Die Literatur der ›Konservativen Revolution‹: Schreiben zwischen Traditionalismus und Avantgarde [1 ed.] 9783666360961, 9783525360965

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Die Literatur der ›Konservativen Revolution‹: Schreiben zwischen Traditionalismus und Avantgarde [1 ed.]
 9783666360961, 9783525360965

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Wojciech Kunicki / Krzysztof Żarski /  Natalia Żarska (Hg.)

Die Literatur der ›­Konservativen Revolution‹ Schreiben zwischen Traditionalismus und Avantgarde

Wojciech Kunicki, Natalia Żarska, Krzysztof Żarski (Hg.)

Die Literatur der ›Konservativen Revolution‹ Schreiben zwischen Traditionalismus und Avantgarde

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln. Gutachterin: Dr. Joanna Lubecka, Ignatianum Akademie / A kademia Ignatianum Gutachter: Dr. Jacek Kloczkowski, Zentrum für politische Philosophie / Ośrodek Myśli Politycznej

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)  Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: bpk / Bayerische Staatsgemäldesammlungen / Karl Blossfeldt Korrektorat: Sebastian Schaffmeister Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-36096-1

Inhalt Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Maciej Zakrzewski, Kraków The conservatism and the revolution Remarks on the genealogy of the concept of the Conservative Revolution 23 Milan Horňáček, Olomouc Zur Politik der Sprache in der ›Konservativen Revolution‹ Eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Wojciech Kunicki, Wrocław Aspekte des Religiösen in der ›Konservativen Revolution‹ Überwindung des Christentums in der Reichsidee oder ein neues christliches Reich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Joana van de Löcht, Münster Die ›Konservative Revolution‹ als Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Helmuth Kiesel, Heidelberg Figuren der ›Konservativen Revolution‹ in der Literatur nach 1933 . . . . 95 Alexander Michailowski, Moscow The role of the George circle in shaping the Conservative Revolution . . 115 Ewa Szymani, Wrocław Der Begriff der Innigkeit in Heideggers Hölderlin-Lektüre . . . . . . . . 131 Albert C. Eibl, Wien Vom nationalistischen Revolutionär zum revolutionären Konservativen Ernst Jüngers Abenteuerliches Herz im Spiegel der ›Konservativen Revolution‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Peter Langemeyer, Østfold Carl Hauptmann, »Der Kunstwart« und die ›Konservative Revolution‹ . . 169 Anna Gajdis, Wrocław Ernst Wiechert und die ›Konservative Revolution‹ . . . . . . . . . . . . . 189

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Inhalt

Andrzej Denka, Poznań Ideelle und ästhetische Spuren der ›Konservativen Revolution‹ im Werk von Botho Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Björn Thesing, Heidelberg »dass das Leben lebbar nur wird durch gültige Bindungen« Hugo von Hofmannsthals Schrifttumsrede im Lichte neoidealistischer Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Maciej Walkowiak, Poznań Jahre der Entscheidung Der preußische Sozialismus bei Oswald Spengler und Ernst Niekisch . . 241 Sandro Gorgone, Messina Natur und Wildnis in der ›Konservativen Revolution‹ . . . . . . . . . . . 257 Grzegorz Kowal, Wrocław Ist Friedrich Nietzsche der legitime Vordenker der ›Konservativen Revolution‹? Zu Ernst Jüngers Essay Der Kampf als inneres Erlebnis . . . . . . . . . . . 275 Krzysztof Polechoński, Wrocław Zur ›politischen‹ Rezeption von Edwin Erich Dwinger aus polnischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Krzysztof Żarski, Wrocław Harald Laeuen und die rückwärtsgewandte Utopie »Polen« im Kontext der jungkonservativen Föderalismusdebatten der frühen dreißiger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Zur Einführung In seinem erstmals 1958 erschienenen Nachkriegstagebuch Jahre der Okkupation / Die Hütte im Weinberg widmet Ernst Jünger unter dem Eindruck wachsender Angriffe gegen seine Person und sein Werk etwa ein Drittel des gesamten Bandes der Erinnerung an die späten 1920er und frühen 1930er Jahre. Ziel dieser unabhängig vom Fortschreiten des eigentlichen Tagebuchs entstandenen Einträge scheint es zu sein, Jüngers Berliner Netzwerk in der Zwischenkriegszeit offenzulegen, die Stimmung, die in den antidemokratischen Zirkeln am Ende der Weimarer Republik vorherrschte, zu erfassen und die Schicksale einzelner Bekannter nachzuzeichnen. Immer wieder betont Jünger hierbei den grund­legenden Unterschied zwischen seinem Bekanntenkreis und den Nationalsozialisten, mit denen es zwar verschiedentlich zu Begegnungen gekommen sei  – etwa mit Joseph Goebbels  –, die jedoch meist dazu geführt hätten, die ideologische Differenz schärfer herauszustellen. Summarisch beschreibt er im Eintrag des 22. September 1945 das Schicksal seiner Bekannten aus der Zeit vor 1933 wie folgt: Die Nationalistenzirkel muten mich heute wie Kreise um Lagerfeuer vor dem Aufbruch an. Das war der eigentliche Ort; die Berliner Mansarden und Hamburger Keller gaben den Zeitstil ab. Am Morgen zerstreute sich die Runde, um sich zu bewähren, wie es in den Sagas heißt. Wer Glück hatte, fiel auf den Schlachtfeldern. Andere mußten über die Grenzen fliehen, wurden gehetzt, erschlagen, gehenkt, gefoltert oder zogen, umstellt, den Selbstmord vor. Sie wurden Befehlshaber, Polizeichefs, Statthalter, Aufrührer, Zuchthäusler und endlich wieder all dieser Bedeutungen entkleidet wie ein Spiel Karten, das man nach der Partie zusammenlegt.1

Auch Ernst von Salomon widmet der Erinnerungsarbeit sein erstes großes – und letztlich erfolgreichstes  – Nachkriegswerk. Der Fragebogen schildert, gegliedert nach dem Entnazifizierungsfragebogen der Alliierten, seine Autobiografie mit einem Schwerpunkt auf der Weimarer Republik und der NS -Zeit. Anlässlich eines Gesprächs über das Rathenau-Attentat, an dem er beteiligt war und dessentwegen er zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, legt von ­Salomon seinem Freund Hartmut Plaas folgende Worte in den Mund: Eigentlich war der einzige politische Nenner, auf den die gesamte ›nationale Bewegung‹ damals zu bringen war, negativ; es hieß: Schluß mit der Erfüllungspolitik! Darüber waren sich alle Gruppen und Grüppchen einig, wenn sie auch über sonst nichts einig waren. […] Es ließ sich denken, dass die nationale Bewegung immer breitere Ausmaße annehmen werde, dass sie allmählich so stark werde, zahlenmäßig,  – es bestand die Möglichkeit sehr wohl, dass sie einmal auf parlamentarischem Wege 1 Jünger, Ernst: Jahre der Okkupation, in: SW, Bd. 3, S. 547.

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zur Macht gelangen könnte, oder wenigstens durch ihr Gewicht bewirken könnte, der Erfüllungspolitik, die uns völlig an den Westen auszuliefern drohte, ein Ende zu machen. Aber einmal sah das ganz und gar nicht so aus, als würde die Entwicklung diesen Weg nehmen, und dann hätte diese Entwicklung – es ist die, die dann wirklich durch die Nationalsozialisten bestimmt wurde, – eben gerade die Dinge zur Voraussetzung gehabt, die wir, und nicht nur vom Temperamente her, unter allen Umständen verhüten wollten, die Entwicklung in die Breite, in die Masse und in die Massentendenz.2

Diese Liste an Erinnerungsliteratur in den 1950er Jahren, die von Mitgliedern der antidemokratischen Zirkel der Weimarer Republik verfasst wurde, ließe sich noch erweitern, etwa um Friedrich Hielscher (Fünfzig Jahre unter Deutschen, 1954) und Ernst Niekisch (Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse, 1958). Einer der wichtigsten Anlässe für diese Erinnerungsschriften und dem in ihnen zum Ausdruck kommenden Versuch, Deutungshoheit über das eigene politische und publizistische Handeln in der Zwischenkriegszeit zu erlangen, mag die 1949 in Basel verteidigte und 1950 erschienene Dissertation Armin Mohlers gewesen sein, spielen doch alle der oben genannten Autoren eine zentrale Rolle in diesem Werk. Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen3 stellt den Versuch dar, die unterschiedlichen antidemokratischen Strömungen unter dem Sammelbegriff der ›Konservativen Revolution‹ zusammenzufassen.4 Sie ist es auch, die dem Etikett ›Konservative Revolution‹ zu ihrer Präsenz vor allem im bundesrepublikanischen Diskurs verhalf. In der paradoxen Formel der ›Konservativen Revolution‹ nimmt Mohler ein Schlagwort auf, das in den politischen Diskussionen um 1930 zwar präsent, jedoch nicht als anerkannte Eigenbezeichnung etabliert war. Mit dem Schlagwort ›Konservative Revolution‹ leistet er somit eine ideengeschichtliche Vereinfachung, die die politischen und ideologischen Unterschiede zugunsten des Bildes einer einheitlichen Gruppierung verwischt.5 So gerät unter dem Sammelbegriff Moh2 Salomon, Ernst von: Der Fragebogen. 19. Auflage, Hamburg 2011, S. 106 [erstmals 1951]. 3 Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen, Stuttgart 1950. 4 Mohlers Replik auf die Erinnerungsliteratur der 1950er Jahre fällt meist scharf aus. So urteilt er in der 1972 erschienenen zweiten Fassung Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch über den Fragebogen: »Der Fragebogen genannt, weil dieser Erfolgsroman ja auf weite Strecken ein Rückblick auf die ›Konservative Revolution‹ ist. Er kann als ›Zeugnis‹ verstanden werden, nicht aber als historische Quelle, wie das neuerdings in Dissertationen geschieht« (Mohler: Die Konservative Revolution. Handbuch, S. 444 f.). Zu Hielscher vermerkt er: »[…] schließlich nach 1945 die sehr ichbezogene und etwas wirklichkeitsferne Autobiographie […] Fünfzig Jahre unter Deutschen« (ebd., S. 450). Und schließlich zu Niekisch: »Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse. […], die in ihrer Rechthaberei etwas monotone Autobiographie« (ebd., S. 465). 5 Volker Weiß stellt in seinem breit rezipierten Band Die autoritäre Revolte, Stuttgart 2017 die Attraktivität der ›Konservativen Revolution‹ als einheitlicher Bewegung heraus, bot sie doch der ›Neuen Rechten‹ in der Bundesrepublik einen idealen Anknüpfungspunkt, sich ideologisch von den Nationalsozialisten abzugrenzen. Er unterstreicht dies unter anderem

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lers Binnendifferenzierung in die fünf Subgruppierungen von »Völkischen«, »Nationalrevolutionären«, »Jungkonservativen«, »Bündischen« und »Landvolkbewegung« weitestgehend aus dem Blick. Stefan Breuer wendet deshalb in seiner Untersuchung Anatomie der Konservativen Revolution zu Recht ein: Jene, die nach ihm [Mohler] dieses Feld bestellten, waren sich bald zunehmend sicher, dass es in der Weimarer Rechten eine präzise abgrenzbare Diskursgemeinschaft mit einem Minimum an gemeinsamen Themen, Zielen und Methoden gab; dass dieses Minimum mit diskursiven Mitteln zu erschließen war; und dass sich als Bezeichnung hierfür kein Terminus besser eignete als derjenige der ›Konservativen Revolution‹.6

Eine kleine Begriffsgeschichte Der früheste Beleg des Begriffs ›Konservative Revolution‹7 fällt in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als Friedrich Engels aus einer zeitlichen Distanz von 15 Jahren den polnischen Novemberaufstand mit folgenden Worten charakterisierte: »[L]’insurrection de 1830 n’était ni une révolution nationale […] ni une révolution sociale ou politique; elle ne changeait rien à la situation intérieure du peuple; c’était une révolution conservatrice.« Zwei Jahre nach dem Krakauer Aufstand (1846) und auf der Höhe des Völkerfrühlings verspottete der Philosoph das polnische Aufbegehren gegen das Zarenreich als genuine Nationalrevolution, die der Merkmale des sozialen und politischen Umbruchs entbehrte, die für die französische Julirevolution (1830) sowie die sich anschließenden belgischen Entwicklungen kennzeichnend gewesen waren. Engels hob kritisch das adelige Milieu der polnischen Rebellionsführer hervor sowie die in der Tradition polnischen Freiheitsstrebens verankerten Forderungen, die in der Tat auf die Bewahrung herkömmlicher Herrschaftsformen abzielten.8 Somit kursierte der Begriff durch ein Alterszitat Mohlers (S. 47): »Meine Arbeit über die Konservative Revolution war dazu da, diese Sachen auseinanderzudividieren – Konservative Revolution und Nationalsozialismus. Es war schon sehr schwer zu unterscheiden; in der historischen Wirklichkeit überschneidet es sich schon sehr« (zit.: Mohler, Armin: Das Gespräch. Über Linke, Rechte und Langeweiler, Dresden 2001). 6 Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993, S. 2. 7 Begriffsgeschichten finden sich unter anderem bei Mohler: Die Konservative Revolution. Handbuch, S. 9–12; Kaufmann, Sebastian / Sommer, Andreas Urs u. a.: Nietzsche und die Konservative Revolution: Zur Einführung, in: Kaufmann, Sebastian / Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche und die Konservative Revolution (Nietzsche-Lektüren Bd. 2), Berlin / ​ Boston, 2018, S. 8. 8 Die Einschätzung von Engels findet in letzter Zeit erneut Bestätigung, indem der Novemberaufstand eine Einreihung in die Tradition des aristokratischen Widerstandes gegen den Monarchen erfährt, der dem Europa des ancien regime immanent war, im 19. Jahrhundert jedoch bereits antiquiert wirkte. Engels verstand es somit, zwischen dem Erbe der Französischen Revolution (1789) und der Tradition adeliger Konföderationen (Fronden) zu differenzieren. Vgl. Janowski, Maciej: Narodziny inteligencji 1750–1831, Bd. I, in: Jedlicki, Jerzy: Dzieje inteligencji polskiej do roku 1918, Bde. 1–3, Warszawa 2008.

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›Konservative Revolution‹ in der Ideenwelt Europas bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ohne jedoch auch nur annähernd die semantische Besetzung zu erlangen, die er im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte. Diese semantische Besetzung bedeutete zwar zunächst zwischen 1919 und 1950 keineswegs eine begriffsgeschichtliche Schärfung, fand jedoch mit Thomas Manns Russischer Anthologie (1921) eine rasche Verbreitung in Deutschland.9 Eine endgültige Popularisierung der Formel ›Konservative Revolution‹ erfolgte mit Hugo von Hofmannstahls Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927), in der er über die Möglichkeit einer deutschen Kulturnation nach französischem Zuschnitt nachdenkt. Anfang der 1930er Jahre bediente sich ­Edgar Julius Jung des Begriffs im Aufsatz Deutschland und die konservative Revolution, auch floß der Begriff in die Schriften Franz von Papens ein – etwa in die Marburger Rede vom 17. Juni 1934.10 Während der Zeit des Nationalsozialismus sorgte vor allem das im Exil veröffentlichte Buch Hermann Rauschnings Die konservative Revolution. Versuch und Bruch mit Hitler / Make and Break With the Nazis. Letters on a Conservative Revolution (1941) für eine internationale Etablierung des Begriffs, wobei er zusätzlich durch Detlev W. Schumanns Aufsatz Gedanken zu Hofmannstahls Begriff der ›Konservativen Revolution‹ (1930) beeinflusst wurde.11 Ein gesondertes Kapitel bildet die Frage nach der problematischen Entfaltung des Begriffs ›Konservative Revolution‹ innerhalb des von Herman Schmalenbach und Karl Jaspers betreuten Dissertationsprojektes von Armin Mohler (1950), die von Matthias Schloßberger akribisch rekonstruiert worden ist.12 Schloßbergers Verdienst liegt u. a. in der Ausarbeitung der Differenzen zwischen Ernst Jünger und seinem Sekretär Armin Mohler.13 Mohlers Arbeit, die 9 Dass Thomas Mann den Begriff wohl vor allem von den Autoren der Zeitschrift »Das Gewissen« bezieht, zeigt Schloßberger, Matthias: Rekonstruktion der ›Konservativen Revolution‹: Nietzsche  – Jünger  – Mohler, in: Kaufmann / Sommer: Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 537–572, hier S. 541. 10 »Ich habe am 17. März 1933 in Breslau darauf hingewiesen, dass sich in den Nachkriegsjahren eine Art von konservativ-revolutionärer Bewegung entwickelt hat, die sich vom Nationalsozialismus wesentlich nur durch die Taktik unterschied. Da die deutsche Revolution gegen die Demokratisierung und ihre verhängnisvollen Folgen kämpfte, so lehnte der neue Konservatismus folgerichtig jede weitere Demokratisierung ab und glaubte an die Möglichkeit des Ausschaltens pluralistischer Kräfte von oben.« Rede des Vizekanzlers von Papen vor dem Universitätsbund, Marburg, am 17. Juni 1934, Berlin 1934, S. 5. 11 Vgl. Kunicki, Wojciech: Rewolucja konserwatywna w Niemczech 1918–1933, Poznań 1999, S. 14. Vgl. auch Mohler: Die Konservative Revolution. Handbuch, S. 191. 12 Schloßberger: Rekonstruktion der ›Konservativen Revolution‹, S. 537–572. 13 So schreibt Jünger in seinem Addendum zum 1949 erschienenen Roman »Heliopolis«, Das Haus der Briefe, aus dem Jahr 1951: »Es hatte sich erwiesen, dass die Rückkehr zum Naiven, zum Traumhaften des Burgenlandes nicht möglich war, nicht in der Monarchie und nicht im Adel, auch nicht im Priester- und Bauernstand. Bereits das Wort ›konservativ‹ war von bewußter Erinnerung getragen, von einem Gefühl des Mangels, des Fehlenden. Aus diesem Grund mußte jede konservative Revolution ins Leere stoßen und nach dem Vorbild der Polignacschen Ordonanzen scheitern, das hatte sich immer

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sich an zentralen Stellen auf Nietzsche beruft, ihn jedoch eher als Stichwortgeber nutzt, komme aus drei Gründen eine zentrale Position zu: Der erste sei die umfangreiche Quellensammlung, die in den folgenden Fassungen jeweils überarbeitet und erweitert wurde, zweitens sei Mohler der erste, der mit seiner Studie den Begriff der ›Konservativen Revolution‹ als ein Forschungskonzept etablierte, drittens habe Mohler »mit seiner ›Konservativen Revolution‹ eine von ihm selbst affirmierte, (nach eigenem Verständnis) in der historischen Entwicklung noch nicht zur vollen Verwirklichung gelangte Bewegung beschrieben, die für die extreme deutsche Rechte nach 1945 von großer Bedeutung war«.14 Der Begriff der ›Konservativen Revolution‹ ist also aus mehreren Gründen kein unproblematischer, weshalb in der gegenwärtigen Forschung immer wieder Ersatzbegriffe Verwendung finden, wie etwa der der ›Neuen Konservativen‹ oder der ›Neue Nationalisten‹. Der vorliegende Band entscheidet sich trotz dieser Ausführungen für eine, wenn auch nicht affirmative Nutzung des Begriffs, ist er in der gegenwärtigen Forschung doch so etabliert, dass er eine bessere Einordnung in den gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs ermöglicht als denkbare Alternativbegriffe. Um die Funktion als begriffliches Werkzeug herauszustellen und der oft problematischen Begriffsgeschichte Rechnung zu tragen, haben wir uns jedoch für eine Schreibweise in Anführungszeichen entschieden.

›Konservative Revolution‹ und Literatur In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion um die Literatur der ›Konservativen Revolution‹ zeichnen sich zwei Beschreibmodelle ab, die den Grundtenor der wissenschaftlichen Debatte bestimmen. Auf der einen Seite steht eine ideologiekritische Strömung, die vornehmlich der Frage nach den Verbindungen der Literaten der ›Konservativen Revolution‹ zum Faschismus und Nationalsozialismus nachgeht beziehungsweise die Frage der Verantwortung für die Katastrophe der NS -Verbrechen erörtert. Eine entscheidende Rolle spielen dabei neben biografischen Verbindungen und Kontinuitäten vor allem die unumstritten vorhandene Gewaltfaszination innerhalb der Literatur der ›Konservativen Revolution‹ sowie die teils offen antisemitischen und rassistischen Äußerungen einzelner Vertreter. Auch verschwimmen im elitistischen Menschenbild, wie es in der Ästhetik des »heroischen Realismus« zutage tritt, die Grenzen zur politischen Ästhetik des Faschismus. wiederholt. Dagegen trug jeder Einzelne diese Schicht tief in sich, wenngleich sie nur mit dem Schlüssel des Bewusstseins aufzuschließen war. Man konnte ihm die Jugend nicht wiedergeben, doch die Erinnerung. Im Grunde wollte der Mensch auch nicht zurück. Er zog Erkenntnis, Vergeistigung, auch unter Schmerzen, vor.« Jünger, Ernst: Das Haus der Briefe, Olten 1951, S. 26 f., zit.: Schloßberger: Rekonstruktion der ›Konservativen Revolution‹, S. 566. Dieser Absatz ist in den »Sämtlichen Werken« stark überarbeitet worden. 14 Ebd., S. 544.

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Demgegenüber steht die Argumentationsweise einer historisierend-hermeneutisch argumentierenden Interpretationsströmung, die der moralischen Wertung aus der sicheren zeitlichen und räumlichen Distanz eine (literatur) historische Kontextualisierung einschlägiger Texte entgegenstellt. Helmuth Kiesel vermochte auf diese Weise etwa den »Ultraradikalismus«, wie er sich in verschiedenen Äußerungen Ernst Jüngers in der Zeit um 1930 Bahn bricht, in einen größeren literaturhistorischen Kontext zu stellen. Die Radikalität ausgewählter Korrespondenzen lässt kaum etwas zu wünschen übrig, so heißt es etwa in einem Brief Jüngers an den Journalisten Ludwig Alwens: […] wir brauchen keine Wähler, sondern Krieger, keine Stimmzettel, sondern Pulver und Gewehre. […] Wir brauchen einen Menschenschlag, der zugleich eine anarchistische Haltung zur Gegenwart und eine heroische zur Zukunft besitzt. Alles, was nicht auf einen neuen Krieg hinzielt, interessiert uns nicht. Wir wollen kein soziales oder ökonomisches Opium, sondern Mord und Totschlag. Wir müssen die Demokratie benutzen, um ganz Deutschland in eine große Kaserne zu verwandeln, die es ja tatsächlich schon ist, nämlich eine Mietskaserne, in der man entweder so oder so verrecken kann. Da wir aber lieber durch Dynamit umkommen wollen als durch Unterernährung, sind wir auf die totale Mobilmachung angewiesen, die durch den Übergang zur Herrschaft oder durch den Untergang beendet wird. […] Ich hoffe, dass man schon in drei Jahren auf den Straßen um Gewehre schreien wird. Bis dahin müssen wir unsere Forderungen aufgestellt haben, die nicht an den Maßstäben der französischen Revolution, sondern an denen von Dschingis-Khan gemessen sein müssen.15

Dieses bereits von seiner Anlage her künstlich wirkende Manifest ordnet Kiesel in den radikalen Denkstil der Epoche ein: Als wichtigstes Argument dient hier zunächst Jüngers Zurückhaltung, sobald es um eine praktische Umsetzung seiner Rhetorik ging; er engagierte sich weder in der Zeit der Landvolkbewegung-Attentate noch in der Realisierung politischer Ideen ab 1933. Eine ähnliche Diktion findet sich zudem in Werken politisch unverdächtiger Autoren: So hängt etwa der Protagonist von Hermann Hesses Steppenwolf (1927) Vernichtungsphantasien vom Annihilieren der Warenhäuser und Kathedralen nach und ergötzt sich an der »Hochjagd auf Automobile«. Die avantgardistisch-surrealistische Fundierung, wie sie sich in solchen Gewaltvisionen Bahn bricht, muss berücksichtigt werden, will man dem literarischen Anspruch dieser Autoren gerecht werden und jenseits der ausgetretenen Pfade historisch-politischer Interpretationen neue Zugänge zu den Werken finden. Zugleich gilt es, das Faszinosum einer Ästhetik der Gewalt zu erfassen, die eine vorläufige Kanonisierung einzelner Werke der ›Konservativen Revolution‹ in der Zeit des Nationalsozialismus begünstigte.

15 Jünger, Ernst: Brief an Ludwig Alwens vom 30. August 1930, DLA Marbach, Nachlass Jünger, zit.: Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Eine Biographie, München, S. 324 f.

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Als Beginn des Untersuchungszeitraums dieses Sammelbandes kann das Jahr 1919 gelten: im Januar 1919 fanden die ersten Wahlen statt, die der Weimarer Republik ihr politisches Gesicht verliehen. Von Beginn an musste sich die junge Republik jedoch gegen Aufstände zur Wehr setzen, die nicht nur aus der prekären Situation im Nachkriegsdeutschland resultierten, sondern sich auch an dem als Schmach empfundenen Versailler Vertrag entzündeten, der am 28. Juni 1919 unterzeichnet wurde. Auch wenn viele der im Folgenden zur Debatte stehenden Werke aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, dem Beginn der 1930er Jahre oder sogar aus der Nachkriegszeit stammen, so liegt in der politischen Konstellation 1919 doch vielfach der Grund für die Frontstellung, wie sie in den Texten der ›Konservativen Revolution‹ zutage tritt. Sie ist ein Aufstand gegen die Demokratie, gegen das Parteiensystem, gegen ein aufstrebendes Bürgertum, gegen den Verlust des Krieges und ein Unterwerfen Deutschlands unter die anderen europäischen Mächte. Dies sind nun alles Bereiche, die den Historiker, den Soziologen, den Politikwissenschaftler und an einigen Stellen vielleicht auch den Rechtshistoriker und Philosophen bewegen mögen. Welche Aufgabe übernimmt in diesem Zusammenhang die Literaturwissenschaft? Wie kann man sich dem Verhältnis von ›Konservativer Revolution‹ und Literatur nähern? Und welche Literaten können überhaupt zum Untersuchungsfeld gezählt werden?

Literaten bei Mohler und Weißmann Die Gruppe an Literaten, die für eine Untersuchung unter dem Titel Die Literatur der ›Konservativen Revolution‹ infrage kommen, lässt sich auf unterschiedliche Weise konturieren: Der erste Weg folgt der Arbeit Mohlers, die sich bis in die 2005 erschienene Neufassung des seit 1972 als Handbuch firmierenden Werks durch Karlheinz Weißmann neben einer weltanschaulichen vor allem eine an Personen und ihren Werken orientierte Strukturierung vornimmt. In Mohlers Erstveröffentlichung seiner Dissertation aus dem Jahr 1950 findet sich bereits das Kapitel »Dichter, Philosophen und Wissenschaftler«, in dem er den Typus des »Dichter-Denkers« einführt: Die Verfasser, welche im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen, haben wir als ›Dichter-Denker‹ […] umschrieben, die irgendwo zwischen Dichtung, Philosophie und Wissenschaft im alten Sinne mitten drin stehen. […] Es finden sich etwa unter den Verfassern, welche für die Erkenntnis der ›Konservativen Revolution‹ als eines deutschen politischen Ereignisses infrage kommen, solche, die der Dichtung im alten Sinne noch recht nahestehen.16

16 Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland. 1918–1932. Grundriß einer Weltanschauung. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel, Stuttgart 1950, S. 73.

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Zu diesen zählt Mohler etwa Stefan George, »einen der wichtigsten Bahnbrecher der ›Konservativen Revolution‹« und die »letzte Verkörperung jener Gestalt des Dichters, wie sie in Deutschland von Klopstock neuerweckt worden ist«.17 Im George-Kreis hingegen zeichne sich ein Punkt ab, »von dem Dichtung, Philosophie und Wissenschaft wohl alle drei gleich weit oder gleich nah entfernt sind«.18 Je mehr die Texte noch »Dichtung im alten Sinne« seien, desto unergiebiger seien sie für seine Studie: »In den Einzelheiten […] wirken bei Dichtungen noch andere Gesetzmäßigkeiten mit, welche das Wesen der ›Konservativen Revolution‹ nicht so rein hervortreten lassen.« Die Literatur erscheint bei Mohler somit als einerseits zentral für den Gegenstand seiner Studie, zugleich jedoch als ungenügend für eine Systematisierung.19 Doch lasse sich die historische Entwicklung an einzelnen Werken, etwa den Gedichten Gottfried Benns, ablesen. Zugleich bedient sich Mohler jedoch im dritten Teil seiner Studie, in dem er die ›Konservative Revolution‹ nach Nietzscheanischen »Leitbildern« zu gliedern sucht, ausgiebig an literarischen Beispielen, vor allem im Kapitel »Der Große Mittag«. Der Große Mittag bezeichne »jene Welt […], wo alles wieder Gegenwart geworden«20 sei. Ein ähnliches Bild entdeckt Mohler bei Theodor Fontane21 und Stefan George22 und kommt schließlich zu dem Schluss: »Wo darum in der Dichtung von der ›Wildnis‹ die Rede ist, steht das Bild des ›Großen Mittags‹ dahinter.« Gewährsmann für diese Behauptung ist ihm Friedrich Georg Jünger, aus dessen Gedichten – vor allem aus dem 1947 erschienenen Band »Die Perlenschnur« – er in extenso zitiert. Im daran anschließenden Abschnitt unter der Überschrift »Die Wiedergeburten« verweist er schließlich noch mit ausführlichem Zitat auf Gottfried Benns Gedicht Schädelstätten und Günther Eichs Aurora und erhebt Benns Dichtung »zur eigentlichen Dichtung des Interregnums«, da »in ihr das alte Weltbild bis in Satzbau und Wortschatz hinein sich in seine Teile zersplittert und dass diese Teile durcheinander zu kreisen beginnen«.23 17 Ebd. 18 Ebs., S. 74. 19 Doch gebe es wenige Ausnahmen, die für die Studie aufgrund der Nähe zu ihrem Untersuchungsgegenstand interessant seien (S. 74): »Beispiele dafür wären etwa Erwin Guido Kolbenheyer mit seiner Bauhütten-Philosophie, Paul Ernst mit theoretischen Werken in der Art von Der Zusammenbruch des Marxismus, Hans Grimm mit Schriften wie Der Schriftsteller und die Zeit oder selbst Hermann Burte mit seinem Wiltfeber.« 20 Ebd., S. 131. 21 Mohler bezieht sich auf folgende Beschreibung des Stechlinsees: »Alles still hier [am See]. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an eben dieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich’s auch hier, und ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe.« Vgl. Fontane, Theodor: Der Stechlin, Berlin 1899, S. 3. 22 Mohler bezieht sich hier in erster Linie auf die Wildnis in der Alterdichtung Georges, vor allem auf das Gedicht Der Mensch und der Drud. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Sandro Gorgone in diesem Band. 23 Mohler: Die Konservative Revolution. Handbuch, S. 138.

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Die Interpretation von Literatur ermöglicht Mohler, seine These der großen Wirkung Nietzsches auf die ›Konservative Revolution‹ mit Belegen zu versehen; die Tatsache, dass er für diesen Beweis nicht auf die ›Weltanschaungsliteratur‹ zurückgreift, sondern auf eine punktuell angelegte Interpretation literarischer Texte, ist auffällig. Auch in den späteren Auflagen bleibt die Literatur ein zentraler Bezugspunkt für die Konstitution der ›Konservativen Revolution‹ als intellektueller Gruppierung. In dem Bildteil, der in der von Volker Weißmann neu verfassten sechsten Auflage von Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932 neu hinzugekommen ist, werden auf der ersten Seite offensiv Autoren präsentiert, die wir heute vor allem aufgrund ihrer Romane und Gedichte kennen: Hugo von Hofmannsthal, Stefan George, Gottfried Benn, Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Hans Fallada, Hermann Löns, Rudolf Binding und Paul Alverdes. Erst auf der folgenden Seite finden sich die Personen, die man beim Begriff der ›Konservativen Revolution‹ eher erwarten würde, angefangen mit Arthur Moeller van den Bruck, Wilhelm Stapel, Friedrich Hielscher, Carl Schmitt und den Brüdern Ernst und Friedrich Georg Jünger. Auf den folgenden Seiten finden sich zudem Thomas Mann, Arnolt Bronnen und Erwin Kolbenheyer. Der Blick auf diese Bildtafel lässt die ›Konservative Revolution‹ als Bewegung erscheinen, die in den Kern der Klassischen Moderne zielt. Dieser Zugang folgt einer Gruppenzuweisung durch Dritte, die nicht unbedingt mit der Selbstbeschreibung der einzelnen Autoren übereinstimmen muss. Einer ausschließlichen Orientierung an Mohler und Weißmann steht der biografische Zugang gegenüber, der die Literaten untersucht, die sich innerhalb eines bestimmten Netzwerks bewegten, bestimmte Ideen vertraten, sich durch ihre Worte und Taten den antidemokratischen Strömungen zurechnen lassen, jedoch  – zumindest in der Weimarer Republik  – nicht den Nationalsozialisten zuzurechnen sind. Als besonders produktive Gattungen für diese Form der Untersuchung zeichnen sich, neben autobiografischen Zeugnissen, Texte aus, die der sogenannten Weltanschauungsliteratur zuzurechnen sind.24 Diesen Weg wählt im vorliegenden Band etwa Björn Thesing, der in seinem Beitrag den Einfluss des Literaturnobelpreisträgers und Jenaer Philosophieprofessors Rudolf Eucken auf Hugo von Hofmannsthals Denken und die Attraktivität des Neoidealismus für verschiedene Akteure der ›Konservative Revolution‹ herausarbeitet. Als dritter Untersuchungsweg rückt der über literarische Texte in den Blick, der nach einer distinkt ›konservativ-revolutionären‹ Ästhetik, Motiv- und Stilprägung, nach einer bestimmten Form von Figurenzeichnung und Handlungsmustern mit zugleich traditionellen als auch zum Umsturz strebenden Tendenzen fragt. Dies ist der wohl komplizierteste Weg, lassen sich literarische Texte in ihrer Polysemie doch meist nicht auf eine eindeutige politische Idee 24 Zu diesem Begriff vgl. Thomé, Horst: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt, Tübingen 2002, S. 338–380.

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reduzieren.25 Zugleich drängt sich die Frage nach der formellen Seite  – nach Vorlieben für Gattungen, Medien und Gestaltungsmittel  – auf: Es lässt sich keine für die ›Konservative Revolution‹ spezifische Gattung bestimmen, doch kann möglicherweise das Verwischen von Gattungsgrenzen – zwischen Roman und Erlebnisbericht, zwischen politischem Traktat und Utopie, zwischen Essay und Agitation – als typisch gelten. Für eine adäquate literaturhistorische Einordnung ist zum einen nach den Traditionsbezügen zu fragen, die in den Schriften der konservativrevolutionären Schriftsteller zu finden sind, zum anderen ist ihre Position im zeitgenössischen literarischen Feld zu bewerten.

Schreiben zwischen Traditionalismus und Avantgarde Die Überführung des Begriffs ›Konservative Revolution‹ in literaturwissenschaftliche Kategorien kann durch die beiden entgegengesetzten Tendenzen von Tradition bzw. Traditionalismus26 und Avantgarde geleistet werden. Diese Grundspannung zwischen Technikaffirmation und -ablehnung, gesellschaftlicher Utopie und Modernekritik, Elitismus und Popularisierung setzt sich auch in der Ästhetik fort, für deren Beschreibung Ernst Osterkamp den Begriff der ›Konservativen Avantgarde‹ einführt.27 Als zentrales Konzept ästhetischer Selbststilisierung der ›Konservativen Revolution‹ führt Werner Best 1930 den Begriff des »Heroischen Realismus« ein.28 Dieser beschreibt eine Haltung, wie sie etwa in Oswald Spenglers Einleitung zu Jahre der Entscheidung zutage tritt: Größe und Glück sind zweierlei, und die Wahl steht uns nicht offen. Glücklich wird niemand sein, der heute irgendwo in der Welt lebt; aber es ist vielen möglich, die Bahn dieser Jahre in Größe oder in Kleinheit zu durchschreiten. Indessen, wer nur Behagen will, verdient es nicht, da zu sein.29

Die Absage an individuelles Glück zugunsten elitärer Größe wird durch den »verlorenen Posten« verbildlicht  – dem Soldaten, der alleine an exponierter Stelle ausharrt.30 Diese Idealisierung des Heroismus gehe, folgt man Christoph 25 So konnte etwa Barbara Beßlich in ihrer Studie zu Thomas Manns Rezeption von Oswald Spengler zeigen, wie Mann seinen »Zauberberg« in Faszination und Abwehr gegenüber der im »Untergang des Abendlands« geäußerten Ideen Spenglers gestaltete. 26 Zum Begriff des Traditionalismus vgl. Sedgwick, Mark: Against the Modern World. Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century, Oxford / New York 2004, S. 21 f. 27 Osterkamp, Ernst: »Konservative Avantgarde«? in: Zeitschrift für Germanistik 8 (1998), S. 7 f. 28 Best, Werner: »Der Krieg und das Recht«, in: Ernst Jünger (Hg.): Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 135–161. 29 Spengler, Oswald: Jahre der Entscheidung, München 1933, S. VII . 30 Zur Metapher des »verlorenen Postens« siehe: Lothar Bluhm: Der »Verlorene Posten« in der Literatur, in: Wirkendes Wort 37 (1987), S. 399–406; Ders.: Auf verlorenem Posten.

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Schweer, jedoch nicht unbedingt aus der konkreten Kriegserfahrung hervor, sondern aus einer »unerfüllten Glaubenssehnsucht« konservativen Denkens: »Die zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Hinwendung zu Heldentum und Heroismus ist als Antwort auf die bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Verunsicherung im Dasein zu verstehen.«31 Grzegorz Kowal untersucht in seinem Beitrag, inwiefern Nietzsches Betrachtungen bezüglich des Krieges und des Heroismus von den Vertretern der ›Konservativen Revolution‹ vereinnahmt wurden, etwa in der von Elisabeth Förster-Nietzsche entstellten Fassung, und inwiefern Nietzsche der Bewegung kreative und gewichtige Impulse lieferte. Auch wenn das Fronterlebnis und der verlorene Krieg oft zum Urereignis der ›Konservativen Revolution‹ stilisiert werden, so lassen sich doch Kontinuitäten bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus feststellen. Maciej Zakrzewski verdeutlicht in seinem Beitrag im vorliegenden Band, dass die ›Konservative Revolution‹ in einer langen, gesamteuropäischen ideologischen Tradition steht und sich intensiv mit bereits etablierten Konzepten des Konservatismus (Edmund Burke, Joseph de Maistre)  und der Konterrevolution (Juan DonosoCortes) auseinandersetzt. Neben dieser offensichtlichen Traditionslinie ist eine weitere Wurzel der ›Konservativen Revolution‹ mit Sicherheit in der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwendezeit zu suchen, die nach tragfähigen Alternativen zur kleinbürgerlichen Lebensweise des Wilhelminischen Reichs Ausschau hielt. Ein prägendes Generationserlebnis bescherte zahlreichen der künftigen ›konservativen Revolutionäre‹ die Wandervogelbewegung, die wichtigste Strömung der in mannigfaltige Splittergruppen geteilten Jugendbewegung.32 Folgt man Wojciech Kunicki, so bildete die Wandervogelbewegung eine Art Quintessenz der konservativ-revolutionären Haltungen, deren Programm sich nicht in der Ablehnung und Negation erschöpfte, sondern in erster Linie in der Rekonstruktion direkter Bindungen, die in der Sozialsphäre die Natur nachahmen sollten.33

Ein Blick in die Geschichte eines Idioms, einer Rede, einer Metapher und eines literarischen Topos, in: Michael Prinz, Ulrike Richter-Vapaatalo (Hg.): Idiome, Konstruktionen, »verblümte rede«. Beiträge zur Geschichte der germanistischen Phraseologieforschung, Stuttgart 2012, S. 401–415. 31 Schweer, Christoph: Nietzsche und der Heroische Realismus in der Konservativen Revolution, in: Kaufmann / Sommer: Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 67–101, hier S. 69. 32 So schreibt etwa Arnolt Bronnen in seinem Erinnerungsbuch Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll (Hamburg 1954, S. 30): »Die jungen Menschen kamen alle vom Wandervogel her und lehnten jene bürgerlich konventionelle Abart des Wynekenschen Gedanken-Gutes, die sich Freideutsche Jugend nannte, als intellektuell, undeutsch, unecht ab. Ihre Götter waren Nietzsche, Houston Stewart Chamberlain und der Zupfgeigenhansl.« 33 Kunicki, Wojciech: Rewolucja i regres. Radykalizm wczesnej twórczości Ernsta Jüngera, Kraków 2019, S. 40 f.

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In dieser Rückbindung an die Natur rückte besonders die Literatur der Romantik als Vorbild für das eigene Schreiben in den Blick: Der Literaturhistoriker Paul Kluckhohn fasste die Romantik in seiner 1924 erschienenen Schrift Die deutsche Romantik als »eine der Quellen des geistigen Kampfes der Gegenwart gegen einseitigen Rationalismus und rechnerische Wertempfindung, gegen seelenlose Kultur und Vorherrschaft des Wirtschaftlichen.«34 Die Wiederentdeckung der Romantik in den 1920er Jahren und ihre damit verbundene Aktualität umschrieb der Historiker Georg von Below im folgenden Jahr als »Hervorhebung des Werts des Natürlichen, Gewachsenen, Heimischen gegenüber dem Erkünstelten, bewusst Geschaffenen, von außen her Übertragenen oder gar Aufgezwungen, einer Harmonie der Teile mit dem Ganzen, des Gehaltes mit der Form.«35 Dieses Romantikbild weist Parallelen zu den im vorliegenden Band behandelten Autoren und Werken auf, die weit über eine reine Aufklärungskritik oder die Gleichsetzung der Romantik mit der Entdeckung eines deutschen ›Nationalgeists‹ hinausgehen. Am stärksten rezipiert wurden wohl die Werke von E. T. A. Hoffmann, Novalis, Friedrich Hölderlin, sekundiert von Heinrich Kleist, Karl Gerstenberger und Edgar Allan Poe, wobei die literarhistorische und ideengeschichtliche Beurteilung zwischen Ablehnung und Affirmation schwankte.36 So zeigt Ewa Szymani exemplarisch anhand des Konzepts der Innerlichkeit die Bezugnahme Martin Heideggers auf Hölderlin auf. Wojciech Kunicki wiederum erhellt die Bezüge zur russischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Dostojewski-Übersetzung Arthur Moeller van den Brucks. Besonders in ihrer Technikkritik profitieren die Autoren von dem romantischen Beschreibmuster einer »Dämonie der Technik«37. Im Technikdiskurs der ›Konservativen Revolution‹ setzt sich der Zwiespalt zwischen Traditionalismus und Avantgarde fort, wobei – im Unterschied zu anderen Vertretern der 34 Kluckhohn, Paul: Die deutsche Romantik, Bielefeld / Leipzig 1924, S. 286, zit.: Hans-Christof Kraus: Frühromantik und Kritik der Moderne, in: Criticon 143, Juli / August / September 1994, S. 142. 35 Below, Georg von: Über historische Periodisierungen. Mit einer Beigabe: Wesen und Ausbreitung der Romantik, Berlin 1925, S. 100, zit.: Hans-Christof Kraus: Frühromantik und Kritik der Moderne, in: Criticon 143, Juli / August / September 1994, S 142. 36 Besonders aufschlussreich ist etwa die Kritik des italienischen Philosophen Benedetto Croce aus dem Jahre 1932, die auffällige Parallelen zu den beinahe 15 Jahren zuvor erschienenen Ausführungen Carl Schmitts zur »Politischen Romantik« aufweist: »Tatsächlich besaß die Gefühlsromantik des Weltschmerzes weder den alten noch den neuen Glauben, hing weder der vergangenen Autorität noch der neuen Helligkeit mit entsprechender sittlicher Gemütsverfassung an und offenbarte sich eben dadurch als ein Mangel an Glauben, […] als unbefriedigte Ruhelosigkeit und Suche zwischen jeweils vorgeschlagenen und alsbald verlassenen Normen des Denkens und Lebens.« Croce, Benedetto: Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, 1932 (dt. Zürich 1935), S. 40 f., zit: Hans-Christof Kraus: Frühromantik und Kritik der Moderne, in: Criticon 143, Juli / August / September 1994, S 141. 37 Friedrich Georg Jünger: E. T. A. Hoffmann, in: Widerstand 9, 1934, H. 11, S. 376–383.

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Moderne  – spätestens am Ende der 1920er Jahre der Schwerpunkt auf Seite des Technikpessimismus liegt.38 Dieser verbindet sich oft mit einer Absage an sämtliche Formen von Fortschrittsglauben; neben der Technik gerät auch der Wissenschaftsoptimismus unter Generalverdacht und verbindet sich mit einer antikapitalistischen und antiliberalen Grundhaltung.39 So schreibt etwa Friedrich Georg Jünger 1931 an seinen Bruder Ernst: Wenn mir die Wissenschaft und Wissenschaftler verhaßt sind, so doch nur deshalb, weil sie ganz und gar dem Sicherheitsbedürfnis des homme bourgeois dienen. Das ist der Grund, warum ich die Technik, die Maschine nicht rein genießen konnte. Aber die Maschine hat einen Januskopf, dessen martialische Schönheit mir aufgegangen ist.40

Aus dieser Grundhaltung erwächst, wie Maciej Walkowiak am Beispiel von Oswald Spenglers Konzept des preußischen Sozialismus und der Schriften Ernst Niekischs zeigen kann, eine Affinität zu kollektivistischen Ideologien, die bei der Bewertung der ›Konservativen Revolution‹ als rechter Bewegung oft übersehen werden. Dass sich die Technikkritik auch im metaphorischen Raum von ›Natur‹ und ›Wildnis‹ manifestiert, macht Sandro Gorgone in seinem Beitrag zu ausgewählten Texten von Stefan George und der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger deutlich. 38 Die fortschrittskritische Haltung tritt etwa in Ernst Jüngers Essay Die Maschine (1925) hervor: »Es lebt aber auch in uns eine tiefe Angst vor diesem technischen Apparat, vor diesem Hexenbesen, den wir in Bewegung gesetzt zu haben glauben, und dessen Wirkungen wir ratlos wie die Zauberlehrlinge gegenüberstehen. Wo diese Angst sich bewußt äußert, begründet sie sich damit, dass das alles ein Ausfluß des zweckmäßig denkenden Gehirns wäre, und dass unter einer auf den materiellen Vorteil gerichteten Welt eine tiefere hoffnungslos zugrunde ginge. Unter dem neuen Geschlecht, das instinktiv und das Erlebnis des Krieges aufgewühlt eine scharfe Wendung nach der Seite des Blutes vornimmt und daher sich einer verstandesmäßigen Weltanschauung zu entwinden strebt, ist diese Angst besonders ausgeprägt.« Ernst Jünger: Die Maschine, in: Sven Olaf Berggötz (Hg.), Ernst Jünger: Politische Publizistik 1919–1933, Stuttgart 2001. 39 Diese technikkritische Haltung assoziiert Ralf Heyer in einem Beitrag über Friedrich Georg Jünger mit »der Anregung durch die antiwestlichen Positionen des Nationalbolschewisten Ernst Niekisch«. Vgl. Heyer, Ralf: »Verfolgte Zeugen der Wahrheit«. Das literarische Schaffen und das politische Wirken konservativer Autoren nach 1945 am Beispiel von Friedrich Georg Jünger, Ernst Jünger, Ernst von Salomon, Stefan Andres und Reinhold Schneider, Berlin 2008, S. 47. 40 Jünger, Friedrich Georg: Brief an Ernst Jünger vom 11. Dezember 1931, DLA-Marbach Nachlass Ernst Jünger, zit. Fröschle, Ulrich: Technik, Wissenschaft und Glaube – zwei wiederentdeckte Texte der Brüder Jünger von 1927 und 1933, in: Strack, Friedrich (Hg.): Titan Technik, Würzburg 2000, S. 146. Es sei in diesem Zusammenhang auf die Rolle Friedrich Georg Jüngers als »Ideen- und Stichwortgeber« für seinen Bruder Ernst sowie auf die Anerkennung seitens Martin Heideggers hingewiesen, der Jüngers Gedankengänge in die philosophische Debatte einführte. Darüber hinaus flossen zentrale Ideen Jüngers in die deutsche Umweltschutzbewegung ein und stellten somit ein Nachleben von Ideen der ›Konservativen Revolution‹ dar.

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Die antimoderne Grundhaltung verschließt sich somit nicht den literarischen Neuerungen der Moderne. Alexander Michailowski zeigt in seinem Beitrag, wie Stefan George und sein Kreis in Form einer politischen Theologie zu zentralen Stichwortgebern für Autoren der ›Konservativen Revolution‹ wurden. Der von Franz Schauwecker herausgegebene Band Mondstein. Magische Geschichten kann als eines der frühen Zeugnisse des »Magischen Realismus« gelten; das Alltagserlebnis wird hier für den Eingeweihten zum Zugang in ungekannte Welten, wobei sich der elitäre Anspruch der ›Konservativen Revolution‹ in der Begegnung mit dem Irrationalen fortsetzt: »Dem Ungewöhnlichen zu verfallen, ist für die Gewöhnlichen nicht schwer. Nur für die Alltäglichen muß man die Festlichkeiten bemühen, um sie in einen Rausch zu versetzen, dessen Ergebnisse dann sehr alltäglich sind.«41 Dass in diesem wie in vergleichbaren Sammelbänden ein Bemühen einzelner Autoren(gruppen) deutlich wird, nicht nur als weltanschaulich, sondern auch als ästhetisch avancierte Schriftsteller und als mehr oder weniger stabiles Netzwerk wahrgenommen zu werden, beschreibt Joana van de Löcht in ihrem Beitrag. Anna Gajdis zeigt in ihrem Aufsatz die Literarisierungsstrategien von Sphären des Ursprünglichen, die unter der Feder Ernst Wiecherts eine eindrucksvolle Ausgestaltung erfahren. Die Einstellung zur Natur, Anklänge an die ger­manische Mythologie und archaische Vorzeit, Zivilisationskritik und Kriegserlebnis im Werk Wiecherts werden berücksichtigt. Gajdis geht der gewichtigen Frage nach den neuheidnischen Kultelementen und der religiösen Wende im Leben des Schriftstellers nicht aus dem Weg. Helmuth Kiesel rollt das komplexe Problem vom Verhältnis der ›Konservativen Revolution‹ zum Nationalsozialismus auf, indem er sich um den Nachweis der Distanz beider Phänomene zueinander bemüht. Über die sorgfältige Lektüre der Aussagen von Thomas Mann analysiert Kiesel die Begrifflichkeit der ›Konservativen Revolution‹ und die Möglichkeiten der literarischen Realisationen ihrer Ideen in den dreißiger Jahren. Dieser Frage geht der Forscher am Beispiel von drei Autoren und ihren Werken nach: Rudolf Borchardts, Reinhold Schneiders und Joseph Kleppers. Das oppositionelle Potenzial der Romane erblickt Kiesel in der ethischen Haltung der kreierten Figuren, die der politischen Entwicklung fernbleiben. Das Verwandlungspotenzial jungkonservativen Gedankengutes in den literarische Ambitionen aufweisenden Visionen Polens der Nachkriegszeit erörtert Krzysztof Żarski, der gleichzeitig auf die begeisterte Aufnahme der Werke Harald Laeuens unter den polnischen Exilautoren aufmerksam macht. Krzysztof Polechoński dagegen wandte sich den Nuancen der polnischen Rezeption von Edwin Erich Dwinger zu, denen er mit vorbildlicher philologischer Akribie nachgeht. Noch weiter in die Rezeptionsfragen der ›Konservativen Revolution‹ vertieft sich Andrzej Denka mit seiner Reflexion zu Botho Strauß, der die literarischen Traditionen dieser Prosa erwägt und besonderes Augenmerk 41 Schauwecker, Franz: Zu diesem Buch, in: Ders.: Mondstein. Magische Geschichten, Berlin 1930, S. 5.

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dem Bezug zu Rudolf Borchardts Konzept der ›Schöpferischen Restauration‹ schenkt. Auf diese Weise werden erneut die Interpretationspfade Mohlers herausgefordert und mit den neuesten Forschungsansätzen (Stefan Breuer, Nadja Thomas) konfrontiert. Der erfreuliche Verlauf der Tagung Die Literatur der ›Konservativen Revolution‹ und die Redaktion der eingesandten Manuskripte bestärkten uns in der Einsicht, dass die Reflexion über die einschlägigen Literaturphänomene ein vielversprechendes Forschungsfeld bildet, das wegen seiner enormen Komplexität weit von jedem Bilanzierungsversuch bleiben muss. Vielmehr sehen wir den vorliegenden Band als einen Versuch, verschiedenartig konzipierte Einblicke zu sammeln, die schließlich eine bunte Palette der Expertisen ergaben, deren Vielfalt wir unbedingt respektieren wollten. Diese geht u. a. auf mannigfaltige akademische Kulturen zurück, aus denen die Vertreter der sechs während der Tagung repräsentierten Länder entstammen. Das Phänomen der ›Konservativen Revolution‹ erörtern wir ausschließlich und ausnahmslos als historisches Phänomen, das in die Vergangenheit des tragischen 20. Jahrhunderts gehört. Der vorliegende Band führt Aufsätze zusammen, die auf die während der Tagung gehaltenen Referate zurückgehen. Die Konferenz (5. bis 7. Dezember 2019) konnte nur dank der großzügigen Unterstützung der Thyssen-Stiftung zustande kommen und bekam dadurch einen anspruchsvollen organisatorischen Rahmen. Ihre Mitveranstalterin, Frau Dr. Joana van de Löcht (Heidelberg), hat die Tagung professionell gestaltet. Getagt wurde in den traditionsreichen Barockräumen des Oratorium Marianum und des Nehring-Saales, die der Veranstaltung ein besonders anregendes Ambiente sicherten. Der gemeinsame Spaziergang in die Breslauer Altstadt bleibt in unserer Erinnerung. Die Bibliothek des Instituts für Polonistik eröffnete speziell für die Tagung ihre Pforten. Die Direktionen der Institute für Germanistik und Polonistik der Universität Wroclaw standen uns zur Seite, ebenso wie die Philologische Fakultät und ihre Behörden. Die Vorbereitung der Manuskripte fiel ins schwierige Covid-Jahr 2020 und ging Hand in Hand mit den vorübergehenden Schließungen aller erdenklichen wissenschaftlichen Institutionen. In dieser ungewöhnlichen Lage verhalf uns in hervorragender Weise Herr Dr. Martin Hollender (Berlin), der für mehrere Autoren schwer zugängliche Materialien aus den Sammlungen der Staatsbibliothek besorgte. Dafür gebührt unser herzlicher Dank. Bei der Korrekturarbeit unterstützten uns mit großer Hingabe unsere Heidelberger Freunde, deren dankbare Schuldner wir bleiben. Wojciech Kunicki, Krzysztof Żarski und Natalia Żarska Wrocław, im März 2021

Maciej Zakrzewski, Kraków

The conservatism and the revolution Remarks on the genealogy of the concept of the Conservative Revolution

The term “conservative revolution” has been first introduced to the scholarship by Armin Mohler1. Since its emergence, it has remained a highly debatable and controversial category – both in terms of its legitimacy and its application. As it appears, not without reason. For instance, Stefan Breuer considered the term ill-suited to analytical purposes. According to him, “the conservative revolution” is too miscellaneous and lacks definitive characteristics that would permit scholars to set it apart from other political trends; this holds true in particular in the case of Germany.2 On the other hand, Alain de Benoist questioned the way in which the phrase began to serve as an umbrella term for the broad process of the radicalization of conservatism that took place at the turn of and in the first half of the 20th century in Germany and France.3 Indeed, it could be argued that the term expresses analytical helplessness rather than scientific certainty. Yet, though “the conservative revolution” may be a debatable, or even provisional category, it plays an important role in the research process. As it was acutely observed by Tomasz Gabiś: The mere fact that this term is so well-established among historians of ideas and ideologists of the Right testifies to its functionality; it fills the previously nameless gap that was calling for the right word. Undoubtedly, there was  a demand for  a common label for all German ideological and political movements of the period 1918–1932 that opposed (to a various degree) the Weimar Republic’s system and its official ideology; to provide the expression that would encompass all those movements that hoped to see the abolition of the Weimar Republic – and shared this desire with the National Socialists and the Communists, but lacked the coherence of those parties. Thus, the conservative revolution should not be seen as a unified, solid, clear-cut ideology, but rather as  a tangled, intricate entity with  a complex topography that

1 Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland, Stuttgart 1950. The English edition was published by Washington Summit Publishers in 2018 as The Conservative Revolution in Germany 1918–1932, Montana 2018. Cf. Mohler, Armin: Konserwatyzm niemiecki po 1945 r., translated by Tomasz Dominiak, “Arcana” 31 (2000). 2 Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt, 1993. 3 De Benoist, Alain: Foreword to English Edition in Armin Mohler, The Conservative Revolution, p. XXIX . Notably, Mohler himself used the term in the way that was criticised by De Benoist.

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existed somewhere between the official Weimar, the National Socialists and the Communists.4

The following analysis will not look at the historical development of the conservative revolution, that is at the results of certain political and social conditions. Instead, it will treat the conservative revolution as a necessary product of the doctrine of conservatism that has been materializing slowly until it reached its mature, distinctive form in the time of the Weimar Republic. The starting point of this examination is, naturally, an analysis of the charged and tension-full dichotomy between “revolution” and “conservatism”. “Revolution” and “conservatism” are commonly perceived as closely connected – like an object and its shadow. Indeed, it was the French Revolution and its consequences that triggered conservatives to revise the theoretical grounds of their own position. However, revolution was not invented by the Jacobins; neither the term, nor the phenomenon of revolution were new. Though not invented then, the term underwent a radical change at the end of the 18th century – this process was brilliantly analyzed by Reinhart Koselleck. As he pointed out, “revolution”, this originally transhistorical expression bound to the natural factors and reflecting the circular character of history, has transformed into the metahistorical concept defining the meaning and the end of history.5 It was not the revolution itself, but its rationalistic and total character that caused concern among conservatives. So, while they applauded the Glorious Revolution6 as an example of the restoration of constitutional order, the French Revolution filled them with dread. Many aspects of conservative doctrine functioned long before the doctrine itself was formulated. And it was primarily the content that the revolution carried, not the form it took, that provoked resistance among conservatives.7 It was the French Revolution that urged the articulation of dispersed 4 Gabiś, Tomasz: Rewolucja konserwatywna, “Fronda” 8 (1998), p. 106. 5 Koselleck, Reinhart: ‘Historical Criteria of the Modern Concept of Revolution’, in: Idem, On the Semantics of Historical Time, translated and with an Introduction by Keith Tribe, New York, 2004, pp. 43–57. The work by Jan Baszkiewicz is an interesting addendum to the reflections of Koselleck. Yet while Baszkiewicz agrees with the German historian that the term “revolution” acquired a new meaning in the 18th century, he thinks that the change concerned the content of revolution, but not the form (as stated by Kosselleck, who attributed to “upheavals” transhistorical character). Baszkiewicz emphasizes that this new “revolution as the content” hides a global change of human life – a results of “prolonged lasting”, that is the transformation of science, technology, art, ideas, public opinion, social condition (and thus we observe the metahistorical meaning of the revolution) – Baszkiewicz Jan: Rewolucja: kilka uwag o zmienności pojęcia in Idem: Państwo, rewolucja, kultura polityczna, Poznań, 2009, pp. 799 ff. 6 This was true in particular in the case of the English conservatives. 7 As stated by Szlachta: “The growing number of scholars has been concluding that the origin of this doctrine dates from much earlier and rather than a reaction to the dramatic political changes, it was  a response to some ideas popularized during the Enlightenment (rationalism, optimistic anthropology, social contract, natural rights, progress, linear concept

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arguments. As noted by Russell Kirk, “conscious conservatism, in the modern sense, did not manifest itself until 1790, with the publication of Reflections on the Revolution in France. In that year the prophetic powers of Burke fixed in the public consciousness, for the first time, the opposing poles of conservation and innovation”.8 In addition, the American scholar emphasized that “conservatives inherit from Burke a talent for re-expressing their convictions to fit the time.”9 Unsurprisingly, this characteristic is unique to English conservatism. While Burke was associated with the evolutionary way, there existed another branch within conservatism  –  a “traditional” school started by Joseph de Maistre. The emergence of those different schools marked  a rapture within conservatism and, consequently, sparked off a debate (which is still ongoing) about what constitutes the conservative dogma and what differentiates “true” conservatism from its “false” version. To Burke both the problem of social change and resistance to the modern term and practice of revolution were vital. His thinking, though rooted in David Hume’s tradition of skepticism, cannot be separated from Thomas Aquinas’ tradition of natural law. As strongly asserted by Bogdan Szlachta, Burke’s formalism originated from the principles of ahistorical and God-rooted natural law.10 On the other hand, “the school of de Maistre” drew from the thought of Saint Augustine and saw human history as dependent on God’s providential rule over the world. Therefore, paradoxically, in this perspective “tradition” transcended history; it was not simply a sum of occurrences, but rather a reflection of absolute order – far more directly than in Burke’s thought.11 Naturally, those differences stemmed directly from a distinctive understanding of categories such as “nature” and “grace” and their mutual relation as perceived by Saint Thomas and Saint Augustine respectively. What both schools undoubtedly shared, was the diagnosis of revolution  – it was a force sustained by demands of the abstract reason that intruded the sphere of metapolitics and fought against transcendent, divine order. Since there exists a plethora of studies dedicated to particular conservative thinkers, there is no need to delve further into the subject. Instead, let us return to the intriguing problem of revolution. What was the revolution to the English Whig? The author of “Reflections” depicted it as madness; as an incomprehensible rebellion against social principles. Burke strongly protested against making comparisons between the French Revolution and the Glorious Revolution of 1688. According to him: 8 9 10 11

of the philosophy of history)” – Konserwatyzm, in: Jaskólski, Michał (ed.): Słownik historii doktryn politycznych i prawnych, vol. 3, Warszawa 2007, p. 350. Kirk, Russell: The Conservative Mind. From Burke to Eliot, Washington 1985, 7th ed., p. 6. Ibid., p. 8. Szlachta, Bogdan: Edmund Burke wobec koncepcji prawa naturalnego, in: Idem: Szkice o konserwatyzmie, Kraków 2008, pp. 41n. Wielomski, Adam: Filozofia polityczna francuskiego tradycjonalizmu 1789–1830, Kraków 2003, pp. 25–26.

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Our political system is placed in  a sound correspondence and symmetry with the order of the world and with the kind of existence possessed by a permanent body composed of transitory parts, wherein, by the disposition of stupendous wisdom molds together the great mysterious body of the human race is such a way that the whole thing is never at one time old or middle-aged or young, but moves on – unchangeably constant – through the varied tenor of perpetual decay, fall, renovation, and progression. Thus, by preserving the method of nature in the conduct of the state, in what we improve we are never wholly new; in what we retain we are never wholly obsolete.12

The practical side of the original constitution manifests itself through prescription, in the spontaneous development of society. Prescription  – the rule of private law – was transformed by Burke into the rule of public law applicable to constitutions. Crucially, his reflections on prescription served to emphasize the preeminence of long-continued practices rather than principles.13 Naturally, Burke did not claim that the organic development of society runs smoothly without any hindrance; he was well aware that both falls and renewals were generally woven into the history of political communities. The revolution of 1688 followed this transhistorical logic. Nonetheless, each community that grows organically requires people’s active contribution; since natural order constantly changes, its essential features can only be preserved by people’s conscious efforts. Active defense against the violation of natural order is an automatic response; a reaction dictated by a self-preservation instinct. Unlike early modern social contract-theorists, Burke did not juxtapose nature with convention, remaining faithful to the original conservative inclination. To him social order was an extension natural order. Against the assumptions of French revolutionaries, Burke claimed that human nature cannot manifest itself in the state of vacuum, but it always exists in a concrete form and shape, thus “art is man’s nature”.14 In addition, he stressed that “a state with no means to make changes has no means to preserve itself. Without such means a state might even risk the loss of the part of its constitution that it most devoutly wished to preserve”.15 Thus, political prudence called for both a cautious treatment of innovations as well as an active and effective safeguarding of the established rules. Consequently, in case of emergency, the English could modify the hereditary laws (though as little as possible) and remove the ruler who, as they believed, was putting their rudimentary liberties in danger. On the other hand, in the letter On the Genius and Nature of the French Revolution as it Regards Other Nations, Burke called 12 Burke, Edmund: Reflections on the Revolution in France, London 1790, digital edition, p. 18. https://www.earlymoderntexts.com/assets/pdfs/burke1790part1.pdf (accessed June 7, 2021). 13 Mansfield, Harvey: Edmund Burke, in: Strauss, Leo / Cropsey, Joseph (eds.): History of Political Philosophy. Chicago & London 1986, 3rd ed., Kindle. 14 Ibid. 15 Burke: Reflections, p. 11.

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upon the European coalition to wage  a war against the French Republic.16 Both the Glorious Revolution and the envisaged suppression of the Jacobin regime constituted natural historical developments, of which man was a necessarily active and responsible component. Though the French Revolution seemingly elevated the fundamental natural principles, Burke perceived the event as an aberration, for in reality the Revolution subverted natural principles in the name of speculative designs  – dubious and unverified. Thus, the French Revolution was a departure from the verified path of experience and prudence that brought poverty by crime as a result.17 The revolution was described in the “Reflections” as a pointless act, a fruitless negation; it was nothing more than some ahistorical high hope that would ultimately meet a banal end – tyranny. Importantly, Burke’s presentation of the revolution has evolved. Shortly before his death, he observed that the revolutionary chaos produced “a predatory state” of surprisingly considerable potential. In his own words: “France had always appeared dangerous; the war was easily diverted from France as a faction to France as  a state”.18 The French Republic became  a state sect aiming at  a universal empire.19 Burke noticed concordance between actions of ideologists and Machiavellian politicians. He considered France  a new kind of empire, acknowledging the connection between revolution and mobilization20 and the growth of imperial potential: The Revolution was made, not to make France free, but to make her formidable […] To make France truly formidable, it was necessary that France should be new-modelled. They who have not followed the train of the late proceedings have been led by deceitful representations (which deceit made a part in the plan) to conceive that this totally new model of a state, in which nothing escaped a change, was made with a view to its internal relations only.21

According to politicians, or so-called statesmen, the purpose of revolution was expansion; the ideological turn upside down freed the internal forces from the bridle of traditions, which have been hitherto protected by the king.22 Therefore, the revolution ceased to be simply a fruitless negation, a plaything for immature philosophers, but became instead a way for a new power to emerge – according to Burke, “What now stands as government in France is struck out at a heat. The 16 Burke, Edmund: On the Genius and Nature of the French Revolution as it Regards Other Nations, in: Idem, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, vol. V, London, 1887, online edition, pp. 343n – https://www.gutenberg.org/files/15701/15701-h/15701-h. htm#LETTER_II (accessed June 7, 2021). 17 Burke: Reflections, p. 20. 18 Burke: On the Genius and Nature, p. 348. 19 Ibid., p. 346. 20 It is worth noting that this connection was considered crucial in the political thought in the 1920s. 21 Burke: On the Genius and Nature, p. 361. 22 Ibid., pp. 369 f.

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design is wicked, immoral, impious, oppressive: but it is spirited and daring”.23 A state that is not governed by ownership, but instead a state that governs the ownership constitutes an entirely new type of organization. “The rulers there have found their resources in crimes. The discovery is dreadful, the mine exhaustless”.24 In his essay Burke precisely described a dilemma, which conservatives were caught in; the dilemma that would soon be embodied in so called the conservative revolution. Burke understood the problem of the availability of political instrument in the era of revolution. He was convinced that the potential of Christendom was sufficient to confront  – and defeat  – the revolution; for there was little doubt that it must be fought. But a victory over the revolutionary France required mobilization; without the reinforced spirit and the renewed zeal Europe was no match for the opposing regime. As it is clear, Burke’s appeal was not a simple call to arms, but summons to a crusade.25 While Burke perceived revolution as madness, de Maistre held a less straightforward view on the matter  – as  a follower of the Augustinian tradition, he introduced to history Providence as the spiritus movens. This Sabaudian traditionalist saw revolution as God’s punishment for the sins committed by the ancient regime, the sins among which the greatest were decline of the religious life and undermining of the authority.26 The meaning of revolution is to be found outside history.27 As pointed out by Adam Wielomski, de Maistre accredited revolution to God for “it was due to God’s will that man – plagued by sin – has fallen from Grace”.28 Why is that important? According to the Augustinian tradition, the original sin resulted in the perversion of natural law; consequently, the loss of God’s grace makes room for man to slide into satanic anarchy, into oblivion. Seen like this, the revolution is meant to be instructive – by showing “the hell” born out of atheism and its political consequences, it gives man  a foretaste of the real hell. Importantly, the revolution has its own dynamics – it cannot be stopped; it can only be outlived. However, what constitutes the end of revolution is not the restoration of a specific regime, but the foundation of a system that is based on the right moral code. According to de Maistre, the ruler’s premature return to the people who still believed in the soundness of the already compromised values would be counter-effective.29 Just as the cause of revolution does not come from politics, so the counter-revolution should originate from a different field. The purpose of the counter-revolution is “to restore ordo, that is to re-establish true, natural order, and not merely place God’s stewards on 23 Ibid., p. 376. 24 Ibid., p. 378. 25 Ibid. 26 Wielomski, Adam: Od grzechu do apokatastasis. Historiozofia Josepha de Maistre’a, Warszawa 2011, pp. 261–269. 27 Trybusiewicz, Jan: De Maistre, Warszawa 1968, p. 49. 28 Wielomski: Od grzechu do apokatastasis, pp. 256–258. 29 Ibid., pp. 272 f., 314.

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the revolutionary thrones”.30 Similarly to Burke, de Maistre acknowledged the powerful dynamics of revolution as well as human helplessness in the face of Providence. As he observed, “The most striking thing about the French Revolution is this overwhelming force that bends every obstacle […]; no one has hindered its cause with impunity”.31 De Maistre thought that the restoration of the ancient regime was impossible. However, it was possible to reinstate the order rooted in transcendence; the order that included both the hereditary monarchy and Catholicism. Importantly, de Maistre defined the counter-revolution not as a contrary revolution, but the contrary of revolution.32 Although Burke and de Maistre adopted different perspectives, they had much in common. What is important in the context of this study is their consensus on anti-revolution measures – in this respect, they both belong to the same stream of thought. In other words – they both represent the same stage of conservatism. While discussing the question of anti-revolution measures it is useful to remember an important distinction between two definitions of the counter-revolution that was offered by Bogdan Szlachta. The term was understood as “either ‘[Nicolas de] Condorcet’s revolution in the opposite direction’ or de Maistre’s negation of revolution […]; there was  a substantial difference between employing ‘revolutionism’ so that natural law that had been previously rejected could be restored, and ‘counterrevolutionism’. The latter bears no negative association, as ‘counterrevolutionism’ rejects any sudden, radical change, but underlines instead the legitimacy and stability of natural law.”33 Szlachta points to the correspondence between de Maistre and Burke and, at the same time, he sets them apart from Condorcet34 – unlike Condorcet, they refused to undertake any counter-revolution action that could undermine natural principles. More importantly, the perspective adopted by Burke and de Maistre differed greatly from de Condorcet’s. A closer analysis of Condorcet’s writings and his theory of progress reveals his conviction that revolution is based on so called higher causes, dictated by reason. In this interpretation, the revolutionary order is seen as necessary, thus any action against revolution is not only futile and foolish, but moreover, it constitutes unjustified violence. Burke and de Maistre thought that, quite the contrary, it is revolution itself that is violation and negation; 30 Ibid., p. 273. 31 Maistre, Joseph de: Considerations on France, translated and edited by Richard A. Lebrun, Introduction by Isaiah Berlin, Cambridge 2003, 3rd ed., p. 5. 32 Ibid., p. 105. 33 Szlachta, Bogdan: Kontrrewolucja w imię obowiązywania prawa naturalnego. Uwagi na marginesie pewnego sporu konserwatystów, in: Idem: Szkice o konserwatyzmie, Kraków 2008, p. 84. See also the entry Kontrrewolucjonizm in Jaskólski: Słownik historii doktryn politycznych i prawnych, vol. 3, pp. 390 f. 34 See Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis of Condorcet: O znaczeniu słowa rewolucyjny, translated by Ewa Zgolińska, “Doctrina. Studia Historyczno-Społeczne” 8 (2011), pp. 327–331.

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though revolution is  a phenomenon of certain internal dynamics, ultimately its durability is limited.35 If the revolution destroyed natural order, this order would be worthless. However, the founding fathers of conservatism were confident about the stability of natural order. Most of all, they were convinced about the counter-revolutionary nature of order. In contrast, Condorcet’s could not rely on history to support his belief, his “counter-revolutionary” he was not preoccupied with the revolution’s hollowness, but its power; he was blind to the extinguishing fires set by revolution, focusing instead of the new scaffolding it erected. Paradoxically, it was Burke who showed a greater insight and noticed revolution’s ability not only to destroy a state, but also to create one; it turned out that chaos – despite its logic – enters the path of institutionalisation.36 In a word, “the counter-revolutionary” had to learn a bitter lesson in the Machiavellian school of political realism and to understand that in order to defeat the revolution, he needs to focus on the problem of power. However, not the power’s normative boundaries, but the practical issues of seizing and exercising power. Jerzy Szacki emphasized in his diagnosis of “the revolutionary paradoxes” that “the less likely the restoration of the ancient regime was, the more conflicted the counter-revolutionary thought became. This dilemma was best epitomized in the dichotomic desiderata: restaurer and conserver.’37 As Szacki commented elsewhere: “The counter-revolution defends History against Reason, but this Reason begins to have history of its own”.38 Thus, the restoration becomes in fact “the revolution back”; the further ahead the revolution charges, the stronger the restoration proponents oppose the preservation rule. An opportunity for a revolution within conservatism requires not only for the restoration rule to coincide with the moment of power, but most importantly  – it requires the reposition of “the revolutionary process” that is freeing both the revolution and the counter-revolution from its deterministic character. De Maistre accused the reactionary “ultras” of treating the revolution as a merely human affair that centers on a direct fight.39 On the other hand, Antoine de Rivarol took an entirely opposite stand and discussed the fight against revolution as  a purely human 35 Jerzy Szacki summed up the conservatives’ position on this issue as follows: “[according to the conservatives] revolution is doomed, for, luckily, decrees of the philosophers are not natural laws […]. Similarly, in the field of politics (understood as the implementation of eternal morality), the correspondence with ‘the natural and necessary order of things’ is not a mere ideal and claim, but an inevitable necessity – man can only delay the workings of nature, but will never be able to stop it.” According to de Bonald, ‘Legislation of nature tends to thwart legislation of man’. A society which has not reached the state of “natural constitution”, moves inevitably in this direction; on the other hand, a society who abandoned this constitution inevitably returns to it.” – Szacki, Jerzy: Kontrrewolu­ cyjne paradoksy. Wizje świata francuskich antagonistów Wielkiej Rewolucji 1789–1815, Warszawa 2012, p. 82. 36 Burke: On the Genius and Nature, p. 300. 37 Szacki: Kontrrewolucyjne paradoksy, p. 30. 38 Ibid., p. 24. 39 Ibid., pp. 68 f.

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affair, with no support from God.40 Such an approach is hardly surprising since for Rivarol “God was absent from the moral reality and the task of keeping order was assigned exclusively to people”. According to this “Machiavelli of the counterrevolution”: “Nature makes no contract with us but the one that describes the eternal laws of movement; Nature has promised us nothing more than the harmony of the physical world, while the creation and maintenance of the moral world is our duty […]. Unlike the universe, social order is characterized by neither fixed laws nor unchanged regularity.”41 According to Szacki, Rivarol opened a way for an alternative assessment of social and political events – one that was not based on the compliance with the eternal rules of moral order.42 Rivarol’s views have much in common with the ideas of “the model counterrevolutionary” Condorcet, to whom history was not determined or designed by God, but was a result of human efforts. According to Szacki, conservatism has been hence developing in two directions. The followers of the first way found it necessary to accept the social and political changes that had taken place and to marry the “old” France with the “new”. The exemplary proponent of such a stand was François-René de Chateaubriand, who defended the French Charter of 1814. As he declared: I am for the whole Charter – perfect freedom – all the institutions which have grown up by the course of time; the change of manners and the progress of the human mind – but with them I would preserve all the remains of the ancient monarchy – religion – the eternal principles of morality and justice.43

At the other end of the spectrum were thinkers such as Luis de Bonald, who strongly opposed the Charter and who desired the restoration of natural laws of social order.44 As stated by Jacek Bartyzel, the “ultras” saw the restoration as “creating” society anew, and this scenario made no allowance for any compromise with the revolutionary anti-principles.45 According to Bartyzel: “the ultra-royals, such as Bonald, rejected any intermediary forms between the traditional, sovereign monarchy and the Revolution; anything that was not the Order was, by default, anarchy and oblivion; an anti-principle of the only real metaphysical order.”46 However, in the eyes of many conservatives, neither has the revolution stopped nor the true order has been restored. What is more, the disintegration of the old 40 NB , de Rivarol was one of a very few conservative thinkers whom Ernst Jünger referred to in his writings. 41 Ibid., p. 96 f. 42 Ibid., p. 97. 43 Chateaubriand, François-René de: The Monarchy according to the Charter, London 1816, p. 222. 44 Bartyzel, Jacek: Umierać, ale powoli. O monarchistycznej i katolickiej kontrrewolucji w krajach romańskich 1815–2000, Kraków 2002, p. 40. 45 Ibid., p. 47. 46 Ibid.

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order has deepened in the 19th century. Conservative thinking was replaced with reactionary politics; reflection on the natural order was replaced with deliberation on practical political instruments. Thus, counter-revolutionary efforts centered around the state, and the conservative revolution was designed in the chambers of Klemens von Metternich and other ministers of the Holy Alliance. This “revolutionary” moment of conservatism was accentuated by Bogdan Szlachta in his analysis of Hans Freyer’s political thought. As he observed, Feyer does not perceive the state as neutral environment, but both as “the mysterious driving force” and “the mysterious aim of the community”. Importantly, the object of counter-revolution shifted – now it concerns the state; it is the state, not natural law, that is being restituted.47 This perspective received a theoretical backing in Speech on Dictatorship (1849) by Juan Donoso Cortés. Crucially, the Speech coincided with several important developments: the ending of the Spring of Nations (perceptively termed by Lewis Bernstein Namier “the revolution of the intellectuals”), Metternich’s exile in London and the publication of The Communist Manifesto by Marx and Engels  – the announcement of the next powerful wave of revolution. The circumstances could shake the conservatives’ hopes for any spontaneous or providential restoration; time and time again they were forced to preserve the revolution, which began to have its own history.48 Donoso Cortés claimed that in case of emergency the matter of legality becomes relative, for laws are made for societies, not the other way around.49 In certain circumstances, on the brink of chaos, the dictatorship is a rational and legitimate form of government. According to Donoso Cortés, social life is composed of action and reaction.50 A spontaneously established order does not – and cannot – exist anymore. Danger never ceases – it is omnipresent; Donoso Cortés was aware of the truth already expressed by Friedrich Julius Stahl: the revolutionary situation became the signum temporis. In the Spaniard’s eyes the situation was very clear: 47 Szlachta: Kontrrewolucja, p. 86. 48 Friedrich Stahl deployed this argument when protesting against the repeal of the Prussian Constitution. As he asserted: “Yes, our constitution, as it stands, is still a memorial to Prussia’s fall, and thereby a memorial to Prussia’s shame. But it is to no avail to destroy this memorial instead of, by deeds of loyalty and political wisdom, transforming its inscription step by step, so that it might remain standing through the ages as a memorial to Prussia’s rebuilding, as a memorial to Prussia’s honor.” Stahl Friedrich: Speech against the Repeal of the Prussian Constitution (1853), translated by Jeremiah Riemer – http:// germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/eng/2_A_P_Stahl.pdf (accessed June 7, 2021). See also Kucharczyk, Grzegorz: Rewolucja i państwo chrześcijańskie – o myśli politycznej Friedricha Juliusa Stahla, in: Pro fide, rege et lege, 3/4 (2001), pp. 40–44. 49 Juan Donoso Cortés, Speech on Dictatorship, in: Idem: Selected Works of Juan Donoso Cortés, translated, edited and introduced by Jeffrey P. Johnson, Westport & London 2003, p. 46. https://docs.google.com/viewer?a=v&pid=sites&srcid=ZGVmYXVsdGRvbWFpbn xoaXN0b3J5cG9saXRpY3NvZmRpY3RhdG9yc2hpcHxneDozNDE5MDFjNTYzYTlm MTQ0 (accessed June 7, 2021) – p. 46. 50 Ibid., p. 47.

