zeit auch im Buch »Z« [»Zeit zum Entdecken«]). Zur ›kleinen Prosaform‹ gerechnete Genres wie ›Straßenbild‹, ›Stadtbild‹, ›Denkbild‹, ›Glosse‹, ›Reisebeschreibung‹7 hingegen findet man ab und zu noch im »Feuilleton« besagter Blätter. In den Stichproben waren sie allerdings – mit Ausnahme einer Schrumpfform des Reiseberichts bzw. des Stadtbilds8 sowie eines Denkbilds9 – nicht vorhanden, allgegenwärtig sind sie also keineswegs. Die zweite gängige Weise, die kleine Prosaform ›Feuilleton‹ zu bestimmen, besteht in der Angabe von Stileigenschaften. Positiv gewendet: »Leichtigkeit, elegante Beiläufigkeit, Impressionismus und Sprachraffinement«10, abwertend als ›Feuilletonismus‹ verbucht. Folgte man diesem Ansatz,11 müsste man die Variablen (»Leichtigkeit« usf.) freilich genauer definieren, um zu nachvollziehbaren Ergebnissen zu gelangen, ob (und wenn ja, in welchem Maße) sich Feuilletons und/oder Artikel, die im »Feuilleton« erschienen sind, von anderen Artikeln unterscheiden.

»F EUILLETON «

UND

B ERICHT

Dem soll hier aber nicht nachgegangen werden, der Akzent liegt vielmehr auf der Wertungsfrage: Gibt es Besonderheiten im »Feuilleton« der Zeit, SZ und FAZ in

5

Todorow, Almut: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, Tübingen: Niemeyer 1996, S. 12.

6

Vgl. ebd., S. 10-13.

7

Vgl. ebd., S. 12f.

8

Vgl. Die Zeit vom 21.07.2016, S. 45.

9

Vgl. ebd., S. 46.

10 A. Todorow: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, S. 12. 11 Zuletzt Kernmayer, Hildegard: »Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik 3 (2012), S. 509-523, hier S. 512.

290 I T HOMAS H ECKEN

der Art und Weise, Bewertungen vorzunehmen? Unmittelbar plausibel klingt die Hypothese, dass eine Besonderheit gegenüber den anderen Zeitungsseiten in der Vielzahl an Wertungen besteht, schließlich machen Rezensionen einen beträchtlichen Teil dieser »Feuilletons« aus – Kritiken, die, wie der Name schon sagt, nicht nur Beschreibungen, sondern auch bewertende Einschätzungen der vorgestellten Filme, Opern etc. bieten. Tatsächlich ist es schwer, Meldungen und Berichte in den zur genaueren Untersuchung ausgewählten Zeitungsausgaben zu finden. In der Zeit gibt es im Feuilleton gar keinen, in der SZ einen. Nur in einem Fall übernahm die Feuilleton-Redaktion der FAZ eine dpa-Meldung, die sich, wie bei Presseagenturen üblich, streng an die Konventionen der Textsorte ›Meldung/Bericht‹ hält. Über Ereignisse und Daten wird zumeist unter Angabe einer Quelle referiert; Bewertungen erfolgen nicht von der Journalistin oder dem Journalisten der Deutschen Presseagentur, sondern von den Personen, über die berichtet wird: »Latchinian bezeichnet die Entwicklung von Einnahmen und Besuchern als positiv.«12 Zwei weitere dpa-Artikel stehen im »Feuilleton«-Buch auf der »Medien«-Seite (dieses Buch umfasst sechs Seiten, auf der vorletzten steht anstatt »Feuilleton« eben »Medien«; über der letzten Seite, auf der lediglich Fernseh- und Radioprogramme unkommentiert abgedruckt werden, steht wieder »Feuilleton«). Diese beiden dpa-Artikel sind allerdings von der Redaktion bearbeitet worden, als Urheberangabe steht unter den Artikeln »dpa/F.A.Z.«13. Die Bearbeitung erschöpft sich nicht nur in Kürzungen (sonst stünde dort wohl nur »dpa«), sondern in anderen Umformulierungen bzw. Zusätzen. Eine Bearbeitung zeichnet sich zudem durch Bewertungsanklänge aus. Zum Vergleich zuerst der themengleiche Focus-Online-Artikel, unter dem »dpa« als Urheber angegeben wird. Er trägt die Überschrift »Mehr Eigenproduktionen bei RTL II«: »Das Aushängeschild bei den Bemühungen um ein neues Sender-Image ist die Hauptabendserie ›Godless‹, bei der die Schauspieler Jule Ronstedt und Matthias Koeberlin in den Hauptrollen mitwirken. Der Produktionsstart sei für Mai vorgesehen, sagte ein RTL-IISprecher auf Anfrage. In der Krimiserie, der ein niederländisches Vorbild zugrunde liegt, geht es darum, wie ›Täter und Opfer im Sog eines Konflikts auf das Verbrechen zusteuern‹, sagte Programmchef Thomas Zwiessler in einem Interview mit dem Branchendienst ›DWDL.de‹. Produzent ist Marc Conrad, der früher mal Programmdirektor und auch Geschäftsführer von RTL war. Geplant ist außerdem die Krimi-Miniserie ›Neandertaler‹, die 2016 ins Programm soll.

12 FAZ vom 22.04.2015, S. 12. 13 Ebd., S. 13.

W ERTURTEILE IM HEUTIGEN F EUILLETON

I 291

RTL II produzierte zuletzt 1996 und 1997 als Fiction-Eigenproduktion die Vorabendserie ›Alle zusammen – Jeder für sich‹. Danach verlegte sich der Sender hauptsächlich auf Soaps wie ›Die Geissens‹ und sogenannte Scripted Reality, also nach Drehbuch realisiert. Das werde sich auch nicht ändern, aber mit eigener Fiction und auch Musik (die Castingshow ›Popstars‹ wird neu aufgelegt) sowie Reportagen wolle man das Senderspektrum erweitern, so der Sprecher.«14

In der FAZ heißt es unter der Überschrift: »Ein wenig schwanger. RTL II will eigene Serien produzieren«: »Der Münchner Privatsender RTL II investiert in eigene fiktionale Produktionen. Aushängeschild ist die nach einem aus den Niederlanden stammenden Vorbild gestaltete Krimiserie ›Godless‹ mit Jule Ronstedt und Matthias Koeberlin in den Hauptrollen. RTL II hatte zuletzt Mitte der neunziger Jahre auf eigene Produktionen gesetzt, seither verlegte sich der Sender auf angekaufte Programme, auf sogenannte ›Scripted Reality‹ und boulevardeske Stücke wie die ›Die Geissens‹. Davon wird RTL II auch künftig nicht lassen: Daniela Katzenberger, die bislang bei Vox auftrumpfte, wird bei RTL II in einer achtteiligen Doku-Soap während ihrer Schwangerschaft ›begleitet‹.«15

Der Verweis auf den RTL-II-Sprecher wird durch die FAZ-Redaktion getilgt, aus seinem Hinweis darauf, was sich nicht ändern werde, wird so ein Satz, der als Feststellung des Journalisten zu lesen ist: »Davon wird RTL II auch künftig nicht lassen«. Hier handelt es sich nicht um eine klare Bewertung – ›es ist schlecht, dass RTL II weiterhin so verfährt‹ –, aber um einen deutlichen Anklang, dass es besser wäre, dies würde nicht geschehen; die darauf bezogene ironische Überschrift »Ein wenig schwanger« macht diese Konnotation noch deutlicher; ausgeschlossen, dass diese beiden Formulierungen in einem dpa-Bericht außerhalb eines Zitats stehen könnten. Klammert man den Abdruck der Rundfunkprogramme aus, gibt es demnach im »Feuilleton« der FAZ zwei kurze, in der SZ einen sehr kurzen und in der Zeit keinen Beitrag, der die gängigen Anforderungen an ›Meldung‹ und ›Bericht‹ erfüllt. ›Gängig‹ soll hier, wie gesagt, heißen: gemäß den Bestimmungen der weitaus meisten Redaktionsstatuten und Journalismus-Ratgeber.

14 Siehe http://www.focus.de/kultur/kino_tv/medien-mehr-eigenproduktionen-bei-rtl-ii_ id_4627767.html vom 21.04.2015. 15 FAZ vom 22.04.2015, S. 13.

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T ATSACHEN - UND W ERTFRAGEN Nicht gängig sind die Anschauungen, zwischen Beschreibungen und Bewertungen nicht nur trennen zu können, sondern in bestimmten Textsorten auch zu müssen, hingegen in vielen philosophischen und kulturwissenschaftlichen Ausführungen (von Vertretern des Idealismus, des Konstruktivismus, des Poststrukturalismus etc.). Unterstützung gewinnt diese Trennung vor allem noch innerhalb des logischen Positivismus. Alfred J. Ayer etwa separierte in der Nachfolge Rudolf Carnaps16 strikt »Tatsachenfragen« von »Wertfragen«. Aussagen über Tatsachen könne man durch empirische Beobachtungen verifizieren oder falsifizieren, Aussagen über ethische oder ästhetische Werte nicht. Letztere gäben lediglich Aufschluss über die »körperliche und geistige Verfassung« des Aussagenden; es sei darum nicht möglich, ästhetischen oder ethischen Urteilen »objektive Gültigkeit beizumessen«. Wahr oder falsch kann nach Ayers Vorgabe zum Beispiel nur die Aussage sein, ein bestimmtes Gedicht sei ein Sonett oder weise Paarreime auf, nicht aber die Aussage, es handle sich um ein großartiges oder scheußliches Gedicht: »Solche ästhetische Wörter wie ›schön‹ und ›häßlich‹ werden – wie ethische Wörter – nicht zur Aussage von Tatsachen verwendet, sondern nur, um gewisse Empfindungen auszudrücken und ein gewisses Verständnis hervorzurufen.«17 Selbst innerhalb der analytischen Philosophie ist diese strenge Trennung aber umstritten. Ein pragmatistischer Ansatz wie der Hilary Putnams sieht vielmehr ein »entanglement of facts and values« gegeben. Putnam stellt zwar fest, es sei ein »perfectly obvious fact that language can represent something that is itself outside of language«18, für ihn folgt daraus aber nicht, dass Werturteile nur den Zustand der Urteilenden repräsentierten und ihnen darüber hinaus nicht ›Richtigkeit‹ zukommen könnte.19 Auch könne man beim Gebrauch von Worten nicht immer zwischen ihrem Einsatz für einen »normative purpose« und als »descriptive term« unterscheiden. Putnam stellt folgenden Gebrauch des Wortes »cruel« als Beispiel für diese ›Verstrickung‹ von Beschreibung und Bewertung heraus:

16 Vgl. Carnap, Rudolf: »Abraham Kaplan on Value Judgements«, in: R. C., The Philosophy of Rudolf Carnap, hg. v. Paul Arthur Schilpp, La Salle/Chicago: Open Court 1963, S. 999-1013, hier S. 999. 17 Ayer, Alfred J.: Sprache, Wahrheit und Logik [Language, Truth and Logic, 1936], Stuttgart: Reclam 1970, S. 150f. 18 Putnam, Hilary: The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and other Essays, Cambridge (Mass.)/London: Harvard University Press 2002, S. 101. 19 Vgl. ebd., S. 137.

W ERTURTEILE IM HEUTIGEN F EUILLETON

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»If one asks me what sort of person my child’s teacher is, and I say, ›He is very cruel,‹ I have both criticized him as a teacher and criticized him as a man. I do not have to add, ›He is not a good teacher,‹ or, ›He is not a good man.‹ […] I cannot simply say, ›He is a very cruel person and a good man,‹ and be understood.«20

W ERTUNGEN IM »F EUILLETON « Für unsere Zwecke brauchen wir die Grundsatzfrage nach der vollkommenen oder nicht vollkommenen Trennung von »fact/value« nicht zu beantworten, für unsere Analyse reicht die Feststellung Putnams, dass es ungeachtet des prinzipiell nicht ausgeschlossenen »entanglement of facts and values« oft möglich ist, den Unterschied zu machen, hinreichend aus. Auch die Frage nach der möglichen ›Richtigkeit‹ der Werturteile kann ausgespart bleiben. Egal, wer nun Recht hat – Putnam oder Ayer –, die Analyse der »Feuilleton[s]« kann sich der Frage widmen, welche Werturteile dort zum Einsatz kommen. Hier fällt die Antwort leicht: Es sind nicht nur ästhetische Urteile, sondern auch (angesichts politischer wie persönlicher Fälle) moralische. Man weiß nicht immer zu sagen, was davon zutrifft. Etwa die Klage über den »fanatischen Willen der Bauherren zum radikal modernen Museum des Betonbrutalismus«21 – bringt sie ein ästhetisches Urteil zum Ausdruck oder (auch) ein moralisches (gerichtet gegen einzelne Personen oder ein politisches System)? Die Texte sagen es einem oftmals nicht genau. Offen bleibt zumeist auch, ob Wörter nur deskriptiv oder auch wertend gebraucht werden. Putnams Hinweis, dass »cruel teacher« keineswegs nur beschreibend, sondern ebenfalls verurteilend gemeint sei, bringt einen hier nicht weiter. Ist ›fanatisch‹ und ›radikal modern‹ tatsächlich zwingend Teil einer Klage? Futuristen und Brutalisten in der Architektur sehen das bekanntermaßen anders. Im speziellen Fall hilft dann der Blick über den Satz hinaus: Mit der Tradition sei »Schindluder« getrieben worden,22 heißt es kurz darauf, also ist dieser ›Fanatismus der Moderne‹ für den Autor tatsächlich ein negatives Moment. Wie an diesem Beispiel eindrücklich zu sehen, ist es auch und gerade bei Aussagen, die Kunstwerke betreffen, heutzutage – in Zeiten der Moderne und Postmoderne – nicht immer einfach, a) zu erkennen, ob es sich um deskriptive oder