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Freedom is dead! Gentlemen, it will not rise again on the third day, not in the three years, nor perhaps in three centuries! So, gentlemen, are you frightened of the tyranny we now suffer? If you are, you are frightened of something small. You will see even worse things […] Gentlemen, the foundation of all your errors consists in not knowing the direction that civilization and the world are taking. You believe that civilization and the world are progressing, when they are actually regressing. Gentlemen, the world is moving rapidly towards the establishment of a despotism, the greatest and the most devastating despotism in the memory of man.51

Donoso Cortés identified two main forces (“forms of repression”) that can keep society in check: religion and politics. Those two forces, internal and external respectively, are inversely related, therefore any time religion falls down, politics rise up. In Donoso Cortés’s opinion, the position of religion has plummeted in the last centuries and he had low hopes for the religious renewal. The only remaining force was politics. Therefore, it was crucial that the government kept the masses in check  – and it should this effectively, for only the government capable of resisting the revolution is the government that serves the country well.52 According to Donoso Cortés, the choice Spain was facing was not between freedom and dictatorship, but between a dictatorship of insurrection and  a dictatorship of the government. There was no other way. In fact, the Spanish conservative manages to resolve the counter-revolutionary paradox between conservation and restoration; he adopts the perspective of Rivarol and Condorcet, in which “the reactionary” faces history that no longer is his ally.53 Unlike de Maistre, who judged Napoleon Bonaparte a mere usurper, whose government was the crowning piece of the process of destruction,54 Donoso Cortés was open to alternative assessments of the revolution. He sanctioned the relinquishment of legitimacy as well as of legalism. As Jacek Bartyzel rightly observed, “this concept (so congenially developed by Carl Schmitt) became a nucleus of the idea of commissary dictatorship […] as well as of Charles Maurras’s idea that the Restoration should be done ‘the Monk way’”.55 It is justified to link those two icons of the conservative revolution of the interwar period together with Donoso Cortés. Paradoxically, the term “conservative revolution” was born out of the experience and the idea that were always considered problematic within the reactionary circles: Rivarol (“Voltaire of conservatism”) was accused of atheism; Metternich (“Machiavelli of conservatism”) was accused by Polish reactionaries of revolutionism par excellance, for they had blamed him for the Galician slaughter of 1846; Donoso Cortés (“conservative Hobbes”) was held 51 Ibid., p. 52. 52 Ibid. Let us observe that the efficacy was also the most important mark of the sovereign in Thomas Hobbes’ thought. 53 It may be presumed that this turning point in conservatism initiated the subsequent emergence of the ethos of Jüngerian warrior who is no longer motivated by ideas in his struggle with reality, but is driven by his internal voice. 54 Wielomski: Od grzechu do apokatastasis, p. 277. 55 Bartyzel: Umierać, ale powoli, p. 368.

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responsible for paving the way for the rule of Napoleon III Bonaparte and all subsequent conservative dictatorship.56 A growing chasm between fundamental requirements for the existence of natural order on one side and the successes of revolution on the other side, necessitated a dramatic reformulation of principles and objectives. In the process of tracing back the roots of the 20th century-conservative revolution it is useful to look also at the Russian experiences (which, notabene, had  a particular bearing on Germany). Interestingly, the term “conservative revolution” appeared also in this country, despite the fact that conventional conservative categories never fully applied to absolute Russia. The situation in Russia differed greatly from that of Western countries. Russia was the steadiest element of the Holy Alliance – strong enough to aid the Austrian Empire when they faced the political upheaval in 1849. Russia could pride herself on the government’s stability – though it was possible to assassinate the tsar, the empire could not be destroyed; any sparks of revolution were extinguished in advance by the means of policing. However, Russia suffered from the more serious problems than the West that were linked to the question of national identity. The Westerners-Slavophile controversy that was dated since the publication of Peter Chaadayev’s Philosophical Letters (1836) dominated the Russian intellectual debate in the nineteenth century. It was not easy for the Russian conservatives to defend their position. In their debate with the liberal reformers, the Slavophiles referred to the mythical Russia of the pre-Petrine period. According to them, the reign of Peter I was a turning point in the Russian history – since then the country was an object of the permanent revolution “from the above”, both in form and content, as foreign, Western ideas were forced into Russia through the imposed method.57 In the words of Dostoevski, “through Peter I the West has come to save us and for the next 150 years has been striving to modernize our life”.58 While Western conservatives experienced violence of the French Revolution and various disturbances in the last decades, the Slavophiles diagnosed themselves as  a product of the disrupted historical process. Thus, they concluded, it was impossible to preserve the order; revolution was the only possible way. However, how to restore the order that was shattered 150 years earlier? The Russian conservatism was revolutionary by default and it was closely related to the problem of peasantry  – this exploited, crushed and yet untouched native soil. In order to restore social equilibrium, it was necessary to carry out the reforms – against the functioning feudal order. In the context of 56 Bartyzel rightly points out that the doctrine of Donoso Cortés enjoyed a special, almost official status in Frankoist Spain – Bartyzel: Umierać, ale powoli, p. 379. 57 Walicki, Andrzej: W kręgu konserwatywnej utopii. Struktury i przemiany rosyjskiego słowianofilstwa, Warszawa 2002, pp. 15n. 58 Dostojewski, Fiodor: Dwa obozy teoretyków, translated by Jacek Chmielewski, in: Kronos, 1 (2014), p. 50. Cf. Dostoevsky, Fyodor: ‘Two Camps of Theoreticians (Apropos of Day and a Bit More)’, translated by James P. Scanian, in: Studies in East European Thought, Vol. 59, Np. ½, pp. 141–157.

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this analysis, it may be instructive to compare Dostoevsky with Yuri Samarin, as they represent two different periods of Slavophilism. According to Samarin, “the peasant’s hut is the only harbor for conservatism in Russia”.59 Samarin’s quest for restoration was turning him an extreme statist, since he believed that the state alone was capable of overcoming the resistance of the cosmopolitan aristocracy and of bringing out authentic Russian values. He made no concession to organic or intermediate structures. Samarin’s dispute with Nicholas I of Russia was aptly characterized by Andrzej Walicki as  a confrontation between “nationalistic and traditional legalistic conservatism”.60 Samarin saw the tsar as a good nobleman. He became a theorist of the centralized, bureaucratic monarchy à la Metternich. However, in case of the Russian thinker the stakes were higher – the aim was not limited to the defense of “the rotten structure”61, but was defined as the revolutionary restoration of the lost order. According to Walicki: The conversation with the tsar has not changed Samarin’s views in any way. Furthermore, the visit to the Baltic provinces made his nationalism even stronger, his mistrust of any particular and independently operating social forces even deeper, his conviction about the unique mission of the centralized, bureaucratic government even firmer. Following this visit, Samarin became convinced that the emancipation of the peasantry is a necessity and this act should be accompanied by the agrarian changes that would make the peasants the land owners.62

Samarin voiced his views on the matter in the pamphlet co-authored with Fyodor Dmitriev. The pamphlet (tellingly titled “The Revolutionary conservatism”, originally Riewolucjonnyj konserwatizm) identified bureaucracy as the essence of the nobility and saw their claims as the expression of nihilism.63 Samarin’s conservative destruction of the reactionary positions resembled Metternich’s bureaucratic government. However, at the heart of Samarin’s political reflection was the nation – a category that was to become so important to the next generations of German and French revolutionary conservatives. In turn, Dostoevsky presented the perspective of the younger generation, who was more frequently exposed to the 19th century nihilism. Importantly in the current context, his works were translated into German by Arthur Moeller van den Bruck, the author of the “Third Reich” – one of the canonical manifestos of the German conservative revolution. Dostoevsky did not subscribe to the traditional Westerners-Slavophiles dichotomy. Though he shared more with the Slavophiles, he thought that both 59 Walicki: W kręgu konserwatywnej utopii, p. 167. 60 Ibid., p. 350. 61 Namier, Lewis: 1848. Rewolucja intelektualistów, translated by Andrzej Ehrlich, Kraków 2013, p. 223.; Cf. Namier, Lewis: 1848: The Revolution of the Intellectuals, Oxford 1944. 62 Walicki: W kręgu konserwatywnej utopii, p. 350. 63 Ibid., pp. 357–357.

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groups focused too much on theoretical considerations and that they were likewise disconnected from reality. As he claimed, “the theory on Slavophilism is equally merciless and equally capable of anything as any other given theory”.64 He sees a remedy in the restoration of social unity, since: This disintegration of the community that we call civilization is in truth an illness. It is clearly proven by the loss of the living idea of God. The second sign of this state of illness is man’s condition  – his ill-being and longing; his loss of the true [orig. żiwogo] source of life; his inability to experience and feel things and, subsequently – his passive assent to anything that happens. Social theories fail the truth by the mere disconnection with reality. Man cut off his nose and all other body parts and now enjoys the fact that he has dispensed with them, whereas the opposite should be taking place – instead of getting rid of the body parts, man should strive to ensure that they all flourish.65

As an antidote to this trend towards atomization Dostoevsky offered marrying up “two Russias”, with nationalism and the Orthodox Church acting as a binder. He appealed to the higher classes to get closer to the people, whom he considered a reservoir of new creatives forces. He commented strongly on the disintegration of order and the triumph of nihilism, this forerunner of death. Dostoevsky believed that the revitalization of society could be achieved if the authentic Russian ways of living were cultivated, specifically those that aligned with the traditional forms of the Orthodox Church and the tsarism. As he urged: Would there really be no new buildings erected in place of those half-destroyed? Would the set of the fire be left waste? Have we really suffocated and stagnated so much that there is no hope of our revival? But if life has stagnated in us, then it most certainly exists in the as yet untouched soil of the people.66

Undaunted by the triumphing nihilism, Dostoevsky believed that it was possible to retrieve the primeval values that were unspoiled by civilization. However, this recovery process was akin to “excavating gold from the dumping ground” and was connected to religion. The Russian author died in 1881, and only a year later Friedrich Nietzsche published The Gay Science, where he famously proclaimed that God is dead. From the reactionary perspective, disintegration of the West was much more profound, thus the restoration process would require more radical means. However, Nietzsche’s thought was an important point of reference for German conservative revolutionaries.67 This significance of Nietzsche’s role was appreciated by Edgar Julius Jung, who wrote: 64 Dostojewski: Dwa obozy teoretyków, p. 57. 65 Lazari, Andrzej de: W kręgu Fiodora Dostojewskiego “Poczwiennictwo”, Łódź 2000, pp. 36 f. See also Raźny, Anna: Fiodor Dostojewski  – różne konserwatyzmy, jeden ­nacjonalizm, in Eadem (ed.): Idee konserwatywne w Rosji (Kraków, 2010), pp. 68–72. 66 Dostojewski: Dwa obozy teoretyków, p. 65. 67 Kunicki, Wojciech: Wprowadzenie in Idem (ed.): Rewolucja konserwatywna w ­Niemczech 1918–1933. Poznań, 1999, pp. 27–30.

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Here must begin the great movement that derives inspiration from Friedrich Nietzsche – it expresses itself in the formula of reevaluation of all values. Out of the depth of the metaphysical drive Nietzsche asks the established, hollow values the deciding question. The disintegration of non-binding values and the true drive of life made him to conclude that man should abandon “a higher world” of the inherited values and embrace his earthly life instead. Only the latter Nietzsche saw as the source of new values that should replace of the wobbling monuments of old deities; for a while he even believed that this way metaphysics can be destroyed as well. However, while he lived rejecting false ideals, self-delusions and moral props, he suddenly was forced to stop by life itself; when he had to comprehend that the means of deconstruction and dismemberment allow to touch merely semblance and illusion, without touching the roots. This was the fundament of life that has opened before him in all its impenetrability. In other words, the categories “semblance” and “reality”, though true / false from the rationalist perspective, once confronted with life, turned out to be lacking. Consequently, new metaphysics was constructed – one that exceeded the categories conditioned by reason. Since the old god was dead, he had to resurrect in man, who was now tasked with being the  Übermensch. According to Nietzsche, even life is driven to transcend itself, and a physical self moves towards the metaphysical self. Consequently, by rejecting the hardened shell of the metaphysical drive, Nietzsche caused the eruption of authentic metaphysical drive. He melted the old form to create a new vital form. However, as it turned out, this new form was incomplete – the creator fell under the pressure of his creation. Had he completed his work, he could maybe realize more clearly the close relation between his new values and Christianity, a relation, which, at any rate, he intuitively felt. After all, those new values were drawn from the living depths. Nietzsche prophesied the conjunction between faith and life. This union has been lost in the 19th century – and remains lost in our times. Nietzsche’s critical findings stands in front of us like an incredible bedrock. It will stay as the harsh judgement on the hypocritical epoch. The spirit of truth was its judge – up until its self-destruction. In a terrible way, the [First] World War was the confirmation of the blows that Nietzsche crushed the world of gods with. The over-personal tragedy of Nietzsche was sanctified though – for while he stroked the statue of god believing that he hit the core of true God, in fact, he smashed the hammer, not God.68

The philosophy of Nietzsche was highly problematic for the reactionaries,69 and the role he played in forming “young” conservatives in the time of the Weimar Republic reflects a difficult process of working out the concept of “revolution” among conservatives. However, it should be added that Nietzsche not only “cleared the field”, but his “will to power” concept influenced the group directly. 68 Jung, Edgar Julius: Władztwo miernot. Jego upadek i zastąpienie go przez nowe imperium, translated by Wojciech Kunicki, Kraków 2019, p. 35 f.; Cf. Jung, Edgar: The Conservative Critique of Liberalism in the Weimar Republic, Vol 2: Paving the Way to Nazism  – a translation of Edgar Julius Jung’s “Die Herrschaft der Minderwertigen / The Rule of the Inferior People, translated by Alexander Jacob, New York 1995. 69 For a more detailed treatment of the subject see Cichocki, Marek: Ciągłość i zmiana. Czy konserwatyzm może być rewolucyjny? Warszawa, 1999, p. 137.

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Maciej Zakrzewski

Scholars who explore the problem of the conservative revolution often refer to the concept of “the axial period” by Armin Mohler.70 Mohler understood the axial period as the threshold, which is crossed by particular nations at different times. However, the consequences of the crossing are the same in each case. ‘The axial period of conservatism’ between the 19th and the 20th centuries works in a similar way – each country undergoes it at  a historical moment; in some countries the experience is short and dramatical, in others, it lasts decades, so the change can be noticed only in hindsight. Notwithstanding those differences, it is always obvious whether the axial period ­occurred. […] This process of undergoing the axial period had to be presented concisely, so naturally, this description is not complete: basically, conservatism before the axial period tends to look back, while afterwards, it looks forward. […]. The axial period is usually a sobering time, when the conservative realizes that other political groups have established a new order – the order that is unacceptable to him, but which has already been recognized by others, and when he realizes that it is too late for the old structure to be restored.71

In case of the French Right it was the death of Count Chambord (1883) that marked the beginning of the axial period of the experience that was “long and painful”, while “the German conservatives crossed the threshold only after the World War I.”72 The manifestation of this “revolutionizing” of conservatism was the movement gathered around Maurras and Action Française, and the most significant sign of the process – search for the potential of political power. The latter was ultimately found in nation  –  a category ingrained in the Jacobin tradition. Consequently, many French conservatives of the first half of the 20th century came close to or adopted the national narrative. However, it seems that in the light of the earlier discussion Mohler’s thesis should be revised. “The axial period” does not carry in itself anything new; it is a mere lens that converges leanings of the era. It distillates the already existing phenomenons; rather than catalyzing or instigating transformations, it simply allows to notice the changes that escaped the attention of conservatives in the time of stability. A revolution within conservatism was not  a new phenomenon  – they both grew together. The revolution was the potential that has been materializing in history, and this materialization was clearer, the more illusory were the chances for stopping the disintegration of the old order. In this situation, the concept of power gained in importance and from the periphery of interest moved to its center. Following the utopian phase, the conservatism 70 Wielomski, Adam: Nacjonalizm francuski 1886–1940, Warszawa, 2007, p. 241; Gabiś: Rewolucja konserwatywna, p. 107. It should be noted that Mohler referred to and reworked the concept that was originally introduced by Karl Jaspers. 71 Mohler: Konserwatyzm niemiecki po 1945, p. 65 f. 72 Ibid., p. 66.

The conservatism and the revolution

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moved to considerations on dictatorship. Paradoxically, Donoso Cortés’s apology of dictatorship was formulated around the time when Marx developed his theory of “dictatorship of the proletariat”. Those were not prompted one by another, but were the parallel occurrences. The stronger were the revolutionary claims to power by liberals or socialists, the fiercer were the actions by the new generations of conservatives. Therefore, it is tempting to look at the conservative revolution as at the doctrine of a state of emergency – as it happens, that is the only context in which the conservative dimension of Junger’s “total mobilization” and Schmitt’s “theory of politics” can be understood. Both the conservative revolutionary thinkers of the Weimar, such as Jung and Schmitt, as well as leaders of the Action Française emphasized the importance of foreign policy. This preeminence of foreign policy was in truth nothing else but the Machiavellian tradition of raison d’etat that soon began to dominate over the Christian normative values. However, this “Machiavellian turn” was not motivated by the want of power for its own sake, but stemmed from the fear of slipping into the state of permanent anarchy, the never-ending Hobbes’ war all with all. Debates and controversies surrounding “the conservative revolution” arise mostly from the willingness to define the term by pointing out its common characteristics. However, it seems that the defining based on differences rather than commonalities is equally important, and possibly a more fruitful approach. Notably, the latter method helps to avoid the traps of extreme alternatives, such as the one expressed by Marian Zdziechowski: “communism or the cross”73. In  a word, the conservative revolution comes across not as the ready set of formulas and answers, but a deep inquiry into the usefulness of politics in the apocalyptic times.

73 Zdziechowski, Marian: W obliczu końca, Warszawa 1999, p. 128.

Milan Horňáček, Olomouc

Zur Politik der Sprache in der ›Konservativen Revolution‹ Eine Bestandsaufnahme Nicht durch unser Wohnen auf dem Heimatboden, nicht durch unsere leibliche Berührung in Handel und Wandel, sondern durch ein geistiges Anhangen vor allem sind wir zur Gemeinschaft verbunden. […] In einer Sprache finden wir uns zueinander, die völlig etwas anderes ist als das bloße natürliche Verständigungsmittel; denn in ihr redet Vergangenes zu uns, Kräfte wirken auf uns ein und werden unmittelbar gewaltig, denen die politischen Einrichtungen weder Raum zu geben noch Schranken zu setzen mächtig sind, ein eigentümlicher Zusammenhang wird wirksam zwischen den Geschlechtern, wir ahnen dahinter ein Etwas waltend, das wir den Geist der Nation zu nennen uns getrauen.1

So Hugo von Hofmannsthal am Anfang seiner am 10. Januar 1927 im Auditorium Maximum der Universität München gehaltenen Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation2, in der das Syntagma ›Konservative Revolution‹ zwar nicht das erste Mal verwendet wurde, aber der es zweifelsohne seine Virulenz in der deutschen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts verdankt.3 Bereits bei der Lektüre der oben zitierten kurzen Passage wird deutlich, dass die von Hofmannsthal anvisierte ›Konservative Revolution‹, die er am Ende seiner Rede beschwört, in erster Linie ein sprachpolitisches Unterfangen darstellt, denn die Nation werde gerade durch die Sprache zur »Gemeinschaft verbunden«: Das »Band« der Sprache halte die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Nation zusammen,4 woraus sich auch die prominente Rolle des Schrifttums ergebe, nämlich die geistige Einheit der Nation zu stiften und zu bewahren. 1 Hofmannsthal, Hugo von: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, in: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze III (1925–1929). Buch der Freunde. Aufzeichnungen (1889–1929), Frankfurt a. M. 1980, S. 24–41, hier S. 24. 2 Zur Entstehung der Rede und ihrer Rezeption während der Weimarer Zeit vgl. Perrig, Severin: Hugo von Hofmannsthal und die Zwanziger Jahre. Eine Studie zur späten Orientierungskrise, Frankfurt a. M. 1994, S. 196–199. 3 Auch einer der bekanntesten Kritiker der ›Konservativen Revolution‹ als eines im wissenschaftlichen Diskurs vermeintlich nicht anwendbaren Begriffs stellt fest, dass das »Syntagma Konservative Revolution« eine »der erfolgreichsten Schöpfungen der neueren Ideengeschichtsschreibung« darstellt (Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993, S. 5). 4 In diesem Punkte konnte Hofmannsthal freilich auf eine lange Tradition zurückgreifen. So heißt es bereits 1682 bei Leibniz: »Das Band der Sprache, der Sitten, auch sogar des gemeinen [=gemeinsamen] Namens vereinigt die Menschen auf eine so kräftige, wiewohl

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Milan Horňáček

Im weiteren Verlauf der Rede stellt Hofmannsthal jedoch fest, dass sich in Deutschland die Verbindung zwischen Schrifttum und Nation im Zuge einer Fehlentwicklung vor allem während des 19. Jahrhunderts vom wünschenswerten Zustand entfernt habe,5 sodass das richtige Verhältnis zwischen dem »Sprachlich-Geistigen« und der Gesellschaft wiederhergestellt werden müsse, wie es paradigmatisch in Frankreich zu finden sei: Die Literatur der Franzosen verbürgt ihnen ihre Wirklichkeit. Wo geglaubte Ganzheit des Daseins ist – nicht Zerrissenheit –, dort ist Wirklichkeit. Die Nation, durch ein unzerreißbares Gewebe des Sprachlich-Geistigen zusammengehalten, wird Glaubensgemeinschaft, in der das Ganze des natürlichen und kultürlichen Lebens einbeschlossen ist; ein Nationalstaat dieser Art erscheint als das innere Universum und von Epoche zu Epoche immer aufs neue als ›das gedrungene Gegenstück zur deutschen Zerfahrenheit‹. […] Nichts ist im politischen Leben der Nation Wirklichkeit, das nicht in ihrer Literatur als Geist vorhanden wäre, nichts enthält diese lebensvolle, traumlose Literatur, das sich nicht im Leben der Nation verwirklichte. Auf den Literaten in diesem »Paradies der Worte« strahlt eine Würde ohnegleichen.6

Ein ähnliches »Paradies der Worte« auch in Deutschland zu ermöglichen, sei die Aufgabe der »Suchenden«7, die er einerseits als typisches Produkt der deutschen unsichtbare Weise und macht gleichsam eine Art der Verwandtschaft« (Leibniz, Gottfried Wilhelm: Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben, samt beigefügtem Vorschlag einer deutschsprachigen Gesellschaft, in: Ders.: Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache. Zwei Aufsätze, Stuttgart 1983, S. 47–79, hier S. 48). Und in Theodor Körners »Jägerlied« steht die bekannte Zeile »Uns knüpft der Sprache heilig Band« (Körner, Theodor: Theodor Körner’s sämmtliche Werke, Berlin 1861, S. 20). Zur Bedeutung der »Band-Metapher« für nationalistisch orientiertes Sprachdenken des 19. Jahrhunderts vgl. Ziegeler, Evelyn: Die BandMetapher im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts, in: Dieter Cherubim u. a. (Hg.), Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge, Berlin 2002, S. 111–138. 5 Es sei das »furchtbare Erlebnis des neunzehnten Jahrhunderts« mit seinen »furchtbaren Rückschlägen«, dass dem »suchende[n] deutsche[n] Geist« endlich die »Erleuchtung« gebracht habe, »dass ohne geglaubte Ganzheit zu leben unmöglich ist – dass im halben Glauben kein Leben ist, dass dem Leben entfliehen, wie die Romantik wähnte, unmöglich ist: dass das Leben lebbar nur wird durch gültige Bindungen.« Hofmannsthal: Das Schrifttum, S. 38 f. 6 Ebd., S. 27. 7 Mit den »Suchenden« beruft sich Hofmannsthal nicht nur auf eine seit Nietzsche bestehende Tradition, sondern stellt auch Verbindungen zur Zeit um 1780 und 1800 her, die er als eine Art »Kindheit« der »Gestalt des Suchenden« deutet: »So dürfen wir es wohl aussprechen, dass es doch noch anders steht um unsere Suchenden als um ihre älteren Brüder, jene Generationen von 1780 und 1800, wenngleich sie diesen schicksalsverbunden sind, als Glieder schmerzvoller Entwicklung. An Stelle jenes damaligen verantwortungslosen Wesens – und es mag dahingestellt bleiben, ob es von Kraft oder von Schwäche trunken war, denn es war viel jäher Übergang darin von der überheblichen Selbstbehauptung zur fast wollüstigen Prostration  –, an Stelle eines Rausch  – und Schwärmerwesens ist bei unseren Suchenden ein strengeres, männlicheres Gehaben unverkennbar getreten, eine

Zur Politik der Sprache in der ›Konservativen Revolution‹ 

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»Zerfahrenheit«, andererseits aber auch als Protagonisten der aufkommenden ›Konservativen Revolution‹ betrachtet. Der idealtypische Proponent der ›Konservativen Revolution‹ wird also bei Hofmannsthal deutlich als Schriftsteller markiert, bzw. als derjenige, der das »Gewebe des Sprachlich-Geistigen« herstellt, sodass Hofmannsthals Konzept der ›Konservativen Revolution‹ von der Forschung sogar als »logopädisches Projekt«8 bezeichnet wurde  – ein etwas überpointierter Begriff, der nichtsdestoweniger deutlich macht, dass in der »Schrifttum«-Rede die ›Verbindung‹ der Nation zur Gemeinschaft als eine Erneuerung der Sprache bzw. durch Sprache anvisiert wird. An einer anderen Stelle9 habe ich versucht zu zeigen, dass Hofmannsthals Hoffnung auf diese Erneuerung im Rahmen der ›Konservativen Revolution‹ alles andere als ein Einzelphänomen darstellt: Eine intensive Auseinandersetzung mit der Wechselwirkung zwischen Sprache und Politik lässt sich in Texten zahlreicher Autoren identifizieren, die von der Forschung als prominente Vertreter der ›Konservativen Revolution‹ betrachtet werden. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass sich in diesem Zusammenhang ein ›einheitliches‹ sprachpolitisches Konzept der ›Konservativen Revolution‹ identifizieren ließe. Dagegen sprechen nicht nur die große, von der Forschung häufig thematisierte Heterogenität der einzelnen Denker und Gruppen der ›Konservativen Revolution‹,10 sondern auch grundsätzliche methodologische Schwierigkeiten, denn die Suche nach einer vermeintlichen sprachpolitischen ›Doktrin‹ der ›Konservativen Revolution‹ würde einerseits zur Projizierung von später formulierten sprachpolitischen Konzepten in die Zeit der Weimarer Republik führen und andererseits dazu verleiten, verstreute Gedanken zur Sprache und Politik als Teil eines (nicht vorhandenen) geschlossenen Systems wahrzunehmen und folglich dieses System ex post zu erfinden.11 Um diesen Gefahren vorzubeugen, werden im Folgenden die jeweiligen Äuße­ rungen von Vertretern der ›Konservativen Revolution‹ zur Sprache und Politik jeweils gezielt auf ihren Kontext hinterfragt; anders gesagt, es wird thematisiert, in welchen Zusammenhängen das Thema Sprache und Politik in Texten der ›Konservativen Revolutionäre‹ behandelt wurde und worauf  – im Sinne der linguistischen Pragmatik – einzelne Äußerungen zu dieser Thematik zielen.12 8 9 10 11 12

Bescheidung, in der Tapferkeit liegt, eine fast grimmige Festigkeit gegenüber der Verführung, sowohl ans Begriffliche als an das Schwärmerische sich zu verlieren.« Ebd., S. 37. Gretz, Daniela: Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation, München 2007, S. 209. Horňáček, Milan: Politik der Sprache in der ›konservativen Revolution‹, Dresden 2014. Siehe Breuer, Anatomie, S. 49–114. Vgl. Skinner, Quentin: Meaning and understanding in the history of ideas, in: Ders.: Visions of Politics. Bd. 1: Regarding Method, Cambridge 2002, S. 57–89. Um an dieser Stelle einen umfangreichen Exkurs über Methode bzw. über die (Un)Möglichkeit, Intentionen zu rekonstruieren, auszusparen, wird auf folgende grundlegende Texte verwiesen: Skinner: Motives, intentions and interpretation, in: Ders.: Visions …, S. 90–102; Ders.: Interpretation and the understanding of speech acts, in: Ders.: Vi­ sions …, S. 103–127.

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Krieg Mag man mit Armin Mohlers Datierung der ›Konservativen Revolution‹ in die Zeit der Weimarer Republik einverstanden sein,13 oder diese vor allem im Hinblick auf den in der Forschung umstrittenen Einfluss der ›Konservativen Revolution‹ auf den NS -Staat und seine Ideologie als unhaltbar ablehnen,14 das Gros der Publikationen zur ›Konservativen Revolution‹ konzentriert sich eindeutig auf die Jahre 1918 bis 1933. Dass folglich in den Auseinandersetzungen mit der ›Konservativen Revolution‹ sowohl die Sinndeutungen des Ersten Weltkriegs durch die ›Konservativen Revolutionäre‹ als auch der Einfluss des Krieges auf den sozialen, politischen und geistesgeschichtlichen Kontext der ›Konservativen Revolution‹ im Vordergrund stehen, liegt auf der Hand. Und da die sogenannte ›Urkatastrophe‹ des 20. Jahrhunderts bald nach ihrem Ausbruch als »Krieg der Worte«15 apostrophiert wurde und das Stichwort ›Propaganda‹

13 Dass Armin Mohlers Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932 einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Bestimmung und Erforschung der ›Konservativen Revolution‹ ausgeübt hat, dürften auch seine prominentesten Kritiker einräumen. Ein eigenes Thema stellen die unterschiedlichen Fassungen von Mohlers Arbeit dar: Von der ursprünglichen Fassung, in der der bibliografische Teil weitgehend im Text integriert war, über weitere Auflagen, in denen er einen selbständigen Teil bildet, bis zur letzten Ausgabe, die nach Mohlers Tod von Karlheinz Weißmann radikal überarbeitet wurde, kann man bemerkenswerte Veränderungen in der Interpretation der ›Konservativen Revolution‹ verfolgen. Vgl. Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauung, Stuttgart 1950; Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Darmstadt1994; Mohler, Armin / Weißmann, Karlheinz: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Graz 2005. In weiteren Anmerkungen wird auf die Ausgabe von 1994 verwiesen. 14 Als Beispiel sei auf das Vorwort Wider die Moderne – ›Konservative Revolution‹ gestern und heute hingewiesen, das den 1997 in Wien erschienenen Sammelband Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe eröffnet. Die Verfasser dieses Vorworts Volker Eickhoff und Ilse Korotin stellen bereits im ersten Absatz pauschal fest: »Der Kulminationspunkt der ›Konservativen Revolution‹ ist im Nationalsozialismus zu finden und reicht relativ unverändert bis in die Gegenwart hinein.« Eickhoff, Volker / Korotin, Ilse: Wider die Moderne – »Konservative Revolution« gestern und heute, in: Ders. / Dies.: Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe, Wien 1997, S. 9–13, hier S. 9. Auch wenn man die Tatsache außer Acht lässt, dass sich die Verfasser nicht die Mühe geben, diese doch ›starke‹ These mit Argumenten zu unterstützen, kann man sich über den in der NS -Zeit ansetzenden und vermeintlich bis in die Gegenwart fortdauernden »Kulminationspunkt der ›Konservativen Revolution‹« wundern. Und angesichts des Modernebegriffs, der den meisten Aufsätzen in diesem Sammelband zugrunde liegt und der ›Moderne‹ völlig unreflektiert mit Demokratie, Pluralismus und (ökonomischer) Liberalisierung gleichsetzt, kommt man auch später aus dem Staunen nicht heraus. 15 Vgl. u. a. Cincinnatus [d. i. Lettenbauer, Josef]: Der Krieg der Worte, Stuttgart 1916.

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in der (Nach)Kriegszeit omnipräsent war,16 ist ebenfalls die Verankerung der sprachpolitischen Konzepte zahlreicher ›Konservativer Revolutionäre‹ im eigenen ›Kriegserlebnis‹ und / oder in den Versuchen, dem Weltkrieg einen Sinn abzugewinnen,17 alles andere als überraschend. Die kaum überschaubare Anzahl und Unterschiedlichkeit dieser Konzepte würde einen selbständigen Beitrag verdienen, sodass im Folgenden nur einige repräsentative Beispiele diskutiert werden. Zu diesen kann man das von der Kriegsliteratur häufig thematisierte ›Versagen‹ der Sprache zählen, das sich in extremen, das Fassungsvermögen sprengenden Momenten einstellt. So schildert Ernst Jünger in den Stahlgewittern die Lage kurz nach dem Einschlag eines Schrapnells, wie folgt: Was war das nur? Der Krieg hat seine Krallen gezeigt und die gemütliche Maske abgeworfen. Das war so rätselhaft, so unpersönlich. Kaum, dass man dabei an den Feind dachte, dieses geheimnisvolle, tückische Wesen irgendwo dahinten. Das völlig außerhalb der Erfahrung liegende Ereignis machte einen so starken Eindruck, dass es Mühe kostet, die Zusammenhänge zu begreifen. Es war wie eine gespenstische Erscheinung im hellen Mittagslicht.18

Diese Stelle macht deutlich, dass der Krieg in seinen extremsten Formen für Jünger zu einem Phänomen wird, das sich letztendlich kaum oder sogar gar nicht sprachlich vermitteln lässt und die Kommunikation zwischen den Frontsoldaten und den Daheimgebliebenen praktisch unmöglich macht – ein Topos, der freilich in unzähligen Texten der Kriegsliteratur aufgegriffen wird, wobei häufig das Schweigen der Soldaten zu einem ominösen Zeichen ihres ›Tatendrangs‹, ihrer Überlegenheit und ihres Selbstvertrauens in die eigene Stärke stilisiert wird, wie unter anderem in der Schilderung heimkehrender Soldaten in Ernst von Salomons Die Geächteten: Die Front war deren Heimat, war das Vaterland, war die Nation. Und niemals sprachen sie davon. Niemals glaubten sie an das Wort, sie glaubten an sich. Der Krieg zwang sie, der Krieg beherrschte sie, der Krieg wird sie niemals entlassen, niemals werden sie heimkehren können, niemals werden sie ganz zu uns gehören, sie werden immer die Front im Blut tragen, den nahen Tod, die Bereitschaft, das Grauen, den Rausch, das Eisen.19

Mit dem Verlust der Sprache im Hinblick auf die Inkommensurabilität des Kriegserlebnisses hängt sehr eng ein weiterer Topos zusammen, nämlich der von der ›Verrohung‹ der Sprache bzw. ihrer ›Entschlackung‹ von der verkrusteten 16 Siehe Correy, Ross: Mass Politics and the Techniques of Leadership. The Promise and Perils of Propaganda in Weimar Germany, in: German History 24/2 (1996), S. 184–211. 17 Rohkrämer, Thomas: Ideenkrieg: Sinnstiftungen des Sinnlosen, in: Werber, Niels u. a. (Hg.): Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2014, S. 385–409. 18 Jünger, Ernst: In Stahlgewittern, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, Stuttgart 1978, S. 9–300, hier S. 13 19 Salomon, Ernst von: Die Geächteten, Gütersloh 1938, S. 38.

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Schicht, die sich in der Vorkriegszeit gebildet habe.20 Auch in diesem Fall kann man zahlreiche Beispiele aus Ernst Jüngers Frühwerk heranziehen, von denen folgende Passagen aus Der Kampf als inneres Erlebnis, in der die Sprache der »Landsknechte« thematisiert wird, wohl am prägnantesten den oben erwähnten Topos illustrieren. Der »Landsknecht« als solcher stelle einen uralten Typus dar, der in allen Kriegen der Geschichte zu finden sei, deren eigentliches Wesen er verkörpere: In ihm schlugen die Wellen der Zeit ohne Mißklang zusammen, Krieg war sein ureigenes Element. Er trug den Krieg im Blute, wie ihn römische Legionäre oder mittelalterliche Landsknechte im Blut trugen. Daher stand er allein als feste Gestalt vor dem Hintergrunde aus Grau und Rot formhaft und sicher umrissen.21

Der »Landsknecht« zeichne sich auch durch eine ›bodenständige‹ Sprache aus, welche der vom Krieg herbeigeführten ›Regression‹ auf frühere Stufen der Evolution entspricht: Ihre Sprache war kurz, von Schlagworten beherrscht, zerhackt und zerrissen wie die Feuerstöße ihrer Maschinengewehre, die Worte geprägt und voller Erdkraft. Überall, wo Männer im Ursprünglichen sich finden, entstehen solche Sprachen.22

Die Mythisierung des Krieges als eines reinigenden Gewitters, das die Welt von vermeintlichen Auswüchsen der Zivilisation befreien soll, wird hier auf den Bereich der Sprache übertragen: Der Krieg habe einerseits die Sprache ›gereinigt‹, andererseits aber auch ihre Dimensionen freigelegt, die lange Zeit unter dem Ballast der Zivilisation verborgen lagen. Dem ›Krieger‹ wird daher die Fähigkeit attestiert, in Bereiche durchdringen zu können, die anderen verschlossen bleiben mussten. So stellt Jünger in seinem Lob der Vokale fest, dass es nicht zuletzt die Erfahrung des Schmerzes war, die ihm Einblicke in die ›elementare‹ Sphäre der Sprache erlaubt habe: Vielleicht haben wir sie [=die Vokale, MH] in ihrer vollen Stärke zum ersten Mal wieder im Kriege vernommen – auf den nächtlichen, von Rufen der verwundeten erfüllten Schlachtfeldern, auf den großen Verbandplätzen und in der Erstarrung des jähen Todesschreies, dessen Bedeutung niemand verkennt. Das Herz empfindet diese Laute anders als Worte; es wird gleichsam durch Wärme und Kälte unmittelbar berührt.23

20 Das Bild des unter zunehmender Verkrustung der Zivilisation unterdrückten Lebens, welches schließlich ausbricht und Raum für neue Formen schafft, hat unter dem Stichwort der ›Lebensideologie‹ überzeugend Martin Lindner rekonstruiert  – vgl. Lindner, Martin: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart 1994, S. 5–24. 21 Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart 1980, S. 11–104, hier S. 58. 22 Ebd. 23 Jünger, Ernst: Lob der Vokale, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 12, Stuttgart 1979, S. 11–46, hier S. 22.

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Es wäre an dieser Stelle überflüssig, den einzelnen Eigenschaften nachzugehen, die Jünger den einzelnen Vokalen zuschreibt, und / oder ihre (sprachphilosophischen) Implikationen zu diskutieren. Festzuhalten bleibt dagegen die Tatsache, dass zu dem privilegierten Wissen, welches sich der ›Krieger‹ in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs angeeignet hat, laut Jünger ebenfalls ein vermeintlich tieferes Verständnis der Sprache und ihrer Gesetze zählt. Dass sich dadurch gleichzeitig der Schriftsteller-Soldat Ernst Jünger sowohl als ein potenzieller Führer der ›versprengten Gemeinschaft‹ (siehe weiter unten) als auch ein seine Zeitgenossen überragender Autor inszeniert,24 dessen Werk auf der Kenntnis der elementaren Schichten der Sprache basiert, liegt auf der Hand.

Niederlage und Propaganda Unter dem Stichwort ›Kultur der Niederlage‹ diskutiert Wolfgang Schivelbusch in seinem gleichnamigen Buch unterschiedliche Reaktionen auf das Ende des Bürgerkriegs im amerikanischen Süden, des Krieges von 1870/71 in Frankreich und schließlich des Ersten Weltkriegs in Deutschland.25 Das idealtypische Modell der Reaktionen auf die Niederlage, das er dabei entwirft, ist für uns insofern von Bedeutung, als es deutlich aufzeigt, dass es bei den Besiegten nach einer zunächst vorherrschenden Hoffnung auf die Großzügigkeit der Sieger, die meistens mit einer gewissen Euphorie einhergeht (›Traumland‹), zu einer Enttäuschung kommt, die zur Verteufelung des Siegers führt, da es sich bei der erwarteten, aber schließlich nicht vorhandenen Großzügigkeit, nur um einen unrealistischen Wunsch handelt, denn »im Traumlandzustand verblaßt die Erinnerung an die realen Umstände des Zusammenbruchs, und autosuggestiv bildet sich die Überzeugung heraus, im Rahmen eines ›Gentlemen’s Agreement‹ und im Vertrauen auf die Ritterlichkeit des Gegners die Waffen freiwillig niedergelegt zu haben.«26 Der Sieger wird häufig beschuldigt, seinen Sieg durch ›unfaire‹ Mittel erreicht zu haben: Seien es neue, vermeintlich ›unritterliche‹ Waffen, wie Tanks und Bomben, oder ›unsoldatische‹ Methoden, wie psychologische Kriegsführung und Propaganda.27

24 Stöckmann, Ingo: Sammlung der Gemeinschaft, Übertritt in die Form: Ernst Jüngers Politische Publizistik und Das abenteuerliche Herz (Erste Fassung), in: Hebekus, Uwe und Ders. (Hg.): Die Souveränität der Literatur: zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933, München 2008, S. 189–220. 25 Schivelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001. 26 Ebd., S. 26. 27 Ein eigenes Kapitel bilden in diesem Zusammenhang bekanntlich die Deutungen der Niederlage der Mittelmächte im Sinne der Dolchstoßlegende  – vgl. u. a. Barth, Boris: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933, Düsseldorf 2003.

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Anhand des von Schivelbusch rekonstruierten Modells lassen sich ebenfalls Reaktionen zahlreicher ›Konservativer Revolutionäre‹ auf die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg analysieren, denn auch sie deuten den Sieg der Alliierten überwiegend als das Ergebnis einer vermeintlich überlegenen ›Propaganda‹, wobei die Spielarten dieser Deutung sehr unterschiedlich ausfallen: von kruden Verschwörungstheorien und der Verdammung der Franzosen und Briten als notorische ›Lügner‹ bis zu durchaus komplexen Reflexionen über Gründe für die erfolgreichere Mobilmachung seitens der Alliierten. Arthur Moeller van den Brucks Artikel An Liberalismus gehen die Völker zugrunde lässt sich dabei eindeutig dem ersten Pol zuordnen, denn die deutsche Niederlage wird von Moeller als Resultat der durch die Westmächte repräsentierten Fähigkeit des Liberalismus interpretiert, Schlüsselbegriffe des politischen Diskurses für eigene Zwecke zu pervertieren: Als der Weltkrieg ausbrach, lief der Ruf durch die Zeilen der Zeitungen des Westens: »la liberté est en jeu!« Damit wurde eine Weltmeinung irregeführt. Die besondere Sache wurde zu einer allgemeinen erhoben. Sie war jetzt weltanschauungsmäßig begründet. Sie hatte ihren Nimbus. Aber gar nicht um Freiheit war es unseren Gegnern zu tun, sondern um Macht. […] Man muß nur hinter das Scheingefecht der Begriffe kommen, das der Liberalismus vorführt, wenn er sich auf Freiheit beruft! Er benutzte schon den Ausbruch des Krieges zu einer Spiegelfechterei.28

Und die Liste der aufgezählten ›Lügen‹ wird in Moellers Artikel um zahlreiche weitere Beispiele erweitert, sodass man sich über die Gutgläubigkeit der Deutschen wundern muss, die nichts Böses ahnend, den westlichen liberalen ›Köder‹ immer wieder schlucken: Als unsere Gegner den Widerstand nicht zu brechen vermochten, den wir dem Ansturme der Waffen entgegensetzten, gingen sie aus ihren demagogischen Hinterhalten dazu über, das deutsche Volk selbst zu verlocken. Man bediente sich dazu vor allem des Fortschrittsbegriffes, der so gerne mit dem Freiheitsbegriffe vermengt wird.29

Der letzte und größte Betrug passiert dann nach Moeller in Versailles: Gleichwohl haben die Staatsmänner von Versailles die Stirn, die zu der Auslegung gehört, dass ihr Werk die Gewährleistung von Fortschritt und Gerechtigkeit sei. // Es ist die Stirn von Überführten. Es ist die Auslegung von Durchschauten. Aber sie sind im Besitze ihrer politischen Macht, die sie einer Grundsatzlosigkeit im Namen von Grundsätzen verdanken und an der wir die verruchte Eigentümlichkeit des liberalen Menschen erkennen, Begriffe zu mißbrauchen, Begriffe als Mittel zu verwenden und Zwecke durch Begriffe zu beschönigen.30

28 Moeller van den Bruck, Arthur: An Liberalismus gehen die Völker zugrunde, in: Ders. u. a. (Hg.): Die Neue Front, Berlin 1922, S. 5–34, hier S. 6. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 9.

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Deutschland wird so zu einem Opfer der Indoktrination der Weltöffentlichkeit durch die liberale Ideologie der Westmächte stilisiert: Man habe den ›unfair‹ geführten Krieg der Worte verloren, der für den Ausgang des Weltkrieges entscheidend gewesen sei. Diese larmoyante Deutung der deutschen Niederlage weist gleichzeitig auf eine Aporie im Denken insbesondere der ›jungkonservativen‹ Gruppierungen31 innerhalb der ›Konservativen Revolution‹ hin, die nur resignierend die vermeintliche Übermacht der alliierten (bzw. in Moellers Worten »liberalen«) Propaganda feststellen, oder diese höchstens als unmoralisch anprangern können, jedoch kaum imstande sind, ein Gegengift gegen die ›Lügen der Westmächte‹ anzubieten. Da sie gleichzeitig den eigenen ›weltanschaulichen‹ Standpunkt für prinzipiell überlegen halten, sind sie gezwungen, ihn als nur schwer, oder sogar gar nicht diskursiv vermittelbar zu präsentieren.32 So führt Georg Quabbe in Tar a Ri,33 seiner Darlegung der Grundlagen des Konservatismus, die prinzipielle Unfähigkeit bzw. den Unwillen der Konservativen, größere Teile der Bevölkerung zu erreichen, auf den ›Pessimismus‹ und die nicht rational erfassbare ›Tiefe‹ des konservativen Denkens zurück: Unverkennbar ist hier die Ueberlegenheit der fortschrittlichen These über die konservative, der notwendige Sieg der Hoffnung über die Resignation, die offenbar eine für die Massenpsyche unproduzierbare oder unerträgliche Stimmung sein muß. […] Unsere Lehre lebt rein nur in einem kleinen, esoterischen Kreise; kaum sind wir im Stande, sie so zu formen, dass alle Leute unserer Gesinnung gefeit gegen die »Wahrheit« von drüben bleiben, und aussichtslos wäre es, auf die Massen wirken zu wollen. Das bedingt ohne Zweifel eine große Diskrepanz zwischen »reiner« und »praktischer« konservativer Theorie, eine Senkung des Niveaus der populären Agitation, ein Ignorieren bedeutsamer, ein Betonen nebensächlicher, wirkungsvoller Momente, das Abstellen auf Tagesfragen und die systemwidrige Heranziehung populärer Schlagworte und Gedanken.34

Die unzähligen Monografien, Sammelbände, Zeitungen und Zeitschriften, die die Ideen der ›Konservativen Revolution‹ in der Weimarer Republik verbreite31 Im Folgenden wird an Armin Mohlers zwar nicht unproblematischer, aber weitverbreiteter Teilung der Strömungen innerhalb der ›Konservativen Revolution‹ festgehalten. Zu Mohlers Charakterisierung der einzelnen Gruppen vgl. Mohler: Die Konservative Revolution … (1994), S. 130–165. 32 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf Panjatos Kondylis’ Widerlegung der weitverbreiteten These, dass das konservative Denken als spezifische Mentalität, als »psychologische oder anthropologische Haltung« zu verstehen sei, die eng mit der Behauptung zusammenhänge, dass »Konservative Denkkonstruktionen als solche verabscheuen und erst im Widerstand gegen theoretisierende Gegner selbst zur Theorie greifen [würden]«. Nach Kondylis habe es seit der »Zeit der Hochkulturen« keine Herrschaftsform gegeben, die nicht legitimationsbedürftig gewesen wäre und diesem Bedarf nicht durch einen entsprechenden Rückgriff auf Theorien nachkommen würde. Kondylis, Panjotis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 16 f. 33 Quabbe, Georg: Tar a Ri. Variationen über ein konservatives Thema, Berlin 1927. 34 Ebd., S. 119–120.

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ten, lassen freilich den prinzipiellen Unwillen des konservativen Denkens zur »Wirkung auf die Massen« fragwürdig erscheinen, denn unter den Bedingungen eines politischen Systems, in dem der Wettbewerb der politischen Parteien und / oder Persönlichkeiten über Machtfragen entscheidet, kommt man an Fragen der Meinungsbildung nicht vorbei. Äußerungen wie die von Quabbe stellen vielmehr eine spezifische Strategie im Kampf um Positionen und Begriffe35 dar, der zu den zentralen Anliegen der ›Konservativen Revolution‹ gehört. Eine Strategie, die paradoxerweise gerade durch das Beschwören der eigenen ›Wirkungslosigkeit‹ und des prinzipiellen ›Unwillens‹, die ›Massen‹ zu mobilisieren, Anhänger gewinnen will. Im Gegensatz zu den oben kurz skizzierten jungkonservativen Positionen weisen die Reaktionen der Nationalrevolutionäre auf die Niederlage im ›Krieg der Worte‹ entschieden mehr Aktionismus auf: Die grundsätzliche Diagnose, dass man in Sachen Propaganda und daher auch Mobilmachung den Westmächten und ihrer Ideologie unterlegen war, fällt zwar nicht anders aus. Die Analyse der Gründe für diese Unterlegenheit sowie die vorgeschlagenen Gegenmittel sind jedoch diametral unterschiedlich. Als Beispiel sei erneut Ernst Jünger angeführt: Unter dem Stichwort ›Totale Mobilmachung‹ setzt er sich im gleichnamigen Essay mit der Frage auseinander, warum die Westmächte viel effektiver die eigene Bevölkerung von der Gerechtigkeit ihres Kriegsengagements überzeugen und somit auch viel besser alle verfügbaren materiellen und menschlichen Kräfte für die Zwecke des Krieges aufbringen konnten. Der Erste Weltkrieg wurde nach Jünger von den Westmächten im Namen des Fortschritts und des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen geführt. Diese Tatsache sei das entscheidende Moment für den Ausgang des Kriegs gewesen, weil die Idee des Fortschritts, »der großen Volkskirche des 19. Jahrhunderts, der einzigen, die sich wirklicher Autorität und kritiklosen Glaubens erfreut hat«36, die »totale Mobilmachung« bei den Westmächten ermöglichte. Dagegen fehlte es Deutschland an einer wirksamen Ideologie, an wirksamen Schlagworten: Von der Ideologie der Mittelmächte lässt sich jedoch sagen, dass sie weder zeitgemäss, noch unzeitgemäss, noch der Zeit überlegen gewesen ist. Man war hier zeitgemäss und unzeitgemäss zugleich, und das Ergebnis konnte nichts anderes als ein Ergebnis von schlechter Romantik und mangelhaftem Liberalismus gewesen sein.37

Um den Krieg gewinnen zu können, hätte Deutschland »über eine deutsche Ideologie verfügen müssen«38, und in diesem Zusammenhang wird auch das Problem der Sprache diskutiert: Die Ideologie der Westmächte wird als »Fremd35 So im Titel von Carl Schmitts gesammelten Aufsätzen »im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles« – vgl. Schmitt, Carl: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles. 1923–1939, Hamburg 1940. 36 Jünger, Ernst: Die Totale Mobilmachung, in: Ders.: Blätter und Steine. Hamburg 1934, S. 122–153, hier S. 129. 37 Ebd., S. 138. 38 Ebd., S. 138.

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sprache des Fortschritts« bezeichnet und in Gegensatz zur »teutonischen Ursprache« gebracht. Das Annehmen der »Fremdsprache des Fortschritts« von Teilen der deutschen Gesellschaft wird schließlich für den Verlust des Krieges verantwortlich gemacht: »[M]an hatte eine fremde Sprache zu sprechen sich angewöhnt, – durfte man sich wundern, dass der Fremde zur Herrschaft kam?«39 Diesen Sieg der »fremden Sprache« hält aber Jünger auf keinen Fall für endgültig: Aber man darf nie vergessen, dass der Fremde nur die Oberfläche zu zeichnen vermag, und dass sein Sieg nur dann absolut sein kann, wenn ein Volk ganz Oberfläche geworden ist, – wenn die letzten seiner Dämonen gestorben sind. Dennoch, und dies ist unser Glaube, gehört die deutsche Sprache den Ursprachen an, und als Ursprache flößt sie der zivilisatorischen Sphäre, der Welt der Gesittung, ein unüberwindliches Mißtrauen ein.40

Das Deutsche fungiert hier also als eine letzte, unüberwindbare Hürde gegen den Sieg der Alliierten und ihrer Ideologie, des Liberalismus, wobei im Sinne der linguistischen Relativität angenommen wird, dass die Art und Weise, wie das Deutsche die Realität ›widerspiegelt‹, schließlich zur Überwindung der Niederlage führen muss.

Gemeinschaft Zu den wichtigsten Momenten, welche die spezifische Kultur der Niederlage in Deutschland nach 1918 (mit)geprägt haben, gehören zweifelsohne auch die ›Ideen von 1914‹, die sich bereits kurz nach dem Ausbruch des Krieges als ein dominanter Sinngebungskomplex etablierten und im Verlauf des Krieges sowie nach seinem Ende kaum an Virulenz verloren. Wie Jeffrey Verhey41 und Matthias Schöning42 in ihren maßgebenden Arbeiten gezeigt haben, lag den ›Ideen von 1914‹ bzw. dem ›Geist von 1914‹ die euphorische Stimmung zugrunde, die im Zuge des Augusterlebnisses bei Teilen der deutschen Bevölkerung herrschte und deren realgeschichtliche Grundlage von den Sinnproduzenten entsprechend verklärt wurde: Ideengeschichtlich […] bezeichnet der Begriff »Augusterlebnis«, was die deutschen Intellektuellen in den Wochen zwischen Kriegsbeginn und Advent 1914 daraus [= aus der realgeschichtlichen Grundlage, MH] gemacht haben. Im Ergebnis dieser Deutungsarbeit steht der »August 1914« für einen kollektiven Aufbruch der Deutschen, denen der Krieg zum Anlass wird, alle individuellen Sorgen und mehr noch den 39 Ebd., S. 147. 40 Ebd., S. 147 f. 41 Verhey, Jeffrey: The Spirit of 1914. Militarism, Myth, and Mobilization in Germany, Cambridge 2000. 42 Schöning, Matthias: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933, Göttingen 2009.

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Individualismus selbst abzuschütteln und sich zu einem organischen Volkskörper zu einen. […] Die Bilder, die die verschiedenen Intellektuellen im Einzelnen zeichnen, sind natürlich unterschiedlich nuanciert. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass das vermeintliche Kollektiverlebnis die »Geburt« einer nationalen Gemeinschaftlichkeit stiften soll.43

Der Komplex der ›Ideen von 1914‹ erwies sich als überraschend resistent gegenüber den Enttäuschungen der (Nach)Kriegszeit, die den Traum von einer durch den Krieg gestifteten allumfassenden nationalen Gemeinschaft bereits bald als illusorisch hätten erscheinen lassen können: Die wachsenden politischen und sozialen Spannungen führten dementsprechend nicht zum Verschwinden der ›Ideen von 1914‹, sondern zu ihrer Transformation, genauer gesagt, wurde das dem Komplex der ›Ideen von 1914‹ zugrunde liegende Narrativ transformiert, und zwar im Hinblick auf seine zeitliche Struktur sowie soziale Dimension: Der ursprünglich als ›Umbruch‹ bzw. ›Wende‹ verstandene Kriegsausbruch, durch den die Krisen und Konflikte der Vorkriegszeit hätten beendet und von der erhofften nationalen Gemeinschaft abgelöst werden sollen, wurde zu einer Ouvertüre uminterpretiert, die nicht das Ende der (Vorkriegs)Krisen, sondern vielmehr den Eingang in ein Zeitalter der Kataklysmen markierte, in dem die alte Gesellschaft und der bürgerliche Kulturbestand vollständig vernichtet werden sollten. Das Entstehen der nationalen Gemeinschaft wurde somit zu einem Zukunftsprojekt erklärt, welches erst nach der Sprengung alles Überkommenen verwirklicht werden konnte. Was die soziale Dimension betrifft, wurden die Grenzen der ursprünglich als allumfassend konzipierten nationalen Gemeinschaft immer enger gezogen – für bestimmte Gruppen sollte es in dieser keinen Platz mehr geben.44 Ins Extreme wurde diese Tendenz bei zahlreichen radikal nationalistischen Frontsoldaten gesteigert, die sich selbst als Nukleus der noch zu etablierten Gemeinschaft verstanden.45 Wie bereits oben angedeutet wurde, leiteten sie dabei ihre Berufung vor allem aus ihrem Fronterlebnis ab, denn in den Materialschlachten des Weltkriegs habe sich die Zukunft geoffenbart – nur wer die Herausforderungen des Weltkriegs, den massivem Einsatz von Material und Technik gemeistert habe, sei befähigt, die ›versprengte Gemeinschaft‹ zu sammeln und zu führen. Dass sich das privilegierte Wissen, das man im Krieg gewonnen habe, nicht zuletzt auf die Sprache bezieht, wurde ebenfalls bereits thematisiert: In seinen Reflexionen des Kriegserlebnisses konstatiert unter anderem Ernst Jünger ein 43 Schöning, Matthias: Eskalation eines Narrativs. Vier Idealtypen zur Entwicklung der »Ideen von 1914«, in: Borissova, Natalia u. a. (Hg.): Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts, Bielefeld 2009, S. 41–57, hier S. 41 f. 44 Das bekannteste Beispiel stellt in diesem Zusammenhang sicher die ominöse ›Juden­ zählung‹ im deutschen Heer dar – vgl. Berger, Michael: Eisernes Kreuz – Doppeladler – Davidstern. Juden in deutschen und österreichisch-ungarischen Armeen. Der Militärdienst jüdischer Soldaten durch zwei Jahrhunderte, Berlin 2010, S. 50–106. 45 Vgl. Schöning, Eskalation …, S. 53.

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›Verrohen‹ der Sprache, ihre Reduzierung auf das Wesentlichste. Die Gemeinschaft der »Landsknechte« zeichnet sich ihm zufolge durch einen eigenen Code aus, welcher der Realität des Krieges wesentlich gerechter sei, als alle Reflexionen von Nicht-Kombattanten: »Du lieber Gott, wie waren diese Kerle doch jenen Leuten überlegen, die in Genf und Zürich sich schriftlich über den Krieg entrüsteten und nachher behaupteten, dem wirklichen Pulsschlag der Zeit nahe gewesen zu sein.«46 Jüngers Reflexionen über Sprache und Krieg bzw. über die soldatischen Erfahrungen einer verborgenen Dimensionen der Sprache fungieren somit auch als Bekräftigung der Gemeinschaft der Frontsoldaten, die sich vom Rest der Bevölkerung nicht zuletzt durch eine Sprache abhebt, welche die durch den Weltkrieg fundamental veränderte Realität am ehesten reflektieren kann. Und da in seinen späteren Werken vom Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre der Krieger zunehmend als eine Ausprägung der Gestalt des Arbeiters konzeptualisiert wird, lassen sich viele der oben diskutierten Punkte auch auf Jüngers Überlegungen zur Sprache des Arbeiters applizieren, die er »Befehlssprache« nennt und als eine radikale Machtsprache konzeptualisiert, welche den Prozess der Reflexion ausschaltet und direkt als ein Reiz-Reaktions-Mechanismus47 wirkt: Eine durch die Gestalt des Arbeiters legitimierte Macht muß, insofern sie etwa als Sprache erscheint, auf den Arbeiter als auf eine ganz andere Schicht stoßen, als sie durch die Kategorien des 19. Jahrhunderts erfasst werden kann. Sie muß auf jenes Menschentum stoßen, das seinen Freiheitsanspruch als Arbeitsanspruch begreift und das bereits Sinn für eine neue Befehlssprache besitzt. […] Jede Haltung, der ein wirkliches Verhältnis zur Macht gegeben ist, läßt sich auch daran erkennen, dass sie den Menschen nicht als das Ziel, sondern als ein Mittel, als den Träger sowohl der Macht wie der Freiheit begreift. Der Mensch entfaltet seine höchste Kraft, entfaltet Herrschaft überall dort, wo er im Dienste steht. Es ist das Geheimnis der echten Befehlssprache, dass sie nicht Versprechungen macht, sondern Forderungen stellt.48 46 Bezeichnenderweise fehlt diese Passage in Jüngers Sämtlichen Werken. Zit. Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1929, S. 58. 47 Der Befehl wird erteilt (Reiz), und der Einzelne folgt ihm direkt (Reaktion). Die »Befehlssprache« ist zwar immer noch ein Kommunikationsprozess, ein Designationsprozess ist sie jedoch auf keinen Fall: »Ein Kommunikationsprozeß, bei dem es keinen Kode und mithin keine Designation gibt, wird zu einem bloßen Reiz-Reaktions-Prozeß. Bei bloßen Reizen fehlt eines der elementarsten Merkmale des Zeichens: es steht für etwas anderes. Der Reiz steht nicht für etwas anderes, sondern ruft dieses andere unmittelbar hervor. Ein blendendes Licht, das mich zwingt, plötzlich die Augen zu schließen, ist deutlich verschieden von einer verbalen Aufforderung, die Augen zu schließen. Im ersten Falle mache ich die Augen zu, ohne zu reflektieren, im zweiten Falle muß ich zuallererst die Aufforderung verstehen, also die Botschaft dekodieren (Zeichenprozeß) und dann entscheiden, ob ich ihr Folge leisten will (ein Willensakt, der über die Semiotik hinausgeht).« Eco, Umberto: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M. 1977, S. 26 f. 48 Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8, Stuttgart 1981, S. 9–317, hier S. 78.

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Im Unterschied zu Ernst Jüngers Reflexionen über die Sprache des ›Kriegers‹ und des ›Arbeiters‹, in denen die Erfahrung der Materialschlachten als grund­ legend für die Erkenntnis von sonst verborgenen Sphären der Realität präsentiert und somit auch die Entstehung einer privilegierten Gemeinschaft von Wissenden inszeniert wird, tragen Carl Schmitts Gedanken zum Zusammenhang zwischen Sprache und Gemeinschaft deutlich ›performative‹ Züge, denn wie zu zeigen sein wird, wird nach Schmitt die Gemeinschaft erst durch spezifische Sprechakte konstituiert. Die Erfahrung von Zusammengehörigkeit bzw. die Überzeugung davon, Teil einer »homogenen« Gruppe zu sein, stellt nach Carl Schmitt bekanntlich die Grundlage für die Existenz eines gut funktionierenden Staates dar. Daher setzt er sich in zahlreichen Schriften (nicht nur) aus der Zeit der Weimarer Republik mit der Frage auseinander, wie die Homogenität einer Gruppe verstärkt werden kann und wodurch sie bedroht wird. Schmitts Antwort auf den zweiten Teil der Frage ist eindeutig: Es ist primär der Liberalismus und das Bürgertum als seine Trägerschicht, die systematisch – auch wenn größtenteils unbewusst – an der Unterminierung der »demokratischen Homogenität«49 arbeiten, denn das »liberale Bürgertum« sei seinem Wesen nach eine »diskutierende Klasse«, die alle schwerwiegenden Konflikte durch das »Gespräch«, durch Suche nach Kompromissen zu verhindern versucht. Bei dieser Bestimmung des Liberalismus beruft sich Schmitt in seiner Politischen Romantik vor allem auf Donoso Cortés und seine Analyse des Bürgertums: Es liegt, nach Cortés, im Wesen des bürgerlichen Liberalismus, sich in diesem Kampfe [zwischen dem Liberalismus und dem Sozialismus, MH] nicht zu entscheiden, sondern zu versuchen, stattdessen eine Diskussion anzuknüpfen. Die Bourgeoisie definiert er geradezu als eine »diskutierende Klasse«, una clasa discutidora. Damit ist sie gerichtet, denn darin liegt, dass sie der Entscheidung ausweichen will. Eine Klasse, die alle politische Aktivität ins Reden verlegt, in Presse und Parlament, ist einer Zeit sozialer Kämpfe nicht gewachsen.50

Der Liberalismus und das Bürgertum seien Exponenten eines »occasionalistischen Denkens«, das prinzipiell alle existenziellen Entscheidungen51 und Konflikte meidet und das Heil in der Diskussion sucht. Der Okkasionalismus stellt nach Schmitts Definition einen Zeichenprozess dar, in dem das Zeichen prinzipiell nicht auf ein Objekt (im weitesten Sinne des Wortes), sondern auf

49 Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München 1926, S. 23. 50 Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1922, S. 52. 51 Zur ›Entscheidung‹ als einem der Schlüsselbegriffe der Zwischenkriegszeit vgl. Krockow, Christian von: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958.

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alle anderen Zeichen verweist – so wird dieser zu einer extremen Form der »unbegrenzten Semiose«52: Die Beziehung des Occasionalismus ist eben, paradox formuliert, die Beziehung der nicht-faßbaren Beziehung, die Beziehung der alle Möglichkeiten offen lassenden Nicht-Beziehung, der Viel-, ja der Alles-Deutigkeit, eine im Grunde phantastische Beziehung.53

In der »romantischen Kommunikation«54 könne also alles als Anlass »zur Selbstreproduktion des romantischen Geistes«, zur »[Anschlussmöglichkeit] für selbstreferentielle Kommunikation«55 werden. Ihr Ergebnis sei die Intensivierung des Subjektivierungsprozesses, der für Schmitt bei Descartes ansetzt und der, konsequent umgesetzt, zur »Auflösung« der Gesellschaft in einzelne völlig auf sich gestellte Individuen münde – ein Zustand, den Schmitt als ein Signum der »bürgerlichen Welt«56 apostrophiert, »die das Individuum im Geistigen isoliert« und in der es »dem privaten Individuum überlassen [ist], sein eigener Priester zu sein«57. Zentral bleibt in Schmitts Kritik des okkasionalistischen Denkens, das er als für die Romantik und, man darf den Konnex nicht vergessen, den Liberalismus konstitutiv betrachtet, jedoch der Vorwurf, dass es durch das »ewige Gespräch« Begriffe und Formen im Allgemeinen auflöse:58 Wo eine nur auf sich gestellte Innerlichkeit walte, in der alles zum freien Spiel der Zeichen wird, dort könne es keine Objektivität, keine Repräsentation59 und keine festen politischen Begriffe geben, ohne die es auch keine klare Unterscheidung zwischen Freund und Feind geben könne: [A]lle politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte [haben] einen polemischen Sinn: sie haben eine konkrete Gegensätzlichkeit im Auge, sind an eine konkrete Situation 52 Siehe Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation, München 1995, S. 427–432. 53 Schmitt, Carl: Politische Romantik, München 1925, S. 124, Anm. 1. 54 Vgl. Fuchs, Peter: Die Form romantischer Kommunikation, in: Athäneum. Jahrbuch für Romantik 3 (1993), S. 199–222. 55 Hebekus, Uwe: Katholische Klassik und Form des Politischen, in: Ders. u. a. (Hg.): Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, München 2003, S. 39–59, hier S. 42 f. 56 Schmitt: Politische Romantik, S. 26. 57 Ebd. 58 Siehe dazu auch Weymar, Matthias: Carl Schmitt. Sprache der Krise / K rise der Sprache, in: Pircher, Wolfgang (Hg.): Gegen der Ausnahmezustand. Zur Kritik an Carl Schmitt, Wien 1999, S. 53–84, v. a. S. 60–65. 59 »Was nur Privatsache und nur privaten Interessen dient, kann wohl vertreten werden; es kann seine Agenten, Anwälte und Exponenten finden, aber es wird nicht in einem spezifischen Sinne repräsentiert. […] In der Repräsentation dagegen kommt eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung. Die Idee der Repräsentation beruht darauf, dass ein als politische Einheit existierendes Volk gegenüber dem natürlichen Dasein einer irgendwie zusammenlebenden Menschengruppe eine höhere und gesteigerte, intensivere Art Sein hat.« Schmitt, Carl: Verfassungslehre, München 1928, S. 210.

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gebunden, deren letzte Konsequenz eine (in Krieg oder Revolution sich äußernde) Freund-Feindgruppierung ist, und werden zu leeren und gespenstischen Abstraktionen, wenn diese Situation entfällt. Worte wie Staat, Republik, Gesellschaft, Klasse, ferner: Souveränität, Rechtsstaat, Absolutismus, Diktatur, Plan, neutraler oder totaler Staat usw. sind unverständlich, wenn man nicht weiß, wer in concreto durch ein solches Wort getroffen, bekämpft, negiert und widerlegt werden soll.60

Lässt eine politische und / oder soziale Gruppierung zu, dass ihre zentralen Begriffe ›entleert‹ werden bzw. dass sie ihre Verankerung im Freund-FeindDenken verlieren, ist sie nach Schmitt zum Scheitern verurteilt – ein Thema, an dem er sich am Beispiel des Liberalismus in seinen Schriften (nicht nur) aus der Weimarer Zeit abarbeitet.61 Gleichzeitig entwirft er eine Begriffspolitik, die diesem Entleeren entgegenwirken soll: Nur wenn klar ist, wer mit einem Begriff »getroffen« und »bekämpft« werden soll, handele es sich um eine »evidente Vorstellung«62, die immun gegen die liberale »Zersetzung« sei. Ein Gedanke, den Schmitt vor allem in Der Begriff des Politischen entwickelt und zwei prinzipielle Denkmodelle unterschiedet: Einen »polemisch-diadischen«, der imstande sei, entsprechende auf der Freund-Feind-Unterscheidung basierende Begriffe zu produzieren, und einen »triadischen«, dem er jegliche polemische Wirkung abspricht. Das Denken in »triadischen« Kategorien wird ihm unter diesem Gesichtspunkt zum Signum des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, dessen »geistiges« Ende er mit der wieder an Stärke gewinnenden »diadischen« Denkform verbindet: Der Dreigliedrigkeit fehlt aber die polemische Schlagkraft der zweigliedrigen Antithese. Sobald daher nach Zeiten der Ruhe, Ermüdung und Restaurationsversuche der Kampf wieder begann, siegte wieder die einfache zweigliedrige Gegenüberstellung; selbst in Deutschland, wo sie keineswegs kriegerisch gemeint waren, haben in der 60 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1987, S. 13. 61 Die Genese der liberalen Begrifflichkeit wird als Zerfall des ursprünglich auf dem Freund-Feind-Schema basierenden einheitlichen Begriffsuniversums in zwei Bereiche gedeutet – den des »Wirtschaftlichen« und den des »Geistigen« (bzw. »Ethischen«): »So wird der politische Begriff des Kampfes im liberalen Denken auf der wirtschaftlichen Seite zur Konkurrenz, auf der anderen, »geistigen« zur Diskussion; an die Stelle einer klaren Unterscheidung der beiden verschiedenen Status »Krieg« und »Frieden« tritt die Dynamik ewiger Konkurrenz und ewiger Diskussion. Der Staat wird zur Gesellschaft, und zwar auf der einen, der ethisch geistigen Seite zu einer ideologisch-humanitären Vorstellung von der »Menschheit«; auf der anderen zur ökonomisch-technischen Einheit eines einheitlichen Produktions- und Verkehrssystems. […] Aus dem politisch geeinten Volk wird auf der einen Seite ein kulturell interessiertes Publikum, auf der anderen teils ein Betriebs- und Arbeitspersonal, teils eine Masse von Konsumenten.« Ebd., S. 70 f. 62 »Jede Epoche politischen und staatlichen Denkens hat solche Vorstellungen, die ihr in einem spezifischen Sinne evident erscheinen und, wenn auch vielleicht unter vielen Mißverständnissen und Mythologisierungen, großen Massen ohne weiteres einleuchten.« Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage …, S. 31.

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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Duale wie Herrschaft und Genossenschaft (bei O. Gierke) oder Gemeinschaft und Gesellschaft (bei F. Tönnies) Hegels dreigliedriges Schema verdrängt.63

Das »wirksamste Beispiel« einer »zweigliedrigen Konstruktion« findet Schmitt jedoch bei Karl Marx, dessen »Antithese von Bourgeois und Proletarier, die alle Kämpfe der Weltgeschichte in einem einzigen, letzten Kampf gegen den letzten Feind der Menschheit zu konzentrieren sucht«64. Ein deutlicher Hinweis auf den eigentlichen »Feind«, vor dem Schmitt warnen will – den Sozialismus, der nicht zuletzt so wirksam sei, weil sein klares »Feindbild« (der »Bourgeois«)65 und seine polemischen Begriffe gruppenbildend wirken. Die Bedeutung der polemischen Begriffe liege also nicht nur in ihrer Resistenz gegen die »Auflösung« durch das »ewige Gespräch«, sondern auch in ihrer Fähigkeit, Menschen zu mobilisieren und bei der Entstehung einer homogenen Nation mitzuwirken, die Schmitt als das Fundament eines richtig funktionierenden Staates auffasst. Und da für ihn Nation bzw. Volk primär »öffentliche Größen« sind, legt er großen Wert auf den Prozess der Repräsentation, dem die prinzipielle Aufgabe zukomme, den Menschen im öffentlichen Raum die ›existenzielle‹ Erfahrung von Einheit zu vermitteln, die dem isolierten, privaten Individuum verschlossen bleibe – die von Schmitt mehrmals thematisierte und als Ideal anvisierte rhetorisch wirksame Rede vor einer großen Menschenversammlung,66 in der sich die Würde des Sprechenden manifestiert, fungiert primär als ein emotionales Bindeglied, dass die Gemeinschaft stiftet und verstärkt. Und Schmitt lässt keine Zweifel daran, dass nach seiner Überzeugung eine der zentralen Bedingungen für die Wirksamkeit dieser Rede und somit auch das Gelingen der angestrebten Identitätsstiftung in der klaren Benennung und Ausschließung der »Feinde« liegt. 63 Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 73. 64 Ebd. 65 Die Aufforderung zum Kampf gegen den »Bourgeois« als den »letzten Feind der Menschheit« habe vor allem im Manifest der kommunistischen Partei klare apokalyptische Züge und sei auch deswegen so wirksam gewesen. In Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus heißt es dazu: »Auch der Bourgeois war als hassenswerte Figur 1848 längst bekannt, und es gab damals kaum einen bedeutenden Literaten, der das Wort nicht als Schimpfwort gemeint hätte. Neu und faszinierend war am kommunistischen Manifest etwas anderes: die systematische Konzentrierung des Klassenkampfes zu einem einzigen, letzten Kampf der Menschheitsgeschichte, zu dem dialektischen Höhepunkt der Spannung: Bourgeoisie und Proletariat. Die Gegensätze vieler Klassen werden zu einem letzten Gegensatz vereinfacht. […] Die Vereinfachung bedeutet eine gewaltige Steigerung der Intensität.« Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage …, S. 71. 66 »Weder in einen Diskurs, noch in ein Diktat, noch in Dialektik verfallend, bewegt sie [= die große Rede, MH] sich in ihrer Architektur. Ihre große Diktion ist mehr als Musik; sie ist eine in der Rationalität sich formenden Sprechens sichtbar gewordene menschliche Würde. Alles das setzt eine Hierarchie voraus, denn die geistige Resonanz der großen Rhetorik kommt aus dem Glauben an die Repräsentation, die der Redner beansprucht.« Schmitt: Römischer Katholizismus …, S. 33.

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Führung Wie bereits die obigen Ausführungen zum Krieg und zur Gemeinschaft angedeutet haben, gehören zum Kontext, in dem innerhalb der ›Konservativen Revolution‹ das Thema Sprache und Politik häufig thematisiert wird, auch Auseinandersetzungen über Führung und Führer: Der privilegierte Zugang des ›Kriegers‹ zu sonst verborgenen Sphären der Sprache bekräftigt nicht zuletzt seinen Anspruch auf Führung und somit auch seine Rolle als künftiger ›Sammler‹ der verstreuten Gemeinschaft. Im Folgenden soll daher nur kurz ein weiterer Zusammenhang gestreift werden, in dem die Verbindung zwischen Sprache und Führung in der ›Konservativen Revolution‹ diskutiert wird, nämlich Reflexionen über ›Dichter als Führer‹. Dass diese Devise in der Weimarer Zeit geläufig war, zeigt nicht nur Max Kommerells umfangreiche Studie zum Dichter als Führer in der deutschen Klassik,67 sondern auch Hofmannsthals Schrifttum-Rede mit ihrer Akzentuierung der »Suchenden« als geistiger Führer der Nation, sowie Rudolf Borchardts Gedanken über Dichter als Herrscher und Propheten, die er in der Weimarer Zeit in mehreren Aufsätzen und Reden, am prägnantesten jedoch in seiner Rede Über den Dichter und das Dichterische formulierte. Ähnlich wie Hofmannsthal in seiner Schrifttum-Rede sieht auch Borchardt den Dichter bzw. insgesamt das »Dichterische« in einer tiefen Krise und auch er diagnostizierte die Ursprünge dieser Krise v. a. in den politischen und sozialen Änderungen des 19. Jahrhunderts, deretwegen ein großer Teil der Deutschen den Zugang zum »geschichtliche[n] Gehalt des nationalen Bestandes«68 und somit auch zur »wahren« Dichtung verloren habe. Die für Borchardt sakrale Verbindung zwischen dem Dichter und dem Volk sei so zu einem Geschäftsverhältnis zwischen »Unternehmertum« und einem »Publikum« geworden,69 bei dem ein nur am Gewinn orientiertes »literarisches Sykophanten- und Parasitengeschlecht«70 den Ton angebe. Eine fatale Lage, in der praktisch keine 67 Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik: Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin, Berlin 1928. 68 Borchardt, Rudolf: Revolution und Tradition in der Literatur, in: Ders.: Reden, Stuttgart 1955, S. 210–229, hier S. 221. 69 »Beiden [=dem Publikum und dem Unternehmertum, MH] ist der geschichtliche Gehalt des nationalen Bestandes nicht mehr zu überliefern gewesen, beide erblicken naturnotwendig in Tradition und Bestand dunkel eine Art Vorgeschichtete ihrer Existenz, an die sie nicht erinnert zu werden wünschen, beide setzen den Wert des literarischen Werks in das auffallend Neue, beide setzen Literatur und Aufruhr instinktiv gleich.« Ebd. 70 »Zwischen Unternehmertum und Publikum, dem ersten zugehöriger als dem letzteren, wirkt ein literarisches Sykophanten- und Parasitengeschlecht, das wie jenes am immer rascheren Umsatz immer mehr verdient und den neuen Bestand, wo immer er sich bilden will, kaum so lange gewähren lässt, wie er noch um seine Ausbildung ringt. Währt es zu lange, so sorgt er mit allen Mitteln für Beschleunigung der Veraltung und der Ab-

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Dichtung, sondern nur noch massenweise produzierte »Unterhaltungsware« entstehe, zu deren Kennzeichen nicht zuletzt ein krampfhaftes Streben nach Innovationen und Zerstörung der Sprache gehören: Während die politische und soziale Emanzipation beim Kinde angelangt war, um es freizulassen und gleichzuberechtigen, hielt die parallele Literarrevolution bei der Lyrik an. Sie hat dann, wie Ihnen allen erinnerlich sein wird, auf die deutsche Prosa übergegriffen, den Aufruhr der Syntax und der Grammatik durchgesetzt, und wenn sie auf ihrem Trümmerfeld heute erschöpft innehält, so ist auch dieser Waffenstillstand nur eine täuschende Pause, weil sie das Gesetz des Handelns seit fast hundert Jahren abgegeben hat und weiter umstürzen muß, solange sie umzustürzen findet.71

Das Gegenbild zum Untergang des Dichterischen im Zuge der von Borchardt in mehreren Texten angeprangerten »Emanzipation« des 19. Jahrhunderts wird in einer – mythisch verklärten – Anfangszeit der Kultur und des Staates gesucht, in der es noch keine Ausdifferenzierung der Gesellschaft in einzelne spezialisierte Bereiche gegeben habe und der Dichter folglich dank seines Kontakts zum »Göttlichen« gleichzeitig zum Propheten und Herrscher erhoben worden sei: [E]rlauben Sie mir zu beschreiben, wie der Dichter in der Zeit aussah, aus der die älteste Kunde von ihm uns trifft. So sieht er aus: Er hat den Stab in der Hand und einen Kranz auf dem Haupte. Das ist nicht eine Ehrentracht, sondern das ist eine Berufstracht. Die Tracht dieses Berufes teilt er mit anderen Berufen, z. B. mit dem Berufe des Königs und dem des Priesters. Kranz und Krone sind dasselbe Ding. Der Stab, den er trägt, und der Stab, der dem Redner in der Volksversammlung vom Herold gereicht wird, und der Stab in den Händen des Königs, der gemeinhin das Szepter heißt, – sie sind dasselbe Ding.72

Diese privilegierte Stellung des Dichters sei das Resultat seiner fundamentalen Andersartigkeit, denn der Unterschied zwischen ihm und den ›normalen‹ Menschen wird von Borchardt als ein metaphysischer dargestellt: Der Dichter habe Zugang zur Sphäre des »Göttlichen« und Borchardt geht sogar so weit, dass er ihn zu einer eigenen »Varietät« des Menschen erklärt, die er als »homo sapiens varietas poetica«73 bezeichnet. Um dessen metaphysischen Charakter zu

räumung, stößt der Urteilsbildung in Flanke und Rücken, fegt die Theater, verhindert die Konsolidierung eines Repertoires, unterwühlt kanonisch werdende Geltungen, bereitet Schilderhebung nach Schilderhebung vor, zieht das Erwärmungsquantum, das bei Zersetzungen entsteht, ebenso unbekümmert ein wie andere Nebenabfälle von Substanzwandel und Umsatzbeschleunigung.« Ebd., S. 220 f. 71 Ebd., S. 222. 72 Borchardt, Rudolf: Über den Dichter und das Dichterische, in: Ders.: Prosa I, Stuttgart 1957, S. 39–70, hier S. 40. 73 »Wir müssen uns dazu entschließen, dieses wunderliche Wesen, den Dichter in seinem Verhältnis zum Ganzen, in seinem Verhältnis zum Werk, in seinem Verhältnis zu sich selbst […] als etwas anzusehen, was Sie mir für einen Augenblick erlauben wollen zu be-

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demonstrieren, greift er auf Herders Diktum von der Poesie als Ursprache der Menschheit zurück.74 Poesie sei auf keinen Fall […] eine Technik, eine Fertigkeit, etwas Lehrbares und Lernbares, ein Verhältnis zur Rhetorik, ein Verhältnis zu den belles lettres und schönen Künsten, zu den ausgestaltenden und beschreibenden Tätigkeiten des Menschengeistes: sondern Urphänomen; Muttersprache des Menschengeschlechts: also doch wohl eine verlorene Sprache. Denn das Menschengeschlecht ist in hundert Sprachen auseinandergeblüht; statt des Menschengeschlechts bewohnen die Welt Völker; Völker sprechen ihre Sprache […]. Über ihnen allen und hinter denselben allen sich erhebend: »Poesie« – Muttersprache, verlorene Sprache, Sprache eines verlorenen Typus, Sprache aus einer Zeit, in der das Menschengeschlecht ein Ganzes bildete, – als einziger Rest hiervon noch nicht verloren: vorhanden.75

»Poesie« als Ausdruck einer besonderen Beziehung zur Sprache, über die der Dichter verfügt, resultiere folglich aus seiner Verbindung zu den Göttern, denn er »wird von den Göttern besucht und erfährt ihren Besuch in der Form des Gesichtes«76. In den Augenblicken, in denen er »vom Gotte besessen und beherrscht« wird, »spricht er eine Sprache, die in der Gesamtheit und Gemeinschaft kein anderer spricht, eine Sprache von eigenen Worten, eine Sprache von eigener Betonung […]«77. Daher seien in der dichterischen Sprache keine »Mitteilungen« im üblichen Sinne des Wortes möglich – die wahre Dichtung transportiere keine gängigen Inhalte und sei daher auch kein Kommunikationsmittel. Ihre Wirkung liege primär in der Fähigkeit, […] denjenigen, an den sie sich richtet, dämonisch in den gleichen Zustand zu versetzen, in dem sich der befindet, der sich dieser Sprache bediente: durch dichterische Mittel das zu übertragen, was der Dichter erfahren hat: Besessenheit, Benommenheit, den Rausch, den Götterbesuch, das Gesicht.78

In Das Geheimnis der Poesie akzentuiert Borchardt den Unterschied zwischen der »Alltagssprache« und der Sprache der Dichtung noch stärker, indem er letztere als »Ursprache«, als »Sprachmacht an sich« bezeichnet, die in seiner Charakteristik deutliche Züge der absoluten Poesie trägt: Die Ursprache sei »sinnlos zeichnen als homo sapiens varietas poetica, ein eigener Typus, eine eigene Abart mitten in einem allgemeinen Genus, eine Abart, die durch die Jahrhunderte und Jahrtausende in einer auffälligen und unheimlichen Weise sich gleich geblieben ist, stigmatisiert, mit besonderen Kennzeichen behaftet, an denen es sich sofort kund tut als Besonderes und Eigenartiges.« Ebd. S. 52. 74 Zu Herders Sprachdenken und seiner Theorie über den Ursprung der Sprache siehe Gesche, Astrid: Johann Gottfried Herder. Sprache und die Natur des Menschen, Würzburg 1993. 75 Borchardt: Über den Dichter …, S. 39. 76 Ebd., S. 40. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 41.