20 Ebd., S. 34f. 21 FAZ vom 22.04.2015, S. 9. 22 Vgl. ebd.

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bewertende Aussagen handelt, und b) im Falle einer bewertenden Aussage zu erkennen, ob es sich um eine positive oder negative Einschätzung handelt. Dies gilt besonders für eine Leserschaft, die weiß, dass es nicht nur Anhängerinnen und Anhänger des Expressionismus, sondern auch des Realismus gibt, nicht nur Freunde der Erbauung, sondern auch des Ästhetizismus, nicht nur Liebhaberinnen der Einfühlung, sondern auch des Verfremdungseffekts, usf.23 Wenn Wörter wie ›groß‹, ›Qualität‹, ›Klassiker‹ fehlen – und tatsächlich stehen sie längst nicht in jedem »Feuilleton«-Artikel (und erst recht nicht in jeder Passage) klärend parat – , bleibt für sie immer mindestens ein Rest an Unsicherheit. Ein weiteres Beispiel dafür aus einer Buchrezension: »Dabei sind diese kleinen Geschichten […] keineswegs auf surrealistische Kombination von Beliebigem aus, sondern präzise komponiert und häufig pointiert im Sinne moderner morality tales – die Moral von Reisenden besteht ja in einer klugen Vermittlung von Prinzipien mit Umständen.«24

»Kleine Geschichten«, »präzise komponiert«, »surrealistische Kombination von Beliebigem« – sind das nun lediglich Beschreibungen oder auch Bewertungen? Und wenn es auch Bewertungen wären: Sind das ›Kleine‹, die ›Präzision‹ und die »surrealistische Kombination von Beliebigem« hier Ausdruck von Lob oder Tadel, von Begeisterung oder Langweile? Ist die ›Klugheit der Reisenden‹ auch eine gute Devise für eine Geschichte? Grundsätzlich kann man es nicht mehr wissen, wenn man weiß, dass es in der Geschichte der Kunsturteile Anhängerinnen und Anhänger sowohl des Kleinen wie auch des Großen, des Präzisen wie des Vagen, der surrealistischen Zufallskombination wie der bewussten Verbindung, der ›klugen Vermittlung‹ wie der anarchischen Auflösung gegeben hat. Man behilft sich also mit einigermaßen begründeten Vermutungen: Man ruft sich die gängige Konnotation von Begriffen vor Augen (in der Hoffnung, dass die Autorin oder der Autor dem Gängigen folgt), stellt die übliche Position der Zeitung oder der Rezensierenden in Rechnung (wenn man sie denn kennt und mit Konformismus oder behaupteter Identität rechnet). Man schließt aus eindeutig positiven oder negativen Wendungen, die vorher oder nachher in dem Artikel stehen, auf den Gehalt der einzelnen Stelle (baut demnach auf Konstanz). In gewisser Hinsicht können einem aber selbst die eindeutigen Wertungen (im zuletzt angeführten Artikel etwa »großer Erzähler«) Schwierigkeiten bereiten:

23 Dazu Najder, Zdzislaw: Values and Evaluations, Oxford: Clarendon Press 1975, S. 150f. 24 FAZ vom 22.04.2015, S. 10.

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Nachdem man auf solche klaren Urteile gestoßen ist, erwartet man vielleicht ständig Wertungen und klopft jedes Attribut auf seine Konnotationen ab. Für den routinierten Teilnehmer an der literarischen Welt ist dies natürlich kein Problem, der Vorgang läuft ›automatisch‹ ab; in einem kleinen Experiment, das ich mit Studierenden der Germanistik durchgeführt habe, also zumindest nicht völlig kenntnislosen Probanden, zeigte sich aber rasch, dass bei diesen keinerlei Sicherheit in der Aufschlüsselung von einzelnen Wendungen und Angaben mit Blick auf die in den Rezensionen vertretenen Meinungen bestand (dass ›Komplexität‹ in fast allen heutigen Rezensionen sehr positiv und ›Beliebigkeit‹ höchst negativ konnotiert ist, stand ihnen als Vorwissen zum Beispiel nicht zur Verfügung). Zu dieser Unsicherheit tragen zwei weitere wichtige Punkte bei: Die Rezensionen kommen ohne Angaben zu persönlichen Gemütszuständen und körperlichen Reaktionen und zumeist ohne Angabe eines Maßstabs oder einer Regel für die Einzelfallbeurteilungen aus.25 Als wollten sie Ayers Feststellung, ästhetische Urteile seien Empfindungsäußerungen, zumindest auf jener Ebene, die offen zutage liegt, umgehen, vermeiden sie Aussagen der Form ›Werk x hat mich an Stelle y gelangweilt, erregt, zum Lachen gebracht, geängstigt, von Ereignis z abgelenkt‹. Dies würde Ayer zwar nicht davon abbringen, die häufig anzutreffenden Aussagen der Form ›Werk x ist interessant, öde, brillant, großartig, mittelmäßig, eine gelungene Komödie, ein faszinierender Thriller‹ als ästhetische Urteile und damit als Angaben der Empfindungen und Gemütszustände der Rezensierenden angesichts bestimmter Werke einzustufen, deren diesbezügliche Zurückhaltung symbolisiert aber wenigstens (bzw. versucht den Eindruck zu erwecken), dass sie mehr als ihren persönlichen Eindruck vermitteln wollen. Andererseits geht dieser bei den Urteilsformulierungen anzutreffende Drang nach Objektivierung – dem Werk als ihm innewohnende Eigenschaft zuzuschreiben, was als Empfindung des Betrachtenden angegeben werden könnte (oder nach Auffassung Ayers müsste) – nicht so weit, dass für das Urteil über das einzelne Werk auch eine feste Beurteilungsgröße angegeben würde. Es gibt in den untersuchten »Feuilleton[s]« nur eine Ausnahme davon; in einer Rezension zu einer Tanzaufführung heißt es kategorisch: »Aber das politische Engagement kommt der Qualität in die Quere: Wie immer, wenn Kunst eine Botschaft transportieren soll, geht sie unter der Last in die Knie.«26 Damit ist klar: Nicht nur diese spezielle Aufführung, sondern jedes politisiert-didaktische Kunstwerk ist ein schlechtes

25 Grundsätzlich dazu Heydebrand, Renate von/Winko, Simone: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation, Paderborn u.a.: UTB 1996, S. 43. 26 FAZ vom 22.04.2015, S. 12.

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Kunstwerk – gemäß der (nach Auffassung des Artikels) geltenden Regel für ästhetische Werthaltigkeit, dass politische Botschaften die Qualität der Kunst beträchtlich schmälern. Die anderen Rezensionen gehen diesen Schritt nicht. Bei vielen von ihnen könnte man zwar wegen der Vehemenz und Sicherheit der vorgetragenen Einschätzungen den Eindruck gewinnen, die von den Urteilen ableitbaren Maßstäbe gelungener Kunst gälten immer; die Rezensionen selbst bleiben aber auf das individuelle, konkrete Werk bezogen, deshalb gelten die Einschätzungen aus Sicht der Rezensierenden nur mit Blick auf dieses Werk. Sicher, man könnte jederzeit ableiten, dass Rezensionen, in denen zum Beispiel die realistische Genauigkeit eines bestimmten Werks gelobt wird, grundsätzlich realistische Genauigkeit als unverzichtbare Eigenschaft großer Kunst postulieren. Dies wäre aber eine bloße Spekulation, die nicht einmal dann Beweiskraft besäße, wenn in allen Kritiken einer Autorin oder eines Autors bei je besonderen Werken das Vorkommen realistischer Genauigkeit gelobt und ihr Fehlen getadelt würde. In den Rezensionen selber wird nämlich, wie gesagt, keine Regel des Schönen oder gelungener Kunst aufgestellt. Dem Eindruck, über eine Poetik und mit ihr verbundene strikte Regeln zur Bewertung von Kunstwerken zu verfügen, zerstreut das »Feuilleton« insgesamt dadurch, dass bei der Kritik von Kunstwerken offenkundig nicht ein Maßstab angelegt wird, vor dem sich konsequent jeder Roman, jeder Film, jede Aufführung bewähren muss. Häufig wird immerhin betont, dass die Betrachtung und Bewertung der Form wichtig sei. Dies ist freilich bloß eine Selbstverständlichkeit, denn wenn nur Themen und Inhalte Gegenstand des Kunsturteils wären, wäre es gleichgültig, ob man Kunst oder Nicht-Kunst bewertete. Sinn gewönne der Hinweis auf die Bedeutung der Form lediglich, wenn man betonte, dass für das Urteil über ein Kunstwerk nur die Form, nicht der Inhalt berücksichtigt worden sei (und als Regel gefasst: werden dürfe).

»F EUILLETON «

UND

P OLITIK

Wie bereits angedeutet, stößt man im »Feuilleton« keineswegs nur auf Kunstkritiken. Zwar kann man dort keine ›Gedichte‹, ›Witze‹, ›Rätsel‹, ›Feuilletonromane‹, ›Kurzgeschichten‹, ›Aphorismen‹ lesen, wohl aber Beiträge zu politischen Themen.27 Diese Beiträge unterscheiden sich nicht von denen des »Politik«-Teils,

27 Zur Zunahme der Artikel zu politischen Themen seit den 1960er Jahren vgl. Steinfeld, Thomas (Hg.), Was vom Tage bleibt. Das Feuilleton und die Zukunft der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland, Frankfurt a.M.: Fischer 2004; Reus, Gunter/Harden,

W ERTURTEILE IM HEUTIGEN F EUILLETON

I 297

etwa weil sie inaktuell oder zumindest weniger aktuell wären.28 In vielen Fällen unterscheiden sie sich nicht einmal hinsichtlich der Facetten eines Themas. Manchmal gibt es nicht einmal bei der Textsorte einen Unterschied, denn kürzere und mittellange Kommentare gibt es auch im »Politik«-Teil, auch Essays (oder wie immer man längere Kommentare nennen möchte). Bei der Zeit fällt der Unterschied bei der Behandlung derselben Themen am geringsten aus. Die Zeit nutzt ihre relative Distanz zur hochaktuellen Berichterstattung der Tageszeitungen weniger dazu, bei politischen Themen der vorangegangenen Woche eine umfassende Hintergrundberichterstattung anzubieten, sondern versieht in erster Linie die bekannten Meldungen mit Einschätzungen der Journalistinnen und Journalisten, der Interviewten oder von Gastautorinnen und -autoren. Überwiegend sind es sogar die Journalistinnen und Journalisten selbst, die Ereignisse bewerten, über Motive spekulieren und über tiefliegende Gründe philosophieren, Meinungen abwägen, Akteure gewichten, Prognosen anstellen und Forderungen formulieren. Dies geschieht in unterschiedlichem Maße – ausgerechnet in Artikeln, die sich der Reportageform annähern, wird von den dem Genre gemeinhin zugestandenen Möglichkeiten, die Reporter-›Subjektivität‹ ins Spiel zu bringen, wenig Gebrauch gemacht –, mindestens eine der genannten Kommentarhandlungen wird jedoch in allen Artikeln vollzogen. In der Zeit kann es also überhaupt nicht auffallen, dass im »Feuilleton« keine Berichte stehen, weil es im ersten Buch gar keine und in der kompletten Ausgabe fast keine gibt. Folgerichtig ist es teilweise wohl eher dem Zufall geschuldet, in welchem Teil der Zeitung die Artikel erscheinen, wenigstens ist das in der hier analysierten Ausgabe vom 21. Juli 2016 so. Nicht im »Feuilleton«, sondern im »Politik«-Teil führt jemand aus, dass die »Literatur« (Musil, Zweig, Mann, Gracq) »uns viel über die heutige Übergangsperiode lehren«29 könne; ein Beitrag eines »Feuilleton«-Redakteurs zum Zustand der Demokratie in der Türkei30 hätte genauso wie ein Artikel Lars: »Politische ›Kultur‹. Eine Längsschnittanalyse des Zeitungsfeuilletons von 1983 bis 2003«, in: Publizistik 50/2 (2005), S. 153-172, hier S. 162. Geht man bloß von unseren drei Ausgaben aus, scheint eine Änderung seit 2003 nicht eingetreten zu sein. Das müsste aber natürlich auf größerer Materialbasis untersucht werden. 28 Selbst die einzige Ausnahme von dieser Regel, Durs Grünbeins persönliche Erinnerungen an eine Briefmarke mit dem Porträt Hitlers, wird zumindest am Ende kurz von Überlegungen zu heutigen Hitler-Darstellungen motiviert; offenbar reichte das der Redaktion aber noch nicht, sie schrieb unter die Überschrift: »Was sich aus der bunten NS-Briefmarkensammlung eines zukünftigen Schriftstellers lernen lässt«. Vgl. Die Zeit vom 21.07.2016, S. 46. 29 Die Zeit vom 21.07.2016, S. 3. 30 Vgl. ebd., S. 44.

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über einen türkischen Journalisten31 im »Politik«-Teil erscheinen können, umgekehrt die Reflexionen eines Politikwissenschaftlers über den heutigen Terrorismus32 aus dem »Politik«-Teil im »Feuilleton«. Ähnlich in einer Ausgabe der SZ aus derselben Woche (20. Juli). In ihr findet man zwar (anders als in der Zeit) im ersten Buch viele Berichte und Hintergrundberichte, die »Feuilleton«-Artikel zu politischen Themen (Lage in der Türkei nach dem Putsch; Stimmungslage in Frankreich) hätten aber gleichfalls im vorderen Teil der Zeitung abgedruckt werden können. Weder gibt es einen kulturpolitischen oder philosophisch-theoretischen Schwerpunkt, noch kann von einem besonderen ›Feuilletonismus‹-Ton oder -Duktus die Rede sein. Auch weichen die dort vertretenen Meinungen von denen der Politik-Redaktion nicht ab. Die FAZ weist im untersuchten »Feuilleton« (Ausgabe vom 22. April 2015) ebenfalls einen Beitrag aus, der sich – ebenso wie einige Beiträge des ersten Buchs – einem aktuellen Ereignis widmet: den Versuchen von Flüchtlingen, das Mittelmeer von Nordafrika aus zu überqueren. Da es hier bei den themengleichen Artikeln zu etwas größeren Unterschieden kommt, sollen sie im Folgenden genauer untersucht werden. Auf der Titelseite geht es in einem Bericht um eine »Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer« (»vermutlich mehr als 800 Tote« nach Kentern eines »Flüchtlingsboot[s]«33). Man erkennt an solchen Berichten rasch, dass die geläufige Auskunft (oder Hoffnung), diese Textsorte zeichne sich durch die kommentarlose Wiedergabe von Tatsachen aus, um den Satz ergänzt werden sollte, diese Tatsachenwiedergabe betreffe häufig Aussagen Dritter: Berichtet wird hier lediglich, was Behörden, Politikerinnen und Politiker, Zeuginnen und Zeugen gesagt haben. Die journalistische Aufgabe besteht hier nur in der Zusammenfassung und Auswahl anderer Texte oder mündlicher Aussagen; um (richtige oder falsche) Angaben, bei einem Ereignis (das keine Pressekonferenz war) dieses oder jenes gesehen und gehört zu haben, geht es in diesem Fall gar nicht. Da man mit Worten sehr gut Worte wiedergeben kann (im Falle des Zitats bekanntermaßen sogar auf perfekte Art und Weise, wenn die Sätze durch Pressestellen der Gerichte, Exekutivorgane, Unternehmen schriftlich fixiert wurden), können alle Ansprüche auf Wahrheit und Objektivität (wenn auch nicht auf Ausgewogenheit) leicht erfüllt werden. Es bleibt dann natürlich noch die Frage, ob die wiedergegebenen Aussagen der Pressesprecherinnen und Pressesprecher etc. wahr sind. Die Hintergrundberichte der FAZ zum Schiffsunglück können diese Frage auch nicht beantworten. Sie liefern stattdessen viele weitere Informationen, bei

31 Vgl. ebd., S. 54. 32 Vgl. ebd., S. 8. 33 FAZ vom 22.04.2015, S. 1.

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denen deutlich gemacht wird, dass sie mindestens teilweise auf eigene Zeugenschaft und eigene Recherche der Journalistinnen und Journalisten zurückgehen. Dieser erhöhte Grad der Eigenständigkeit zeigt sich auch an der (freilich sehr seltenen) Verwendung stark konnotierter Ausdrücke (»prahlt«, »eingebleut«, »Hardliner«34), an Einschätzungen mit höherem Abstraktionsgrad, die nicht auf den Wahrnehmungen der Sinnesorgane beruhen (»Erfolgsaussichten […] sind […] unklar«35), sowie an gelegentlichen Spekulationen, die vonseiten der Journalistinnen und Journalisten selbst kommen (»weil der Flüchtlingsstrom mit dem besseren Wetter erst so richtig loszugehen scheint«36). Auf Bewertungen wird in all diesen Hintergrundberichten verzichtet, die Journalistinnen und Journalisten vermerken nicht, etwas sei gut, schlecht, wünschenswert oder bedrohlich. Dies bleibt einem Kommentar auf der Titelseite vorbehalten. Er vertritt (scheinbar resignierend) einen Ansatz, von dem es heißt, dass er vom »Sturm der Entrüstung« derjenigen »zerzaust« werde, die von einer »Festung Europa« redeten. Gegen die heutige »Tornado-Politik« (angesichts der Tatsache, dass der Kommentar ein Schiffsunglück zum Anlass hat, bemerkenswert unsensible Metaphern) kurzfristiger, von »Moralpredigten« ausgelöster Maßnahmen gerichtet, schlägt der Autor dennoch vor, die seiner Ansicht nach wahren Ursachen der Katastrophe anzugehen. »Verursacher dieses Elends« seien »unfähige Regierungen, korrupte Staatenlenker, kriegslüsterne Eliten und skrupellose Geschäftemacher Afrikas und des Nahen Ostens, nicht Europas«. Dies müsse sich ändern (wie das geschehen soll, bleibt unerörtert), damit »Migranten und Flüchtlinge« nicht »illegal nach Europa kommen wollen« und so »mit ihrem Leben spielen«37. Auf der ersten »Feuilleton«-Seite derselben Ausgabe heißt es hingegen: »Die Hauptursache für den aktuellen Anstieg der Flüchtlingszahlen ist der Zerfall der staatlichen Ordnung in Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Europa hat diesen Zerfall nicht etwa aufgehalten, sondern selbst befördert, indem es über Jahrzehnte und noch inmitten der arabischen Aufstände skrupellose Tyrannen massiv unterstützte.«

Es gebe folglich eine »deutsche und europäische Mitverantwortung« für das »Massensterben im Mittelmeer«38. Wenn sie auch im Punkte der ›Mitverursachung‹ nicht zu demselben Ergebnis kommen, gehen beide Artikel trotz der unterschiedlichen Publikationsressorts also auf dieselbe Weise vor: Sie stellen nicht 34 Ebd., S. 5. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 4. 37 Ebd., S. 1. 38 Ebd., S. 9.

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unmittelbar wirksame Gründe für konkrete Geschehnisse fest. Wer hat nun Recht? Wegen der weiten Spanne zwischen behaupteter Ursache und beschriebener Wirkung ist das nicht mit Sicherheit zu sagen. Berichte vermeiden darum üblicherweise solche Angaben, sie halten sich an leichter überprüfbare Ursache-WirkungVerkettungen (›Fischkutter rammt Frachter und kentert deshalb, darum ertrinken rund 800 Flüchtlinge‹). Kommentare benutzen sie hingegen, um eine Wertung zu verdeutlichen oder zu umgehen: Beide Texte verzichten auf die Aussage, dass es gut und geboten sei, Diktatoren zu stürzen, angesichts der angeführten Wirkung solcher Diktaturen (Flüchtlingstote im Mittelmeer) versteht sich das für sie offenkundig von selbst und erübrigt eine explizit formulierte Wertung. Unterschiede zwischen beiden Texten gibt es gleichwohl. Beim »Feuilleton«Beitrag handelt es sich nicht um den Text eines Journalisten; unter dem Beitrag ist vermerkt: »Der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani lebt in Köln. Zuletzt erschien von ihm ›Zwischen Koran und Kafka – Westöstliche Erkundungen‹.«39 Der Beitrag des ›Laien‹ Kermani steht zweifellos in der Tradition intellektueller Zeitungsartikel. Getragen vom Renommee als Literat oder Wissenschaftler, nimmt der Intellektuelle seine öffentliche Rolle unter anderem dadurch wahr, dass er sich zu politischen Fragen äußert. Darin unterscheidet er sich nicht von allen anderen Bürgerinnen und Bürgern, im Unterschied zu diesen finden Intellektuelle jedoch leichter Zugang zu bestimmten Massenmedien. Eine Tendenz der letzten Jahre ist, dass diejenigen Intellektuellen, die besonders häufig in Tagesund Wochenzeitungen ihre politischen Ansichten und Ratschläge verkünden dürfen, keine ausgewiesenen Experten außerhalb dieser publizistischen Tätigkeit sind. Ob Sloterdijk, Precht oder eben Kermani, literarische Werke oder wissenschaftliche Fachpublikationen, die unter ihresgleichen einen hohen Rang besäßen, haben sie nicht verfasst, stattdessen gründet sich ihre Bekanntheit auf ihren essayistischen Betrachtungen zu ›Gott und der Welt‹ (bzw. zu ›westöstlichen‹ Themen oder »Koran und Kafka«). Ihr Vorrecht, zumindest ihr Sonderstatus innerhalb der Zeitung zeigt sich am Artikel Kermanis vor allem daran, dass er als einziger Autor aus allen untersuchten Ausgaben (abgesehen von Verfasserinnen und Verfassern der Leserbriefe und von interviewten Personen) »ich« sagen darf. Dadurch wird nicht nur deutlich gemacht, dass es eine konkrete Person ist, die Werturteile formuliert, sondern indirekt auch, dass viele Fakten, über die man in Zeitungen informiert wird, nicht auf maschinellen Messverfahren beruhen, sondern auf den Wahrnehmungen von Menschen. In den Redaktionen der Tageszeitungen mag man das als Banalität betrachten, weshalb man auf den Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person Singular strikt verzichtet, unter der Hand

39 Ebd.

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entsteht so zwangsläufig aber teilweise der Eindruck des Ungreifbaren und Indiskutablen: Beobachtungen haben kein Subjekt, Werturteile ergehen ohne Angabe von Bedürfnissen und Stimmungen, die der Gebrauch eines ›ich‹ zumindest nahelegen würde. Im »Feuilleton« tritt immerhin als Mittlerfigur mitunter ›der Leser‹,40 ›der Betrachter‹41 oder ein »man«42 mit seinen Bedürfnissen, Einschätzungen und Rezeptionsweisen auf; da diese Angaben aber (mit einer Ausnahme43) nicht auf empirische Erhebungen zurückgehen, handelt es sich de facto bloß um den Versuch, Spekulationen (im seltenen Fall auch markiert: »vermutlich werden sich viele Besucher der Ausstellung wundern«44) und Projektionen der jeweiligen Autorinnen und Autoren den Anschein von Gültigkeit oder gar eine anthropologische Dimension (»uns menschlichen Betrachtern«45) zu geben. Wiederum verschwindet das ›ich‹ – statt über die Wirkungen des Artefakts auf sich selbst zu berichten, zieht die jeweilige Autorin oder der jeweilige Autor diese ins ImaginärAllgemeine. Bei Kermani nun bekommen die Einschätzungen und ihre Gründe eine grammatisch unmissverständlich persönliche Note (»inzwischen glaube ich, dass die Politiker nicht mehr recht haben und eine Mehrheit der Bevölkerung durchaus bereit wäre, auf etwas Wohlstand zu verzichten«46). Auch beruft er sich nicht nur auf Wissen aus Zeitungsberichten, gleich zu Beginn legt er Wert auf die Feststellung, Dinge selbst gesehen zu haben. Das mache einen großen Unterschied aus, denn Angaben zu Totenzahlen blieben abstrakt, hoch einprägsam aber sei die eigene Anschauung des Grauens: »[J]etzt sah ich das Blut an den Grenzen Europas, das bis heute immer weiter tropfende Blut.« Die eigene Wahrnehmung tritt somit aber gleich wieder zurück, denn dass Blut »bis heute« tropft, sieht er ja nicht mehr selbst, sein Aufenthalt in der spanischen Enklave Ceuta mit ihrem gefährlichen Grenzzaun datiert auf den Herbst 2005, wie Kermani zu Beginn des Artikels angibt. Darum überrascht es auch nicht, dass Kermani es keineswegs bei einer impressionistischen Anekdote belässt (im Sinne des ›Anfeaturens‹), sondern die Augenzeugenschaft gebraucht, um darauf sein eigenes Werturteil zu gründen: Es sei richtig, die Flüchtlinge aufzunehmen, handele es sich bei den Flüchtlingssperren doch um »eines der großen Verbrechen unserer Zeit«. Dies gilt nicht nur für die »Toten im Mittelmeer«, mit denen er an dieser Stelle die Schuld der EU belegen 40 Vgl. SZ vom 20.07.2016, S. 14; Die Zeit vom 21.07.2016, S. 48. 41 Vgl. FAZ vom 22.04.2015, S. 10. 42 SZ vom 20.07.2016, S. 13. 43 Vgl. ebd., S. 14. 44 Die Zeit vom 21.07.2016, S. 49. 45 Ebd., S. 51. 46 FAZ vom 22.04.2015, S. 9.

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möchte, sondern auch für Grenzeinrichtungen wie die Zäune Ceutas, wie aus einem anderen Passus im mittleren Teil des Artikels hervorgeht: »Solange die Tore Europas nicht wenigstens für Verfolgte offenstehen […], wird das Blut weiter tropfen.«47 Der sinnliche Eindruck wird benutzt, um den eigenen Werturteilen Gewicht und zwingenden Charakter zu verleihen: Blut und Tod belegen für Kermani das »Verbrechen« (im nicht juristischen Sinne), aus dem Faktum des blutigen, tödlichen »Verbrechen[s]« folgt unabweislich, wie gut es wäre, Flüchtlingen zu ermöglichen, die Grenzen lebend zu passieren; geboten ist demnach die Aufhebung der Grenzbefestigungen. Paradox mutet das an, weil diese unabweisliche Folgerichtigkeit offenkundig nicht besteht – man sieht es bereits in derselben Ausgabe am Kommentar auf Seite 1, der zu einer anderen Bewertung kommt, obwohl dem Journalisten die Lage nicht schlechter bekannt ist als Kermani. Schließlich gibt es nicht nur auf der Titelseite in einem Bericht ein weiteres Beispiel für die tödlichen Konsequenzen der nicht legalen Einreiseversuche (eine »Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer mit vermutlich mehr als 800 Toten«), sondern dient der Kommentar genau dazu, dieses Geschehen einzuordnen und als Ausgangspunkt für politisch-moralische Werturteile zu nutzen. Der Unterschied zwischen dem Kommentar auf Seite 1 und dem Beitrag im »Feuilleton« besteht also nur darin, dass sie zu unterschiedlichen Angaben von Ursachen und zu unterschiedlichen Urteilen über die aus ihrer Sicht gebotenen politisch-moralischen Handlungen gelangen – und darin, dass der »Feuilleton«-Autor nicht nur ›ich‹ sagen darf, sondern sich auch auf die eigene sinnliche Wahrnehmung eines mit dem Thema verbundenen Ereignisses beruft.