Zur Politik der Sprache in der ›Konservativen Revolution‹ 

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wie ein Wirbel«, mit »einer eigenen Syntax oder Grammatik«, mit »eigene[n] Worten, Formen, Beugungen, Endungen«79. Auch wenn Borchardt bei seiner Bestimmung des Dichterischen auf klassische Topoi des Dichters als ›vates‹ rekurriert,80 ist der kritische Bezug zu seiner Gegenwart, in der er die Marginalisierung des »Dichterischen« zu beobachten glaubt, evident. Sie wird zu einem Tiefpunkt in der zunehmenden Marginalisierung des Dichterischen erklärt, während welcher der Dichter aus dem Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens an seinen Rand verdrängt wurde, weil er im Zuge der wachsenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft in einzelne spezia­ lisierte Bereiche81 seine ursprüngliche politische und religiöse Funktion verliert. Das Resultat sei schließlich eine Art ›soziale Obdachlosigkeit des Dichterischen‹: Wie als ob Sie von einer Zwiebel Schale um Schale, Hülle nach Hülle abziehen, so entblättert sich, enthülst sich die Form des Dichterischen im Laufe der großen europäischen Jahrtausende und sie lässt zum Schlusse nichts weiter zurück als den schmalen, blassen, schlanken Keim, den schutzlosen, von nichts weiter mehr eingehüllten, der noch immer wieder von Generation zu Generation aufsteigt und nach Hülle verlangt.82

Der von Borchardt als katastrophal dargestellte Zustand der Dichtung, an dem vor allem die wachsende Komplexität der modernen Gesellschaft schuld sei, äußere sich nicht zuletzt darin, dass es in Europa keine Dichter mehr gebe bzw. überhaupt geben könne, die wirklich die Bezeichnung »Dichter« verdienen würden. In Italien sei der letzte Dichter D’Annunzio gewesen, in England Swinburne.83 Die einzige Ausnahme in diesem allgemeinen Untergang des Dichterischen stelle Deutschland dar, wo es zwar in der Gegenwart nicht in »starker Form«, aber immerhin in vielversprechenden Ansätzen vorhanden sei.84 Deshalb erscheint Deutschland auch als das einzige Land, von dem eine umfassende »schöpferische Restauration« ausgehen könne, die Borchardt in einer seiner

79 Borchardt, Rudolf: Das Geheimnis der Poesie, in: Ders.: Reden, Stuttgart 1955, S. 123–139, hier S. 133. 80 Siehe auch Schuller, Wolfgang: Nation und Nationen bei Rudolf Borchardt, in: Kauffmann, Kai (Hg.): Dichterische Politik. Studien zu Rudolf Borchardt, Bern 1997, S. 11–26, hier S. 20 f. 81 »Das erste, was sich von dem Dichter historisch losmacht, ist die ›Religion‹ an und für sich. Vom Dichter emanzipiert sich der Priester. Das zweite, was sich von ihm emanzipiert, ist das Gesetz. Das Gesetz tritt abseits von der Person, das Gesetz baut sich auf als Verfassung oder Satzung des Staates und als Privatrecht, kodifiziert sich, schafft sich eigene Berufe, wird unpersönlich, unpoetisch und antiprophetisch.« Borchardt: Über den Dichter …, S. 55. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 68. 84 »In Deutschland lebt das Dichterische ungebrochen fort. Nicht in starken Formen, aber immerhin in Formen, nicht in vollendeten Lösungen, aber mit dem gleichen Pochen unter der Decke, das anzeigt, dass Frühlinge bevorstehen.« Ebd.

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bekanntesten Reden ausgerufen hat85 und die nach seiner Überzeugung in der »restitutio in integrum des ideellen deutschen Volksganzen«86 gipfeln soll. Dass es sich dabei um einen Prozess handelt, der von den Dichtern ausgehen und von ihnen auch getragen werden soll, wurde bereits ausreichend thematisiert. Das Ziel dieser »restitutio« ist nicht nur die Erneuerung der Gesellschaft, sondern auch die Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit des Dichterischen, mit der auch die Erhebung des Dichters in seine ursprüngliche dichterisch-priesterlich-königliche Rolle einhergehen soll. Borchardts Überlegungen über den Status des Dichters in der modernen Gesellschaft zielen also letztendlich auf eine idealisierte Wechselwirkung, die Silvio Rizzi bereits 1958 wie folgt charakterisierte: »Borchardt will seine Zeit retten, indem er die Poesie rettet; er will aber auch die Poesie retten, indem er seine Zeit rettet.«87 Der hier thematisierte Kampf um »Positionen und Begriffe« und die Reflexion der sprachpolitischen und / oder -philosophischen Dimensionen dieser Auseinandersetzung gehören zu denjenigen Aspekten der ›Konservativen Revolution‹, die zwar kein völliges Desiderat darstellen, aber in der Forschung noch nicht ausreichend diskutiert wurden. Die vier oben kurz skizzierten Kontexte, in denen das Thema Sprache und Politik im Rahmen der ›Konservativen Revolution‹ eine prominente Rolle spielt, sollten dabei vor allem Folgendes verdeutlichen: Der im Denken der Zwischenkriegszeit omnipräsente Erste Weltkrieg prägte entscheidend auch die Konzeptualisierung des Bezugs zwischen Sprache und Politik in der ›Konservativen Revolution‹: Die Überzeugung, den »Krieg der Worte« und deshalb auch den Krieg als solchen verloren zu haben, veranlasste viele ›Konservative Revolutionäre‹ zu intensiven Auseinandersetzungen mit Fragen der Propaganda und Phänomenen, die man heute am ehesten unter dem Begriff des ›Framing‹ zusammenfassen würde. Die sprachpolitischen Konzepte, die sie in diesem Zusammenhang entwickelten, variieren freilich im Hinblick auf ihre Originalität und Komplexität erheblich, sodass sich neben larmoyanten Deutungen der Niederlage und Verklärungen des Deutschen zur ultimativen Waffe gegen die Ideologie des Liberalismus sehr wohl auch differenzierte Überlegungen zur Bildung und Stabilisierung von Gruppen als einem spezifischen performativen Akt finden lassen. Ein eigenes Kapitel bildet in dem hier thematisierten Zusammenhang schließlich die Rolle des ›Schrifttums‹ bzw. die (Selbst) Stilisierung der Schriftsteller zu künftigen Führern und Rettern der nationalen Gemeinschaft – dass gerade in diesem Kontext der Bezug zwischen Sprache und Politik besonders akzentuiert wird, liegt auf der Hand sowie die Tatsache, dass in Texten der Schriftsteller, die zur ›Konservativen Revolution‹ gezählt werden, häufig die Sprache des eigenen Werks als ein prominentes Mittel zur (Wieder) Herstellung der Nation inszeniert wird. 85 Borchardt, Rudolf: Schöpferische Restauration, in: Ders.: Reden, Stuttgart 1955, S. ­230–253. 86 Borchardt, Rudolf: Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts, in: Ders.: Reden, Stuttgart 1955, S. 324–344, hier S. 339. 87 Rizzi, Silvio: Rudolf Borchardt als Theoretiker des Dichterischen, Zürich (Univ. Diss.) 1958, S. 108.

Wojciech Kunicki, Wrocław

Aspekte des Religiösen in der ›Konservativen Revolution‹ Überwindung des Christentums in der Reichsidee oder ein neues christliches Reich?

In der Fragestellung dieses Beitrags geht es nicht um die Schöpfung konkurrierender Religionen und Religionsvorstellungen, wie zum Beispiel bei Gustav Frenssen, Der Glaube der Nordmark, der die letzten Konsequenzen aus der Erkenntnis zog, dass jedes Volk über einen eigenen Gottesbegriff verfüge und deshalb das Recht habe, eigene Wertevorstellungen aufgrund einer sogenannten »arteigenen« Religion zu formulieren.1 Mich interessiert stattdessen das Verhältnis der konservativ-revolutionären Schriftsteller zum Christentum, zur Ganzheit seiner Lehre, aber auch zu seinen »Versatzstücken«. Diese manifestierten sich in der sakral untermauerten Sprache im Prozess einer Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem im polemischen Prozess des Ideologiekampfes zwischen dem Marxismus und der »konservativ-revolutionären« Idee der 1920er Jahre. Ich verstehe dabei das Christentum ähnlich, wie es Wilhelm Stapel in seinem Werk Der christliche Staatsmann (1932) definierte: Damit ist das Christentum aus der Sphäre des Psychologischen in die Sphäre des Metaphysischen gehoben. Der Unterschied der Rassen betrifft wohl die Kulturform und die ›religiösen Empfindungen‹, aber nicht ›das Christentum‹ als solches. Die christliche Wahrheit ist nicht völkisch zugeordnet, sondern allen denen offenbart, denen sie von Gott bestimmt ist.2

Er versteht dieses universale Christentum mit Carl Schmitt als »Entscheidung und Entschluß. (›Entscheide dich und überlasse alles andere Gott;‹ Matthäus 10, 32 und 33)«3. Die offensichtliche Kluft zwischen dem universalen Anspruch des Christentums und seinen nationalen (jüdischen) Wurzeln wird bei den Konservativrevolutionären erstens mit der Idee der Entscheidung überwunden, zweitens mit der Idee des Volkes, das eine gottgewollte Ganzheit darstellt, drittens mit der Übernahme der »Reichsidee«, die eine Abkehr vom Christentum darstellt und eine Zuwendung zum säkularisierten übergeordnet politischen 1 Siehe die ausufernde Literatur zur deutschgläubigen Bewegung bei: Mohler, Armin: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Dritte, um einen Ergänzungsband erweiterte Auflage, Darmstadt 1989, S. 222–224. 2 Stapel, Wilhelm: Der christliche Staatsmann, Hamburg 1932, S. 22. 3 Ebd., S. 152.

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Dasein (das ›Reich‹ bei Friedrich Hielscher, das ›Imperium Teutonicum‹ bei Stapel, das ›Dritte Reich‹ bei Arthur Moeller van den Bruck, die ›Herrschaft des Arbeiters‹ bei Ernst Jünger oder das »übervölkische Reaktionssystem« bei Erwin Guido Kolbenheyer ) zum Ausdruck bringt. Im Zentrum des Interesses steht also die säkularisierte »Reichsidee« als eine übergeordnete Weltganzheit, un­abhängig davon, wie die Autoren sie bezeichnen. Denn: »Wirtschaft und Technik, die einen neuen Lebensraum der Menschen erschließen, haben eine übernationale Welt geschaffen. Das ist ein Zustand, der notwendig zu einer Zusammenfassung Europas drängt.«4 Stapel beruft sich dabei auf Kolben­heyers Erwägungen in den Scholien zur Bauhütte (1925). »Der Kraftfaktor der besiegten Völker ist nun um so weniger ausschaltbar, als der Kern aller der welterschütternder Ereignisse in einer übervölkischen biologischen Anpassung zu suchen ist.«5 Schon aus dem bei Kolbenheyer Angedeuteten wird deutlich, dass die Vorstellungen der Notwendigkeit einer übernationalen Einheit und die Überwindung der offensichtlichen Kluft zwischen dem Nationalen und dem Übernationalen des Christentums sich aus dem Ersten Weltkrieg und der zutiefst empfundenen Schmach speist, gepaart mit der Überzeugung von der besonderen Bedeutung des deutschen Volkes beim Schaffen einer föderalistischen, imperialen, völkerumfassenden Ganzheit.

Die Herrschaft der Minderwertigen von Edgar Julius Jung Die Herrschaft der Minderwertigen von Edgar Julius Jung ist einerseits eine radikale Auseinandersetzung mit dem modernisierten Christentum, das Jung in der Nähe einer aufklärerisch-individualistischen Weltanschauung sieht. Andererseits bildet die Schrift eine Abrechnung mit den heidnischen Tendenzen eines Seelenkultus, wie er exemplarisch für ihn von Ludwig Klages betrieben wird. Wie im Falle des neuen Mittelalters verurteilt er den Humanitarismus der verweltlichten, ehemals christlichen Religion mit den radikalen Worten Leontjews: Dieses humanitäre Pseudochristentum mit seiner sinnlosen Vergebung aller Sünden, ist in seinem Kosmopolitismus ohne klares Dogma, mit seiner Predigt der Liebe ohne Predigt des Glaubens und der Gottesfurcht, ohne Ritual, das uns das Wesen selbst der wahren Liebe versinnbildet –, dieses Christentum kann nur den allgemeinen Umsturz beschleunigen. Er ist verbrecherisch in seiner Milde selber.6

4 Ebd., S. 252. 5 Kolbenheyer, Erwin Guido: Die Bauhütte. Elemente der Metaphysik der Gegenwart, München 1925, S. 481. 6 Jung, Edgar Julius: Die Herrschaft, S. 61 f. Jung zitiert die Aussage Leontjews nach dem Aufsatz von Frank, Simon: Constantin Leontjew – ein russischer Nietzsche, in: Hochland, Jg. 26 (1928), H. 6, S. 613–632.

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Die Privatisierung des Glaubens, wie sie Schleiermacher vollzog und die Verlegung des Gottesgnadentums in die menschliche Aktivität, wie es der Calvinismus praktizierte, sind für Jung einzelne Stadien einer Säkularisierung, die auch das Profil Preußens und des Deutschen Reichs nach 1870 mitprägten.7 Auch der neuheidnische Flügel um Ludwig Klages, der seine Impulse aus der Romantik schöpft, sei zwar abzulehnen, es sei jedoch möglich, dass er neue Fragen nach »neuen religiösen Bindungen«8 stellen werde. Die Haltung zur Religion ist bei Jung weder katholisch, noch protestantisch geprägt, wobei er den »Protestantismus« nicht im Sinne einer konkreten Glaubensrichtung fasst, sondern als eine Gegenbewegung gegen die dogmatisch erstarrten Kirchen jeder Art. Das ihm vorschwebende Reich der Deutschen bildet ein Analogon zum englischen Imperium, das als »diesseitige[s] Werk der Reformation«9 entstand. Dass das künftige Reich der Deutschen eine religiöse Grundlage haben werde, steht dabei für Jung außer jedem Zweifel,10 was etwa im folgenden Zitat deutlich wird: »Die Wiedergeburt des Christentums kann ein neues Reich mit sich bringen, dessen Umrisse zu erahnen die schwere Aufgabe dieses Buches ist.«11

Ernst Jüngers Arbeiter Das Wort ›Christentum‹ fällt im Arbeiter nur einmal, und zwar im Zusammenhang mit dem »korrumpierten Christentum«, »in dem die Arbeit selbst als böse erscheint«12. Abgesehen von der Richtigkeit dieser Deutung fragt man sich, ob es in der Welt des Arbeiters einen Platz für das andere, vielleicht nicht korrumpierte Christentum gäbe? Jünger stellt fest, dass das Verhältnis zum 7 Ebd., S. 60. Er bringt den preußischen Calvinismus mit dem englischen Kapitalismus zusammen, merkt allerdings an, dass die spätere »humanistische Welle« auch den deutschen Norden überschwemmt und »die scharfen Umrisse des preußischen Bildes« verwischt habe. 8 Ebd., S. 63. 9 Ebd., S. 65. 10 Wobei man auch betonen muss, dass sich die Vision dieses Reiches zwar am Mittelalter im Sinne Bierdjajews orientiert, keineswegs aber nach einer Rekonstruktion des mittelalterlichen Reiches strebt, das auch das Abendland umfassen sollte, wie es etwa das einfluss­reiche Buch Alois Dempfs verkündet: Sacrum Imperium. Geschichte und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, Darmstadt 1954 (1. Auflage 1929). Zur Gruppe um die Zeitschrift »Abendland« siehe: Mohler, Armin / Weißmann, Karlheinz: Die Konservative Revolution in Deutschland. Ein Handbuch. 6. völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Graz 2005, S. 140. Mohler erwähnt auch Dempf als einen Autor der ›Konservativen Revolution‹ (Mohler: Die Konservative Revolution. Handbuch, S. 225), beschränkt sich aber lediglich auf die Aufzählung einzelner Autoren, die eine Idee des »katholischen Reiches« pflegten, vor allem im Kreis um Othmar Spann (vgl. ebd., S. 423). 11 Ebd., S. 65. 12 Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 1983, S. 71.

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Christentum gleichzeitig das Verhältnis zur Moderne ausdrückt. Er lobt mit Leon Bloy einen Priester, der dort das Recht hat, »wo er das Reich der Technik mit dem Reiche Satans identifiziert«13. Ein solcher Priester verfüge über »einen noch tieferen Instinkt als dort, wo er das Mikrophon neben den Leib Christi stellt«14. Trotz der hier geäußerten Bewunderung für das Unzeitgemäße, die das spätere Werk Jüngers prägen wird, stehe ein Christ (ähnlich wie der Bürger und der Nationalist) noch außerhalb der Welt des Arbeiters, er müsse aber die Tatsache akzeptieren, dass der Angriff der Technik zugleich Angriff auf seine Bindungen bedeute.15 So erscheint die Technik durch ihre bloße Existenz als eine antichristliche Macht: Die Technik, das heißt: die Mobilisierung der Welt durch die Gestalt des Arbeiters, ist, wie die Zerstörerin jedes Glaubens überhaupt, so auch die entschiedenste antichrist­ liche Macht, die bisher in Erscheinung getreten ist. Sie ist es in einem Maße, das das Antichristliche an ihr als eine ihrer untergeordneten Eigenschaften erscheinen läßt – sie verneint durch ihre bloße Existenz. Es besteht ein großer Unterschied zwischen den alten Bilderstürmern und Kirchenverbrennern und dem hohen Maße an Abstraktion, aus dem heraus von einem Artilleristen des Weltkrieges eine gotische Kathedrale als reiner Richtpunkt im Gefechtsgelände betrachtet werden kann.16

Im Laufe der weiteren Darstellung radikalisiert sich seine Meinung, so handle es sich bei der Präsenz der Technik um einen »Ersatz der Religion, und zwar der christlichen Religion, durch die Erkenntnis, die die Rolle des Erlösers übernimmt«.17 Diese ungeheure Usurpation erfolgt im Zuge der europäischen Rationalität, also als äußerste Konsequenz der Aufklärung, in der die pure Vernunft den Platz der alten christlichen Gottheit einnimmt. In der modernen Ausdrucksweise spricht Jünger von »Stufen der fortschreitenden Säkularisation«18. Wenn man den Duktus des Traktates berücksichtigt, muss man feststellen, dass Jünger deutlich um eine Perspektivierung bemüht ist; das Satanische moderner Reklame19 nimmt er sowohl mit den Augen E. T.A.  Hoffmanns als auch mit denen eines »Christen« wahr. Und noch eine Dimension seiner Kritik am Christentum, nämlich die antindividualistische, ist von Bedeutung. Die Verbindung, die Jünger zwischen dem Bürger und dem Christentum konstruiert, entspricht der Kritik des Liberalismus, wie sie in den meisten Werken der ›Konservativen Revolution‹ praktiziert wird: »Der Untergang des Individuums kündet zugleich das letzte Aufflackern der christlichen Seele an.«20 Auch die Anspielung auf 13 Ebd., S. 81. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 161. 16 Ebd., S. 165. 17 Ebd., S. 84. 18 Ebd., S. 219. 19 Ebd., S. 183. 20 Ebd., S. 219.

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­ ovalis, der übrigens zu den wichtigsten Autoren für Jünger gehörte, bestätigt N dies: Der Bürger strebe danach, den »Fortbestand der Christenheit oder Europa[s], und damit auch der bürgerlichen Welt« zu sichern.21 Hieraus ergeben sich zwei Fragen: Erstens, ob für Jünger in den späten 1920er Jahre eine Rückkehr zum Religiösen möglich schien und, falls ja, unter welchen Auspizien. Einiges können Jüngers Reaktionen auf das Hauptwerk Friedrich Hielschers, »Das Reich« (1931), das Jünger noch vor seinem »Arbeiter« offensichtlich rezipierte, erklären. »Das Reich« ist bekanntlich ein Hegelianisch angehauchtes22 Manifest der Religiosität, die aufgrund eines bestimmten »Seelentums«23 manifestiert und das ganze nationale Profil der Völker mitprägt. Hielscher glaubte in Ernst Jünger, dessen Freundschaft er genoss, einen Mitstreiter für die Auffassung zu finden, dass das Göttliche eigentlich das Geschichtliche in Form des Seelentums mitbestimme, das in der Reichsidee gipfele. Die Antwort Jüngers in einem wichtigen Brief vom 14. Dezember 1929 ist nicht eindeutig ablehnend, zumal Jünger in der Forderung Hielschers, ein »Bekenntnis« abzulegen, ein wichtiges Korrelat zu der Nietzscheanischen Idee eines »Willens zur Macht« sieht: »Auf den Spuren Nietzsches sind wir überzeugt von der Permanenz des Willens zur Macht. Dieser Wille ist an der Arbeit, auch wenn ihm noch kein Bekenntnis geschaffen ist.«24 Dieses Bekenntnis ist für Jünger offensichtlich die endgültige Sinngebung des Krieges und des gegenwärtigen Wirkens, das erst in Zukunft ausgearbeitet werden muss: »Wir werden vielleicht noch zehn Jahre nötig haben, um unser gegenwärtiges Erlebnis auf allen Gebieten des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Unser Bekenntnis muß der Nenner sein, der unter Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft steht.«25 Diese Ausrichtung auf die Zukunft eines möglichen und notwendigen »Bekenntnisses« schließt das Religiöse keinesfalls aus: »Ich meine, dass wir im Augenblick zugleich Jesuiten und Anarchisten sind. Wir sind die Träger einer unsichtbaren Kirche und die Zerstörung ist die Form unserer Vorbereitung.«26 In den Maxima-Minima. Adnoten zum Arbeiter (1964), die aus der Zeit des revidierten Verhältnisses Jüngers zum Christentum stammen, kehrt er zum Christentum via Schopenhauer zurück, so wie er in den Marmorklippen zum 21 Ebd., S. 252. 22 Vgl.: Lehner, Kurt M.: Friedrich Hielscher. Nationalrevolutionär, Widerständler, Heidenpriester, Paderborn 2015, S. 57: »Diese Konzeption verrät auch den Einfluss Hegels auf Hielscher, der sich auf dessen »Forderung nach Alleinwirklichkeit der göttlichen Vernunft« ausdrücklich berief. So kann man es ganz Hegelianisch gedacht empfinden, wenn Hielscher sagt, »Geschichte wird sichtbar als die Erscheinung des Göttlichen« (Zitat von Hielscher stammt aus: Ders.: Das Reich, Berlin 1931, S. 53). 23 Vgl. Hielscher: Das Reich, S. 30. »Des Seelentums, in dem ich stehe, bin ich gewiß«. Das Volks ist also für ihn »Erscheinung und Ausdruck des Seelentums«. Ebd. 24 Jünger, Ernst / Hielscher, Friedrich: Briefe 1927–1985. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Ina Schmidt und Stefan Breuer, Stuttgart 2005, S. 100. 25 Ebd. 26 Ebd.

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Christentum durch Nietzsche27 und in Heliopolis durch die Gnosis zurückgekehrt ist. Schopenhauer wird von Jünger als Schöpfer einer Ethik gesehen, die »es auf dem europäischen Boden mit der christlichen aufnehmen kann«28. In der folgenden Maxime gehe er »über unsere Halbinsel« hinaus: »Der Quäler und der Gequälte sind eins. Jener irrt, indem er sich der Qual, dieser indem er sich der Schuld nicht teilhaftig glaubt.«29 Schopenhauer meint, dass die Erkenntnis dessen, »gänzliche Erhebung über die Individualität und das Prinzip ihrer Möglichkeit«30 erfordere. Wenn man sich die Umgebung dieser Passage vergegenwärtigt, dann wird sichtbar, dass Schopenhauer auf die Vereinbarkeit der soeben formulierten indischen Weisheit mit einer christlichen Sicht auf das menschliche Verschulden aufmerksam macht, und zwar, indem er die Worte Calderons zitiert, der feststellte: Denn die ganze Schuld des Menschen ist, Dass er geboren wird.

Dies wird durch eine Perspektive der »christlichen« Theologie der Erbsünde ergänzt,31 die Jünger im Arbeiter verwirft. Dass es sich dabei um eine zutiefst christliche Erkenntnis handelt, belegt Jüngers durch Schopenhauer und Nietzsche geprägte Rezeption Dostojewskis.32

Moeller van den Bruck – das Christentum als nicht und noch nicht existierende Größe Für den Antisemiten Wilhelm Stapel war der Antisemitismus das andere Gesicht des Antigermanismus.33 Für Arthur Moeller van den Bruck hingegen hat das Christentum zwei funktionale Qualitäten. Es erlaube erstens die konserva27 Vgl.: Kunicki, Wojciech: Ernst Jüngers Rückkehr zur Theologie im Werk der 1930er Jahre, in: Das Paradoxe. Literatur zwischen Logik und Rhetorik. Festschrift für Ralph Rainer Wuthenow zum 70 Geburtstag, hg. von Carolina Rohman, Gehard Schipper-Hönicke, Würzburg 1999, S. 174–184. 28 Jünger, Der Arbeiter, S. 343. 29 Jünger, ebd. Siehe auch: Agell, Fredrik: Die Frage nach dem Sinn des Lebens. Über Erkenntnis und Kunst im Denken Nietzsches. Aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer, München 2006, S. 246, Fußnote 518. Zitat Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung I, in: Sämtliche Werke, hg. von Julius Frauenstädt, Bd. 2, S. 419. 30 Schopenhauer: Die Welt, S. 419. 31 »Wie sollte es nicht eine Schuld seyn, da nach einem ewigen Gesetze der Tod darauf steht? Calderon hat auch nur das christliche Dogma von der Erbsünde durch jenen Vers ausgesprochen.« Ebd. 32 Kranz, Gisbert: Jünger und Dostojewski, in: Neuphilologische Zeitschrift 4, 1952, S. ­116–122. 33 Stapel, Wilhelm: Antisemitismus und Antigermanismus. Über das seelische Problem der Symbiose des deutschen und des jüdischen Volkes, Hamburg, Berlin, Leipzig 1928.

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tiv-christliche Tradition des deutschen Volkes von dem des jüdischen zu unterscheiden und damit einem (nicht unwesentlichen) Teil des deutschen Bildungsbürgertums das Prädikat »deutsch« abzusprechen. Der zweite Aspekt belaufe sich auf den Begriff der Mystik und die Möglichkeit einer künftigen Religion, die Moeller im Zusammenhang mit seiner Rezeption Dostojewskis entwickelte. Die Auseinandersetzung Moellers mit dem Sozialismus Marxscher Prägung wird in seinem Hauptwerk, Das dritte Reich, auf mehreren Ebenen geführt. Eine der giftigsten ist der Hinweis auf die jüdische Abstammung Marx’, woraus sich sein rigider Materialismus, die Diesseitigkeit und das Körperhafte der kommunistischen Weltanschauung begründen solle. Letztlich sieht sich der Leser hier mit einem Umkehrschluss konfrontiert: Der Sozialismus wird durch die infolge der antisemitischen Propaganda gebrauchten Diffamierungs-Merkmale herabgewürdigt: Er (Marx, W. K.) war als Jude ein fremder in Europa und mischte sich gleichwohl in die Angelegenheiten der europäischen Völker. […] Er hat nicht zufällig seine mosaischen, seine makkabäischen, seine talmudischen Züge, und solche des Ghettos. Er steht sehr weit ab von Jesus. […] Christi Botschaft war übernational, deshalb konnte sie auch die Völker des Nordens erreichen. Marxs Lehre ist international, deshalb konnte sie Europa zersetzen und Europäer verführen.34

Selbstverständlich war und ist der Antisemitismus in Bezug auf Karl Marx und seine Doktrin stets lebendig: Bakunin, Proudhon und Eugen Düring haben schon im 19. Jahrhundert darauf angespielt, ganz zu schweigen von der Rotte nationalsozialistischer Publizisten. Dieses Argumentationsmuster übernahm Moeller von Oswald Spengler, der in seiner Schrift Preußentum und Sozialismus die angeblich jüdischen Wurzeln einer materialistischen Auffassung von Arbeit, wie sie bei Marx präsent ist, sind, aufzudecken glaubte: Aber hier unterstützte ihn sein jüdischer Instinkt, den er selbst in seiner Schrift über die Judenfrage gekennzeichnet hat.  Der Fluch der körperlichen Arbeit  am Anfang der Genesis, das Verbot, den Sonntag durch Arbeit zu schänden, das machte ihm das alttestamentliche Pathos des englischen Empfindens zugänglich. Und deshalb sein Haß gegen die, welche nicht zu arbeiten brauchen. Der Sozialismus Fichtes würde sie als Faulenzer verachten, als Überflüssige, Pflichtvergessene, Schmarotzer des Lebens, der Instinkt von Marx aber beneidet sie. Sie haben es zu gut und deshalb soll man sich gegen sie auflehnen. Er hat dem Proletariat die Mißachtung der Arbeit eingeimpft. Seine fanatischsten Jünger wollen die Vernichtung der ganzen Kultur, um die Menge der unentbehrlichen Arbeit möglichst herabzusetzen. Luther hat die schlichteste Werktätigkeit als gottgefällig gerühmt, Goethe die »Forderung des Tages«; vor den Augen von Marx aber schwebt das Ideal des proletarischen Phäaken, der alles mühelos besitzt – das ist der Endsinn jener Expropriation der Glückseligen. Und er hat recht dem englischen Instinkt gegenüber. Was der Engländer Glück nennt, der geschäft­ liche Erfolg, der körperliche Arbeit erspart, der den Menschen damit zum Gentleman 34 Moeller van den Bruck, Arthur: Das dritte Reich, Berlin 1926, S. 54.

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macht, sollte allen – Engländern zukommen. Für uns ist das gemein, der Geschmack von Mob und Snob.35

Die Polemik gegen einen ›jüdischen‹ Sozialismus Karl Marx’ ist nicht bloß Ausfluss eines antisemitischen Denkens, mit dem Moeller van den Bruck die ­Marxssche Idee unschädlich zu machen sucht, sondern auch die von ihm oft verlautbarte Überzeugung, dass es verschiedene, national geprägte Sozialismen gäbe. Der deutsche Sozialismus sei die Alternative zu Marx, und nicht etwa der »übernatio­nale« Christus. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang der Gebrauch des Prädikats »übernational«, das in einer Spannung zum sozialistisch geprägten und europazersetzenden »international« steht. Polemisiert wird also mit derjenigen Größe, an die man nicht mehr so richtig glaubt, da es »keine Christlichkeit«36 mehr gäbe. Diese Christlichkeit glaubte Moeller van den Bruck schließlich bei Dostojewski zu finden, da dieser in seiner ersten Einleitung zu den Dämonen (1908) die Russen zu den jungen Völkern rechnete.37 Damit führt er eine der wichtigsten Kategorien seiner künftigen politischen Konzepte ein. Die ›jungen Völker‹ sind ihm zufolge solche Nationen, die eine Zukunft haben, die nahe dem »Chaos und der Erde stehen«: »Nicht das Alter, sondern die Glut, die Unausgebranntheit der Seele entscheidet über die Jugend der Völker.«38 Gerade in der Mystik des russischen Volkes liege seine Zukunft und seine Bestimmung: »Jedenfalls liegt alles, was im Slaventum geistig geschaffen worden ist, aus dem Wege von seiner latenten Volksmystik zu einer bereits geoffenbarten Weltreligion: vor allem das Beste, was das Slaventum bis heute hervorgebracht hat – die russische Dichtung.«39 Diese Literatur und vor allem das Werk Dostojewskis betrachtet Moeller als eine Etappe zur Entstehung einer »letzten und äußersten Religion«, »die nicht mehr Symbol, die alles Gefühl sein würde«40. Die eigentliche Leistung Dostojewskis sei, laut Moeller, die Tatsache, dass er den Russen eine Mythologie gab. Diese Mythologie schöpft sowohl aus den modernen, großstädtischen Quellen, als auch aus den tiefreligiösen, mystischen. Diese naturalistisch geprägte Diagnose des russischen Volkes gepaart mit der Mystik war entscheidend für den initiatorischen und formenden Einfluss der 35 Spengler, Oswald: Preußentum und Sozialismus, in: Ders.: Politische Schriften, München 1933, S. 77 f. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die so oft vorkommende Verbindung zwischen dem englischen und jüdischen Kapitalismus in Volk ohne Raum Hans Grimms nicht so sehr den »Erlebnissen des Autors in Südwestafrika« entspricht, aber vielmehr der von Spengler in der Schrift Preußentum und Sozialismus konstruierten angeblichen Abhängigkeit. 36 Moeller van den Bruck: Das dritte Reich, S. 305. 37 »Die russische Dichtung ist die Dichtung eines jungen Volkes.« Siehe: Moeller van den Bruck, Arthur: Bemerkungen über Dostojewski, in: F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski hg. von Arthur Moeller van den Bruck, Bd. 5: Die Dämonen, München und Leipzig 1906, S. VII . 38 Ebd. 39 Ebd., S. VIII . 40 Ebd.

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Werke Dostojewskis. Dieses Streben nach »nichts als Modernität« verbunden mit dem Mystizismus einer künftigen Religion stellt eine Keimzelle eines Konservatismus dar, dessen Aufgabe darin liege, in Verbindung mit den revolutionären Kräften diejenigen Werte zu schaffen, für die es zu leben und zu sterben gelte: »Der konservative Mensch, der in der Mitte der Dinge steht, lebt nach Rückwärts und Vorwärts zugleich, von Rückwärts her nach Vorwärts hin.«41 In dieser divergierenden Ausrichtung Dostojewskis, seiner schriftstellerischen Modernität und seiner Verwurzelung im Mystischen, liegt das Faszinosum dieses Autors für die deutschen Eliten nach dem Ersten Weltkrieg. Dostojewski wird von Moeller van den Bruck nicht als Literat, sondern als politischer Schriftsteller gesehen, als derjenige, der sich mit dem statischen Autokratismus des russischen Zarentums auseinandersetzt und gleichzeitig die Perspektive eines neuen Reiches der Seele eröffnet: »Doch Dostojewski ist noch weiter gegangen und hat als Naturalist gezeigt, wie auch das moderne Leben wieder seine Mystik und Phantasie hat.«42 Charakteristisch ist, dass Moeller hier von der realen Religiosität Dostojewskis absieht und ausschließlich von einer künftigen Religiosität spricht. So betreibt er im Geiste Nietzsches eine Säkularisation der religiösen Vorstellungen und bemüht sich, eine noch nicht näher bestimmbare Zukunft zu beschreiben. Dabei scheint es für ihn unbedeutend zu sein, welche Gestalt diese Zukunft annimmt, wichtiger ist die Geburt der Wirklichkeit aus dem nationalen Geist, für den das Religiöse nur das Instrument der politischen, noch unklaren Entscheidungen ist. Eine ähnliche Position nimmt Moeller in Bezug auf die Figur des Fürsten Myschkin des Romans Der Idiot ein, der »noch kein russischer Erlöser ist«, aber schon als Träger der russischen Mystik, also einer Vorstufe des Religiösen, politisch resoniert. Über ihn heißt es bei Moeller: »In einem der wenigen visionär-klaren Augenblicke, die er dem Fürsten gewidmet hat, läßt er ihn sagen: Die Gegenwehr des Ostens gegen den Westen soll unser Christus sein, den wir in seiner wahren Gestalt in uns bewahrt haben.«43 Christoph Garstka sieht gerade den von Moeller gebrauchten Begriff der »Mystik« in Bezug auf Dostojewski als einen Missbrauch des Schriftstellers an: Unter Mystik gruppiert er all jene Eigenschaften, die vom westeuropäischen Publikum bis heute als spezifisch russische apostrophiert und mit ›Seele‹ oder ›Innerlichkeit‹ umschrieben werden. In ihrer nur vagen und ungenauen Aussage verhindern diese Begriffe jedoch jede vernünftige osteuropäische Forschung und befriedigen nur die Erwartungen einer unreflektierten westlichen Leserschaft oder die Eitelkeiten russischer Nationalisten, die noch in dem Trinker Marmeladow einen mystischen Menschen erblicken.44 41 Moeller van den Bruck: Das Dritte Reich, S. 309. 42 Moeller van den Bruck: Bemerkungen über Dostojewski, S. XIIIf. 43 Moeller van den Bruck, Arthur: Bemerkungen über russische Mystik, in: F. M. Dostojew­ ski, Der Idiot. Roman, München 1909 (F. M. Dostojewski, Sämtliche Werke. Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski Hg. von Moeller van den Bruck, Bd. 3), S. XII . 44 Garstka, Christoph: Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906–1919:  eine Bestandsaufnahme

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Moeller bezeichnet die Mystik allerdings als eine Vorstufe jeder nationalbedingten religiösen Entwicklung. »Mystik ist immer und überall der früheste Versuch des Menschen, sich in das Wesen der Dinge heranzutasten (Mystik ist das Irrdenken der Menschheit, wie Mythe ihre Urkunst ist).«45 Die Mystik Dostojewskis ist laut Moeller die eines Volkes, das noch nicht das Bewusstsein seiner selbst erreichte, das in der Sphäre der Offenbarung und nicht in der des Bewusstseins lebe. Diese »slawische Mystik« unterscheide sich von der Mystik der germanischen oder der hellenischen Welt; sie sei auflösend, was sie von der christlichen Mystik wesentlich unterscheide. Diese Unterscheidung der russischen von der christlichen Mystik ist vor dem Hintergrund seines Nietzscheanismus zu verstehen. Zwar verfügt Fürst Myschkin über eine christliche Grundlage, er wirke von außen betrachtet wie Christus, aber, und das ist der entscheidende Punkt: Christus und Lew Myschkin verstehen beide alles: Lew Myschkin versteht sofort und leidet noch für den Schuldigen; Christus dagegen verzeiht gleichfalls, aber hat noch die Kraft, nicht selbst für den Schuldigen zu leiden; Christus steht also über dem Leiden, während Lew Myschkin haltlos und im tiefsten Lebenssinne charakterlos, ohne einen Zaun um sein Ich zu haben, zwischen den Leuten und Leiden umhersteht.46

Myschkin verkörpert wohl für Moeller das konservative Element, das der Tendenz des orthodoxen Christentums entspreche, sich »voller Geduld und Demut zufrieden [zu] geben«, während der andere aktive Zug der russischen Natur – verkörpert in Figuren wie Raskolnikow, Schatoff, vor allem aber in der bebenden Kraftgestalt Rogoschins  – die »sibirischen Möglichkeiten« eröffne, eine neue Rasse und eine neue Gesellschaft zu schaffen, und hierdurch das revolutionäre Prinzip realisieren würde.

Auflösung des Religiösen bei Erwin Guido Kolbenheyer Der frühe Kolbenheyer vertrat auf den ersten Blick eine tiefreligiöse Haltung, vor allem, wenn man die Haupthelden seiner Romane berücksichtigt: Spinoza in Amor Dei (1908), Jacob Böhme im Breslauer Roman Meister Joachim Pausewang (1910) sowie Paracelsus in der seinerzeit berühmten Trilogie (1917, 1922, 1926). Dieser erste Blick darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Religiosität Kolbenheyers durchaus diesseitig, um nicht zu sagen antichristlich war, was er in der ersten Fassung seiner Bauhütte auch explizit machte:

sämtlicher Vorbemerkungen und Einführungen von Arthur Moeller van den Bruck und Dmitrij S. Mereschkowskij unter Nutzung unveröffentlichter Briefe der Übersetzerin E. K. Rahsin: mit ausführlicher Bibliografie: Geleitwort von Horst-Jürgen Gerigk, Frankfurt am Main u. a. 1998. S. 88. 45 Moeller van den Bruck: Bemerkungen über russische Mystik, S. V. 46 Ebd., S. XIII .

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Jehovah und der römisch-christliche Gottesbegriff ist wesentlich verschieden von dem Gottesbegriff der deutschen Mystiker und dem des deutschen Reformationszeitalters. Auf der einen Seite war der metaphysisch gewandte Monismus, auf der anderen das erkenntniskritisch gewandte bildnerische Prinzip. In diesem Belange scheiden sich die Denkartungen der Mittelmeervölker und Juden von den germanisch-nordischen Völkern.47

Diese Unterschiede sind für Kolbenheyer »rasseeigen«, weil »plasmatischer Natur«48. Das, was Kolbenheyer für die germanisch-nordische »Religiosität« hält, ist allerdings nichts anderes als bloßer Solipsismus: »Die mystische Einheit Ich und Gott, jene unmittelbare Beziehung zwischen Ich und Gott, und das solipsistische Extrem liegen auf einer und derselben Linie«.49 Als Beispiel für diese Auffassung führt Kolbenheyer das berühmte Epigramm Angelus Silesius’ an: »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein.« Diese Erkenntnis, die im Grunde jegliche offenbarte Religiosität unmöglich macht, wird narrativ in dem Breslau-Roman »Meister Joachim Pausewang« ausgestaltet. Der Sohn des Erzählers, Basil, stellt seinem Vater die die weitere Handlung des Romans präludierende Frage: »Wie soll da ein Christenmensch seinen Gott erschauen!«50 Schon die Frage weist auf die einengende Intention hin, geht es Basil doch um »seinen« Gott, also nicht ein objektives und objektivierbares Sein, sondern um eine Konstruktion, die sich im Kopf des Erschauenden befindet. Entsprechend fällt auch die Antwort des Vaters aus, in der er das Bild der großen Breslauer »Matthiaskunst« bedient, eines hölzernen Riesenrades, mit dem man an der Matthiaskunst das Wasser für das Breslauer Wasserleitungsnetz schöpfte. Die einen beschauen es lange, bis sie sich »einen bekömmlichen Hunger angelaufen« haben. Dann gehen sie heim und setzen sich zufrieden an den Tisch – sie betrachten die Religion also als eine Einrichtung des Alltags. Die anderen hingegen stehen auf der hohen Erdaufschüttung an der Matthiaskunst und versuchen alles rational zu erklären, »der Vater aber weiß alles, auf Jahr und Tag.« Die dritte Gruppe, die eigentlichen Erschauer Gottes, nutzen schließlich die erhöhte Stellung der Matthiaskunst, um die Stadt Breslau zu bewundern: Die Oder umgreift die Stadt wie eine Silberspangen den köstlichen Topas. […] Alt Breslau, du liebe Fraue von Schlesien! […] Da steigt in dem Dritten eine sanfte, warme, wundersame Lieb vom Herzen auf und ist ihm, als müsste er zu der brausenden Wasserorgel singen. Sieh, Basil. In dem ist Gott. […] Er ist Vater, Sohn und Geist in einem und ist Gott in seinem göttlichen Rausch.51 47 Kolbenheyer, Erwin Guido: Die Bauhütte. Elemente der Metaphysik der Gegenwart, München 1925, S. 339. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 338. 50 Kolbenheyer, Erwin Guido: Meister Joachim Pausewang. Roman, München 1934, S. 28 (Erstausgabe München 1910). 51 Ebd., S. 30.

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Es ist markant, dass gerade die religiösesten Denker der deutschen Mystik, mit Jacob Böhme an der Spitze, zu im Grunde atheistischen Solipsisten stilisiert werden, bei denen das »Plasma«, das sich in der »Rasse« verkörpert, viel stärker als jegliche religiöse Inspiration sei. Diese Vergöttlichung der »arteigenen« Kräfte kommt einer Depotenzierung des Christentums gleich, zu dem es bei Kolbenheyer keine Rückkehr mehr gibt. Bei der Betrachtung der religiösen bzw. antireligiöser Impulse innerhalb der ›Konservativen Revolution‹ taucht die Frage nach einer möglichen Kontinuität ihres Gedankengutes in der Nachkriegszeit auf. Als Paradox einzustufen ist, dass gerade in der sich immer stärker säkularisierenden Welt der Moderne gerade die religiös geprägten Gedanken der nach 1945 lebenden Konservativrevolutionären eine Chance bekamen, sich zwar peripher, aber doch dauerhaft zu behaupten, indem auch die einschneidende Zäsur des Jahres 1968 von ihnen überdauert wird. Die Erzählung Schmitts über den Nomos der Erde ging mit der Prägung des Katochen einher, der die dualistischen Folgen des Kalten Krieges überwinden sollte, Friedrich Hielscher religiös-esoterische Gemeinschaft überdauerte im gesellschaftlichen Niemandsland der Bundesrepublik auch die revolutionäre Zeit des Jahres 1968. Kolbenheyer ist nach anfänglichen Erfolgen in der 1950er Jahren aus dem Horizont des deutschen Lesepublikums verschwunden: Jungs, Stapels, van den Brucks politische Konzepte fanden ihre museale Wiederbelebung, diesmal ohne »völkische Note«, in den linken und rechten Europa-Gedanken, insbesondere in Bezug auf den Osten. Der Rekurs des späten Jünger auf die Religiosität mündet zwar in einer offiziellen Mitgliedschaft in der katholischen Kirche ein, der Dichter bleibt sich aber dessen bewusst, dass die metaphysischen Impulse keineswegs als eine geschlossene Denkordnung von etwa theologischem Charakter anzusehen sind, sondern eher geht es ihm um punktuelle Versuche, das Metaphysische wiederzugewinnen: »Im großen Ganzen gibt es keinen Abstieg, sondern nur ein Netz pulsierender Bewegungen. Soll der Becher von neuem gefüllt, so muß er zuvor geleert werden.«52 Stellte er seine eigene Axiologie des Arbeiters mitreflektierend und im mystischen Geiste deutend in Maxima-Minima 1964 fest. Der Prozess der Wiedergewinnung des Metaphysischen, das Aufspüren von diesen »pulsierenden Bewegungen« scheint gerade in der Zeit einer rasanten Beschleunigung eine doch resistent-produktive Aufgabe zu sein.

52 Ernst Jünger, ebd., S. 343.

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Die ›Konservative Revolution‹ als Netzwerk Stefan Breuer beginnt seine Studie zur Anatomie der Konservativen Revolution mit fundamentaler Kritik: Während der Begriff ›Konservative Revolution‹ zur Zeit der Weimarer Republik noch vieldeutig gewesen sei, sei er erst durch das Werk Armin Mohlers zu dem geworden, was er heute ist: eine »Sammelbezeichnung für die rechten Strömungen zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten«1. Mohler unterteilt seine »Konservativen Revolutionäre« bekanntermaßen zusätzlich in die fünf Untergruppen von »Völkischen«, »Nationalrevolutionären«, »Jungkonservativen«, »Bündischen« und »Landvolkbewegung«2. Auch wenn Mohler in seinen Überlegungen zu den Gliederungsmöglichkeiten des Feldes zeigt, dass es verschiedene denkbare Ordnungskriterien gibt – etwa über Organisationen, Verlage, Zeitschriften oder Landschaften –, so hebt er die Bedeutung von Personen und von »Personengeflechten«3 als ergiebigste Gliederungsform heraus. Die Darstellung einer einheitlichen Bewegung und der verschiedenen in ihr geführten Diskurse ist damit gar nicht sein primäres Ziel, stattdessen versucht er ein Netzwerk von Personen zu beschreiben und darauf aufbauend die übergeordneten »Leitbilder«4 offenzulegen, die den Werken der verschiedenen Akteure gemeinsam seien. Breuer wiederum zeigt, dass Mohlers Arbeit weniger hinsichtlich der von ihm formulierten Leitbilder rezipiert wurde, sondern vor allem als »Entwurf eines Tableaus und einer Zuordnung der verschiedenen Autoren«5. Die Idee der ›Konservativen Revolution‹ als feste Gruppierung war damit geboren und prägte die Forschung der folgenden Jahrzehnte.

1 Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993, S. 1. 2 Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland. 1918–1932. Grundriß einer Weltanschauung. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel, Stuttgart 1950, S. 80–86. 3 In der ersten Auflage ist der Begriff des Personengeflechts noch randständig, Mohler gibt zu bedenken (ebd., S. 101): »So fruchtbar die Darstellung der konservativrevolutionären Bewegung nach ihren einzelnen Trägern aber auch wäre – dies ist ein Weg, der in unzähligen kleinen Schritten gegangen werden muß. Für einen Grundriß ist er nicht gangbar.« Erst in der zweiten Auflage von 1972 wird der Begriff des Personengeflechts in exponierte Position erhoben und zur Grundstruktur der ›Konservativen Revolution‹ ernannt: Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Zweite, völlig neu bearbeitete und erweiterte Fassung, Darmstadt 1972, S. 64 f. 4 Mohler: Die Konservative Revolution, S. 103–164. 5 Breuer: Anatomie, S. 2.

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»Personengeflechte« bei Mohler Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, den Ansatz Mohlers – die Frage nach »Personengeflechten« – nochmal auf seine Ergiebigkeit hin zu prüfen und anhand von zwei Fallstudien – einer nach Personen und einer nach Verlagen geordneten – zu erproben. Der besondere Reiz einer Orientierung an Personenbeziehungen liegt für Mohler in der Abgrenzung gegenüber den großen Parteien und der Beschreibung der ›Konservativen Revolution‹ als elitärer Zirkel von Eingeweihten. So schreibt er: […] in der NSDAP und der KPD sinkt der Einzelne mehr und mehr zur vom zentralen Schaltbrett aus gelenkten Gliederpuppe herab, während die ›Konservative Revolution‹, deren zahlenmäßiger Bestand eher über- als unterschätzt werden kann, besonders gegen das Ende der 20er Jahre zu beinahe das Aussehen eines Personengeflechtes annimmt, wo jeder jeden kennt.6

Als Beispiel für die Bedeutung von exklusiven Zirkeln verweist Mohler auf ein anonymes Briefzitat,7 in dem über die jungkonservativen Treffen in der Berliner Motzstraße berichtet wird, was Mohler zu folgender Mutmaßung veranlasst: »Und jede Auskunft eines Beteiligten bestätigt dieses Bild: die ›Konservative Revolution‹ besteht im Wesentlichen aus einem Gerüst von einigen Hundert Menschen, die sich meist persönlich kennen und durch vielfältige Gefühle der Anziehung und Abstoßung miteinander verbunden sind.«8 Ab der zweiten Auflage versucht Mohler daran anschließend soziologische Gemeinsamkeiten dieses Personenkreises zu identifizieren, etwa den familiären und sozialen Hintergrund oder die Teilnahme am Ersten Weltkrieg, um schließlich zu einer – bereits in der Erstauflage enthaltenen – funktionalen Gliederung zu kommen,

6 Mohler: Die Konservative Revolution, S. 100. 7 »In ihm saß der Juniklub, der wesentlich von (Heinrich Freiherr von) Gleichen repräsentiert, von Moeller (van den Bruck), solange er lebte, bestimmt wurde, außerdem das Politische Kolleg, dem Martin Spahn vorstand, und der Volksdeutsche Klub, der von Dr. (Karl Christian) von Loesch geleitet wurde, zu dem aber auch – wie übrigens auch zum Juniklub – Leute wie (Rudolf) Pechel gehörten. Etwas später kam die Großdeutsche Jugend hinzu, die sich unter Admiral (Adolf) von Trotha gesammelt hatte. Eine Rolle für sich als offizieller Herausgeber der Zeitschrift ›Gewissen‹, die aber in Wirklichkeit wieder von Moeller gelenkt wurde, spielte (Eduard) Stadtler, der von der antibolschewistischen Liga herkam, und mir ist es immer ein Symbol gewesen, daß schon in den Anfängen auf der einen Seite eine gewisse geistige Elite ohne nennenswerte politische Gefolgschaft (›Offiziere ohne Soldaten‹, sagten die Gegner) stand, auf der anderen der typische Massenredner und Trommler, der ihnen das Fehlende an breiter Resonanz zuführen sollte, aber dauernd versucht war, selbst zu gelten und sich an die Spitze zu stellen« (Zit. Mohler: Die Konservative Revolution, S. 92). In der zweiten Auflage wird der Briefschreiber als Hans Schwarz ausgewiesen. 8 Mohler: Die Konservative Revolution, S. 100.

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derzufolge es in der ›Konservativen Revolution‹ drei unterschiedliche Typen von Akteuren gebe: den politischen Aktivisten, den Schriftsteller9 und einen dritten Typus, den er wie folgt beschreibt: Dieser Typus tritt nicht in politischen Aktionen handelnd auf. Hat er etwas geschrieben, so höchstens zwei, drei kleine Aufsätze. Er besitzt auch selten einen eigenen Anhängerkreis; charismatische Begabung scheint für ihn nicht Vorbedingung zu sein. Und doch ist seine Wirkung groß. Er ist den größten Teil des Jahres auf Reisen; er kennt jeden Knotenpunkt des Personennetzes und trägt, wie gewisse Insektenarten auf ihrem Flug, den Fruchtsamen vom einen zum anderen.10

In diesem dritten Typus wird der Blick von den Knoten, also den herausragenden Akteuren, zu den Verbindungslinien im Personengeflecht gelenkt, ein Ansatz, der im Folgenden weiter verfolgt wird und zwar, wie es dem Schwerpunkt des Sammelbandes entspricht, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive.11

Literaturwissenschaftliche Netzwerkforschung Dieser Ansatz wird durch aktuelle, von Steffen Martus, Erika Thomalla und Carlos Spoerhase initiierte Forschungen begünstigt, die es sich zum Ziel gemacht haben, den bereits in literaturwissenschaftlichen Studien präsenten Begriff des Netzwerks durch die soziologische Netzwerktheorie zu fundieren. Deren derzeitiger Ansatz bestehe darin, »soziale Relationen und kulturelle Praktiken gegenüber scheinbar stabilen Entitäten wie Subjekten oder Gruppen zu 9 Zu diesem Typus siehe auch die Einleitung dieses Bandes. 10 Mohler: Die Konservative Revolution. Ein Handbuch, S. 66. Letztlich räumt Mohler ein, dass eine Schilderung der ›Konservativen Revolution‹ nur anhand des Typus des ›Schriftstellers‹ möglich sei: »Eine Geschichte der konservativrevolutionären Bewegung läßt sich auf jeden Fall von diesem Typus her nicht schreiben – sie würde sich in Mutmaßungen erschöpfen. Auch von den Aktivisten her ist sie kaum faßbar, da die ›Konservative Revolution‹ nur intermittierend in die politische Geschichte verflochten ist. Da sie in erster Linie eine weltanschauliche Bewegung ist, muß man sich an die Autoren halten.« In der Erstauflage verweist Mohler für den Typ des Managers explizit auf James Burnham und seine 1941 erschienene Studie »The Managerial Revolution«. In den folgenden Studien bleibt das Konzept des Personengeflechts und der einzelnen Typen ohne Bezug zur zeitgenössischen soziologischen Diskussion. 11 Die Idee der ›Konservativen Revolution‹ wird von Mohler freilich nicht allein von außen an seinen Untersuchungsgegenstand herangetragen, sondern es existieren Vorbilder; so hebt etwa der George-Kreis in seiner eigenen Bestimmung die netzwerkartige Struktur, die Idee des Bundes, hervor. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Alexander Michailowski im vorliegenden Band. Zum Verhältnis der Kategorien ›Kreis‹, ›Bund‹ und Netzwerk‹ siehe Kuhlmann, Frank-Michael u. a.: Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke. Forschungskontexte, Fragestellungen, Perspektiven, in: Dies. (Hg.): Kreise. Bünde. Intellektuellen-Netzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890–1960, Bielefeld 2017, S. 7–30.

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privilegieren und sie in den Fokus der Untersuchungen zu rücken«12. Damit wird der Blick von den Personen und Werken, also den Knoten im Netzwerk, hin zu den Beziehungen zwischen ihnen verschoben. Das Werk erscheint in diesem Kontext nicht mehr als herausragende Einzelleistung, sondern ist eingebettet in und bedingt durch das Verhältnis zu anderen Werken und Akteuren innerhalb eines Netzwerks. Von literaturwissenschaftlicher Warte aus interessieren als Verbindungen innerhalb eines Netzes vor allem die schriftlich manifesten Kontakte: Briefe, Rezensionen, Bezugnahmen aufeinander innerhalb eines jeweiligen Werks, gemeinsame Publikationen in Zeitschriften oder Sammelbänden. Auch Erwähnungen in Briefen anderer bzw. in Tagebüchern und Lebenserinnerungen zählen dazu, ebenso wie der Besitz von Büchern und die Erwähnung einer Lektüre der solchen. Für eine genauere Beschreibung dieser Verbindungen ziehen Thomalla et al. unter anderem die Forschung des amerikanischen Soziologen Mark Granovetter aus den 1970er und 1980er Jahren heran, der in die Erforschung von sozialen Netzwerken das Konzept von weak ties und strong ties einführte: Je mehr Zeit die einzelnen Akteure in eine Verbindung investieren, desto stärker ist sie.13 Dies würde übersetzt heißen, je mehr gemeinsame Publikationsvorhaben bestehen, je mehr Briefe gewechselt werden und je häufiger man sich persönlich trifft, desto stärker ist die Verbindung zwischen einzelnen Akteuren im Netzwerk ›Konservative Revolution‹. Für eine Beschreibung der ›Konservativen Revolution‹ als Netzwerk ist es relevant, welche Faktoren ausschlaggebend sind, um eine Person als zu diesem Netzwerk gehörig zu betrachten: Dies sind nicht nur eigene Äußerungen, sondern auch Handlungen und Kontakte zu anderen Personen im Netzwerk. Die ›Konservative Revolution‹ ist kein geschlossenes System, in das sich die Mitglieder durch eine Vereins- oder Parteizugehörigkeit einschreiben, sondern eine Beschreibung ex post, der die einzelnen Akteure vielleicht gar nicht ohne weiteres zugestimmt hätten. Durch die Beschreibung als Netzwerk rücken die Werke in den Hintergrund zugunsten von Handlungen, die Verbindungen innerhalb des Netzwerks erzeugen. Eine vollständige Lösung von sämtlichen inhaltlichen und ideologischen Fragen zugunsten einer ausschließlich relationalen Beschreibung wird auch hierdurch nicht möglich sein und ist auch gar nicht wünschenswert, dennoch besitzt dieser Ansatz verschiedene Vorteile: Die Individuen werden nicht als Einzelgrößen, sondern als Akteure in einem sich stets verändernden Feld beschrieben. Dies relativiert gleichzeitig die Vorstellung eines über die Zeit hinweg stabilen Gefüges, was vor allem in den Grenzbereichen des Netzwerks bedeutend ist, also in den Fällen, in denen eine Zugehörigkeit umstritten ist – 12 Thomalla, Erika / Spoerhase, Carlos / Martus, Steffen: Werke in Relationen. Netzwerktheoretische Ansätze in der Literaturwissenschaft. Vorwort, in: Zeitschrift für Germanistik NF 29 (2019), S. 7–23. 13 Granovetter, Mark: The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology, 78 (1973), S. 1360–1380.

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hier mag ein Abwägen der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Zeitpunkten sinnvoll sein, ebenso wie die Überlegung, ob die Kriterien für eine Zugehörigkeit zu einem Netzwerk über die Zeit gleichbleibend sind.14 Da das Erarbeiten eines derart filigran aufgebauten Kriterienkatalogs, der alle hinreichenden und notwendigen Bedingungen zu einem jeweiligen Zeitpunkt für die Zugehörigkeit zum Netzwerk der ›Konservativen Revolution‹ zusammenstellt, ein Unterfangen ist, das über die Kapazität eines solchen Beitrags bei Weitem hinausgeht, seien im Folgenden zwei Sondagen präsentiert, die unterschiedliche Verbindungslinien innerhalb des (literarischen) Netzwerks ›Konservative Revolution‹ verfolgen: zum einen die persönlichen Kontakte zwischen zwei Personen, die gemeinhin als im Zentrum des Netzwerks stehend angenommen und immer wieder als führende Köpfe genannt werden: Wilhelm Stapel und Ernst Jünger. Zum anderen soll anhand des Frundsberg-Verlags die Rolle des Verlagswesens als zentraler Akteur in einem Netzwerk ›Konservative Revolution‹ untersucht werden. Hierbei ist es von zusätzlichem Interesse, ob der Themenzuschnitt des Verlagsprogramms sich über die Zeit veränderte und wie sich die Autorengruppen vor und nach 1933 zusammensetzten.

Erste Fallstudie: Interpersonale Beziehungen – Jünger und Stapel Die Verbindung zwischen den beiden Netzwerkpunkten Ernst Jünger und Wilhelm Stapel zu untersuchen, ist auch insofern reizvoll, als dass sie von Mohler unterschiedlichen Strömungen innerhalb der ›Konservativen Revolution‹ zugerechnet werden: Jünger wird unter die nationalrevolutionäre Strömung gerechnet, Stapel hingegen zur jungkonservativen. Stapel wurde am 27. Oktober 1882 als Sohn eines Uhrmachers im sachsen-​ anhaltinischen Calbe geboren.15 Nach einer Buchhändlerausbildung und dem Gymnasialabschluss studierte er in Göttingen, München und Berlin Kunstgeschichte, Philosophie und Volkswirtschaft und wurde mit einer kunsthistorischen Arbeit bei Edmund Husserl promoviert. Ab Frühjahr 1911 war er Redakteur des linksliberal orientierten »Beobachters« und wechselte im Herbst desselben Jahres nach Dresden, um dort bis 1917 als Schriftleiter für den »Kunstwart« zu arbeiten. Nach einem kurzen Kriegsdienst übernahm Stapel die Leitung des Hamburger Volksheims, einer protestantisch geprägten Institution, die die Begegnung zwischen Bildungsschicht und Arbeiterschaft fördern wollte. 1918 übernahm er die Schriftleitung der Zeitschrift »Deutsches Volkstum«, in deren Hintergrund der »Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband« stand 14 Dies gilt etwa für die Streitfrage, inwiefern Thomas Mann zur ›Konservativen Revolution‹ zu rechnen sei. 15 Die biografischen Angaben richten sich nach Schmalz, Oliver: Stapel, Wilhelm, in: Neue Deutsche Biographie 25 (2013), S. 56 f. Online-Version: https://www.deutsche-biographie. de/pnd118752758.html [zuletzt aufgerufen am 7. Juni 2021].

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und die in der Hanseatischen Verlagsanstalt – kurz HAVA – erschien.16 Diese Rolle füllte Stapel bis 1938 gemeinsam mit Albrecht Erich Günther aus, bis er aus der Redaktion der Zeitschrift aufgrund politischer Anfeindungen ausscheiden musste. Seine Hauptwerke sind der Christliche Staatsmann17 aus dem Jahr 1932 und Die drei Stände18 aus dem Jahr 1941. Seine kleinere Schrift Antisemitismus und Antigermanismus19 erlangte schon aufgrund des plakativen Titels eine gewisse Berühmtheit.20 Zudem tat er sich als Übersetzer hervor, so wurde etwa seine Parzival-Übersetzung Wolframs von Eschenbach noch bis in die 1990er Jahre neu aufgelegt. Ernst Jünger wurde am 29. März 1895 in Heidelberg als Sohn eines Chemikers geboren.21 Er ist damit fast 15 Jahre jünger als Stapel und stammt aus einem eher bildungsbürgerlich geprägten Milieu. Das Großereignis, das seine gesamte Schriftstellerkarriere beeinflusste, war der Erste Weltkrieg, währenddessen er die Offizierslaufbahn bis zum Dienstgrad eines Leutnants fortsetzte und mit dem Orden Pour le Mérite die höchste Auszeichnung der Krone Preußens erhielt. 1920 erschienen seine Kriegsaufzeichnungen In Stahlgewittern22 zunächst im Selbstverlag und wurden nach und nach zu einer der einflussreichsten Kriegsbeschreibungen der 1920er Jahre. Daran schloss sich eine rege Publikationstätigkeit an, zunächst vor allem im Zusammenhang einer Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg.23 Jünger gab ab 1925 das Blatt »Die Standarte« mit heraus, ab 1926 die Zeitschrift »Arminius. Kampfschrift für deutsche Nationalisten«. In diese Zeitschriftenprojekte reihten sich ab 1927 »Der Vormarsch« und ab 1930 »Die Kommenden« ein, auch veröffentlichte er um 1930 zahlreiche Sammelbände. Sein politisch orientiertes Hauptwerk ist der 1932 erschienene Arbeiter.24 16 Vgl. hierzu Lokatis, Siegfried: Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im »Dritten Reich«, Archiv für Geschichte des Deutschen Buchwesens 38, Frankfurt am Main 1992, S. 4. 17 Stapel, Wilhelm: Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus, Hamburg 1932. 18 Stapel, Wilhelm: Die drei Stände. Versuch einer Morphologie des deutschen Volkes, Hamburg 1941. 19 Stapel, Wilhelm: Antisemitismus und Antigermanismus. Über das seelische Problem der Symbiose des deutschen und jüdischen Volkes, Hamburg 1928. 20 Zu Stapels Antisemitismus vgl. Gossler, Ascan: Theologischer Nationalismus und völkischer Antisemitismus. Wilhelm Stapel und die »konservative Revolution« in Hamburg, Hamburg 1997; Dupeux, Louis: Der Kulturantisemitismus von Wilhelm Stapel, in: Nowak, Kurt u. a. (Hg.): Protestantismus und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Frankfurt / New York 1994, S. 167–176. 21 Die biografischen Angaben richten sich nach Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007. 22 Die gesamte Textgenese präsentiert Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2013. 23 Diese sind gesammelt in Jünger, Ernst: Krieg als inneres Erlebnis, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2016. 24 Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Sämtliche Werke 10 (Paperback-Ausgabe), Stuttgart 2015.

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Das enge Verhältnis zwischen den beiden Autoren, das sich über die Jahre entwickelte und bis zu Stapels Tod anhielt, war zunächst keine Selbstverständlichkeit. So schreibt etwa einer der besten Stapel-Kenner Siegfried Lokatis bezüglich der Frage, wie Jünger und Carl Schmitt Autoren der Hanseatischen Verlagsanstalt wurden, von Schwierigkeiten: Diese lagen unter anderem darin »dass [Albrecht Erich] Günthers Chef Wilhelm Stapel, dem ›geistigen Leiter‹ der HAVA , Katholiken wie Schmitt und Nationalrevolutionäre wie Jünger zunächst ein Gräuel waren«.25 Stapel verstand sich selbst als protestantischer Preuße, der als Angehöriger des jungkonservativen Flügels, gewaltsame Umsturzbewegungen nicht gut hieß. Wie kam es also zu der Verbindung zwischen den beiden Punkten Jünger und Stapel im hypothetischen Netzwerk ›Konservative Revolution‹? Ausschlaggebend hierfür dürfte eine weitere Figur gewesen sein: der bereits erwähnte Albrecht Erich Günther, Stapels Mitherausgeber des »Deutschen Volkstums«, der zunächst in Jüngers Zeitschriften »Standarte« und »Arminius« publizierte und Jünger ab 1926 für Beiträge im »Deutschen Volkstum« gewinnen konnte. Auch wenn hierfür kein explizites Zeugnis vorliegt, so kann man doch davon ausgehen, dass Jünger und Stapel spätestens mit Jüngers Publikation im »Deutschen Volkstum« miteinander in Kontakt traten. In dieser ersten Phase ließe sich die Verbindung zwischen Stapel und Jünger in der Diktion Granovetters eindeutig als weak tie klassifizieren. Als bedeutende Faktoren für das Zustandekommen der Bekanntschaft können zum einen Dritte, zum anderen die jeweiligen Aktivitäten als Herausgeber von Zeitschriften identifiziert werden. Bei einer Erweiterung des Untersuchungsgegenstands wäre damit zu prüfen, ob Zeitschriften in mehreren Fällen Verbindungen erst ermöglichten bzw. begünstigten. Sollte das der Fall sein, so hätten sämtliche Akteure ein starkes Interesse daran, entweder Zeitschriften selbst herauszugeben oder zumindest in solchen zu publizieren, um mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten. Albrecht Erich Günther blieb auch die folgenden Jahre über der Hauptkontakt Jüngers in Hamburg. So konnte Jünger etwa seinen Bruder Gerhard Günther für den Sammelband Der Kampf um das Reich26 gewinnen; Albrecht Erich Günther veröffentlichte einen Beitrag im Band Krieg und Krieger27. Die Herausgeberschaft von Sammelbänden erfüllt mithin möglicherweise eine gruppenstabilisierende Funktion, die als Publikationsaktivität auf die flüchtigere Zeitschriftenpublizistik aufbaut. Wilhelm Stapel blieb von Jüngers Publikationsprojekten ausgeschlossen. 25 Lokatis, Siegfried: Ernst Jüngers »Marmorklippen«. Benno Ziegler und die Hanseatische Verlagsanstalt, in: Jünger-Debatte 2 (2019), S. 9–27, hier S. 11. 26 Jünger, Ernst (Hg.): Der Kampf um das Reich, Essen 1929. In dem Band, der sich mit der Geschichte der Freikorps beschäftigt, erschienen Beiträge unter anderem von Ernst von Salomon, Gerhard Günther, Richard Frey, Franz Nord, Georg Heinrich Hartmann, Gregor Strasser, Otto Strasser, Edmund Osten (d. i. Edmund Schulz) und Ludwig Alwens. 27 Jünger, Ernst (Hg.): Krieg und Krieger, Berlin 1930. Albrecht Erich Günthers Aufsatz trägt den Titel Die Intelligenz und der Krieg.

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Das erste belastbare Zeugnis für einen Austausch zwischen Stapel und Jünger stellt ein Brief aus dem September 1932 dar. Dies ist auch das Jahr, in dem Jünger die Zusammenarbeit mit seinem Hausverlag der 1930er Jahre, der Hanseatischen Verlagsanstalt, aufnimmt. Ob Günther bei der Vermittlung dieser Verlagszusammenarbeit Einfluss hatte, ist unklar. Spätestens zu diesem Zeitpunkt tritt eine vierte Person auf das Tableau und verdient, in das kleine Netzwerk eingefügt zu werden: der Staatstheoretiker Carl Schmitt. Jünger und Schmitt kannten sich seit 1930, Albrecht Erich Günther wiederum wurde Schmitt im selben Jahr durch Jünger als bislang unbekannter Adept des Juristen vorgestellt.28 Dass Jünger und Schmitt beide im Jahr 1932 anfingen, in der Hanseatischen Verlagsanstalt zu veröffentlichen, ist kein Zufall. Am Vorabend der NS -Zeit sammelte sich hier die intellektuelle antidemokratische Elite unter der Ägide des risikofreudigen Verlagsleiters Benno Ziegler, der seine oft untereinander vernetzten Autoren durch persönlichen Einsatz geschickt an das Verlagshaus zu binden wusste.29 1932 erschienen in der HAVA sowohl der Christliche Staatsmann Stapels als auch Jüngers Arbeiter, eine Neuauflage von Schmitts Begriff des Politischen30 erschien 1933 in einer äußerst preiswerten Massenauflage.31 Die Zusammenarbeit der HAVA mit sämtlichen dieser Autoren setzte sich auch in der NS -Zeit fort. Der gemeinsame Verlag kann als weitere Verstärkung einer Verbindung verstanden werden, obwohl die Aufnahme in den Verlag offensichtlich dadurch begünstigt wird, bereits Teil eines bestehenden Netzwerks zu sein. Es ist auffällig, dass der Kontakt zwischen Jünger, Stapel und Schmitt – im Gegensatz zum Kontakt zu den Brüdern Günther – erst um 1930 zustande kam und sich erst am Vorabend der NS -Herrschaft intensivierte. Diese Beobachtung spricht dafür, dass die zeitliche Begrenzung auf 1932, wie sie in Mohlers Handbuch gesetzt wird, übergeht, dass die informellen (aber auch in Drucklegungen manifesten) Kontakte sich oft erst in der Endphase seines Untersuchungszeitraums bildeten und oft deutlich über diesen hinaus andauerten. Sollte es also ein Personennetzwerk ›Konservative Revolution‹ gegeben haben, so wurden nicht abrupt am 30. Januar 1933 alle Verbindungen gekappt. Jünger und Stapel etwa wechselten bis zum Tod des Letzteren im Jahr 1954 regelmäßig Briefe, wobei die Frequenz in der Nachkriegszeit sogar deutlich zunahm. 28 Vgl. Jünger, Ernst / Schmitt, Carl: Briefe 1930–1983, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2012, S. 8. 29 Vgl. Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt, S. 26: »Aus Hamburg kamen die Bücher, die die politische Diskussion jener Tage prägten, die an den Lagerfeuern der bündischen Jugendbewegung herumgereicht wurden und, vermittelt durch den studentischen Arbeitsdienst, an den Universitäten kursierten. In den Auslagen der Buchhandlungen zogen Ernst Jüngers Arbeiter und August Winnigs Vom Proletariat zum Arbeitertum, Blühers Der Standort des Christentums in der lebendigen Welt und Stapels Der christliche Staatsmann, Moellendorffs Konservativer Sozialismus und Moeller van den Brucks Das Dritte Reich die Blicke der Kenner an.« 30 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, Hamburg 1933. 31 Lokatis, Siegfried: Wilhelm Stapel und Carl Schmitt. Ein Briefwechsel, in: Schmittiana 5 (1996), S. 31.

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Stapel wird zudem an wenigen Stellen in Jüngers Tagebüchern genannt, so wird etwa ein Besuch in Hamburg im Dezember 1945 beschrieben: Ich wohnte bei Ziegler, der, wie alle Welt, von Mißlichkeiten umzingelt ist. Unter den Bekannten, die ich aufsuchte, waren Gerhard Günther und Wilhelm Stapel, der mich in seinem Arbeitszimmer empfing. Wir saßen dort wie in einer Eiskammer; der Atem schwebte in Wölkchen vom Mund. Ich hörte Einzelheiten über den Selbstmord von Walter Frank, der sich in den Armen seiner Frau erschossen hat. Stapel las mir die Abschiedsbriefe vor, die ich würdig fand.32

In Jüngers Bücherregal, das sich dank der ausführlichen Aufnahme durch das DLA Marbach einfach konsultieren lässt, findet sich als eigenständige Arbeit Stapels allein die 1951 erschienene Schrift Über das Christentum. An die Denkenden unter seinen Verächtern. Mit Carl Schmitt, Albrecht Erich Günther und dessen Bruder Gerhard Günther geraten neben den direkten Verbindungen zwischen Stapel und Jünger, die Verbindungen über Dritte in den Blick, die ein Netzwerk erst zu einem Netzwerk werden lassen. Anhand eines Schaubilds, das auf den Materialien des DLA Marbach aufbaut und zeigt, mit welchen Personen, die von Mohler zur ›Konservativen Revolution‹ gerechnet werden, beide im brieflichen Austausch standen, lässt sich illustrieren, wie wenig Gemeinsamkeiten es zwischen Jüngers und Stapels Kontakten gab. Die folgende Grafik wurde mithilfe des Programms Gephi33 erstellt und nimmt in einem ersten Schritt alle im DLA verzeichneten Briefpartner Jüngers und Stapels aus dem Zeitraum zwischen 1920 und 1933, die ebenfalls in Mohlers Handbuch verzeichnet sind, auf. Ein paar Aspekte fallen auf, so als erstes, dass Stapel innerhalb der ›Konservativen Revolution‹ deutlich besser vernetzt zu sein scheint. Da jedoch belegt ist, dass Jünger mehrfach Briefwechsel verbrannte,34 mag der Eindruck trügen. Von besonderem Interesse sind die Personen, mit denen beide Briefe austauschten: Das sind überraschend wenige, nämlich lediglich Paul Ernst, Adolf Hitler, Hans Grimm, Oswald Spengler und Carl Schmitt, also Personen, die eine immense Strahlkraft besaßen und damit über einzelne Gruppierungen hinaus als Kontakt interessant waren. Erweitert man in einem zweiten Schritt den Kreis auf sämtliche Briefpartner der beiden Autoren in den Jahren zwischen 1920 und 1933, so fällt zum einen auf, dass Jünger zwar innerhalb der ›Konservativen Revolution‹ schlechter vernetzt war als Stapel, aber insgesamt mehr Briefpartner hatte (282 zu 240). Zum anderen zeigt sich, dass es in dieser Zeit keine gemeinsamen Briefpartner jenseits der oben genannten gibt. In einem dritten Schritt wird der Untersuchungszeitraum auf die Jahre 1934 bis 1954, das Todesjahr Wilhelm Stapels, verschoben, 32 Jünger, Ernst: Jahre der Okkupation, Stuttgart 1958, S. 221 f. 33 https://gephi.org/ (zuletzt aufgerufen am 7. Juni 2021). 34 Vgl. Eintrag vom 24. August 1945 in Jünger, Ernst: Jahre der Okkupation, Stuttgart 1958, S. 137–142.

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also die Zeit, die laut Mohler nicht mehr zur Hochzeit der ›Konservativen Revolution‹ gehört. Für diesen Zeitraum finden sich im Marbacher Nachlass Stapels 483 Briefpartner, für Jünger hingegen 1573 – über 30 Briefpartner überschneiden sich. Dazu gehören zunächst Institutionen, wie der Verlag Langen-Müller und die HAVA , der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Zeitschrift »Die Neue Schau« und der »Merkur«. Die Namen von 15 der insgesamt 31 Personen tauchen im Umfeld der ›Konservativen Revolution ‹ auf (darunter Gerhard Günther, Gustav Steinböhmer alias Gustav Hillard, Friedrich Georg Jünger, Hjalmar Kutzleb, Friedrich Meinecke, Otfried Rademacher, A. P.  Weber und August Winnig) – von den ursprünglichen gemeinsamen Kontakten wird lediglich der Austausch mit Carl Schmitt und Hans Grimm nach 1933 fortgesetzt. Hierbei fällt zusätzlich auf, dass die gemeinsamen Kontakte sich vor allem aus dem Umfeld der HAVA rekrutieren – auch unter den Kontakten, die Mohler nicht in seinem Handbuch aufführt, begründen sich viele im Hamburger Verlagshaus. Mit ähnlichem Untersuchungsaufbau ließe sich auch das Netzwerk weiterer Personen, die Mohler zur ›Konservativen Revolution‹ rechnet, erforschen. Hierbei wäre zu fragen, ob die NS -Zeit und die Nachkriegszeit möglicherweise sogar zu einer Verfestigung des Netzwerks führten – Anlass zu dieser Vermutung gibt das diskutierte Fallbeispiel.

Zweite Fallstudie: Verlage und Sammelbände als Knotenpunkte – Der Frundsberg-Verlag Die bereits erwähnte Hanseatische Verlagsanstalt fungierte über den Januar 1933 hinaus als eine Art think tank der ›Konservativen Revolution‹; in ihr veröffentlichten neben Jünger, Stapel und Schmitt etwa auch Arthur Moeller van den Bruck und August Winnig. In der folgenden Fallstudie interessiert, welche Funktion Verlage im Netzwerk ›Konservative Revolution‹ erfüllten und wie sich Autorengruppen vor und nach 1933 zusammensetzten. Verlage, deren Untersuchung sich laut Mohler als Ergänzung zu einer Darstellung der ›Konservativen Revolution‹ anbietet, die nach Zeitschriften organisiert wäre, seien zunächst ein »fester umrissener Körper als die Organisationen«, also etwa Vereine und regelmäßige Zusammenkünfte35; die in ihnen veröffentlichenden Autorengrup-

35 Mohler: Die Konservative Revolution, S. 99. Unter der Überschrift »Nach Zeitschriften« heißt es zudem (S. 95): »Während die Massenparteien um der Macht willen nur zu oft die ›Idee‹ verraten, wird in den meisten konservativrevolutionären Handlungen, selbst der auf unmittelbare Aktion geformten Kampfbünde, immer wieder spürbar, daß es ihr vor allem um die Eroberung neuer geistiger Welten geht. Und das scheint – wie der Vergleich mit jenen beiden Massenparteien [KPD und NSDAP, Anm. jvdl] zeigt – ein organisatorisch zersplitterndes Unterfangen zu sein. Es ist darum richtiger, statt der Organisationen eine Gliederung nach den Vehikeln dieser geistigen Landnahme, den Zeitungen, Zeitschriften, Flugblättern und Büchern, zu versuchen.«

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pen lassen sich anhand von Verlagsprogrammen leicht ermitteln. Zugleich gibt Mohler zu bedenken, dass die Verlage eine »verschiedene ›Dichte‹« aufwiesen, womit er darauf anspielt, dass es Verlage gab, in denen vor allem Autoren veröffentlichten, die er zur ›Konservativen Revolution‹ rechnet, und andere, vor allem größere, in denen sie nur eine unter verschiedenen Gruppen darstellten.36 Im Folgenden soll vor allem die erste Gruppe untersucht werden, lässt sich an ihr doch besser feststellen, ob das Jahr 1933 Bruch oder Kontinuität bedeutete. Als Beispiel wurde mit dem Frundsberg-Verlag ein der nationalkonservativen Strömung zuzurechnendes Haus ausgewählt, das erst in der Weimarer Republik gegründet wurde und somit auf Strukturen im Netzwerk ›Konservative Revolution‹ reagierte und diese verfestigte. Das folgende Beispiel soll zudem dazu dienen, das Netzwerk ›Konservative Revolution‹ nicht als statisches Konstrukt zu betrachten, sondern als über die Zeit veränderliches. Der Frundsberg-Verlag

Der Frundsberg-Verlag wurde im Dezember 1924 gegründet, Geschäftsführer war Erich Kleine, Eigentümer hingegen Franz Seldte, Mitbegründer des »Stahlhelm / Bund der Frontsoldaten«, einer im November / Dezember 1918 ins Leben gerufenen Vereinigung, die sich aktiv an den Umsturzbemühungen in 36 Zu letzteren rechnet Mohler 1. den Jenaer Diederichs Verlag, 2. Langen / Müller in München und 3. Koehler in Leipzig. Bei Diederichs erschienen neben Ausgaben von Leo Tolstoi und anderen europäischen Zivilisationskritikern wie Sören Kierkegaard, John Ruskin und Henri Bergson, der Sammlung »Thule« – wissenschaftliche Editionen altnordischer Texte  – und Werken mit eher antirationalistischer Ausrichtung wie Texte der Mystik und des Paracelsismus, außerdem die Zeitschrift »Die Tat«, Romane von Hermann Löns, die Werke des Philosophen Hans Driesch, den Mohler zu den »Kirchenvätern« der ›Konservativen Revolution‹ zählt, Edwin Erich Dwinger sowie der völkisch orientierte Hans Friedrich Blunck. Vgl. auch Hübinger, Gangolf: Der Verlag Eugen Diederichs in Jena. Wissenschaftskritik, Lebensreform und völkische Bewegung, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 31–45. Dass Mohler Langen / Müller nennt, ist insofern spannend, als die beiden Verlage von Albert Langen und Georg Müller erst 1932 fusionierten. Zwar wurde der Verlag Georg Müller bereits 1928 vom Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband aufgekauft, auf die Nähe zur Hanseatischen Verlagsanstalt, die dadurch entstand, geht Mohler jedoch nicht ein. Bei Langen-Müller erschien nicht nur ab 1934 die Zeitschrift »Das Innere Reich«; hier veröffentlichten unter anderem Paul Alverdes, der bereits genannte Hans Friedrich Blunck, Hermann Claudius, Hans Grimm, Knut Hamsun, Hanns Johst, Erwin Guido Kolbenheyer, Wilhelm Schäfer, Will Vesper, Joseph Magnus Wehner und Ernst Wiechert, die von Mohler nicht nur zu den ›Konservativen Revolutionären‹ gezählt werden, sondern von denen zahlreiche 1933 in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen wurden. Vgl. dazu Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt, S. 4. Zur Verlagsfusion siehe Meyer, Andreas: Die Verlagsfusion Langen-Müller. Zur Buchmarkt- und Kulturpolitik des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands in der Endphase der Weimarer Republik. Archiv für Geschichte des Buchwesens 32, Frankfurt 1989.

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der jungen Weimarer Republik beteiligte.37 Hauptkommunikationsorgan des »Stahlhelms« war die gleichnamige Wochenschrift, die 1925/26 eine Auflagenhöhe von bis zu 170.000 Exemplaren erreichte und im Stahlhelm-Verlag erschien.38 Während die Mitgliedschaft im »Stahlhelm«-Bund zunächst ausschließlich ehemaligen Frontsoldaten vorbehalten war, wurde er ab 1923/24 für weitere Gruppierungen geöffnet; neben umfangreicher Nachwuchsakquise und der Gründung des »Bund Königin Luise«, der Frauen aufnahm, spiegelt sich dies auch in den Publikationen wider. Seldte warb für den bisher vor allem für die verbandsinterne Kommunikation genutzten Stahlhelm-Verlag gezielt junge Kriegsteilnehmer an, die bereits als Autoren in Erscheinung getreten waren, um eine ideologische ›Schärfung‹ und »Klärung des geistigen Standortes«39 zu erreichen. Zu diesem Zweck wurde der Stahlhelm-Verlag um einen »Buchverlag« erweitert, in dem neben den bisherigen Verlagspublikationen Bücher erscheinen sollten, die auf der ideologischen Linie des Stahlhelm-Bundes lagen. In der Reihe »Die grauen Bücher« sollte vor allem Weltkriegsliteratur erscheinen – als erster Band der Reihe erschien Ernst Jüngers Feuer und Blut (1925). Diese Erweiterung um ein vielfältigeres literarisches Programm scheiterte jedoch wohl an Differenzen zwischen den dort versammelten jungen Ideologen und der Führungsriege des »Stahlhelm«-Bundes.40 Deshalb entschied man sich für die Gründung des Frundsberg-Verlags, der zwar weiterhin eng mit dem »Bund der Frontsoldaten« verbunden war, jedoch eigenständig agieren konnte und damit die Möglichkeit bot, Werke, die nicht im engsten Sinne mit dem »Stahlhelm« verbunden waren, auf den Markt zu bringen.41 Zugleich gingen einzelne Titel des »Stahlhelm«-Verlags in die Neugründung über. Ab Mitte der 1920er Jahre wurde der Frundsberg-Verlag somit zu einem Sammelbecken der nationalistisch ausgerichteten Erinnerungsliteratur an den Ersten Weltkrieg und die direkte Nachkriegszeit  – hier vor allem der Freikorps-Literatur. Einer der ersten Romane, die hier erschienen, war Hanns Dohrmanns Chaos. Ein Revolutionsroman aus dem Baltikum, in dem die Entwicklungen im Baltikum nach der Novemberrevolution geschildert 37 Die informativste Aufarbeitung zum Stahlhelm / Frundsberg-Verlag bietet noch immer Liebchen, Gerda: Ernst Jünger. Seine literarischen Arbeiten in den zwanziger Jahren. Eine Untersuchung zur gesellschaftlichen Funktion von Literatur, Bonn 1977. 38 Als Herausgeber fungierte zunächst der ehemalige Offizier Helmut Franke. Die ab 1925 erscheinende Beilage »Die Standarte« wurde ab dem folgenden Jahr neben Franke von Ernst Jünger und Franz Schauwecker betreut. 39 Liebchen: Ernst Jünger, S. 97. 40 Ebd., S. 98 f. 41 Nach der Gründung des Frundsberg-Verlags konzentriert sich das Programm des Stahlhelm-Verlags auf die »Stahlhelm-Jahrbücher« und schließlich auf Erinnerungsschrifttum des Stahlhelm-Bundes: So erschienen 1932 Seldte, Franz: Der Stahlhelm. Erinnerungen und Bilder, Berlin 1932 und im folgenden Jahr Kleinau, Wilhelm: Soldaten der Nation. Die geschichtliche Sendung des Stahlhelm, Berlin 1933 und Ders.: Franz Seldte. Ein Lebensbericht, Berlin 1933.

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werden.42 Es folgten weitere Werke militaristischen Inhalts von Autoren der zweiten oder dritten Reihe, so 1926 von Gustav Goes, Ernst von Wolzogen und Kurt Hesse.43 Ab 1927 erscheinen auch Titel von Schriftstellern, deren Namen heute noch geläufig sind: Ernst Jünger veröffentlicht die dritte Auflage seiner Kriegsschrift Feuer und Blut. Ausschnitt aus einer großen Schlacht, und Franz Schauwecker fungiert als Herausgeber für den Bildband So war der Krieg. 200 Kampfaufnahmen aus der Front.44 Mit dem Medium des Bildbandes findet der Verlag einen Schwerpunkt für die Publikationen der folgenden Jahre: 1928 bringt Schauwecker das Gegenstück So ist der Friede. Die Revolution der Zeit in 300 Bildern heraus; im selben Jahr erscheint Das unsichtbare Denkmal – Heute an der Westfront und 1930 Der Soldat von Gegenüber, beide Bände herausgegeben von Maxim Ziese und Hermann Ziese-Beringer.45 Ein Schwerpunkt der Verlagsproduktion liegt somit auf aufwendig produzierten Bildbänden, die den zahlreichen schriftlichen Berichten vom Weltkrieg, die ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auf den Buchmarkt strömten, entsprechendes fotografisches Material zur Seite stellten. Hierbei scheint es nicht ausschließlich um nationalistisch-propagandistische Zwecke zu gehen, sondern zugleich um eine kollektive Erinnerung an das Kriegserlebnis, die bewusst grenzüberschreitend gestaltet ist. So bringt Der Soldat von Gegenüber Bildmaterial, das unter anderem von einem Film stammt, der im Tornister eines 1916 bei Verdun gefallenen Soldaten gefunden wurde.46 In dieser ersten Phase des Verlags sind Autoren, Themen und adressierte Leserschaft auf einen kleinen Zirkel beschränkt; er agiert zunächst innerhalb des Netzwerks, das sich vor allem um den »Stahlhelm«-Bund entwickelt hatte. 1929/30 öffnet sich das Verlagsprogramm jedoch für Titel, die das Potential besitzen, einen größeren Leserkreis anzusprechen, wobei zunächst auf die Gattung der Novellistik gesetzt wird. Deutlich heben sich Titel wie Hunde und Katzen. 24 Tiernovellen oder Drachen und Geister. Novellen aus China, Insulinde und der Südsee von dem bisherigen Programm ab, auch taucht mit Alma Karlin erstmals eine Frau unter den Autoren auf.

42 Helmuth Kiesel fasst den Inhalt des Romans wie folgt zusammen: »Militärisches steht im Vordergrund, und der Roman ergeht sich größtenteils in Gräuelschilderungen. Die Brutalität der Roten Armee wird durch viele Beispiele ›belegt‹, wobei Übertreibung und Klischee mit den Händen zu greifen sind; aber auch die Verrohung der Baltendeutschen und der Freikorps wird erwähnt.« Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933, München 2017, S. 288. 43 Goes, Gustav: Soldaten-Herz. Ein Kriegsskizzenbuch, Magdeburg 1926; Wolzogen, Ernst von: Das Schlachtfeld der Heilande, Magdeburg 1926; Hesse, Kurt: An den Strassenecken der Welt, Magdeburg 1926 (eine erste Auflage erschien bereits 1925 im Stahlhelm-Verlag). 44 In der 1928 erschienenen Neuauflage wird der Bildband auf 230 Aufnahmen erweitert. 45 1930 erscheint zudem Ziese, Maxim u. a.: Generäle, Händler und Soldaten. Ein Totentanz der Tatsachen um die von gegenüber, Berlin: Frundsberg 1930. 46 Ziese, Maxim u. a.: Der Soldat von Gegenüber, Berlin 1930.

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In diese Reihe gehören auch die erste Fassung von Jüngers Abenteuerlichem Herz und der Novellenband Mondschein. Magische Geschichten, in dem Franz Schauwecker Beiträge von Autoren veröffentlichte, von denen ein bedeutender Teil zur ›Konservativen Revolution‹ gerechnet werden kann. Teils rekrutieren sich diese aus den Autoren des Frundsberg-Verlags, teils gehören sie nicht zum engeren Kreis des Verlags. Dies erhärtet den Befund, der bereits zuvor im Fall der interpersonalen Verbindungen beschrieben wurde, dass Verlage gruppenstabilisierende Funktionen haben, die sich zusätzlich unter anderem in Sammelbänden niederschlagen, die als öffentliches Gesicht einer solchen Gruppe dienen können. Der Band Mondstein. Magische Geschichten ist insofern von besonderem Interesse, als er ein betont gemäßigtes Gesicht der ›Konservativen Revolutionäre‹ zeigt, ganz anders als beispielsweise der im gleichen Jahr von Ernst Jünger herausgegebene Band Krieg und Krieger, der viele Autoren mit Schauweckers Band gemeinsam hat.47 In der Vorrede stellt Schauwecker das Irrationale als verbindendes Element des Bandes heraus: Heute eröffnet sich das Irrationale seine Türen und Tore zur Welt der Greifbarkeit durch Zugriffe an innere Halb-Bewußtheiten, an Erinnerungen, Selbstgefühle, Krankheiten, Scheinbarkeiten des Normalen. […] Der Verstand steht heute zwischen dem Irrationalen und uns, der Wirklichkeit. Alles ist so erschwert, alles ist unsicherer, ferner, bedrohender geworden. […] Wessen Seele die geheimnisvolle Kraft einer äußerlich nur andeutenden Berührung begreifen und lebendig sich einverkörpern kann, der hat die Nabelschnur zum Drüben, durch die allein die Kraft des Wachstums in uns hinüberströmt. Alles andre ist Schema und Nebensächlichkeit. Das Irrationale ist die entscheidende Macht.48

Woher rührt die Wendung vom bellizistischen Verlagsprogramm zu Seelenerforschung und Irrationalem? Sie wurzelt, so die These, in einem verbindenden Lebensideal, das nach einer Grenz- und Transzendenzerfahrung strebt und sich sowohl in soldatischer Bewährung im Krieg als auch im Übertritt aus der wissenschaftlich belegbaren Realität ins Irrationale manifestieren kann. Hierbei wird keineswegs eine Seelenschau im Freudschen Sinne angestrebt, stattdessen soll die Grenze zum magischen Denken durchbrochen werden – somit durchdringen sich an dieser Stelle ›Heroischer‹ und ›Magischer‹ Realismus. Bereits in Ernst Jüngers Essay Sizilianischer Brief an den Mann im Mond, der den Band eröffnet, tritt diese Verquickung deutlich hervor. So führen sowohl 47 Jünger, Ernst (Hg.): Krieg und Krieger, Berlin 1930. In diesem Band veröffentlichten neben Jünger auch Wilhelm von Schramm, Friedrich Georg Jünger, Albrecht Erich und Gerhard Günther, Ernst von Salomon, Friedrich Hielscher und Werner Best. 48 Schauwecker, Franz: Zu diesem Buch, in: Mondstein Magische Geschichten, Berlin 1930, S. 6.

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das Fronterlebnis  – ein »[f]insterer Angriff auf das Unendliche«49  – als auch die im Mondlicht liegende Welt zur Erkenntnis, dass sich jenseits der alltäglich wahrnehmbaren Welt Tieferes verberge, und der Protagonist kommt zu dem Schluss: »das Wirkliche ist eben so zauberhaft, wie das Zauberhafte wirklich ist.«50 Der Journalist Otto Brües trug Das Wunsch- und Wundmal bei: Die Erzählung spielt in Russland kurz vor und während der Revolution und handelt von dem Fluch einer eifersüchtigen Geliebten, der den Protagonisten in den Ruin treibt und zum Mörder werden lässt. Bezeichnend ist die Szene, in der er einem Arzt sein Leid klagt, da hier nicht nur magisches und wissenschaftliches Weltbild in Konflikt geraten, sondern auch unterschiedliche Gesellschaftskonzepte. So warnt der Arzt: »Äußere diese Deine Meinung nicht zu laut, mein Sohn, sie ist ohnehin konterrevolutionär. Du leidest an Einbildungen, Du hast Dein verfluchtes Ich noch nicht abgetötet.«51 Der zeitgenössische politische Diskurs durchdringt auch Heinrich Lerschs Der Hamburger, eine wüste Geschichte aus dem Arbeitermilieu, in der das Irrationale sich in der Gestalt eines Hamburger Kesselflickers manifestiert, der seine Mitarbeiter auf zwingende Weise – auch gegen ihren Willen – zum Aufstand aufwiegelt; wer seine Arbeit fortsetzen will, kommt durch unglückliche Unfälle zu Schaden. In der Erzählung Begegnung des späteren Präsidenten der Reichsschrifttumskammer, Hanns Johst, verquicken sich im Zwiegespräch eines Ortsansässigen mit einem Jesuiten, das sich während des Aufstiegs vom Starnberger See zum Exerzitienhaus entspinnt, Naturerfahrung und religiöse Ergriffenheit mit dem Rückblick auf den Ersten Weltkrieg – der Ordinierte diente im Krieg als einfacher Soldat in den Dolomiten, erst danach entschloss er sich für den Eintritt in den Jesuitenorden. Die Erzählung endet mit einem Visions- (und möglicherweise Konversions-)Bericht am folgenden Morgen, ausgelöst durch eine Fürbitte, die der Jesuit seinem Weggefährten zum Dank für die Begleitung spricht. Ernst von Salomon trug die wohl durch eine Dostojewski-Lektüre beeinflusste Erzählung Der Totschläger bei, in der sich bei einer abendlichen Gesellschaft der Rausch des Protagonisten bis zum willkürlich verübten Totschlag steigert. Alma Karlins Geschichte Das Tempelkleid spielt hingegen in Japan und handelt von einem Kimono, der die unglückliche Liebe der ersten Besitzerin von Trägerin zu Trägerin weitergibt und einer jeden den Tod bringt. Das Grauen in Hoffmannesker Manier bildet wohl am besten das Stück ­Werner Bergengruens nach. Es besteht ausschließlich aus den Gesprächsanteilen eines Bahnreisenden, der unvermittelt in das Abteil eines bislang ungestörten Liebespaars tritt. Er stellt sich als Herr Mondschneider vor, dessen Beruf es sei, Mondstein zu schneiden. Diese in Herzform geschnittenen Steine führt er in einem Kasten mit; die Zurschaustellung der Steine führt durch eine Art 49 Jünger, Ernst: Sizilianischer Brief an den Mann im Mond, in: Schauwecker, Franz (Hg.): Mondstein. Magische Geschichten, Berlin 1930, S. 7–21, hier S. 9. 50 Ebd., S. 20. 51 Brües, Otto: Das Wunsch- und Wundmal, in: Schauwecker, Mondstein, S. 29.

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Hypnose dazu, dass die Eigenschaften der Mondsteinherzen, »glatt, kühl, fest, klar, immer gleichmäßig schlagend«52, auf die Herzen des Paares übergehen. Der Mondsteinschneider zückt schließlich das Messer, um aus der Brust der beiden Liebenden weitere Herzen für seine Sammlung zu ernten.

Werner Bergengruen oder die Grenzen des Netzwerks Werner Bergengruens publizistische Aktivitäten scheinen geeignet, über die Grenzen einer netzwerkartigen Darstellung nachzudenken. Bergengruen wird, wohl zu Recht, von Mohler nicht für die ›Konservative Revolution‹ vereinnahmt, trotzdem taucht sein Name immer wieder in deren Dunstkreis auf. So erscheinen seine Werke sowohl in der Hanseatischen Verlagsanstalt (Der Großtyrann und das Gericht, 1935; Der Starost, 1938; Die Leidenschaftlichen, 1939; Der Tod von Reval, 1939; Die Heiraten von Parma, 1940; Am Himmel wie auf Erden, 1940) als auch im Frundsberg-Verlag (Der tolle Mönch, 1930) und bei Georg Müller (Der goldene Griffel, 1931).53 Neben Schauwecker, Börries von Münchhausen und Ernst Jünger veröffentlicht er 1929 einen Beitrag in »Ja und nein. Blätter für das deutsche Schrifttum«. Als Antwort auf Schauweckers Mondstein-Projekt kann der gemeinsam von Bergengruen und A. Paul Weber herausgegebene Band Stecowa. Phantastisches und Übersinnliches aus dem Weltkrieg54 gelten, in dem unter anderem Schauwecker, Arnolt Bronnen, Friedrich Hielscher, Josef Magnus Wegner und Ernst Wiechert versammelt wurden. In Bergengruens Werken der 1920er Jahre dominiert die Romantikrezeption, E. T. A. Hoffmann widmete er 1939 eine ganze Monografie, außerdem machte er sich als Übersetzer um die Werke Fjodor Dostojewskis und Lew Tolstois verdient. Auch seine eigene Biografie weist Ähnlichkeiten mit vielen der Autoren auf, die der ›Konservativen Revolution‹ zugerechnet werden: 1892 in Riga als Sohn eines Arztes geboren, Mitglied einer Burschenschaft, sein Studium in München wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, zu dem er sich freiwillig zum Einsatz meldete und in dem er als Stoßtruppführer diente. Nach dem Krieg trat er der Baltischen Landwehr bei und kämpfte gegen die Rote Armee. In den 1920er Jahren arbeitete er als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, auch lebte er zeitweise in Berlin. Wieso wird Bergengruen trotz dieser großen Überschneidungen nicht als zum Netzwerk zugehörig betrachtet? Wohl wegen seiner Zurückhaltung hinsichtlich politischer Äußerungen und Aktionen. Sein Werk ist weitgehend vom Zeitgeschehen losgelöst – stattdessen ist er uns heute als einer der wichtigsten 52 Bergengruen, Werner: Mondstein, in: Schauwecker, Mondstein, S. 56–60, hier S. 58. 53 Hier muss jedoch betont werden, dass Bergengruen im Gegensatz zu anderen Autoren häufig den Verlag wechselte. 54 Bergengruen u. a.: Stecowa. Phantastisches und Übersinnliches aus dem Weltkrieg, Berlin 1932.

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Vertreter einer ›Inneren Emigration‹ bekannt, wobei das Unideologische wohl bereits von Anfang an in seinen Werken angelegt ist. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Verbindungen im Netzwerk nicht die Lektüre der Werke ersetzen können  – Bekanntschaften, gleiche Verlage, selbst gemeinsame Publikationsprojekte sind als gruppenkonstituierende Merkmale nicht ausreichend.

1933 als Wende? Bleibt die Frage nach der Bedeutung des Jahres 1933 für die institutionellen Verbindungen, also etwa von Verlagen, im Netzwerk. Die gegen Ende der 1920er Jahre einsetzende Entpolitisierung ist mit dem Beginn der NS -Herrschaft passé, stattdessen spezialisiert sich der Frundsberg-Verlag auf Literatur zum Osten als neuem politischem Sehnsuchtsort. So erscheinen bereits 1933 Heinrich Bauers Im Osten wächst das Reich. Drei Kämpfer um eine Idee und Georg Schwarz’ Völker, höret die Zentrale. KPD bankrott. Zugleich entsteht eine neue Reihe, die unter dem Titel »Die deutsche Innerlichkeit« steht und in der Titel wie Der Weg des Dichters zum Volk von Hanns Johst oder Stefan George. Richter der Zeit von Richard Bie erscheinen. Auch wird das Genre der illustrierten Propagandaschriften wieder bedient, etwa mit Friedrich Wilhelm Heinz’: Kameraden der Arbeit und den 1935 veröffentlichten Bänden So war die alte Armee, herausgegeben von Ernst von Rothe und Franz Schauwecker, und So war die alte Kriegsmarine von Georg Schwarz.55 Lediglich der 1936 von Schauwecker veröffentlichte Band Gespenster und Menschen. Übersinnliches aus unserer Zeit erinnert noch an die thematische Diversifizierung des Verlagsprogramms. Ab 1938 erscheinen wieder eindeutig literarische Texte im Frundsberg-Verlag, so  – unter dem Pseudonym Thomas Klingg  – Peter Franz Stubmanns Schelmenroman Jan Blaufink und ebenfalls unter Pseudonym, und zwar HansHeinrich Hollenbach, Die Kaufleute des Kaisers. Hinter diesem Namen verbirgt sich Otto Küster, der als Schriftleitungsvertreter beim »Völkischen Beobachter« arbeitete.56 1939 erscheint sogar Wenn ich mich recht erinnere, eine Übersetzung der Lebenserinnerungen des französischen Regisseurs und Schauspielers Sacha Guitry. Zudem fallen nach 1933 verschiedene Biografien im Verlags­ programm auf: 1933 zu Franz Schauwecker, Agnes Miegel (die im selben Jahr in die Preußische Akademie der Künste berufen und zu einer der meistgelobten Dichterinnen des NS -Regimes wurde)  und dem Schauspieler Werner Krauß. Neben dem bereits erwähnten Band zu George erschien 1934 zusätzlich eine von 55 Ergänzt wird der Band noch durch Alkening, Paul: Die berühmteste Radfahrpatrouille des Weltkrieges. Bericht des Unteroffiziers Alkenings von der 1. Komp. des Lehr-Infanterie-Regiments über seine Radfahrpatrouille in der Durchbruchsschlacht von Brzeziny am 23. und 24. November 1914, Berlin 1936. 56 Diese Angabe entstammt der Datenbank zum Historischen Roman der Universität Innsbruck. URL : https://www.uibk.ac.at/germanistik/histrom/cgi/wrapcgi.cgi?wrap_config=​ hr_au_all.cfg&nr=20140 [zuletzt aufgerufen am 7. Juni 2021].

Die ›Konservative Revolution‹ als Netzwerk

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Paul Fechter verfasste Biografie zu Arthur Moeller van den Bruck. Mit Kriegsbeginn widmet sich die Buchproduktion zu großen Teilen der literarischen Verarbeitung der Siege, parallel wird die Sparte der Belletristik ausgebaut. Der Verlag besteht bis in die frühe Nachkriegszeit fort. 1933 ist somit in der Grundgestalt des Verlags kein einschneidendes Datum, sowohl Themen als auch Autoren bleiben dem Verlag, zumindest zum Teil, erhalten. Neue Autoren, die in enger Verbindung zum NS -Regime stehen, kommen hinzu und prägen fortan die Verlagsproduktion, die über die Jahre sogar zunimmt. Neben der Erinnerungsarbeit in Bezug auf den Ersten Weltkrieg setzt eine kulturpolitische Gedenkarbeit an die rechte Bewegung der 1920er Jahre ein, die mit Moeller van den Bruck, Schauwecker und George vor allem auch Säulenheilige und Akteure der ›Konservativen Revolution‹ behandelt.

Fazit Es konnte gezeigt werden, dass Mohlers Studie die Idee der ›Konservativen Revolution‹ als Netzwerk bereits explizit zugrunde liegt, dass er hierbei jedoch – wohl auch aufgrund der Makroperspektive seiner Untersuchung – generalisierend vorgeht. Detailuntersuchungen wie in den beiden Fallbeispielen lassen das Bild komplexer erscheinen, als es das einfache Erklärungsmuster einer in fünf Untergruppen aufgeteilten Bewegung, die aus »einigen Hundert Menschen, die sich meist persönlich kennen und durch vielfältige Gefühle der Anziehung und Abstoßung miteinander verbunden sind« behauptet. Herausragende Akteure wie Jünger und Stapel haben zunächst wenig gemeinsam, bis auf den Verlag, in dem sie veröffentlichen. Ihre Kontakte überschneiden sich nur in den Figuren, die sämtliche Strömungen überstrahlten – Adolf Hitler, Hans Grimm, Oswald Spengler und Carl Schmitt. Zudem konnte die große Bedeutung von Sammelbänden und Zeitschriften als gruppenetablierende und -stabilisierende Werkzeuge gezeigt werden. Verlage bieten im Vergleich zu Zeitschriften wohl eine schwächere gruppenkonstituierende Kraft, stehen die einzelnen Autoren doch nicht zwangsläufig in gemeinsamem Austausch. Zugleich können bestimmte Autorengruppen das Gesicht eines Verlages jedoch stark prägen und ziehen dadurch weitere Autoren mit ähnlichen Interessen an. Am Beispiel Werner Bergengruens konnte zudem gezeigt werden, dass die Verbindungslinien des Netzwerks allein nicht genügen, um Aussagen über eine ideologische Zugehörigkeit zu treffen – hier bleiben die Werke, nicht die Kontakte stets maßgeblich.

Helmuth Kiesel, Heidelberg

Figuren der ›Konservativen Revolution‹ in der Literatur nach 1933 1 Der Begriff der ›Konservativen Revolution‹ wird im Allgemeinen mit der Zeit der Weimarer Republik verbunden. Das grundlegende »Handbuch« von Mohler und Weißmann beschränkt sich auf die Jahre 1918–1932,1 und auch wichtige Studien wie die von Louis Dupeux2, Raimund von dem Bussche3, und Stefan Breuer4 halten sich zum Teil ausdrücklich an diese Grenze. Das hat seine guten Gründe. Bekanntlich wurde der Begriff – es sei nur knapp daran erinnert – 1921 von Thomas Mann mit dem Essay Russische Anthologie / Zum Geleit5 wohl in Anlehnung an Dostojewski in den literarischen Diskurs eingeführt und griff, verstärkt durch Hugo von Hofmannsthals Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927)6 und Rudolf Borchardts Rede Schöpferische Restau­ ration (1927)7 verstärkt – auf den politischen Diskurs über.8 Was damit im Kern gemeint war, dass nämlich, wie Thomas Mann 1921 sagte, auch der Konservatismus ein revolutionäres Potenzial habe, wurde vor allem von Intellektuellen vertreten, die sich im diffusen Feld zwischen Politik und Literatur bewegten, Politik und Literatur vermengten, mit literarischen Mitteln auf die Politik einwirken wollten, eine gewisse Stimmung erzeugen und Grundrichtung vorgeben wollten, aber viel zu einzelgängerisch und unpraktisch waren, als dass sie eine politisch erfolgreiche »Bewegung« hätten auf den Weg bringen können. Das blieb den Nationalsozialisten überlassen, und da in deren Denken manche 1 Mohler, Armin / Weißmann, Karlheinz: Die konservative Revolution in Deutschland 1918– 1932. Ein Handbuch. 6., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Graz 2005. 2 Dupeux, Louis: Nationalbolschewismus in Deutschland 1919–1933: kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985 [franz. Orig. 1974]. 3 Bussche, Raimund von dem: Konservatismus in der Weimarer Republik: die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998. 4 Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. 5 Mann, Thomas: Essays [in sechs Bänden], hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 1993, Band 2, S. 30–42, Begriff S. 37. 6 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Bänden, hg. von Bernd Schoeller u. a., Frankfurt am Main 1980, Band 3, S. 24–41, Begriff S. 41. 7 Borchardt, Rudolf: Gesammelte Werke in Einzelbänden / Reden, hg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von R. A. Schröder u. a., Stuttgart 1955, S. 230–253. 8 Vgl. dazu Kiesel, Helmuth: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933, München 2017, S. 877 ff.

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Anklänge an die Idee und Ideen der konservativ-revolutionären Strömung zu finden sind, wird die ›Konservative Revolution‹ üblicherweise auch in einen engeren Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gebracht, als eine ihn vorbereitende und in ihm wirksame Kraft gewertet, die allerdings nach 1933 an Sichtbarkeit verloren zu haben scheint; es ist ja kein Zufall, dass die meisten Studien zur ›Konservativen Revolution‹ mit dem Jahr 1933 aufhören oder nach deren »Erbe« im Nationalsozialismus suchen.9 Allerdings waren die Affinitäten zwischen der ›Konservativen Revolution‹ und dem Nationalsozialismus nicht so stark,10 wie manchmal behauptet wird, und keineswegs ist es so, dass die Idee und praktische Haltung der ›Konservativen Revolution‹ im Nationalsozialismus aufgegangen wäre; vielmehr spielt sie im Denken von Autoren sowohl des Exils als auch der inneren Emigration eine bemerkenswerte Rolle. Als Kronzeuge sei Thomas Mann angeführt. Einerseits hat er sich von der politischen Konkretisierung der Idee der ›Konservativen Revolution‹, die zugleich eine Entstellung war, bewusst abgekehrt, wie er am 26. September 1933 in seinem Tagebuch notierte.11 Andererseits hielt er an der Idee der ›Konservativen Revolution‹ trotz ihrer missbräuchlichen Verwendung durch andere fest und gab ihr, als er 1937 ein Geleitwort für die von ihm neu gegründete Zeitschrift »Maß und Wert« zu schreiben hatte, einen erstaunlichen Stellenwert. Der gleichnamige Essay – Maß und Wert12 – beginnt mit einer Apologie der beiden »konservativen« Titelwörter, wendet sich danach gegen den Missbrauch des »Vokabular[s] der Revolution« durch die Nationalsozialisten, um dann mit mehrfachen Verweisen auf Goethe den Glauben an die »Sendung der Kunst« zu beschwören und einen Begriff von Kunst zu entwickeln, in dem konservative und revolutionäre Vorstellungen zusammengeführt werden: Worauf aber besonders unser Glaube an die beispielgebende Sendung der Kunst in dieser Zeit beruht, ist die Einheit von Überlieferung und Erneuerung, die sie wesensmäßig darstellt, ihr revolutionärer Traditionalismus. »Der Künstler«, sagt Goethe, »muß eine Herkunft haben, muß wissen, woher er stammt.« Ein aristokratisches Wort, ein Wort der Treue und des Stolzes auf alle Vorgeschichte persönlich-künstlerischen Seins, auf alles Ein- und Angeborene, früh Erlebte und Mitgebrachte. Aber 9 Vgl. beispielsweise Kleinschmidt, Erich: Konservative Revolution und heroischer Existentialismus: zu Erbe und Kritik einer nationalsozialistischen Literaturauffassung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983), S. 469–498. 10 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Konservative Revolution und Nationalsozialismus: Aspekte und Perspektiven ihrer Erforschung, in: Schrenck-Notzing, Caspar von (Hg.): Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus, Berlin 2000, S. 103–118. Kroll konstatiert »bestimmte gleichklingende, aber bei weitem nicht immer gleichgemeinte Gedanken und Begriffe«. 11 Mann, Thomas: Tagebücher 1933–1934, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1977, S. 194. 12 Mann, Thomas: Essays [in sechs Bänden], hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 1993, Band 4, S. 198–213.

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der es prägte, hat auch gerufen: »Entzieht euch dem verstorbenen Zeug, Lebend’ges laßt uns lieben! […] Es gibt kein Vergangenes, was man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Besseres zu erschaffen.« Herrliche Worte in ihrem Zornmut gegen Sentimentalität und falsche Frömmigkeit! Worte echten und beispielhaften Künstlertums in der Tat! Denn Künstlertum ist gerade dies: Das Neue, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet; es ist immer überlieferungsbewußt und zukunftswillig, aristokratisch und revolutionär in Einem; es ist seinem Wesen nach das, womit es der Zeit und dem Leben ein Vorbild sein kann: konservative Revolution.13

Dem folgt ein fast gleich langer Abschnitt, in dem Thomas Mann wortreich und vehement jene »Übeldenker« und »Übeltäter« verurteilt, die aus der »Parole« der ›Konservativen Revolution‹ »Unfug« und »Banausentum«, »Jugendverderb« und »Freiheitsmord« gemacht und sie für die »Konservierung des Falsch- und Schlechtgewordenen« missbraucht haben.14 Die Verwerfung all dessen, was üblicherweise auch unter dem Etikett der ›Konservativen Revolution‹ behandelt wird, also des Jungkonservatismus, des revolutionären Nationalismus, des Bündischen, des Völkischen, wie es sich in der Zeitschrift Deutsches Volkstum äußerte, vom Nationalsozialismus ganz zu schweigen, ist unmissverständlich und restlos. Von dieser Art von »konservativer Revolution«  – Thomas Mann setzt den Begriff an dieser Stelle in Anführungszeichen, um seine missbräuchliche Verwendung anzuzeigen – wollte er sich, es sei betont, radikal distanzieren, nicht aber von der Idee und vom Begriff der ›Konservativen Revolution‹ schlechthin. Der dann folgende Abschnitt beginnt nämlich mit dem Satz: »Die Wiederherstellung des Begriffes aus Verdrehung und Verderbnis liegt uns am Herzen.«15 Der Fortgang legt nahe, dies, um dem Text nicht Gewalt anzutun, nicht allein auf den Begriff der ›Konservativen Revolution‹ zu beziehen, sondern als Devise für die Zeitschrift Maß und Wert zu lesen. Aber auch dann kommt man wieder auf die Idee des Konservativ-Revolutionären zurück. Nach wenigen Sätzen, die den Namen und das Programm der Zeitschrift begründen, heißt es nämlich: Eine solche Bemühung ist also ebenso konservativ wie revolutionär. Sie ist konservativ insofern sie etwas bewahren will, was bisher die Würde des Menschen ausgemacht hat: die Idee eines überpersönlichen, überparteilichen, übervölkischen Maßes und Wertes; insofern sie die Geister, die Herzen, die Willen auf das Ziel eines solchen überparteilichen, humanen Maßes richten will. Sie ist aber revolutionär, da sie dieses Maß selbst aus keinerlei Vergangenheit ungeprüft übernehmen will, sondern es an den heutigen Bedingungen und Erfahrungen mit größter Wahrhaftigkeit zu erproben, aus der gegenwärtigen Situation neu zu gewinnen unternimmt.16 13 Ebd., S. 200 f. 14 Ebd., S. 201. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 202.

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Es sei noch einmal betont: An der restlosen Verwerfung von Jungkonserva­tismus, revolutionärem Nationalismus und dergleichen kann kein Zweifel bestehen. Aber keineswegs hat Thomas Mann mit der Verwerfung dieser »verhunzten« (wie er gerne sagte) Art der »konservativen Revolution« (in Anführungszeichen) die Idee und den Begriff der ›Konservativen Revolution‹ verworfen; es ging ihm vielmehr um dessen Rettung, was die Thomas Mann-Forschung bisher vielleicht zu wenig beachtet hat, obwohl Stefan Breuer17 und Reinhard Mehring18 darauf hingewiesen haben. Das Geleitwort für die Zeitschrift Maß und Wert ist nicht weniger als eine grundsätzliche Apologie der Idee und des Begriffs der ›Konservativen Revolution‹; ja mehr noch: Es rückt die Idee der ›Konservativen Revolution‹ ins Zentrum des Kunstbegriffs, deklariert sie als Wesenskern vollgültigen Künstlertums, weil in ihm beides, konservatives und revolutionäres oder restauratives und progressives Denken, zusammenwirken müsse. Die Frage stellt sich, ob es Texte aus der Zeit um das Jahr 1937 gibt, die diesem Postulat auf eine solche Weise entsprechen, dass man sie als Realisationen der nicht »verhunzten« Idee der ›Konservativen Revolution‹ im Sinne des Geleitworts von Maß und Wert bezeichnen kann. Dieser Frage sei anhand von Texten dreier Autoren – Rudolf Borchardt, Reinhold Schneider und Jochen Klepper – nachgegangen. Alle drei werden im Handbuch von Mohler und Weißmann zu Recht als Autoren genannt, die »der Konservativen Revolution nahestanden«19, aber nicht einlässlicher behandelt.

2 Rudolf Borchardt stand der Idee der ›Konservativen Revolution‹ nicht nur nahe, sondern war einer ihrer beredtesten Vertreter, wie außer der eingangs schon genannten Rede Schöpferische Restauration von 1927 auch andere Texte aus den Jahren um 1930 und die umfangreiche Forschungsliteratur zeigen.20 Zudem war Borchardt mit einigen führenden Vertretern der »jungkonservativen« Be­wegung befreundet, so mit Edgar Julius Jung und Herbert von Bose, die 17 Vgl. Breuer, Stefan: Wie teuflisch ist die »Konservative Revolution«? Zur politischen Semantik Thomas Manns, in: Röcke, Werner (Hg.): Thomas Mann: Doktor Faustus 1947–1997, Bern u. a. 2001, S. 59–71, bes. S. 66. 18 Vgl. Mehring, Reinhard: Thomas Mann: Künstler und Philosoph. München: Fink, 2001, S. 109, sowie Mehring, Reinhard: Thomas Manns philosophische Dichtung: vom Grund und Zweck seines Projekts. Freiburg und München 2019, S. 170, hier im Rahmen eines längeren Kapitels über »Begriffsgeschichte und Bedeutungswandel der ›konservativen Revolution‹« (S. 165–176). 19 Ebd., S. 201. 20 Aus der Vielzahl einschlägiger Titel sei verwiesen auf Breuer, Stefan: Rudolf Borchardt und die »Konservative Revolution«, in: Osterkamp, Ernst (Hg.): Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen. Berlin und New York 1997, S. 370–385, sowie Kauffmann, Kai: Rudolf Borchardt und der ›Untergang der deutschen Nation‹: Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk, Tübingen 2003, bes. S. 145 ff.

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beide der nationalsozialistischen Mordaktion vom 30. Juni/1. Juli 1934 (»RöhmPutsch«) zum Opfer fielen.21 Aber nicht nur mit Reden und Essays hat Borchardt die Idee der ›Konservativen Revolution‹ verfochten; sie zeigt sich auch in seinem Roman Vereinigung durch den Feind hindurch, der im Manuskript großenteils seit 1932 vorlag,22 aber erst im Frühjahr 1937 im Wiener Exil-Verlag von Bermann-Fischer erschien. Sein Bezug zur Idee der ›Konservativen Revolution‹ sei mit einer knappen Rekapitulation des Geschehens verdeutlicht:23 Das Geschehen spielt im Jahr 1923; es herrscht Inflation, und der HitlerPutsch wird erwähnt (82). Im Zentrum steht ein Liebespaar: der »ehemalige Rittmeister von x-ten Jägern«, Georg von Harbricht, einkommenslos gewordener Sproß des jüngeren preußischen Beamtenadels, und »Komteß« oder Gräfin Aloysia (genannt Ysi) »von Meyenwörth zu Wörth und Oberwörth, oberrheinische Reichsritterschaft« (7), ein altes und verdienstreiches, aber verarmtes Geschlecht. Die beiden würden gerne heiraten, doch stehen dem die widrigen politischen und ökonomischen Verhältnisse im Weg: Militär- und Staatsdienst bieten kein Unter- und Auskommen mehr; die Güter sind verloren oder überschuldet. Harbricht muss eine Stelle als Vertreter einer Straßenbaufirma annehmen (20), Ysi als Sekretärin (21), doch reicht auch dies nicht zum Heiraten, da alle Stellungen unsicher sind und Harbricht alsbald auch gekündigt wird (83). Deutschland gleicht, wie eine ausländische Freundin sagt, einem »Tollhaus« (27); man befindet sich nach der Kriegsniederlage in einem »Schmutz­ haufen«, wie Harbricht sagt, und zugleich in einem Unwetter, das durchgestanden werden müsse (34 und 35), oder auch, wie er bald darauf einmal sagt, in dem »kapitalistischen Kriegszustand unserer Zeit«, der ein »Krieg zwischen armen und reichen Proletariern« sei (49). Als Exponent dieses Zustands erscheint ein Spekulant namens C. W. Nienhus, ein self-made-man, der aus einfachsten Verhältnissen kommt, es aber dank seiner Fähigkeit, gewaltige Datenmengen im Gedächtnis zu behalten und operativ zu nutzen, schon vor dem Krieg zu einem großen Vermögen gebracht hatte und dieses während des Kriegs ausbauen konnte (44 f. sowie 198 f.). Auch jetzt gehört er zu den großen Bewegern der Inflationsgeschäfte. Im übrigen ist er ein Mann ohne Charme, aber eindrucksvoll durch seine Sachlichkeit und Bestimmtheit, ein »steinerner Volksmann« von »düstere[r] Magie« (199). Die ökonomische Entwicklung führt dazu, dass »Komteß« Ysi gezwungen ist, die Sekretärin oder Managerin von Nienhus zu werden und Gefahr läuft, in ein nicht unproblematisches Arbeits- und Vertrauensverhältnis zu geraten. Nienhus und zugleich die durch ihn verkörperte Herrschaft der Ökonomie (46) werden gleichsam zum »Feind«, durch den hindurch 21 Vgl. Sprengel, Peter: Rudolf Borchardt: der Herr der Worte. Eine Biographie, München 2015, S. 369 f. 22 Ebd., S. 384. 23 Die Seitenangaben in den folgenden Ausführungen beziehen sich auf Borchardt, Rudolf: Gesammelte Erzählungen. Band 2: Vereinigung durch den Feind hindurch, Stuttgart 1977.

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sich die beiden Liebenden vereinigen müssen; die Titelformel beschreibt eine »kriegswissenschaftliche Aufgabe«, durch deren Lösung Harbricht zum Großen Generalstab kommandiert worden war (11). Jetzt stellt er sich dieser Aufgabe mit dezidiert deutschem Mut: Nur leicht, nur frei […] – und dem alten Stern vertraut, ohne den wir das alte Volk nicht wären. Es sind die ältesten Weisheiten Deutschlands, schau dir ihre Bibel an, die Volkslieder: Duck dich, laß vorübergahn, das Wetter will seinen Willen han. Und mein Leitbild: Ich hab mein Sach auf nichts gestellt, juchhe! Es muß wieder zu Ehren kommen, nachdem die Probe auf das Gegenteil so herrlich ausgefallen ist: Ich hab mein Sach auf die mathematische Sicherheit gestellt, oh weh! Wir haben hundert Jahre lang vergessen, was alle früheren Zeiten gewußt haben, dass die Welt paradox ist. (37)

Wie Harbricht ist auch die »Komteß« Ysi an alten Lebens- und Wertvorstellungen orientiert. Als Nienhus ihr erklärt, dass Grundbesitz und Landwirtschaft einer ökonomischen Krise entgegengingen und grundlegend transformiert werden müssten, entgegnet sie: »Ich sehe voraus, dass das, wenn es so ist, zu schweren Kämpfen führen wird, Herr Nienhus. Wir sind ein altes Geschichtsvolk mit seiner eigenen Art, konservativ zu sein und an seinen Überlieferungen zu hängen.« (121) Die Vereinigung durch die Übermacht der Wirtschaft hindurch gelingt, und ihr Repräsentant Nienhus zieht am Ende geschlagen, aber nicht würdelos ab. Die Vertreter der »alten«, »konservativen« Gesinnung sind vor dem Kapitalismus in seiner modernsten Form nicht zurückgewichen, sondern haben ihm Paroli geboten und ihn vom Feld gewiesen. Die Zukunft soll nicht ihm allein gehören, sondern auch den Vertretern der alten, aristokratisch-konservativen Lebensform. Vereinigung durch den Feind hindurch ist ein Stück konservativer Gegenrevolution, die ihr revolutionäres Moment allein schon im unzeitgemäßen Beharren auf Werten und Normen hat, die Gefahr laufen, von der fortschrittlich sich gebenden Moderne aufgelöst und ausgelöscht zu werden. Und auch allein darin, denn die Aufrufe ehemaliger Kameraden, sich an den antirepublikanischen Aktivitäten diverser Kampfbünde zu beteiligen, lehnt Harbricht entschieden ab (69 ff.). Dem geistigen Konservatismus entspricht die sprachliche Gestaltung des Romans. Hermann Hesse hat darüber kurz nach dem Erscheinen des Romans in der Baseler National-Zeitung geschrieben: Wer Borchardt noch nicht kennt, wird vielleicht die Sprache dieser meisterhaften Erzählung schwierig finden, etwas spröde und zugleich pretiös, und mancher lange, beinah lateinisch gebaute Satz wird ihm anfangs etwas Mühe machen. Der Reiz und die Kraft dieser Erzählung beruht aber gerade und genau auf dieser Sprödigkeit, die manchmal etwas Gläsernes hat; sie ist der Panzer um die lebendige Zartheit der Geschichte.24 24 Hesse, Hermann: Sämtliche Werke. Band 20: Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1935–62, hg. von Volker Michels, Frankfurt am Main 2005, S. 236.

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Man kann dies auch als einen betont konservativen und aristokratisch sich gebenden Stil bezeichnen, der trotz der wirren Verhältnisse und trotz des turbulenten Geschehens am Prinzip der sprachlichen Wohlgeformtheit festhält und die Normen der Schicklichkeit in jeder Hinsicht wahrt. Dieser Stil ist zwar nicht ganz und gar einheitlich, sondern reproduziert, wie Wolfgang Kaempfer verdeutlicht hat,25 in geradezu collageartiger Weise die unterschiedlichen »Idiome« der Protagonisten, also die aristokratische, militärische und ökonomische Ausdrucksweise, bewegt sich aber doch auf einer Stilhöhe, die nicht demonstrativ verletzt wird, weder von den Protagonisten noch vom Erzähler. Weder gibt es anstößige Vokabeln, noch werden intime Dinge in entblößender Form geschildert. Vom modernen Prinzip der sprachlichen und sachlichen Entgrenzung26 hin zum Vulgären und Schamlosen ist in Vereinigung durch den Feind hindurch nicht die geringste Spur zu finden; es wird Seite um Seite negiert, obwohl es dem Verfasser, wie sein nachgelassener erotischer Roman Weltpuff Berlin27 und die grobianisch gegen die Nationalsozialisten wütenden Jamben28 zur Genüge beweisen, dass es für Borchardt eine Kleinigkeit gewesen wäre, alle Register der Moderne zu ziehen. Insofern ist Vereinigung durch den Feind hindurch eine bewusste Verweigerung von Modernität oder eine zwar nicht ausdrücklich so benannte, aber Seite um Seite vorgeführte Gegenrevolution gegen die unschicklich gewordene literarische Moderne als Ausdruck der Depravation der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dass dieser Roman »ein neuerliches Bekenntnis zum deutschen Faschismus und zum Faschismus überhaupt« sei, wie der Kritiker Fritz Brügel im Dezember 1937 in der Moskauer Zeitschrift »Das Wort« unter der Überschrift Aristokratischer Faschismus behauptete,29 ist eine auf Voreingenommenheit und einer sowohl missgünstigen als auch oberflächlichen Lektüre beruhende denunziatorische Fehldeutung.

25 Vgl. Kaempfer, Wolfgang: Hoffnungslose Vereinigung durch einen überlegenen Feind hindurch: über den Erzähler Rudolf Borchardt am Beispiel seines Romans »Vereinigung durch den Feind hindurch«, in: Glaser, Horst Albert (Hg.): Rudolf Borchardt 1877–1945, Frankfurt am Main 1987, S. 87–95. 26 Vgl. dazu Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne: Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jahrhundert, München 2004, S. 108 ff. 27 Borchardt, Rudolf: Weltpuff Berlin. Roman. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Gerhard Schuster, Reinbek: Edition Tenschert bei Rowohlt, 2018. 28 In: Borchardt, Rudolf: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Gedichte II  /  Ü bertragungen II , hg. von Marie Luise Borchardt und Ulrich Ott unter Beratung von Ernst Zinn, Stuttgart 1985, S. 15–68. 29 Vgl. dazu Borchardt, Rudolf: Zum Attentätertum in der Literaturkritik, in: Borchardt, Rudolf: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa VI : Autobiographische Schriften, hg. von Marie Luise Borchardt u. a., Stuttgart 1990, S. 346–370 (Borchardts Entgegnung), sowie 592–599 (Brügels Kritik).

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3 Im »Handbuch« der ›Konservativen Revolution‹ wird Reinhold Schneider nicht zu Unrecht als ein Autor genannt, der dieser Denkrichtung zumindest nahestand.30 Über persönliche Beziehungen zu anderen Exponenten dieser Richtung ist wenig bekannt. Zwar hielt sich Schneider, sofern er nicht auf Reisen war, von 1928 bis 1938 vorzugsweise in Berlin und Potsdam auf, doch lebte er zurückgezogen und scheint nur wenige Kontakte gepflegt zu haben. Wenigstens spielen Namen von konservativen Autoren und Politikern in seinem Tagebuch aus den Jahren 1930 bis 1935 keine nennenswerte Rolle. Namen wie Borchardt und Jung, Brüning und von Papen tauchen dort nicht auf. Allerdings ist auch der Name von Jochen Klepper nicht zu finden, obwohl Schneider mit diesem doch fast freundschaftlich verkehrte. Immerhin weiß man, dass Schneider Kontakt mit dem Freiherrn Karl Ludwig von und zu Guttenberg hatte, der 1931 in Würzburg eine Arbeitsstelle für konservatives Schrifttum gründete und die Zeitschrift »Monarchie« herausgab, ein privat vertriebenes Blatt, das im Frühjahr 1934 als Organ einer monarchistischen Opposition gegen den Nationalsozialismus eingeschätzt und verboten wurde. Indessen bedarf es auch nicht vieler biografischer Dokumente, um Schneiders starke Verankerung im konservativen Denken zu erkennen; sein Tagebuch und sein 1933 erschienenes Geschichtsbuch Die Hohenzollern bezeugen seinen Konservatismus zur Genüge. Schneiders Tagebuch 1930–1935 kann als Dokument eines Konservatismus bezeichnet werden,31 der ein europäisches Fundament sucht und ein deutsches Ziel hat. Dieser Konservatismus ist weder nur national noch ausgesprochen revolutionär, doch hat er eine nationale Zielrichtung und eine (gegen)revolutionäre Komponente. Dies soll im Folgenden durch Hinweise auf die wichtigsten einschlägigen Stellen verdeutlicht werden, doch ist mehr als eine grobe Skizze nicht möglich; das Tagebuch 1930–1935 zählt fast neunhundert dicht geschriebene Druckseiten, die sich immer wieder mit denselben Themen befassen und sie von verschiedenen Seiten beleuchten. Schneider hat in den fünf Jahren von 1930 bis 1935 die meisten Länder Westund Südeuropas bereist, der Reihe nach Spanien, Portugal, Frankreich, Italien, Österreich, England und Holland, unterbrochen durch mehrere Aufenthalte und Reisen in Deutschland. Zu den wichtigsten Orten, die er besuchte und mit längeren Eintragungen bedachte, gehören  – wiederum der Reihe nach  – Madrid, Aranjuez, Escorial, Salamanca, Lissabon, Paris, Heidelberg, Speyer,

30 Mohler: Die konservative Revolution, S. 201. 31 Auf die Nähe des Tagebuchs 1930–1935 zum Denken der ›Konservativen Revolution‹ wurde schon mehrfach hingewiesen, so von Nowak, Roman: Reinhold Schneider und die Konservative Revolution, in: Orłowski, Hubert u. a. (Hg.): Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus, Poznań, 1992, S. 101–106.

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Worms, München, Jena, Weimar, Bamberg, Bozen, Florenz, Rom, Salerno, Innsbruck, Göttingen, Leipzig, Naumburg, Berlin, Rheinsberg, Potsdam, Quedlinburg, Oldenburg, St. Albans, York, Salisbury, London, Canterbury, Rotterdam, Amsterdam und Doorn, wo Schneider am 5. April 1935 zum Abendessen mit dem abgedankten Kaiser geladen war. Schneider reiste als historischer und geschichtsphilosophischer Schriftsteller mit der Absicht, die eigentlichen Wirkungskräfte der Geschichte zu erspüren, um »Geschichte von innen« schreiben und das zeigen zu können, »was die Geschichte macht«.32 Das bedeutete freilich auch Auseinandersetzung mit diesen Kräften und Aneignung dessen, was ihm aktuell schätzenswert und tradierungswürdig zu sein schien; seiner »konservativen Anlage« entspreche es, die Dinge, die er sich erschlossen habe, auf Dauer in Besitz zu nehmen.33 Oder anders gesagt: Er machte sich zum Erschließer, Speicher und Vermittler jener historischen Kräfte Europas, für die er wegen ihrer historischen Bedeutung Hochachtung empfand und die er als wichtig für die Gestaltung der Zukunft erachtete. Mit den verschiedenen Orten treten viele sehr unterschiedliche historische Gestalten in den Blick, von Philipp II . und Camões über Napoleon und Goethe bis zu Wilhelm II . und Ernst Jünger; das Register gibt weitere Auskunft. Die vier wichtigsten seiner ›Helden‹ heißen Philipp II . von Spanien und Friedrich II . von Preußen, Teresa von Avila und Friedrich Nietzsche, woran sofort abzulesen ist, dass in Schneiders europäischen Traditionszusammenhang sehr unterschiedliche Kräfte einfließen: Exponenten des unbedingten oder ekstatischen Glaubens (Philipp und Teresa) wie des Atheismus und der Glaubensauflösung (Friedrich und Nietzsche), Vertreter des katholischen Südens und des protestantischen Nordens, Heroen der Machtstaatsformung und Heroen des Glaubens beziehungsweise Geistes. Alle sind nicht nur heroische, sondern auch tragische Gestalten, weil sie mit ihren Bestrebungen letztlich scheiterten oder zugrunde gingen. Konkretisiert sei dies an Friedrich II ., weil dies für Schneider von aktueller Bedeutung war: Er hätte, schreibt Schneider, »das Preußentum, um es zu befestigen, mit dem deutschen Geist verbinden müssen. Aber darin versagte er völlig«34, obwohl es Ansätze dazu gab.35 Es blieb bei der »deutschen Trennung von Geist und Macht«, »von Berlin [oder Potsdam] nach Weimar führt kein Weg.«36 Darunter litt zunächst einmal das Wilhelminische Reich, das »aus einer sehr preußischen, das heißt sehr engen, ungeistigen Sphäre erwuchs« und sich nur auf die »verbrauchte, fast antiquarische Tradition« Preußens stützen konnte.37 Und daran leidet noch die Weimarer Republik, die ebenso einseitig »meinte, Potsdam links liegen lassen 32 Schneider, Reinhold: Tagebuch 1930–1935. Redaktion und Nachwort von Josef Rast, Frankfurt am Main 1983, S. 16. 33 Ebd., S. 785. 34 Ebd., S. 592. 35 Ebd., S. 597. 36 Ebd., S. 593. 37 Ebd., S. 196.

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zu können«.38 Demgegenüber meinte Schneider am 8. April 1932, Deutschland werde sich »auf Potsdam besinnen müssen«39. Mit der Herrschaft der Nationalsozialisten schien dieses Postulat Erfüllung zu finden. Am 6. März 1933, einen Tag nach der Reichstagswahl, aus der die Nationalsozialisten erwartungsgemäß als Sieger hervorgingen, und zwei Wochen vor dem »Tag von Potsdam«, schrieb Schneider: Potsdam wird wieder, wie es unfehlbar geschehen mußte, von der Geschichte ergriffen. Dass sich dies so früh schon ereignen werde, konnte man nicht hoffen. Die Züge [nach der Verkündung des Wahlsiegs der NSDAP] gingen am Stadtschloß und der Garnisonskirche vorüber und durch das holländische Viertel Friedrich Wilhelms. Was sich aus der Bewegung entwickeln wird, läßt sich noch nicht bestimmen; doch macht es den Anschein, dass sich das Volk wieder formiere: das ist ein großer und ein unüberwindlicher Vorgang.40

Frühere Stellen des Tagebuchs 1930–1935 zeigen, dass Schneider die nationalsozialistische Ideologie als »viehmäßig dumm und roh« betrachtete (148). Auch von Hitler hielt er nicht viel.41 Nach Hitlers »Machtergreifung« wurde er aber von der nationalen Aufbruchstimmung erfasst und begann, Hitler und den nationalsozialistischen Staatsumbau positiv zu beurteilen. Dies hielt an, bis er im Winter 1933/34 von den Greueln der Konzentrationslager erfuhr42 und bis mit der Mordaktion zur Ausschaltung der SA-Führung um Ernst Röhm und einer Reihe von Hitler-Gegnern am 30. Juni/1. Juli 1934 deutlich wurde, dass der NS -Staat, der das Recht verachtete, kein Staat aus dem Geist des Konservatismus war, sondern ein Verbrecherstaat. Die Tagebucheintragungen vom 24. und 25. August, die wohl auch als Reflexionen auf die Mordaktion vom 30. Juni/1. Juli zu betrachten sind, markieren eine Grenze, die ein Konservativer vom Schlage Schneiders nicht überschreiten konnte. Sie beginnen mit dem isoliert stehenden Satz: »Das Recht muss über dem Staat stehen, nicht der Staat über dem Recht.« (787) Mit dem Nationalsozialismus wird dann auch der Nationalismus verabschiedet. Am 25. Dezember 1934 notierte Schneider: »Die Deutschen können nicht deutsch sein, ohne Narren zu werden. Meine Hoffnung auf einen großgearteten und würdigen Nationalismus, der die höchsten Dinge an ihrer Stelle lässt, ist dahin […]« (830 f.). Der Jahre, die Schneider in seinem Tagebuch 1930–1935 reflektiert, verdankt sich ein Buch, das man zu Recht der Literatur der ›Konservativen Revolution‹ 38 Ebd., S. 568. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 659. 41 Vgl. hierzu Steinle, Jürgen: Reinhold Schneider (1903–1958): konservatives Denken zwischen Kulturkrise, Gewaltherrschaft und Restauration, Aachen 1992, bes. S. 66–83: »Die totalitäre Herausforderung«, sowie Schuster, Ralf: Antwort in der Geschichte: zu den Übergängen zwischen den Werkphasen bei Reinhold Schneider, Tübingen 2001, bes. S. 75–104: »Schneiders Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus 1933/34«. 42 Vgl. Schneider, Reinhold: Verhüllter Tag, Frankfurt am Main 1991, S. 106 f.

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zugerechnet hat:43 das 1933 erschienene Preußenbuch Die Hohenzollern, das nicht einfach ein Geschichtsbuch sein wollte, sondern eine Geschichtsdichtung oder ein modernes, in Prosa geschriebenes Epos vom Aufstieg Preußens seit der Zeit der Ordensritter und von seiner Formung durch die Könige Friedrich Wilhelm I., den »Soldatenkönig«, und Friedrich II ., den »Großen«, die beide auch im Tagebuch 1930–1935 gewürdigt werden.44 In gedrängter Form und hohem Ton werden heroische Haltungen, dramatische Bewährungen und geschichtliche Leistungen in Erinnerung gerufen. Das muss hier nicht ausgebreitet werden; die geschichtlichen Fakten, an die sich Schneider hält, sind allgemein bekannt. Konservativ an dem Buch ist die Beschwörung der Monarchie oder des starken Monarchen als prägender Kraft und des Preußentums als bleibender geschichtlicher Potenz, auch wenn schon unter Friedrich  II . Despotismus, Mechanik und Erstarrung zu beobachten waren. Revolutionär daran ist die Beschwörung des königlichen Wirkens als eines »Retablissements«45 Preußens, das mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms 1713 schlagartig begann, zunächst den Hof, dann die Beamtenschaft und das Militär, dann den Adel und die Bürgerschaft betraf und durch Einrichtungen wie die Charité und Verordnungen aller Art das Leben im ganzen Land veränderte.46 Mit anderen Worten: Zwei Monarchen werden als Revolutionäre von oben gezeigt; die Monarchie erscheint nicht nur als konservative Staatsform, sondern als Regierungsform, die unter Umständen wie 1713 eine geradezu revolutionäre Kraft entfalten kann. In seinem Erinnerungsbuch Verhüllter Tag bekannte Schneider 1954, das Buch über die Hohenzollern »sollte ein Aufruf zur Monarchie sein in letzter, wahrscheinlich schon zu später Stunde«47. In der Tat dürfte sich, wer die Hohenzollern 1933 las und weder ein eingeschworener Republikaner noch ein Nationalsozialist war, gefragt haben, ob nicht die Rückkehr der Hohenzollern eine Rettung aus den politischen und sozialen Wirrnissen hätte bedeuten können; der ehemalige Danziger Senatspräsident Hermann Rauschning, der sich vom NSDAP-Mitglied zum NS -Kritiker wandelte, widmete dieser Option in seiner 1938 unter dem Titel Die Revolution des Nihilismus erschienenen Analyse der historisch-politischen Lage eine bemerkenswerte Passage, die allerdings auch von Skepsis zeugt.48 Auch Schneider dürfte skeptisch gewesen sein. Regenten, die zur Bewältigung einer Formung, wie sie 1933 nötig schien, fähig waren, sah er nur wenige: »Seit 43 So Wolfgang Frühwald in seinem Nachwort zur zweiten Fassung der Hohenzollern von 1953, in: Schneider, Reinhold: Die Hohenzollern. Tragik und Königtum, hg. von Wolfgang Frühwald, Frankfurt am Main 1980, S. 280. 44 Schneider: Tagebuch 1930–1935, S. 561 ff. – Vgl. auch Kreutz, Wilhelm: Reinhold Schneiders und Jochen Kleppers Rekurs auf Preußen, in: Faber, Richard u. a. (Hg.): Preußische Katholiken und katholische Preußen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2011, S. 191–207. 45 Schneider: Die Hohenzollern, S. 96 (in der Originalausgabe von 1933 S. 116). 46 Beispielhaft ebd., S. 95 bzw. 115. 47 Schneider: Verhüllter Tag, S. 108. 48 Vgl. Rauschning, Hermann: Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich, Zürich und New York 1938, S. 192 ff.

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Karl V.«, so das »Vorwort« von 1933, gab es in Deutschland nur zwei Könige unter unzähligen Kronenträgern: »Friedrich Wilhelm I. und seinen Sohn«49. Bald nach dem Erscheinen der Hohenzollern suchte und fand Schneiders Konservatismus ein anderes, aber auch nicht ganz neues Fundament: den christlichen Glauben und die katholische Kirche.50 Der Übergang wird durch den 1934 in den Weißen Blättern publizierten Essay Religion und Revolution51 markiert, in welchem – in Form einer Besprechung von Fedor Stepuns Buch Das Antlitz Rußlands und das Gesicht der Revolution (1934) – der christliche Glaube als einziges Remedium gegen die gottlosen revolutionären Bewegungen seit 1789 beschworen wird. Im Monarchismus sah Schneider keine zukunftsmächtige Kraft mehr. In seinem Erinnerungsbuch Verhüllter Tag schrieb er dann, er habe zwar »einen großen Teil« seiner »Lebensarbeit auf die Krone gerichtet in der Absicht, an ihrer inneren Wiederherstellung mitzuarbeiten, die geistige und religiösen Voraussetzungen zu schaffen, ohne die sie nie erhoben werden kann und darf«; aber über den »abgründigen Bruch geschichtlichen Lebens« im Jahr 1933 habe er nur seine monarchische »Gesinnung« getragen, nicht seine »Hoffnung und Absichten«52.

4 Jochen Klepper, als Sohn eines schlesisch-preußischen Pfarrers im selben Jahr 1903 wie der badische Hotelier-Sohn Reinhold Schneider geboren, verstand sich – laut Tagebucheintragung vom 8. Oktober 1932 – als »religiöser Sozialist«53 und wurde 1927 Mitglied der SPD. Diese musste er im Oktober 1932 verlassen, um seine Mitarbeit im Rundfunk unter einer national-konservativen Leitung zu sichern. Indessen gelang dies nur vorübergehend. Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, musste Klepper, da er auch mit einer jüdisch-stämmigen Frau verheiratet war, seine Stelle räumen und fortan als freier Schriftsteller leben, immer unter der Gefahr, aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und mit Schreibverbot belegt zu werden.54 Kleppers 49 Schneider: Die Hohenzollern, S.249. 50 Zu Schneiders weiterem Weg vgl. Zimmermann, Hans Dieter: Reinhold Schneider – ein Dichter der »Inneren Emigration«? in: Kroll, Frank-Lothar u. a. (Hg.): Schriftsteller und Widerstand: Facetten und Probleme der »Inneren Emigration«, Göttingen 2012, S. 353–367. 51 In: Weiße Blätter, Juni 1934, S. 35–39; vgl. dazu Schuster: Antwort in der Geschichte, S. 106–112. 52 Schneider: Verhüllter Tag, S. 109 f. 53 Vgl. Klepper, Jochen: Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932 bis 1942, hg. von Hildegard Klepper, Stuttgart 1972, S. 26. 54 In Kleppers Tagebüchern ist dies alles gut dokumentiert. Weiteres bei Baum, Markus: Jochen Klepper, Schwarzenfeld 2011, sowie Barbian, Jan-Pieter: Literatur als Verwaltungsakt: das Schicksal Jochen Kleppers im Dritten Reich, in: Ders.: Die vollendete Ohnmacht?

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Rundfunkarbeit führte 1932 zu einer Begegnung mit Reinhold Schneider, und dessen Hohenzollern-Buch dürfte stark dazu beigetragen haben, dass Klepper im September 1933 begann, die Königsschlösser um Berlin zu besuchen und am 13. September, einige Tage nach der Besichtigung des Potsdamer Stadtschlosses und der merkwürdigen Malereien Friedrich Wilhelms I., in seinem Tagebuch notierte: »Nun ist das neue Buch da. […] Der Vater. Die Geschichte Friedrich Wilhelms I.«55 Wenige Monate später, im April 1934, schrieb er dann an Schneider: »Ich wünschte mir nur, Ihrem Buch einen nur annähernd ebenbürtigen Roman an die Seite stellen zu können! In den ganzen letzten Jahren hat kein anderes Buch einen auch nur annähernd starken Eindruck auf mich gemacht.«56 In der Tat, es hat aus dem »religiösen Sozialisten« und SPD -Mitglied im Handumdrehen einen Preußen-Bewunderer und Monarchisten gemacht und blieb der Maßstab57 für Kleppers Arbeit an seinem eigenen Preußen-Buch, dem im September 1933 begonnenen und im November 1936 abgeschlossenen Roman Der Vater, der 1937 mit dem Titelzusatz Roman des Soldatenkönigs erschien.58 Während der Arbeit an diesem Roman wurde Klepper von zwei Sorgen befallen. Am 28. April 1934 vertraute er seinem Tagebuch an, die »Übereinstimmung [s]einer Pläne mit Schneiders Leistung« sei so stark, dass »einmal einer kommen und von Plagiat reden« könnte.59 Indessen fallen auch die Unterschiede ins Auge und wurden von der Forschung verdeutlicht.60 Klepper wollte nicht wie Schneider die Tragik des preußischen Königtums zeigen, die nach Friedrich II . zutage trat, sondern den meist etwas abschätzig behandelten »Soldatenkönig« als Pater – oder eigentlich: Creator – patriae vergegenwärtigen. Den 80 Druckseiten, die Friedrich Wilhelm I. in Schneiders Hohenzollern hat, setzte Klepper einen Roman entgegen, der auf über 900 Seiten die Lebensführung des Königs und die Neugestaltung Preußens in faktentreuer und detaillierter Weise schilSchriftsteller, Verleger und Buchhändler im NS -Staat. Ausgewählte Aufsätze, Essen 2008, S. 205–225. 55 Klepper: Unter dem Schatten, S. 90. 56 Zit. nach Baden, Hans Jürgen: Extreme Existenzen  – Jochen Klepper und Reinhold Schneider, in: Tiede, Carsten Peter (Hg.): Über Reinhold Schneider, Frankfurt am Main 1980, S. 183–207, hier S. 183. 57 Klepper: Unter dem Schatten, S. 131. 58 Hier liegt folgende Ausgabe zugrunde: Klepper, Jochen: Der Vater, München 1991. Auf zwei genetisch und analytisch-interpretatorische besonders ergiebige Studien zum Vater sei vorweg hingewiesen: Wirth, Günter: Geschichte in metaphorischer Gestalt: Jochen Kleppers Roman Der Vater, in: Wirth, Günter: Landschaften des Bürgerlichen: ausgewählte Abhandlungen, hg. von Frank-Lothar Kroll, Berlin 2008, S. 161–200; Kraus, Hans-Christof: Innere Emigration und preußische Idee: das Beispiel Jochen Klepper, in: Patrick Bahners u. a. (Hg.): Preußische Stile: ein Staat als Kunststück, Stuttgart 2001, S. 447–466. 59 Klepper: Im Schatten, S. 134. 60 Vgl. dazu Thalmann, Rita: Jochen Klepper: ein Leben zwischen Idyllen und Katastrophen, München 1977, S. 119 ff.; Kreutz, Reinhold Schneiders und Jochen Kleppers Rekurs auf Preußen, bes. S. 201 ff.; Ders.: Innere Emigration und preußische Idee.

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dert: Kleidung, Essen, Körperpflege, Einrichtung der Räume, Umgang mit Frau und Kindern, Hofreform, Verwaltungsreform, Finanzreform, Justizreform, Aufbau von Manufakturen, Musterbauten für Gewerbehäuser, Einführung der Schulpflicht, Gründung von Charité, Waisenhaus und Kadettenanstalt, Ausbau von Potsdam als Residenz und Garnisonsstadt, Aufbau des neuen Heeres nach »preußischer« Manier. Manches  – etwa die schlagartige Auflösung des alten Hofstaates61 – wirkt geradezu revolutionär, anderes – wie zum Beispiel die Einrichtung des Generaldirektoriums mit einem genauen Arbeitsplan62 – hat dezidiert moderne Züge. Um eine möglichst große historische Stimmigkeit und Überzeugungskraft zu gewinnen, hat Klepper immer wieder intensive Bibliotheks- und Archivstudien absolviert.63 Aber letztlich ging es ihm weniger um die historische Stimmigkeit als vielmehr um das Idealbild eines Königs, der in seinem Amt aufgeht und ihm alles opfert. Die verklärende oder idealisierende Absicht wird deutlich, auch wenn Friedrich Wilhelm, wie Hans-Christof Kraus betont, nicht als »bloße Lichtgestalt« oder als »ein Mann ohne Fehl und Tadel« dargestellt, sondern mit allen seinen Fehlern, seiner Schroffheit und Maßlosigkeit, seinem herrischen Temperament und seiner Härte, gezeigt wird. Auch wird nicht unterschlagen, dass er aus Preußen nicht ein neues Athen, sondern eher ein neues Sparta gemacht hat.64 Die zweite Sorge, von der Klepper während der Arbeit befallen wurde, erwuchs aus der damals augenfälligen Zeitgemäßheit seines Stoffes. Bereits am 3. Oktober 1933 schrieb Klepper in sein Tagebuch: Wie nüchtern ließe sich mein neuer Roman ansehen: geschickte Flucht vor heikler Aktualität, raffinierte Parallelen zu den heutigen Programmen der Staatsführung gesucht, militärischer König jetzt sehr dankbare Figur […] Man könnte sagen: wie geschickt der Dreh, einen Berliner-Märkischen Heimatroman bei so günstiger Konjunktur dafür zu machen.65

Diese Sorge war nicht unbegründet. Preußen hatte in der Tat »Konjunktur«. Die Zahl der Preußen-Titel in der Schönen Literatur stieg nach 1933 deutlich an.66 61 Vgl. Klepper: Der Vater, S. 75 ff. 62 Vgl. ebd., S. 364 ff. 63 Vgl. dazu Klepper, Jochen: Die Entstehung und die Grundlagen meiner drei Bücher über Friedrich Wilhelm I., in: Ders.: Überwindung. Tagebücher und Aufzeichnungen aus dem Kriege, hg. von Hildegard Klepper, Stuttgart 1958, S. 231–235. 64 Zu den kritischen Komponenten vgl. bes. Wirth: Geschichte in metaphorischer Gestalt, S. 179 ff., und Kraus: Innere Emigration und preußische Idee, S. 451. – Eine Kontrolle des von Klepper entwickelten Bildes des »Soldatenkönigs« an den neuesten Forschungsergebnissen kann hier nicht realisiert werden. Verwiesen sei aber auf Göse, Frank u. a. (Hg.): Mehr als nur »Soldatenkönig«: neue Schlaglichter auf Lebenswelt und Regierungswerk Friedrich Wilhelms I., Berlin 2020. 65 Klepper: Unter dem Schatten, S. 93. 66 Vgl. Luther, Arthur: Deutsche Geschichte in deutscher Erzählung: ein literarisches Lexikon, Leipzig 1943: Von 1919 bis 1932 erschienen 98 erzählerische Preußen-Titel, von 1933 bis 1943 waren es 175 Titel.

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Neben Klepper schrieb der damals renommierte Hans Heyck an einem Roman über Friedrich Wilhelm I., der 1940 erschien. Von dem nationalsozialistisch eingestellten Schriftsteller Hans Rehberg kam 1934 ein Friedrich-Wilhelm-Drama auf die Bühne und erntete bei der Berliner Uraufführung großen Beifall. Eine Biografie von Karl Karl Heidkamp erschien 1935 unter dem Titel Friedrich Wilhelm  I. / Ein deutsches Vorbild. Als Kleppers Plan bekannt wurde, kam es rasch zu Gesprächen mit der Ufa über ein entsprechendes Filmprojekt, da die Ufa gerade auf der Suche nach einem »großen nationalen Stoff« (Klepper) »mit Parallelen zu heute« (Ufa) suchte, so Klepper am 10. Januar 1934.67 Den Nationalsozialisten wäre ein Film über den »Soldatenkönig« prinzipiell willkommen gewesen; der Bezug auf Preußen spielte in ihrer ideologischen und propagandistischen Selbstdarstellung eine wichtige Rolle,68 und Friedrich Wilhelm I. wäre eine Bezugsgröße nicht nur für die ideologische Begleitung der Wiederaufrüstung gewesen, sondern auch für die Propagierung des »nationalen Sozialismus«.69 Aber das Projekt kam nicht zustande, zum einen, weil Klepper sah, dass der Film nur ein »lächerliches, dummes Machwerk« werden würde,70 zum anderen und vor allem aber, weil ihm deutlich wurde, dass der Film nicht auf eine »Kritik« der Gegenwart hinauslaufen würde, sondern auf die reine »Apotheose«.71 Ihm aber war an Kritik gelegen. Gleich nach dem Eingang der Ufa-Anfrage witterte er, dass eine Affirmation gegenwärtiger Tendenzen erwünscht sei, und schrieb in sein Tagebuch: »Lieber Himmel, des ›Vaters‹ Regierung ist Kritik, nicht Verherrlichung des Heutigen.«72 Ganz konnte Klepper seinen Roman der Verwendung im Sinne des NS -Regimes nicht entziehen. Am 11. September 1937 notierte er, das Reichskriegsministerium habe den Vater nun »für Heer, Marine und Luftwaffe« empfohlen,73 und am 20. Januar 1940 notierte er: »Für die Wehrkreisbücherei des Generalkommandos Posen sind 100 ›Vater‹ unterwegs.«74 Man darf annehmen, dass es zu Empfehlungen und Anschaffungen des Vater-Romans für die Wehrmacht nicht gekommen wäre, wenn die zuständigen Sachbearbeiter den Roman als Kritik an der NS -Führung und an der NS -Politik verstanden hätten. Zwar konnten sie weder die starke religiöse Grundierung des Romans noch die Frömmig67 Ebd., S. 111. 68 Vgl. dazu Kroll, Frank-Lothar: Preußenbild und Preußenforschung im Dritten Reich, in: Ders.: Totalitäre Profile: zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandspotenzial seiner Gegner, Berlin-Brandenburg 2017, S. 207–228. 69 Will Vespers Zeitschrift »Die Neue Literatur«, die ganz auf NS -Kurs lag, brachte im ­August 1938 einen zweiseitigen Bericht über einen Leseabend der Leipziger Paul-ErnstGesellschaft, der Friedrich Wilhelm I. zum Thema hatte und dafür auch Texte von Klepper verwendete. Vgl. Die Neue Literatur 39 (1938), S. 425–427. 70 Klepper: Unter dem Schatten, S. 166. 71 Ebd., S. 165. 72 Ebd., S. 111. 73 Ebd., S. 309. 74 Ebd., S. 493.

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keit und Friedensliebe des Königs übersehen; aber darin musste nicht unbedingt ein Angriff auf den Nationalsozialismus gesehen werden. Eine Kritik am Vater aus nationalsozialistischer Sicht gab es, soweit bisher zu sehen war, nicht; im Gegenteil, die Gutachten der NS -Literaturfunktionäre fielen positiv aus, ebenso die Rezension im Völkischen Beobachter.75 An der Darstellung des preußischen Regiments, der Ordnung und Disziplin, der schnarrenden königlichen »Ordre parieren – nicht räsonnieren«76 und der ungeduldigen Marginalie »Cito! Cito!« auf den Edikten,77 des Strebens nach militärischer Stärke und wirtschaftlicher Autarkie konnten auch Nationalsozialisten Freude haben, nicht zuletzt auch an seinem Bestehen auf dem Gehorsamsgebot von Römer 13.78 Zu den namentlich bekannten Käufern und Lesern des Vater-Romans zählen der Innenminister Frick und hohe NS -Chargen,79 worüber Klepper sich durchaus freute, weil er auf eine politisch positive Wirkung seines Romans hoffte. An Kleppers Absicht, mit dem Vater-Roman »Kritik des Heutigen« zu üben, ist nicht zu zweifeln. Die Realisierung dieser Absicht war unter den damals herrschenden Publikationsbedingungen allerdings nicht leicht; es drohten Publikationsverbot und andere Sanktionen. Klepper ging den Weg der indirekten Kritik durch die Idealisierung Friedrich Wilhelms I. als eines Königs, dessen Habitus und Prinzipien in wichtigen Punkten dem zuwiderliefen, was an der aktuellen politischen Führung zu beobachten war. Stichwortartig genannt seien – mit Verweis auf die längeren Ausführungen von Hans-Christof Kraus – sein Bestehen auf den elementaren Gesetzen der Moral und des Rechts, auf der Überordnung des Rechts über die Macht, auf der Freiheit und Unabhängigkeit des Gerichts, seine Toleranz, seine Friedensliebe, seine Abneigung gegen den Despotismus nach Art Peters des Großen, seine echte Frömmigkeit und das Bewusstsein seiner Verantwortung gegenüber den Untertanen und gegenüber Gott. Der »Gegensatz einer solchen ethischen Grundhaltung zur politischen Praxis und zum Selbstverständnis Hitlers und des Nationalsozialismus« ist »schreiend« deutlich, so Hans-Christof Kraus,80 doch könnte es, wie Kraus einräumt, sein, dass er aus der heutigen Perspektive stärker ins Auge fällt als für die Leserschaft der Jahre unmittelbar nach dem Erscheinen des Romans, die ja zugleich die Jahre von Hitlers größten Triumphen waren. So wichtig die idealisierende Darstellung des preußischen »Retablissements« (Schneider) und die damit einhergehende »Kritik des Heutigen« für Klepper gewesen sein mag, wollte er mit seinem Roman letztlich noch etwas anderes erreichen. Der letzte Satz der oben zitierten Tagebucheintragung über die Zeitgemäßheit seines Romanprojekts lautet: »Aber was ist in meinem Herzen das Su75 76 77 78 79 80

Vgl. Kraus: Innere Emigration und preußische Idee, S. 461. Klepper, Der Vater, S. 79. Ebd., S. 171. Ebd., S. 292 f. Vgl. Wirth: Geschichte in metaphorischer Gestalt, S. 169. Kraus: Innere Emigration und preußische Idee, S. 460.