S CHLUSS In der Philosophie und in Grundlagenreflexionen der Geistes- und Kulturwissenschaften zählt es zu den häufig unternommenen Versuchen, den Status von ›Wirklichkeitserkenntnis‹ und ›wahren Aussagen‹ herauszufordern. Dies geschieht nicht nur, um eine Methode zu etablieren, mit der solche Erkenntnisse und Aussagen zuverlässig hervorgebracht werden können, sondern oftmals auch, um zu verneinen, dass dies gelingen könne. Zahlreiche Strömungen – Idealismus, Pragmatismus, Systemtheorie, Konstruktivismus, Poststrukturalismus etc. – stehen für diesen Zweifel und sogar oft für eine Verabschiedung der Möglichkeit ein, zur

47 Ebd.

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richtigen Erkenntnis der Wirklichkeit, zu wahren Aussagen über die Welt und zu richtigen Tatsachenfeststellungen zu gelangen. Auch die wissenschaftliche Untersuchung des Journalismus ist davon nicht ausgenommen. In einem Sammelband mit »Grundlagentexte[n] zur Journalistik« heißt es entschieden: »Unter dem Einfluss des (radikalen) Konstruktivismus hat sich die Journalismusforschung von dem Gedanken verabschiedet, Journalismus bilde Realität ab, spiegele die Welt, so wie sie ist, wider«. Was bleibt dann? Nach Auffassung der Autorinnen sehr viel: »Journalismus bietet vielmehr Interpretationen des gesellschaftlichen Geschehens.«48 Dies steht in starkem Kontrast zu den üblichen Ratgebern für Journalistinnen und Journalisten (die zum Teil auch in Wissenschaftsverlagen erscheinen), in denen dem Journalisten aufgegeben wird, mit Meldung (bzw. Nachricht) und Bericht eine unterschiedliche Anzahl an ›W-Fragen‹ zu beantworten.49 Fragen nach dem ›Was‹, ›Wie‹ und ›Warum‹ lassen sich offenkundig ohne Kenntnis des Sachverhalts und seiner Bedingungen nicht beantworten. Wird verneint, dass es etwas anderes als »Interpretationen« geben könne, verlieren die Fragen zwar nicht völlig an Bedeutung, ihre Beantwortung gewinnt aber einen vollkommen anderen Status: Wenn es nur »Interpretationen« gibt, dann wird niemand mehr für seine Antwort in Anspruch nehmen können, nur sie gebe das Ereignis richtig wieder, allein sie sei wahr. Zudem fällt mit den »Interpretationen« auch die Möglichkeit der Unterscheidung von ›Bericht‹ und ›Kommentar‹. In dem »Grundlagentext« ist merkwürdigerweise dann doch von »Fakten« die Rede, es heißt aber sofort weiter: »Fakten sind immer kontextuell eingebunden, als singuläre Informationen sind sie sinnlos. Sie sind Teil bestimmter Diskurse, kultureller Erklärungsmuster oder gesellschaftlicher Debatten«50. Für Debatten sind nach traditioneller und weiterhin gängiger

48 Klaus, Elisabeth/Lünenburg, Margret: »Journalismus: Fakten, die unterhalten – Fiktionen, die Wirklichkeiten schaffen. Anforderungen an eine Journalistik, die dem Wandel des Journalismus Rechnung trägt«, in: Irene Neverla/Elke Grittmann/Monika Peter (Hg.), Grundlagentexte zur Journalistik, Konstanz: UVK 2002, S. 100-113, hier S. 104. 49 Vgl. V. Wolff: ABC des Zeitungs- und Zeitschriftenjournalismus, S. 75. 50 E. Klaus/M. Lünenburg: Journalismus: Fakten, die unterhalten – Fiktionen, die Wirklichkeiten schaffen, S. 102. Dieses Postulat von Klaus und Lünenburg ist bereits publizistische Wirklichkeit (gewesen), folgt man der Angabe von Almut Todorow aus dem Jahr 2000: »In der heutigen Zeitung« sehe man, »daß die Trennung von Nachricht und Feuilleton an vielen Stellen nicht mehr die alte Arbeitsteilung vollzieht […]. Diskursorientierte an Stelle herkömmlich ereignisbezogener Texteinheiten […] breiten sich über die verschiedenen Ressorts hinweg aus. […] Die additive Reihung ausgekargter

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redaktioneller Lesart jedoch die Kommentarspalten zuständig. In Berichten kann nach dieser Auffassung zwar über Debatten informiert werden, in ihnen ist aber kein Platz für eine eigenständige Position zu diesen Debatten, das bleibt dem Kommentar und Leitartikel vorbehalten. Wie immer man nun zur Frage steht, ob Aussagen (wenn sie wahr sind) die Wirklichkeit erfassen oder ob es sich stets um »Interpretationen« handelt, die an die Wirklichkeit außerhalb menschlicher Sprachkonventionen und »Diskurse« nicht herankommen, lassen sich die konstruktivistischen Positionen zumindest für die Analyse der Feuilletons nutzen: Im »Feuilleton« (wenigstens in den drei Ausgaben, die in diesem Aufsatz untersucht wurden) gilt die konstruktivistische Grundannahme insofern, als in all seinen Artikeln (zwei kurze Berichte ausgenommen) »Debatten« geführt werden oder versucht wird, sie zu eröffnen. Dies geschieht unter anderem durch die Aufstellung von Werturteilen. Damit ist zwar nicht notwendigerweise gesagt, dass die Autorinnen und Autoren meinen, ihre übrigen Aussagen (zum Inhalt eines Romans, zur politischen Lage in der Türkei, zum Frankfurter Dom-Römer-Quartier usf.) reichten – wie alle anderen auch – nicht an die Wirklichkeit heran. Deutlich gemacht wird so aber, dass es für die »Feuilleton«-Autoren und -Redaktionen nicht entscheidend ist, nur »Fakten« zu benennen, sondern dass es für sie darauf ankommt, diese als Teil von »Debatten« zu betrachten. Wie stark diese Auffassung ist, erkennt man daran, dass im »Feuilleton« für Werturteile keine speziellen Artikel reserviert sind, um durch diese Trennung zu symbolisieren, dass in den anderen Bereichen strenge Faktizität und Wirklichkeitswiedergabe walte. Wie gesehen, ist die Aufhebung der (wenigstens angestrebten teilweisen) Trennung von deskriptiven und präskriptiven Aussagen jedoch kein Privileg des »Feuilleton[s]«. In der Wochenzeitung Die Zeit beherrscht diese Vorgehensweise alle Teile des Blattes, es gibt an keiner Stelle ein Gebot für die Journalistinnen und Journalisten, Werturteile allein in den Textsorten ›Kommentar‹, ›Glosse‹, ›Rezension‹ und ›Reportage‹ anzubringen. Wenn es wie in dieser Ausgabe der Zeit nicht einmal ableitbare Ausschlussprinzipien bei Grammatik, Stil und Rhetorik gibt (wie es der Fall wäre, wenn nur im »Feuilleton« das Pronomen ›ich‹ und Metaphern zum Einsatz kämen, usf.) und im »Feuilleton« über viele verschiedene Themen, nicht nur solche der Kunst, geschrieben wird, müssen sich Nachrichten, die noch um die Jahrhundertwende [1900] das Bild der Zeitung bestimmte, ist heute fast ganz verschwunden.« Todorow, Almut: »Das Feuilleton im medialen Wandel der Tageszeitung im 20. Jahrhundert. Konzeptionelle und methodische Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Feuilletonforschung«, in: Kai Kauffmann/Erhard Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin: Weidler 2000, S. 25-39, hier S. 30.

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Angaben zu Unterschieden zwischen den unterschiedlich benannten Teilen der Zeitung auf graduelle Differenzen beschränken. Sollte sich diese Richtlinie auch bei Tageszeitungen durchsetzen, wären alle Zeitungen von der ersten bis zur letzten Seite mehr oder minder ein ›Feuilleton‹.

Intellektuelle und das Debattenfeuilleton – Szenen einer Liaison A NDREAS Z IEMANN

1. E INE V ORGESCHICHTE

INTELLEKTUELLER

P RAXIS

Im Jahre 1915 erinnert Heinrich Mann enthusiastisch an die Intellektuellenleistung Émile Zolas: an dessen nimmermüden Kampf für Alfred Dreyfus und seinen unbedingten Einsatz für wahre, sittliche Demokratie und gegen jede willkürliche Staatsgewalt. Aus der Diskreditierung von Zola und all jenen, die ihn unterstützten, erwuchs von rechtskonservativer Seite die Semantik des Intellektuellen, die dann in eine positive Selbstbeschreibung gewendet wurde. Der engagierte Intellektuelle, der damals aus dem Geist der Anklage – berühmte »Jʼaccuse!« – geboren wird, redet und schreibt nicht nur, sondern kämpft ums Recht und für Gerechtigkeit und stachelt mit Leidenschaft zur politischen Tat und mithin zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse an. Er geht so weit, dass er für die Wahrheit und eine bessere Gesellschaft seine eigene Verfolgung und Erniedrigung in Kauf nimmt. Sein (Kampfes-)Wille ist aufs Allgemeine, aufs historisch Große ausgerichtet – deswegen geht es auch nicht ohne Kampf –, und er ist bestrebt, »Vernunft und Menschlichkeit auf den Thron der Welt zu setzen«1. Das Gegenmodell, so Heinrich Mann, seien Schönschreiber, Oberflächenbeobachter und verlogene Patrioten. Mit entsprechendem Pathos schreibt er deshalb: »Intellektuelle sind weder Liebhaber noch Handwerker des Geistes. Man wird es nicht, indem man gewisse Berufe inne hat […] – und am wenigsten sind die Tiefschwätzer gemeint, die gedankliche Stützen liefern für den Ungeist.«2 1

Mann, Heinrich: »Zola«, in: Die weißen Blätter 2 (1915), Heft 11, S. 1312-1382, hier

2

Ebd.

S. 1356.

308 I ANDREAS Z IEMANN

Intellektuelle dieser Couleur vermeiden – im Gegensatz zu (später) so genannten Rechtsintellektuellen – jede ideologische Befürwortung des Nationalismus, die Unterstützung der Bourgeoisie oder eine unbedarfte Legitimation bestehender Staatsstrukturen. Den seriösen und willensstarken Intellektuellen geht es auch nie um journalistische Meinungsmache oder um ein Schreiben als Ästhetik oder reinen Selbstzweck.3 Nein, an Zola lässt sich modellhaft studieren: Sie verfolgen konsequent die revolutionäre Tat. Diese Skizze und Pointierung Heinrich Manns ermöglichen es, auf einer konstitutiven Differenz zwischen Intellektuellen und allen geistigen Berufen zu bestehen und zweitens auf ein doppeltes Missverständnis einzugehen, das sowohl Feuilletonistinnen und Feuilletonisten als auch Intellektuelle betrifft. Intellektuelle halten sich für Kulturkritikerinnen und Kulturkritiker; letztere halten sich für Intellektuelle. Beide Aussagen sind im strengen Wort- und Sozialsinne falsch. Warum? Nach langen Debatten kondensieren ein Selbstverständnis und eine Selbstfestlegung, wonach Intellektuelle kritisch-aufgeklärte Gesellschaftsanalyse betreiben, als moralisches Gewissen einer Nation fungieren, Minoritäten und Exkludierte vertreten und verteidigen und sich so insgesamt politisch wie juridisch engagieren.4 Deshalb gilt es an die Adresse der Intellektuellen zu sagen: Nicht jeder Mensch des Geistes und Künstler des Wortes gehört (entgegen anderweitiger Auffassungen und offener Definitionen) zu den Intellektuellen. Es müssen notwendig ein intrinsisch motivierter, unbedingter Eigenglaube an alle Werte des Humanismus und Prinzipien der Aufklärung, eine dezidiert politische Handlungsund Wirkungsabsicht und ein kollektiver Veränderungsappell hinzutreten. An die Adresse der Feuilletonistinnen und Feuilletonisten gilt es zu sagen: Kein Redakteur und Journalist kann per se Teil der Intellektuellen sein und mittels seiner Zeitungsartikel intellektuell wirken. Denn ihm fehlen – zugespitzt gesagt – die Ungebundenheit des Standortes, der freischwebende, übersubjektive Blick, die Einsamkeit der Verantwortung, die Entbundenheit von sozialen Rollenerwartungen und die Distanz gegenüber konkreten, nicht selten limitierenden Redaktionsrichtlinien.

2. D ER T YPUS

DES ALLGEMEINEN I NTELLEKTUELLEN

Nach dieser ersten Zuspitzung intellektueller Praxis will ich im Folgenden auf eine Charakterisierung der klassischen oder allgemeinen Intellektuellen eingehen, wie

3

Vgl. ebd., S. 1360.

4

Vgl. dazu Bering, Dietz: Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001. Geburt – Begriff – Grabmal, Berlin: Berlin University Press 2010.