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chen nach einer neuen Heimat!«81 Da Klepper seine religiöse Heimat in seinem unanfechtbar festen evangelischen Glauben nie verlor, kann damit nur eine neue politische Heimat gemeint sein. Diese fand der ehemalige »religiöse Sozialist« und Sozialdemokrat im Preußentum, wie er es sich ausmalte, und in der Idee der Monarchie, die er und Schneider rekonstruiert haben und in Geltung halten wollten. Am 6. August 1937 hielt er in seinem Tagebuch fest: Ich machte gestern die Erfahrung, dass die von mir so bewunderten, geachteten unbeirrbaren Monarchisten in ihrer Konsequenz und Sauberkeit die Idee der Monarchie nicht so rein erhalten, wie wir, die wir uns so weit, so tief verirrt hatten; wir erst haben, aus dem Schauder der Entfernung heraus, das volle Gefühl für die Unantastbarkeit der Idee gewonnen und die Gewißheit, dass die Aufgabe des monarchistischen Schriftstellers abseits von aller politischen Aktivität liegt und allein darin beruht, das Gleichnis der Monarchie in seiner ganzen Strenge und Reinheit der Zeit bewußt zu machen.82

Damit ist deutlich, dass es Klepper nicht um die Wiederherstellung der Monarchie und gar der Herrschaft der Hohenzollern ging, sondern um die Beschwörung der Monarchie als eines religiös fundierten Ideals und einer Art regulativer Idee der Herrschaft.83

5 Fasst man die voranstehenden Beobachtungen zusammen, so zeigt es sich, dass Autoren, die man – unabhängig von einer organisatorischen Einbindung – als Vertreter der Idee einer ›Konservativen Revolution‹ bezeichnen darf, in den Jahren nach 1930 und erst recht nach 1933 in Opposition zu der dominierenden Entwicklung standen. Rudolf Borchardt wandte sich mit seinem 1932 abgeschlossenen und 1937 publizierten Roman Vereinigung durch den Feind hindurch gegen die Depravation der Gesellschaftsmoral durch kapitalistische Prinzipien. Reinhold Schneider erinnerte angesichts der heillos wirkenden Lage Deutschlands mit seinem 1932 abgeschlossenen und 1933 publizierten Hohenzollern-Buch an die Möglichkeit eines rettenden »Retablissements«, ohne indessen zu übersehen und zu verbergen, dass Aufbau und Ausübung von Macht mit prekären Zügen und tragischen Verfehlungen verbunden sein konnte. Jochen Klepper setzte im Anschluss an Schneider der bösartigen Entwicklung unter der NS -Herrschaft mit seinem 1933 begonnenen und 1937 publizierten Roman Der Vater das Gegenbild eines um Sittlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden bemühten Regenten entgegen. Das Konservative an den drei behandelten Werken

81 Klepper: Im Schatten, S. 93. 82 Ebd., S. 292. 83 Vgl. dazu auch Kraus: Innere Emigration und preußische Idee, S. 463 ff.

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und ihren Helden ist leicht zu erkennen: Immer geht es um das Bewahren oder um das »Retablissement« älterer und gefährdeter Bestände, seien es aristokratisches Bewusstsein (wie bei Borchardt) oder monarchische Amtsauffassung und Herrschaftsform (wie bei Schneider und Klepper). Das Revolutionäre ist nicht so leicht zu entdecken, weil im Denken der ›Konservativen Revolution‹ der wichtigste Akteur nicht das revolutionäre Volk ist, sondern der eingreifende »große Mann«, und die revolutionäre Transformation nicht durch den Aufstand der Massen, die »Revolution von unten« bewirkt wird, sondern durch eine »Revolution von oben« in Form eingreifender Reformen. Der eigentliche Held der ›Konservativen Revolution‹ ist der große König oder der große Staatsmann, der am Herkommen festhält, wo es sich bewährt hat, aber nötige Reformen nicht scheut, sondern mit weitsichtigem Mut in die Wege leitet. Er steht über Gebräuchen und Gesetzen, nicht aber über Recht und Moral. Friedrich Wilhelm I. wird für seine manchmal despotische Hartherzigkeit kritisiert, Friedrich II . dafür, dass er von der Friedenspolitik seines Vaters abgewichen ist und das Heer, das zur Verteidigung Preußens und des Reiches gedacht war, für einen Expansionskrieg verwendet oder eigentlich missbraucht hat. Bei allen drei Autoren führten die konservativ-revolutionären Denkansätze ausweislich der Tagebücher und Briefe zur scharfen Kritik an der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung, bei keinem aber zu einer mehr als nur momentanen Begeisterung für die »nationalsozialistische Revolution«. Und Thomas Mann, mit dessen Beschwörung der Idee (!) der ›Konservativen Revolution‹ diese Ausführungen eingeleitet wurden? Als er 1937 das zitierte Geleitwort für die Zeitschrift Maß und Wert schrieb, arbeitete er am vierten Teil der Joseph-Tetralogie, dem Roman Joseph, der Ernährer, der  – kurz gesagt  – Joseph, den Vertrauten des Pharao, als den großen »Staatsmann und Sozialreformer« zeigt, der Ägypten mit Methoden, die an den New Deal des Präsidenten Roosevelt und an die antizyklische Konjunkturlehre des Ökonomen Keynes erinnern, glücklich durch die Jahre der angedrohte Hungersnot führt.84 Die Thomas Mann-Forschung hat, soweit ich sehe, die Joseph-Tetralogie nicht ausdrücklich mit der Idee der ›Konservativen Revolution‹ in Verbindung gebracht, vielleicht, weil sie Thomas Manns Distanzierung von der »verhunzten« »konservativen Revolution« der Jungkonservativen, Nationalrevolutionäre und Präfaschisten der Jahre um 1930 verabsolutiert hat. Aber wäre das falsch, von Affinitäten zur Idee der ›Konservativen Revolution‹ im Sinne des Geleitworts für Maß und Wert zu sprechen? Was gibt es Konservativeres, als die ältesten und für die ganze weitere Kulturentwicklung fundamentalen mediterranen Mythen aufzugreifen und für das Verständnis der Gegenwart nutzbar zu machen? Und was gibt es geistig Revolutionäreres, als den Mythos, der das geistige

84 Vgl. dazu den Kommentar zu den Joseph-Romanen von Jan Assmann, Dieter Borchmeyer und Stephan Stachorski in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, Band 7.2 (Frankfurt am Main 2018), S. 89 ff. (Joseph, der Amerikaner).

Figuren der ›Konservativen Revolution‹ in der Literatur nach 1933 

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Fundament der europäischen Kultur bildet, »umzufunktionieren«85, das heißt: ihn im aufgeklärten und humanen Sinn zu (er)läutern und ihm dadurch neue Bedeutung zu verschaffen. Im Übrigen darf man annehmen, dass er für einen konservativen Revolutionär wie Friedrich Wilhelm I. große Sympathie gehabt hätte, wenn er sich mit ihm befasst hätte. Der Held seines großen Werks, Joseph, der Ernährer, ist, wie Dieter Borchmeyer feststellt, »alles andere als ein Demokrat. Vielmehr offenbart er sich – wie der [Pharao] Echnaton, auch cum grano salis der historische – als Verfechter eines aufgeklärten Absolutismus.« Und: »Dass Thomas Mann selbst zeitweilig mit einem solchen aufgeklärten Despotismus sympathisierte, zeigt sein Tagebucheintrag vom 13. August 1936: ›Dass eine aufgeklärte Diktatur das Wünschenswerte sei, schrieb ich schon anfangs der 20er Jahre.‹«86 Anfang der zwanziger Jahre: Das war die Zeit, in der Thomas Mann die Idee der ›Konservativen Revolution‹ entdeckte und die er nun, als es mit ihrer »Verhunzung« durch die Nationalsozialisten zu Ende war, in den Kapiteln XXVIII und XXXIV des Doktor Faustus reflektierte und dabei, wie schon Stefan Breuer festgestellt hat, die ›Konservative Revolution‹ in »doppelter Gestalt« zeigt: zum einen als eine Einstellung, die auf die Probleme der Zeit konstruktiv reagiert, und zum andern als eine Einstellung, die destruktiv reagiert, das Fallende – nach einer bekannten Maxime – noch stoßen will und den Weg des Bösen sucht.87

85 So Thomas Mann am 18. Februar 1941 an Karl Kérenyi mit einem Begriff, den Mann einem Brief von Ernst Bloch vom 23. Juni 1940 übernahm. 86 Mann, Thomas: Tagebücher 1935–1936, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1978, S. 351. 87 Vgl. Breuer: Wie teuflisch ist die »konservative Revolution«? S. 62 f.

Alexander Michailowski, Moscow

The role of the George circle in shaping the Conservative Revolution Introduction In August of 1900 the remains of the Kaisers of the Holy Roman Empire of the German Nation at the Speyer cathedral were disinterred. The undertaking was initiated by the Austrian Emperor and Luitpold, Prince Regent of Bavaria, and carried out by the Bavarian Ministry of Culture. The event had great public resonance. The procedure of examining the remains of the Salian emperors was conducted by a scholarly commission and had been approved at the highest level. However, one person, the German poet Stefan George (1868–1933), was deeply enraged by this act. He poured out his righteous wrath in verses that expressed a claim to spiritual leadership. The Graves in Speier (Die Gräber in Speier) was the title of one of the Contemporary Poems (Zeitgedichte) that opened the first cycle of The Seventh Ring (Der Siebente Ring, 1907). One after the other George presented the figures of the crown bearers  – Conrad, Heinrich III , Rudolf and Friedrich II (“der Grösste Friedrich”) – to the reader as if appealing to his contemporaries and accusing the blaspheming scholars: “[…] for you this is a hundred times more disgraceful than Canossa.” By this imperious poetic gesture George demonstrated that the ancient crowns had been put on the heads of present-day monarchs by mistake because he believed they had arrogantly refused to guard the mystic tradition of the Holy Empire (Reich) and were unable to resist the secularization of the modern world. If these monarchs had made common cause with the representatives of scientific Positivism and declared war not only on the dead, but on everything that was associated with the concept of the Reich, then somebody would have to hoist aloft the desecrated insignia and restore the former grandeur and eschatological meaning to the words “Reich” and “Kaiser”, which are sacred to every German. Only a poet could assume this noble mission. Thus was born the idea of  a “secret Germany” that united friends and imitators around the towering figure of the master.1 The “union” (Bund), “state” (Staat), “domination” (Herrschaft) and of

1 Steffen Dietzsch remarks that “the literary-spiritual project of the Secret Germany […] is prototypical for conservative thinking” (Dietzsch, Steffen: Geistesgeschichtliche Wurzeln der Konservativen Revolution, in: Sezession, 9. Jahrgang, Oktober 2011, Heft 44, p. 18).

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course “Reich” – the latter the key concept of German political thought – were conceptualized and poeticized inside the circle of George’s closest friends.2 This happened between 1909 and 1912 when George effected his “spiritual-political” synthesis by joining Hellas with the Kyffhäuser Mountain, Plato with the myth of the German Kaisers.3 The George Circle (George-Kreis) was one of the most remarkable phenomena of German intellectual history in the early 20th century, a highly influential group of followers and disciples formed around George. Several events that occurred in 1910 were seminal for German intellectual history:4 the publication of Hölderlin’s translations of Pindar in the Georgean journal “Blätter für die Kunst” (Pages for Art) by the young Germanic scholar Norbert von Hellingrath, who was killed in action during the Battle of Verdun; the printing of the first volume of the “Jahrbuch für die geistige Bewegung” (Yearbook for the Spiritual Movement); the proclamation of the slogan of “domination and service” by the historian, poet and translator Friedrich Wolters; and the formulation by the editor of “Blätter für die Kunst”, the author and translator Karl Wolfskehl  – whose house, in the Bohemian Munich quarter of Schwabing, was the meeting place for the George Circle members  – of “Das geheime Deutschland” (The Secret Germany)5  – the internal concept of the Circle that referred to the “visible bearers of the Invisible City”, i. e. to the sacred community both of the members themselves and the poets and heroes of the “Eternal Germany”. The George Circle began to evolve from an intimate group of poetic friends into a real intellectual force with a powerful, charismatic ideology. My hypothesis is that the George Circle introduced  a new model of the “poeticizing of the political” based on a range of ideas (or mindset even) which I dare to call “political theology” (the examination of this concept reactualized by Carl Schmitt; see below). From that point of view the concepts of “Reich”,

2 George’s reception – both esoteric and exoteric – was strongly influenced by certain terms and their associations. It is most clearly seen in the term “Reich”. It hardly occurs in the early work, but after Maximin (1907) and under the structuring of the circle by Wolters and Gundolf becomes more important. Because of the association of the term with National Socialism and the ambiguity of poetic speech and the demand for the realization of the idea behind it, “George’s concept of the Reich became the bone of contention among George disciples in the coming decades” (Daub, Adrian: Reich, in: Krise und Gemeinschaft: Stefan Georges “Der Stern des Bundes”, hg. von Christophe Fricker, Frankfurt am Main 2017, p. 318). 3 Cf. Raulff, Ulrich: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, p. 114. 4 For details, see: Egyptien, Jürgen: Der George-Kreis vor dem Ersten Weltkrieg: Das Jahrbuch für die geistige Bewegung und sein Kontext, in: Krise und Gemeinschaft, pp. 39–52. 5 On the history and meaning of the concept, see: Kantorowicz, Ernst: Das Geheime Deutschland. Vorlesung, gehalten bei der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am 14. November 1933, in: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Princeton / Frankfurt, hg. von Robert L.  Benson, Johannes Fried, Stuttgart 1997, pp. 77–93; Tritsch, W.: Das geheime Deutschland: [Ein Bekenntnis zu Wolters], Deutsche Rundschau, 57, 1930, p. 68.

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“state”, “union”, “domination” etc. are not quasi-political notions, but elements of a political theology which raises the vital question of truth as authority, and exacts unqualified subjugation to that authority in order to counter the evil (i. e. the secularization) of the modern world. Firstly, I challenge the view that the intellectual activities of George and his followers belong to anti-modernism. The majority of ‘anti-modernist’ statements and ideas were in reality ambivalent and could be seen as projections of the future. The most suitable description of the Georgean political theology along with its successor, “the conservative revolution”, seen as an entire phenomenon, is “reactionary” or “conservative” modernism.6 In this regard, the “Secret Germany” was more like a counter-cultural nucleus or even avant-garde that was an essential part of the Janus-faced character of modernity.7 Secondly, it would also be enlightening to avoid the dichotomy that determined George’s postwar reception: was he ‘just’ a (Post) Symbolist poet, a pure poet who has pledged allegiance to “art for art’s sake”, or were there ‘also’ politics involved. As one of George’s most prominent biographers, Robert E. Norton, points out, it was this very distinction that the George circle sought to avoid. But he goes too far in his further assertion that this was among its most important commonalities with the ideology of National Socialism, and that George and his circle significantly contributed to the creation of the psychological climate and ideological framework of the Third Reich.8 As  a result, the researcher experiences difficulties explaining the resistance of the “Secret Germany” to the secularized world and to Hitler’s Germany in particular. There can be no doubt that “the very structure of the Circle, […] its ‘nationalpädagogische Mission’, and its program of cultural renewal had its political dimensions”9. And there can also be no doubt that these ideas or programmes were never stable and fixed in nearly thirty years of the Circle’s history or that George and his associates never formulated a coherent ideology. What the contributors to the volume Politics and Culture in the George Circle point out is that George’s aesthetic ideas were intimately connected with his political aims. But it is equally important, in this context, to clarify what was involved in the notion of politics regarding “the political”, and carefully consider the “poeticization of the political” which is

6 See the classical study: Herf, Jeffrey: Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984. 7 Helmuth Kiesel emphasizes like Stefan Breuer and Wolfgang Braungart that despite criticism of modernity “George’s work does not fall out of modernity, but is an integral part of it, because modernity (…) includes self-criticism” (George, Stefan: Geheimes Deutschland: Gedichte. Auswahl, Kommentar und Nachwort von Helmuth Kiesel, München 2018, p. 140). 8 Cf. Norton, Robert E.: Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca 2002, p. XVI . 9 Lane, Melissa S. and Ruehl, Martin A.: Introduction, in: A Poet’s Reich: Politics and Culture in the George Circle, ed. by Melissa S. Lane and Martin A. Ruehl, Camden House 2011, p. 8.

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not identical with the mere “confusion of aesthetic and political symbolism”10 or even with “aesthetic fundamentalism”11.

Political theology: authority and truth The significance of George goes beyond the sphere of pure literature. The deeper roots of the George Circle in cultural pessimism, which reflected the feeling of a deep crisis of culture, were well studied in Fritz Stern and George L. Mosse. These both perceptions were also instrumental in highlighting continuities between the Germany of the Kaiser and that of the Führer. George L. Mosse12 explored the link between the exhaustion of bourgeois culture and the nationalist renewal, and Fritz Stern studied the influence of Paul de Lagarde, Julius Langbehn and Arthur Moeller van den Bruck on the visions of Deutschtum (Germanness) and Herrschaft (domination) among German intellectuals before World War I.13 But George was not only “one of” the Kulturkritiker, he occupies a special place in the German intellectual landscape. The author can and must be seen as a political author who poeticized the political. This thesis implies a different interpretation of the political. Klaus Landfried, on the one hand, was right in calling George “a non-political”14 author. Indeed, he has nothing in common with “real politics”. But on the other hand the avowed liberal democratic scholar overlooked another dimension, i. e. the authoritative / authoritarian claim to education and guidance. Thus the question of authority and domination that was crucial for the right-wing radical German thought in the early decades of the 20th century can only be considered if politics as parliamentary struggle and legal decision-making procedures is distinguished from the political as an existential sphere. George sought to turn the poetic-political project of his entire life into a concept that competed with both left-wing and right-wing ideologies which held great attraction for the circle of his pupils and followers. In the expression “political author” the political dimension is derived from the specific interpretation of the concepts of аuthor, authorship and authority. That is, George is not merely an author who produces texts, but an author claiming authority. The concepts of the political and of authority are fused in a single whole in the sphere of political theology. 10 Norton, R. E.: From Secret Germany to Nazi Germany: The Politics of Art before and after 1933, in: A Poet’s Reich: Politics and Culture in the George Circle, p. 278. 11 Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995. 12 Mosse, George L.: The Crisis of German Ideology: Intellectual Origins of the Third Reich, New York 1964. 13 Stern, Fritz: The Politics of Cultural Despair: A Study in the Rise of Germanic Ideology, New York 1965. 14 Landfried, Klaus: Stefan George – Politik des Unpolitischen, Heidelberg 1975.

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Political theology belonged to a specifically German tradition of “sacralized politics” that dated back to the early 19th century and was revived in the 1920s, most notably by Protestant theologian Emmanuel Hirsch and Catholic legal scholar Carl Schmitt.15 The term acquired its modern meaning from the works of Carl Schmitt: Roman Catholicism and Political Form (1923) and Political Theology (1922). For Schmitt, modern political concepts are structurally similar to those of theological systems. In describing political theology, Schmitt writes: “All significant concepts of the modern theory of state are secularized theological concepts not only because of their historical development – in which they were transformed from theology to the theory of state, whereby, for example, the omnipotent God became the omnipotent lawgiver – but also because of their systematic structure, the recognition of which is necessary for  a sociological consideration of the concepts. The exception in jurisprudence is analogous to the miracle in theology.”16 The main principle of political theology, formulated by Thomas Hobbes (the key figure for Schmitt) is: Auctoritas non veritas facit legem (authority, not truth, creates law). Authority is an instance that guarantees the truth of  a representation, confirms it and attests to it. For example, the representation of an idea confirmed by authority lays claim to public (that is, political) recognition and political reality. In general, authority guarantees the authenticity of thought. In that sense truth needs authority. The author is himself an example of what he writes about. An example cannot be presented in an exclusively intellectual way because bald thought does not command trust in principle. Therefore the author witnesses his text by his way of life. Hence, authority is manifested as a measure of responsibility for what that authority represents.17 Friedrich Gundolf in his book Stefan George in our Times makes this observation about George’s authority: “An important part of his image is that he awakens faith”18. Hence the esoteric character of the circle. George is undoubtedly one of the founders of the “esoteric initiative” which implies “esoteric politics”19. The politico-theological concept of authority implies a different interpretation of truth, or rather,  a sharp contradistinction of the universal truth (truth as correctness) and truth as a personal message. Universal truth is inherently such that its significance does not depend on any definite place, topos. Truth is at the disposal of anyone who controls a certain socialized discourse, in any place and at any time. 15 Stroup, See J.: Political Theology and Secularization Theory in Germany, 1918–1939: Emanuel Hirsch as a Phenomenon of his Time, Harvard Theological Review, LXXX , 1987, pp. 321–368; and Bendersky, J. W.: Carl Schmitt: Theorist for the Reich, Princeton 1983. 16 Schmitt, Carl: Political Theology: Four Chapters on the Concept of Sovereignty, trans. George D. Schwab, Cambridge, Mass. 1985, p. 36. 17 Cf. Trawny, Peter: Die Autorität des Zeugen. Ernst Jüngers politisches Werk, Berlin 2010, p. 20. 18 Gundolf, Friedrich: Stefan George in unserer Zeit, 3. Aufl., Heidelberg 1918, pp. 12–13. 19 Trawny, Peter (Ed.): Heideggers esoterische Philosophie, Berlin 2010, pp. 35–41.

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According to Ernst Osterkamp, poetry is  a “medium of the esoteric secret doctrine”20. An attentive listening of George’s messages in verse and a close look at the imagery of the high-sounding manifestos of his adepts reveal the resolute tone with which George and his adherents exclude the indifference to universal truths. Their addressee must take the message seriously as a way of thought and life. The listeners are seen not merely as recipients of some personally indifferent truths, but as those who hear the call and are ready to forgo the neutrality of science, technology and political neutrality. The esoteric initiative always presupposes a close circle of dedicated listeners concentrically located around a single centre, which is the main focus of attention. Authority in the sense of political theology is intimately connected with the national-pedagogical idea in the George circle, as well as the mythologization of history and “a vision of the future”21. George’s national-pedagogical program as set forth in his books of verses The Star of the Covenant (Der Stern des Bundes, 1914) and The New Reich (Das neue Reich, 1928), the classical imagery in Max Kommerell’s study The Poet as Leader in German Classicism (Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, 1928), the figure of a highly significant European monarch of the Middle Ages, Friedrich II , head of the House of Hohenstaufen, idealized by Ernst Kantorowicz (1927), the books by Gundolf Caesar (1924) and Shakespeare (1928) all fit neatly into the political theology model and cannot be reduced to banal manifestations of German nationalism in the intellectual sphere. The strong influence of George and his pupils on the spiritual and historical atmosphere of Germany during wartime and the interwar period can be attributed to the consummate command of the main instrument of influence, that is language, the spread of a peculiar vocabulary, certain images and figures associated with social and political values. The latter are encountered not only in the verses of George himself, but in the works of his disciples who taught at universities and therefore could draw on academic resources. Below I will formulate three principles, the sine qua non of George’s political theology, elaborated by the circle of his friends and followers. 1) The idea of the order of the select (in the form of a “union”, Platonic “state”, “Reich” or “Secret Germany”; 2) the figure of the poet as leader and educator; 3) the claim to total domination as expressed in the proud, imperious gesture and the dream of a Reich, as well as the readiness to serve and obey the superior power.

20 See Krise und Gemeinschaft, p. 11. 21 On George in connection with “visions of the future” at the turn of the century see the collection of essays: Visionen der Zukunft um 1900. Deutschland, Österreich, Russland, hg. von S. Taškenov und D. Kemper in Zusammenarbeit mit V. Kantor, Paderborn 2014, pp. 93–105.

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The principle of covenant The early decades of the 20th century, especially the years of the Weimar Republic, were decades of alliances and circles: one thinks of the Serakreis, the circle of the right-wing intellectual and publisher Eugen Diederichs, “The Gentlemen’s Club” (Herrenklub) of Heinrich von Gleichen, and the numerous unions of war veterans such as “Stahlhelm”, “Bund Oberland”, “Der Jungdeutsche Orden”). In the juxtaposition of “society” (Gesellschaft) vs. “community” (Gemeinschaft) the latter was given preference. (This distinction between “society” and “community” made by F. Tönnies in his book Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) obviously goes back to Paul de Lagarde’s dualism between the concepts Staat and Nation and resp. Leib and Seele.) Covenant or union (Bund), circle (Kreis), unitpack (Schar) were not political associations in the narrow sense and differed from parliamentary parties. They had  a clear-cut structure and a distinct world view. The German sociologist and philosopher Hermann Schmalenbach introduced the category of Bund (covenant, union) alongside the established social category of “community” (Gemeinschaft) as an organic entity opposed to  a mechanical pluralism of “society” (Gesellschaft).22 It was adopted from George’s Star of the Covenant and interpreted as a new kind of modern religious community based on  a member’s emotional attachment to the group.23 Covenant, circle, unit-pack are not so much instruments in the struggle for power as a certain existential benchmark, that is, they are based on the fundamental opposition of friend and foe (Carl Schmitt). If we proceed from broad concept of the political, assuming that it is any form of community that sets life goals and has a political character, then covenant is the direct opposite of the public politics of the state. The more attractive the bündish community, the more it will seek to assume the role of the state, which under normal conditions claims the authority to politically educate its citizens. The idea of an order of the select is the politico-theological point of intersection between authority and its representations, a symbolic commonplace of many thinkers and writers of the period between the two world wars who dreamed of an elitist-cult community in the form of a covenant. This prompts the hypothesis that the George Circle may be a prototype of the basic existential form of the conservative revolution.

22 Schmalenbach, Hermann: Die soziologische Kategorie des Bundes, Die Dioskuren: Jahrbuch für Geisteswissenschaften I., 1922, pp. 35–105. 23 See the section about the synchronous and diachronic constitution of the “Circle” and ”Circles” around George in: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, hg. von Achim Aurnhammer in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann. Red. Birgit Wägenbaur, Bd. 1 (Berlin / New York 2012), pp. 365 ff. From the political-theological perspective, the question of Stefan George’s socio-psychological motivation for creating such an unusual association as a circle remains secondary. See solutions to this question in: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 2, pp.713 ff.

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The poem The Oath (Der Eid), which is included in The Seventh Ring24, can be seen as a paradigmatic poem which anticipates and establishes a spiritual union. Schreitet her und steht um mich im rund Die ich auserkor zum bund: Dich aus kerkern flüchtig · leichenfarb · Dich der an dem weg verdarb · Den ich vor dem sturz am haare griff · Der sich selbst die klinge schliff – Wilde kräfte vom geschick gehemmt · Edle saat durchs land verschwemmt. Wir gebunden durch den stärksten kitt Als der stahl die arme schnitt · Einer von des andren blut genoss · Gleiche flamme in uns schoss … Unser glück begann mit deiner spur. ›Mächtig ich durch euren schwur.‹ Wir die durch dein atmen glühn und blühn. ›Ich von eurem marke kühn.‹ Du nur kennst das ziel das vor uns blizt · Trägst es in metall gerizt. Deinen bräuchen fügen wir uns streng · Wir gehärtet im gemeng. Lenker auf den wegen UNSRER not · Nenn dein dunkelstes gebot! Pfluge über unsre leiber her: Niemals mahnt und fragt dich wer! ›Durch verhüllte himmel seh ich schon Die vollendung und den lohn. Unsre feinde sind zum kampf gereiht. Meine söhne rufen streit. Boden hilft den händen die ihm traut · Himmel schadet wo ihm graut. Keine schar zu dicht · kein wall zu steil! Meine söhne rufen heil.‹

The poem is structured not so much as a dialogue between the teacher and pupil, as the swearing in of those whom the master and ruler sees as “the new elite” or “the noble seed of the earth”. At the same time it highlights the friend-foe opposition while the master is cast in the role of saviour. As claimed by the conservative cultural critic Gerhard Nebel, George was obviously charmed by the idea of the order of knighthood. 24 George, Stefan: Der siebente Ring (1907), zweite Ausgabe, Berlin 1909, pp. 60–61.

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He tried to build a kind of order […] as a bulwark against civilization. The order is not a polis where one is born in but a community which one comes into by his own will and by rejecting his individuality. In Ancient Greece there were examples of this, like the Pythagorean Сovenant and the Platonic Academy. In the Middle Ages there were different orders of knighthood, first of all the Templars, especially respected by George. These covenants have the characteristics of a cult because the acceptance of new members is strictly controlled and the adepts should have high ethos in the face of God or gods.25

Around 1909/10 George rallied a group of young poets and intellectuals.26 Issue 9 of the journal Blätter für die Kunst published by George carried the poet’s appeal for a new “spiritual Reich” (“dies ist reich des Geistes: abglanz / Meines reiches…”). Naturally, Plato was chosen as the most suitable philosophical ally. The identification of the philosopher-king from Plato’s Republic with the image of the poet ruler represents a projection of George’s political theology on the plane of ancient philosophy. Also, the “spiritual Reich” could only be sustained by erotic force and sexual attraction to beautiful young men. “The amalgam between Plato and George”,27 between the Academy and the Circle was first articulated in the translation of Plato’s The Symposium (1912), by Kurt Hilde­ brandt and with a 40-page commentary. Stressing the erotic behest of Socrates (a youth must not be an object of love, but must be attracted to him who is above him) Hildebrandt asserts that in this dialogue Plato moves on to new tasks, political tasks, proclaiming himself to be “king of the spiritual empire”. Totally oblivious of the ironic ending of this dialogue, Hildebrandt reads into Plato his teacher George and maintains that The Symposium can only be understood through the idea of “a living spiritual empire” that is diametrically opposite to real politics. In the autumn of 1914 the publishing house of the George Circle, Georg Bondi, brought out the first in the series of “spiritual books” (“Geistbücher”), which, as George admitted, were his politics.28 It was a monograph about Plato’s Gestalt by the young philosopher Heinrich Friedemann, who was killed during the First World War. It takes George’s Platonic hermeneutics to arguably its highest level: Maiatsky aptly calls this first Gestalt book “The Old Testament of Georgean Platonolatria”29. Plato’s state, which Friedemann pointedly refers to 25 See Nebel, Gerhard: Stefan George und die entgötterte Welt, in: idem: Schmerz des Vermissens. Essays, ausgewählt v. G. Zschorsch, mit einem Nachwort von S. Kleinschmidt, Stuttgart 2000, pp. 238–239. 26 Norton, Robert E.: Secret Germany, pp. 428–442, argues that a more ambitious and focused political project for the Circle crystallized between 1909 and 1911. Thomas Karlauf agrees that 1910 was a pivotal year (see Karlauf, Thomas: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, p. 580). 27 Maiatsky, Mikhail A.: Spor o Platone. Krug Stefana George i nemetskiy universitet, Moscow 2012, p. 76. See also Melissa Lane’s contribution on the Platonic underpinnings of George’s politics: Lane, Melissa S.: The Platonic Politics in the George Circle, in: A Poet’s Reich: Politics and Culture in the George Circle, pp. 133–163. 28 Raulff: Der Kreis ohne Meister, p. 133. 29 Maiatsky: Spor o Platone, p. 89.

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as a kingdom (“Königtum”), as if harking back to the medieval myth about the Reich, is structured as a hierarchy, is based on the link between “domination and service” and is directed towards a single centre: “Thus, the close circle of the guardians of the state is determined by the domination of One. The One and Only is mythically elevated above human limits, his head touching the crown of the First and Only”30. It may be that the source of these Platonic or rather Neoplatonic allusions of Friedemann’s was an earlier text by Friedrich Wolters titled Domination and Service. Friedemann obviously confers poetic features on the philosopher’s great image, stylizing Plato as a king and “leader of his Reich”. Edith Landmann, a follower of George, noted in her review of the book that such an interpretation of Plato would have been impossible before George because his hand can be discerned behind this book.

The poet as leader and educator Plato’s project for the state is based on the fundamental idea of paideia, or the education of a wise king. Political theology is also unthinkable without education, although civic education (or the dialectical training of philosopher kings) is replaced by the elitist educational strategy which is firmly rooted in the idea of the poet conceived as the mentor and leader of the people. In this context, I should also point to the Burckhardtian concept of the state as a work of art which was reactualized in the George Circle, above all by Kantorowicz and Kommerell.31 George’s attitude is perfectly in line with late Romanticism: the poet must act both as a ruler and as an educator, the means of education being language and the goal being the people (Volk). Inspired by George, Kantorowicz had acclaimed Friedrich II as a new type of ruler, who would end “this time without emperors” and restore the lost glory of the Reich.32 As Martin A. Ruehl explains, “the fusion of political and theological categories in Kantorowicz’s portrait of Friedrich as Messiaskaiser, similarly, seems to be indebted to the ‘sacralisation of politics’”33. “Here George presided”, writes Ruehl, as prophet and god of his own faith, over a group of devoted disciples who referred to themselves as his “Staat”. This secularized ecclesia proudly regarded itself as a micro­ cosm of future Germany, heralded by the Master as the “New Reich”. There can be 30 Friedemann, Heinrich: Platon. Seine Gestalt, Berlin: Blätter für die Kunst, 1914, p. 54. 31 See: Raulff, Ulrich: Der Dichter als Führer: Stefan George, in: Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien, hg. v. U. Raulff, München 2006, pp. 127–143. 32 See Karlauf, Thomas: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, p. 550, and Ruehl, Martin A.: ‘In This Time without Emperors’: The Politics of Ernst Kantorowicz’s Kaiser Friedrich der Zweite Reconsidered, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 63 (2000), p. 190. 33 Martin A. Ruehl: ‘In This Time without Emperors’, p. 223.

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little doubt that the lived experience of this “Staat”, with its hierarchical-hieratic structures and pseudo-religious language, inspired Kantorowicz’s representation of Friedrich II’s “sacrum imperium”.34

Kantorowicz describes Friedrich’s extraordinary political craftsmanship (“pure dictatorship”) which, in the first half of the 13th century, created a real “Kunstwerk” (“work of art”), the highly efficient, bureaucratized system of control that was the Sicilian state. According to Kantorowicz, the binomial of Dichter-Führer or caesar-logophetes, was implemented in the Imperial Chancellery, a century before Petrarca35. It is the “reality of the fictive” which poet and legislator have in common. Kantorowicz underlines the legislative power of the Kaiser and draws a politico-theological parallel with the Divine Creator which allows him to call the lawyers and politicians legislators on Earth, i. e. deus in terris. A legislative act is conceived here in conformity with the model of creatio ex nihilo.36 It is clear that Kantorowicz’s Kaiser Friedrich der Zweite as  a Georgean Geistbuch and a later politico-theological manifesto had its pedagogic function with regard to the Meister and his “Volk”. Friedrich Gundolf notes: “[…] what matters for George and his followers is not the aesthetic play, not narcissistic and esoteric enjoyment of language; with them we are talking about a serious mission: the moulding of a man and a people”37. Several lines further down he says: We want to see model people whose very existence is sufficient to strengthen our responsibility, awaken our conscience and temper our character – people whom it is impossible not to love because they carry the measure of good and evil, beauty and ugliness, dignity, duty and shame investing our whole being with new content. That power springs not from simple talent, but solely from character. For the poet it is language and Gestalt it embodies.38

In his book of verses called The Star of the Covenant (Stern des Bundes) George addresses “the spirit of the sacred youth of our people”39 seeing his task in “heralding a new word” and evoking “a new people”40. The key role in this belongs to Hölderlin. There emerged a cult in the George Circle of that enigmatic, and one of the most profound, German poets. In the three “Hyperion” verses from George’s last book of verses The New Reich (1928) the poet himself speaks to proclaim the “advent of  a new god”. 34 Ibid., p. 224 35 Cf. Kantorowicz, Ernst: Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927, p. 303. 36 For details see Balke, Friedrich: Der verfemte Teil. Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der Zweite, in: Hebekus, Uwe u. a. (Hg.): Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, München 2003, p. 63. 37 Gundolf: Stefan George in unserer Zeit, pp. 12–13. 38 Ibid., p. 13. 39 George, Stefan: Der Stern des Bundes (1917), Gesamt-Ausgabe der Werke, Bd. 8, Berlin 1934, p. 15. 40 Ibid., p. 91.

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Hölderlin is not a model poet or bard of “the beautiful life”, but a prophet, poeta vates, and at the same time a critic of contemporary Germany and the forerunner of the future “sons of the Sun” in whose “timid” eyes lives the “dream” so much prized by George.41 George’s political theology is linked with the theory of a mediation. A poet is someone who adequately mediates god, discovers and presents god, and who rescues people from need and demands from them a sacred intoxication only under which god can be recognized. Why Hölderlin? For a whole century it was Goethe who was the cult figure in German literature. Young Germans, according to George, should draw inspiration from Hölderlin’s prophecy of  a new god, thus equipping themselves for the struggle against the destructive forces of the modern world, more precisely, industrial society. That purpose cannot be achieved through Goethe’s optimistic humanism of the classical period, nor the skeptical wisdom of the old Goethe. Anticipating the advent of the “time of heroes” the literary scholar, poet and translator Max Kommerell boldly attributed to Hölderlin the traits of a leader reminiscent of Empedocles,  a sage,  a loner and an inspired charismatic leader.42 Imputed to that poet were the prophetic powers of mediating between gods and humans, knowledge of the supreme mission of a people which made him an aristocrat of the spirit. “The poet”, writes Kommerell, “who relates to the people in the highest sense, occupies a special rank among great poets. He does not merely contain in himself the brilliant history of that people in the future, but shapes that history because history is but a projection of the Image of such a people on the temporal plane. But above all he embodies the nobility of that people. For a whole number of influential and glorious peoples of the past could never attain the level of the Image in their life. All our poetic past has only one poet, Hölderlin, whose work infuses us with confidence that fate has marked us out like it marked out the Greeks”43. In short, Hölderlin is the poet who managed to express “German destiny” most succinctly.44 The discovery of Hölderlin’s poetic legacy is known to have had a great impact on the George Circle members and on the representatives of the “conservative revolution”: M.  Heidegger, F. G.  Jünger and G.  Nebel. One can cite later testimony of Schmitt who wrote in his diary, Glossarium (17 May 1948): “The decisive step at the turn of the century was the transition from the genius of the Goethe type to the genius of the Hölderlin type. Since 1910 we have perceived the slogan ‘youth without Goethe’ (Max Kommerell) in concreto as ‘Youth with Hölderlin.’ It was a transition from an optimistic, ironic, neutral type of genius to a pessimistic, active, tragic type …”45. 41 George, Stefan: Das Neue Reich, Gesamt-Ausgabe der Werke, Bd. 9, Berlin 1928, pp. ­16–19. 42 Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock – Herder – Goethe – Schiller – Jean Paul – Hölderlin, Berlin 1928, p. 458. 43 Ibid., p. 470. 44 Ibid., p. 481. 45 Schmitt, Carl: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, hg. von Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, p. 152.

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With Schmitt, the reference to Hölderlin is not accidental, because, as has been said before, the distinction between friend and foe is the prerogative of political theology. In turn, as Meier demonstrated, that distinction is based on the total opposition of good and evil; God and Satan; obedience and disobedience; total dedication to higher values and the renunciation of any order or hierarchy46. In other words, the main enemy is secularization. The choice of Hölderlin and the “tragic” literary history meant a declaration of war on the secularized order of the modern bourgeois state. The poet sees before him only light and darkness, “the heroic humanity” embodied by the youth he has fostered and the “stinking mire” and “universal chaos” of contemporary society. Or, to quote the editor of the Jahrbuch für die geistige Bewegung: “We believe that at stake is not the question of which class or people prevails over another class or people, but we believe it is necessary to declare  a different struggle, the struggle of Ormuzd against Ariman, of God against Satan, of the world against the world”47.

Domination and service Submission to a higher and superior power and the theory of sacrifice are among the fundamentals of German conservatism. George embodied the charisma of a poet who commanded the technique of legitimizing his claims to domination. He consistently identified himself with his “message” (Sendung) and as an instrument in the service of “higher forces”. Max Weber’s concept of “charismatic authority” was modelled after the figure of George.48 Political theology is a good framework to explain the fact that George saw his cult (built around his figure by numerous “apostles”, most notably Wolters and Gundolf) as a “policy”. But it would be a mistake to consider that policy to be a subjective strategy for implementing a lofty poetic mission through cult and authority.49 The political is not simply an area of culture, and a field and an instrument (democratic or undemocratic) of organizing social relations, but a perpetual struggle and confrontation described in the categories of the effect of higher, divine forces and the poetic identification with them. On the one hand the poet himself submits to the supreme law of the mission, but on the other hand he derives from there – in the consciousness of the members of his circle – the legitimacy of his authority. In the framework of a political theology based on the friend-foe opposition and an existentially concrete choice between God and Satan, domination cannot be validated because it does not require 46 Meier, Heinrich: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung politischer Theologie und politischer Philosophie, 2. Aufl., Stuttgart / Weimar 2004, pp. 22–23. 47 Jahrbuch für die geistige Bewegung, III (1912), p. VIII . 48 See Groppe: Die Macht der Bildung, pp. 590–591. 49 This is the opinion, for example, of Landfried: Stefan George – Politik des Unpolitischen, p. 172.

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validation in principle. The poetic-existential dimension of the political turns any alliance with authority into an absolute value (and potentially a powerful political entity); as a result, the total in the form of an “empire” or a strong “total state” becomes the only point of support. The essay of the poet, literary scholar and translator Friedrich Gundolf50 is based on the idea of the Gestalt of the leader who assumed the historical task of “re-educating souls”. He is like  a sovereign because he is above any normative principles as he carries the law within himself and represents the new order. He acts in the light of divine truth because he heralds the advent of a “coming god”. He addresses his messages to “lay brothers” “replete with faith and love” that are parallels of the exploits of Christ’s apostles. These adherents are mobilized to fight bourgeois vulgarity and “diversity” (Plato’s poikilia), the quest for pleasure and originality which embodies the evil of the modern world. The disciples, who are always the few, learn to sacrifice themselves to necessity, to what destiny ordains. But their self-denial and service are fueled by love for “the only one” who satisfies their thirst for the eternal. In the spirit of the dialectic of The Symposium they docilely set aside their “self” to become “personalities” reflecting the “exalted image of humanity”. Domination “born of and borne by” the king forms the nucleus of the book by Wolters with the title emblematic of the circle, Domination and Service51. It is significant that the professional medievalist and ardent supporter of George linked the emergence of the circle with the appearance of God and the Saviour before the “spiritual king”52. Wolters gives an ontological interpretation of the image of the circle: he projects onto the relationship between the master and his disciples a neoPlatonic model of the emanating whole, building a system of concentric circles that spread and eventually return to their source. One can see in his work charismatically given personal relationships of trust between the master and his disciples, but it is also valuable because it is applied to a broader sphere, “the spiritual empire” or “Spiritual Reich”. Groppe and Maiatsky rightly note the rivalry between George’s two main “apostles” and the substantial differences in their interpretations of domination. For Wolters the key is power and voluntary and ecstatic submission to it; for Gundolf what matters most is love for the Master, not because of his power, but because he leads to new cognition. While for Gundolf the Master is a mediator between the disciple and the Idea, for Wolters the Master is the Idea. Wolters brings his formidable rhetorical power to assert action, deeds, the active character of both the ruler and the disciples […], whereas with Gundolf the Master remains the custodian of values and educator of his disciples. Finally, while for Gundolf education is crowned with the flowering of the personality, for Wolters the crowning of service is self-sacrifice. Undoubtedly, 50 Gundolf, Friedrich: Gefolgschaft und Jüngertum, Blätter für die Kunst, VIII (1909), pp. 106–112. 51 Wolters, Fredrich: Herrschaft und Dienst, Berlin 1909, pp. 7–13. 52 George: Der Stern des Bundes, p. 8.

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then, Wolters more definitely and unequivocally painted the image of the Master in the cult of the ‘leader’ that is indispensable for the “conservative revolution”.53

The poeticization of the political As Raulff pointed out, George reformatted the historical-political vocabulary by removing the concepts of “state”, “covenant”, “Reich” (first in Germany under Wilhelm II and later in the Weimar Republic) from the real-political context to lend them a real-spiritual connotation. He maximized his impact on modernity by first distancing himself from it as much as possible. This plan was to be promoted by the programmatic concept of Reich and the Platonic doctrine of two worlds taken on board by George’s adherents. Both point to the successful spiritualization of the political. Just as George derived concepts from the real-political discourse and retrospectively turned them into images, Gestalts and myths, he simultaneously stripped them of their links with the present and placed them in an indefinite future which could only be prophesied. The Empire or Reich which George speaks about is by no means the contemporary Wilhelmine Reich, but a future Reich (similar to Hölderlin’s “coming God”). This could be described as the “messianization of politics”. “This is the place”, writes Raulff, “where along with Platonization of politics the Reich myth comes into play. He skips over the abhorred reality in the temporal sense and causes a short circuit between the dimensions of the past and present: remembrance of the myth of the Reich becomes a code of promise. In the framework of this eschatology ‘the state’ is projected into an indefinite future”54 . The project of “spiritual books” (“Geistbücher”) also plays a part in this. The transfer of the Georgean message to the realm of rhetoric was greatly aided by the works of the Circle’s pontifices Gundolf and Wolters. They built bridges between George’s poetic politics and the perceptions of their contemporaries and secured the influence of George’s political theology on German intellectual history in the early decades of the 20th century.

Conclusions In this study I argue that the George Circle was an ideologically integrated intellectual group comprising university teachers and non-academic independent writers and, claiming, from about 1910, to reformat politics by means of poetry. At least two facts bespeak the profound and many-sided influence of the George Circle (above all the administrators and ideologists of the circle, 53 Maiatsky: Spor o Platone, p. 24; сf.: Groppe: Die Macht der Bildung, p. 244. 54 Raulff: Der Kreis ohne Meister, p. 186.

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Wolters, Wolfskehl, Gundolf and of course George himself) on the shaping of the intellectual life in the Weimar Republic: 1) such concepts as Reich, “covenant (union)” (Bund), “The Secret Germany”, “domination and service” (Herrschaft und Dienst), generated within the Circle became embedded in the lexicon of right-wing conservative thought of the conservative revolution. (The real authorship of the above concepts is not open to question. However, it is hardly possible to establish the facts of borrowing or referencing the corresponding works of the George circle by representatives of the conservative revolution partly because the works of conservative revolutionaries were represented in journalistic articles or essays and partly because the concepts could have been attributed to the whole group.) 2) There was a poeticization and messianization of the concept of the political, which was manifested, among other things, in the widespread aspirations in the wake of the First World War about the future Reich, the advent of a charismatic leader and about new methods of social organization of non-parliamentary anti-liberal opposition in Germany in the 1920s–30s. We have seen that political theology in the George Circle with its three essential traits (the idea of the order, the poet-leader, the claim to total domination) was concentrated around the authoritative / authoritarian figure of the author who entirely represents the idea and awakens faith in this idea among others. Stefan George (like the later conservative-revolutionary authors such as E. Jünger or M. Heidegger) can rightly be called a representative of the poetic life project in which the two traditional features of German spirituality, “Dichten und Denken”, are not “scientific” or “private” activities, but are understood as an existential project with a certain inherent truth. The poet as prophet (poeta vates) is guided by a supreme mission and testifies to it with his unique poetic idiom. The author, as if following the guidelines of political theology, inevitably poeticizes the political. It has to be stressed that this is not about the “confusion of aesthetic and political symbolism” or the transformation of political ideas and forms of consciousness into purely aesthetic qualities, but about a diametrically opposite process: the starting point for the poeticization of the political in the framework of political theology is the authority of the poet and the spiritual movement he initiates. This process had at least two consequences: 1) the notable theological shift in the semantics of political ideas, and 2) the overcoming of aesthetics as a mere “subjective play”. The political ideas worked out within the George Circle, for all their heterogeneity and inherent contradictions, exerted  a substantial spiritual-historical (intellectual) influence on the conservative revolution. New ideas regarding the tasks of the state, elitist or hierarchic models of society, the charismatic, integrated George Circle became a laboratory of intellectual history at the turn of the century.

Ewa Szymani, Wrocław

Der Begriff der Innigkeit in Heideggers Hölderlin-Lektüre Einführung »›Revolution‹ – ihr Wesen müssen wir endlich doch revolutionär verstehen und d. h. worthaft als die Rückwälzung des Wesens in das Anfängliche. Der eigentliche Revolutionär bringt weder Neues, noch bewahrt er Altes, er erweckt das Anfängliche« (HGA 97, 18 f.).1 So beschreibt Martin Heidegger in einem Fragment der Schwarzen Hefte sein Verständnis der Revolution. Auf den ersten Blick ist dies zunächst ein Hinweis auf den zyklushaften Aspekt in der Etymologie des Wortes Revolution, bedingt die Rückkehr zum Anfang doch einen neuen Zyklus. Gleichzeitig schwingt im Ausdruck »Rückwälzung« die Gewalt mit, durch die der alte Zyklus geschlossen werden soll. Einen so verstandenen revolutionären Schwung, der einen stark destruktiven Charakter aufweist, betont Heidegger in seiner Philosophie und Hermeneutik, indem er sich gegen die auf erstarrte historische Lesarten beruhenden Deutungen des Anfänglichen wendet.2 In diesem Sinne ist ›Konservatismus‹ in Bezug auf Heidegger ein problematischer Begriff, geht es ihm doch nicht um die Bewahrung der Tradition (wie man den Konservatismus trivial versteht), sondern um ihre Zerstörung mit dem Ziel, zum verdeckten Anfang zu gelangen. ›Konservativ‹ ist diese Aktivität als Alternative innerhalb der Moderne, die die Tradition ablehnt, um sich selbst als einen ganz neuen Anfang der Kultur zu setzen. Heidegger dagegen destruiert die Tradition, um das von ihr verschüttete Anfängliche zu bergen und daran sein Kulturverständnis anzuknüpfen. Seine Revolution bestünde somit darin, die Schichten der europäischen Geistesgeschichte zu durchdringen und zum ›Kern‹ zu gelangen. Von dieser Revolution verbleibt keine isolierte Bewegung im geistigen Raum, von ihr sollten zugleich Impulse für die Politik ausgehen. Was verspricht die »Rückwälzung in das Anfängliche« im politischen, also im gemeinschaftlichen Sinne? Als Rektor der Freiburger Universität verkündete Heidegger eine Reform des Universitätswesens im Sinne der nationalsozialistischen Revolution. Von der 1 Heidegger, Martin: Gesamtausgabe [=HGA], Frankfurt am Main 1975 ff., zit. Mehring, Reinhard: Martin Heidegger und die »konservative Revolution«, München 2018, S. 41. 2 Siehe dazu Grondin, Jean: Die Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion, in: Rentsch, Thomas (Hg.): Heidegger: Sein und Zeit, München 2001, S. 1–27, hier 26–31.

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Universität als institutioneller Form der Gemeinschaft behauptet er 1934, dass ihr »schon seit Jahrzehnten die eigene, ursprüngliche geistige Einheit fehlte« (HGA 16, 301), und fordert eine Universität »als erzieherische Lebensgemeinschaft aus geschlossener Weltanschauung« (HGA 16, 308).3 Die erforderte Reform als Rückgriff auf das Ursprüngliche verspricht seines Erachtens »geistige Einheit«, »geschlossene Weltanschauung«, »Lebensgemeinschaft« – all dies sollte sich auf dem Weg einer »Umwandlung« und eines »Rückgang[s] in die Geschichte« vollziehen; als Garant und Schwerpunkt dieser konzentrierenden Bewegung erscheint »der Führer«.4 Die Idee (um es nicht Obsession zu nennen) der Führerschaft charakterisiert in größter Kürze die konservative Bewegung. Die theoretisch postulierte »Rückwälzung in das Anfängliche« erweist sich praktisch als Rekonstruktion einer Kampfgemeinschaft um eine sakralisierte, zentrale Führerfigur, die auf eine mehr als symbolische Art und Weise für eine Weltvorstellung steht, welche teilweise negativ, als Ablehnung des vorgefundenen und zu überwindenden Zustands, formuliert wird. Die ›Konservative Revolution‹ hat hiermit die Züge einer religiösen Neugründung. Erweist sich das Anfängliche bei Heidegger etwa folglich als das Religiöse, das auf dem Weg des revolutionären Denkens und Tuns »erweckt« werden soll? Als Intellektueller versuchte Heidegger die politische Praxis mit philosophischer Theorie zu untermauern. Er bezieht sich in seinem Denken des Anfangs vor allem auf Friedrich Hölderlin und schreckt auch nicht davor, seinen Texten den »heroischen Existentialismus« und das »Pathos des Aushaltens«5 abzugewinnen. Im Laufe der Zeit und der Lektüre erweist sich jedoch, dass »der treue gewisse Geist«6 Hölderlins den Interpreten umstimmt. Heidegger vollzieht einen Übergang von der Tat zur Gelassenheit,7 den man am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Innigkeit verfolgen kann. Dieser Begriff verdient Aufmerksamkeit, weil Hölderlin den »innigen Zusammenhang« als Charakteristikum (neben dem »negativen gleichen Nebeneinandersein«) der religiösen Verhältnisse beschreibt: […] und wir haben wirklich aus den feinern unendlichern Beziehungen des Lebens zum Theil eine arrogante Moral zum Theil eine eitle Etiquette oder auch eine schaale Geschmacksregel gemacht, und glauben uns mit unsern eisernen Begriffen aufge3 Mehring: Heidegger, S. 45 f. 4 Zu Heideggers Engagement für die NS -Bewegung vgl. Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, 1920–1960, Wallstein Verlag, Göttingen 2007, v. a. S. 119–127. 5 Ebd., S. 111. 6 Hölderlin, Friedrich: Anmerkungen zum Ödipus, in: Ders.: Theoretische Schriften / Johann Christian Friedrich Hölderlin. Mit einer Einleitung hg. von Johann Kreuzer, Hamburg 1998, S. 97. Aus den theoretischen Schriften Hölderlins wird immer aus dieser Ausgabe zitiert. 7 Der aussagekräftige Titel des Buches von Morat beschreibt somit auch den mentalen Weg Heideggers.

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klärter, als die Alten, die jene zarten Verhältnisse als religiöse das heißt als solche Verhältnisse betrachteten, die man nicht so wohl an und für sich, als aus dem Geiste betrachten müsse, die in der Sphäre herrsche, in der jene Verhältnisse stattfinden. […] Unterschied religiöser Verhältnisse von intellectualen moralischen rechtlichen Verhältnissen einestheils, und von physischen mechanischen historischen Verhältnissen anderntheils, so daβ die religiösen Verhältnisse einestheils in ihren Theilen die Persönlichkeit, die Selbständigkeit, die gegenseitige Beschränkung, das negative gleiche Nebeneinanderseyn der intellectualen Verhältnisse, anderntheils den innigen Zusammenhang, das Gegebenseyn des einen zum andern, die Unzertrennlichkeit in ihren Theilen haben, welche die Theile eines physischen Verhältnisses karakterisirt, so daβ die religiösen Verhältnisse in ihrer Vorstellung weder intellectuell noch historisch, sondern intellectuell historisch, d. h. mythisch sind, sowohl was ihren Stoff, als was ihren Vortrag betrifft.8

Die von Hölderlin anfangs geäußerte Kritik an den »eisernen Begriffen« (der aufgeklärten Philosophie) und die von ihm als religiös bezeichnete alternative Betrachtung der »feinern unendlichern Beziehungen des Lebens« könnten als Motto Heideggers philosophischen Programms betrachtet werden, obwohl Heidegger seine Alternative nicht Religion, sondern Ontologie nennt; sein Denken gilt ja dem Sein, während Hölderlin über das Leben nachdenkt. Heidegger greift aber jenen Begriff auf, der in Hölderlins Sicht gleichermaßen die physischen, mechanischen und historischen Verhältnisse charakterisiert, also den der Innigkeit, die auch als Unzertrennlichkeit bezeichnet wird. Die Herausnahme der Geschichte aus dem Bereich des menschlichen Handelns und ihre Zuordnung zu den mechanischen Gesetzen der Physis, also der Natur, darf auch in Bezug auf Heideggers Auffassung der Geschichte als relevant betrachtet sein. Die bildliche Sprache, in der das Anfängliche, das weder alt noch neu ist und wie ein schlafendes mythisches Lebewesen erweckt werden soll, zum Ausdruck gebracht wird, kann als Hinweis darauf interpretiert werden. Das Anfängliche und die Innigkeit beziehen sich, wie es scheint, auf verwandte Vorstellungen eines inneren Zentrums. Heidegger übernimmt diesen Schwerpunkt Hölderlins Philosophie und Poetik, um dann um eine seinem Verständnis des Anfänglichen gerechte Interpretation dieses Begriffs zu ringen. Bevor er dies jedoch tut, bevor er zum Hölderlin-Leser und -Interpreten wird, zerdenkt er die europäische Metaphysik als Hauptproduzentin der Verschleierungen des Anfänglichen.

8 Hölderlin, Friedrich: Fragment philosophischer Briefe, in: Ders.: Theoretische Schriften, S. 13 f. (kursiv hervorgehoben von E. Sz.).

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Sein und Zeit Grob formuliert, wirft Heidegger der Metaphysik vor, dass sie eine substanziale Präsenz (sei es die Cartesianische Substanz, sei es die Kantische Vernunft, das Fichtesche Ich oder der Hegelsche Geist) voraussetzt, welche der Welt der Erscheinungsformen zugrunde liegt – so ist die Metaphysik, als Diskurs betrachtet, auf der Suche nach einem »Satz vom Grunde«, auf dem sie die Welt als eine Ordnung der Erscheinungen aufbaut, die mimetisch dem substanzialen Gesetz folgt. In seinem Frühwerk Sein und Zeit lehnt Heidegger die »Ontologie des Substanzialen«9 ab: »Die Überwindung der Metaphysik bedeutet die Freigabe des Vorrangs der Frage nach der Wahrheit des Seins vor jeder ›idealen‹, ›kausalen‹ und ›transzendentalen‹ und ›dialektischen‹ Erklärung des Seienden.«10 Was ist an der besagten Erklärung des Seienden auszusetzen? Die Erklärung, wie es scheint, besteht darin, dass das Seiende (die Welt) als ein Aggregat aufgefasst wird, das sich mithilfe von technischen Begriffen beschreiben lässt; dabei wird der »innige Zusammenhang« des Seienden übersehen. Was Heidegger an der Metaphysik kritisiert, ist somit die paradoxe Umkehrung ihrer Intention: anstatt die Substanz als das Einigende zu denken, wird sie als verborgene Macht extrapoliert, die man rational erfasst und ergreift, um über das Seiende zu herrschen. Sein Ansatz ist, das Sein unsubstanzial zu denken, d. h. sich von der Annahme (und Übernahme) der omnipotenten Attribute der Substanz zu verabschieden und intentional auf keinen Grund hinzuweisen. De Seu-Kyou Lee fasst dies wie folgt: Bei Heidegger hat das Wort »Sein« in der Seinsfrage einen anderen Sinn als den überlieferten. Das Sein meint die Beziehung oder das Verhältnis. So heißt es: »Das Sein selbst ist das Verhältnis« (GA 9, 332, Herv. v. Verf.). […] Aber die Beziehung als Seinsgrundzug ist keine Eigenschaft des Seins, die vom Menschen vorgestellt werden kann. […] Heideggers Seinsfrage ist deshalb von Anfang an die Frage nach dem ontologischen Bezug zwischen Sein und Mensch. […] So gesehen ist die Seinsfrage also als die Frage nach diesem Verhältnis zu verstehen […].11

Seyn, Urtheil … Diese relationale Auffassung des Seins verweist auf Hölderlins Schrift Seyn, Urtheil…12, in der Hölderlin das Ich – in Widerspruch zu Fichtes Konzeption des Ich als des Absoluten – als Identität und Identität wiederum als eine solche 9 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 320. 10 Heidegger, Martin: Beiträge, HGA , Bd. 65, Frankfurt am Main 1989, S. 504. 11 Lee, De Seu-Kyou: Existenz und Ereignis: eine Untersuchung zur Entwicklung der Philosophie Martin Heideggers, Würzburg 2001, S. 13. 12 Hölderlin, Friedrich: Seyn, Urtheil … in: Ders.: Theoretische Schriften, S. 7 f.

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Relation zum Sein bezeichnet, die erst durch »Trennung« vom Sein (das Urteil) entsteht.13 Somit definiert er als Vorgänger auch das von Heidegger formulierte Problem der ontisch-ontologischen Differenz. In Hölderlins Fassung besteht es darin, dass das Sein erst dann als erkennbar erkannt werden kann, nachdem sich eine erkennende Instanz herausgebildet, indem sie sich als »vom Sein getrennt« erkannt hat. Diese Instanz ist das Selbstbewusstsein. Der Begriff des Urteils besagt: die Trennung (Teilung) ermöglicht Erkenntnis. Man müsste eigentlich sagen »Erkenntnis der Erkenntnis« oder die Wahrnehmung als ursprüngliche Erkenntnis definieren. Schon Bewusstsein erkennt, nur ohne diesen Vorgang zu reflektieren. Im Ganzen ruhend, kann man darum wissen, man hat aber keinen Raum zur Reflexion dieses Wissens, denn man erlebt keine Trennung. Erst Trennung konstituiert das Ich, also lässt ein Fragment des Ganzen sich als »vom Ganzen getrennt« erkennen und selbstbewusst werden. Das Ich reflektiert und unterscheidet verschiedene Erkenntnisweisen. Es erkennt die ursprüngliche Erkenntnis als Wahrnehmung (Aisthēsis) und die reflektierende Erkenntnis als Theorie oder Praxis. Aber nach dem Urteil ist erstere momentan und imaginär wie ein Traum oder eine Erinnerung, und letztere bedingt und beschränkt, weil das Ich das Sein aus der Distanz als ein Objekt anschauen und erkennen kann, wobei sich der Anschauung und der Erkenntnis nur Ausschnitte aus dem Ganzen bieten. Die Erkenntnis ist daher perspektivisch; nach Hölderlin handelt es sich dabei vor allem um die zeitliche Perspektive. Hölderlin beschreibt den erkennenden Bezug zum Sein als Modalität und je nach der Situierung in der Zeit als Erinnerung (der Vergangenheit), Notwendigkeit (der Gegenwart) und Vorstellung (der Zukunft). Diese Modalitäten werden in der Dichtung – und Hölderlin versteht das Sein des Menschen, oder, präziser gesagt, die Relation des Menschen zum Sein, als dichterisch – zusammengeknüpft und als Ganzes dargestellt. Erst in der Dichtung endet der Prozess der Selbstbewusstwerdung, in der Dichtung erlangt das Ich die Identität, weil es einen Bezug zum Ganzen erlangt. Die Dichtung ermöglicht ein Festhalten der Aisthēsis und – zugleich – einen reflektierenden Bezug zum Sein als Ganzen, wobei zu betonen ist, dass dieser Bezug sich nicht exkursiv im rationalen (Neben-)Diskurs darstellt, sondern mit der Sprache der ästhetischen Erfahrung14 auf diese Weise integriert wird, dass der rationale Moment der Sprache zugleich der strukturelle ist. Die stoffliche (substanziale) Fülle wird gemäß dem »gesetzlichen Kalkül« geordnet. In Hölderlins Poetologie ist Dichtung ein Mittelweg, eine »leichte Brücke« zwischen der reflexionslosen Einbettung ins Sein und dem strengen Urteil der Philosophie, denn der kreative Prozess – sowohl beim Dichter als auch beim Leser – folgt 13 Vgl. Kreuzer, Johann: Einleitung, in: ebd., S. XII –XV. 14 Gemäß der kritischen Philosophie Kants definiert Hölderlin die Wahrnehmung als Produkt des Intellekts, und dementsprechend spricht er von »intellectualer Anschauung«: »Was als intellektuelle Anschauung gedacht wird, ist die Wirklichkeit ästhetischer Erfahrung.« Ebd., S. XV.

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dem Gesetz der sobria ebrietas, er erfordert Verschmelzung und Trennung, Zugehörigkeit und Erkenntnis. Auch Heidegger definiert die ontologische Relation zwischen Sein und Mensch als eine zeitliche. Während Hölderlin jedoch darüber nachsinnt, wie die Zeit subjektiv erfahren wird und welche Sphären des Bewusstseins der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft entsprechen, erforscht Heidegger die dem Denken immanente Zeitlichkeit. Er versucht das Sein aus der Perspektive der Zeitlichkeit des Denkens zu verstehen. Heideggers Ontologie entspricht der Etymologie dieses Wortes: Die Voraussetzung einer zu verstehenden Ordnung des Seins wird nicht aufgegeben, aber methodologisch neu angegangen durch ein Denken, dass etwas geschieht, nicht wie, warum, wozu. Das ontologische Denken ist somit verstehendes Nachvollziehen der Zeitlichkeit des Seins. Die ontisch-ontologische Differenz, d. h. die Trennung von Sein und Erscheinung und von Sein und Erkenntnis wird somit jedoch nicht überwunden. Sie wird zwar methodologisch aufgehoben im Begriff des Daseins, also eines an sich verstehenden Seins, taucht jedoch an einem anderen Ort auf und zeitigt praktische Konsequenzen. Es bleibt nämlich immer noch eine restliche Diskrepanz zwischen dem daseinsartigen, ontischen Denken, das selbst das Geschehen des Seins ist, und dem ontologischen Denken des Seins, das das Sein verstehend nachvollzieht. Es handelt sich hier um eine Diskrepanz bezüglich der Stufe der Reflexion, die Hölderlin in Seyn, Urtheil… beschreibt. In Sein und Zeit verschmelzen Sein und Verstehen im denkenden Sein, also im Dasein. Das Denken ist das Sein selbst in dessen Zeitlichkeit. Demnach zeigt sich der Bezug zum Sein nur als Bezug zum Denken möglich, weil sich das Sein nur als Denken erkennbar zeigt. Das ontologische Sein-denken wird zum Denken-denken. So begibt sich Heidegger in den hermeneutischen Zirkel und die Unendlichkeit der Selbstspiegelungen.

Die Kehre Schon in den Jahren seines »Wahrheit«-Vortrags (1927–1929) erkennt Heidegger die Aporien der Ontologie und sein ontologisches Hauptwerk Sein und Zeit als immer noch dem verpflichtet, was er überwinden wollte, also der (transzendentalen und phänomenologischen) Metaphysik. In der Mitte der 1930er Jahre vollzieht er eine »Kehre« von der Ontologie des Seins und der Zeit zur Philosophie der Kunst und der Dichtung. Die Kehre besteht darin, dass die Relation Sein – Dasein von einer anderen Perspektive betrachtet wird. Nun soll sich die Philosophie der Wahrheit des Seins widmen; das Dasein wirkt nicht mehr primär Sein-enthüllend, sondern steht selbst in einer Lichtung des Seins und ist in die Wahrheit des Seins geworfen. Seine enthüllende Aufgabe wird nicht aufgehoben, jedoch muss das Dasein zuerst auf den Zuspruch des Seins antworten. Der Zuspruch des Seins zeigt sich als Zuspruch der Sprache. Heidegger antwortet auf diesen Zuspruch, indem er

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sich zu Nietzsche und Hölderlin wendet. Sein Denken wird in der Folge interpretierend, hermeneutisch. Heidegger denkt reflektierend das Sein-Denken der anderen und kommt hierdurch in einen Dialog mit dem Denken der anderen. Schon um die Jahreswende 1929/30 hat ihn »Hölderlin geschlagen«; es handelt sich um paar Zeilen aus Hölderlins Gedicht Mnemosyne (das letzte der Gedichte aus der Kategorie der vaterländischen Gesänge): »Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / das Wahre« (Mnemosyne, StA 2.1, 195), die ihn »jetzt und künftig wesentliche Fassung des Begriffes der Philosophie« von Hölderlin her bestimmen ließen (HGA 65, 422); seitdem betrachtet er Sprache und Dichtung als geschichtsgründende Macht unseres Daseins. Er nennt Hölderlin den »Dichter des Dichters« (HGA 65, 422), was bedeutet, dass Hölderlin das Wesen der Dichtung neu stiftet und damit paradigmatisch die Möglichkeit eines neuen – nicht metaphysisch gedachten – geschichtlichen Anfangs gründet. Dieser nicht-metaphysische Neuanfang wird in der Forschung als transitorisch bezeichnet.15 Transitorisch bedeutet vorübergehend, vorbeigehend, zeitlich  – diese Attribute beziehen sich auf das geschichtlich gedachte Sein, dem eben keine Essenz, Substanz oder Präsenz, anders gesagt, kein erster Grund oder letztes Ziel Beständigkeit gewährt; im Gegenteil, es kommt vor, dass das Sein »in müssiger Zeit«16, in der Nacht der Götterlosigkeit zum Stillstand kommt und keine Geschichte hat. Das geschichtliche Sein ist diskontinuierlich beschaffen, und wenn es zum Bruch kommt, wird es zur Aufgabe des Dichters, einen neuen Anfang zu gründen. Der Dichter tut dies als Vermittler zwischen den Menschen / Sterblichen und (den oder) einem Göttlichen, das zu seinem Erscheinen das Wort des Dichters braucht. Das Göttliche ist das Geschichtliche in seiner elementaren Eigenschaft als das Zeitliche; und das göttliche Zeitliche, solange es dauert, ist harmonisch; diese Harmonie ist aber nicht stabil und wenn sie zerfällt, hört auch das Geschichtliche auf oder es verwildert. Der Dichter soll an die vergangene Harmonie erinnern, die künftige prophetisch sehen und in der Zeit der Diskontinuität auf ideelle Weise die Kontinuität stiften, also in seiner Dichtung das Vergangene und das Zukünftige miteinander verbinden.

Innigkeit Dieses komplizierte und komplexe Verhältnis, in dem Menschen, Götter, Geschichte und der Dichter mit- und zueinander stehen, wird von Hölderlin als »innig« bezeichnet. Wie er die Innigkeit auffasst, wird im Dramenfragment Der Tod des Empedokles (2. Fassung) anschaulich dargestellt:

15 Dieser Absatz nach Buchheim, Iris: Heidegger, in: Kreuzer, Johann (Hg.): HölderlinHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2011, S. 432–238. 16 Hölderlin, Friedrich: Anmerkungen zum Ödipus, in: Ders.: Theoretische Schriften, S. 101.

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138 […] Schöne S o n n e ! – Menschen hatten mich Es nicht gelehrt, mich trieb mein eigen Herz Unsterblichliebend zu Unsterblichen zu Dir, zu Dir, ich könnte Göttlichers Nicht finden, stilles Licht! und so wie du Das Leben nicht an deinem Tage sparst Und sorgenfrei der goldnen Fülle dich Entledigest, so gönnt auch ich, der Deine, Den Sterblichen die beste Seele gern Und furchtlos offen gab Mein Herz, wie Du, der ernsten E r d e sich, Der schicksalvollen […]17

Es werden hier bestimmte Relationen formuliert, so lassen sich folgende Analogien identifizieren: die Sonne = das Herz, das Licht = die Seele und folgende Oppositionen: die schöne Sonne die schicksalvolle Erde, Unsterbliche, Göttliches die Sterblichen, die Menschen. Das verausgabende Verhältnis der Sonne zur Erde gleicht dem Verhältnis des Herzens zu den Menschen: Die göttliche Sonne belebt die Erde, das Herz des Dichters beseelt die Menschen (durch das Wort). Das Licht der Sonne bestimmt das Schicksal der Erde, die Seele des Dichters lässt die Menschen das Schicksal erkennen und lässt das Schicksal geschehen, also zur Geschichte werden. In dieser Analogie entspricht das Herz des Dichters der göttlichen Sonne, es ist aber mit ihr nicht gleichzusetzen, denn das Herz vermittelt ›lediglich‹ das Göttliche den Sterblichen, folglich ist es eigentlich menschlich, ›lediglich‹ seine Aufgabe ist göttlich. Und das ist eben der Moment, in dem die Innigkeit auftaucht. Die Innigkeit zeichnet das Herz aus, zugleich bezeichnet sie die Art und Weise des Verhältnisses zwischen der Sonne und der Erde, zwischen den Unsterblichen und den Sterblichen. Mithilfe physikalischer Begriffe kann man sagen, die Innigkeit bedeutet zugleich den hochenergetischen, leitenden Zustand als auch die enge und – bei Hölderlin – harmonische Verflechtung von Allem. Dieser Zustand ist jedoch nicht stabil, sondern kann kippen: Die Götter wenden sich ab oder das Herz verschließt sich. Das Licht nimmt ab und es kommt die Nacht oder das Licht nimmt zu und verwüstet das Land. Die Frage lautet folglich, was ein Dichter des Dichters tut, wenn die Innigkeit ausgelöscht oder bedrohlich wird. Die Antwort lautet, dass er sie in seinen Kunstwerken wieder17 Hölderlin, Friedrich: Der Tod des Empedokles. Zweite Fassung. Ein Trauerspiel in fünf Akten, in: Ders.: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beissner, Bd. 4, Stuttgart 1961, S. 106 (»Sonne« und »Erde« im Original hervorgehoben, kursiv hervorgehoben von E. Sz.).

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herstellen und ins Gleichgewicht bringen kann / muss. Die Innigkeit ist daher kein bloßes Motiv oder Thema, sondern Hölderlins poetologisches Prinzip, das sich sowohl in Bildern und Metaphern manifestiert als auch die Struktur seiner Texte bestimmt. Ausgehend von dem Konzept der Innigkeit entwirft Hölderlin eine Theorie der Struktur des poetischen Werks, den er »Wechsel der Töne« oder »gesetzlicher Kalkül« nennt.18 Das Konzept des Wechsels der Töne hängt mit der bereits erwähnten frühen theoretischen Schrift Hölderlins Seyn, Urtheil… zusammen, in der Hölderlin die Identität – die subjektive Identität, die »ich bin ich« denkt – nicht als absolutes Sein, sondern als Relation zum Sein beschreibt. Wenn das dichterische Ich den Wechsel der Töne anwendet, kann es sich selbst als von diesem Wechsel abhängige, also als relationale Identität erkennen.

Wechsel der Töne Hölderlin verwendet zur Bezeichnung dieser relationalen Identitäten abwechselnd die Begriffe naiv, heroisch, idealisch, und bringt sie in Zusammenhang mit den drei Zeitwahrnehmungen: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, mit den drei Organen des Selbstbewusstseins: Empfindung, Leidenschaft, Phantasie  – und mit den gattungstheoretischen Ausdrücken lyrisch, episch, dramatisch. In Anknüpfung an die Platonische Lehre entsprechen diese Triaden den »Prinzipien von Einheit, Entzweiung und Vermittlung von Einheit und Entzweiung«.19 In der Dichtung werden diese Töne nicht einzeln und monoton realisiert, sondern immer in einem spezifischen Zusammenspiel, in dem der innige Ausgangs- oder Grundton, der für die zugrunde liegende Vorstellung steht (naive / sinnliche Einheit der Empfindung), der Störung und Zerstörung ausgesetzt wird (heroische Trennung aus Leidenschaft), um schließlich wiederhergestellt zu werden (idealische Wiedervereinigung in der Phantasie). Dieser Prozess wird durch drei Elemente getragen: die Vorstellung (synonymisch für Grundton, Stoff, Inhalt), den Stil (Sprache, Ausdruck, Zeichen) und die subjektive Perspektive des Ich. Die Gattungen werden dem Grundton zugeordnet. Das oben beschriebene Zusammenspiel ist allerdings für die Lyrik spezifisch. So ist in der Lyrik der innige Grundton naiv, er drückt die ursprünglich empfundene Einheit von Allem mit Allem, das Heraklitische hén kai pân aus – im Wortschatz von Hölderlins Seyn, Urtheil … das »Seyn schlechthin«20. Die 18 Hölderlins Theorie zu diesem Thema in: Hölderlin, Friedrich: Poetologische Aufzeichnungen, in: Ders.: Theoretische Schriften, S. 63–73. 19 Franz, Michael: Tübinger Platonismus, Tübingen 2012, S. 43: »Zu den prägenden Voraussetzungen des Hyperion-Romans (…) gehört jedenfalls ein dreistufiges Schema einer Dynamik von Ursprung, Ausflug und Rückkehr, das Hölderlin auch mit den Platonischen Prinzipien von Einheit, Entzweiung und Vermittlung von Einheit und Entzweiung in Zusammenhang bringen konnte.« Dazu vgl. auch S. 85. 20 Hölderlin, Friedrich: Seyn, Urtheil …, in: Theoretische Schriften, S. 7.

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Sprache (der Stil), die diese Vorstellung ausdrückt, ist aber wiedervereinigend (idealisch), obwohl – oder vielmehr deswegen, weil – die subjektive Perspektive des poetischen Ich heroisch, d. h. im Zwist begriffen ist. Das Ich, das durch das Urteil konstituiert wurde, erfährt sowohl die Dissonanzen der Welt als auch sich selbst als Dissonanz in der Welt und versucht die verlorene Einheit wiederherzustellen, indem es in der Sprache eine sinnlich harmonische Welt hervorbringt. In der Epik ist der innige Grundton, also die zugrunde liegende Vorstellung, heroisch  – die Welt wird als Kampf (als Empedokleischer neikos) begriffen; diesen Grundton vertreten die homerischen Helden und der Hölderlinsche Titelheld Hyperion. Das poetische Ich setzt diesem Grundton seine wiedervereinigende Perspektive entgegen, die es mit dem naiven Stil der ursprünglichen Einheit realisiert. Im Roman Hyperion ist Diotima die Vertreterin des ursprünglich einigen Seins. Sie bringt in den Roman ihre naive Sprache hinein, die die heroische Haltung und leidenschaftliche Sprache Hyperions zuerst mäßigt, dann ihr unterliegt, aber zum Schluss durch sie durchdringt und durchklingt und mit ihr eine idealische Synthese schafft. Die Epik bringt die Konzeption des Seins als »Zwist der Liebenden« zur Sprache. Im dramatischen Gedicht ist der innige Grundton idealisch. Es ist die Vorstellung der Wiedervereinigung mit allem, was lebt. Diesen Grundton vertreten Empedokles, Ödipus und Antigone – aber eben in einem Übermaß an Innigkeit, die sich als Übermaß an Mitgefühl (mit der Natur, mit der Stadt, mit dem Bruder) ausdrückt und im Verlauf der Handlung mit dem Tod dieser Figuren ausgeglichen wird. Die Sprache, die diesen Grundton, diese Vorstellung ausdrückt, ist die Sprache des dramatischen Dialogs, also die des Zwistes und der Dissonanz. Die subjektive Perspektive des dichterischen Ich muss dagegen naiv sein, es muss den Standpunkt der ursprünglichen Einheit vertreten; im Drama ist das der ausgewogene, mäßigende Standpunkt des Chores oder einer anderen dramatischen Person. Bei Hölderlin ist die Innigkeit überhaupt mit einer Tendenz zum nefas, zum Übermaß, verbunden.21 Ihre übermäßige Liebe treibt Diotima letztlich in den Tod. Ähnlich ist es bei Empedokles, wobei Hölderlin hier die Umstände anders, allgemeiner und politischer gestaltet. Empedokles’ Innigkeit treibt ihn dazu, wie Gott zu lieben und zu leben. In »Grund zum Empedokles« drückt Hölderlin das so aus, dass Empedokles das Organische seiner menschlichen Natur mit dem Aorgischen der göttlichen Natur vertauscht, sich jedoch darin täuscht, dass diese Umkehrung die realen Probleme seiner Zeit  – den politischen Zwist in Agrigent – lösen kann. Sobald diese Lösung versagt, wählt er eine andere, ähnlich göttlich übermäßige, den Tod. 21 Kreuzer, Johann: Einleitung, in: Hölderlin, Friedrich: Theoretische Schriften, S. XXXVII : »Das Theorem von ›ursprünglicher Einheit – Hervorgang – Rückkehr zur Einheit‹ wird als Gegenstand eines Prozesses aufgefasst, der die ›tragische Ode‹ ebenso kennzeichnet wie das ›tragisch dramatische Gedicht‹ (die Tragödie). Sein Grund ist ›das Übermaas der Innigkeit‹ bzw. ›die tiefste Innigkeit‹.«

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Man kann den Tonwechsel Hölderlins auch als eine auf drei tragenden Elementen basierende Konzeption des kreativen Selbstbewusstseins auffassen: Der Grundton ist die tief empfundene Vorstellung einer Welt, die sich dem Dichter dank kreativem Vorstellungsvermögen in der intellektualen Anschauung zeigt. Diese vorgestellte Welt wird einer poetischen Figur als ihr Grundton zuge­schrieben. Sie steht damit in Opposition zu der subjektiv erlebten Welt des Dichters. Der Dichter drückt diese imaginierte Welt aus in einem Stil, mit einer Sprache, die den beiden Vorstellungen entgegenstrebt und sie zugleich miteinander aussöhnt; alternativ inszeniert er, wenn er die vorgestellte Welt mit einem ihr entgegengesetzten Stil ausdrückt, sich selbst als ausgleichendes, die disparaten Elemente versöhnendes Subjekt. Der Wechsel der drei Töne lässt verschiedene Variationen zu.

Heideggers Innigkeit Wie sieht nun Heideggers Auslegung von Hölderlins Konzeption der Innigkeit aus? Am ergiebigsten für die Beantwortung dieser Frage sind wohl die folgenden zwei Publikationen: zum einen »Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein«22 – die Vorlesung im Wintersemester 1934/35, in der er sich ausführlich mit dem Begriff der Innigkeit bei Hölderlin beschäftigt  – und zum anderen die »Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung«, die sechs Beiträge zu Gedichten Hölderlins umfassen.23 In »Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein« benutzt Heidegger die Begriffe »innig« und »Innigkeit« zunächst scheinbar ohne sie zu reflektieren als Synonyme für »eng zusammenhängend«, »mit Begeisterung, mit großer Teilnahme« und »zärtlich«, etwa an den folgenden Stellen: »So künden gerade diese Briefe an die Mutter in ihrer klaren Innigkeit die ungeheure Not seiner Berufung und das wahrhaft Heldische seines Daseins, weil sie es in einer einzigen Zartheit verhüllen« (S. 35); »Hölderlins Dasein hat diesen äußersten Gegensatz des Scheins und des Seins in seiner weitesten Spannung auseinander – und das heißt mit der größten Innigkeit zusammen – und ausgehalten« (ebd.).

22 Alle Zitate nach: Heidegger, Martin: Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein, in: Ders.: Gesamtausgabe, II . Abteilung: Vorlesungen 1923–1944, Bd. 39, hg. von Susanne Ziegler, Frankfurt am Main 1980 (die Seitenangaben direkt nach dem / den jeweiligen Zitat / en in Klammern. Alle kursiven Hervorhebungen hier und in den folgenden Zitaten von E. Sz.). 23 Heimkunft / An die Verwandten (Heideggers Rede von 1943 anlässlich Hölderlins hundertsten Todestages); Hölderlin und das Wesen der Dichtung (eine Rede vom 1936); Wie wenn am Feiertage (Rede gehalten in den Jahren 1939 und 1940); Andenken (Beitrag aus dem Jahr 1943); Hölderlins Erde und Himmel (Vortrag aus dem Jahr 1959, mehrmals wiederholt); Das Gedicht (Vortrag von 1968).

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Aber schon an diesen Stellen wird deutlich, dass er eine bestimmte Konzeption der Innigkeit vertritt, die allmählich entwickelt und später definiert wird. Es handelt sich hier um eine Konzeption, die die umgangssprachliche, triviale Bedeutung dieses Wortes unterminiert, dann ablehnt und eine geradezu oppositionelle vorschlägt. Das erste Zitat kündigt es an: Die »klare Innigkeit« von Hölderlins Briefen an die Mutter wird zwar als »Zartheit« bezeichnet, aber ausdrücklich in Zusammenhang mit der »ungeheuren Not seiner Berufung« und dem »wahrhaft Heldischen seines Daseins« gebracht. Der innige, also zarte bzw. zärtliche Still verhüllt das Heldische des Daseins, indem er es mild, sanft, schonend ausdrückt. Aber in dem bald darauffolgenden Satz bezieht sich Innigkeit nicht mehr auf den Stil, sondern auf das Dasein Hölderlins. Da, wo Innigkeit zuerst für Zartheit stand, steht sie nun für das Auseinander-, Zusammen- und Aushalten des äußersten Gegensatzes des Scheins und des Seins und deutet somit die größte Teilnahme und Anstrengung, einen Kraftakt an. Die Innigkeit erscheint hiermit als Widerspruch, weil sie oppositionelle Elemente gleichermaßen bezeichnet und charakterisiert. Aber auch die Art und Weise, wie Innigkeit jeweilige Opposition bezeichnet, beruht auf Widerspruch, weil sie kündet, indem sie verhüllt, und weil sie gleichzeitig auseinander-, zusammenund aushält. Die Logik verlangt in diesem Moment nach einem tertium comparationis, das den Widerspruch, in dem sich das Denken verfangen hat, kreativ anwenden lässt; in den sich anschließenden Kapiteln der Abhandlung liefert es der Begriff der »Grundstimmung«. Die Grundstimmung definiert Heidegger im Zusammenhang mit dem »dichterischen Sagen«, das den »Ort und das ›da‹, von dem der Dichter spricht«, erfahren lässt, und stellt fest, dass die Stimme des Sagens gestimmt sein muss, dass »der Dichter aus einer Stimmung spricht, welche Stimmung den Grund und Boden bestimmt und den Raum durchstimmt, auf dem und in dem das dichterische Sagen ein Sein stiftet. Diese Stimmung nennen wir die Grundstimmung der Dichtung« (S. 79). Mit dem Begriff der Grundstimmung löst sich Heidegger von der herkömmlichen hermeneutischen Einteilung in Leben und Werk, Gegenstand und Beschreibung; an ihrer statt spricht er von Ort, Stimme und Raum und stellt Dichtung als musikalisches Ereignis dar. Aber er verzichtet nicht darauf, die Grundstimmung konkret emotional zu erfassen. In den darauffolgenden Teilen der Abhandlung bezeichnet er die Grundstimmung als »die Grundstimmung der Trauer« (S. 82), als »Empfindung« (S. 84), schließlich als »eine heilige Trauer« (S. 87), welche uns »vor das Fliehen, das Ausbleiben und Ankommen der Götter [stellt]« (S. 140). Stufenweise vollzieht Heidegger einen Übergang von dem »Heldischen des Daseins« in eine »heilige Trauer«. Der angedeuteten Melancholie der Grundstimmung in Hölderlins Dichtung setzt er die Innigkeit als die »höchste Kraft des Daseins« (S. 117) entgegen. Der philosophische Aspekt des Begriffes der Innigkeit und dessen eigentliche Definition wird in der Interpretation des Bruchstücks Im Walde angekündigt, indem Heidegger ihn in seiner philosophischen Definition des Menschen verwendet, die eine Paraphrase des auf Ignatius von Loyola zurückgehenden

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Mottos24 aus Hyperion ist: »Mensch als der Zeuge des Seyns, ausgesetzt in die Mitte der äußersten Widerstreite und wesend im Umgriff einfachster Innigkeit« (S. 61). Hier wird die Innigkeit zum ersten Mal mit dem Widerstreit in Verbindung gebracht. Auf diesen Begriff kommt Heidegger erst im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Begriffes der Grundstimmung zurück, und zwar im Unterkapitel »Grundstimmung und ›Innigkeit‹. Das bewahrende Verhüllen der Grundstimmung durch den Bildzusammenhang der Dichtung«. Er greift die Vorstellung »der äußersten Widerstreite« erneut auf, betont deren »einigen Zusammenhang« und bezeichnet dieses Zusammenspiel der Oppositionen als Innigkeit: Der ursprünglich einige Zusammenhang der weitesten Widerstreite ist das, was Hölderlin besonders in seiner Spätzeit mit einem eigenen Wort benennt: ›Innigkeit‹. […] Sein Gehalt läßt sich natürlich nicht in einer schulgerechten Definition einfangen. Nur ein Mißverständnis sei gleich abgewehrt: ›Innigkeit‹ meint nicht bloße ›Innerlichkeit‹ des Empfindens im Sinne des Bei-sich-verschließens eines ›Erlebnisses‹. Es meint auch nicht einen besonders hohen Grad der ›Gefühlswärme‹. Innigkeit ist auch nicht ein Beiwort der ›schönen Seele‹ und der Art ihrer Weltstellung. Das Wort hat bei Hölderlin nichts vom Beigeschmack einer verträumten tatenlosen Empfindsamkeit. Ganz im Gegenteil. Es meint erstens höchste Kraft des Daseins. Zweitens: diese Kraft bewährt sich im Bestehen der äußersten Widerstreite des Seyns von Grund aus. Kurz: das gestimmte, wissende Innestehen und Austragen der wesentlichen Widerstreite dessen, was in der Entgegensetzung eine ursprüngliche Einheit hat, das ›Harmonischentgegengesetzte‹, das wir bereits aus der Abhandlung über die Verfahrensweise des Dichters kennen (III, 300, S. 116 f.).

Auf diese Definition kommt Heidegger viel später erneut zurück: Die ursprüngliche Einheit dagegen ist jene, die im Entspringenlassen und als solches einigt und damit zugleich das Entsprungene in der Feindlichkeit seiner Wesensmächte auseinanderhält. Diese ursprüngliche und so einzige Einigung ist jene waltende Einheit, die Hölderlin, wenn er von ihr sagt, mit dem Wort ›Innigkeit‹ nennt. […] Für Hölderlin ist dieses Wort das metaphysische Grundwort. […] Die Innigkeit ist jene ursprüngliche Einheit der Feindseligkeit der Mächte des Reinentsprungenen. Sie ist das zu diesem Seyn gehörige Geheimnis. Die Enthüllung des Geheimnisses des Reinentsprungenen ist der einzige und der eigentliche Auftrag für die Dichtung überhaupt als solche. Das Geheimnis ist nicht irgendein Rätsel, das Geheimnis ist die Innigkeit, diese aber das Seyn selbst, die Feind-seligkeit der widerstreitenden Mächte, in welcher Feindschaft es über die Götter und die Erde, die Menschen und alles Gemächte zur Entscheidung kommt (S. 249–251).

Die Innigkeit entwickelt sich von der »bewahrenden Verhüllung des Bildzusammenhangs der Dichtung« über die »höchste Kraft des Daseins«, welche die 24 »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est.« »Nicht eingegrenzt vom Größten und dennoch einbeschlossen vom Kleinsten, das ist göttlich.«

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»äußersten Widerstreite des Seyns austrägt« bis zum »Wesen des Seyns«, zur »Natur«: Alles ist nur im Widerstreit der Mächte selbst, in der Innigkeit der Natur. […] Das Sagen der Dichtung entwächst dem Seyn, aber nur, damit es dieses Seyn in sich bewahre und so ›von beiden zeuge‹ [V. 49], von den Göttern und den Menschen, als deren Mitte das Reinentsprungene, das Geheimnis, die Innigkeit, west. […] Die Dichtung ist das Grundgeschehnis des Seyns als solchen. Sie stiftet das Seyn und muß es stiften, weil sie als Stiften nichts anderes ist als der Waffenklang der Natur selbst, das Seyn, das im Wort sich zu sich selbst bringt. […] Im Wesen des Seyns selbst, verstanden als »Natur« (Innigkeit), gründet die Möglichkeit und Notwendigkeit der Dichtung (S. 256–258).

Die Innigkeit als Natur ist die Natur des Seins, und diese Natur beschreibt Heidegger klangmalerisch als »Waffenklang«; dieses Wort stellt ein ästhetisches Äquivalent des Begriffes der Feindseligkeit dar. Die Feindseligkeit, ein Oxy­ moron, das verschieden nuancierte Auslegungen zulässt, macht auch das Wesen der Dichtung aus, weil Dichtung und Sein in der Art ihrer Ausdrucksweise, also, wie man annehmen darf, in der Art ihrer sinnlich wahrnehmbaren Verwirklichung, dasselbe sind. Im letzten Kapitel der Abhandlung interpretiert Heidegger die Ode Der Rhein gemäß dem Gesetz der Feindseligkeit. Wie verhält sich die Interpretation der Innigkeit als Feindseligkeit zum Begriff der Innigkeit bei Hölderlin? Mit Recht weist die Forschung darauf hin, dass Heidegger sich die »Innigkeit« Hölderlins als Sprungbrett für einen eigenen Gedankengang nimmt: Trotz einer gewissen Nähe Heideggers zu Hölderlin bezüglich der Innigkeit als einer zu erstreitenden, offenbart doch gerade dieses Beispiel auch den ganz anderen denkerischen Standort Hölderlins zu dem Heideggers. […] Für die Heraushebung des Streites als der einigenden Ereignisweise des Seins wie bei Heidegger liefert Hölderlin […], bei dem die im Streit sich zeigende Innigkeit nur erst die scheinbare ist, keine Vorgabe. Der Gedanke des Streites hat hier eine völlig andere Basis als bei Heidegger. Der Feld, auf dem es sich entfaltet, ist das Individuum, bzw. ein Gang der Bildung des Bewußtseins, und er entspringt aus der Entgegensetzung, in der das ichliche Bewußtsein sich zunächst im Verhältnis zu allem anderen erfährt. Dieser bewußtseinsphilosophische Hintergrund […] wird von Heidegger von vorne herein völlig ausgeklammert und durch die Daseinsperspektive ersetzt, bei der sich das Identitätsproblem nicht mehr in dieser Weise stellt.25

In diesem Sinne wird Hölderlin von Heidegger adaptiert, nicht interpretiert. Was Hölderlin als dreiteilige Struktur des schöpferischen Aktes beschreibt, in der sich das Bewusstsein als Selbstbewusstsein erkennt und mit dem Sein als Identität wiedervereinigt, wird bei Heidegger auf das eine magische Schlüssel25 Kuhlmann, Ulrike: Das Dichten denken. Der Bezug von Dichten und Denken als Kernfrage im Werk Martin Heideggers, Berlin 2010, S. 87, Anm. 29 (Anfang der Anm. S. 86).

Der Begriff der Innigkeit in Heideggers Hölderlin-Lektüre

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wort der »Feindseligkeit« reduziert, das zu einem, zu seinem ›metaphysischen Grundwort‹ wird, das das Geheimnis des Seins löst. Der Zusammenhang der drei Elemente  – Grundton, Sprache und die subjektive Perspektive des Ich  – wird von Heidegger übersehen, sein Verständnis der Feindseligkeit ist binär. Nur an der Stelle, an der er den Begriff der Stimmung erwägt, weist er auf die dreiteilige Struktur der Stimmung hin: »Zur Stimmung gehört einmal Jenes, was stimmt, das Stimmende (vgl. »innerer Grund« der Stimmung, S. 85 ff.), sodann Jenes, das in der Stimmung gestimmt ist, und schließlich das gestimmte und stimmende wechselweise Bezogensein beider aufeinander« (S. 82 f). Worum es ihm aber dabei geht, ist die Ablehnung des trivial aufgefassten Subjekt-Objekt-Verhältnisses: »Tiefer gedacht aber reicht das gemeinhin vorgestellte Subjekt-Objekt-Verhältnis hier überhaupt nicht zu, um das Wesen der Stimmung zu begreifen« (S. 83). Eben dieses Subjekt-Objekt-Verhältnis aber  – nicht in seiner trivialen, sondern philosophischen Auffassung – beschäftigt Hölderlin in höchstem Grade. Dass sich das Ich in der Dichtung zugleich als Subjekt und als Objekt erfährt, ist für Hölderlin der Grund seiner Identitätstheorie und seiner Poetologie. Heidegger interessiert sich nicht für solche Problematisierung der Identität. Die Identität ist bereits gegeben. Das Problem der Identität, das bei Hölderlin wie eine Gratwanderung dargestellt wird, das als eine dauerhafte Krise erfahren wird, eine Spannung, die sich in den Akten der Dichtung nur momentan auflöst und dann wieder aufbaut, wird von Heidegger weg-identifiziert: Die unstete Identität, die sich aus dem Zusammenspiel der drei Elemente Grundton, Sprache und der subjektiven Perspektive des Ich ergibt, wird als Grundstimmung, diese als Empfindung, und diese wiederum als heilige Trauer identifiziert. Noch anders ausgedrückt: Was Hölderlin als »intellectuale Anschauung« bezeichnet, welcher er die drei Grundtöne zuweist, wird bei Heidegger auf die eine Grundstimmung der heiligen Trauer reduziert. Mit dem Begriff der Grundstimmung ersetzt Heidegger Hölderlins Grundton. Somit werden die drei Töne – naiv, heroisch, idealisch – auf die eine Empfindung reduziert. Die heilige Trauer, eines der Äquivalente des ›Geheimnisses des Seins‹, wird im dichterischen Sagen durch ihre Opposition verleugnet und verhüllt – daher der ›Waffenklang der Dichtung‹. Auf dem Umweg lang­w ieriger Analysen Hölderlins Verse kommt Heidegger zu einer recht schlichten Folgerung: die Innigkeit, das beschworene Geheimnis des Seins, realisiert sich als Verhüllung der heilig traurigen Stimmung durch den heroischen Stil des Gedichts. In Bezug auf Hölderlins Tonwechsel bedeutet das eine Ausklammerung des lyrischen Grundtons, also des naiven Grundtons der Empfindung, der keine Feindlichkeit und sogar keine Macht kennt. Das ist der Grundton der ursprünglichen sinnlichen Einheit. Wenn Heidegger den den lyrischen Gedichten zugrundeliegenden Ton, also Grundton, als Widerstreit bezeichnet, weicht er vom Tonwechsel Hölderlins ab. Für Hölderlin ist der Grundton der lyrischen Ode naiv; dieser Grundton steht für sinnliche Vorstellung der ursprünglichen Einheit, die jedoch den idealischen Stil erfordert, um »von einer Seite nicht ins

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Sinnliche [zu] fallen, von der andren seinen Grundton, das innige Leben nicht [zu] verläugnen«; in Bezug auf die Hymne, die lyrische Gattung also, mit der sich Heidegger befasst, stellt Hölderlin fest, dass ihr »heroischerer« Grundton an Idealität weniger zu verlieren hat, »so fängt es naiv an«.26 Erst in diese objektiven (im Sinne: werkästhetischen) Aspekte bringt das poetische Ich die subjektive Perspektive des Zwistes, des Widerstreits. Das dichterische Ich soll sich nämlich weder mit dem Grundton, der Vorstellung (bei Hölderlin abwechselnd Inhalt, Bedeutung oder auch Stoff)  noch mit dem Ausdruck (Stil, Form, Zeichen) identifizieren; die Aufgabe des Subjektiven ist es, auf die objektive Tendenz des Gedichtes mäßigend zu wirken. Der Vortrag Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« schöpft Heideggers Interesse für den Begriff der Innigkeit jedoch nicht aus. In den Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung27 wird er in einem anderen denkerischen Kontext erneut aufgegriffen. Hier entwickelt Heidegger in Rückgriff auf Hölderlin seine Konzeption des Gevierts, einer Konstellation der Welt, die aus Erde und Himmel, Sterblichen und Göttlichen besteht und von der Innigkeit zusammengehalten wird. Das Verständnis der Innigkeit nimmt in den »Erläu­ terungen …« eine andere Gestalt an. Schon eher im Sinne Hölderlins wird hier die Dichtung, der Gesang, als etwas tiefentzweites aufgefasst; es ist eine Entzweiung, die der Innigkeit selbst entspringt, die einerseits den Gesang erfordert, damit das Heilige vermittelt werden kann; andererseits kann das Heilige durch den Gesang entstellt dargestellt werden. In Anlehnung an die interpretierten Gedichte Hölderlins entwickelt und präzisiert Heidegger sein Verständnis der Innigkeit: Wer ist der Mensch? Jener, der zeugen muß, was er sei. […] Der Mensch ist der, der er ist, eben in der Bezeugung des eigenen Daseins. Diese Bezeugung […] macht das Dasein des Menschen mit aus. Aber was soll der Mensch bezeugen? Seine Zugehörigkeit zur Erde. Diese Zugehörigkeit besteht darin, dass der Mensch der Erbe ist und der Lernende in allen Dingen. Diese aber stehen im Widerstreit. Was die Dinge im Widerstreit auseinanderhält und damit zugleich zusammenschließt, nennt Hölderlin die »Innigkeit«. Die Bezeugung des Zugehörens zu dieser Innigkeit geschieht durch das Schaffen einer Welt und ihren Aufgang ebenso wie durch die Zerstörung derselben und den Untergang (S. 36).

Alles ist innig. So beginnt ein später Entwurf (IV2, 581). Alles ist nur, indem es aus der Innigkeit des Allgegenwärtigen hervorscheint. Das Heilige ist die Innigkeit selbst, ist – das »Herz«. 26 Vgl. Hölderlin, Friedrich: Das lyrische dem Schein nach …, in: Ders.: Theoretische Schriften, S. 69 (Titel kursiv im Original). 27 Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, in: ders.: Gesamtausgabe, I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976, Bd. 4, hg. von Friedrich-Wilhem von Herrmann, Frankfurt am Main 1981 (Seitenangaben nach dem jeweiligen Zitat in Klammern).

Der Begriff der Innigkeit in Heideggers Hölderlin-Lektüre

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Das Heilige aber, »über die Götter« und die Menschen, ist »älter denn die Zeiten«. […] Das Heilige ist die einstige Innigkeit, ist »das ewige Herz«. Dieses Bleiben des Heiligen ist aber bedroht durch die aus ihm selbst stammende und mit seinem Kommen geforderte Vermittelung durch das Wort des Gesanges (S. 73). Das erste Leitwort lautet: Alles ist innig [Entwurf »Gestalt und Geist« Stuttg. Ausg. II,1, S. 321]. Dies will sagen: Eines ist in das Andere vereignet, aber so, dass es dabei selber in seinem Eigenen bleibt, sogar erst in dieses gelangt: Götter und Menschen, Erde und Himmel. Die Innigkeit meint kein Verschmelzen und Verlöschen der Unterscheidungen. Innigkeit nennt das Zusammengehören des Fremden, das Walten der Befremdung, den Anspruch der Scheu (S. 196).

Zuerst wird der frühe Gedanke des Widerstreits aufgenommen: Der Mensch als Dichter zeugt in seinem Gesang davon, dass alle Dinge im Widerstreit sind. Aber der Widerstreit wird nicht mehr mit der Innigkeit identifiziert. Die Innigkeit strebt dem Widerstreit entgegen, und gleichzeitig lässt sie das »Verschmelzen und Verlöschen der Unterscheidungen« nicht zu. Die Innigkeit verknüpft die Dinge so, wie es »im Gesang« geschieht; so, dass »Eines in das andere vereignet« ist. Aber der Gesang ist keine mimesis der Innigkeit. Der Gesang soll gegenüber der Innigkeit scheu sein, denn »Die Scheu ist das Wissen, dass der Ursprung sich nicht unmittelbar erfahren läßt« (S. 131). Hier spricht Heidegger nicht mehr vom verhüllenden Waffenklang der Dichtung. Vielleicht kann ebendieser früher heraufbeschworene Waffenklang sogar als die eigentliche Bedrohung für das Bleiben des Heiligen verstanden werden. So darf man annehmen, dass auch die anfangs erwähnte Revolution, die als »Rückwälzung des Wesens in das Anfängliche« definiert wird, im Laufe der Zeit zurückgenommen wird. In Heideggers Denken der Innigkeit ist eine bedeutende Verschiebung des Akzents von der Tendenz zur Personifizierung auf das Begreifen der Struktur zu beobachten, als ob er den griechischen Übergang vom mythisch-religiösen zum philosophisch-wissenschaftlichen Denken individuell vollzogen hätte. Als Rektor zeigt er sich als Anhänger des politischen UrModells der Führerschaft, in dem sich die Massen um die zentrale, mit sakralen Attributen ausgestattete Führerfigur konzentrieren und unter ihrer Führung direkt »umwälzend« wirken können. Seine damaligen Aussagen charakterisiert eine Rhetorik der militärischen, aber auch industriellen Gewalt (so wenn das tief verborgene Anfängliche durch Rückwälzung und Destruktion aufgedeckt werden soll). In dieser Phase wird sein raffinierter Intellekt von einem recht primitiven Vorstellungsvermögen begleitet. Die Hölderlin-Lektüre wirkt im Laufe der Zeit bildend auf Heidegers Vorstellungsvermögen. Sein Sinn für strukturelle Feinheiten verschärft sich. Das Bedürfnis, alles zu Ende zu denken, verwandelt sich in denkerische Gelassenheit. Die Erforschung von Hölderlins Texten führt zu einem respektvollen Verständnis des Anfänglichen als des Ursprungs, an den man sich nur mit Scheu annähern darf; denn jeder Versuch, ihn auszusprechen, ihn festzuhalten, miss-

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deutet ihn gleichzeitig. Wenn man also Heideggers späten Konservatismus auf einen Punkt bringen kann, dann vielleicht in folgender Definition, die Heidegger nach Jahren seiner Hölderlin-Lektüren entwickelt hat: als Verständnis für »das ›zartere Verhältniß‹ von Erde und Himmel, Gott und Mensch« (S. 163). Darf man zum Schluss die These wagen, dass die unvollendete Ausarbeitung der Seinsfrage in Sein und Zeit in die Interpretation der Innigkeit als Sein mündet?

Albert C. Eibl, Wien

Vom nationalistischen Revolutionär zum revolutionären Konservativen Ernst Jüngers Abenteuerliches Herz im Spiegel der ›Konservativen Revolution‹ Es geraten Schichten in Bewegung, die sowohl ihrer Herkunft wie ihrer Zusammensetzung nach sehr schwer zu bestimmen sind. Es ist dies ein intelligentes, erbittertes, explosives Menschengemisch, das sich einer hemmungslosen Versammlungs-, Redeund Pressefreiheit auf seine eigene Weise bedient. Die Unterschiede zwischen Reaktion und Revolution schmelzen hier auf eine seltsame Weise ein; es tauchen Theorien auf, in denen man die Begriffe ›konservativ‹ und ›revolutionär‹ auf eine verzweifelte Weise identifiziert.1

Diese Stelle aus dem erstmals 1932 erschienenen, aufsehenerregenden2 philosophischen Großessay Ernst Jüngers mit dem Titel Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, der als Manifest des ›Heroischen Realismus‹ wohl zurecht als einer der Schlüsseltexte der ›Konservativen Revolution‹ gilt, kann gleichzeitig als eine vorausgreifende Bankrotterklärung des von Thomas Mann 1921 erstmals eingeführten und dann 1950 von Armin Mohler wirkmächtig zum Schlagwort geschliffenen Syntagmas begriffen werden.3 In seiner nur durch Biegen 1 Jünger, Ernst: Der Arbeiter., in: Sämtliche Werke. [=SW], Bd. 10, Stuttgart 2015, S. 267 [Hervorhebung (fett) von AE]. Die Taschenbuchausgabe, aus der im Folgenden zitiert wird, folgt der 22-bändigen Ausgabe der »Sämtlichen Werke« Jüngers, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind in Seiten- wie Zeilenumbruch. 2 Bei dessen Erscheinen hagelt es Kritik und Zustimmung von allen Seiten. Im »Völkischen Beobachter« hieß es sogar, dass sich Jünger nun der »Zone der Kopfschüsse« nähere. Dennoch wurde das Buch in weiten Kreisen als hellsichtige Gegenwartsdiagnose gehandelt und konnte dadurch schnell zu einem Verkaufsbestseller avancieren. Jünger sieht seine Aufgabe im »Arbeiter« weit weniger in der Bewertung der radikalen gesellschaftspolitischen Umwälzungen seiner Zeit als vielmehr in der akkuraten und weitgehend gleichmütigen Beobachtung derselben. Vgl. dazu die indirekte Selbstermahnung des Autors, SW 10, S. 140: »Noch einmal wollen wir uns daran erinnern, dass unsere Aufgabe im Sehen, nicht aber in der Wertung besteht.« Vgl. außerdem Martus, Stefen: Ernst Jünger, Stuttgart / Weimar 2001, S. 89. Zur totalen Mobilmachung und dem Arbeiter allgemein Ketelsen, Uwe K.: »Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt, sondern auch deren mythische und kultische Voraussetzungen«. Zu Ernst Jüngers »Die totale Mobilmachung« (1930) und »Der Arbeiter« (1932), in: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. v. Hans-Harald Müller und Harro Segeberg, München, 1995, S. 77–95 und Trawny, Peter: Die Autorität des Zeugen, Berlin 2009. 3 Vgl. dazu Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus, Darmstadt 1995 und Mohler: Die Konservative Revolution.

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und Brechen zu vereinbarenden Gegenläufigkeit wohnt dem Begriff ›Konservative Revolution‹ jedenfalls von Anfang an eine aporetische Struktur inne, die eindeutige Positionsbestimmungen der Bewegung und ihrer zahlreichen Protagonisten im Rückblick bedeutend erschwert, wenn nicht gar verhindert.4 Was übrig bleibt, wenn man sich ernsthaft darum bemüht, die weitverzweigte Netzwerk- und Gesinnungsgruppe der ›Konservativen Revolution‹ von allem Heterogenen zu entblättern, um gleichsam ihren mythisch entrückten Kern freizulegen, ist, um mit Stefan Breuer zu sprechen, wenig mehr als eine stark im Unbestimmten wabernde »Kombination von Apokalyptik, Gewaltbereitschaft und Männerbündlertum«5. Dass das mentalitätsgeschichtlich wie literaturwissenschaftlich besehen ein bestenfalls dürftig zu nennendes Resultat ist, auf dem sich schwerlich tragende Theoriegebäude errichten lassen, wurde schon vielfach festgestellt. Den absoluten Minimalkonsens, auf den man sich in der Forschung bezüglich der ideologischen Essenz der ›Konservativen Revolution‹ geeinigt hat, bringt wahrscheinlich die völlig zu Recht pointiert-überspitzte Definition der Bewegung auf den Punkt, die der Historiker Rolf Peter Sieferle geliefert hat: »Man ist entschlossen, weiß aber nicht recht, wozu. Es zählt allein die radikale Präsenz.«6 Legt man dieses weit gefasste Richtmaß an den in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs galvanisierten Ernst Jünger Mitte der 1920er Jahre an, so fällt es nicht schwer, ihn, wie beispielsweise Breuer dies tut, mit anderen militant-nationalistisch agitierenden Figuren wie Arthur Moeller van den Bruck, Wilhelm Stapel, Edgar Julius Jung, Ernst Niekisch und Hans Zehrer zum engeren Kreis der ›Konservativen Revolutionäre‹ zu zählen.7 Obwohl Jünger selbst sich niemals zum engeren Kreis der ›Konservativen Revolution‹ rechnete, ließ sich eine ›radikalere‹ geistige ›Präsenz‹ zwischen 1923 und 1929 wohl nur schwerlich denken.8 4 Das Paradoxe in der Ideologie und im Streben der ›Konservativen Revolution‹ hat auch Jünger mehrfach benannt. In einem der »Stücke zu Heliopolis«, der 1951 veröffentlichten Erzählung Das Haus der Briefe heißt es beispielsweise: »Bereits das Wort konservativ war von bewußter Erinnerung getragen, von einem Gefühl des Mangels, des Fehlenden. Schon deshalb mußte jede konservative Revolution ins Leere stoßen und nach dem Vorbild der Polignacschen Ordonnanzen scheitern; das hatte sich immer wiederholt.« Ernst Jünger, SW 19, S. 357. 5 Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt [1993], 2. Auflage 1995, S. 47. 6 Vgl. dazu Sieferle, Rolf Peter: Die konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen (Paul Lensch, Werner Sombart, Oswald Spengler, Ernst Jünger, Hans Freyer), [1995] Neuauflage Berlin 2019, S. 213. 7 Dazu Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, S. 6. 8 In Bezug darauf scheint ein im Alterstagebuch »Siebzig verweht« abgedruckter Brief Jün­ gers an Alfred Andersch aufschlussreich. Der über Achtzigjährige bemerkt hier dem weit jüngeren Schriftstellerkollegen gegenüber: »Sie rechnen mich nicht den Konservativ-Nationalen, sondern den Nationalisten zu. Rückblickend stimme ich dem zu.« Vgl. dazu Siebzig verweht II , Eintrag vom 7. Juni 1977, SW 5, S. 315, sowie Schloßberger, Matthias: Ernst Jünger und die ›Konservative Revolution‹. Überlegungen aus Anlaß der Edition seiner politischen Schriften. IASL Online, 18. September 2002.

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Jüngers revolutionäre Gesinnung in den 1920er Jahren – der kein Gewaltakt und kein Zerstörungsdelikt zu unverhältnismäßig schien, um den verhassten Liberalismus und Parlamentarismus im ›Erfüllungsstaat‹ von Weimar in beschleunigtem Tempo zur Strecke zu bringen – wird von der Forschung heute nicht mehr in Zweifel gezogen. Einmal abgesehen von Jüngers vor allem publizistisch und brieflich vorangetriebenen männerbündlerischen Sammlungsbewegungen, in denen er den ernsthaften Versuch unternimmt, eine ideale Gemeinschaft nationalrevolutionär Gleichgesinnter für die gemeinsame Sache zu rekrutieren, drängt sich dennoch die Frage auf, inwiefern Jüngers radikaler Nationalismus dieser Jahre eigentlich auch als ›konservativ‹ bezeichnet werden kann. Die Frage gewinnt an Reiz, wenn man sich darauf zurückbesinnt, was Konservatismus spätestens seit Edmund Burkes Kritik an der Französischen Revolution im Allgemeinen bedeutet: Die Einnahme einer kritischen – wenn nicht gar oppositionellen  – Haltung jedweder radikalen gesellschaftlichen Veränderung gegenüber. Eine solche Haltung konterkarierte Jünger schon in der frühen Nachkriegszeit mit der Entwicklung einer stoizistisch grundierten Lebens­philosophie, die unter dem Begriff ›Heroischer Realismus‹ firmierte und die er im Arbeiter von 1932 als eine Art heiterer Bejahung der Anarchie charakterisierte, die von einer »heißere[n] Liebe« und »schrecklichere[n] Unbarmherzigkeit« zeuge: Der ›heroische Realist‹ sei ein Mensch, »der sich mit Lust in die Luft zu sprengen vermag und der in diesem Akte noch eine Bestätigung der Ordnung erblickt.«9 Im schwelgerischen Ton apokalyptischer Geschichtsprophetie heißt es hier: »Unsere Aufgabe ist es, nicht die Gegen-, sondern die Vabanquespieler der Zeit zu sein […].«10 Da dem im technokratischen Zeitalter weltweiter Mobil­ machungsprozesse allerorten zu beobachtenden Zerfall und Schwund von individuellem Glück, von Sicherheit und Muße, nicht mehr Einhalt zu gebieten ist, gilt es für den ›heroischen Realisten‹ als Gebot der Stunde, die drastischen Umwälzungen als notwendiges weltgeschichtliches Schauspiel des Übergangs zu begreifen und den damit einhergehenden zivilisatorischen Fortschritt  – koste es, was es wolle – zu bejahen. Angesichts der dramatischen gesellschafts­ politischen Entwicklungen auf dem Weg in ein neues, unbarmherzigeres Zeitalter scheinen konservative Bestrebungen von vornherein zum Scheitern

Hingegen zählt sich Jünger in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Georg aus der Besatzungszeit noch zur konservativen »Hamburger Schule« des Nationalismus um Stapels »Deutsches Volkstum«, während Niekisch für ihn ein Repräsentant der »Berliner Schule« um die Zeitschrift »Widerstand« gewesen sei: »Die Münchner Schule [die des Nationalsozialismus, AE] bot ihre Ideen am billigsten aus und mußte daher unter den obwaltenden Umständen den Sieg davontragen.« Jünger, Ernst: Brief an F. G. Jünger, vom 12. September 1947, D: F. G. Jünger, DLA Marbach. Zit. Schöning, Matthias (Hg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart / Weimar 2014, S. 393. 9 Vgl. dazu Jünger: Der Arbeiter, S. 40 f. 10 Ebd., S. 51.

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verurteilt.11 Es komme daher darauf an, »einen Punkt der Betrachtung zu gewinnen, von dem aus die Orte des Verlustes als die Gesteinsmasse gesehen werden können, die während der Bildung einer Statue vom Block geht« (A, 125). Die zumindest in Westeuropa bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs währende, lang andauernde Ära der politischen und sozialen Sekurität gehört für Jünger 1932 endgültig der Vergangenheit an. Der lange zurückgehaltene Einbruch ›elementarer Mächte und Gefahren‹ verdrängt nun den Typus des ›Bürgers‹, der keinesfalls zu den dauernden ›Gestalten‹ gehöre, unwiderruflich von der Bildfläche der Weltgeschichte. Damit einhergehend findet gleichsam eine Nietzscheanische ›Umwertung aller Werte‹ statt. So ist im Zeitalter des Arbeiters, in dem auch die »ungeheuren Arsenale der Vernichtung« keine Sicherheit mehr bieten, summa summarum nichts »beständig als die Veränderung, und an dieser Tatsache zerschellt jedes Bestreben, das auf Besitz, Zufriedenheit oder Sicherheit gerichtet ist. / Wohl dem, der andere, kühnere Wege zu gehen versteht.«12 Wie ich bereits in meiner Studie Der Waldgang des ›Abenteuerlichen Herzens‹13 darzulegen versucht habe, beginnt Jünger als Mensch und Autor in gewissem Sinne schon ab dem 30. Januar 1933 einen dieser ›anderen, kühneren Wege‹ zu beschreiten. Unter dem gleichermaßen beunruhigenden wie lebensweltlich einschneidenden Eindruck der Diktatur entschließt sich Jünger – ohne den Begriff als solchen zu diesem Zeitpunkt bereits geprägt zu haben14  – zu ebenjenem Waldgang, den er dann erst in seinem 1951 erschienenem Großessay in der Rückschau auf seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse15 während der Nazi-Herrschaft phänomenologisch exemplifizieren und dann in der Nachkriegszeit zu einer regelrechten Lebensphilosophie des Nonkonformismus und des Widerstands ausbauen wird.16 Wir wollen uns im Folgenden nicht weiter damit aufhalten, im Detail zu ergründen, inwieweit (oder ob überhaupt) Jünger bis 1932 der ›Konservativen Revolution‹ zugerechnet werden kann. Einen verdienstvollen Versuch in diese Richtung hat bereits Matthias Schloßberger anlässlich des Erscheinens der 11 Selbst in Jüngers 1950 erschienener Vorarbeit zum ein Jahr später veröffentlichten Waldgang, dem Martin Heidegger gewidmeten Essay Über die Linie, wird dem herkömmlichen Konservatismus, ganz ähnlich wie im Arbeiter, weiterhin der Totenschein ausgestellt: »Die konservative Haltung, in ihren Vertretern der Achtung, ja oft der Bewunderung würdig, vermag die wachsende Bewegung nicht mehr aufzufangen und abzudämmen, wie das noch nach dem Ersten Weltkrieg möglich schien.« Vgl. dazu SW 9, S. 264. 12 Jünger: Der Arbeiter, S. 184. 13 Eibl, Albert C.: Der Waldgang des ›Abenteuerlichen Herzens‹. Zu Ernst Jüngers Ästhetik des Widerstands im Schatten des Hakenkreuzes, Heidelberg 2020. 14 Wie Natalia Żarska jüngst gezeigt hat, verwendet Jünger den Begriff des ›Waldgangs‹ erstmalig 1936 in der Urhandschrift zu den Afrikanischen Spiele. Vgl. dazu Żarska, Natalia: Die Rezeption der Romantik in den ›Afrikanischen Spielen‹ Ernst Jüngers, Leipzig 2020, S. 148 f. 15 Vgl. dazu Jünger: Der Waldgang, SW 9, S. 309: »Die Einzelheiten sind bekannt und vielfach beschrieben. Sie gehören unserer eigensten Erfahrung an.« 16 Vgl. dazu Eibl: Der Waldgang des ›Abenteuerlichen Herzens‹, S. 78 f.

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gesammelten ›politischen Publizistik‹ Jüngers, herausgegeben von Sven Olaf Berggötz, im Jahr 2002 unternommen.17 Stattdessen wollen wir mit hermeneutischem Elan in die Lektüre einzelner Texte Jüngers einsteigen. Ziel soll es zunächst sein, gewisse Wegmarken und Kontinuitäten im Werk des Autors zwischen 1929 und 1951 aufzuzeigen, um darauf aufbauend das Postulat einer dynamischen geistigen Entwicklung vom ›nationalistischen Revolutionär‹ der politischen Publizistik – über den ›romantischen Anarchisten‹ des Abenteuerlichen Herzens und den ›heroischen Realisten‹ des Arbeiters – bis hin zum revolutionär-konservativen ›Waldgänger‹ der Jahre ab 1933 plausibel zu machen. Eine wichtige Grundkonstante in Jüngers Schreiben seit Beginn seiner Autorschaft im Jahr 1920 scheint dafür die Voraussetzung zu sein: sein überbordend-selbstbewusst inszenierter Individualismus. Von Anfang an  – selbst als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg – begreift sich der Autor als Individualist, als großer Einzelner, der sich inmitten der Massenbewegungen seiner Zeit durch intellektuelle Originalität, Extravaganz und einem kühnen geistigen Zugriff auf tragende Phänomene der eigenen Lebenswirklichkeit vor der nivellierenden Gleichmacherei der technischen Moderne zu behaupten versucht. Gleichzeitig sieht er sich insbesondere während seiner nationalrevolutionären Phase als Mann der Tat, der durchaus gestaltend Anteil nehmen will an der Politik seiner Zeit. Er blickt deshalb  – ganz ähnlich wie viele andere Anhänger der ›Konservativen Revolution‹ – mit Verachtung auf die ›Kaste der Intellektuellen‹, die soziopolitische Probleme nur debattierten, ohne den Mut zu haben, durch unerschrockene Taten und gewaltsame Aktionen echte Veränderungen zu zeitigen.18 Daniel Morat meint, dass diese spezifische Form des »intellektuellen Antiintellektualismus«, den die ›Konservative Revolution‹ in den ersten Jahren der Weimarer Republik kultivierte, nicht nur zu einer bedeutenden Radikalisierung ihres Tat-Denkens führte, sondern sich in ihrer selbstzerstörerischen Gegenläufigkeit – die sich hier erneut im Begriff selbst offenbart – auch letztlich den eigenen Boden unter den Füßen entzog.19 Dem lässt sich sicherlich zustimmen. Für Jüngers Werk entfaltet diese durchaus auch für ihn selbst als schmerzlich empfundene ambivalente Haltung, dieses gewaltsame Hin- und Hergerissensein zwischen actio und contemplatio, jedenfalls eine äußerst produktive Dynamik, die sich bis zu seiner endgültigen Abwendung vom Tat-Denken um 1929 und seinem damit einhergehenden Rückzug aus der Politik auch mehrfach niedergeschlagen hat –, neben der Erstfassung von Das Abenteuerliche Herz wohl am eindrücklichsten in jener für das eigene Selbstverständnis der Nachkriegsjahre äußerst bedeutsamen Erzählung Sturm, die 1923 kurz vor seinem Abschied aus der Reichwehr und seinem Einstieg in 17 Schloßberger: Ernst Jünger und die ›Konservative Revolution‹. 18 Am schärfsten drückt Jünger dies wohl im Arbeiter aus: »Die beste Antwort auf den Hochverrat des Geistes gegen das Leben ist der Hochverrat des Geistes gegen den ›Geist‹; und es gehört zu den hohen und grausamen Genüssen unserer Zeit, an dieser Sprengarbeit beteiligt zu sein« (SW 10, S. 47). 19 Vgl. dazu Morat: Von der Tat zur Gelassenheit, S. 46.

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die politische Publizistik erschien und die der Autor laut eigener Aussage im Lauf der Zeit kurioserweise sogar vergessen haben will.20 Wie Jünger selbst, empfindet der Protagonist der Erzählung, Leutnant Sturm, der unverkennbar autobiografische Züge des Autors trägt, dieses »Doppelspiel der Leidenschaft« als »Unglück: Viel lieber hätte er sich entweder als einen Mann der reinen Tat gesehen, der sich des Hirnes nur als Mittel bediente, oder als einen Denkenden, dem die Außenwelt lediglich als ein zu Betrachtendes von Bedeutung war.«21 Diesen offenen Zwiespalt, der nicht zuletzt auch einen Großteil der polarisierenden Kraft von Jüngers Frühwerk ausmacht, wird Jünger dann wieder sechs Jahre später im Abenteuerlichen Herzen aufgreifen. Inmitten eines langen autobiografischen Exkurses beschwört er zunächst den Wert der mußevollen Einsamkeit und den »Frieden der Bibliotheken« bevor er zu einer recht entwaffnenden Selbsterkenntnis anhebt: Aber ach, ich will es mir gestehen, dass ich stets zu den anderen von nicht so ruhiger Natur gehörte, denen es nicht liegt, sich von den Einzelheiten des Lebens zurückzuziehen, und die, wenn sie eine Zeit ausgerastet haben, die Angst befällt, dass die Entscheidungen draußen ohne sie geschlagen werden könnten.22

Im Dritten Reich wird sich für Jünger schließlich diese Angst umkehren. Jetzt befürchtet er nicht mehr, dass Entscheidungen ohne ihn ›geschlagen werden‹, sondern vielmehr, dass durch die Propaganda der Nazis in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen könnte, als würden ihre Entscheidungen und Verordnungen auch mit seiner Zustimmung getroffen.23 Jünger verhält sich darum in den ersten Monaten nach der Machtübernahme wie auch in den folgenden zwölf Jahren des Dritten Reiches den Nationalsozialisten gegenüber im besten Falle distanziert beobachtend. Die Angst davor, von den ›Verächtern des Geistes‹ und der Humanität in irgendeiner Form ausgezeichnet und damit vereinnahmt zu werden, lässt ihn im Laufe der 1930er Jahre äußerst diffizile Formen der ›verdeckten Schreibweise‹ entwickeln, denen man ein erhebliches regimekritisches Potenzial nicht absprechen kann.24 Eine erst nach dem Zweiten Weltkrieg schriftlich niedergelegte Maxime dient ihm dabei als unausgesprochenes Richtmaß seiner Autorschaft im Schatten des Hakenkreuzes: »Man kann nicht vermeiden, dass man angespuckt wird, wohl aber, dass man sich auf die Schulter klopfen lässt.«25 20 Vgl. dazu Schöning: Ernst Jünger-Handbuch, S. 64. 21 Jünger, Ernst: Sturm, SW 18, S. 31. 22 Jünger, Ernst: Das Abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht [=AH1], SW 11, S. 55. 23 Zu Jüngers zahlreichen Absagen an offizielle wie inoffizielle Organe und Medien des neuen Regimes vgl. Kiesel: Ernst Jünger, München 2007, S. 407–423. 24 Vgl. dazu Eibl: Der Waldgang des ›Abenteuerlichen Herzens‹, S. 28 und Weber, Jan ­Robert: Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher (1934–1960), Berlin 2011, S. 103. 25 Jünger, Ernst: Autor und Autorschaft, SW 16, S. 34.

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Während er noch bis 1932 den Beginn eines neuen ›Arbeiter‹-Zeitalters begrüßte und auch den damit einhergehenden rasanten technischen Fortschritt bejahte, werden für ihn nun die negativen Folgen der weltweiten Perfektionsund Rüstungskampagnen evident. Das Massenzeitalter, dessen Bedrohlichkeit für Originalität und Eigenständigkeit der spanische Kulturphilosoph José Ortega y Gasset schon in seiner 1930 erschienenen Abhandlung Der Aufstand der Massen sinnreich diagnostiziert hatte, erweist sich für Jünger  – entgegen seiner früheren, kollektivbejahenden Überzeugungen  – nun immer mehr als wertebefreites Gegenzeitalter zu dem des Individuums und des Künstlers. Spätestens seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird es ihm zum vehement vertretenen Anliegen, dieser Ära des technisch perfektionierten Uniformismus tiefere, will heißen, schöpferische und metaphysische Produktivkräfte entgegenzusetzen – Kräfte, die für Jünger sowohl im eigenen Inneren zu entfesseln sind (dem Kern der Persönlichkeit), die aber auch im Eingreifen höherer Mächte sichtbar werden können, wenn menschliche Kräfte versagen. In einer Passage der 1939 im Deutschen Reich erschienenen hochsymbolischen Zeitparabel Auf den Marmorklippen,26 blickt Jünger mit den Augen des Erzähler-Ichs recht unverblümt auf seine eigene nationalrevolutionäre Zeit zurück und dekuvriert ihre tieferliegenden Ursachen: Wir spürten Sehnsucht nach Präsenz, nach Wirklichkeit und wären in das Eis, das Feuer und den Äther eingedrungen, um uns der Langeweile zu entziehen. Wie immer, wo der Zweifel sich mit Fülle paart, bekehrten wir uns zur Gewalt. […] Also begannen wir von Macht und Übermacht zu träumen und von den Formen, die sich kühn geordnet im Gefecht des Lebens aufeinander zubewegen, sei es zum Untergange, sei es zum Triumph. Und wir studierten sie mit Lust, wie man die Ätzungen betrachtet, die eine Säure auf den dunklen Spiegeln geschliffener Metalle niederschlägt. Bei solcher Neigung war es unvermeidlich, dass die Mauretanier sich uns näherten.27

Und mit den Worten Othos, des weiseren und wohl auch etwas älteren der beiden Brüder, die in edler Einfalt und stiller Größe die ›Rautenklause‹ hoch über der ›Großen Marina‹ bewohnen, weist Jünger seine eigene nationalrevolutionäre 26 Wir folgen hier der Einschätzung Dolf Sternbergers, der die Marmorklippen für »das kühnste Erzeugnis der Schönen Literatur, das während der Zeit des Dritten Reiches in Deutschland ans Licht getreten ist«, hielt. Vgl. dazu Ders.: Eine Muse konnte nicht schweigen. In: FAZ , Nr. 128, 4. Juni 1980, S. 25. Ebenso sei hier auf die Einschätzung Paul Weinreichs, des zuständigen Lektors der Hanseatischen Verlagsanstalt zur Zeit des Erscheinens des Buches, hingewiesen: »Die meisten Leser empfanden das Buch als Gleichnis ihrer Lage, als Brevier für das Leben unter der Diktatur, als letztes Aufleuchten alter Ordnungen und als Abschied, der dennoch nicht ohne Ermutigung war.« Paul Weinreich am 20. Mai 1973. Zit. n. Jünger, Ernst: SW 6, Siebzig verweht III , 237. Zur Entstehung, Deutung und Rezeptionsgeschichte der Marmorklippen vgl. insb. die neueste Edition der Marmorklippen, hg. v. Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Auf den Marmorklippen. Roman. Mit Materialien zu Entstehung, Rezeption und Debatte. Stuttgart 2017. 27 Jünger Ernst: Auf den Marmorklippen, SW 18, S. 266.

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Zeit im Rückblick als »Irrtum« aus, der allerdings »erst dann zum Fehler würde, wenn man in ihm beharrt«28. Auch der letzte Satz des erstmals in der Zweitfassung des Abenteuerlichen Herzens aufgenommenen Stücks Die Schleife, in dem Jünger seinen ab 1932 immer weiter kultivierten Zustand geistiger Unantastbarkeit – seine bereits im ›Heroischen Realismus‹ angelegte Lebenshaltung der Désinvolture – anhand der Unterweisungen seines fiktiven Lehrers Nigromontanus29 veranschaulicht, ist in diesem Sinne ebenfalls als eine in den Mantel der Fiktion gehüllte Selbstanklage Jüngers an seiner eigenen nationalrevolutionären Vergangenheit zu lesen: »Es ist leider richtig, dass ich seine Lehren [die Nigromontans, AE] allzu bald vergaß. Anstatt bei meinen Studien zu verweilen, trat ich bei den Mauretaniern ein, den subalternen Polytechnikern der Macht.«30 Hier, in der Zweitfassung des Abenteuerlichen Herzens von 1938, taucht zum ersten Mal der Begriff ›Mauretanier‹ auf, der über die Marmorklippen (1939) bis hin zu Heliopolis (1949) eine Spielart des von Jünger bereits 1932 imaginierten neuen Menschentypus des anbrechenden Arbeiter-Zeitalters darstellt. Dieser wird von Jünger bis ins Spätwerk hinein zunehmend als problematisch betrachtet, weil er im Zuge des technischen Fortschritts und der damit einhergehenden Zerstörung von Restbeständen der ehemaligen Hochkultur, den Nihilismus zum alles bestimmenden wie nivellierenden Glaubensdogma erhebt. Steffen Martus sieht in den ›Mauretaniern‹, die in den Marmorklippen eine tragende Rolle spielen, teils den Typus der Nationalrevolutionäre, teils den der SA , der SS oder den der Reichswehr verkörpert. Getrieben »vom ›Willen zur Macht‹, technisch begabt und moralisch unqualifiziert« symbolisieren die ›Polytechniker der Macht‹ für ihn »den neuen Menschentypus des 20. Jahrhunderts«31. Emotional unterkühlt, berechnend, ehrgeizig und unbeugsam erkennen die Mauretanier nur das Recht des Stärkeren an. Für sie gibt es keine Götter mehr und damit auch kein moralisches Gesetz, an das man sich zu halten hätte. Immerhin Letzteres unterscheidet sie denn doch von vielen ›Konservativen Revolutionären‹, die, um mit Kant zu sprechen, den gestirnten Himmel über sich und das moralische Gesetz in sich, wenn schon nicht als verbindlich, so doch zumindest weiterhin als richtungsweisend anerkennen. * * * Wenden wir uns nun der Lektüre derjenigen literarischen Schrift zu, die wohl mehr als jede andere in Jüngers nationalrevolutionäre Zeit fällt: Das Abenteuerliche Herz. Als erstes genuin dichterisches Werk des Autors stellen die Aufzeichnungen bei Tag und Nacht (so der programmatische Untertitel) eine deutliche 28 Ebd., S. 265. 29 Zur neueren Deutung der Figur Nigromontans als geschickt getarntes Alter Ego des Dichterpropheten Jünger vgl. Eibl: Der Waldgang des ›Abenteuerlichen Herzens‹, S. 139–146. 30 Jünger, Ernst: Das abenteuerliche Herz. Figuren und Capriccios [=AH2], SW 11, S. 201. 31 Vgl. dazu Martus: Ernst Jünger, S. 134.

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Wende in Jüngers Schaffen dar. Eine seltsame Bewusstseinsveränderung schien um das Jahr 1929 herum mit dem bis dahin vor allem radikal-nationalistisch auftretenden Publizisten vonstatten gegangen zu sein. Zur nicht zu unterschätzenden, befremdenden Wirkung des Büchleins auf die Reihen der einstigen politischen Gesinnungsgenossen meint beispielsweise Karl Heinz Bohrer, dass »die betont privatistische Geste des Tagebuchschreibers und Bücherlesers« hier »Erwartungen konsolidieren« musste, »die darauf aus waren, sich gegenüber der politischen Realität ein Reich imaginärer Freiheit« und des »subjektiven Eskapismus« zu sichern.32 In dieser Tradition steht Jüngers Werk ja ohnehin von Anfang an. Der Wandel vom Kriegsschriftsteller und politischen Agitator zum höheren Ordnungen nachspürenden Dichterpropheten blieb selbst dem damaligen Reichspropagandaminister Joseph Goebbels nicht verborgen, der am 7. Oktober 1929 in seinem Tagebuch vermerkt: Gestern früh nach Weimar. Unterwegs Aufsatz geschrieben. Dann Lektüre: Jünger ›Das Abenteuerliche Herz‹. Das ist nur noch Literatur. Schade um diesen Jünger, dessen ›In Stahlgewittern‹ ich jetzt noch einmal las. Die sind wirklich groß und heldisch. Weil ein blutvolles Erleben dahinterstand. Heute kapselt er sich ab vom Leben, und sein Geschriebenes wird deshalb Tinte, Literatur.33

Dass hier Wesentliches für die weitere Werkentwicklung des Autors verhandelt wird, hat Bohrer zum ersten Mal in seiner Habilitationsschrift Die Ästhetik des Schreckens von 1978 überzeugend deutlich gemacht. Indem er Jüngers Frühwerk im kulturgeschichtlichen Kontext der europäischen Spätromantik verortete und dabei den »Schrecken« als den zentralen »Modus ästhetischer Betrachtung« erkannte,34 bahnte er einen Weg für die formalästhetische Untersuchung und Beurteilung der Texte des Abenteuerlichen Herzens, die bis dahin in der Forschung vermehrt politischen Verdikten zum Opfer gefallen waren.35 Dennoch geht man sicher nicht fehl, AH1 weiterhin in enger Verflechtung mit den Textstrategien der früheren politischen Publizistik zu betrachten.36 32 Vgl. dazu Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens: die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München 1978, S. 163. 33 Goebbels, Tagebücher. Zit. Kiesel: Ernst Jünger, S. 339. 34 Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens, S. 181. 35 In der Tat bot die Studie Anlass für eine tiefgreifende Revision der Positionen der früheren Jünger-Philologie. Vgl. dazu Bohrer: Ästhetik des Schreckens sowie Staub, Norbert: Wagnis ohne Welt. Ernst Jüngers Schrift »Das Abenteuerliche Herz« und ihr Kontext. Würzburg 2000, S. 9, der im selben Werk auch einen Abriss über die bisherigen Forschungsergebnisse zu AH1 gibt (S. 6–21). 36 Vgl. dazu vor allem Stöckmann: Sammlung der Gemeinschaft sowie Staub: Wagnis ohne Welt, S. 270 f., hier S. 270: »Es überrascht nicht, dass, was sich in Jüngers Zeitschriftentexten während dreizehn Jahren ansammelt, konzentriert, und ›poetisch‹ differenziert in der Herzensschrift des ehemaligen Soldaten wiederfindet. Diese ist das Gefäß, um das aus den schnell hingeworfenen Gebrauchstexten über den Tag hinaus Ragende zu archivieren.«

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Seit 1927 erscheinen Teile davon mehrfach in Vorabdrucken, darunter in der jungkonservativen Zeitschrift Arminius. Außerdem kreist das Buch weiterhin »um denselben, vitalistisch grundierten Entwurf eines radikalen Nationalismus«37, der im Gros der von Jünger veröffentlichten politischen Artikel bis 1929 zum festen ideologischen Inventar gehört und sich gegen den verhassten Parlamentarismus wie das totgesagte Bürgertum richtet, das in seiner vermeintlich selbstverschuldeten Phlegmatik für einen Nationalisten vom Schlage Jüngers weder das Format, die Kraft oder den Willen besitzt, um im Dienst für die Nation die drängenden Schlachten der Zeit zu schlagen: Entsprechend »expo­ niert die erste Fassung des Abenteuerlichen Herzens in ihren berüchtigten Traum- und Torturbildern« eine »esoterische Kommunikationssituation, die durch die Übergabe hermetischer Zeichen der Sammlung der nationalen Gemeinschaft zuarbeitet«38. Ein anderer, bisher vernachlässigter Aspekt der Aufzeichnungen bei Tag und Nacht scheint allerdings weit bemerkenswerter. In AH1 haben wir es – das ist das entscheidende Moment bei der Beurteilung der inneren Wandlung Jüngers und der damit einhergehenden Konsequenzen für die Beurteilung seines literarischen Werks  – erstmals im Schaffen des Autors mit raffiniert in Szene gesetzten Selbstindividualisierungsstrategien zu tun, die das ostentative Gemein­schaftsdenken früherer Jahre deutlich in den Hintergrund treten lassen. Richtig, das Autor-Ich stilisiert sich hier zum in bedeutenden Zusammenhängen stehenden poeta vates,39 der um sich einen exklusiven Zirkel von Eingeweihten versammelt. Dieser Zirkel von Eingeweihten konstituiert sich aber keineswegs als weitgehend homogene, feststehende Gruppe, wie beispielsweise die nationalrevolutionären Bünde der späten 1920er Jahre. Die von der Stimme des Dichterpropheten oftmals direkt angesprochene40 und für die gemeinsame Sache – die Wiederverzauberung der technischen Welt der Moderne41 – rekrutierte ideale

37 Vgl. dazu den Artikel »Zäsuren und Kontinuitäten des Gesamtwerks« von Stöckmann in: Schöning: Ernst Jünger-Handbuch, S. 32. 38 Ebd. 39 Zu Jüngers vielfältigen Strategien der Inszenierung seiner Autorschaft vgl. Enzian, Felix J.: »Schauer der Ehrfurcht umwehen mich« – Ernst Jüngers Inszenierung seiner Autorschaft und die Resonanz seiner Leser, in: Żarska, Natalia / Diesener, Gerald / Kunicki, Wojciech (Hg.): Ernst Jünger – eine Bilanz, Leipzig 2010, S. 146–157. 40 Sehr schön illustriert die folgende sentenziöse Passage Jüngers Kunst der ungenierten Leservereinnahmung: »Aber alles, was heute um Fahnen und Zeichen, um Gesetze und Dogmen, um Ordnungen und Systeme im Kampf liegt, treibt Spiegelfechterei. Schon dein Abscheu gegen diese Zänkereien unserer Väter mit unseren Großvätern und gegen jede mögliche Art ihrer Lösung verrät, dass es nicht Antworten, sondern schärfere Fragestellungen, nicht Fahnen, sondern Kämpfer, nicht Ordnungen, sondern Aufstände, nicht Systeme, sondern Menschen sind, deren du bedürftig bist.« (AH1, 131) 41 Der entscheidende Schlüsselsatz hierzu findet sich am Ende eines Stücks, in dem der Ich-Erzähler durch ein vergittertes Kellerfenster hindurch einen Maschinenraum betrachtet, in dem sich »ohne jede menschliche Wartung ein ungeheures Schwingrad« um

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Lesergemeinde des Abenteuerlichen Herzens scheint vielmehr vereint zu sein in einer mit Kalkül propagierten Vereinzelung, die für Jünger ihre Wurzel in der höheren Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit des eigenen Strebens zum Wohle der Nation zu besitzen scheint: Man kann sich heute nicht in Gesellschaft um Deutschland bemühen; man muss es einsam tun wie ein Mensch, der mit seinem Buschmesser im Urwald Bresche schlägt und den nur die Hoffnung erhält, dass irgendwo im Dickicht andere an der gleichen Arbeit sind (AH1, 114).

Eine für die intellektuelle Entwicklung Jüngers entscheidende Passage, die zuvor von einer beinahe unauffällig eingestreuten Generalabsage an die Politik eingeläutet wird und damit ein im Vergleich zu früheren publizistisch geäußerten Parolen deutlich gewandeltes Selbstverständnis des Autors markiert: »Gerade dies, das Ausweichen vor der Verantwortung dort, wo sie ernsthaft zu werden beginnt, und das Billige der Erfolge, die heute zu ernten sind, hat mich die politische Tätigkeit sehr bald als unanständig empfinden lassen.«42 Die literarisch wie biografisch inszenierte Abwendung des ehemals großartigen ›Gestalters des Fronterlebnisses‹ und führenden Theoretikers des ›neuen Nationalismus‹ vom in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs zusammengeschweißten Kollektiv der Landsknechte43 tritt im Schreiben Jüngers also erst mit der Publikation der Erstfassung des Abenteuerlichen Herzens bedeutend hervor. Sie deutet damit eine Umkehr des Autors weg von der politischen Gemeinschaft zu einer dem mußevollen Geistesleben verpflichteten Innerlichkeit an. So will der namenlose Ich-Erzähler der Aufzeichnungen bei Tag und Nacht in den »Säulen der Einsiedler […] Monumente einer höchsten Sozietät« erkennen (AH1, 40). Der »Glaube an die Einsamen« entspränge dabei der »Sehnsucht nach einer namenloseren Brüderlichkeit, nach einem tieferen geistigen Verhältnis, als es unter Menschen möglich« sei. Ein tieferes geistiges Verhältnis, als es unter Menschen möglich ist? Ein solches kann der nach der »verborgene[n] Harmonie der Dinge« (AH1, 86) strebende Gegenaufklärer44 letztlich nur unter dem Dach der Religionen finden. Und so geht die in mehreren Werkschritten vollzogene Wende von der actio zur contemplatio bei Jünger konsequenterweise einher mit einer sukzessiven Hinwendung zur Metaphysik, die ebenfalls bei AH1 anzuset-

die eigene Achse dreht: »O du stählernste Schlange der Erkenntnis [die Technik, AE] – du, die wir verzaubern müssen, wenn du uns nicht erwürgen sollst« (AH1, 154). 1929 ist der ›magische Nullpunkt‹ für Jünger bereits passiert. Durch den individuellen wie kollektiven Rückbezug auf die Macht ›höherer Ordnungen‹ sollte es jedoch möglich sein, eine neue ›Welt der Werte‹ gegen die ›Regentschaft der Zahl‹ ins Treffen zu führen. 42 AH1, S. 114. 43 Wie vom bedingungslosen Glauben an die Notwendigkeit und Entscheidungsgewalt politischer Aktionen. 44 Dazu Staub: Wagnis ohne Welt, S. 26: »Wir sind im Ergebnis konfrontiert [bei AH1, AE] mit dem intellektuellen Logbuch eines Bezweiflers der europäischen Vernunfttradition.«

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zen ist45 – und während des Zweiten Weltkriegs dann zu einer groß angelegten Auseinandersetzung mit dem Christentum führen wird.46 Spätestens 1938, so lässt sich behaupten, hat Jünger sich vollends vom romantischen Anarchisten zum konservativen Humanisten gewandelt. Eine bemerkenswerte Beurteilung der Schrift entstammt übrigens den Memoiren eines weiteren Protagonisten der sogenannten ›Konservativen Revolution‹, dem ehemaligen Nationalbolschewisten Ernst Niekisch, der nicht so sehr die traumhafte als die diagnostische und prophetische Qualität des Werks hervorhebt: Jünger zeigte hier, welcher Entwicklung er noch fähig war. Er war nicht mehr Kriegsund Frontdichter, sondern war in die Reihe schöpferischer Denker eingetreten […] Er war ein Seismograph, der die leisesten Beben und Erschütterungen innerhalb des gesellschaftlichen Körpers mit höchster Präzision feststellte. […] Die aufgezeichneten inneren Erlebnisse sind Vorahnungen einer anarchistischen und grausamen Zeit. So war dies Buch ein erster Schatten, den die furchtbaren Dinge vorauswarfen, welche im Anzug waren.47

In der Tat: Aus heutiger Perspektive (der der ›Nachgeborenen‹)48 erstaunt besonders die visionäre Dimension mancher Passagen von AH1, die manchmal ohne jede traumlogische Verklausulierung das Aufkeimen beunruhigender präfaschistischer Entwicklungen im Moloch der Großstädte beim Namen ­nennen.49 45 Hier heißt es allerdings noch betont vage: »Es kommt darauf an, wollen und glauben zu können, ganz abgesehen von den Inhalten, die sich dieses Wollen und Glauben gibt« (AH1, 130). 46 So kommt es während des Zweiten Weltkriegs zu einer zweifachen extensiven Bibellektüre, die in den Strahlungen immer wieder kommentiert wird. Ebenso ist es bezeichnend, dass er sich schon im März 1934 u. a. die 79 Bände umfassende Bibliothek der Kirchenväter besorgt und diese auch geflissentlich studiert. Vgl. dazu Jünger, Ernst: Auf den Marmorklippen: Roman. Mit Materialien zu Entstehung, Hintergründen und Debatte hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 2017, S. 311. Ihren konsequenten Abschluss findet diese Annäherung dann im Jahr 1996, als der ehemalige Protestant Jünger sich zwei Jahre vor seinem Tod sogar noch taufen lässt, um damit dann auch ganz offiziell zum Katholizismus zu konvertieren. Zu Jüngers Autorschaft als »transzendentale Sinnsuche« vgl. neuerdings Rubel, Alexander: Die Ordnung der Dinge. Ernst Jüngers Autorschaft als transzendentale Sinnsuche, Würzburg 2018. In Jüngers spiritueller Entwicklung stellt auch Der Arbeiter von 1932 keinen Bruch dar. Auch hier spielen mythische und metaphysische Kräfte eine bedeutende Rolle. Vgl. dazu SW 10, S. 207: »Es gibt keinen Ausweg, kein Seitwärts und Rückwärts; es gilt vielmehr, die Wucht und die Geschwindigkeit der Prozesse zu steigern, in denen wir begriffen sind. Da ist es gut, zu ahnen, dass hinter den dynamischen Übermaßen der Zeit ein unbewegliches Zentrum verborgen ist.« 47 Vgl. dazu Niekisch, Ernst: Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs. Band 1: Gewagtes Leben 1888–1945. Köln 1974, S. 188. 48 Um eine gelungene Begriffsschöpfung von Friedrich Denk zu bemühen. Vgl. dazu Denk, Friedrich: Die Zensur der Nachgeborenen. Zur regimekritischen Literatur im Dritten Reich. 3. Aufl., Weilheim 1996. 49 Vgl. dazu exemplarisch diese Passage in Jünger: AH1, S. 79: »[…] die völlige Ausschneidung des moralischen Bewußtseins bringt einen seltsamen Zustand hervor, in dem der

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In seiner selbst gewählten Funktion als akribischer Registrator gesellschaftspolitischer Umwälzungen und Diagnostiker des endgültigen Untergangs des alten Europa erweist sich Jünger hier als weit präziser und hellsichtiger als viele seiner schreibenden Zeitgenossen. In der Beurteilung Niekischs sticht besonders die Metapher des Seismo­ graphen ins Auge. Sie wird von Jünger an prominenter Stelle im Vorwort zu den 1949 erschienenen Strahlungen bemüht, um die Unausweichlichkeit der Katastrophe des europäischen Faschismus herauszustellen, der gleich einem »Erdbeben« das Land und dann später Europa überrollte, ohne dass man ihm – folgt man diesem fatalistischen, von Oswald Spengler beeinflussten Geschichtsbild – wirklich Einhalt hätte bieten können: »Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein. Man kann jedoch die Barometer nicht für die Taifune büßen lassen, falls man nicht zu den Primitiven zählen will.«50 Fürwahr, ein Erdbeben kann man nicht verhindern, man kann es nur im Vorfeld registrieren, um dann möglichst wirksame Maßnahmen zu ergreifen, sich selbst und die Seinen, soweit es geht, davor in Sicherheit zu bringen. Eine Argumentationsfigur, die für Freunde feinsinniger Rabulistik sicherlich nicht einer gewissen Logik entbehrt, die dennoch aber aus mehreren Gründen als problematisch zu erachten ist,51 hatte sich Jünger doch Mitte der 1920er Jahre, zur Zeit seiner nationalrevolutionären Publizistik, nicht nur als Registrator der epochalen Destruktionsprozesse, sondern vor allem als einer ihrer intellektuellen Motoren profiliert. Bei der bloßen Erfassung der Zerstörung von liberalen Gesellschaftsvorstellungen und demokratischen Anschauungen war es damals leider nicht geblieben, was Jünger sich und seinen Lesern in den Werken ab 1938 auch mehrfach implizit eingesteht. So weist auch eine Stelle in den Marmorklippen auf die im Nachhinein als unglücklich zu betrachtende Verstrickung Jüngers in die Gemeinschaft der nationalrevolutionären Bünde hin: »Wer sich den trügerischen Blüten, die dem Sumpf entsprossen waren, nahte, verfiel dem Banne, der die Niederung regiert; und schon so manchen sahen wir in unseren Mauretanierzeiten untergehen, dem ein großes Schicksal winkte – denn in solchen Ränken verfängt am ersten sich der hohe Sinn.«52 Doch auch schon zehn Jahre zuvor, in AH1, finden sich Passagen, die den selbstzerstörerischen Impetus der nationalrevolutionären Jahre klar als solchen Mensch aus einem Diener des Bösen in eine Maschine des Bösen verwandelt wird. Daher kommt es, dass das Individuum einen mechanischen, das ganze Getriebe aber einen satanischen Eindruck erweckt.« 50 Jünger, Ernst: Strahlungen. Vorwort, in: SW 2, S. 13. 51 Dazu auch Bohrer: Ästhetik des Schreckens, S. 17: »Die Berufung auf den ›Seismographen‹ erledigt keineswegs die Frage nach der präfaschistischen Affinität.« Zu Jüngers Geschichtsbild vgl. Kiesel, Helmuth: Zwischen Kritik und Affirmation. Ernst Jüngers Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn / München / Wien 1997, S. 163–172. hier S. 169 f. 52 Jünger, Ernst: Auf den Marmorklippen [=MK], SW 18, S. 286.

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ausweisen: »Wir haben stramm nihilistisch einige Jahre mit Dynamit gearbeitet und, auf das unscheinbarste Feigenblatt einer eigentlichen Fragestellung verzichtend, das 19. Jahrhundert – uns selbst – in Grund und Boden geschossen« (AH1, 133). Gleichzeitig stoßen wir hier aber auch weiterhin auf befremdende Passagen, die die nihilistischen Tendenzen des Jahrhunderts zu bejahen scheinen. Der Krieg hat in der geistigen Physiognomie Jüngers unauslöschliche Spuren hinterlassen.53 Vier Jahre Weltkriegserfahrung und die anschließende, beständig auch publizistisch vorangetriebene Rechtfertigung der großen Materialschlachten als schicksalhafter Bewährungsraum des Frontsoldaten für die Nation54 werden noch 1929 in Sätzen wie diesen greifbar: So empfinde ich ein inniges Vergnügen bei dem Gedanken an das von Chateaubriand so ärgerliche Wort von der Consomption forte, vom starken Verzehr, das Napoleon zuweilen in jenen für den Feldherrn untätigen Augenblicken der Schlacht zu murmeln pflegte. […] Das sind so Worte, die man nicht missen möchte, Fetzen von Selbstgesprächen an magischen Schmelzöfen, die glühen und zittern, während im rauchenden Blute der Geist in die Essenz eines neuen Jahrhunderts überdestilliert (AH1, 113).

Für den flanierenden Bibliomanen, der sich gleichzeitig als aufmerksamer Voyeur des großstädtischen Seelenlebens entlarvt, ist das Leben noch »durchaus kriegerisch« (AH1, 61). Die »moderne Humanität«, diese »Similisonne des Menschentums« ist »den guten und bösen Geistern, den Höhen und Abgründen gleich weit entfernt«. Es sei »unmöglich an ihr teilzuhaben […], insofern man Krieger, Gläubiger oder Dichter, Mann, Weib oder Kind« sei (AH1, 151). Überhaupt sei »mit Leuten, die nur die Kassenschränke im Auge haben, […] schlecht auf Abenteuer zu ziehen« (AH1, 162). Auch das Mitleid – hierin folgt Jünger 1929 noch seinem philosophischen »Erwecker« Nietzsche – ist nichts für jemanden, der »die heroische Weltanschauung« (AH1, 159 f.) für sich selbst als verbindlich betrachtet, denn »[s]elbst im tödlichsten Haß liegt noch eine tiefere Liebe, eine stärkere Erfüllung unserer Verantwortung, als in einer mechanischen Geschäftigkeit« (AH1, 132). Und so nimmt das unbarmherzige Erzähler-Ich mit »Freude […] wahr, wie die Städte sich mit Bewaffneten zu füllen beginnen und wie selbst das ödeste System, die langweiligste Haltung auf kriegerische Vertretung nicht mehr verzichten kann«. Mit der dynamischen Formel von der ›mechanischen Geschäftigkeit‹ der Gegenwart begegnen wir hier in AH1 ersten Vorüberlegungen und Bestandsaufnahmen zur Phänomenologie des ›Arbeiterzeitalters‹, die Jünger dann 1932 in den Arbeiter einfließen lassen wird. So charakterisiert Jünger Ende der 1920er Jahre das Leben in den pulsierenden Großstädten des westlichen Abendlands – 53 Vgl. dazu Müller, Hans-Harald: »Im Grunde erlebt jeder seinen eigenen Krieg.« Zur Bedeutung des Kriegserlebnisses im Frühwerk Ernst Jüngers, in: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. v. Hans-Harald Müller und Harro Segeberg. München 1995, S. 13–38. 54 So zum Beispiel in Kriegsbüchern wie Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) und Feuer und Blut (1925).

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für ihn »Stätten der kompliziertesten Barbarei« (AH1, 98) – als äußerst sterile und emotionslose Angelegenheit und hebt insbesondere den ›automatischen‹ Charakter des Massenzeitalters hervor, »in dem kein Atom mehr möglich erscheint, das nicht in Arbeit ist« (AH1, 154). Den »Erscheinungen und Menschen« dieser »absoluten Zivilisation« hafte etwas »seltsam Konserviertes« an: »Der moderne Sport, der Vergnügungs-, Literatur-, Museums- und Hygienebetrieb« und alles, was dazu gehöre, entspräche »einer arktischen Zone des Gefühls« (AH1, 78). Für ›abenteuerliche Herzen‹, die sich den Wundern der Welt weder verschließen können noch wollen, stelle »diese völlige Neutralität, diese totale Farbenblindheit der Zivilisation« denn auch eine »letzte Konsequenz des Bösen« dar. Jünger erkennt und benennt hier zum ersten Mal den mit dem rasanten technischen Fortschritt einhergehenden und immer deutlicher sich abzeichnenden allgemeinen Verlust von Ethos und Würde und weist damit in der Tat, wie Niekisch behauptet, auf die »furchtbaren Dinge« voraus, die 1929 bereits »im Anzug waren« und ab 1933 dann ganz ungeniert die »Maske der Ordnung« annahmen:55 [D]ie völlige Ausscheidung des moralischen Bewußtseins bringt einen seltsamen Zustand hervor, in dem der Mensch aus einem Diener des Bösen in eine Maschine des Bösen verwandelt wird. Daher kommt es, dass das Individuum einen mechanischen, das ganze Getriebe aber einen satanischen Eindruck erweckt (AH1, 79).

Eine eindringlichere Charakterisierung des noch in den Kinderschuhen steckenden Hitlerstaats ließ sich 1929 wohl kaum denken. Die Keimzelle dieses Bösen erkennt Jünger vor allem in dem seit der Aufklärung immer mächtiger hervortretenden »Siegeszug der wissenschaftlichen Methode« (AH1, 104), der ein allgemeines »Behagen an einer sich der Formen einer scheinbaren Ordnung bedienenden Anarchie« (AH1, 105) hervorruft. So schlösse man in aller wissenschaftlichen Harmlosigkeit und in der exakten Haltung von Beamten, die ihre Kontrolluhr stechen, recht dunklen und längst zum Hauptportal hinausgejagten Existenzen die Hintertüren auf. Ohne Zweifel dringt ein peinlicher Hintertreppengeruch langsam bis in die Staatsgemächer vor. […] Neue Zeichen pflegen sich unter der Kapuze einzuschleichen; die Hintertreppe ist ihr gegebener Weg, und an den Tagen der Bastillestürme ist alles Wesentliche längst geschehen (AH1, 108).

Ganz ähnlich heißt es etwas weiter im Text: »Wie geschäftig sperrt man der Scharlatanie, den verspäteten Cagliostros und Saint-Germains, die Torflügel auf. Dies ist die Stunde, in welcher der Arzt und der Quacksalber sich in der Türe begegnen, die Stunde entre chien et loup« (AH1, 112). In Sätzen wie diesen 55 In den Marmorklippen heißt es in Bezug auf die Machtergreifung des Oberförsters an der Marina: »Wohl gab es in den Magistraten Köpfe, die das Spiel durchschauten, doch fehlte ihnen, es zu hindern, die Gewalt. […] Damit begann der Schrecken ganz und gar zu herrschen und nahm die Maske der Ordnung an« (MK , 39).

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drückt sich Jüngers während der turbulenten Jahre des Übergangs zwischen dem Untergang der Weimarer Republik und der Herrschaft des Hakenkreuzes gefasste Überzeugung aus, dass im Zeitalter der massenmedialen Verführung keine großartigen Führerfiguren mehr vonnöten seien, um die Menge zu begeistern und sie für ihre Zwecke einzuspannen. So schreibt er beispielsweise 1934 im Epigrammatischen Anhang zur Anthologie Blätter und Steine, der von kaum getarnten Invektiven gegen die nationalsozialistischen Machthaber nur so strotzt:56 »Bei den feinsten Schachzügen des Weltgeistes rücken die unbedeutenden Figuren vor.«57 Hannah Arendts 1961 im Zusammenhang mit dem damals weltweit aufsehenerregenden Eichmann-Prozess geprägte Formel von der ›Banalität des Bösen‹ wird bei Jünger scheinbar auf beunruhigende Weise antizipiert. In einer Welt ohne theologische Grundierung wird der Massenmord schnell zur reinen Verwaltungssache  – das scheint auch dem Ich-Erzähler des Abenteuerlichen Herzens bereits intuitiv klar zu sein. Die Weichen dazu werden bereits Ende der 1920er Jahre gestellt. Hellsichtig in Bezug auf den erst zehn Jahre später eintretenden Zweiten Weltkrieg ist auch die folgende Antizipation Jüngers: »Man spürt keine gute Witterung – einen foetor germanicus, in dem der Hauch künftiger, chaotischer Schlachtfelder zu schlummern scheint« (AH1, 135). Bei all dem existenziellen Schrecken, den das Erzähler-Ich – »durch den großen Prozeß vereinzelt und heimatlos geworden«58, wie es später im Waldgang heißen wird – mehr dunkel vorausahnt, als mit sicherer Gewissheit zu behaupten imstande ist, gibt es nur ein Prinzip, das es dem Träumer erlaubt, seine individuelle Freiheit zu bewahren und sich im bevorstehenden Weltenbrand würdig zu halten: »Erwachen und Tapferkeit« (AH1, 80). Was die im Frühjahr 1933, kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, mit großem Pomp inszenierten Bücherverbrennungen und die damit verbundenen »Säuberungen« betrifft, die in nicht wenigen Fällen mit der Liquidierung der proskribierten Autoren endeten,59 musste die prognostische Weitsicht Jüngers 1929 freilich versagen. Zu unvorstellbar war das Ausmaß der Vernichtung, mit dem die Nationalsozialisten den deutschen Geist bedrohten:60 56 Drei prägnante Beispiele seien hier herausgegriffen: »Die schlechte Rasse wird daran erkannt, dass sie sich durch den Vergleich mit anderen zu erhöhen, andere durch den Vergleich mit sich selbst zu erniedrigen versucht«  – »Der Angriff gegen die Autorität beginnt durch Akklamation« – »Die falschen Propheten werden durch übertriebenes Lob zum Platzen gebracht.« Laut Paul Weinreich hätten vor allem letztere drei Epigramme im Amt Rosenberg für Empörung gesorgt. So wertete man sie sogar »als direkte[n] Angriff auf den Führer«. Vgl. dazu den abgedruckten Bericht Weinreichs in Jüngers Tagebuch Siebzig verweht III , SW 6, S. 235. 57 Jünger, Ernst: Blätter und Steine. SW 14, 519–526, hier S. 523. 58 Jünger: Waldgang, S. 306. 59 Dazu Kiesel: Ernst Jünger, S. 221. 60 Zu den Bücherverbrennungen vgl. die weiterhin lesenswerte Monografie von Krockow, Christian Graf von: Scheiterhaufen. Größe und Elend des deutschen Geistes, Berlin 1983.