I NTELLEKTUELLE UND

DAS

D EBATTENFEUILLETON

I 309

sie vor allem von Jean-Paul Sartre begründet und vertreten wurde. Dessen Selbstfestlegung der Intellektuellen und eines Hauptstroms der linken Intellektuellendiskurse sieht vor: zur Bewusstwerdung moralischer Verschiebungen ebenso wie zur Aufklärung gesellschaftlicher Benachteiligung und Ungerechtigkeit beizutragen, das humanistisch Wünschenswerte im gesellschaftlich Kontingenten zu vermitteln, sich in Politik einzumischen, falsche Ideologien zu zerstören und letztlich immer und überall als Stellvertreter für alle Subordinierten zu fungieren. Die Möglichkeit und die Legitimation dieser Einmischung und »inkompetenten Kritik« (Lepsius)5 der Intellektuellen verdankt sich ihrer spezifischen Ungebundenheit und Selbstberufung zum Mandat. Es war Sartre, der nicht nur so wirkte, sondern diesen interventionistischen Intellektuellenbegriff auch präzisierte. Auf die Frage, was Intellektuelle machten, antwortete er: »aufzeigen, nachweisen, entlarven, in einem kleinen kritischen Säurebad Mythen und Fetische [der Herrschenden] zerstören«6. Die abstrakte Aufgabe, Ideologien aufzudecken (inklusive der eigenen) und den Ausgebeuteten wie Benachteiligten die praktische Wahrheit über die Gesellschaft zu vermitteln7 sowie sich immer und überall »in allen Konflikten unserer Zeit zu engagieren«8, vollzog Sartre ganz konkret, indem er den Kolonialismus und Kapitalismus kritisierte, indem er auf die Straße ging und auf Demonstrationen sprach, politische Streitgespräche im Radio initiierte oder indem er gleichermaßen den Studentenaufstand im Mai 1968 wie den Arbeiterausstand und partiellen Hungerstreik in den Renault-Werken im Februar 1972 unterstützte. Auf spezielle Weise fortgeschrieben wurde diese Auffassung der Intellektuellen von Pierre Bourdieu, der zwar alles andere als ein Verehrer Sartres war, der aber wusste, dass zu den Intellektuellen immer auch reflektierte Ausdrucksarbeit und Anspruch auf Deutungshoheit gehört. Er war es, der die Intellektuellen schließlich als bi-dimensionale Wesen charakterisiert hat:

5

Diese einst positiv gemeinte Begabung zur Totalkritik wird später in einigen Intellektuellendiskursen bezweifelt und alsbald gewendet. Es entwickelt sich dann demgegenüber die Figur des spezialisierten, situativ kompetenten Intellektuellen. Siehe dazu insbesondere Foucault, Michel: »Gespräch mit Michel Foucault«, in: M. F., Analytik der Macht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 83-107; Foucault, Michel: »Die Intellektuellen und die Macht«, in: M. F., Analytik der Macht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 52-63.

6

Sartre, Jean-Paul: Was kann Literatur?, Reinbek: Rowohlt 1985, S. 27.

7

Vgl. Sartre, Jean-Paul: »Plädoyer für die Intellektuellen«, in: J.-P. S., Mai ’68 und die Folgen, Band 2: Reden, Interviews, Aufsätze, Reinbek: Rowohlt 1975, S. 9-64, hier 39ff.

8

Ebd., S. 35.

310 I ANDREAS Z IEMANN »Um den Namen Intellektueller zu verdienen, muß ein Kulturproduzent zwei Voraussetzungen erfüllen: zum einen muß er einer intellektuell autonomen, d.h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören und deren besondere Gesetze respektieren; zum anderen muß er in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes im engeren Sinn stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben hat.«9

Bei genauerer Betrachtung existieren drei Voraussetzungen, die den Intellektuellen als soziale Rolle und sein politisches Engagement möglich machen10: Erstens muss als gesellschaftsstrukturelle Voraussetzung ein Modus sozialer bzw. funktionaler Differenzierung etabliert sein. Die Trennung und Autonomie von Politik, Ökonomie, Recht, Wissenschaft, Kunst und anderem mehr, auf die Bourdieu explizit hinweist, ermöglichen das unabhängige Streiten und Wirken jenseits konkreter Macht- und Interessenlagen. Damit einher geht die substanzielle Trennung zwischen politischer Entscheidungsmacht (im politischen Feld selbst) und intellektueller Deutungs- und Kommunikationsmacht (außerhalb des politischen Feldes). Zweitens sind als persönliche Voraussetzungen notwendig: einerseits die Berufung zur Wahrheit und zur Kritik, andererseits die Gabe des Wortes und der Schrift. Aus den genannten Gründen ist der Schriftsteller der paradigmatische Typus des Intellektuellen. Der »engagierte« Schriftsteller weiß, so Sartre, »daß Sprechen Handeln ist: er weiß, daß Enthüllen Verändern ist und daß man nur enthüllen kann, wenn man verändern will. […] Ebenso ist es die Funktion des Schriftstellers, dafür zu sorgen, daß niemand über die Welt in Unkenntnis bleibt und daß niemand sich für unschuldig an ihr erklären kann.«11

Die Schriftsteller-Intellektuellen können in Personalunion besser als andere Forderungen und Appelle in Sprache formen und das allgemeine Interesse durch Sprache zu Bewusstsein bringen. Die engagierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller üben deshalb eine doppelte Vertretungsfunktion aus: Sie vertreten die anderen, die Benachteiligten und Unterdrückten; und sie vertreten die universalen Werte in der Tradition der europäischen Aufklärung. Nicht zufällig behauptet Sartre folglich für sich selbst: »Da meine Fähigkeiten intellektueller Natur sind, 9

Bourdieu, Pierre: Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg: VSA-Verlag 1991, S. 42.

10 Vgl. Ziemann, Andreas: Medienkultur und Gesellschaftsstruktur. Soziologische Analysen, Wiesbaden: VS-Verlag 2011, S. 286f. 11 Sartre, Jean-Paul: Was ist Literatur?, Reinbek: Rowohlt 1981, S. 26f.

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kann ich diese meine Pflicht nur schreibend erfüllen.«12 Und weiter: »Darum meine ich, ich sollte mich auch als Schriftsteller mit dem beschäftigen, wofür ich am besten geeignet bin – mit dem, was andere nicht besser sagen können als ich.«13 Sartres Theorie des Schriftstellers ist zugleich eine Theorie des Intellektuellen – und umgekehrt.14 Unübertroffen deutlich bestimmt er den Schriftsteller als Intellektuellen ganz seinem Wesen nach, während die anderen Intellektuellen es aus Zufall sind.15 Die ideelle Ungebundenheit des Schriftstellers gegenüber der faktischen Gebundenheit des Journalisten macht dann einen Unterschied ums Ganze. Aus einem Geist des kritischen Reflektierens und Räsonierens entstanden, verschränkt sich die Autonomie der modernen literarischen Kunst, so meine Lesart und Argumentation, mit der Möglichkeit wie Verpflichtung zum autonomen öffentlichen Engagement der Intellektuellen. Was an und aus der Kunst an Kritik gelernt wurde, das soll sich auch auf andere gesellschaftliche Bereiche erstrecken und dort reinigend wie restabilisierend wirken. Wenn man mit Sartre den Imperativ der Intellektuellen so liest, dann zeigt sich eine geradezu systematische Verbindung einer Theorie des Ästhetischen mit einer der Intellektuellen wie auch mit einer des Politischen.16 Drittens müssen spezielle medientechnische Voraussetzungen gegeben sein, d.h. es bedarf geeigneter Verbreitungsmedien, welche die Kritik tragen und zu kollektivem Gegenhandeln, mindestens aber zu kollektiv entäußertem Protest motivieren. Die beiden paradigmatischen Medien- und Kommunikationsgattungen, die auf dem Intellektuellengeschenk der Druckerpresse17aufruhen, sind die in der Tagespresse veröffentlichte Petition bzw. Unterschriftenliste und der Essay. Später kommen die Kommunikationsform des Tribunals im Verbund mit der Radiooder Fernsehübertragung hinzu. Insofern es die Intellektuellen folglich ohne Medien nicht geben kann, sind sie gleichermaßen mediengeschult wie medienversiert und so gesehen immer schon Medienintellektuelle.

12 Sartre, Jean-Paul: »Playboy-Interview. ›Wir müssen unsere eigenen Werte schaffen‹«, in: J.-P. S., Gesammelte Werke, Band. 2: Autobiographische Schriften, Briefe, Tagebücher, Reinbek: Rowohlt 1988, S. 146-162, hier S. 154. 13 Ebd., S. 159. 14 Vgl. Sartre: »Plädoyer für die Intellektuellen«, S. 48ff. 15 Vgl. ebd., S. 64. 16 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999; Brunkhorst, Hauke: Der entzauberte Intellektuelle. Über die neue Beliebigkeit des Denkens, Hamburg: Junius 1990. 17 Vgl. Schumpeter, Joseph A.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 2., erw. Aufl., München: Lehnen 1950, S. 238.

312 I ANDREAS Z IEMANN

3. D ER T YPUS

DES

M EDIENINTELLEKTUELLEN

Diese Charakterisierung wurde in jüngerer Zeit ins Polemische gewendet, sodass es angebracht scheint, kurz darauf einzugehen.18 Der ›klassische‹ Intellektuelle war eine moralische Instanz, die sensibel soziokulturelle Werte und gesellschaftliche Grenzüberschreitungen beobachtete, politische Entscheidungen kritisch beurteilte und zur Legitimierung wie (Re-)Stabilisierung des gesellschaftlichen Wertehaushalts beitrug. Der Medienintellektuelle im engeren Sinne ist demgegenüber einer, der erstens in den Medien über Medien räsoniert. Die (Massen-) Medien selbst sind Gegenstand wie Fluchtpunkt seiner Argumentation. Die Ziele der (links-)intellektuellen Medienkritik waren und sind dabei seit jeher die Aufklärung über die Verblendungs- und Verführungstechniken der Massenmedien und Kulturindustrie, die Annullierung der verhängnisvollen Hochzeit zwischen kapitalistischer Ökonomie und Massenmedien und der fortwährende Kampf für ein höheres Bildungs- und Reflexionsniveau aller Rezipientinnen und Rezipienten respektive der Gesamtbevölkerung.19 Zweitens ist der Medienintellektuelle aber auch eine Sozialfigur jüngeren Datums, die sich von den Massenmedien anrufen und einladen lässt – maßgeblich vom Fernsehen – und dort dann kurzweilig wie ästhetisch wirkt, ohne substanziell kritisch zu sein oder einen politischen Auftrag zu erfüllen. Früher hat er sich ohne Mandat selbst beauftragt und war situativ qua kritischen Auftrags Berufener; nunmehr ist er Gerufener und spielt den eloquenten Gast nach allen Logiken der Massenmedien. Es geht ihm weniger um die Sache als vielmehr um sich selbst. Bezeichnenderweise erwirbt und akkumuliert er sein soziales und symbolisches Kapital auch nur in und durch die Massenmedien; außerhalb dieser fehlen ihm eine anerkannte Feldzugehörigkeit (etwa von Seiten der Wissenschaft oder Kunst). Es gibt für ihn kein Thema, kein Krisensymptom, kein Elend, »das nicht noch für

18 Siehe dazu exemplarisch D. Bering: Die Epoche des Intellektuellen, S. 531ff.; Grossarth, Jan: »Der arme Intellektuelle«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07./08.02.2015, S. C1; Moebius, Stephan: »Der Medienintellektuelle«, in: St. M./Markus Schroer (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 277-290; Suntrup, Jan Christoph: »Zur Rolle des ›Medienintellektuellen‹ – eine kritische Phänomenologie, in: Leviathan 41 (2013), Heft 1, S. 164187; A. Ziemann: Medienkultur und Gesellschaftsstruktur. Soziologische Analysen, S. 297ff. 19 Einflussreiche Protagonisten dieser Art waren Adorno, Bourdieu, Enzensberger, Postman oder Botho Strauß; in der Hauptsache zielten sie auf kritische Beobachtung und Intervention gegenüber dem Fernsehen.

I NTELLEKTUELLE UND

DAS

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eine vereinfachende Stellungnahme und einen medialen Selbstprofilierungsakt zu schade wäre. […] Statt analytisch in die Tiefe zu gehen oder sich argumentativ mit Kritikern auseinanderzusetzen, windet sich der Medienintellektuelle aus der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Hinweis, man neide ihm doch nur seinen medialen Erfolg.«20 Wo und wenn deshalb statt ad rem und tiefenscharfer, kluger Beobachtungen nur noch ad personam und instantanes Reden zählen, dort und dann verwundert es nicht, wenn narzisstische Eitelkeiten verletzt werden, persönliche Missachtung und Missverstehen beklagt werden und nicht um der Argumente willen, sondern um mediale Anerkennung, Prominenz, Rankings und Reichweiten gerungen wird. Eine politische Debattenkultur sah durchaus einmal anders aus. Genau in diese Kerbe schlug unlängst Herfried Münkler, als er Sloterdijks Invektiven21 gegenüber der politischen Großwetterlage und einer deutschen Flüchtlingspolitik offener Grenzen kritisierte und zum Fazit kam, darin »die Abdankungserklärung eines Typus öffentlicher Intellektualität [zu] sehen«22. In Unkenntnis aktueller Forschungen, unter Absehen komplexer weltgesellschaftlicher Zusammenhänge und entgegen aller gebotenen politischen Humanität, so Münkler, schwadroniere da einer metaphernschwanger und dunkel raunend und mache sich auf gefährliche Weise mit einer potenziellen Bevölkerungsmehrheit gemein. Sloterdijk reagierte entsprechend beleidigt, warf seinen Kritikerinnen und Kritikern »Reflex-Polemik« à la Pawlow und gezielte Fehllektüre vor und stilisierte sich selbst als »nachdenkliche[n] Staatsbürger der BRD, ausgestattet mit kritischen Impulsen klassisch europäischer Prägung, doch ohne mephistophelische Ambitionen«23. Auf der Meta-Ebene sieht auch er die »Debattenkultur« im Schwinden. Sie sei persönlich aufgeheizt statt analytisch abgekühlt und zeige entsprechend »eine Tendenz zur Entkulturalisierung«24, an der gleichermaßen die sozialen Medien wie die Qualitätspresse beteiligt sind.25 Beide Positionen könnten als Indiz dafür genommen 20 St. Moebius: »Der Medienintellektuelle«, S. 285. 21 Vgl. Sloterdijk, Peter: »›Das kann nicht gut gehen‹«, in: Cicero 2 (2016), S. 14-23. 22 Münkler, Herfried: »Weiß er, was er will?«, in: Die Zeit vom 12.02.2016, siehe http://www.zeit.de/2016/12/fluechtlingsdebatte-peter-sloterdijk-philosoph-antwort [20.3.2016], S. 1-4, hier S. 3. 23 Sloterdijk, Peter: »Primitive Reflexe. In der deutschen Flüchtlingsdebatte erleben Rüdiger Safranski und ich Beißwut, Polemik und Abweichungshass. Eine Antwort auf die Kritiker«, in: Die Zeit vom 03.03.2016, S. 39f., hier S. 40. 24 Ebd. 25 Vgl. auch Stallknecht, Michael: »Deutschkurs. Peter Sloterdijk fühlt sich missverstanden und fürchtet, die gegenwärtige Debatte sei nicht mehr zu Nuancen fähig«, in: Süddeutsche Zeitung vom 05./06.03.2016, S. 17.