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»Es ist nicht mehr die Zeit, in der man Bücher – und nicht die schlechtesten! – durch den Schinder verbrennen ließ. Diese Verbrennung kann heute nur im Herzen geschehen, das sich viel zumuten muß« (AH1, 169). Welch ein Irrtum! Diese Zeiten waren gerade wieder im Kommen. Es bereitete sich »die Stunde der Rattenfänger vor, der großen Zauberer, denen die alten furchtbaren Melodien überliefert sind« (AH1, 149). Auf höchst tragische Weise sollte der alte Heine in seinem Almansor recht behalten: »Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende Menschen.«61 1938 dann  – im Jahr der ›Reichskristallnacht‹ und der Zerstörung der Synagogen – sieht auch Jünger die Lage mit deutlich verändertem, konservativ-gewandeltem Blick. Ihm geht es nun nicht mehr, wie noch zu Zeiten seines nationalrevolutionären Bürgerlichkeitshasses, um die ›Umwertung aller Werte‹ der europäischen Tradition, sondern vor allen Dingen um deren Fortbestand, den er akut gefährdet sieht. So wird er in der Zweitfassung des Abenteuerlichen Herzens im Stück In den Museen gleichsam mit ›geläutertem Herz‹ schreiben: Wo die Dinge bis zum Äußersten gediehen sind und wo die sonst tief unterdrückten Kräfte frei werden, die nicht dieser oder jener Form der Ordnung entgegen sind, sondern der Ordnung an sich. In solcher Zerrüttung kommt es neben der Öffnung der Gefängnisse und der physischen Zwingburgen sogleich auch zum Brande der Bibliotheken und Sammlungen, in denen der Pöbel mit Recht Palladien der Gesittung erblickt. Der wahllose Bildersturm ist immer ein Anzeichen für das Wanken der Grundfesten (AH2, 278).

Schlagen wir noch ein letztes Mal den Bogen zur Erstfassung der Herzensschrift. Diese erweist sich nicht nur als höchst vielschichtiges, sondern vor allem auch als widersprüchliches Buch einer offensichtlichen Zeit des Übergangs, in der die alten Wertordnungen für ihren Autor keine Gültigkeit mehr besitzen, ohne dass bereits neue gefunden wurden, nach denen sich das souveräne Individuum auf seiner lebensphilosophischen Sinnsuche richten könnte.62 Für Jünger ist der »magische Nullpunkt« (AH1, 116 f.)  – der Endpunkt der nihilistischen Entwicklung im Zeitalter der ›Titanen‹ – im Jahr 1929 noch nicht erreicht. Erst in seinem poetologischen Manifest Sizilischer Brief an den Mann im Mond von 1930 (in dem Jünger in der ›Stereoskopie‹ eine neue Art des magischen Sehens propagiert, die bereits in AH1 eingeübt wurde) erscheint eine Wiederverzau­ berung der technischen Welt in naher Zukunft möglich: »Ja, so ist es: Die Zeit hat uns den alten Zaubersprüchen, die lange vergessen, aber immer gegenwärtig waren, wieder nahegebracht. Wir fühlen, wie, zögernd noch, Sinn in das große Werk einzuschießen beginnt, an dem wir alle schaffen, das uns im Banne hält.«63 61 Heine, Heinrich: Almansor (1823). Zit. Krockow, Scheiterhaufen, S. 9. 62 Zur vom Erzähler-Ich immer wieder postulierten Heraufkunft einer »neuen Welt der Werte« vgl. auch AH1, S. 154. 63 Jünger, Ernst: Sizilischer Brief an den Mond, SW 2, S. 11–22, hier S. 22.

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Doch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten hat sich auch diese Hoffnung für Jünger zerstreut. In dem 1934 in die Anthologie Blätter und Steine aufgenommenen Schlüsselessay Über den Schmerz, der in vielerlei Hinsicht eine bedeutende Vorarbeit zum Waldgang darstellt, lesen wir: Hieraus ziehen wir den Schluß, dass wir uns in einer letzten […] Phase des Nihilismus befinden, die sich dadurch auszeichnet, dass neue Ordnungen bereits weitgehend vorgestoßen, dass aber die diesen Ordnungen entsprechenden Werte noch nicht sichtbar geworden sind.

Bis zur endgültigen Überwindung des ›großen Nichts‹ gilt es darum, die »heroische Weltanschauung« als verbindlich anzuerkennen (AH1, 159 f.) und, damit einhergehend, ein kälteres Bewusstsein zu entwickeln, das es erlaubt, dem Schmerz und der Unbill der Zeit zu trotzen.64 So heißt es 1934 – noch ganz oder bereits wieder – im apokalyptischen Ton des Abenteuerlichen Herzens wie des Arbeiters, der ›Einzelne‹ müsse sich »trotz allem an der Rüstung beteiligen – sei es, dass er in ihr die Vorbereitung zum Untergang erblickt, sei es, dass er auf jenen Hügeln, auf denen die Kreuze verwittert und die Paläste verfallen sind, jene Unruhe zu erkennen glaubt, die der Errichtung neuer Feldherrnzeichen vorauszugehen pflegt.«65 In der Imagination »neuer Feldherrnzeichen« gibt Jünger seinen Lesern allerdings ein Jahr nach der Machtergreifung zu verstehen, dass das ›Dritte Reich‹, entgegen der Meinungen seiner optimistischen Führungsspitze, erfreulicherweise nicht als eine Angelegenheit von tausendjähriger Dauer zu betrachten sei. In der aus dem Schluss des Essays sich ergebenden Handlungsanweisung an den Leser, sich trotz allem an den allgemeinen Rüstungstendenzen zu beteiligen, steckt die – freilich nicht offen artikulierte – Überzeugung, dass es für das nicht direkt bedrohte Individuum weit besser sei, den Kampf gegen das heraufziehende Unrecht aufzunehmen, als den zunächst als würdiger und vernünftiger erscheinenden Weg in die Emigration zu wählen. Eine wichtige Stelle im rund achtzehn Jahre später erschienenen Waldgang liest sich wie die verspätet nachgereichte Begründung dieser Überzeugung, auszuharren, egal was kommen mag – selbst wenn man dabei auf ›Verlorenem Posten‹ steht. Demnach könne auch das Leben im Exil für den Einzelnen keine echte Sicherheit bieten. Existenzielle und moralische Gefährdungen sind auch hier nicht auszuschließen: Es wächst die Zahl derjenigen, die das Schiff verlassen wollen und unter denen auch scharfe Köpfe und gute Geister sind. Im Grunde heißt das, auf hoher See aussteigen. Dann kommen der Hunger, der Kannibalismus und die Haifische, kurz, alle 64 Wie wir bereits gesehen haben, wird der ›Heroische Realismus‹ dann im Arbeiter zur notwendigen Bewährungsethik des von Jünger imaginierten ›neuen Menschen‹ erhoben: Das künftige ›Geschlecht‹ des Arbeitszeitalters, so heißt es hier, müsse sowohl die »Arbeit des Angriffs wie die des Verlorenen Postens« kennen, aber bei allem Tun müsse dabei »von untergeordneter Bedeutung sein, ob das Wetter besser oder schlechter wird« (A, 86). 65 Jünger: Blätter und Steine, S. 191

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S­ chrecken, die uns vom Floße der ›Medusa‹ berichtet sind. Es ist daher auf alle Fälle rätlich, an Bord und auf Deck zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, dass man mit in die Luft fliegen wird. (W, 319)

Wir sehen: Jünger legt auch nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs seinen in den Schützengräben von Flandern bereits in Ansätzen kultivierten und dann im Arbeiter von 1932 zur lebensphilosophischen Doktrin erhobenen ›heroischen Realismus‹ keineswegs ad acta. Im ›Waldgang‹, zu dem er sich ab 1933 entschließt, modifiziert er ihn jedoch dahingehend, dass die nihilistischen Destruktionsprozesse der Moderne zwar weiterhin ohne Furcht in ihrem vollen Ausmaß geschaut werden sollen. Der souveräne Einzelne könne sie nun aber nicht mehr bedingungslos bejahen, sondern müsse heroisch genug sein, Widerstand gegen sie zu leisten. Auch wenn der Kampf um die individuelle Freiheit en gros nahezu aussichtslos erscheinen mag: Im Einzelnen und für den Einzelnen kann er durchaus eine bedeutende Wirkung entfalten. In der »Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem technischen Kollektiv und seiner Welt« (W, 307) gerinnt gerade das Schreiben und Publizieren unvermutet zum ›Waldgang‹: »Indem der Autor in ihre Tiefe eindringt [des technischen Kollektivs und seiner Welt, AE], wird er selbst zum Waldgänger, denn Autorschaft ist nur ein Name für Unabhängigkeit.« Damit wird der Schriftsteller, der noch ein »ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit besitzt«66 (W, 306), unwillkürlich zum »Gegenspieler des Leviathans« (W, 312). Um ein Unrechtsregime zu stürzen, bedarf es freilich tatkräftiger Persönlichkeiten und mutiger Aktionen – das scheint auch Jünger zu Beginn der 1950er Jahre klar geworden zu sein. Das »Vertrauen auf die reine Imagination« führe zwar »zum geistigen Siege« (W, 314), reiche aber nicht aus, um die Unterdrücker zu bezwingen und damit wieder die gewohnten freiheitlichen Verhältnisse des Rechtstaats herzustellen. In der in AH1 formulierten Auffassung Jüngers, dass Philologie oder Literatur eine »feinere Art der Kriegsgeschichte« sei (AH1, 126), steckt dennoch die Erkenntnis, dass das Wort eine Waffe sein kann, die sich bei veränderter Witterung ganz plötzlich und unvermutet auch gegen denjenigen richtet, der sie in der Vergangenheit gegen andere zu instrumentalisieren verstand.67 Das 66 Die Definition des ›Waldgängers‹ gibt Jünger im 12. Kapitel des Waldgangs: »Waldgänger aber nennen wir jenen, der, durch den großen Prozeß vereinzelt und heimatlos geworden, sich endlich der Vernichtung ausgeliefert sieht. Das könnte das Schicksal vieler sein – es muß also noch eine Bestimmung hinzukommen. Diese liegt darin, dass der Waldgänger Widerstand zu leisten entschlossen ist und den, vielleicht aussichtslosen, Kampf zu führen gedenkt. Waldgänger ist also jener, der ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit besitzt, das sich, zeitlich gesehen, darin äußert, dass er dem Automatismus sich zu widersetzen und dessen ethische Konsequenz, den Fatalismus, nicht zu ziehen gedenkt« (W, 306). Der ›Waldgänger‹ hat sich damit vom ›heroischen Realisten‹ emanzipiert. 67 Dazu auch Kiesel: Ernst Jünger, S. 346: »Literatur war für Jünger ja auch kein Gegensatz zur Politik, sondern eher die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln oder die Vorbereitung von Politik mit Mitteln der Literatur.«

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richtige Wort zur rechten Zeit kann also eine bedeutende Vorarbeit leisten, um das ideologische Fundament einer Diktatur ins Wanken zu bringen. Erst dann kann eine echte Revolution gelingen. Ganz in diesem Sinne heißt es 1951 im Waldgang: »Das ist der Grund, aus dem wir auf die Dichter angewiesen sind. Sie leiten den Umsturz ein, auch den Titanensturz. Die Imagination und mit ihr der Gesang gehören zum Waldgange« (W, 314). Wir fassen zusammen: Vom ›nationalistischen Revolutionär‹ der frühen und mittleren 1920er Jahre hat sich Jünger von 1933 bis 1951 – gleichsam im Krebsgang fortschreitend  – zum ›revolutionären Konservativen‹ gewandelt. Ohne Übertreibung kann Der Waldgang als Manifest dieser neuen Ästhetik des Wider­stands gelten. Anstatt den fortschreitenden Nihilismus ›heroisch‹ zu bejahen, wird nun im Gegenteil gefordert, ihn »Jetzt und Hier«68 auf den Schlachtfeldern des Geistes metaphysisch gewappnet zu bekämpfen. Wie wir gesehen haben, wiesen bereits die Erstfassung des Abenteuerlichen Herzens und der Arbeiter in diese Richtung. Eine metaphorisch erhellende Maxime aus den Adnoten zum »Arbeiter« von 1964 soll uns zum Abschluss sowohl als pointierte Selbstbilanz von Jüngers zeitpolitischem Engagement bis 1932 wie seiner Zugehörigkeit zur Gruppierung der ›Konservativen Revolution‹ gelten: »Auf irgend einem trüben Bahnhof mußte man in den Zug einsteigen – als Nationalist oder Bolschewik, als Revolutionär oder als Soldat, im Dienst obskurer Geister oder Theorien – es fragt sich nur, wie weit man mitfahren will.«69

68 So lautet der »Wahrspruch« des ›Waldgängers‹. Vgl. SW 9, S. 344. 69 Jünger, Ernst: Adnoten zum »Arbeiter«, in: Maxima – Minima, SW 10, S. 322.

Peter Langemeyer, Østfold

Carl Hauptmann, »Der Kunstwart« und die ›Konservative Revolution‹ 1 Am 25. April 1903 schreibt Ferdinand Avenarius, der Gründer und Herausgeber der Zeitschrift »Der Kunstwart« und Vorsitzende des im Jahr zuvor von ihm ins Leben gerufenen Dürerbundes aus Dresden-Blasewitz an den schlesischen Dichter Carl Hauptmann nach Schreiberhau im Riesengebirge: Lieber Herr Doctor! Nicht wahr, Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Ihren Wirklichkeits-Vortrag im Kw. abdrucke? Callwey schreibt mir, dass es ihm sehr angenehm wäre, weil sich dadurch unzweifelhaft eine Belebung des Absatzes erzielen ließe. Und mir wär’s eine ganz besondere Freude, zumal der Vortrag geradezu Leitsätze auch für unsere Bestrebungen enthält. Ich bitte Sie sehr darum.1

Gegen den Abdruck seines im Februar 1902 auf Einladung des Giordano BrunoBundes im Berliner Rathaus gehaltenen Vortrags, der noch im gleichen Jahr im Münchner Verlag von Georg D. W. Callwey publiziert worden war,2 hatte der Autor tatsächlich nichts einzuwenden, und bereits im ersten Juliheft des Jahres 1903 erschien der Essay Unsere Wirklichkeit, stilistisch leicht überarbeitet, in Avenarius’ Periodikum.3 Für Carl Hauptmanns Interesse an einer Veröffentlichung seines Essays im »Kunstwart« dürfte es verschiedene Gründe gegeben haben. Zum einen hatte ihn sicher die Aussicht auf ein großes Publikum gereizt. Nach der Jahrhundert1 Postkarte (handschriftlich), Akademie der Künste, Berlin, Carl Hauptmann-Archiv 134. Die Unterstreichungen im Original sind durch Kursive wiedergegeben. Ich danke der Akademie der Künste und besonders Frau Helga Neumann für Auskünfte und die Genehmigung zum Abdruck. 2 Hauptmann, Carl: Unsere Wirklichkeit. Vortrag, München 1902. – Zum ›Giordano Bruno Bund für einheitliche Weltanschauung‹, wie der offizielle Name unter Anspielung auf den Monismus lautete, vgl. den Artikel von Bruns, Karin in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde, 1825–1933, hg. von Wulf Wülfing, u. a., Stuttgart u. a. 1998 (Repertorien zur Deutschen Literaturgeschichte, Bd. 18), S. 163–175. 3 Hauptmann, Carl: Unsere Wirklichkeit, in: Der Kunstwart 16 (1903), H. 19, S. 293–305. Die Zeitschrift kann im Internet unter der Adresse https://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/ fachinfo/www/kunst/digilit/artjournals/kunstwart.html abgerufen werden. Hauptmanns Aufsatz findet sich auf https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kunstwart16_2/0375/image [zuletzt aufgerufen am 7. Juni 2021].

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wende hatte sich »Der Kunstwart« zu einer der führenden Kulturzeitschriften des Kaiserreichs entwickelt. Waren es am Ende des 19. Jahrhunderts noch 3000 Abonnenten gewesen, so stieg die Zahl der festen Bezieher bis 1900/01 auf 8000. Mit der Gründung des sich als ›überparteilich‹ verstehenden, bürgerlich-konservativen und ›lebensreformerischen‹ Dürerbundes im Herbst 1902, der Avenarius als organisatorische Plattform für seine pädagogischen und politischen Aktivitäten um den »Kunstwart« diente und in dem auch Hauptmann sich engagierte,4 erhöhte sich die Leserschaft bis 1903 sprunghaft auf 20.000.5 Dagegen hatte die Einzelausgabe des Essays lediglich eine Auflage von 1000 Exemplaren gehabt.6 Zum anderen war Hauptmann vermutlich daran gelegen, seine Beziehungen zu Callwey zu festigen, zu dessen Verlag er im Vorjahr übergewechselt war und der fortan immer wieder dafür sorgte, dass Texte von und über Hauptmann im »Kunstwart« abgedruckt wurden.7 Nicht zuletzt war der Autor zudem wohl selbst davon überzeugt, dass sein Essay mit Avenarius’ Anliegen Gemeinsamkeiten hatte. Worin bestanden diese? Um den weiteren ideengeschichtlichen Zusammenhang zu vermessen und so einen Bogen zum Thema des hier vorliegenden Sammelbandes zu schlagen, ist die Feststellung wichtig, dass Armin Mohler in seiner ebenso umstrittenen wie einflussreichen Basler Dissertation von 1949 eine Verbindung zwischen Avenarius’ »Kulturreform-Bestrebungen mit patriotischen Vorzeichen« und der ›Konservativen Revolution‹ hergestellt hat,8 also mit derjenigen politischen Bewegung, die ihre ideologische Basis im »Kampf gegen die Ideen der Französischen Revolution und damit der europäischen Aufklärung« sieht, besonders gegen den Liberalismus, Rationalismus und Fortschrittsglauben einschließlich des mit ihm verbundenen linear-offenen Entwicklungsmodells,9 und die nach 1918 in die antidemokratischen »rechten 4 Carl Hauptmann wurde 1912 in den Gesamtvorstand des Dürerbundes gewählt (Der neue Gesamtvorstand des Dürerbundes, in: Der Kunstwart 27 [1913], H. 1, S. 32–36, hier S. 33). 5 Dimpfl, Monika: Die Zeitschriften ›Der Kunstwart‹, ›Freie Bühne‹ / ›Neue Deutsche Rundschau‹ und ›Blätter für die Kunst‹: Organisation literarischer Öffentlichkeit um 1900, in: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Einzelstudien, Teil II , hg. im Auftrag der Münchener Forschungsgruppe ›Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1900‹ von Monika Dimpfl u. a., Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 28), S. 116–197, hier S. 137. 6 Laut Eberhard und Elfriede Berger brachte es die Zeitschriftenveröffentlichung des Essays sogar auf 28.000 Exemplare (Carl Hauptmann. Chronik zu Leben und Werk, StuttgartBad Cannstatt 2001 [Hauptmann, Carl: Sämtliche Werke. Wissenschaftliche Ausgabe mit Kommentar, hg. von Eberhard Berger, Hans-Gert Roloff, Anna Stroka. Supplement], S. 136). 7 Zu Texten des Dichters vgl. Berger, Hauptmann, S. 128, 142, 192. Die Belege sind allerdings unvollständig. Hauptmann hat über mehr als zwanzig Jahre im ›Kunstwart‹ publiziert, meist Auszüge aus seinen literarischen Werken. 8 Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland, 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen, Stuttgart 1950, S. 37. 9 Ebd., S. 23, vgl. S. 19 f., 112–116.

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Strömungen zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten« ausläuft.10 Worin lag für Mohler das Verbindungsglied zwischen Avenarius’ »Bestrebungen« und der ›Konservativen Revolution‹? Und schließlich: Weist Hauptmanns Essay Affinitäten mit Denkfiguren dieser Bewegung auf? Soweit die Fragen, auf die im Folgenden eine Antwort zu geben versucht wird.

2 Für Carl Hauptmann, dessen Anfänge im Zeichen von Naturwissenschaft und Philosophie gestanden hatten, markierte der Essay Unsere Wirklichkeit einen Einschnitt in seinem geistigen Schaffen. Im Januar 1901, drei Monate, bevor er seinen Vortrag hielt, notierte er im Tagebuch, es sei ihm gelungen, sich von der »abstracten Methode, von dem schulmässigen Einfluss der Jugendjahre« völlig loszuwinden und seinen Gedanken einen »ganz bildgemäss[en]« Ausdruck zu geben.11 Das war ihm besonders deshalb wichtig, weil der Gegenstand seines Essays, »unsere Wirklichkeit«, nicht durch allgemeine »Begriffe«, sondern nur durch individuelle »Erlebnisse« erfasst und vergegenwärtigt werden könne.12 Dabei wird die Leistungskraft des begrifflichen Denkens von ihm keineswegs generell infrage gestellt – Hauptmann hält »subtile Sondierungen von Begriffen« für gewisse »Zwecke der Gesellschaft« sogar für »notwendig«. Es wäre also unpassend, würde man sein Denken schlechterdings dem Irrationalismus zuschlagen. Doch bezweifelt der Autor, dass »unsere Wirklichkeit« sich wissenschaftlich beschreiben lasse. Er wählt deshalb einen Darstellungsmodus, der nicht diskursiv, sondern narrativ, nicht objektivistisch, sondern subjektivistisch, nicht szientifisch, sondern literarisch oder poetisch ist: Statt in methodischer Form Definitionen aufzustellen, Behauptungen zu formulieren und Argumente zu entwickeln, präsentiert er seinem Leser Geschichten, Bilder und Beispiele. Er verfolgt sein Thema nicht linear und mit logischer Stringenz, sondern umkreist es gleichsam in variierenden Formulierungen, aus denen der Leser das Gemeinte deutend erschließen muss, ohne jedoch die Gewähr zu haben, daraus eine exakte Erkenntnis zu gewinnen. Die Schwierigkeit, etwas über »unsere Wirklichkeit« auszusagen, liegt laut Hauptmann darin, dass diese etwas sei, das der theoretischen Einstellung und dem begrifflichen Denken entzogen ist. Hauptmann hat versucht, sich seinem Gegenstand verschiedentlich positiv anzunähern und einige seiner Eigenschaf10 Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution. 2. durchgesehene und korrigierte Auflage, Darmstadt 1995, S. 1. Der Autor bezweifelt die Trennschärfe des Begriffs und plädiert für seine Streichung (S. 181; zu weiterer Kritik vgl. S. 47, 93, 182). Das ändert allerdings nichts daran, dass das effektvolle, erst von Mohler in die Wissenschaft eingeführte Syntagma eine bis heute anhaltende Wirkungsgeschichte entfaltet hat, die der Interpretation bedarf. 11 Zit. Berger: Hauptmann, S. 127. 12 Hauptmann: Unsere Wirklichkeit, S. 293; dort auch das folgende Zitat.

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ten zu skizzieren. »Unsere Wirklichkeit«, heißt es gleich zu Beginn des Essays, ist das, was »eines jeden von uns eigenstes, unmittelbarstes Lebensgut, persönlichster Urbesitz ist«13. Wie das Possessivpronomen erhellt, versteht Hauptmann die Wirklichkeit in Bezug auf den Menschen im Allgemeinen; es geht ihm um die Wirklichkeit, wie sie allen Menschen gemeinsam und eigentümlich ist. Als »Urbesitz« gehört diese Wirklichkeit von Anfang an jedem Menschen an, ohne dass er sie geschaffen, erworben oder gedacht hätte. Sie ist ein angestammter, unverlierbarer und unmittelbar erfahrbarer Teil seiner selbst. Sie ist die Umwelt, in der jeder Mensch mit den anderen Menschen immer schon lebt und in der er mit ihnen unmittelbar verbunden ist. Sie gehört zu seinen anthropologischen Daseinsbedingungen. Mit der Unverlierbarkeit und Selbstverständlichkeit dieser Wirklichkeit hängt ein Weiteres zusammen: Sie ist auch unveränderbar  – sie bleibt durch die wechselnden Zeiten sich gleich und ist strikt unhistorisch gedacht. »Unsere Wirklichkeit« begleitet den Menschen als ein und dieselbe durch die sich wechselnden geschichtlichen Zeiten. Hauptmann charakterisiert sie daher auch als »unsere Naturwesenheit«, als den »Natursinn unseres Lebens und auch der Dinge rings«, der »noch immer derselbe ist, wie im Uranfang« und der – wie es mit Anklängen an die zeitgenössische Lebensphilosophie und den Vitalismus heißt – die »immer und allezeit […] einzig lebendige Macht und einzig wirkliche Grundquelle ist, aus der auch allein immer wieder stammt, was je als Macht und Wirkung der Persönlichkeit Klärendes und Heilendes und Erlösendes in die Menschheit kam.«14 Der »Uranfang« ist immer. Und die »Grundquelle« ist unversiegbar. Beide Ausdrücke bezeichnen ein absolut Erstes, auf das der Mensch jederzeit und überall zurückkommen kann – freilich nicht mit den Mitteln des Begriffs, sondern nur intuitiv. So heißt es etwas später: »Wir können es [das »naturwesenhaft Wirkliche« unserer Wirklichkeit], ein jeder von uns, der Sinn und Leben als Erlebnis um seiner selbst willen leben will, ja immer noch wie im Urbeginn erleben und schauen«15. Sie ist »das ewig verläßliche Grundwesen, das auch in unseres Leibes und Lebens Wirklichkeit als dessen zuverlässige Macht eingegangen und dessen machtvolle Wirklichkeit selber ist«. Hauptmanns Überlegungen zum Wirklichkeitsbegriff lassen sich profilieren, wenn man sie im Kontext des philosophischen Kritizismus betrachtet – in Abgrenzung zu seinen Anfängen bei Immanuel Kant und in Abgrenzung zu seiner zeitgenössischen Weiterentwicklung im Empiriokritizismus bei Richard Avenarius, bei dem Hauptmann geplant hatte, sich zu habilitieren. ›Wirklich‹ ist weder das, was von aller Erfahrung unabhängig ist und außerhalb der subjektiven Wahrnehmung besteht, noch das, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft (1781) erläutert, »[w]as mit einer Wahrnehmung nach empirischen Gesetzen zu-

13 Ebd. 14 Ebd., S. 299. 15 Ebd., S. 303; dort auch das folgende Zitat.

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sammenhängt«16. Was Hauptmann als »unsere Wirklichkeit« bezeichnet, lässt sich in gewisser Weise in Analogie zum »natürlichen Weltbegriff« verstehen, den Avenarius in seiner erkenntnistheoretischen Abhandlung Der menschliche Weltbegriff17 (1891) entwickelt und der später Edmund Husserl zum Begriff der Lebenswelt inspirierte. Der Philosoph versteht darunter die Welt, wie sie von jedem einzelnen Menschen vor aller Wissenschaft und Philosophie in sinnlicher Wahrnehmung erfahren wird. Es handelt sich um eine Welt, die er mit seinen Mitmenschen gemeinsam hat und die, wie Avenarius im Rückblick auf seine eigene Erfahrung schreibt, »in allen Wiederholungen dieselbe blieb. Mit einem Wort: es war der Inhalt meines anfänglichen Weltbegriffs, der sich freilich noch in der Form mit der lebendigen Anschauung deckte und noch nicht in eine ›logische‹ Normalform des Begriffs gebracht war.«18 Sie bildet die unaufhebbare Grundlage jeder begrifflichen Erkenntnis. Avenarius hält es von diesem »natürlichen Ausgangspunkt«19 für möglich, und darin besteht sein systematisches Anliegen, den cartesianischen Dualismus zwischen Körper und Geist, also zwischen einer psychischen, unmittelbar erfahrenen »Innenwelt« und einer physischen, bloß mittelbar erfahrbaren »Außenwelt« zu unterlaufen und das erkenntnistheoretische Problem ihrer Verbindung als Scheinproblem zurückzuweisen. An einer philosophischen Grundlegung der Wissenschaft hatte Carl Hauptmann in seinem Essay zweifellos kein Interesse. Und es wäre daher von seinem Standpunkt aus sachlich auch keineswegs angemessen, im Sinne von Avenarius davon zu sprechen, dass »unsere Wirklichkeit« dem Menschen eine ›vorwissenschaftliche‹ oder ›vorphilosophische‹ Erfahrung gewährt. Hauptmanns Anliegen besteht darin, das Verhältnis zwischen der »Naturwesenheit« des Menschen und der Kultur näher zu bestimmen. Zugespitzt formuliert: Er zielt nicht auf Erkenntniskritik, sondern auf Kulturkritik. Während es dem Philosophen um die Kritik an metaphysischen Spekulationen geht, denen er durch den Rückgriff auf den »natürlichen Weltbegriff« den Boden zu entziehen versucht, geht es Hauptmann um die Kritik an der – modernen – Kultur, deren Entwicklungsgang er im Blick auf die »Naturwesenheit« des Menschen ambivalent beurteilt. Einerseits ist Hauptmann von der Unumkehrbarkeit des Geschichtsverlaufs überzeugt und möchte die Vorteile, Erleichterungen und Sicherheiten, die »die Erfindungen und Entdeckungen, alle die Einrichtungen und Ordnungen, Einsichten und Anwendungen unseres staatlichen und Gesellschaftslebens« sowie »das große Macht- und Bindemittel« der begrifflichen Sprache dem Menschen beschert haben, nicht missen.20 »Niemand wird den Gang der Kulturentwi16 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, A 376 (im Original gesperrt). 17 Avenarius, Richard: Der menschliche Weltbegriff, Leipzig 1891, S. 4–6. Der Philosoph war der ältere Bruder von Ferdinand Avenarius. 18 Ebd., S. 5. 19 Ebd., S. XI . 20 Hauptmann: Unsere Wirklichkeit, S. 298.

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ckelung aufhalten wollen«, wehrt Hauptmann kategorisch mögliche Einwände gegen den kulturellen Fortschritt ab.21 Selbst wenn er wollte  – der Mensch könnte es auch gar nicht. Er muss die schicksalhafte Eigendynamik des Geschichtsprozesses als unvermeidlich annehmen und hinnehmen. Und der Autor wäre »der letzte«, der die Leistungen der Kultur »in Bausch und Bogen […] herabsetzen oder gar beseitigen möchte«22. Andererseits erhebt Hauptmann Einspruch gegen die Kultur im Namen der Natur. Er macht dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt und den damit verbundenen Lebensformen die Verlustrechnung auf. Denn die Entwicklung der modernen Kultur, deren Erscheinungsvielfalt er als eine fortschreitende Vergesellschaftung, Institutionalisierung, Entpersönlichung, Vermassung, Rationalisierung, Verwissenschaftlichung und Technisierung beschreibt, hat Folgen, die auf das »Naturwesen« des Menschen und seine sozialen Beziehungen durchschlügen  – die es bedrohten, beschränkten, ja beschädigten. Sie beträfen den Menschen vor allem als leibliches Lebewesen. Die Kultur, lautet Hauptmanns Kritik, habe in dem Menschen etwas »gehemmt und erdrückt«, ihn »gegen die lebendige Wirklichkeit blind gemacht«. Die Unmittelbarkeit des Erlebens sei verloren gegangen. Die »Sinnenfreuden der wirklichen Dinge und der eigenen, natürlichen, freien Tätigkeiten unseres Leibes und Lebens [werden] nicht mehr aus erster Hand« genossen.«23 An die Stelle »der lebendigen, wirklichen Gefühlsverhältnisse zu den Dingen und Tätigkeiten [sind] deren abgezogene Gesellschaftswerte getreten«.24 Die Menschen säßen »in einem System von Zeichen und Worten und Begriffen und Erfindungen willentlich oder unwillentlich eingeschnürt […] wie in einem Netze« und »das Hin und Her in diesen abgezogenen und verblaßten Werten [macht] unser Kulturleben« aus. So kommt Hauptmann resümierend zu der kulturkritischen Diagnose, »dass wir Staatsmenschen und Gesellschaftsmenschen sind, mitteilsame, alles wissende, alles erklärende, entgötterte und entnatürlichte, auf Verstandesgesetze gebrachte Menschen, die ganz so tun, als hätten sie aufgehört – Naturwesen zu sein.« Denn »Naturwesen« bleiben sie. Mit der binären Opposition zwischen Natur und Kultur schreibt Carl Hauptmann sich in einen kulturkritischen Diskurs ein, der seit dem 18. Jahrhundert das Denken über die moderne Gesellschaft prägt. Man hat die Ansicht geäußert, Hauptmann ›belebe‹ in seinem Essay »Gedanken Rousseaus«.25 Auch für den Begründer der modernen Kulturkritik ist die Kulturentwicklung ein ambivalentes Phänomen. Zwar haben die Wissenschaften und die Künste enorme Fortschritte gemacht, aber das hat nicht zur Verbesserung der moralischen 21 22 23 24 25

Ebd., S. 297 f. Ebd., S. 298; dort auch das folgende Zitat. Vgl. S. 296. Ebd., S. 296. Ebd., S. 298; dort auch die folgenden Zitate. Kratzsch, Gerhard: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969, S. 171 f.

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Sitten geführt, im Gegenteil. In aufklärerisch-kritischer Absicht stellt Rousseau in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) der zeitgenössischen Kultur das fiktive Kontrastbild eines ursprünglichen und geschichtslosen Naturzustandes entgegen, in dem die Menschen »so frei, gesund, gut und glücklich [lebten], wie sie es ihrer Natur nach nur sein konnten« und in dem sie »die Wonnen eines unabhängigen Umgangs miteinander« genossen.26 Durch den kulturellen Fortschritt und die sich mit ihm entwickelnden sozialen Verhältnisse sei dieser Zustand aber unwiederbringlich zerstört worden. Rousseau liegt es allerdings fern anzunehmen, dass es diesen ursprünglichen Zustand in der Geschichte jemals gegeben habe. Seine Konstruktion fungiert als ein normativer Maßstab, an dem sich eine Umgestaltung der gegenwärtigen sozialen und politischen Verhältnisse orientieren kann und soll. Dass diese aber überhaupt möglich ist, liegt zum einen daran, dass die innere Natur des Menschen von den negativen Folgen der Kulturentwicklung unberührt geblieben ist, zum anderen daran, dass sich in der Gegenwart Lebensformen erhalten haben, die den ›Ursprüngen‹ näher sind als andere. Für ­Rousseau ist der Mensch durch die Kultur von der Natur in unterschiedlichem Grade ›entfremdet‹ – weniger auf dem Lande, deren Bewohner instinktiv der Natur verbunden geblieben sind, mehr in den Städten. Ohne Zweifel lassen sich in Hauptmanns Essay Anklänge an Vorstellungen Rousseaus bzw. seiner Rezeption in der deutschen Romantik vernehmen. So etwa, wenn er den »Ursprachgeist« erwähnt, der sich bei Menschen bewahrt habe, »die noch in ländlicher Abgeschiedenheit im unmittelbareren Umgang mit der Wirklichkeit leben, Leute, […] die nicht reden, wenn nicht die Worte, notwendig wie Halme aus dem Saatkorn, aus wirklichem Ereignis und Erlebnis hervorbrechen«, und denen man es »manchmal« anhört, »dass sie noch immer im Geiste die Dinge anschauen, die sie reden«.27 Wenn er »von der natürlichen Freiheit und dem natürlichen Glücke« spricht, »wie sie der Mensch in den Kind­heitstagen der Kultur besaß«.28 Oder wenn es mythisierend heißt, dass der »Kindheitsmensch« ehedem z. B. eine heilige Scheu hatte, wenn er dem reinen Trinkquell sich nahte, dass er seine Füße und seinen Kopf entblößte, weil das Land, wo die erquickende Quelle aus der Erde sprang, ihm ein heiliges Land galt. Das macht auch, dass er den echten Begeisterten wie heiligen Offenbarungen lauschte, dass er mit Ehrfurcht auch den heiligen Quellen in der Person nahte.29 26 Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Aus dem Französischen übersetzt und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1998 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 1770), S. 84. 27 Hauptmann: Unsere Wirklichkeit, S. 301. Diese Stelle zitiert auch Kratzsch: Kunstwart, S. 171. 28 Ebd., S. 294. Hauptmann verwendet hier offenbar, abweichend von seinem sonstigen Sprachgebrauch, einen weiten Kulturbegriff. 29 Ebd., S. 303 bzw. S. 305.

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Gleichgültig jedoch, ob der Idealzustand der Menschheit am – fiktiven – Anfang der Phylogenese liegt wie bei Rousseau oder ob diese Konstruktion auf ein geschichtliches Telos hin umgedeutet wird, wie etwa in Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), in denen die Geschichte als ein dreistufiger Entwicklungsprozess konzipiert wird, an dessen Ende der Gegensatz zwischen Natur und Kultur in einer dialektischen Synthese aufgehoben und die verlorene Einheit des Ursprungs auf einer höheren Entwicklungsstufe wiederhergestellt ist30  – für Hauptmann gibt es weder eine Reduktion noch eine Aufhebung des Gegensatzes von Natur und Kultur in einem Dritten.31 Das Gegenbild der  – modernen  – Kulturentwicklung liegt für ihn nicht in der rückwärtsgewandten Sehnsucht nach einer als ›heil‹ deklarierten Vergangenheit oder in der Utopie eines zukünftigen Idealzustandes, sondern in der Erfahrung der unverlorenen »Naturwesenheit« des Menschen im Hier und Jetzt der Kultur, also in der unmittelbaren Gegenwart, die damit den Vorrang vor der Vergangenheit und der Zukunft erhält. Natur und Kultur sind dabei untrennbar aufeinander bezogen – nicht so sehr im historischen Nacheinander unterschiedlicher Epochen oder Gesellschaftsformationen, sondern vielmehr im historischen Nebeneinander gegensätzlicher Pole, zwischen denen sich das menschliche Leben in seiner Gesetzlichkeit vollzieht. Die geschichtsphilosophische Bedeutung des Gegensatzes zwischen Natur und Kultur wird bei Hauptmann von einer ontologischen und einer epistemischen Bedeutung überlagert – ontologisch, insofern der Gegensatz eine anthropologische Konstante ist, epistemisch, insofern seinen Polen verschiedene Modi der Erfahrung, wie sinnliche Wahrnehmung und begriffliches Denken entsprechen. Die Idee eines emanzipatorischen Ziels, sei es der Geschichte, sei es des politischen Handelns, ist Hauptmann in seinem Essay fremd. Eingangs wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Hauptmanns Gedankengang sich weniger diskursiv als vielmehr in Geschichten, Bildern und Beispielen vollzieht. Im Folgenden seien drei Beispiele aus Unsere Wirklichkeit referiert, an denen der Autor veranschaulicht, wie der Mensch in der Kultur immer noch seine »Naturwesenheit« erfahren und »sich zurück[zu]fühlen [kann] auf sich selber und auf die wirklichen lebendigen Quellen, auf die eigensten klaren und unzweideutigen Lebensmächte«32. Das erste Beispiel stammt aus den Erzählungen aus Tausendundeine Nacht.33 Es handelt von Achmed Komakom, dem Befehlshaber der Scharwache des Sul30 Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen, hg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 18062), besonders 3.–6. Brief. 31 Auf die poetologischen Implikationen dieses Gedankens für das literarische Schaffen Hauptmanns kann hier nicht weiter eingegangen werden. 32 Hauptmann: Unsere Wirklichkeit, S. 304, vgl. S. 302 f. 33 Hauptmann entnimmt die Episode der Geschichte Alaeddin’s aus der Ausgabe: Tausend und Eine Nacht. Arabische Erzählungen, deutsch von Max Habicht, Fr. H. von der Hagen

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tans. Eines Abends besucht der Sultan seine Frau und legt im Vorzimmer seinen Schmuck und andere Preziosen ab. Komakom sieht die Gegenstände dort liegen und stiehlt sie. Unter ihnen befindet sich auch ein »diamantner Leuchter«34. Den Schmuck versteckt er, um ihn bei Gelegenheit zu verkaufen. Den Leuchter aber behält er für sich, um sich an ihm zu erfreuen, wobei er die folgende Überlegung anstellt: »Wenn ich mir beim Trunke gütlich tue, will ich diesen Leuchter vor mich hinstellen, und so werde ich die klare Flüssigkeit in meinem Glase von dem Glanze des Goldes und der Edelsteine, womit er besetzt ist, funkeln sehen.« Das zweite Beispiel referiert eine Erzählung aus Hauptmanns Freundeskreis. Ein Ingenieur leitet den Bau einer Eisenbahnstrecke im Kaukasus. Unter seinen Arbeitern befinden sich viele Einheimische. Dem Ingenieur fällt auf, dass einer von ihnen, »ein junger, schöner Bursche«, oft mitten in der Arbeit stundenlang wegbleibt. Es herrscht Sommer und die Gegend um die Baustelle ist einsam. Der Ingenieur fragt sich, was der junge Mann macht. Er spürt ihm deshalb nach, und was muss er zu seiner Überraschung entdecken? Der Arbeiter hat sein Obergewand ausgezogen und »tanzt für sich stundenlang in den schönen, einsamen Sommerwiesen«35. Das dritte Beispiel beruht auf einem Erlebnis, dass der Dichter selbst einmal im Schlosspark zu Rheinsberg gehabt hat und das etwas ausführlicher beschrieben werden muss.36 Anlässlich eines Besuchs der Gardeschützen in der Stadt soll ein großes Feuerwerk stattfinden. Viele Zuschauer sind gekommen und erwarten freudig das große Ereignis. Doch es beginnt zu regnen, das Pulver wird nass und die Leuchtkugeln verpuffen. Die Zuschauer sind enttäuscht und murren. Anders dagegen Hauptmann, der sich ganz seiner Wahrnehmung überlässt. Er bemerkt »seltsame Lichtgebilde«, »Spiegelungen« im See, hört »ferne Musik« und sieht die »Tiefen« des Himmels.37 Die bengalischen Feuer, die entzündet werden, tauchen das Schloss und seine Marmorbilder in ein ›magisches‹ Licht. Dem Betrachter entrückt die Gegenwart in eine gleichsam mythische Vorzeit. Man konnte nichts Wunderbareres sehen. Und um die Feuer, die vor den Marmor­ bildern brannten, liefen Menschen, vom magischen Strahl selbst zu schönen, blendenden Opferern geworden. Ein wahres Mysterium wie wiedergeboren. Die Opferer nahten sich immer wieder anbetend und stumm. Die Marmorbilder ragten. Die Opferfeuer loderten. Der Rauch stieg feierlich in die hohen, im Lichte unendlich gelösten Kronen der uralten Götterbäume. Ein Bild aus einer ganz fernen, religiösen Zeit, wo man die

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und Carl Schall. 13. Bändchen. Dritte unveränderte Auflage, Breslau 1834, S. 190–305, hier S. 258. Hauptmann: Unsere Wirklichkeit, S. 294; dort auch das folgende Zitat. Ebd., S. 295. Vgl. Hauptmann, Carl: Aus meinem Tagebuch. Zweite vermehrte Auflage, München 1910, S. 86 f. Hauptmann lebte von Juni bis August 1900 in Rheinsberg. Vgl. Berger: Hauptmann, S. 115–117. Hauptmann: Unsere Wirklichkeit, S. 299.

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heilsame Wirklichkeit des reinen Feuers wie einen Gott verehrte. Und alles das hineingetaucht in die kristalldunkeln Wasser in großer, eisklarer, ruhevoller Spiegelung.38

Aber dem Publikum ist die Fähigkeit des persönlichen Erlebens abhandengekommen, das Hauptmann zu seiner Beschreibung inspiriert. Es kennt nur seine enttäuschte Erwartung. Hauptmann organisiert die Analyse seiner Beispiele um zwei Leitbegriffe, die es erlauben, die an ihnen illustrierte Erfahrung in einem größeren geistes­ geschichtlichen Kontext und in einem präzisen Sinn als eine ästhetische Erfahrung zu analysieren. Der erste Leitbegriff ist der Begriff der Schönheit, sei es die Schönheit eines kunstfertigen Gegenstandes wie des Leuchters, einer körperlichen Bewegung wie des Tanzes und eines Naturschauspiels  – Dinge oder Begebenheiten, die aus ihrem gewohnten alltäglichen Zusammenhang herausgelöst sind und dadurch Bedeutsamkeit gewinnen. Der zweite Leitbegriff ist der Begriff des Zwecks bzw. der Zweckfreiheit. Komakom hatte, wie Hauptmann sich ausdrückt, »eine Art Liebesverhältnis zu dem schönen Stein. Er wollte sich am Strahlen des Diamanten gütlich tun. Er freute sich, wie Kinder sich freuen, auf das Glitzern und Glänzen.«39 Er stiehlt den Leuchter nicht wie ein gewöhnlicher Dieb »sozusagen zu Gesellschaftszwecken, zu ihrer Befriedigung innerhalb des Gesellschaftslebens« und um ihn durch Verkauf zu Geld zu machen, sondern »um unmittelbarer Sinnenfreude an den Dingen willen«. Dem jungen Arbeiter dient die körperliche Bewegung nicht zum Broterwerb; er überlässt sich vielmehr dem »zweckverlassene[n] Lieben der schönen Bewegung! Diese Seligkeit der Freiheit tanzender Betätigung in der schönen, einsamen Natur!«40 Und für Hauptmann selbst verdankt sich die Freude an der Natur nicht dem, was »gesellschaftlich bezweckt ist« wie das Feuerwerk.41 Das unterscheidet ihn von dem klagenden Publikum, das »die lebendige Wirklichkeit vor der Absicht, den wahren Reichtum des Erlebnisses vor den gewohnten Begriffen nicht mehr sieht. So wie der Mensch hier nicht sieht – und nur sieht, was gesellschaftlich bezweckt ist –, und auch nichts anderes mehr ihm Freude gibt, so geht es ihm schließlich mit allen wirklichen Dingen, mit seiner ganzen naturwesenhaften Wirklichkeit.«

In allen drei Beispielen geht es um etwas, das zweckfrei erlebt wird. Der Mensch lässt den Alltag mit seinen Bedürfnissen und Interessen hinter sich und nimmt das Leben »um seiner selbst willen« wahr. Mit der These, dass Schönheit und Zweck bzw. Nützlichkeit sich ausschließen, wiederholt Hauptmann einen Grundgedanken der Autonomieästhetik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, gibt ihm aber eine neue, auf die 38 39 40 41

Ebd., S. 300. Ebd., S. 294; dort auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 295. Ebd., S. 300; dort auch das folgende Zitat.

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Alltagspraxis bezogene Wendung. Die wichtigsten Belege finden sich in Karl Philipp Moritz’ Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785), Kants Kritik der Urteilskraft (1790), Schillers Briefe über Kallias oder über die Schönheit (entst. 1793) und August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801–1804). Es liege im »Wesen der schönen Künste« und des Schönen im Allgemeinen, resümiert der Letztgenannte die Diskussion über das Verhältnis des Schönen zur Wissenschaft und zur Lebenswelt in prägnanter, aber popularisierender Verkürzung, »nicht nützlich sein zu wollen. Das Schöne ist auf gewisse Weise der Gegensatz des Nützlichen: es ist dasjenige dem das Nützlichsein erlassen ist.«42 Gleichgültig ob es der Kunst oder der Natur, oder – wie bei Hauptmann – der Alltagspraxis zugeschrieben wird: Das Schöne hat keinen, wie man genauer sagen müsste, äußeren Zweck. Es dient weder, wie es die Aufklärung forderte, der Vermittlung oder gar der Vermehrung von rationalen Erkenntnissen noch der Verbesserung der moralischen Sitten oder – wie in der entwickelten Industriegesellschaft – dem Erwerb bzw. Verkauf, sondern es hat seinen Zweck in sich selbst.43 Hauptmanns Beispiele illustrieren verschiedene Weisen, wie es dem Einzelnen in der Kultur gelingen kann, sich gegen die Dominanz zweckrationaler, utilitaristischer Tendenzen zur Wehr zu setzen und die Welt ›um ihrer selbst willen‹ zu erleben – gegen die Unterwerfung der Dinge unter den Handel, des menschlichen Körpers unter die Arbeit, des Naturerlebens unter das industriell hergestellte Vergnügen. Die Erfahrung der Schönheit steht jedem Menschen offen, er muss jedoch gegen die Einschränkungen der Kultur immer wieder von Neuem um sie ringen. Hauptmann scheint davon überzeugt, dass diese Erfahrungen nur dem Einzelnen und »wahrhaft Einsamen« glücken können, also unabhängig von seinen Mitmenschen und der Gesellschaft.44 Auf das funktionale Verhältnis zwischen der Erfahrung des »Naturwesens« und der Erfahrung des »Kulturwesens« hat Hauptmann allerdings nicht reflektiert. Man kann die ästhetische Erfahrung als kompensatorisch und komplementär beschreiben, wenn man unter ›kompensatorisch‹ den Ausgleich von Mängeln durch Ersatz und unter ›komplementär‹ die Vervollständigung zum Ganzen versteht.45 Um das am Beispiel des Arbeiters zu illustrieren: Der Tanz 42 Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre, Stuttgart 1963 (Kritische Schriften und Briefe, Bd. 2, hg. von Edgar Lohner), S. 13. 43 Zum begrifflichen und geschichtlichen Kontext vgl. Siegmund, Judith: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2019. 44 Vgl. das Carl Hauptmann-Zitat in: Meckauer, Walter: Carl Hauptmanns dichterische Hinterlassenschaft, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 42 (1950), Nr. 5, S. 224–230, hier S. 230. 45 Vgl. dazu Groh, Ruth und Dieter: Zur Entstehung und Funktion der Kompensationsthese, in: Dies.: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt am Main 21996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 939), S. 150–170. Zum zeitgeschichtlichen literarischen Kontext der Vorstellung von einer – ästhetischen – Verganz-

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unterbricht den Arbeitsalltag des Arbeiters, aber er bricht ihn nicht ab. Er gewährt ihm eine Pause, aber kein Ende. Durch ihn gewinnt der Arbeiter neue Lebenskräfte, die ihm die Beschwerlichkeiten seiner Arbeit erträglich erscheinen lassen und durch die er sie – zumindest zeitweilig – vergessen kann. Das Leiden an der Erwerbsarbeit – die ›Entfremdung‹ von seiner Natur – wird durch die Freude am Tanz kompensiert. Aber nicht nur das. Durch den Tanz macht der Arbeiter zugleich auch die Erfahrung, dass sein Körper nicht nur wertschaffendes Werkzeug ist, sondern auch Quelle der Freude, der Muße und des Genusses. Er komplementiert die einseitige Erfahrung der Arbeitskraft durch die Erfahrung des Vergnügens an sich selbst. Dabei werden die Ursachen des Leidens aber nicht beseitigt, im Gegenteil, sie werden perpetuiert. Hauptmann misst der Erfahrung der Schönheit bzw. der Zweckfreiheit keine gesellschafts- oder kulturverändernde Funktion zu. Die ästhetische Erfahrung betrifft unerwünschte Begleiterscheinungen der Modernisierung, aber sie stellt die Modernisierung nicht infrage. Sie bildet ein Kompensat und ein Komplement, aber kein Korrektiv des fehlgeleiteten wissenschaftlich-technischen Fortschritts bzw. der ihm zugrunde liegenden politisch-sozialen Verhältnisse.

3 Hauptmanns Essay erschien im »Kunstwart« wenige Zeit nach der Gründung des Dürerbundes, in der sich eine programmatische Neuorientierung äußerte. Lag der Schwerpunkt der Zeitschrift in der Anfangsphase auf der Kunst bzw. den Einzelkünsten mit dem Ziel, das »Spezialistentum« durch den umfassenden Blick auf alle Künste zu überwinden, so verschob sich das Interesse nach der Jahrhundertwende zunehmend auf die »ästhetische Kultur« und die ›Lebensreform‹.46 Das Ästhetische wurde dabei als eine Dimension der Alltagswelt verstanden. Von dieser Warte aus konnte ein kritischer Blick auf die Moderne geworfen werden, worin sich die Anliegen von Hauptmann und Ferdinand Avenarius überschneiden. Ein Vergleich wird allerdings dadurch erschwert, dass die Autoren den Kulturbegriff in verschiedenen Deutungsmustern verwenden, mit Folgen für seine Bedeutung und Bewertung. Während Hauptmann den Begriff der Kultur vom Begriff der Natur abgrenzt, wie bereits skizziert, stellt Avenarius

heitlichung vgl. Ketelsen, Uwe-K.: Das Konzept vom »Ganzen« in der deutschen Literatur um 1900, in: Annäherungen. Polnische, deutsche und internationale Germanistik, hg. von Bernd Balzer und Irena Światłowska, Wrocław 2003, S. 588–594. 46 Vgl. Syndram, Karl Ulrich: Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis. Untersuchungen zur Kunst- und Kulturpolitik in den Rundschauzeitschriften des Deutschen Kaiserreiches (1871–1914), Berlin 1989 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 9), S. 80–97, hier S. 81 f.; dort auch zu weiteren Veränderungen in der Programmatik von »Kunstwart« und Dürerbund, auf die hier nicht eingegangen werden kann.

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dem Begriff der Kultur den Begriff der Zivilisation gegenüber.47 Der Prozess der Moderne wird bei Avenarius in Kultur und Zivilisation ausdifferenziert. Der Begriff der Kultur wird eingeschränkt, mit einem positiven Wert besetzt und dem Begriff der Zivilisation übergeordnet. Die negativen Seiten der Kultur werden auf die Zivilisation übertragen. Damit verschiebt sich die Kritik an der Moderne von der Kritik an der Kultur auf die Kritik an der Zivilisation. Der gemeinsame Ansatzpunkt aber bleibt davon unberührt. Die Autoren treffen sich in der »ästhetischen Opposition«, einer »breiten, antiwilhelminisch ausgerichteten bürgerlichen Protestströmung« gegen eine Moderne, die unter die Vorherrschaft des zweckrationalen bzw. des wissenschaftlich-technischen Denkens geraten ist,48 sei es, dass die Einwände gegen die Kultur wie bei Hauptmann, sei es, dass sie gegen die Zivilisation wie bei Avenarius erhoben werden. Das Verhältnis zwischen Kultur und Zivilisation wurde im »Kunstwart« wiederholt zum Thema gemacht, am deutlichsten wohl in zwei Beiträgen aus dem frühen 20. Jahrhundert. In ihnen spiegeln sich wichtige Veränderungen in der Programmkonzeption. Der erste Beitrag erschien im Mai 1901, wenige Monate vor der Veröffentlichung des Aufrufs zur Gründung des Dürerbundes. Er trug das Kürzel M. B., hinter dem sich nicht, wie vielfach angenommen, der rechtsextreme Schriftsteller Arthur Moeller verbarg, ein regelmäßiger Mitarbeiter der Zeitschrift, der sich nach dem Namen seiner Mutter erst Moeller-Bruck und dann schließlich Moeller van den Bruck nannte, sondern Martin Buber.49 Der Autor besteht darauf, dass Kultur und Zivilisation nicht verwechselt werden dürften, handele es sich doch um zwei »von Grund auf verschiedene Hauptformen der Menschheitsentwickelung«, um »Gegensätze«, deren »einstige Versöhnung« in der Zukunft liege. Buber gibt folgende Erläuterung des Unterschieds: »Erhaltung und Erleichterung des Lebens sind die letzten Absichten der Zivilisation; aber an der Erhöhung und Veredlung des Lebens schafft die Kultur.« Die Zivilisation ist zwar Voraussetzung der Kultur, aber diese hat einen höheren Rang als jene. Buber identifiziert sie mit dem Ästhetischen. Zur Abgrenzung von der Zivilisation orientiert er sich an Leitdifferenzen wie ›schön‹ vs. ›nützlich‹, ›Überschuss‹ vs. ›Mangel‹, ›individuell‹ vs. ›allgemein‹: 47 Zu den verschiedenen Auslegungen der Unterscheidung vgl. Breuer, Stefan: Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001, Kap. 8. Kultur und Zivilisation. 48 Petzinna, Berthold: Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen ›Ring‹-Kreises, 1918–1933, Berlin 2000, S. 19. Der Autor übernimmt den Begriff der ästhetischen Opposition von Gert Mattenklott. 49 B., M.: Kultur und Zivilisation. Einige Gedanken zu diesem Thema, in: Der Kunstwart 14 (1901), H. 15, S. 81–83, hier S. 81; dort auch die folgenden Zitate. Erneut in: Buber, Martin: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften (1891–1924), hg., eingeleitet und kommentiert von Martin Treml, Gütersloh 2001 (Martin Buber Werkausgabe, Bd. 1), S. 157–159 (Text), S. 313 f. (Kommentar). Der Artikel wird Moeller van den Bruck zugeschrieben, z. B. bei Syndram, Kulturpublizistik, S. 217; Breuer: Ordnungen, S. 277 f.; Weiß, Volker: Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus, Paderborn u. a. 2012, S. 485.

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Die Zivilisation arbeitet am Nützlichen und nach dem Gesetze des kleinsten Kraftaufwandes, das heißt: sie will möglichst weite Pläne mit möglichst geringen Mitteln verwirklichen; aber die Werke der Kultur werden nicht nach ihrem Nutzen, sondern nach ihrer Schönheit geschätzt, und Schönheit ist immer der Ausdruck eines Ueberschusses. […] Sie verschwendet, während Zivilisation sparen muß.

Weiterhin sieht Buber in der Kultur primär eine Ausdrucksform des schöpferischen Einzelnen. Der Kulturbegriff erhält elitäre Züge: »Kultur bringt Einzigartiges und Unersetzliches hervor […]. So wirkt sie auch individualisierend, sie drängt das Persönliche zu vollerem Ausleben.«50 Während für die Zivilisation »die Einzelnen nur Durchgangsspunkt und Werkzeug« sind, sind diese für die Kultur »Schöpfer und Quelle; und andererseits strebt die Zivilisation immer Zwecke der Allgemeinheit an, während die Kultur auch in der Gesellschaft nur den Einzelnen sucht […], d. h. das Einmalige, das nicht in allgemeinen Regeln und Begriffen seine Erklärung und seinen Ausdruck findet.« Damit hängt es für Buber zusammen, dass sich Kultur und Zivilisation in eigengesetzlichen Verlaufsformen entwickeln – diese kontinuierlich und in stetiger Fortbewegung, jene diskontinuierlich und in Gegensätzen. Avenarius nimmt das Deutungsmuster Kultur vs. Zivilisation einige Jahre später auf, doch wird die Pointe anders als bei Buber gesetzt: Die Zivilisation wird zum Gegenstand der Kritik und das Ästhetische mit dem Pädagogischen und Politischen verbunden. »Kultur« bedeutet für Avenarius »die Pflege unsrer Eigenschaften«, Zivilisation »die Pflege und Entwicklung unsrer Mittel«51. Seife und Zahnbürste zählt Avenarius zur Kultur, weil sie die menschlichen Fähigkeiten stärken und seiner ›Natur‹ dienen, Fernglas und Flugzeug zur Zivilisation, weil sie der Menschheit nützen oder schaden können. So können Maschinen und Instrumente den Menschen z. B. dadurch Nachteile bringen, dass sie seine Geschicklichkeiten verringern oder – wie bei kriegerischer Verwendung – sein Leben gefährden oder sogar vernichten. Mit Kultur hätten diese Mittel »nur so weit zu tun, als unsre Eigenschaften, als wir selber durch sie entwickelt, veredelt werden«. Für Avenarius steht die Menschheit an einer Wegscheide: Entweder es gelingt ihr, die Zivilisation zum »dienenden Mittel der Kultur« zu machen52 – dazu gehört auch der Kampf gegen das »Privateigentum« an ›Zivilisationsmitteln‹ und die Ideologie der Profitmaximierung, die die Verwendung der »Erfindungen« steuert –,53 oder sie überlässt den Zivilisationsprozess weiter sich selbst. Dann fallen ihm die »Natürlichkeit« des Menschen und die Kultur zum Opfer.

50 B., M.: Kultur und Zivilisation, S. 82; dort auch die folgenden Zitate. 51 A [=Ferdinand Avenarius]: Wohin? Zum Thema: Kultur und Zivilisation, in: Der Kunstwart 27 (1913), H. 1, S. 1–4, hier S. 2; dort auch das folgende Zitat. 52 Ebd., S. 1; dort auch das folgende Zitat. 53 Ebd., S. 3.

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Mit dieser Prognose schließt Avenarius an den Aufruf zur Gründung des Dürerbundes an, den er im September 1901 im »Kunstwart« veröffentlichte, in dem er allerdings stärker aus einer ethnischen Perspektive argumentiert, die die menschlichen »Eigenschaften« als ein völkisches oder nationales Element konkretisieren. Dem Aufruf liegt der Befund zugrunde, dass dem ›gewaltigen Aufschwung‹, den das moderne Zeitalter sowohl in naturwissenschaftlicher, technischer wie sozialer Hinsicht verzeichne, »keine Erhöhung des allgemeinen ästhetischen Gefühls« entspreche.54 Zwischen der Entwicklung der  – ästhetischen – Kultur einerseits und der Entwicklung der – zweckrationalen – Zivilisa­ tion andererseits sei ein Missverhältnis entstanden. Mehr noch: Avenarius befürchtet einen Rückschritt und der betreffe nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Allgemeinheit, genauer: das deutsche »Volk« und seine Lebensgestaltung, besonders seine Beziehung zur Natur, zur Landschaft und zur »Heimat«.55 Würde es nicht zu einer Revision dieser Entwicklung kommen, dann drohe am Ende für die Allgemeinheit der ästhetische Tod. Und der würde bedeuten, dass unser Volk bis auf Vereinzelte und Vereinsamte die Sprache für all das verlernt hätte, was nicht in Begriffen sprechen kann, dass es sich über sein Fühlen und Schauen nicht mehr mit natürlicher Sicherheit zu Aug’ und Ohr mitteilen, dass sich nicht mehr ein jeder am Innenleben des anderen ergänzen, erfreuen, erheben, erziehen könnte, dass man begänne, für den Ausdruck der Phantasie und des Gefühlslebens taubstumm zu werden.56

Eine »Bekämpfung« dieser »Gefahr« versprach Avenarius sich von der »Pflege des ästhetischen Lebens«, in der er »Gegenstand und Zweck« des Dürerbundes sah. Es sei erforderlich, betont er an anderer Stelle, dass durch die ästhetische Kultur die »stärksten Kräfte« mobilisiert werden, und das könnten bei »einem Volke als ganzem […] nur die tiefest gewurzelten, die längest vererbten sein«, die er mit dem »Nationalen«, der »Rasse« und dem »Völkischen« identifiziert.57 Auch der ›Der Kunstwart‹ sollte zu dieser Erziehungsaufgabe beitragen, der ab 1896 mit dem frei nach Richard Wagner zitierten Worten im Titel erschien: »Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen thun«.58 Das Zweckfreie, 54 A. [=Ferdinand Avenarius]: Zum Dürer-Bunde! Ein Aufruf, in: Der Kunstwart 14 (1901), H. 24, S. 469–474, hier S. 470. 55 Ebd., S. 471. 56 Ebd., S. 470; dort auch die folgenden Zitate. 57 Avenarius, Ferdinand: Nationale Arbeit, in: Der Kunstwart 22 (1908), H. 1, S. 1–6, hier S. 1. Vgl. Ders.: ›Nationaler Standpunkt‹ und Literatur, in: Der Kunstwart 15 (1902), H. 14, S. 83–85. 58 Der Kunstwart 9 (1896), H. 15, S. 225. Vgl. Wagner, Richard: Deutsche Kunst und deutsche Politik, in: Ders.: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. von Dieter Borchmeyer. Bd. 8. Musikästhetik, Reformschriften, 1854–1869, Frankfurt am Main 1983, S. 247–352, hier S. 320. – Avenarius gab das Motto später auf, da es geeignet sei, den »Nationaldünkel« zu stärken (›Deutsch‹?, in: Der Kunstwart 21 [1907], H. 1, S. 36 f.).

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d. h. das Schöne, wurde an das Völkische, genauer: das Deutsche zurückgebunden. Allerdings wurde dabei Wagners Fortsetzung des Gedankens gekappt, die das ›Arteigene‹ – das Deutsche – über das ›Artfremde‹ stellt: das »Nützlichkeitswesen«, das als »undeutsch« verketzert wird. Avenarius ging in dem erwähnten Beitrag nicht so weit, den Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation als etwas spezifisch Völkisches zu betrachten, wie es dann mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs im deutschen Sprachbereich weithin üblich wurde – als Gegensatz zwischen deutscher Kultur und französischer Zivilisation und mit der Folge, dass die Ideen von 1789 verworfen wurden.59

4 Virulente ethnische Vokabeln wie »Rasse«, »Volk« und »Nation«, die bei Avena­ rius patriotisch besetzt sind, die aber auch nationalistisch oder sogar chauvinistisch aufgeladen sein und sich mit antisemitischen Positionen kombinieren konnten wie bei anderen Autoren des »Kunstwart«, machen es verständlich, dass Mohler in seiner eingangs zitierten Monografie »Kunstwart« und Dürerbund mit der ›Konservativen Revolution‹ in Verbindung bringt und dass in einem neueren Handbuchartikel die Zeitschrift kritisch als »ein frühes Sammelbecken nationalkonservativer, rassistischer und präfaschistischer Denker« charakterisiert wird.60 Mohler erwähnt Avenarius’ Aktivitäten an zwei verschiedenen Stellen: zunächst im Abschnitt über den Wilhelminismus, wo er den Dürerbund dem »reformerischen Flügel« der »Deutschen Bewegung« zuordnet, aus der sich die nationale Variante der ›Konservativen Revolution‹ entwickelt habe,61 dann im Abschnitt über die Weimarer Republik, wo er den »Kunstwart« zu denjenigen Zeitschriften zählt, in denen nach 1918 die konservativrevolutionäre Gruppe der »Jungkonservativen« unter der geistigen Führung Moeller van den Brucks ihre »Gedanken« geäußert habe.62 In der »zweite[n], völlig neu bearbeitete[n] und er59 Vgl. Beßlich, Barbara: Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland, 1890–1914, Darmstadt 2000, S. 25–27. 60 Goßens, Peter: Der Kunstwart (Kulturzeitschrift, 1887–1932), in: Handbuch des Antisemitismus, Bd. 7. Literatur, Film, Theater und Kunst, hg. von Wolfgang Benz, Berlin u. a. 2015, S. 271–273, hier S. 272. Kratzsch kommt in kritischer Auseinandersetzung mit Mohler zu dem Resultat, dass die »Gebildeten-Reformbewegung«, zu der er ›Kunstwart‹ und Dürerbund zählt, mit der ›Konservativen Revolution‹ zwar »primär nichts zu tun« gehabt habe (Kunstwart, S. 42), dass sie aber in der Weimarer Republik in der ›Konservativen Revolution‹ ›auslief‹ (Kunstwart, S. 445; vgl. S. 13 f. und S. 426). Den »Kunstwartgeist« bezeichnet er als »ethischen National-Sozialismus auf sozialdarwinistischer Grundlage« (ebd., S. 159). 61 Mohler: Die Konservative Revolution (1950), S. 37; vgl. S. 23. Vgl. die Erweiterung in der zweiten Auflage: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Zweite, völlig neu bearbeitete und erweiterte Fassung, Darmstadt 1972, S. 27. 62 Mohler: Die Konservative Revolution, S. 97.

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weiterte[n] Fassung« seines Werks von 1972 nimmt Mohler jedoch eine Akzent­ verlagerung vor, wenn er mit Blick auf weitere Gruppen der ›Konservativen Revolution‹ schreibt, dass »Reformbewegungen wie der ›Dürerbund‹ und alles um die Zeitschrift »Der Kunstwart« Gruppierte« zwar nicht zum Kern, aber doch »zum mindesten in den Umkreis des Völkischen« gehören, »wenn auch jungkonservative und bündische Beimischungen nicht zu übersehen sind«.63 Mohler war offenbar bestrebt, die epochenüberschreitende Relevanz von »Kunstwart« und Dürerbund für die ›Konservative Revolution‹ zu betonen, galten ihm doch die »›Völkischen‹« als die einzige Gruppe der Bewegung, welche »völlig bruchlos« vom Kaiserreich in die Weimarer Republik übergeht.64 In den »Völkischen«, die er dadurch charakterisiert, dass sie sich »unmittelbar« auf die »Ursprünge« in bestimmter ethnischer Spezifizierung beziehen, sei es auf die »›nordische Rasse‹«, das »›Germanentum‹« oder das »deutsche ›Volk‹«, glaubte Mohler das Verbindungsglied zwischen Avenarius’ »Bestrebungen« und der ›Konservativen Revolution‹ der Weimarer Republik gefunden zu haben. Das Ziel dieser Gruppe sei es, »das von der Geschichte zwischen die Ursprünge und das heute Gelagerte als schädlichen Mißwuchs wieder wegzuschaffen.«65 Die Moderne gelte ihr als eine Fehlentwicklung, die auf dem bisherigen Weg nicht mehr fortfahren dürfe, sondern im Namen des Ursprünglichen korrigiert werden müsse: »im Durchbruch nach rückwärts«. Zeit wird dabei nicht linear, sondern zyklisch gedacht.66 Die verschiedenen Auflagen des Werks zeigen die apologetische Tendenz, den Einzugsbereich der ›Konservativen Revolution‹ auszuweiten und die Anschlussstellen zu vervielfachen. Der Autor will dokumentieren, dass es sich nicht um eine kleine radikale intellektuelle Minderheit handelte, sondern um ein Phänomen, das eine gewisse Breitenwirkung und gesellschaftliche Reputation hatte. Dazu werden Namen aufgerufen, die sich weithin großer Anerkennung erfreuen bzw. erfreuten. So nimmt er im Ergänzungsband zur dritten Auflage (1989) auch Gerhart Hauptmann »unter die Paten« der Bewegung auf.67 Carl Hauptmann bleibt unerwähnt, obwohl er auch in der Zeitschrift »Werdandi« publiziert hatte, die Mohler in der Neubearbeitung von 1972 als völkisch einstuft.68 Die Zeitschrift war das Vereinsorgan des 1907 gegründeten Wer­ 63 Mohler: Die Konservative Revolution. Handbuch, S. 214. An späterer Stelle heißt es, dass der ›Kunstwart‹ »starke völkische Elemente enthält« (S. 291). Zur »völkisch-nationale[n] Tendenz« des ›Kunstwart‹ vgl. auch Koszinowski, Ingrid: Von der Poesie des Kunstwerks. Zur Kunstrezeption um 1900 am Beispiel der Malereikritik der Zeitschrift ›Kunstwart‹, Hildesheim u. a. 1985, S. 5. 64 Mohler: Die Konservative Revolution, S. 166; die folgenden Zitate ebd., S. 167. 65 Ebd., S. 173; dort auch das folgende Zitat. 66 Zur Bedeutung, die die Bilder des Kreises bzw. der Kugel für das Denken der ›Konservativen Revolution‹ und für Mohlers Analyse haben, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, vgl. ebd., Abschnitt III . 67 Mohler, Armin: Die Konservative Revolution. Handbuch. Ergänzungsband. Mit Korrigenda zum Hauptband, Darmstadt 1989, S. 43. 68 Mohler: Die Konservative Revolution. Handbuch, S. 291.

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dandibundes, dessen erste Aufrufe auch von Avenarius und Hauptmann unterzeichnet wurden.69 Sein Anliegen war es, »im Einvernehmen mit dem Dürer­ bunde« (in dem der Werdandibund Mitglied war) und anderen Bünden »das Deutsch-Eigentümliche und Kulturkräftige auf den Gebieten aller Einzelkünste ins Bewußtsein« zu rufen.70 Dabei zeigte sich ein kulturimperialistischer Zug. So sollte die Zeitschrift dazu beitragen, »die Seelenkraft des deutschen Volkes durch das Mittel der Kunst zu erhalten und zu stärken«71 und die »Wehrkraft des völkischen Geistes« zu fördern,72 um dessen »Machtstellung« und Weltgeltung man besorgt war, besonders im Vergleich zu Engländern und Franzosen, die es besser verstanden hätten, die Integrationskraft nationaler Kultur für politische Ziele zu nutzen.73 Zu den Mitarbeitern der Zeitschrift zählten namhafte Vertreter der rechtsextremen Szene, die auch im »Kunstwart« veröffentlichten, darunter Moeller van den Bruck und sein antisemitischer Gesinnungsgenosse, der Literaturhistoriker Adolf Bartels. Man darf die Wortmeldungen dieser Männer allerdings nicht als repräsentativ nehmen. Wie »Der Kunstwart« war auch »Werdandi« für unterschiedliche Meinungen mit nationalkultureller Ausrichtung offen. Obwohl Carl Hauptmann mit der ›Konservativen Revolution‹ bzw. ihrem völkischen Umkreis stark vernetzt war  – persönlich, publizistisch und organisatorisch – und es durchaus Gemeinsamkeiten in der kritischen Beurteilung der Moderne gab, vollzog er mit seinen Publikationen in »Der Kunstwart« und »Werdandi« keine Wendung ins Völkische. Die Differenzen lassen sich an einem Einschub pointieren, den Mohler in der Neubearbeitung vorgenommen hat. Darin verdeutlicht er, dass die Gegnerschaft der ›Konservativen Revolution‹ einer »Welt« gelte, die im Zuge der Französischen Revolution »das Unveränderliche im Menschen nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern glaubt, das Wesen des Menschen verändern zu können«.74 »[D]eshalb« – und im Folgenden nimmt der Autor den Faden aus der Erstausgabe wieder auf – proklamiere diese Welt »die Möglichkeit eines stufenweisen Fortschritts«, die ›verstandesmäßige‹ Erkenntnis »alle[r] Dinge, Beziehungen und Geschehnisse« und die ›Vereinzelung‹ jedes Gegenstandes, der »allein aus ihm selbst zu begreifen« ist, d. h., soweit es den 69 Vgl. Parr, Rolf: Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Gruppierungen zwischen Vormärz und Weimarer Republik, Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 75), S. 180 f. Werdandi (oder Verdhandi) ist die germanische Norne der Gegenwart. 70 Ungez., Ein ›Werdandibund‹, in: Der Kunstwart 20 (1906), H. 21, S. 507–509, hier S. 508 (im Original z. T. hervorgehoben). 71 Seeßelberg, Friedrich: Wohin …, in: Werdandi 1 (1908), H. 1, S. 1–8, hier S. 7. 72 Seeßelberg, Friedrich: Deutsche, in: Werdandi 2 (1909), H. 7, S. 1 (im Original hervorgehoben). 73 Vgl. Seeßelberg, Friedrich: Zum zweiten Werdandijahre, in: Werdandi 2 (1909), H. 1, S. 1–4, hier S. 3. 74 Mohler: Die Konservative Revolution. Handbuch, S. 11; dort auch die folgenden Zitate; vgl. die Erstausgabe S. 19; vgl. auch ebd. S. 149 und S. 154.

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Menschen betrifft, abstrahiert von ethnischen Strukturzusammenhängen wie Rasse, Volk oder Nation. Auch Hauptmann kennt, wie der Essay Unsere Wirklichkeit zeigt, ein ›Unveränderliches‹ im Menschen – seine Ursprünglichkeit oder »Naturwesenheit«. Es ist geschichtslos, für die Ratio unbegreifbar und nur poetisch sinnbildlich in Beispielen zu vergegenwärtigen.75 Mit dem aufklärungskritischen Denken teilt er die Überzeugung, dass der wissenschaftlichen Erkenntnis des menschlichen Lebens unaufhebbare Grenzen gesetzt sind; wie dieses hat er Vorbehalte gegen die Idee einer Entwicklung der Geschichte zu größerer Humanität. Doch damit sind die Übereinstimmungen mit dem oben zitierten Passus im Wesentlichen bereits erschöpft. Denn weder wird der Ursprung bei Hauptmann als Teil einer näher bestimmten ethnischen Ganzheit festgelegt, noch wird der Geschichtsverlauf bzw. die Kulturentwicklung als reversibel und erneuerbar gedacht. Res­ tauration wie Revolution sind für ihn illusionäre Vorstellungen. Die Differenzen liegen im methodischen Ansatz begründet, von dem her gesehen es schwerfallen dürfte, seine Gedanken in die Geschichte der ›Konservativen Revolution‹ einzureihen oder gar eine Art Teleologie aufzumachen.76 Zum einen: Hauptmann argumentiert nicht ethnisch, sondern anthropologisch, nicht im Blick auf das Volk, sondern den Menschen im Allgemeinen, die Menschheit: Das »Ursprüngliche« ist »das, was unabhängig von allem Erdenklichen und Gedeuteten, frei von Herkommen, von aller erdenklichen und erdachten Absicht aufquillt […]. Es kommt jedenfalls aus dem Grunde, aus dem auch die Menschheit immer wieder wirklich und jung aufsteigt«.77 »Unsere Wirklichkeit« oder »Naturwesenheit« wird von Hauptmann unabhängig von jeder rassischen, völkischen oder nationalen Eingliederung gedacht. Zum anderen: Hauptmann argumentiert nicht politisch oder sozialkritisch, sondern ästhetisch. Seine Kritik an der modernen Kultur zielt nicht auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre institutionelle Absicherung, sondern auf die Veränderung des menschlichen Verhaltens, nicht auf eine Umkehr des Kulturverlaufs, dessen Fortschritt er im Prinzip bejaht, sondern auf eine Umkehr der persönlichen Einstellung zur Kultur, die eine Gegenkraft gegen das Nützlichkeitsdenken freisetzt und einen zusätzlichen Raum der Entfaltung eröffnet: die – ästhetische – Erfahrung der Zweckfreiheit. Hauptmann greift mit seiner Kritik an der modernen Kultur zwar Problemstellungen und Themen auf, die auch von Repräsentanten der ›Konservativen Revolution‹ ins Visier genommen werden. Dennoch wäre es 75 Mohler hält die »Überzeugung von der Unzugänglichkeit der Wirklichkeit für das verstandesmäßige Wort, den Begriff« geradezu für einen »Grundzug« der von ihm untersuchten »Weltanschauungen«: »Nur das dichterische Wort, das Bild, vermöge die Wirklichkeit zu erschließen« (Die Konservative Revolution [1950], S. 27 f.; vgl. S. 28 f. und S. 103 f.). 76 Vgl. die Einwände in Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1994, S. 165. 77 Hauptmann: Unsere Wirklichkeit, S. 304.

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zweifellos verfehlt, Carl Hauptmann zusammen mit diesen in der Genealogie der Gegenaufklärung zu verorten.78 Für großzügige Hilfe bei der Beschaffung schwer zugänglicher Dokumente und Forschungsliteratur danke ich Frau Dr. Joana van de Löcht und Herrn Dr. Krzysztof Żarski.

78 Zur Gegenaufklärung vgl. Jung, Theo: Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2012 (Historische Semantik, Bd. 18). Vgl. auch den Sammelband Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Jochen Schmidt, Darmstadt 1989.

Anna Gajdis, Wrocław

Ernst Wiechert und die ›Konservative Revolution‹ Einführung Die Frage, inwiefern Ernst Wiechert (1887–1950) der ›Konservativen Revolution‹ zugehört, beschäftigt viele Literaturwissenschaftler und bleibt bis heute eher unbeantwortet. Seinen Namen erwähnen Armin Mohler und Karlheinz Weißmann in ihrer bekannten Monografie Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch als einen der Autoren der ›Konservativen Revolution‹.1 Wojciech Kunicki deutet an, dass Wiechert in den 1920er Jahren in den Kreisen der ›Konservativen Revolution‹ wirkte. In seinem früheren Schaffen kritisierte der masurische Dichter die bürgerlichen Normen und Werte, und in seinem Roman Der Totenwolf (1924) manifestiert sich eine neuheidnische Einstellung, was Mohler und Weissmann hervorheben, indem sie den Roman (mit Hakenkreuz auf Einband) als »eines des extremsten und zügellosesten ›neuheidnischen‹ Dokumente« bewerten.2 Im Nachwort zur 2001 erschienenen polnischen Ausgabe des Romans Das einfache Leben (1939) schreibt Hubert Orłowski über die problematische Verortung Wiecherts im Kontext konservativer Traditionen sowie der Inneren Emigration und urteilt, dass die Notwendigkeit, die konservative Weltanschauung des Dichters zu legitimieren, stets Probleme bereite.3 Orłowski weist auf eine der vielen Perspektiven der heutigen Wiechert-Forschung hin, und zwar auf den Aspekt einer tiefen Diskrepanz zwischen der »unrechten« konservativen Weltanschauung des Dichters und seiner »rechten« kritischen Einstellung dem Dritten Reich gegenüber. Orłowski, der Wiechert einen »Autor konservativer Abstammung«4 nennt und sich damit vor allem auf sein literarisches Œuvre bezieht, behauptet, dass sein Schaffen vor 1935 öfters verschwiegen oder bagatellisiert wurde, um den oppositionellen Charakter seines Werks und seine schrift1 Mohler, Armin u. a.: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Darmstadt 1989, S. 67–77, 280, 323. 2 Kunicki, Wojciech: Ernst Emil Wiechert, in: Marek Zybura (Hg.), Pisarze niemieckojęzyczni XX wieku. Leksykon encyklopedyczny PWN , Warszawa u. a. 1996, S. 335 f.; Mohler: Die Konservative Revolution, S. 323. 3 Orłowski, Hubert: Ernst Wiechert a tradycje konserwatywne i emigracja wewnętrzna, in: Wiechert, Ernst: Proste życie, Olsztyn 2001, S. 339. 4 Ebd.