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werden, dass die Zeit der allgemeinen Intellektuellen abgelaufen ist und man sich höchstens noch situativ, ausgestattet mit speziellem Hintergrundwissen und entsprechender Fachexpertise zu Wort melden kann und sollte. Die Debatte zeigt darüber hinaus, dass längst nicht mehr nur Intellektuelle untereinander um Deutungshoheit ringen, sondern in vielstimmiger Konkurrenz mit anderen Medienformaten, Meinungsführenden sowie selbst ernannten Kommentatorinnen und Kommentatoren stehen.

4. D AS F EUILLETON ZWISCHEN ÄSTHETISCHEM S PIELRAUM UND ÄSTHETISCHER K RITIK Die weiter oben angesprochenen ästhetischen Implikationen des intellektuellen Engagements ermöglichen nun einen Übergang in Richtung Feuilleton und Journalismus, maßgeblich in Richtung der Stellen der programmatischen Einleitung zu diesem Sammelband, welche eine explizite Losung und Hoffnung auf einen neuen ästhetischen Spielraum ausrufen. In den weiteren Überlegungen geht es mir dabei weniger um die konstitutiven Differenzen zwischen Feuilletonistinnen und Feuilletonisten auf der einen und Intellektuellen auf der anderen Seite, wie ich sie bisher betont hatte, sondern um eine vorsichtige Bestimmung ihrer Gemeinsamkeiten und Kooperationsmöglichkeiten. Historisch besehen, nutzt und etabliert das Feuilleton einen neuartigen ästhetischen Stil, der sich kleinen wie feinen Alltagsbeobachtungen widmet, stark personalisiert ist und eine dezidierte Trennung zu den ›schweren‹ Themen der Politik oder Wirtschaft vornimmt. Literarische Gegenwartsdiagnosen werden neben kulturkritisches Räsonnement gestellt, ethnografische Großstadtanalysen neben vorindustrielle Erinnerungen oder später ›ungeistige‹ Nachkriegsorientierungen gegen bundesrepublikanische Selbstfindung. Homogen war das Feuilleton dabei nie: weder stilistisch noch thematisch. Entscheidend waren vielmehr populäre Verständlichkeit, mehr oder minder aktueller Informationsgehalt und eine alternative, letztlich hoch subjektivistische Ausdeutung kultureller Ereignisse und großstädtischer bzw. gesellschaftlicher Verhältnisse. »Weder inhaltlich noch formal festgelegt, kann sich das Feuilleton also unter je historischen Bedingungen in Etappen eigensinnig ausdifferenzieren und wandeln, indem es zuletzt zwischen launigem Plauderton und generalisiertem Anspruch über den Tag hinaus oszilliert. Es

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erschließt darin Spielräume geistreichen, unverbindlichen und doch Aufmerksamkeit erregenden Schreibens, zumal es ja immer auch um Sachverhalte von öffentlichem Interesse geht.«26

Nachdem das Feuilleton zunehmend seine strikte Trennung vom Politischen und von anderen Zeitungsbüchern aufgegeben hatte und es wechselweise zur Feuilletonisierung der Nachrichten, aber auch zur Politisierung und Ökonomisierung des Feuilletons gekommen ist, kann es so gut wie alle gesellschaftlich und kulturell relevanten Themen in sein Ressort integrieren. Das Feuilleton bewegt sich zwischen ästhetischem, wissenschaftlichem und politischem Anspruch; und in dieser Ausweitung liegen seine Attraktivität, Selbstberechtigung und sein Erfolg. Nun konkurrieren die Ressorts der Politik und des Feuilletons um die jeweilige Deutungsmacht aktueller Ereignisse und Themen.27 Das Feuilleton produziert und verbreitet damit ein (bürgerliches) Orientierungswissen und institutionalisiert einen kritischen Diskurs der Öffentlichkeit, der weit jenseits einer Beschränkung auf Literatur, Theater, Musik und Oper angesiedelt ist. Diese Ausrichtung entsteht und verdankt sich einer gezielten Kooperation mit renommierten Personen aus (Geistes-/Gesellschafts-)Wissenschaft, Literatur, Politik und kritische Publizistik.28 Man kann diese Bewegung und Veränderung des Feuilletons mit einer spezifischen Lesart Adornos gegenüber dem Kritikerberuf verschalten. In ihren Anfangs- und Glanzzeiten waren alle berufsmäßigen Kritikerinnen und Kritiker erst einmal und vorneweg »Berichterstatter«:

26 Frank, Georg/Scherer, Stefan: »Zeit-Texte. Zur Funktionsgeschichte und zum generischen Ort des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (2012), Heft 3, S. 524-539, hier S. 525. 27 Anschlussfähig hieran sind die Überlegungen von Simone Jung (im vorliegenden Sammelband), die nach den Möglichkeiten des Politischen im Feuilleton unter den Strukturbedingungen der spätmodernen, pluralistischen Gesellschaft fragt. Siehe zur Verbindung von Intellektuellengeschichte mit Journalismusgeschichte im Zeitungsfeuilleton des 20. Jahrhunderts auch Payk, Markus M.: Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn, München: Oldenbourg 2008. 28 Vgl. Todorow, Almut: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, Tübingen: Niemeyer 1996, S. 48ff. und 115.

316 I ANDREAS Z IEMANN »[S]ie orientierten über den Markt geistiger Erzeugnisse. Dabei erlangten sie zuweilen Einsicht in die Sache, blieben stets jedoch auch Agenten des Verkehrs, im Einverständnis wo nicht mit dessen einzelnen Produkten so doch mit der Sphäre als solcher.«29

Wo und wenn das Feuilleton geistige Freiheit und autonome Wertbindung seiner Autorinnen und Autoren zeigt, dort und dann agiert es ebenfalls als »Berichterstatter« und gibt Orientierung über die Sphären der Kultur, zugleich aber auch über die sozialen Felder der Politik, der Erziehung, des Rechts und anderer mehr. So zeigt das Feuilleton spezifische Beobachtungen zweiter Ordnungen, praktiziert Zeitgeistkritik und übt seine Leserschaft in beides ein. Wenn dann mit der Orientierungsfunktion schließlich noch eine Interventionsabsicht einhergeht, dann sieht man eine produktive Verbrüderung zwischen Feuilleton und Intellektuellen am Werk, die im und als Debattenfeuilleton zum Ausdruck kommt und jenseits dessen weiterwirkt. Insofern das Debattenfeuilleton vom Geist und Engagement der Intellektuellen lebt, reflektiert und motoviert es in besonderer Weise auch verschiedene Möglichkeiten des realpolitischen Widerstands. Gegenüber dieser positiven Kooperation werden seit Längerem Klagelieder und Abgesänge angestimmt und wird – quasi als formale Gemeinsamkeit – ein vermeintlicher Niedergang konstatiert, welchen das Feuilleton mit den Intellektuellendiskursen teile. Beide scheinen vom Aussterben bedroht – so liest man es zuhauf und das in einem konstant wiederkehrenden Rhythmus seit Jahren. Während das Grabmal der Intellektuellen vorrangig politisch begründet wird und als Trümpfe ein faktischer Wertepluralismus gegen deren nominellen Werteuniversalismus sowie komplexe Verhältnisse der Weltgesellschaft gegen deren regionale und berufsspezifische Bindung ausgespielt werden, zeigen sich die Totengesänge aufs Feuilleton dominant ästhetisch motiviert. Ich will dies an zwei Beispielen vorführen. Paul Hühnerfeld diagnostiziert bereits 1957 in der Zeit das Ende des feuilletonistischen Zeitalters und konstatiert: Der kritische Individualist sei nur noch selten aufzufinden, jene Figur, die »unterm Strich« sein Lesepublikum mit reflektiertem Geschmack und ästhetischen Geschmacksurteilen versorgt und an seinen Ideenassoziationen ebenso wie an der originellen Schilderung der Wirklichkeit teilhaben lässt. An seine Stelle sei ein »geistreicher Reporter der Dinge« getreten, der – und das ist weder respektvoll noch lobend gemeint – auch als Soziologe arbeiten könnte: »Wir sind in das harte Zeitalter des Tatsachenberichts eingetreten, und die Feuilletons von heute schreiben meistens Soziologen oder solche, die sich dafür 29 Adorno, Theodor W.: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: Th. W. A.: Gesammelte Schriften, Band. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 11-30, hier S. 12.

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halten.«30 Jürgen Kaube von der Frankfurter Allgemeine Zeitung schiene dann gegenwärtig die perfekte Inkarnation dieses Typus zu sein. Man fühlt sich bei dieser Stichelei an Adornos Diagnose erinnert, wonach mit Anbeginn des liberalen Zeitalters, das Kritik überhaupt erst auf breiter Front ermöglicht und durchgesetzt hat, Autoritätshörigkeit es einem Geist kritischer Freiheit und Autonomie grundsätzlich schwer gemacht habe. Entsprechend galt und gilt wohl immer noch: »[S]tets mißtrauten das Feuilleton und das Akademische einander.«31 Von Hellmuth Karasek stammt ein zweiter prominenter Abgesang auf das Feuilleton, geschrieben 1995 für den Spiegel. Sein Artikel ist eine Kampfansage an Benjamin Henrichs und an Ulrich Greiner, beide von der Zeit.32 Im Idealfall, so Karasek, produziert das Feuilleton »Seidenpapiergedanken« oder wortgewaltige Rezensionen, »gespickt mit Wissen und Zorn, Erfahrung und Verachtung«33. Bisweilen fände sich das noch. Aber viel häufiger finde sich eine aufgeblähte Erweiterung der inhaltlichen Ausrichtung, die weder vor TV-Themen noch VideoClips oder Hollywood-Stars zurückschreckt. Aufgebläht sei daneben auch der Stil. Es herrschten neuerdings humorloser Bildungsdünkel, Besinnlichkeitskitsch und neue deutsche Innerlichkeitssucht. Das Ganze lässt einem, so Karasek, die Füße einschlafen und gemahnt zu höflichem Schweigen, da bei einigen Redakteuren und Kritikern kaum mehr etwas zu retten sei.34 Auch hier lässt sich nochmals ein Bezug zu Adorno herstellen und dadurch erhellen, wonach der gute Kritiker zu trachten habe. Sowohl das komplizenhafte Einverständnis mit der Kulturindustrie im Allgemeinen als auch mit ihren Produkten im Besonderen – eine doppelt neuerliche Vergegenständlichung der Kultur – verkenne und verfehle das notwendige Element der inneren produktiven Negativität aller Kultur.35 Das Ergebnis lässt maximal unverbindliche, kurzatmige, beliebige Meinungsäußerungen zutage treten.

30 Hühnerfeld, Paul: »Stirbt das Feuilleton aus?«, in: Die Zeit vom 24.01.1957, siehe http://www.zeit.de/1957/04/stirbt-das-feuilleton-aus [09.11.2015], S. 1. 31 Adorno, Theodor W.: »Zur Krisis der Literaturkritik«, in: Th. W. A., Gesammelte Schriften, Band. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 661-664, hier S. 662. 32 Henrichs war von 1973 bis 1997 Feuilletonredakteur der Zeit. Greiner war von 1970 bis 1980 Feuilletonredakteur der FAZ, wechselte dann zur Zeit und agierte von 1986 bis 1995 als dortiger Feuilletonchef. 33 Karasek, Hellmuth: »Unterm Strich. Feuilletonistisches zum deutschen Groß-Feuilleton«, in: Der Spiegel Special 1 (1995), S. 99-101, hier S. 99. 34 Vgl. ebd., S. 99-101. 35 Vgl. Th. W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 11-30.

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Gewünscht und notwendig seien vielmehr »Ironie, geistige Beweglichkeit, Skepsis gegen das, was nun einmal da ist«36. Basis und Bedingung dafür sei eine konstitutive Ungebundenheit auf Kritiker- wie Publikumsseite. Erst dann könnte und müsste der (Literatur-)Kritiker in voller Selbstverantwortung und mit existenziellem Gespür seiner Aufgabe so nachgehen, dass er »ohne alle Rücksicht auf öffentliche Geltung und Machtkonstellationen und zugleich mit der genauesten artistisch-technischen Erfahrung sich in die Gegenstände versenkte, die ihm vorkommen, und den Anspruch aufs Absolute, der noch dem erbärmlichsten Kunstwerk verzerrt innewohnt, so schwer nähme, als wäre es das, wofür es sich gibt«37.

5. J OURNALISTISCH - INTELLEKTUELLE K OOPERATION Vielleicht täte es dem Feuilleton gut, solche Kritiken ernst zu nehmen, es aber nicht bei Unkenrufen und Grabreden zu belassen. Deshalb versuche ich mich an einer tentativen Bestimmung positiver Wechselwirkungen zwischen dem (Debatten-)Feuilleton und Intellektuellen. Letzte sind nämlich – wie ich vorhin ausgeführt hatte – konstitutiv auf ersteres angewiesen; und ersteres kann bisweilen selbst intellektuell aktiv werden. Das meint erst einmal: Das Feuilleton fungiert als Plattform für intellektuelle Interventionen, es ruft die Intellektuellen an und fordert zu Stellungnahmen heraus;38 und es wirkt sodann als Vermittler und Multiplikator jener eigenständigen Intellektuellenposition, motiviert zu Anschlussreaktionen und Zusammenschlüssen und macht bekannt, dass Missstände oder Wertverstöße vorliegen und zu bereinigen sind. In dieser Hinsicht emanzipiert sich das Feuilleton von seiner (Stil-)Geschichte der »kleinen Form«39 und integriert in essayistischer Form Politisches und Soziologisches. Es wird zu einer Art

36 Th. W. Adorno: Zur Krisis der Literaturkritik, S. 662. 37 Ebd., S. 664. 38 Vielstimmig in jüngerer Zeit etwa das Feuilleton der Zeit vom 19.11.2015, als es nach den Terroranschlägen in Paris – unter der Fragestellung: »Wohin driftet der verwundete Kontinent?« – deutsche, französische, israelische und slowenische Intellektuelle zu einer Einschätzung der Lage bat; namentlich: Herfried Münkler, Étienne Balibar, Eva Illouz, Slavoj Žižek, Moritz Rinke und Iris Radisch. 39 Vgl. Kernmayer, Hildegard: »Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22 (2012), Heft 3, S. 509-523.

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»Frühwarnsystem«40, das tagesaktuelle Nachrichten quer liest, alternativ ausdeutet und zu Anschlusskommentaren respektive Anschlusshandlungen motiviert. Man kann bezüglich einer positiven Kooperation und Integration von Feuilleton und Intellektuellen noch einen Schritt weiter gehen. Ulrich Oevermann hat vor längerer Zeit in genau dieser Richtung vorgelegt, und deshalb seien seine Argumente hier zur Erinnerung gebracht. Intellektuelle, Journalistinnen und Journalisten, so Oevermann, agierten als klassische Protagonisten der Öffentlichkeit und beobachteten im Modus des kritischen Räsonnements Politik und Wirtschaft und deren Interessenvertretung und Entscheidungsverfahren. In ihrer kritischen Beobachtungsarbeit müssten sie wie Intellektuelle notwendig einer eigenen Wertgebundenheit folgen, die im besseren Fall einem Universalismus der Logik des besseren Arguments verpflichtet ist.41 Jener Sachdimension stellt Oevermann nun eine interessante These zur Zeitdimension gegenüber: »Man kann Intellektueller nicht permanent sein, als dauerhaften Beruf ausüben oder gar als Beruf erlernen. Vielmehr wird man situativ zum Intellektuellen«42. Eine Situationsrolle üben die Intellektuellen dann aus, wenn sie erstens die Notwendigkeit zum Eingriff und Angriff erkennen und wenn sie zweitens ihre originäre Professionsrolle und angestammte Feldposition für diese Zeit verlassen. »Im Unterschied dazu«, so Oevermann weiter, »nimmt der Journalist […] einen auf Dauer gestellten Beruf ein«43; aber er wird dann zum Typus des Intellektuellen, wenn er seine primäre Funktion der Informationsproduktion und Berichterstattung verlässt und befristet auf den engagierten Kommentar und kritisches Räsonieren umstellt. Dieser Auftrag ohne Mandat, aber zur Verteidigung menschlicher Grund- und Universalwerte mag anachronistisch klingen und manchen inadäquat gegenüber einem spätmodernen Wertepluralismus sein. Ich möchte aber ganz emphatisch daran festhalten, dass wir von Zeit zu Zeit von Intellektuellen wie auch von Journalistinnen und Journalisten kritische Zeitdiagnosen und ein moralisches Korrektiv gegenüber Politik und Ökonomie erwarten und einfordern dürfen und dass dies breitenwirksam im Feuilleton gedruckt wird. Ich hege, anders gesagt, die besondere Hoffnung auf die Fortführung einer intellektuellen Kommunikationsmacht44, 40 G. Frank/St. Scherer: Zeit-Texte, S. 532. 41 Siehe dazu auch Thomas Hecken (im vorliegenden Sammelband). 42 Oevermann, Ulrich: »Der Strukturwandel der Öffentlichkeit durch die Selbstinszenierungslogik des Fernsehens«, in: Claudia Honegger et al. (Hg.), Gesellschaften im Umbau. Identitäten, Konflikte, Differenzen. Hauptreferate des Kongresses der schweizerischen Sozialwissenschaften Bern 1995, Zürich: Seismo 1996, S. 197-228, hier S. 223. 43 Ebd. 44 Dazu Brunkhorst, Hauke: »Die Macht der Intellektuellen«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40 (2010), S. 32-37.

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die problematisiert, pointiert und protestiert. Das bedeutet und erzeugt für beide Seiten eine neue Ambivalenz zwischen Risiko und Heroentum. Denn es ist längst nicht mehr ohne Weiteres klar, wer welche Werte teilt oder häretisch angreift. Empirisch besehen, spielten sich in der Vergangenheit eine Vielzahl wichtiger moralischer Interventionen, kritischer Zeitdiagnosen und auch alternativer Planspiele zu neuen soziokulturellen Wirklichkeiten in den Feuilletons der überregionalen, deutschsprachigen Zeitungen ab. Beispielhaft genannt seien: die APO-Bewegung der 68er, der Historikerstreit, die Umweltdebatten nach Tschernobyl, die (Deutung der) zwei Wehrmachtsausstellungen, die Leitkulturdebatte, Vorschläge eines Grundeinkommens, neue Familienmodelle und noch die Intellektuellendebatten selbst (wirkmächtig etwa 2009 in der Zeit und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Sloterdijk, Honneth, Menke, Bohrer und anderen). Das Debattenfeuilleton ist auch in der Gegenwart längst nicht ausgestorben und verloren, auch wenn es wirkmächtiger und stimmenträchtiger sein könnte. Zunächst las man beispielsweise über fast das gesamte Jahr 2015 hinweg weder etwas von Habermas noch anderen prominenten intellektuellen Autorinnen und Autoren zur EU-Außen- und Kriegspolitik, zur Flüchtlingskrise oder zur neuen deutschen außerparlamentarischen Opposition called ›Pegida‹. Zum Jahresende 201545 und mit Beginn von 2016 sollte sich das grundlegend ändern; das Debattenfeuilleton erstarkte – unter reger, vielstimmiger Intellektuellenbeteiligung. Ein erstes positives Beispiel findet sich im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 17. November 2015. Dort schreibt Gustav Seibt – in Personalunion Historiker, Literaturkritiker und Journalist – über die Rhetorik der Werte und die Praxis der Gesetze und Sicherheitspolitik. Sein Artikel wägt – in Reaktion auf die Terroranschläge in Paris – die Errungenschaften »von Freiheit und Lebensfreude, Aufklärung und Hedonismus«46 ab, die mit beschränkenden Werten von Sicherheit und Kontrolle konfrontiert sind. In angenehm abgeklärter wie humanistischer Manier47 erklärt er die Aufklärung selbst nicht zum Wert, sondern zum Prinzip; 45 Beispielhaft und einflussreich auch das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung seit Ende November 2015 – mit der Frage »Was ist deutsch?«. 46 Seibt, Gustav: »Unsere Art zu leben. Warum die Rhetorik vom Kampf für die ›Werte‹ in die Irre führt, auch wenn wir nicht von ihnen abrücken dürfen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.09.2015, S. 11. 47 Man könnte Seibt geradezu in die Tradition des frühen Luhmann einreihen, der die Abklärung der Aufklärung empfohlen hat. Luhmanns Ausgangspunkt war, dass wir unter modernen Bedingungen kaum eine »naive Aufklärung« alten Stils durchhalten können und sollten. Denn weder gäbe es eine gleich verteilte Vernunftbegabung unter Menschen und entsprechend wäre auch eine Gleichbeteiligung aller unvernünftig; noch sind ohne Weiteres mit und unter allen reflexionsbegabten Wesen Wahrheit und Konsens

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zu einem Prinzip, welches die Überprüfung und Umsetzung von Werten, Werttoleranz und Wertrelativismus ermöglicht und anleitet. Daraus leitet Seibt für die konkrete Gestaltung von Lebensverhältnissen inmitten kontinuierender Terrorgefahren zwei wesentliche Forderungen ab: 1. an Europas Politiker: keine Anerkennung einer aktuell geführten politischen Kriegssemantik respektive des IS als Kriegspartei 2. an Europas Bürger: das Zusammenleben nicht in der Ablehnung anderer Werte, sondern es in der unbedingten Überzeugung an die eigenen zu praktizieren und fortzuführen. Dieses Nachdenken über den Pluralismus und Relativismus der Werte trifft sich mit einem Vorschlag von Johannes Weiß, der jüngst den Vertretungsanspruch der Intellektuellen diskutiert hat. Den Intellektuellen klassischer Art war ihm zufolge ein Universalismus der Gleichheit zu eigen, eine Repräsentationsidee im Namen der Menschheit ganz allgemein und im Namen der Unterdrückten, Beherrschten im Speziellen. Wenn das Allgemeine aber nicht mehr zu finden und zu haben ist und die Vertretenen sich nicht mehr vertreten lassen wollen, dann ließe sich, so Weiß, ein neuer Universalismus der Differenz inaugurieren und begründen; ein Universalismus, der das Partikulare oder gar Einzigartige ins kollektive Bewusstsein ruft. »Das Allgemeine oder Universelle kann […] genau darin liegen, für das Recht auf Besonderheit oder Singularität bestimmter Menschen oder Menschengruppen einzutreten – wenn dieses Recht, als Recht auf Differenz, ebenso allgemein gilt wie das Recht auf Gleichheit.«48 Umgesetzt würde das nichts anderes heißen als »Solidarität«49 – eine Selbstbesinnung und Verantwortung, die nicht über die besten Gestaltungs- und Handlungsoptionen zu erzielen. Stattdessen hat man vielmehr inkongruente und widerstreitende Perspektiven und die grundlegend soziale Kontingenz der Welt ebenso in Rechnung zu stellen wie Verdrängung oder Ignoranz als personalen und sozialen Selbstschutz. In der Konsequenz bedeutet das, dass jede Aufklärung ihre eigenen Grenzen hat und interne Probleme (der Komplexitätsbewältigung) aufwirft. Absehbar ist dann zumindest, dass man mit besseren Gründen mögliche Antworten und Lösungen eher von Systemrationalität(-en) denn von rationalen Menschen erwarten kann. Alle vorgeschlagenen bzw. durchgesetzten Problemlösungen stehen aber grundsätzlich in einem Konkurrenz- und (historisierbaren) Vergleichsverhältnis. Deswegen ist ihre Gültigkeit bezweifelbar, revidierbar und beschränkt; und deshalb sind jederzeit auch alternative Lösungen denkbar und machbar. Beide Aspekte verstärken damit aber wiederum einen abgeklärten Modus der Aufklärung, der letztlich höherstufige Reflexivität ihrer selbst bedeutet. Vgl. Luhmann, Niklas: »Soziologische Aufklärung«, in: Soziale Welt 18 (1967), Heft 2f., S. 97-123. 48 Weiß, Johannes: »In wessen Namen? Über den Vertretungsanspruch von Intellektuellen«, in: Soziologie 44 (2015), Heft 4, S. 399-410, hier S. 407. 49 Ebd., S. 409.

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zuletzt inmitten der aktuellen Flüchtlingshilfe und Flüchtlingsdebatte von den einen praktiziert und von den anderen diskreditiert werden.

6. W IRKLICHKEITSKONTROLLE Jene jüngeren Debatten führen mich zum Schlagwort der Wirklichkeitskontrolle und beenden dann auch meine Suchbewegung nach der Funktion, den Zielen, den Selbstbeschreibungen von Intellektuellen wie auch der gemeinsamen Zukunft von Feuilleton und Intellektuellen. Der vergessene Helmut Schelsky hatte diese Programmformel der Wirklichkeitskontrolle einst bemüht,50 um gegen sozialwissenschaftliche Planungsideen – »›Sozialpläne‹ auf allen Gebieten«51–, gegen eine damals vorherrschende »ideologisch-ordnungsprogrammatische Praxis der Soziologie«52 und auch gegen einen verfehlten Gestaltungs- und Steuerungsoptimismus zu opponieren.53 Er wollte stattdessen alle Soziologie – und das teilt sie geradezu mit den Intellektuellen, Feuilletonistinnen und Feuilletonisten und noch mit der Kritik von Hühnerfeld – von praktischer Verpflichtung freisprechen und reinigen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit sei als komplexe und emergente Form von keinem Einzelnen umfassend erfahrbar und deshalb weder adäquat zu beschreiben noch gezielt zu ändern. Jeder und jede Einzelne sähe sich vielmehr mit einer »schwindenden Realitätsgewißheit« konfrontiert.54 Angesagt sei deshalb eine Verpflichtung zur Kooperation und zur gemeinsamen leidenschaftlichen Analyse des Seienden ohne vorauslaufende Aspekte des Normativen oder Praktischen. Schelsky fasst dieses Anliegen pointiert so zusammen:

50 Vgl. Schelsky, Helmut: Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1959, S. 123ff. 51 Ebd., S. 121. 52 Ebd. 53 Dass ich damit gerade Schelsky für eine produktive Umwertung des Typus des Intellektuellen in Anspruch nehme, ist eine Ironie der Geschichte – hat er selbst von den Intellektuellen seiner Zeit schließlich nichts gehalten und sie in seiner Kampfschrift Die Arbeit tun die anderen (1975) hart kritisiert und diffamiert. Vgl. Schelsky, Helmut: »Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen«, Opladen: Westdeutscher Verlag 1975; vgl. weiterführend Wöhrle, Patrick: Zur Aktualität von Helmut Schelsky. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 154ff. 54 Vgl. H. Schelsky: Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, S. 127.

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»Die wichtigste Leistung der soziologischen Analyse für das soziale Handeln liegt heute gar nicht mehr in der Angabe dessen, was zu tun und wie zu entscheiden ist, sondern viel mehr darin, sichtbar zu machen, was sowieso geschieht und war gar nicht zu ändern ist. […] Dann sind nicht die Ziele, sondern die Grenzen [!] des sozialen Handelns der legitime Gegenstand der gegenwärtigen Soziologie. Und dies gerade um der Freiheit und der Wirksamkeit des sozialen Handelns willen!«55

In diesem Plädoyer für Wirklichkeitskontrolle könnten sich eine neue Ästhetik des Feuilletons und Selbstbeschränkungen intellektuellen Engagements meines Erachtens bestens wiederfinden. Beide wären ebenso – auf der Basis tiefenscharfer Tatsachenbeschreibungen – im Interesse an neuen Freiheiten sozialen Handelns vereint. Man muss nur überall da, wo Schelsky von »soziologisch« spricht, ein »feuilletonistisch« oder »intellektuell« einsetzen. Das heißt aber auch: Die Zukunft des Feuilletons liegt in mehr als nur einer ästhetischen Stilbindung und Stilbildung.

55 Ebd., S. 125f.

Öffentliche Kommunikation als Befindlichkeitskommunikation. Zur Debattenkultur auf Facebook E LKE W AGNER UND N IKLAS B ARTH

Das Feuilleton gilt klassischerweise als ein Ort der Vermittlung, »an dem sich Literatur, Publizistik, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wechselseitig durchdringen«1. Geht man von Habermas’ Studie über die bürgerliche Öffentlichkeit2 aus, so kennt das frühe Bürgertum des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts noch kein Feuilleton im bürgerlichen Sinne, das zwischen politischer und literarischer Sphäre vermitteln würde.3 Was es Habermas’ Argumentation zufolge gibt, sind Frühformen von Zeitungen, die gewissermaßen ›kalte‹ Nachrichten enthalten – daneben existiert eine Briefkultur, die ein kritisches Publikum überhaupt erst emergieren lässt und die so entstehenden literarischen Publika mit der politischen Öffentlichkeit vermittelt. Briefe gelten im Zeitalter der Empfindsamkeit als »Behälter für die ›Ergießung der Herzen‹ eher als für ›kalte Nachrichten‹, die, wenn sie überhaupt erwähnt werden, der Entschuldigung bedürfen«4. In Briefen wird die Emotionalität des frühen Bürgertums – vor einem Publikum – überhaupt erst eingeübt. Herders Braut habe entsprechend befürchtet, ihre an ihn gerichteten Briefe würden »nichts als Erzählungen« beinhalten und der Adressat werde sie

1

Kaufmann, Kai: »Zur derzeitigen Situation der Feuilleton-Forschung«, in: K. K./Erhard Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin: Weidler 2000, S. 9-21, hier S. 12.

2

Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.

3

Vgl. Enkemann, Jürgen: Journalismus und Literatur. Zum Verhältnis von Zeitungswesen. Literatur und Entwicklung bürgerlicher Öffentlichkeit in England im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1983, S. 100ff.

4

J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S.113.

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deshalb gar »für eine gute Zeitungsschreiberin« halten.5 Der kommunikative Stil des Briefs der Empfindsamkeit, so hat es Albrecht Koschorke6 beeindruckend herausgearbeitet, entschlüsselt sich nach einem Code der Wärme, der authentische Verbundenheit inszenierte, um mediale Distanzen zu überbrücken. Koschorke sieht die Bedingungen für eine Rhetorik der Innerlichkeit in der bürgerlichen »Umwertung der Einsamkeit«, die mit der Literalisierung dieser Trägerschicht einherging. In letzter Konsequenz wird im Medium der Schrift der Vergesellschaftungsmodus von einer starren Ständeordnung hin zur freien Sympathie unter Freundinnen und Freunden sowie zum Prinzip universaler Humanität transformiert und es entwickeln sich dabei geradezu stilistische »Fetische der Empfindsamkeit«.7 Diese Form des Austauschs von Privatpersonen über persönliche, aber auch politische Inhalte findet in der Gegenwart in Teilen auch im Internet statt. ›Social Network Sites‹ wie Facebook etwa dienen privaten ›Usern‹ als Ort, an dem mit anderen privaten ›Usern‹ über Privates, aber auch Politisches gesprochen oder vielmehr: geschrieben werden kann. Wie aber gestaltet sich diese vernetzte Debattenkultur? Blickt die Soziologie heute auf das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit im Internet, dann stößt sie dabei stets auf Unschärfen – und damit auch auf die Verunsicherung ihrer eigenen Begriffe. Jan Schmidt8 beschreibt das Web 2.0 als hybridisierte »persönliche Öffentlichkeiten«, Danah Boyd9 hingegen als Mischform der »networked publics«. Patricia Lange10 konstatiert für die Kommunikationspraktiken der Nutzerinnen und Nutzer auf der Videoplattform Youtube ein ›Switchen‹ zwischen einem »publicly private« einerseits und einem »privately public« andererseits. Und Sherry Turkles Online-Protagonisten sind »always on«, wodurch es zu einer eigenartigen Vermischung von öffentlichen und privaten Sphären komme.11 Allen Positionen gemeinsam ist die Diagnose eines neuen ›Strukturwandels der Öffentlichkeit‹, der sich in der Grenzerosion zwischen 5

Ebd.

6

Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhun-

7

Vgl. ebd., S. 195.

8

Schmidt, Jan: Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0, Bielefeld:

9

Boyd, Danah: »Social network sites. Definition, history, and scholarship«, in: Journal

derts, München: Fink 1999.

transcript 2009. of Computer-Mediated Communication 13 (2007), S. 210-230. 10 Lange, Patricia: »Publicly Private and Privately Public. Social Networking on YouTube«, in Journal of Computer-Mediated Communication 13 (2007), S. 361-380. 11 Vgl. Turkle, Sherry: Alone together. Why we Expect More from Technology and Less from Each Other, New York: Basic Books 2011, S.151 ff.

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ehemals privaten und öffentlichen Sphären manifestiere. Einerseits lassen sich diese Phänomene des Unscharfwerdens kritisch lesen: als Kolonialisierung der Vernunftpotentiale öffentlicher Kommunikation durch massenmediale Logiken oder als die Überfrachtung bürgerlicher Distanzressourcen durch eine »Tyrannei der Intimität«.12 Andererseits kann man empirisch fragen, welche Form von Öffentlichkeit hier emergiert. Diese Frage soll die folgenden Überlegungen anleiten. Sie stützen sich auf Daten, die im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojektes »Öffentlichkeit und Privatheit 2.0«13 zwischen 2014 und 2016 erhoben und analysiert worden sind. Wir führten 40 Interviews mit ›Usern‹ der Social Network Site Facebook durch, gleichzeitig wurden Screenshots von den Nutzungspraktiken privater ›User‹ angefertigt sowie teilnehmende Beobachtungsprotokolle geschrieben. Die Daten wurden entsprechend den gängigen Regeln wissenschaftlicher Praxis anonymisiert und mit Hilfe der »Grounded Theory«14 ausgewertet. »Erhitzte Öffentlichkeiten«15 scheinen auf Facebook der Normalfall zu sein. Private ›User‹ beteiligen sich an dort stattfindenden Diskursen emotional, beleidigen einander, ›trollen‹ und ›haten‹, wie man das auf ›Neudeutsch‹ formuliert. In der Frühphase des Internets waren digitale Öffentlichkeiten noch als telematisches Pfingstwunder gefeiert worden: Im Medium des Computers könnten sich verstreute Teilöffentlichkeiten vernetzen und zusammengeführt werden, so die Hoffnung des Feuilleton-Diskurses und der Internet-Soziologie.16 Hingegen wird heute Netzkommunikation eher als irrationales Wüten eines digitalen Pöbels wahrgenommen. Hass und ungehemmte Leidenschaften würden sich hier Bahn brechen. Die rationale Distanz gehe verloren. Und tatsächlich hat diese Diagnose ja auch einige Plausibilität, wenn man sieht, wie sich der Ton im Netz im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise in den sozialen Netzwerken radikalisiert hat. Um es an 12 Vgl. Sennett, Robert: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M. 2002. 13 Stempfhuber, Martin/Wagner, Elke (Hg.), Praktiken der Überwachten, Wiesbaden: Springer VS 2017. (In Vorbereitung). 14 Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L.: The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, Aldine: Chicago IL 1967. 15 Barth, Niklas/Wagner, Elke: »Erhitzte Öffentlichkeit. Zur medialen Transformation öffentlicher Kommunikation auf Facebook«, in: Pop. Kultur und Kritik 2 (2016), siehe http://www.pop-zeitschrift.de/2016/03/05/social-media-maerzvon-niklas-barth-undelke-wagner5-3-2016/ 16 Vgl. Rheingold, Howard S.: Virtuelle Gemeinschaften, Bonn/Paris: Addison-Wesley 1994.

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einem ganz alltäglichen Beispiel zu illustrieren: Der folgende Screenshot der ›User‹-Praxis auf Facebook zeigt, wie sich im Rahmen einer Meldung über die Höhe der Finanzhilfe für Flüchtlinge im Jahr 2016 Debatten auf der ›Social Network Site‹ erhitzen – und zwar in einem Maße, dass sich in diesem Fall die Redaktion der Tagesschau offenbar nur mehr mit dem Hinweis auf die Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu helfen weiß und schließlich das Löschen von Kommentaren androht: Abbildung 1: Facebook am 27.01.2017

Quelle: Facebook

Die Debatte um digitale Öffentlichkeiten ist schließlich auch auf dem Radar des Politischen aufgetaucht: So hat Bundesjustizminister Heiko Maas im Dezember 2016 die Einführung von Bußgeldern vorgeschlagen, um gegen Hass-Kommentare, Beleidigungen und ›Fake-News‹ auf Facebook vorzugehen. Dabei ist Öffentlichkeit im bürgerlichen Sinne einmal mit zwei normativen Ansprüchen aufgetreten: dem Anspruch auf Universalität und dem Anspruch auf Sachlichkeit, um es mit Habermas und seinem in der Öffentlichkeitssoziologie

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nach wie vor einflussreichen Konzept zu formulieren.17 Der Anspruch der bürgerlichen Öffentlichkeit auf Universalität besagt relativ schlicht nur eines: Prinzipiell sollen alle, die zur Argumentation fähig sind, am Diskurs teilnehmen können. Die vorgebrachten Argumente sollen sich zu einem besten Grund verdichten und für alle am Diskurs Teilnehmenden akzeptabel sein. Dieser Grundsatz der Universalisierung von Öffentlichkeit scheint hinsichtlich der Emergenz von neuen digitalen Öffentlichkeiten problematisch zu werden. Im Internet zeigen sich einerseits Teilöffentlichkeiten18, die sich thematisch gruppieren und damit den Anspruch der Universalisierung unterlaufen. Gleichzeitig werden im Web 2.0 Öffentlichkeiten nach persönlichen Vorlieben zusammengestellt: Facebook-›User‹ etwa abonnieren ›Sites‹, die ihrem Geschmack entsprechen. Was hieraus entsteht, sind »intimisierten Öffentlichkeiten«19, die sich um die persönlichen Vorlieben gruppieren, nicht aber universalisierbare öffentliche Praktiken. Waren Öffentlichkeiten im bürgerlich-traditionellen Sinn (Habermas) noch mit dem Anspruch aufgetreten, vernünftige Argumente zu versammeln und zu einem letzten besten Grund zu verdichten, so zeigen sich nun im Internet auch moralische Diskurse, die entweder positives Mitfühlen (›Candy-Storms‹) oder negatives Pöbeln (›Shit-Storms‹) zur Ansicht bringen. Beide Ansprüche scheinen also unter anderem auch durch die Medialität des Internets einer Transformation zu unterliegen. Wie konstituieren sich aber diese Öffentlichkeiten im Netz? Über welche Kommunikationsformen und über welche medialen Anordnungen werden sie erzeugt? Die folgenden Überlegungen nehmen die hier kurz skizzierten Entwicklungen zum Anlass, genau diese Fragen zu diskutieren. Im Zuge des gezeigten ›Klimandel des Öffentlichen‹ scheint sich, so die These, das klassisch strenge Bild einer ›kalten‹ Öffentlichkeit im Sinne eines ›eigentümlich zwanglosen Zwangs des besseren Arguments‹20 oder auch der distanzierten und taktvollen öffentlichen Geste21 zu ›erhitzen‹, indem sich auf Facebook kollektive Praktiken der

17 Vgl. Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. 18 Vgl. Habermas, Jürgen: Ach Europa!, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 19 Wagner, Elke: »Intimisierte Öffentlichkeiten. Zur Erzeugung von Publika auf Facebook«, in: M. Stempfhuber/E. W. (Hg.), Praktiken der Überwachten. (In Vorbereitung); E. W.: »Intimate Publics 2.0«, in: Kornelia Hahn (Hg.), E