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Anna Gajdis

stellerische oppositionelle Integrität hervorzuheben. Laut Orłowski müssen die Kriterien zur Beurteilung und Klassifizierung von Dichtern überdacht werden, und Wiechert sei vor allem im Kontext seiner Zivilcourage und seines Protestes gegen den Nationalsozialismus zu beurteilen.5 In der neuesten Veröffentlichung zu Ostpreußen, der Monografie Prusy Wschodnie. Wspólnota wyobrażona (dt. Ostpreußen. Imaginäre Gemeinschaft 2019), hebt der Posener Germanist die Präsenz antimoderner und antizivilisatorischer Strömungen in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Werk Wiecherts hervor. Vielen Literaturforschern erscheint es jedoch schwierig, sein Werk eindeutig der ›Konservativen Revolution‹ zuzuschreiben, da die Ansichten und Überzeugungen des Dichters, die ihn in diesem Kreis situieren, nicht ausreichend belegbar sind. Wenn man sein Schaffen aus philosophischer Warte betrachtet, stehen die sogenannten ewigen Werte im Kontext einer ahistorischen masurischen Landschaft im Vordergrund. Unter den ewigen Werten lassen sich solche Größen wie Erde, Dorf, Landschaft, Gott und Mitmenschen oder Gemeinschaft nennen.6 In ihrer Einführung betonen Hubert Orłowski und Rafał Żytyniec, dass die Rückkehr aus dem Krieg, aus der fremden, weiten Welt und der Versuch, in der masurischen Landschaft psychisch zu genesen, den Schwerpunkt seiner Werke der 1930er Jahre bilden. Das Land der kristallenen Seen und dunklen Wälder sollte ein sicheres Remedium gegen die Modernisierungsprozesse und die Weimarer Republik sein.7 Ziel des folgenden Beitrags ist es zum einen, gewisse Elemente einer konservativen Weltanschauung von Wiechert hervorzuheben. Anhand seiner frühen Romanen wird gezeigt, welche Inhalte seines Schaffens aus der Perspektive der ›Konservativen Revolution‹ von Interesse sein könnten. Im Zentrum der Analyse stehen das Verhältnis zur Natur, die Anknüpfung an die germanische Mythologie und die archaische Vorzeit, eine deutliche Zivilisationskritik sowie das Kriegserlebnis. Zum anderen soll auf den bedeutenden Durchbruch im Werk Wiecherts und seine literarischen Folgen hingewiesen werden. »Der Durchbruch der Gnade«  – eine religiöse Wende im Leben des Dichters, die in den 1920er Jahren stattgefunden hat – veränderte seine Einstellung zum Leben und Werk bedeutend und begründete seine tiefe Enttäuschung dem Krieg gegenüber und seine Ablehnung jeder Gewalt. Im Fragment Lebensabriß (1932) erklärte der Dichter diesen Wandel folgendermaßen: Ich war vierzig Jahre, als der »Durchbruch der Gnade« über mich kam und die alte Form zerbrach. Er spülte den Haß hinweg und ließ mich in der Liebe. Er spülte das Ge-

5 Ebd., S. 341. 6 Vgl. Gajdis, Anna: »[…] warum schläft denn nimmer nur mir in der Brust ein Stachel?« Ernst Wiecherts Prosawerk der 30er Jahre, in: Sadziński, Witold u. a. (Hg.): Konstanz und Wandel in Sprache und Literatur, Acta Universitatis Lodziensis, Folia Germanica 11 (2015), S. 170. 7 Orłowski, Hubert / Żytyniec, Rafał (Hg.): Prusy Wschodnie. Wspólnota wyobrażona, Poz­ nań 2019, S. 37 f.

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setz hinweg, in dem ich aufgewachsen war, die Sicherheit, die Tradition und ließ mich an der Schwelle eines neuen Anfangs. Und von hier aus baue ich mein zweites Haus.8

Wiechert, der als Soldat an den Kämpfen des Großen Krieges teilnahm, sprach an einigen Stellen seines Werkes von dieser Wende, nannte aber keinen weltanschaulichen Grund seiner Veränderung. Stattdessen verzichtete er auf die Glorifizierung der Gewalt und des Krieges, protestierte sogar gegen den Krieg, lehnte das Heidentum und die germanische Mythologie ab. Seine Texte situierte er stets im masurischen Heimatland, dem er fortan ein erneutes Antlitz verlieh. Die masurische Landschaft blieb nach wie vor ewig und heilig, die Menschen still und bescheiden, über das Land herrschte jedoch nun das Wort Gottes und nicht die heidnischen Götter des Waldes.

»Jugendland lag vor seinen Füßen« – Wiecherts Debütroman Die Flucht (1916) Wiecherts früheres Schaffen, die für das Verständnis seiner konservativen Ansichten relevanten Romane Die Flucht (1916), Der Wald (1922), Der Totenwolf (1924), beinhaltet einige dominante Themen, die sein Gesamtwerk prägen. Die ostpreußische Provinz betrachtete er durch das Prisma der Natur und der Menschen. Seine literarische Welt besteht aus den eindrucksvollen Bildern der masurischen Landschaft: Es sind der dunkle Wald, die kristallenen Seen, rauschendes Wasser, Ufer, zahlreiche Vögel, vergessene Dörfer und Straßen. Das Gegenstück zur Natur scheint die Stadt zu sein. Sie ist bestimmt durch ein fremdes Interieur, das für die modernen technologischen Erscheinungen und die sozialen Veränderungen steht. Die Figuren seiner Werke sind »Stille im Lande«, bescheidene Pflüger, Bauern, Säer, Wald- und Torfarbeiter. Die Hauptgestalt des Romans Die Flucht, der junge Oberlehrer Peter Holm, ist gerade auf der intensiven Suche nach seinem Lebensziel, das durch das Schopenhauersche Bekenntnis des Lebens als Leiden überschattet wird. Er hat zwar eine Stelle an einem Gymnasium in der Stadt angetreten, steht seiner Lehrerexistenz jedoch ablehnend gegenüber und hasst das urbane Milieu, in dem er leben und arbeiten muss. Nach einer gescheiterten Liebesaffäre verzichtet er auf die didaktische Tätigkeit und kehrt in sein Heimatdorf Malinowko zurück. Seine kleine Heimat wird mit allen typischen Landschaftselementen gezeichnet. Sein Häuschen liegt tief in den masurischen Wäldern versteckt, weit weg von der Zivilisation. 8 Zit. Plesske, Hans-Martin: Vom Wort als Macht des Herzens. Versuch über Ernst Wiechert, in: Sinn und Form 40 (1988), S. 763; vgl. auch Krenzlin, Leonore: Suche nach einer veränderten Lebenshaltung. Ernst Wiechert: »Das einfache Leben«, in: Bock, Sigrid u. a. (Hg.): Erfahrung Nazideutschland. Romane in Deutschland 1933–1945. Analysen, Berlin u. a. 1987, S. 393.

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»Jugend« – das unverkennbare Zauberwort der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts – gilt auch für Peter Holm. »Jugendland lag vor seinen Füßen«9, so beschreibt der Schriftsteller die Ausgangssituation seiner Figur. Holm könnte als Vertreter seiner Generation gesehen werden: Er ist jung, sehr gut ausgebildet und dem Leben gegenüber verzweifelt. Abends vertieft er sich stundenlang in die Lektüre zeitgenössischer und romantischer Autoren. Er liest Hermann Bangs Am Wege (1886), die Werke von Iwan Turgenjew und die Gedichte von Uhland. Er greift nach der populären expressionistischen Zeitschrift Jugend oder setzt sich ans Klavier, um in der masurischen Wildnis Chopin und Beethoven zu spielen. »Die edle Frau Musika«10 ergötzt ihn genauso wie die nächtliche Lektüre von Schopenhauer, bei der er sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass ihm das Leben zwischen den Fingern hindurchläuft und die Flucht vor sich selbst, ihm als einzig mögliche Lösung erscheint. Unter den Lehrern hat er zwar einige Freunde, aber er sucht keinen intensiven Kontakt zu ihnen. Am 27. Januar hält er eine Rede in der Schulaula, die die ersten Signale seiner Kultur- und Zivilisationskritik erkennen lässt. Holm wendet sich gegen die Welt, gegen Kultur und Zivilisation und ruft als Gegenbild das Leben der alten Germanen ins Gedächtnis. Er erinnert die versammelten Lehrer und Schüler an das altgermanische Julfest, an die Reinheit, Treue, Heiligkeit sowie den Ehrgeiz der Vorfahren und möchte gerne diese Merkmale in die Gegenwart übertragen. Das moderne Hasten und Treiben, die Entgötterung der Natur und der Sieg des Finsteren über das Licht bleiben ihm verhasst.11 Stattdessen plädiert er für das Leben, das für ihn »Handeln, Denken und Lieben«12 bedeutet. Seine Rede ruft allgemeine Unzufriedenheit und Missmut hervor. Er stößt auf den Widerstand seiner Arbeitskollegen, die den Auftritt Holms antinational, kulturfeindlich und antireligiös finden.13 Er wird sogleich aufgefordert, zu erklären, dass er sich »in einem Zustande seelischer Depression«14 befunden habe, seine Behauptungen sollen als »unhaltbar, phantastisch und der Wahrheit nicht entsprechend«15 gebrandmarkt werden. Sollte er sich bei den Lehrern für seine Rede entschuldigen, könnte er die Freundschaft und die Vergebung des Lehrerkollegiums, das »die Hauptpflicht des Christentums«16 kenne, erreichen. Einer der Kollegen ermahnt ihn sogar, »mit dem Durchschnitt so zu leben, dass man Frieden hält, ohne sich aufzugeben oder zu erniedrigen, als mit Idealmenschen, wo man wie ein Kind unter Kindern leben könnte«17.

9 Wiechert, Ernst: Die Flucht, Berlin 1936, S. 125. 10 Ebd., S. 21. 11 Ebd., S. 97. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 106. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 107. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 95.

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Das Stadtleben und die Schule möchte er infolge dieser Ereignisse aufgeben, und nach einer gescheiterten Liebesaffäre scheidet er aus dem Schuldienst aus und kehrt in sein Heimatdorf Malinowko zurück, wo er das Gewand eines Bauers, Pflügers und Säers annimmt. Die alltägliche Feldarbeit soll Ruhe und Zufriedenheit mit dem Leben bedeuten. Ähnliche Figuren sind auch für das spätere Schaffen Wiecherts von Belang, und ihre Spuren findet man in allen seinen Werken. Die aus der öffentlichen Sphäre zurückgezogenen Personen suchen ihr Asyl in der masurischen Idylle und entwickeln das Konzept eines stillen Lebens inmitten der Natur. Aber Holm beschäftigt sich nicht nur mit der Arbeit auf seinem Bauernhof: Von seinen wenigen Bekannten wird er »gelehrter Mann«18, »Großagrarier! Dichter und Naturmensch«19 genannt – er ist Künstler und kulturorientierter Mensch. Nachts arbeitet er an einer Novelle, die später vom Verlag abgelehnt wird. Die Fragen nach einem Lebensziel und seiner Zugehörigkeit zur masurischen Welt bleiben offen, wobei Wiechert Holm eher als einen passiven Menschen porträtiert, der ziellos durch das Leben wandert und sich Fragen stellt, etwa, ob ihn seine Ausbildung, gute Manieren und elegante Kleidung nicht dazu verurteilen, sein Glück außerhalb des Heimatdorfes zu suchen.20 Im Pendeln seiner Gedanken zwischen der masurischen Heimat und der verhassten großen Welt keimt sein einziger Traum vom Schriftstellerberuf auf. Er träumt davon, ein angesehener Dichter zu werden, der viel Applaus von seinen Verehrern bekommt, und die ihm »folgten mit geschlossenen Augen in Länder, die meine Hand erschloss«21. Das Motiv des Künstlers, des Dichters oder Propheten liegt wie ein langer Schatten über dem gesamten Werk Wiecherts und ist zugleich Ausdruck seines Selbstverständnisses als Autor, der die Leser mithilfe des Wortes leitet. Im Debütroman ist sich die Hauptfigur ihres Versagens bewusst: Holm verzichtet auf Kultur und Großstadt, stattdessen wählt er die Einsamkeit. Von der Einsamkeit flüchtet er zu einer Frau, von der Frau zu sich selbst. Ihn quält »der Widerspruch zwischen dem Erträumten und dem Erreichten, das Bewusstsein des Unvermögens«22. Sein ständiges Schwanken zwischen dem Großstadtleben und der einfachen Dorfexistenz nimmt letztlich kein erfreuliches Ende. Holm verbringt einen amüsanten Abend in der Stadt, die ihm, wahrscheinlich erstmals, in positivem Licht erscheint. Nach seiner Rückkehr nach Hause nimmt er einen Revolver aus dem verschlossenen Fach und erschießt sich. Was an diesem Roman auffällt, sind die Beziehungen Holms zu den Frauen. Er sucht nach den Frauen, die aus Masuren kommen und Verständnis für Land und Leute der Provinz haben. Er durchlebt zwei Liebesaffären: die eine mit Lenore Koske, die andere mit Margot Mertins. Die Frauenfiguren, die in der 18 19 20 21 22

Ebd., S. 116. Ebd., S. 174. Ebd., S. 211. Ebd., S. 89. Ebd., S. 90.

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bisherigen Wiechert-Forschung äußerst marginal behandelt wurden, werden nach einfachen Kriterien geteilt. Zwar integriert Wiechert die Ansichten Johann Jakob Bachofens in seine Romane und Erzählungen – darauf wird später noch einzugehen sein –, aber in seinem Debütroman entscheidet er sich jedoch, alle matriarchalen Konzepte beiseitezulegen und eine junge verführerische Frau auf die Bühne zu führen. Margot Mertins unterscheidet sich fundamental von seinen späteren Frauengestalten, die meist die Rolle der stillen Dulderin übernehmen. Sie verbringen ihr Leben an der Seite eines Pflügers, sind mit dem Leben in der masurischen Einöde zufrieden und träumen nie vom Großstadtleben. Eine Ausnahme bildet nur die zweite Geliebte Holms, Margot Mertins, die wie einer der Mosaiksteine der Wiechertschen Kulturkritik wirkt. Sie ist eine verheiratete, schöne, sinnliche und verführerische Frau, die Holm seiner Sinne beraubt. Dieser Frauentypus, wie er später von Wiechert nie mehr porträtiert wird, weist Ähnlichkeiten mit dem Bild der »Neuen Frau« auf.23 Schön, mutig, provokant, sinnlich und erotisch anziehend tritt Margot Mertins auf und verschwindet auch schnell aus dem Leben Holms, da er nie wagen würde, eine ernsthafte Beziehung mit ihr einzugehen. Holm entscheidet sich stattdessen für die Beziehung mit seinem Dienstmädchen, das seinen Vorstellungen einer bescheidenen Hausfrau und Gattin völlig entspricht. Den Roman Die Flucht könnte man als eine Art Bildungsroman lesen, der den Weg eines jungen Menschen beschreibt. Wiechert zeigt die Rebellion der Jugendzeit, die Fragen nach dem Lebensziel, die einem offenstehenden Welten und schließlich die Entscheidung, sich gegen das Leben auszusprechen. Es ist eine Revolte gegen die begegnete Welt, deren Protagonist unfähig ist, die von ihm bestrittene Welt zu verwandeln. Eine solche Figur musste viel Widerspruch hervorrufen, da sie im Grunde genommen am Leben scheitert. Holm besitzt alle Voraussetzungen, im Leben erfolgreich zu sein, reiht sich jedoch nicht unter die jungen Expressionisten ein, die die alten familiären und sozialen Regeln infrage stellen und einen neuen Menschen fordern. Wiecherts Hauptfigur zieht sich zurück, und ihre Erfahrungen und Beschlüsse veranlassen sie dazu, nach einem Revolver zu greifen.

»Leid und Haß der Zeit berührten ihn nicht mehr« – Der Wald (1922) Der Hauptmann Henner Wittich, die Hauptfigur des zweiten Romans Der Wald, kommt von der Front des Ersten Weltkriegs nach Hause zurück und erbt das Haus und den Wald seines Oheims Franziskus Wittich. In einem ärmlichen 23 Als eine verwandte Seele der »Neuen Frau« kann eventuell auch Gina Jeromin aus dem Roman »Die Jerominkinder« gelten, die das Dorf verlässt und in der Stadt Karriere macht. Zur Figur der »Neuen Frau« vgl. auch Kessemeier, Gesa: Sportlich, sachlich, männlich. Das Bild der »Neuen Frau« in den Zwanziger Jahren. Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Körperbilder in der Mode der Jahre 1920 bis 1929, Dortmund 2000.

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Häuschen inmitten des Waldes lebt er mit seinem treuen Diener Isegrim und seinen zwei Cousinen Wera und Elsabe. Seine Rolle versteht er als die »eines Bruders des Waldes und eines Herrn des Menschen«24. Zwei zentrale Elemente treten hier in den Vordergrund: Das eine ist der Wald, dieses konstitutive Element der ostpreußischen Landschaft, dem in diesem Werk eine große Palette von Rollen und Symbolen zugeschrieben wird. Das andere ist die Gestalt von Henner Wittich, dem man im Dorf viel Böses nachsagt und der als von seinem Erbe besessen erscheint. Er ist bereit, den Wald gegen alle äußeren Einflüsse zu verteidigen und jeden Waldbesucher gleich zu erschießen. Eine fast mythische Verbindung mit der Natur wird in diesem Roman beschrieben, wobei der Wald mit unterschiedlichen Eigenschaften versehen wird.25 In der masurischen Landschaft ist er ein symbolischer, zeitloser und abgetrennter Ort, umgeben von einer fremden, feindlichen Welt, die keinen Zutritt zum Wald haben darf. Auffallend sind die Metaphern, mit denen er beschrieben wird. Je nach Jahreszeit verändert sich das Gewand des Waldes: Er steht im »süßen, schweren Zauber«26 des Sommers, im Herbst verwandelt er sich in einen sakralen Ort, der »vom Gott der sterbenden Erde«27 besucht wird, Ende Oktober erinnert er an ein leeres hallendes Haus, dessen Türen jemand zu schließen vergaß.28 Diese archaisierenden Vorstellungen des Waldes werden durch die merkwürdigen Figuren verstärkt, die den früheren Hauptmann Wittich begleiten. Sein Diener Isegrim lebt seit eh und je im Wald, früher begleitete er Franziskus Wittich. Die beiden Cousinen Wittichs sind die Schwestern des Waldes. Elsabe, die eine von ihnen, heiratet Wittich, die Trauung muss natürlich im Wald stattfinden. Der Priester kommt aus der Stadt und kann sein Erstaunen über die Feier kaum verbergen, zumal er gleich gewarnt wird, erschossen zu werden, sollte er den Wald ohne Erlaubnis betreten. Direkt nach der Trauung verlässt er den Ort, fast stolpernd. Als Gott und der Schutzgeist des Waldes erscheint ein grünes Männlein. Götter beschützen das ganze Gebiet, lassen die Bäume wachsen und Tiere leben. Der Frage nach dem Verhältnis Wittichs zum Wald sei an dieser Stelle Platz eingeräumt. Wittich kommt nach 20 Jahren der Abwesenheit nach Hause zurück und ist tief überzeugt, dass ihn der Wald zurückziehe und es seine Aufgabe sei, sein Eigentum um jeden Preis zu schützen. »Das Blut des alten Geschlechts«29, als eine der Ursachen seiner Rückkehr, führt dazu, dass sich Wittich seinem mythischen Erbe annähert und um ein tieferes Verständnis der ihn umgebenden Natur ringt. Der mit Hass und Abneigung gegen Menschen und Welt erfüllte Hauptmann durchläuft zugleich eine sonderbare Wandlung, die sich in einer 24 Wiechert, Ernst: Der Wald, Berlin 1935, S. 83. 25 Zur Rolle des Waldes und seiner Mythisierung in der deutschen Literatur vgl. Orłowski u. a. (Hg.): Prusy Wschodnie, S. 27 f. 26 Wiechert, Der Wald, S. 57. 27 Ebd., S. 157. 28 Ebd., S. 188. 29 Ebd., S. 117.

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Szene verdeutlicht, deren Zentrum das Ringen um die Seele des Waldes bildet: Wittich ist von Hass gegen die grünen Wipfel erfüllt, er läuft durch den Wald und sucht aufgeregt nach dem Wild, das sich ihm jedoch entzieht und in den Ästen verbirgt. Erst am Abend erlegt er einige Vögel, kann jedoch keine Freuderufe von sich geben. Er setzt sich stattdessen erschöpft nieder und vergräbt sein Gesicht in den Händen.30 In dieser Krise bricht sich die Liebe zum Wald Bahn, Wittich wird fortan zum Verteidiger des Waldes, einem einsamen, stolzen und siegesgewissen Kreuzritter ähnlich, der seinen Weg alleine beschreiten muss.31 Die Überzeugung, dass man nicht ohne den Wald leben könne, wird deutlich zum Ausdruck gebracht: Ohne Pferd, ohne Büchse könnte man leben, wenn man müsste. Vielleicht auch ohne König. Aber ohne dies konnte man nicht leben, ohne den Atem der Erde, ohne das Rauschen des grünen Gottes. Die Worte des Traumes standen auf wie mit fernen Posaunenklängen: Wo ist Gott? Im Walde! Im Walde!32

Das Ideal eines einsamen Lebens in der masurischen Öde ähnelt dem literarischen Konzept eines Landsmanns Wiecherts, des Dichters und Dramatikers Alfred Brust (1891–1934). In der neuesten Forschungsliteratur merkt Andreas Degen an, dass auch Brust der ›Konservativen Revolution‹ zuzurechnen sei. Auch dieser Dichter lehnte die dekadente westliche Zivilisation und alles Urbane ab und suchte nach Alternativen, die er in der geistigen Erneuerung des Menschen und einer Restitution des Mythischen zu finden glaubte.33 Von der Geschichte der alten Pruzzen und der Schönheit der ostpreußischen Landschaft begeistert, situiert Brust die Handlung seiner Romane, Erzählungen und Dramen in den weiten Ebenen der Provinz. Seine Helden sind oft Nachfahren der ausgestorbenen Pruzzen, die sich im Protest gegen den Staat, die Modernisierung, die Einführung neuer Technologien und den zivilisatorischen Fortschritt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Wald zurückziehen, die Menschen und die Stadt meiden und ihr Leben inmitten der Natur meistern. Brusts Roman Eisbrand. Die Kinder der Allmacht (1933) endet mit einer überwältigenden Szene, in der sich die durch eine Pferdeherde verkörperte Natur gegen die moderne Welt erhebt. Zahlreiche Pferde rasen durch die Welt und sind nicht mehr zu hemmen. Bei Wiechert muss die Natur hingegen untergehen, was eines der Hauptthemen seines Romans Der Wald ausmacht. Mit dem Besuch von Dr. Matthias Plurr bei Wittich deutet sich das unaufhaltsame Eindringen eines neuen Zeitgeistes an. Der aufdringliche und unnachgiebige Plurr beabsichtigt, Wittichs Wald im Geiste der kommenden Zeit 30 31 32 33

Ebd., S. 116 f. Ebd., S. 159 f. Ebd., S. 120. Vgl. Degen, Andreas: Alfred Brust und Bruno Taut. Literarische und architektonische Alternativen zur Großstadt im Umkreis der ›Gläsernen Kette‹, in: Košťálová, Dagmar u. a. (Hg.): Großstadt werden! Metropole sein! Bratislava, Wien, Berlin – Urbanitätsfantasien der Zwischenkriegszeit 1918–1938, Frankfurt / Main. 2012, S. 207–209.

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zu »modernisieren« und allen zugänglich zu machen. Der Wald, »ein köstlicher Edelstein in der Krone unserer Heimat«34, soll besonders für die Jugend geöffnet werden. Während sich Wittich hinter seinen alt-heidnischen Vorstellungen über sein Heiligtum verschanzt und den Zutritt zum Wald konsequent verbietet, verfügt Plurr über institutionelle Macht, dank derer er sein Vorhaben in die Tat umsetzen kann. Sowohl er selbst als auch seine Tochter kündigen die Ankunft einer neuen Epoche an. Gudrun Plurr steht für einen neuen Menschen und eine neue Götterdämmerung, wobei »der rote Doktor«35, wie Matthias Plurr genannt wird, deutlicher auf den gegenwärtigen sozial-politischen Hintergrund seiner Epoche eingeht: Man darf sich dem Zuge der Zeit nicht verschließen, Herr Wittich! Die Seele des Volkes ist auferstanden, die lange geknechtete. Sie reißt die Pforten auf und blickt ins Morgenrot. Sie stößt dem Kapitalismus das Messer in den goldgeschwollenen Leib. Sie greift nach ihrem Anteil an der Seligkeit […] das tut sie! Fürwahr! Die Armen der Erde sind Brüder geworden, die Enterbten, die Sklaven […] Die Ketten sind gefallen, der Kadaver besinnt sich auf seine Rechte, die droben hangen, ewig wie die Sterne, wie Friedrich von Schiller meisterhaft in seinem Schauspiel Wilhelm Tell sagt […] Und da ist nun, beispielsweise, der Wald! Eine Quelle der Ernährung, der Wärme, der Gesundheit, des aufbauenden Lebens! Aber sie steht verschlossen. Es steht jemand davor, ein Offizier, ein Kriegsheld, die Flinte in der Hand, und lässt niemand hinein. »Denn wieso?« fragt das Volk. »Die Bäume gehören jedem, die Beeren, die Pilze, die schnellfüßigen Rehe […] aber nun nimmt sie einer, und wir frieren und hungern.« So ist’s!36

Mit zahlreichen Argumenten »des Rufes der Masse, des Schreis der allgemeinen Meinung und der Stimme der Natur«37 erobert sich Plurr den Zutritt zum Wald. Infolge des neuen Reichforstgesetzes, dessen Verabschiedung Plurr stark beeinflusste, werden Wittichs Haus junge Arbeitslose als Mieter zugeteilt, das Verbot des Betretens des Waldes tritt außer Kraft und durch den Wald wird eine neue Straße geführt, um den Verkehr zu erschließen und die Holzabfuhr zu erleichtern.38 Das konsequente Handeln Plurrs erlaubt keinen Zweifel, dass Wittichs Heiligtum vernichtet wird. Auf Weras Bemerkung: »Sie werden deinen Gott töten. Weißt du?«39 antwortet Wittich dumpf: »Ja, ich werde ihn töten!«40 Die sich anschließende Beschreibung, wie sich Henner Wittich an seinem heiligen Wald vergeht, kann den Leser noch heute mit Erschrecken erfüllen. Er und Isegrim zerstören den gesamten Organismus des Waldes, wobei die Ausführung dieses gewaltvollen Vorhabens mit dem Erschießen des Wildes beginnt: 34 Wiechert, Der Wald, S. 131. 35 Ebd., S. 146. 36 Ebd., S. 138 f. 37 Ebd., S. 140. 38 Vgl. ebd., S. 225. 39 Ebd., S. 234. 40 Ebd.

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Der Isegrim brach durch die Dickungen, Kugel auf Kugel verwendend. Und an den Wechseln stand Henner, und scharf und böse antwortete seine Büchse dem Todesschrei aus der Dickung. Splitternd flog die Rinde über das welke Moos, und schnell verrann der edle Schweiß des Wildes in der dürstenden Erde. Manchmal glühten die Büchsenläufe, so schnell brach Schuß auf Schuß aus dem dunklen Rohr. Dann legten sie die Stirn an die Rinde der Bäume und schlossen die Augen in qualvollem Weh. Groß war der Wald, und vieler Tiere Heimat lag zwischen seinen ragenden Stämmen.41

Der Untergang des Waldes ist in vollem Gange. Die letzten Vögel schreien noch in den Zweigen, der Wind weht über den See und treibt hastig die Wellen und die Götter des Waldes nehmen Abschied von ihrem Reich. Die letzte Phase des Untergangs beginnt am Abend, als der Wald zu brennen beginnt und die bislang unberührten Reste komplett verwüstet werden. Am Ende bleibt der Wald als »das schwarze Gerippe«42, und als das Todeslied über dem gemordeten Wald erklingt, verlassen Wittich und Isegrim den niedergebrannten Ort. Der Große Krieg als Thema, das diesen Roman durchflicht, soll ebenfalls nicht unbeachtet bleiben. Zwei Figuren des Werks – Henner Wittich und der Lehrer Peter Lenze – nahmen am Krieg teil. Während Lenze dem Krieg mit dem Lachen begegnete, nahm Wittich »Helm und Schwert«43 und glaubte, auf dem Schlachtfeld sein Glück zu finden. Wiechert zeigt junge Männer, die mutig in den Krieg ziehen, die ihre Kameraden im Bataillon in den sicheren Tod schicken und die erschreckenden Kämpfe miterleben müssen. Der Kampf wird höher als Liebe, Familienglück oder Ehe bewertet, auch müssen die jungen Soldaten bereit sein, »immer, zu jeder Zeit«44 zu sterben. Im Laufe der Zeit führen die Erlebnisse des Krieges zu einer tiefen Wandlung der beiden Figuren. Wittich, der unerschrocken an den Kämpfen teilnahm, berichtete von den ununterbrochenen Schusswechseln, von den zahlreichen Toten in den Kampfgräben, von seiner verzweifelten Suche nach dem grünen Gott der Wälder und von den unzähligen Opfern und wenigen Überlebenden. Mit Erbitterung und Verdruss gedenkt er der Hölle des Krieges: […], wo der Mensch aufgehört hatte, als Mensch zu gelten und zu kämpfen; wo der Feind nicht Faust, nicht Auge, nicht Blöße hatte, sondern einer unendlichen, rohen, wilden, unirdischen Erzmasse glich, die von fremden Riesen geschleudert wurde; die sinnlos und wahllos zerschmetterte, und vor der man ohnmächtig stand, als ob man mit dem blanken Schwerte in der Faust ein Gebirge granitner Felsen zum Zweitkampf herausfordern sollte. Er hatte sich beugen müssen, und nicht Gott noch Menschen gab es, denen er das hätte vergeben können.45

41 42 43 44 45

Ebd., S. 249 f. Ebd., S. 257. Ebd., S. 43. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79 f.

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Der zweite Protagonist, der Lehrer Lenze, erinnerte sich an seinen unaufhalt­ samen Drang, an die Front zu gehen und seinen Mangel am Verständnis für die menschlichen Schwächen. Seine Kriegserlebnisse sind denen Wittichs vergleichbar. Lenze berichtet aber von seiner Wandlung, die auf dem Schlachtfeld stattgefunden habe. Er wird durch den Schuss eines Offiziers schwer verwundet, gleichzeitig zerreißt ein Granatsplitter das Bein des Offiziers. Lenze schleppt sich zu ihm und erschießt ihn. Bewusstlos liegt er stundenlang auf dem Schlachtfeld und in den darauffolgenden Träumen und Visionen erlebt er eine Katharsis. Wieder genesen zieht er erneut in den Krieg, jedoch »wie man zu einen Begräbnis geht«46. Infolge der jeweiligen Kriegserlebnisse sind beide Charaktere gegen Töten, Gewalt und das Erschießen von Menschen. In Masuren finden sie Ruhe und Stille und werden von liebenden Menschen umgeben, bevor sich der neue Zeitgeist bei ihnen meldet.

»Mit der Büchse für Gott und Vaterland« – Der Totenwolf (1924) Der Totenwolf (1924), der dritte Roman des Frühwerks Wiecherts, setzt einerseits die Tradition des Entwicklungsromans fort, in dessen Vordergrund die Figur des jungen Wolf Wiedensahl steht. Andererseits konzipiert Wiechert den masurischen Mikrokosmos hier in einer Art, dass er keinesfalls als antizivilisatorische Idylle und Gegenentwurf zu den technologischen, sozialen und kulturellen Phänomenen der Weimarer Republik zu verstehen ist. Wiechert verbindet auch hier die zwei in seinem Werk untrennbaren Komponenten: den Ort und die Hauptfigur. Der Roman zeigt die Entfaltung eines jungen Menschen, der sein prekäres soziales Milieu verlässt, begeistert in den Großen Krieg zieht und die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg als Aufruf begreift, das Land und die Menschen zu erneuern. Das Elend und die Armut des Milieus, aus dem der Protagonist stammt, wirken zunächst überraschend. Wiechert, der die masurische Landschaft in seinen späteren literarischen und publizistischen Texten so meisterhaft porträtierte, nimmt ihr in diesem Werk ihre ganze Schönheit.47 Dort, wo der Schriftsteller in seinem ersten Roman, Die Flucht, Masuren zu einer Idylle stilisierte, dekonstruiert er hier jeglichen landschaftlichen Reiz. Der Totenwinkel, aus dem Wiedensahl stammte und wo seine Familie ein kleines Häuschen mit einem Grundstück besitzt, ist ein weit vom Dorf abgelegener, schmutziger und verfallener Ort. Der Name stammt von einem Fahnenflüchtigen, der das Gehöft einen »toten Winkel«, »von keiner Geschoßgarbe erreichbar«48, nannte. Das schäbige und stets mit Schwermut verhüllte Häuschen der Familie Wiedensahl, 46 Ebd., S. 108. 47 Vgl. Wiechert, Ernst: Frau Majorin (1934), Das einfache Leben (1939), Die Jerominkinder (1945/47). 48 Wiechert, Ernst: Der Totenwolf, Regensburg u. a. 1924, S. 49.

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das keinesfalls als »Werk anderen, menschlichen Lebens«49 anzusehen ist, verschmilzt allmählich mit der Landschaft. Die Fichtenäste liegen auf dem Dach, die Ahornblätter auf der Holztreppe.50 Der kleine Wolf wächst dort auf, auf eigene Faust entdeckt er die Wildnis des Waldes und der Brombeerdickung. An diesem Punkt verschwimmt die Grenze zwischen Mensch und Tier, und das kleine Kind lernt tapfer alle Geheimnisse der Natur kennen. Wiechert füllt diesen düsteren, grauen Ort mit den merkwürdigen Gestalten, deren Hauptcharaktereigenschaften Arroganz, Dünkel und Willkür sind. Wolfs Vater, Klaus Wiedensahl, missachtet alle moralischen Gesetzte, so hat er etwa keinen Respekt vor seinen Eltern. Er und seine Ehefrau Elsa wünschten sich kein Kind, weshalb Wolf der Großmutter Agnete zur Pflege gegeben wird. Die Bewohner des Moordorfes werden größtenteils negativ bewertet, was sich etwa im Besuch Klaus Wiedensahls in der Schenkstube veranschaulicht. Dort sitzen stumme Menschen mit blassen Gesichtern, die nicht anders als »Tote« oder »Betrunkene« beschrieben werden. Der Wald bietet zwar Wild und der Strom Fische, aber das Leben an diesem entlegenen Flecken ist nicht einfach. In die gleiche ästhetische Kategorie reiht sich auch die Schule des Orts mit ihren schmutzigen Klassenräumen und gewalttätigen Schülern ein. Für den aggressiven Schulmeister Mroczek, dem grundlegende erzieherische Kompetenzen fehlen, sind alle Schüler Schweine, die er bei jeder Gelegenheit prügelt. In einem solchen Moment der Peinigung setzt die Bildung Wolfs, »des Gottessuchers und eines Leibgezeichneten«51, ein. Da auf seine Eltern kein Verlass ist, stehen ihm nur seine Großmutter Agnete und sein Onkel Hermann zur Seite. Unter dem Einfluss eines neuen Lehrers, Hans Erickson, entwickelt Wiedensahl Interesse an der germanischen Mythologie, lehnt die bevorstehende Konfirmation ab und sucht nach einem neuen Glauben, den er mit Schwert und Kampf assoziiert. Unter diesen Voraussetzungen formt er sein dualistisches Weltbild: »[…] das Moordorf mit allen Wölfen und Schmutzigen, das die ganze Erde erfüllte, weit und breit, und darüber, strahlend und rein, die Großmutter und Onkel Hermann. Nebelmenschen und Lichtmenschen, etwas anderes gab es nicht, Schlangen und Drachen und darüber der Held. So war es früher gewesen, so würde es bleiben.«52 Die Unterscheidung in Nebel- und Lichtmenschen, die sich durch konkrete physische Merkmale manifestiert,53 durchzieht das Gesamtwerk Wiecherts, und ihr Verhältnis zueinander wird

49 Ebd., S. 29. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 96. 52 Ebd., S. 73. 53 Herbert Sommer bemerkt, dass der idealistische Lichtmensch graue oder braune, traurige Augen und lange schmale Hände hat. Der selbstsüchtige Nebelmensch hat einen starren, oft toten Blick und schaufel- oder spinnenartige Hände. Vgl. Sommer, Herbert: Das Menschenbild im Romanwerk Ernst Wiecherts, in: Monatshefte für den deutschen Unterricht 57 (1965), S. 346.

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durch Feindschaft bestimmt. Die Lichtmenschen bedeuten jedoch kein Lob der germanischen Rasse, wie Herbert Sommer bereits 1965 betont, finden sich unter den Lichtmenschen doch auch Vertreter anderer Völker, wie z. B. der jüdische Arzt Lawrenz aus dem Roman Die Jerominkinder (1945/47).54 Es sind vor allem »egozentrische Einzelgänger«, deren Lebensideal nicht die Hingabe an eine Gemeinschaft, sondern die Selbstentwicklung gemäß ihrer inneren Anlagen ist.55 Wiedensahls Misstrauen der Realität gegenüber vertieft der Besuch in der nahen Stadt, währenddessen er zur Überzeugung gelangt, dass das deutsche Volk und die deutsche Seele einer notwendigen Rettung bedürften. In den folgenden Kapiteln reift in ihm der Gedanke einer Mission zur Erneuerung der Welt und zur Rettung der deutschen Seele. Immer mehr verwandelt sich seine Welt in die der alten Germanen. Hilde Erickson, die Tochter des Lehrers, muss ihm zur Walküre werden und alle warten auf Siegfrieds Hornruf, der endlich erschallt. Wolf Wiedesahl, sein Onkel Hermann und der Dorflehrer Erickson ziehen in den Ersten Weltkrieg, womit die Transformation Wiedensahls zum Totenwolf einsetzt, der den Krieg enthusiastisch befürwortet und sich mit seinen Kameraden am Kriegsalltag beteiligt. Die Kriegsrealität besteht aus dem Wechsel von Kämpfen und Rückzügen, aus in verschlammten Gräbern verbrachten Tagen und Nächten, dem Bau von Hindernissen und langen Märschen in schweigenden Kolonnen.56 Wolf und seine Kameraden finden nach und nach Gefallen am Kampf, am Angreifen des Feindes im »toten Land« und am Gefühl einer militärischen Bruderschaft. Wenn der Krieg nicht mehr auszuhalten ist, erinnert sich Wiedensahl an seine Mission der Eroberung der Welt und des bevorstehenden Kampfes um die deutsche Seele, die deutsche Erde und an das Waldeshaus.57 Dem bitteren Kriegsende verleiht Wiechert eine mythologische Dimension: »[…] löschte der Gott des Krieges langsam und widerwillig die sinkende Fackel im letzten Blute, und Wolken und Nebel senkten sich tief über den deutschen Wald und über die deutsche Seele. Zu ihren Wohnungen kehrten die Götter heim, Schwerter und funkelnde Lanzen mit sich nehmend, und düster zog die Sonnenwende über die deutsche Erde.«58 Abgerundet wird diese allegorische Beschreibung des Kriegsendes durch das Bild des Totenwolfes, der über dem Grabe der deutschen Seele heult. Doch bedeutet das Ende des Ersten Weltkriegs noch nicht das Ende des Kampfes. Ein neuer Krieg um einen neuen Glauben, einen neuen Gott und um ein neues Haus für die deutsche Seele wird nun ausgerufen.59 Der Wille zur Erneuerung und Eroberung der Welt erfasst Wiedensahl wie eine Flamme. Das

54 Ebd., S. 347. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 150. 57 Ebd., S. 151. 58 Ebd., S. 178. 59 Ebd., S. 182.

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Gefühl, dass die alten Formen dem modernen Zeitgeist nicht mehr entsprechen, wird mehrfach beschrieben. Das merkwürdige Porträt des Totenwinkels und seiner Bewohner, die verfallene Umgebung, deren Merkmale Dreck, Rückstand und Trunksucht sind, erlauben die Vermutungen, dass Wiechert hier nicht unbedingt seine ostpreußische Heimat porträtiert, die er stets idealisierte, sondern wohl eher an das gesamte Deutsche Reich dachte. Die Handlung aller Werke Wiecherts spielt in Masuren, und seine Figuren kommen meist aus einem sozialen Milieu, das Walter Delabar so treffend charakterisierte: Die Hauptfiguren Wiecherts rekrutieren sich nun nicht aus beliebigen sozialen und beruflichen Bereichen, sondern aus einem recht schmalen Spektrum. Sie sind Bauer, Fischer, Moorstecher, Fährmann, Soldat; wo sie aus höheren militärischen und so­ zialen Rängen kommen, wie Orla in Das einfache Leben, weisen sie sich selbst durch ihre, vor allem bäuerlichen Tätigkeiten eine nachrangige soziale Position zu und ziehen sich aus der Gesellschaft in die Einsamkeit, aufs Land zurück. Auch diese Korrespondenz von (zum Teil selbstgewählten) niederem sozialen Rang, bäuerlichen-landwirtschaftlichen Berufen und ländlich provinziellem Handlungsraum ist konzeptionell gemeint und weist sich selbst nicht nur (negativ) als Rückzug aus dem Gesellschaftlichen, sondern auch (positiv) als ursprüngliche und empfehlenswerte Handlung und Haltung aus.60

Der Roman Der Totenwolf fällt aus dem Rahmen. Es ist kein Bild von Masuren, sondern eine äußerst kritische Stellungnahme zur aktuellen Situation Deutschlands, die durch die Begründung einer neuen staatlichen, politischen, sozialen und kulturellen Form verbessert werden soll. Folgt man Wiechert, so befand sich das Deutsche Reich in einem miserablen Zustand, der einer alle Lebensbereiche umfassenden Veränderung dringend bedurfte. Die expressionistische Parole vom neuen Menschen sollte folglich mit dem politischen Willen, eine neue staatliche Form aufzubauen, vereinigt werden. Der Totenwinkel samt seinen Bewohnern steht für den Verrat an den einfachen Menschen. Auf der einen Seite gefährdet das Land der »rote Stern«61 im Osten, auf der anderen Seite wird die Enttäuschung der Deutschen durch die Novemberrevolution deutlich. So wird auch im Roman Wiecherts vom Vaterland, vom Dolchstoß, von der Monarchie und der »Versöhnung der Klasse­ gegensätze«62 gesprochen, auch wird das Deutschlandlied gesungen. Doch veranlasst die aussichtlose Situation Wiedensahl schließlich, die dörfliche Schenkstube mit den sich dort befindenden Festteilnehmern in Brand zu setzen. Das Verbrennen seiner vertrauten Welt ist ein symbolischer Akt des Abschieds von der alten Existenz und der Hoffnung auf ein neues Leben. 60 Delabar, Walter: Unheilige Einfalt. Zu den Verhaltenskonzepten in den Romanen von Ernst Wiechert, in: Christiane Caemmerer, Walter Delabar (Hg.), Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933–1945, Opladen 1996, S. 135–150. 61 Wiechert, Der Totenwolf, S. 187. 62 Ebd., S. 191.

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»Durchbruch der Gnade« und seine (literarischen) Konsequenzen Wiecherts »Durchbruch der Gnade« der 1920er Jahre verursachte eine grund­ legende Wende im Leben und Schreiben des Dichters. In den literarischen Werken der folgenden Jahre verzichtet er auf die Verherrlichung des Krieges; der Gewalt und dem Töten wird kein Platz mehr eingeräumt. Nur das masurische Interieur bleibt unverändert, der Schriftsteller kann sich auch fortan nicht von seiner Heimat trennen, und die Natur steht weiterhin im Zentrum seines Interesses, doch gewinnt sie eine neue Rolle. Im Roman Die Majorin (1934) ist die Natur fürsorglich und mütterlich, kann heilen, gibt Schutz und Geborgenheit. Im Walde herrscht nicht mehr der Herr mit den wölfischen Augen, sondern die liebevolle Majorin. Sie nimmt ihr Land und ihre Leute in Obhut, und der Heimkehrer Michael Fahrenholz kann sein Leben nach dem Krieg aufs Neue anfangen. Er lernt Feldarbeit, vergisst Schießen und Töten, erinnert sich plötzlich an die Freuden des Lebens, wie zum Beispiel an das Schwimmen im See. In Wiecherts Texten der 1920er und 1930er Jahre wird der Krieg entschieden anders porträtiert,63 so werden dem Leser im Roman Jedermann und in den zahlreichen Erzählungen dieser Zeit verschiedene Kriegsbilder vor Augen geführt. Junge Soldaten verließen ihr Zuhause und gehen an die Front, wo sie mit den schrecklichsten Kriegserlebnissen konfrontiert werden. Lange, ermüdende Märsche zu den Schachtplätzen, Töten, Schlagen, Erschießen der Feinde, das Gefühl der psychischen und physischen Erschöpfung, das langsame Auslöschen der eigenen Identität und die Sehnsucht nach den Nächsten kennzeichnen Wiecherts Werke. Die Darstellung des Kriegs, in dem die Mütter ihre Söhne in den sicheren Tod schicken, geht auf die matriarchalen Konzepte der Bachofenschen Philosophie zurück.64 Die Figur der großen Mutter, des Symbols des Ewigen und der lebensspenden Kraft, beherrscht nicht nur die Naturbilder, sondern auch die Kriegsthematik in Wiecherts Schreiben. Wenn die Söhne aus dem Krieg kommen, haben sie keinen Enthusiasmus für Gewalt und Töten mehr, wie es etwa bei Henner Wittich noch der Fall war. Sie sind die Heimkehrer, wollen mit dem Leben nach dem Krieg zurechtkommen und wünschen sich »keinen Glanz um die Stirn«65, wie Johannes von Orla, die Hauptfigur des Romans Das einfache Leben es beschreibt. Der Korvettenkapitän von Orla ist einer der Heimkehrer aus dem Großen Krieg, der jedoch, etwa im Unterscheid zu Wittich, die verheerenden Folgen des Ersten Weltkrieges erkennt: Er sieht die materiellen Verluste in den Städten, die vielen Kriegskrüppel, die an allen Orten lauernde Armut und 63 Vgl. auch Gajdis, Anna: »[…] warum schläft denn nimmer nur mir in der Brust ein Stachel?« S. 169–177; Gajdis, Anna: Der Große Krieg in der »zerbrechenden Welt«. Ernst Wiecherts Prosawerk der zwanziger und dreißiger Jahre, in: Karsten Dahlmanns u. a. (Hg.): Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg. Studien, Göttingen 2020, S. 311–325. 64 Vgl. Gajdis, Der Große Krieg in der »zerbrechenden Welt«, S. 321–325. 65 Wiechert, Ernst: Das einfache Leben, München 1939, S. 76.

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das Elend, und er hofft, in der masurischen Idylle, ein neues, bescheidenes Leben zu gestalten. Dieses Konzept eines einfachen Lebens hilft ihm, den früheren Enthusiasmus für den Krieg zu vergessen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gestand Wiechert, dass seine frühen Romane ein Irrtum gewesen seien. In seiner Autobiografie Jahre und Zeiten (1949) beurteilte er seinen ersten Roman als »ein egoistisches Buch, […], ein egozentrisches«.66 Über Der Wald und Der Totenwolf äußert er sich ebenso kritisch. Es seien unwahre Bücher gewesen mit den übersteigerten Problemen, Gestalten und Sprache, doch wirkten sie wie eine Reinigung und Überwindung eines dunklen Zeitalters. Die damals große Resonanz der beiden Bücher habe ihn schließlich überzeugt, dass man an einem Buch mit Ruhe, Stille und ohne jede Leidenschaft arbeiten müsse.67 Der Wald und Der Totenwolf seien notwendige Bücher für ihn gewesen, die wie ein den Körper langsam reinigendes Fieber gewirkt hätten. Den Ersten Weltkrieg bewertet er hingegen als eine schwere Prüfung, die sein Leben erschüttert habe, den er jedoch »mit Gehorsam, mit Güte, mit Menschlichkeit und mit dem großen Erbarmen, das ich für alles Leidende unverlierbar gewann«, überstanden habe.68 Den Totenwolf nannte er einen »Zoll an die dunklen Mächte, die schon unter der Oberfläche am Werk waren, von deren Gesicht noch wenig zu erkennen war, aber deren Atem schon hier und da in stillen Nächten zu vernehmen war«.69 In der zitierten Autobiografie betonte er zudem seinen Widerspruch gegen eine Neuauflage seiner ersten fünf Romane als Einzelausgaben. In diesem Kontext verweist Leonore Krenzlin auf Wiecherts »Selbstkorrekturen an seinem Geschichtsbild«.70 Diese kritische Bewertung seines Frühwerks ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sein Lesepublikum in den ersten Jahren der Weimarer Republik vorwiegend aus der politischen Rechten bestand, wie Krenzlin betont.71 Zwar erlebte Wiechert einen »Durchbruch der Gnade«, doch fand in den 1930er Jahren keine grundlegende Veränderung seiner politischen Positionen statt. Seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit blieb ebenfalls die gleiche, wobei er vor allem unter konservativen und völkischen Lesern großes Ansehen genoss.72 Durch die Vermittlung seines Leipziger Verlegers Georg Naumann verkehrte er Mitte der 1920er Jahre mit Ernst Jünger und Franz Schauwecker.73 Von diesen Kontakten distanzierte er sich später und schrieb in der Autobiografie: »[…] und schon das hätte mir zeigen müssen, dass ich hier den natürlichen Kreis meines Lebens verließ und, ohne böse Absicht, zu Dingen gebraucht oder 66 Wiechert, Ernst: Jahre und Zeiten, in: Ders.: Es sprach eine Stimme, Wien u. a. 1959, S. 306. 67 Ebd., S. 335 u. 364. 68 Ebd., S. 365. 69 Ebd., S. 388 f. 70 Krenzlin, Suche nach einer veränderten Lebenshaltung, S. 393. 71 Ebd., S. 393. 72 Ebd., S. 392. 73 Ebd., S. 396.

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mißbraucht wurde, von denen ich nichts wußte und die ich nicht gebilligt haben würde.«74 Er war zudem Mitglied der nationalistischen Fichte-Gesellschaft, wirkte im Eckart-Kreis und im Juni 1931 nahm er an der Dichtertagung auf Schloss Osterstein in Thüringen teil. Auch verließ er seinen Leipziger Verleger und nahm ein Angebot des Verlags Albert Langen / Georg Müller an, der völkische und nationalsozialistische Autoren förderte. Im September 1932 bekam Wiechert den Raabe-Volkspreis für den Roman Die Magd des Jürgen Doskocil (1932), der ihm den Weg in die literarische Öffentlichkeit öffnete.75 1933 war Wiechert kein Unbekannter auf dem »Markt der Literatur«76. Er hatte seinen breiten Leserkreis, und seine Bücher erreichten hohe Auflagenzahlen. Die nationalsozialistische Kulturpolitik führte jedoch dazu, dass der Dichter in immer stärkeren Konflikt mit dem nationalsozialistischen Staat geriet und seine Rolle nicht nur als die des Einsamen und Einzelnen, sondern auch als die des Inneren Emigranten begriff. In seinen Werken drückt sich immer deutlicher die Distanz zum gegenwärtigen Zeitgeschehen aus. Nicht nur in seinen Schriften, sondern auch in seinem Handeln zeigte sich der Autor widerständig: Wiechert protestierte 1938 öffentlich gegen die Verhaftung des Pastors Martin Niemöller und gegen den Anschluss Österreichs. Er hielt zwei Reden an der Münchner Universität, in denen er sich an die deutsche Jugend wandte und als Dichter und Prophet des Volkes auftrat. In der ersten Rede Der Dichter und die Jugend (1933) übernahm er die Rolle des Propheten, der zwar abseits des Zeitgeschehens steht, aber die Leute anrührt und den Jugendlichen den Weg zeigen möchte.77 Er sprach als Mahner und »Bewahrer der Unvergänglichkeit«78, appellierte an die jungen Menschen, die Zukunft in die eigene Hand zu nehmen und sie zu gestalten. In der zweiten Münchner Rede Der Dichter und seine Zeit (1935) wandte er sich ebenfalls an die Jugend, regte sie zum Mut an, kritisierte die Gegenwart und warnte vor ihr. Voll Hoffnung auf die junge Generation der Deutschen schloss er seine Rede mit folgenden Worten ab: Und wenn ich Sie damals bat und im innersten Herzen beschwor, demütig zu bleiben, so bitte und beschwöre ich Sie heute, sich nicht verführen zu lassen zu schweigen, wenn das Gewissen Ihnen zu reden befiehlt und niemals, meine Freunde, niemals zu dem Heer der Tausenden und Abertausenden zu gehören, von denen gesagt ist, dass sie »Angst in der Welt« haben, weil nichts und nichts das Mark eines Mannes und eines Volkes so zerfrißt wie die Feigheit.79

Seine zweite Münchner Rede wurde schnell nicht nur unter Studenten verbreitet, sondern auch in den breiten Lesekreisen in ganz Deutschland, wo sie 74 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 390. 75 Ebd., S. 397 76 Ebd., S. 493. 77 Wiechert, Ernst: Der Dichter und die Jugend, Mainz 1936, o. S. 78 Ebd. 79 Wiechert, Ernst: Der Dichter und seine Zeit, in: Ders.: Sämtliche Werke in 10 Bänden, Bd. 10, Wien u. a. 1957, S. 380.

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Interesse und Anerkennung fand. Wiechert wurde durch die Führung »beobachtet«80 und unterlag den Repressionen des NS -Staates, worüber er in Jahre und Zeiten berichtete: Ich wurde aus der Reichschriftstumskammer ausgeschlossen und wurde dann wieder aufgenommen. Dem Verlag wurde verboten, meinen Namen in seinen Verlagsprospekten zu erwähnen und in meinen Büchern die Auflagenhöhe anzugeben. Den Buchhandlungen wurde verboten, meine Bücher im Fenster auszulegen. Jeder briefliche und telephonische Verkehr wurde überwacht, und als ich einmal am Hoftor mit einem Journalisten sprach, der eben aus Budapest gekommen war, erschienen nach ein paar Tagen zwei Regierungsräte der Geheimen Staatspolizei und vernahmen mich über den Inhalt unseres Gesprächs, wobei der eine auf sehr ungeschickte Weise hinter seiner Aktentasche meine Antworten stenographierte.81

1937 wurde eine seiner Autorenlesungen unterbrochen, während der er dem Publikum seine regimekritische Erzählung Der weiße Büffel oder Von der großen Gerechtigkeit (1946) vorlas. 1938 kam er ins Konzentrationslager Buchenwald, in dem er vom 7. Juli bis zum 28. August 1938 blieb. Nach seiner Entlassung gab ihm der Propagandaminister zu verstehen, dass er »beim geringsten Anlaß« wieder ins Lager kommen werde, aber dann »auf Lebenszeit und mit dem Ziel seiner psychischen Vernichtung«.82 Seinen Aufenthalt im KZ beschrieb Wiechert im Bericht Der Totenwald (1946). Im Jahre 1939 erschien sein Roman Das einfache Leben, der zum Zeugnis der Inneren Emigration im Dritten Reich erhoben wurde. Der literarische Werdegang Wiecherts wurde durch verschiedene Erlebnisse und sozial-politische Begebenheiten gekennzeichnet. Seine literarische Laufbahn reflektiert ein tiefes Mitempfinden des Schriftstellers für seine ostpreußische Heimat und deren Bewohner sowie sein Ringen mit dem Zeitgeschehen. Sein dichterisches Credo bestand im Trost,83 in der führenden Rolle des Dichters, in der Überzeugung, dass man das Herz des Menschen erobern muss, und vor allem in der Erfahrung der zivilisatorisch fernen und heilenden masurischen Natur. In seinem Kreis verkehrten Menschen verschiedener Provenienz und unterschiedlicher politischer Ansichten. Viele beurteilten sein Leben und 80 In Jahre und Zeiten schrieb Wiechert: »Noch war ich nicht gefährdet, noch war ich nur ›beobachtet‹.« Vgl. Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 499. 81 Ebd., S. 529. 82 Vgl. Reiner, Guido: Ernst Wiechert im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Mit einem Verzeichnis der Ernst-Wiechert-Manuskripte im Haus Königsberg, Paris 1974, S. 94 (Ernst-Wiechert-Bibliografie, 2. Teil). Zur Rezeption Wiecherts im Dritten Reich vgl. auch Berglund, Gisela: Der Kampf um den Leser im Dritten Reich, Worms 1980, S. 76–79 (Deutsches Exil, Bd. 11). 83 In der Autobiografie Jahre und Zeiten schrieb Wiechert über sein dichterisches Ziel: »Hinter allem Glanz und Lampen und allem Beifall und allen Blumen stand doch immer das Eigentliche und das ›Ganze‹: der Trost der Welt, der aus dem ergriffenen Wort und aus dem ergriffenen Herzen kam, das Licht sich bis in eine unendliche Zukunft zu verdunkeln schien.« Vgl. Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 507.

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Schaffen. Einer von ihnen, der Journalist Emil Belzner (1901–1979), trat für Wiechert mit folgenden Worten ein: Wiechert ist von Haus aus keine politische Natur, aber die Beweggründe, die bei ihm zur Gegnerschaft gegen die Hitler-Tyrannis führten, stammten aus einer nicht weniger aktiven Entschlossenheit, als es die politische sein kann: aus einer Ehrfurcht vor dem Schicksal des Menschen und vor dem Geheimnis des Lebens. […] Er hat die Idee der Humanität wachgehalten, etwas Selbstverständliches, aber damals völlig Vergessenes. Und das ist sehr viel und das wird ihm heute noch aufrichtig und uneingeschränkt gedankt.84

84 Wiechert, Jahre und Zeiten, o. S. 

Andrzej Denka, Poznań

Ideelle und ästhetische Spuren der ›Konservativen Revolution‹ im Werk von Botho Strauß Das Ziel der folgenden Ausführungen ist es, bestimmte klar erkennbare Bezüge zur ›Konservativen Revolution‹ aus der Essayistik von Botho Strauß herauszugreifen und sie vor dem Hintergrund etablierter (Armin Mohler), aber auch neuerer Auffassungen (Stefan Breuer, Nadja Thomas) darzustellen. Im Dickicht der von Strauß zitierten literarischen Traditionen erweist sich der Bezug zu Rudolf Borchardts Konzept der ›Schöpferischen Restauration‹ als besonders wichtig und erlaubt es, die Kritik am Autor in einem etwas anderen Licht zu betrachten. Strauß’ Name taucht nach wie vor oft in einem Assoziationsgefüge von publizistisch-polemisch sowie politisch-politikwissenschaftlich geprägten Begriffen auf, die ihn, einen der renommiertesten deutschen Autoren der Gegenwart, in die Nähe der rechtskonservativen und nicht selten rechtsradikalen Szene rücken. Dies geschieht seit der Veröffentlichung des berühmt-berüchtigten »Spiegel«-Essays Anschwellender Bocksgesang1, in dessen Nachgang dem Autor – trotz eines vordergründig ästhetisch intendierten Sinns – politische und ideologische Absichten unterstellt wurden, so hier als Vordenker der ›Neuen Rechten‹ anzutreten, de facto aber ein verdeckter Anhänger der Neonazis zu sein.2 Es mag als eine Ironie des Schicksals gelten, dass Strauß ähnlich formulierte ideelle Inhalte sowohl in seinen früheren als auch (und vor allem) in seinen späteren Schriften – oft radikaler formuliert – platzierte, dass sie dennoch in der Bocksgesang-Debatte die meiste öffentliche Empörung ernteten. Dies resultiert vor allem daraus, dass Strauß die Begriffe ›die Rechte‹, ›rechts‹, ›der Rechte‹, die in Deutschland der frühen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts fast verpönt waren, mit einer positiven Bedeutung aufzuladen versuchte. Der Typus des links-liberalen Intellektuellen sollte durch den rechten Rebellen ersetzt werden, der – wenn man die Texte von Strauß untersucht – viele verschiedene Namen 1 Strauß, Botho: Anschwellender Bocksgesang, in: Der Spiegel 6 (1993), S. 202–207. 2 Zum Verlauf der Debatte in den einzelnen Phasen siehe: Denka, Andrzej: Skandal oder Engagement? Eine systemtheoretische Untersuchung zu Peter Handke und Botho Strauß nach 1989, Poznań 2013 (Filologia Germańska – Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 55), S. 159–166; Havertz, Ralf: Der Anstoß. Botho Strauß’ Essay »Anschwellender Bocksgesang« und die Neue Rechte; eine kritische Diskursanalyse, Berlin 2008, Bd. 1, S. 192–563.

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trägt: der »Außenseiter-Heros«, der »Dichter«, der »Reaktionär« oder einfach der »Rechte«3. In einem Ergänzungstext zum Anschwellenden Bocksgesang, betitelt auch Postscriptum 1994, der vor allem die Protestworte des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, namentlich den Vorwurf »des intellektuellen Rechtsradikalismus« konterkarieren sollte, erklärte Botho Strauß, ihm gehe es um »jenes Rechte des gegenrevolutionären Typus von Novalis bis Rudolf Borchardt«4. Das obige Statement zeichnet den Rückgriff auf bestimmte Traditionslinien nach und legt die Begrifflichkeit nahe, die man sowohl bei der Analyse des Essays Anschwellender Bocksgesang als auch bei der Erkundung aller Strauß-Bezüge zur Rechten, einschließlich der vermeintlichen Affinität zur ›Konservativen Revolution‹ heranziehen sollte. Diese Spur verfolgt Nadja Thomas in ihrer exzellenten Dissertation5, wobei hervorzuheben sei, dass sie nicht nur den Bocksgesang, sondern fast das gesamte Œuvre Strauß’ hinsichtlich potenzieller Bezüge zur ›Konservativen Revolution‹ durchforstete, was zahlreiche Denkfiguren erkennen ließ, die für Intellektuelle und Dichter jener geistigen Strömung charakteristisch waren. Thomas verweist dabei zu Recht auch auf zahlreiche wichtige Positionen zum Konservatismus in der Welt sowie in Deutschland, die einen Background ergeben, vor dem die ›Konservative Revolution‹ als ein spezifisch deutsches Phänomen erkennbar wird. Natürlich geht es um die ›Konservative Revolution‹ in Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik, mit den von Armin Mohler  – wahrscheinlich richtig  – markierten Grenzen 1918–19326 und nicht die anderen Bedeutungen des Begriffs, hier zum Beispiel zur Bestimmung des Neokonservatismus in den USA .7 Die Anfänge des modernen Konservatismus in Deutschland fallen tatsächlich mit der ›Konservativen Revolution‹ zusammen, anzumerken sei jedoch, dass die wissenschaftliche Reflexion zu diesem Phänomen zum Teil von denjenigen Autoren stammt, die aus dieser Strömung hervorgehen, weshalb manche Texte als Primärtexte untersucht werden können. Das Paradebeispiel stellt gerade der höchstens zu den Apologeten, zur Auslaufgeneration zählende Mohler (der spätere Sekretär Ernst Jüngers) dar. Doch Reflexionen zum Konservatismus finden sich bereits in der Zeit der Weimarer Republik, als Beispiel 3 Denka, Skandal oder Engagement?, S. 291–303. 4 Strauß, Botho: Der eigentliche Skandal, in: Der Spiegel 16 (1994), S. 168 f.; Ders.: Postscriptum 1994, in: Ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München 1999 (Edition Akzente), S. 77 f. 5 Thomas, Nadja: »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«. Botho Strauß und die »Konservative Revolution«. Zugl.: Düsseldorf, Univ., Diss., 2003, Würzburg 2004 (Epistemata Reihe Literaturwissenschaft 491). 6 Mohler, Armin: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen. Zugl.: Basel, Univ., Diss., 1949, Stuttgart 1950. 7 Sorman, Guy: La révolution conservatrice américaine, Paris 1983 [poln. Rewolucja konserwatywna w Ameryce, erschienen im Untergrundverlag »Kurs« 1984]; Friedman, Murray: The neoconservative revolution. Jewish intellectuals and the shaping of public policy, Cambridge 2005.

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sei hier der Soziologe Karl Mannheim mit seiner Habilitationsschrift genannt, deren Wiederauflage unter dem Titel Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts8 einen wichtigen Einschnitt und die Heraufkunft eines neuen geistigen Klimas der Kohl-Ära markierte. Daneben stellen die Werke von Hermann Rauschning die nachträgliche Reflexion der ›Konservativen Revolution‹ dar, die bereits in der Zeit des Dritten Reiches vorgenommen wurde.9 In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Reflexion der ›Konservativen Revolution‹ fortgesetzt. Wenn man von dem bereits erwähnten und nicht unkontroversen Mohler absieht, lieferten u. a. Kurt Sontheimer, Martin Greiffenhagen, Fritz Stern und Klemens von Klemperer wichtige Beiträge zur Debatte.10 In den im Anschluss an die Studentenrevolte 1968 folgenden Jahren (die Zeit der großen Koalition und der Regierungen Brandt und Schmidt) galten der Konservatismus und die ›Konservative Revolution‹  – hier insbesondere in der durch die Kritische Theorie dominierten intellektuellen Kreisen  – als wenig salonfähig und als wenig diskutables Problem. Der Titel der Abhandlung von Gerd-Klaus Kaltenbrunner Der schwierige Konservatismus gibt diese Problematik einigermaßen wieder11. Mit einer gewissen Veränderung des Klimas für die Debatte um den Konservatismus haben wir erst – wie bereits erwähnt – in den achtziger Jahren, nach dem Machtwechsel (das Kabinett Helmut Kohls seit 1982, hier: Ablösung der Koalition SPD und FDP durch CDU / C SU und FDP) und der Setzung neuer axiologischer Werte in der öffentlichen Debatte, zu tun. In diese Zeit fallen unter anderem die Veröffentlichung des wichtigen Werkes Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang von Panajotis Kondylis12, die Wiederauflage der oben erwähnten Abhandlung von Karl Mannheim (wie in Anm. 8), die Neuauflage der Abhandlung von Martin Greiffenhagen Das Dilemma des Kon8 Mannheim, Karl: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. Zugl.: Heidelberg, Univ., Habil.-Schr., 1926 u. d. T.: Altkonservatismus. Hg. von David Kettler, Volker Meja u. Nico Stehr, Frankfurt am Main 11984 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 478). 9 Rauschning, Hermann: Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich, Zürich 41938; Ders.: Die konservative Revolution. Versuch und Bruch mit Hitler, New York 1941. 10 Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, in: The Quarterly Journal of Economics 5 (1957), S. 42–62; Greiffenhagen, Martin: Das Dilemma des Konservatismus, in: Wendt, Siegfried (Hg.): Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart: Beiträge zu sozialwissenschaftlichen Problemen; eine Festschrift für Friedrich Lenz, Berlin 1961, S. 13–60; Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern / Stuttgart / Wien 11963; Klemperer, Klemens von: Konservative Bewegungen. Zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1957. 11 Kaltenbrunner, Gerd-Klaus: Der schwierige Konservatismus. Definitionen, Theorien, Porträts., Herford 11975. 12 Kondylis, Panajotis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986.

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servatismus in Deutschland13 sowie der wichtigen Abhandlung von Kurt Lenk Deutscher Konservatismus14. Kein Zufall ist, dass der ›Historikerstreit‹, in dem wichtige Akzente auch von konservativen Historikern gesetzt wurden, ebenfalls in diese Zeitspanne fällt.15 Fortgesetzt wird der Trend nach der Wiedervereinigung: Unter anderem der von Botho Strauß postulierte »Leitbildwechsel«16 beflügelte die Debatte. Zahlreiche weitere wissenschaftliche Veröffentlichungen, die neue Erkenntnisse lieferten sowie den Austausch der Gedanken hinsichtlich des Konservatismus dokumentieren, kamen hinzu.17 Wichtig in diesem Zusammenhang sind auch die Analysen von Stefan Breuer, die vorzugsweise der ›Konservativen Revolution‹ sowie dem Einfluss des George-Kreises auf das konservative Denken in der Weimarer Republik galten.18 Vor diesem Hintergrund erscheint die These von der Wiederbelebung der konservativen Literatur als einer vernachlässigten Literaturtradition als durchaus einleuchtend.19 Gerade im Falle der Strauß-Debatte (ihr wichtigster Abschnitt deckt sich mit der Debatte um seinen Essay Anschwellender Bocksgesang) sieht man, dass – wenn ein Zusammenhang mit Denkern der ›Konservativen Revolution‹ hergestellt wird – dieser Zusammenhang reflexartig, beinahe als Abschreckung gegen die nicht-zulässige Denktradition funktioniert. Unterstellt wird dem Autor, dass er sich in einer berüchtigten Gesellschaft (z. B. Ernst Jünger, Oswald Spengler, Carl Schmitt etc.) eingefunden habe, was man nicht selten schon an den Titeln erkennt.20 Auch die späteren Abhandlungen sind nicht frei davon, machen 13 Greiffenhagen, Martin: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. Mit einem neuen Text: »Post-histoire?«, Bemerkungen zur Situation des »Neokonservatismus« aus Anlaß der Taschenbuchausgabe 1986, Frankfurt am Main 11986 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 634). 14 Lenk, Kurt: Deutscher Konservatismus, Frankfurt am Main / New York 1989. 15 Denka, Andrzej: On the role of the »intellectual fire-raisers« in the transformation of german historical and political identity from the mid-1980s to the turn of the century, in: Przegląd Zachodni / Journal of the Institute for Western Affairs in Poznań 1 [Special issue] (2017), S. 279–292, hier S. 280–282. 16 Strauß: Anschwellender Bocksgesang, S. 206. 17 Eickhoff, Volker / Korotin, Ilse (Hg.): Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe. Der Geist der konservativen Revolution, Wien 1997; Schildt, Axel: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 1998 (Beck’sche Reihe 1241); Schrenck-Notzing, Caspar von (Hg.): Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus, Berlin 2000 (Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus Bd. 1). 18 Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993; Ders.: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995. 19 Herzinger, Richard: Konservative Autoren, in: Glaser, Horst Albert (Hg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte, Bern 1997 (UTB für Wissenschaft Uni-Taschenbücher Germanistik, Literaturwissenschaft 1981), S. 469–492. 20 Wertheimer, Jürgen: Jünger, Strauß & Co. oder Das neue deutsche Selbstbewußtsein, in: Kessler, Michael (Hg.): Neonationalismus, Neokonservatismus. Sondierungen und Analysen, Tübingen 1997 (Stauffenburg Discussion 6), S. 253–258; Kilb, Andreas: Anschwel-

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gar aus dem konservativrevolutionären Gedankengut den methodologischen Background, von dem man sich distanzieren sollte. Die an und für sich solide, zweibändige von Ralf Havertz vorgelegte Dokumentation der Strauß-Debatte (samt Analysen), nimmt zwar auf die ›Konservative Revolution‹ Bezug, was schon – wie fast überall – durch Nennung der Namen Carl Schmitt und Ernst Jünger erfolgt, sollte aber als das von der ›Neuen Rechten‹ Vererbte ausgewiesen, folgerichtig in der kritischen Diskursanalyse bloßgestellt werden.21 Es wundert also nicht, dass Versuche vorgenommen werden, zwischen der politisch-ideologischen und der ästhetisch-literarischen ›Konservativen Revolution‹ zu unterscheiden.22 Nicht immer sind die Grenzen einfach zu ziehen, aber schon auf den ersten Blick sieht man einen Unterschied zwischen auf der einen Seite: Oswald Spengler (1880–1936), Carl Schmitt (1888–1985), Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) und auf der anderen Seite: Stefan George (1868–1933), Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), Friedrich Georg Jünger (1898–1977) oder Thomas Mann (1875–1955), zumal dessen frühe Schaffensphase mit Betrachtungen eines Unpolitischen, 1918, oft aus dem Blickfeld gerät. Eine andere Sache ist der Einfluss solcher Denker wie Friedrich Nietzsche oder Martin Heidegger, die – obwohl aus verschiedenen Generationen stammend – als (Vor- bzw. Mit-)Denker der ›Konservativen Revolution‹ angesehen werden. Die einflussreichste Einteilung der einzelnen ideologisch-geistigen Strömungen innerhalb der ›Konservativen Revolution‹ ist die von Armin Mohler. Seine Typologie enthält bekanntlich die folgenden Strömungen: die »Völkischen« (u. a. Emil Theodor Fritsch); die »Jungkonservativen« (u. a. Arthur Moeller van den Bruck, der frühe Thomas Mann, Edgar Julius Jung, Carl Schmitt), die »Nationalkonservativen« (u. a. Ernst Jünger, Friedrich Georg Jünger, Ernst von Salomon, Franz Schauwecker und Ernst Niekisch), die »Bündischen« und die »Landvolkbewegung«.23 Für die vorliegenden Überlegungen erscheint jedoch vor allem die Typologie von Stefan Breuer lohnend.24 Breuer schlägt den Begriff des ›Ästhe­tischen Fundamentalismus‹ (anstelle des Oberbegriffs der ›Konservativen Revolution‹) vor, um die von ihm untersuchten Autoren, hauptsächlich die des George-Kreises, innerhalb des ideologischen Spektrums zu situieren, hier durch den Bezug auf und die Abgrenzung gegen die folgenden Phänomene:

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lende Geistesfinsternis. Über Oswald Spengler und Botho Strauß, in: Greiner, Ulrich (Hg.): Revision. Denker des 20. Jahrhunderts auf dem Prüfstand; eine Zeit-Serie, Hildesheim 1993 (Claassen-Horizonte), S. 200–213; Scheuer, Hans Jürgen: »Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts«. Zur Bearbeitungstendenz der dramatisierten Homer-Lektüre »Ithaka« von Botho Strauß, in: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur, H. 81 (1998), S. 129–140, S. 133 f. Havertz: Der Anstoß, Bd. 2, S. 204–216. Thomas: »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«, S. 19. Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. 3., um einen Ergänzungsband erweiterte Auflage 1989, Darmstadt 1989, S. 130–165; siehe auch: Kunicki, Wojciech: Rewolucja konserwatywna w Niemczech 1918–1933, Poznań 1999 (Poznańska Biblioteka Niemiecka 6). Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 226–240.

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(1) »konservative Revolution« (Breuers Schreibweise mit klein-»k«). Breuer geht von Thomas Manns Begriff der »konservativen Revolution« als »Syn­ these aus Nietzsche und russischer Seele« (entlehnt aus Moeller van den Brucks Dostojewski-Ausgabe)  aus, und prüft dessen (Mann, 1937) Differenzierung zwischen einer »genuinen und einer pervertierten ›konservativen Revolution‹«, wobei zur ersteren Nietzsche, Wagner, Spengler, Hamsun und Klages, George und Hofmannsthal gerechnet werden, wohingegen die letztere (von Mann) als »Phänomen der Tagespolitik« abgestempelt wird.25 Wie Breuer zeigt, stellen die Querverbindungen der genannten Personen zueinander und das differenzierte (nicht selten ablehnende Verhältnis) zu Nietzsche diese Differenzierung in vielerlei Hinsicht infrage.26 (2) »neuer Neonationalismus« – unter dieser idealtypischen Kategorie werden von Breuer Arthur Moeller van den Bruck, Hans Freyer (1887–1969) und der Jünger-Kreis zusammengefasst. Die für den ästhetischen Fundamentalismus charakteristische »Welt- und Zeitablehnung« fehlt hier jedoch.27 Hier verweist Breuer auf Borchardt (1920), »dass es keine deutsche Nation mehr gebe, ja dass es auf ein Menschenalter verboten sei, die Frage nach ihr zu stellen«.28 (3) Faschismus / Nationalsozialismus – unter diesem Punkt behandelt Breuer die Haltung der einzelnen Autoren aus dem George-Kreis zum Nationalsozialismus, zeigt idealtypische Berührungspunkte und Unterschiede, wobei die letzteren (bis hin zur offenen Ablehnung) überwiegend sind, vergisst auch nicht zu sagen, dass sich einige Autoren für den Nationalsozialismus ausgesprochen haben (Borchardt, Klages). Grundsätzlich gilt für ihn jedoch die These: »Idealtypisch ist es […] nicht richtig, den ästhetischen Fundamentalismus als ›präfaschistisch‹ einzustufen.«29 Aus der Sicht der literarischen Öffentlichkeit in Deutschland gilt die letzte, dritte Kategorie nach wie vor als ein Kriterium für Bewertung der Denker und der Literaten der ›Konservativen Revolution‹. (Andere Wertungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, den sechziger und siebziger Jahren oder der Zeit nach der Wiedervereinigung sollten freilich nicht ignoriert werden.) Ausschlaggebend bleibt jedoch die Haltung der Literaten zum Nationalsozialismus. Ihr Œuvre sowie ihre außerliterarischen Ansichten werden vor allem hinsichtlich der potenziellen Möglichkeit untersucht, den Weg für die Nationalsozialisten gebahnt bzw. mit dem ›Dritten Reich‹ kollaboriert zu haben. Die Bewertung ist hingegen selbst im Falle des Namensgebers des ›Dritten Reiches‹, Arthur ­Moeller van den Bruck, nicht einfach zu leisten, und auch die anderen (Carl Schmitt, Ernst Jünger) sollten differenziert betrachtet werden.

25 26 27 28 29

Ebd., S. 226 f. Ebd., S. 228 f. Ebd., S. 229. Ebd., S. 232. Ebd., S. 239.

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Zuzustimmen ist Nadja Thomas, wenn sie das Werk von Botho Strauß (mitsamt seinen Essays) hinsichtlich verschiedener, nicht selten heterogener Affi­ nitäten zur ›Konservativen Revolution‹ überprüft. So sollte man vorgehen, wenn man die These einer Verbindung bereits im Titel, Botho Strauß und die Konservative Revolution (wie in Anm. 5), stellt. Eine möglichst weite Fassung des Konzepts ist auch aus anderen Gründen notwendig. Botho Strauß ist ein Autor und ein Intellektueller, der in sich die Merkmale eines poeta vates (wenn man sein Selbstverständnis als einsamer Dichter und unabhängiger Denker betrachtet) sowie eines poeta doctus (wenn man sich seine Rezeption moderner Theorie sowie die Zahl der in seine eigenen Texte einfließenden Autorennamen und verwendeten Apophthegmata betrachtet) vereint. Er ist ein belesener Autor – was er selbst schreibt, ergibt sich häufig aus der Lektüre anderer Autoren. Sein Werk (eine Montageprosa) ist ein Dickicht von Zitaten und Namen, dies wird ergänzt durch zahlreiche Essays und Feuilletonbeiträge (häufig einer Persönlichkeit gewidmete Hommagen), die sich in artistischer Manier und bewusst gewählten Strategien der Selbststilisierung von den strikt literarischen Werken kaum unterscheiden. Hier finden sich Autoren, die dem weit gefassten konservativen Gedankengut verpflichtet sind (es handelt sich auch um ausländische Autoren), wie z. B. der amerikanische Dichter, Philosoph und Antihumanist Robinson Jeffers (1887–1962); der kolumbianische Philosoph, Antimodernist und Reaktionär, Nicolás Gomez Davila (1913–1994); der italienische Autor und Journalist Guido Ceronetti (1927–2018); der nicht unkontroverse österreichisch-amerikanische Politologe Eric Voegelin (1901–1985); der italienische Kulturphilosoph Julius Evola (1898–1974) und der amerikanische Dichter Ezra Pound (1885–1972). Sicherlich können zudem Ernst Jünger und Rudolph Borchardt, denen Strauß wichtige Essays30 widmete, nicht nur dem Konservatismus im Allgemeinen, sondern auch vorzugsweise der ›Konservativen Revolution‹ zugerechnet werden. Besonders im Falle von Rudolf Borchardt (von dem noch die Rede sein wird) ist die Affinität zu bestimmten ästhetischen Prinzipien, weniger zu Ideologemen der ›Konservativen Revolution‹ zu erkennen. Zum Umfeld der ›Konservativen Revolution‹ zählt der heute fast vergessene katholische Dichter Konrad Weiß (1880–1940), dem Botho Strauß den Essay Eine nicht geheure Begegnung widmete, um die Sprachkunst des Dichters zu preisen, die er in einem Zuge mit Hamann oder Hölderlin nennt.31 Auf einem anderen Blatt steht sein Verhältnis zu 30 Strauß, Botho: Refrain einer tieferen Aufklärung, in: Figal, Günter / Schwilk, Heimo (Hg.): Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, Stuttgart 1995, S. 323 f.; Ders.: Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt, in: Ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München 1999 (Edition Ak­ zente), S. 5–22. 31 Ders.: Eine nicht geheure Begegnung. Der große, vergessene Dichter Konrad Weiß ist ein Mystiker, ein Sprachkünstler, ein erratischer Brocken in der deutschen Literatur, in: Die Zeit, 18. Juni 2003, S. 1–5, S. 2.

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Martin Heidegger (der eine Zeitlang der ›Konservativen Revolution‹ nahestand, mit Friedrich Georg und Ernst Jünger befreundet war) und sollte zumindest erwähnt werden. Strauß hat ihm zwei Essays gewidmet.32 Thomas hat für die Analyse der potenziell mit der ›Konservativen Revolution‹ zusammenhängenden Inhalte im Werk von Botho Strauß einige dominierende Topoi und Motive herausgesondert: (1) Das Alte vs. das Neue, hier als »Schöpferische Restauration«; (2) »Bild vs. Begriff«; (3) »Heroischer Realismus«, hier »Aushalten auf verlorenem Posten«; (5) »Extremer Tragizismus«, hier »Verlust des Tragischen«; (6) Konservative Zeitauffassung »Linie und Kugel«, »Fleck und Linie«.33 Man könnte noch die von Oliver van Essenberg in der Abhandlung Kulturpessimismus und Elitebewußtsein und von Richard Herzinger vorgeschlagenen Topoi, Motive und Denkfiguren dazuzählen.34 Zum einen sind diese Topoi und Motive dichotomisch, als Gegensätze, Antinomien formuliert (oder lassen sich leicht in Form von Gegensätzen reformulieren), zum anderen überschneiden sie sich. Die anderenorts unter Bezug auf Strauß und Peter Handke formulierte Analyse sollte hier nicht wiederholt werden.35 An dieser Stelle lohnt es sich, nochmals auf die Abhandlung Ästhetischer Fundamentalismus (1995) von Stefan Breuer zu rekurrieren. Breuer untersucht den George-Kreis, beginnt jedoch mit dem Anschwellenden Bocksgesang (1993) und der darauffolgenden Debatte. Die von Breuer vorgeschlagene Methodologie zur Untersuchung des George-Kreises (nicht literaturwissenschaftlich, sondern soziologisch fundiert, zum Teil auf den Erkenntnissen der Gruppenpsychologie aufbauend36), die auch Rudolph Borchardt als Gegenkönig37 umfasst, gilt also auch für Botho Strauß. Für Breuer werden Strauß’ Thesen von der »Total­ herrschaft der Gegenwart« und dem »Wiederanschluß an die lange Zeit«38 nicht als Faschismus oder Neonationalismus angesehen. Anstelle der ›Konservativen Revolution‹ schlägt er den Begriff des Fundamentalismus vor, den er als den »Aufstand gegen die rationalistische Tendenz und zugleich gegen ihre tiefsten institutionalisierten Grundlagen« (Talcott Parsons) sowie als »Weigerung, die Zumutungen von Aufklärung und Moderne anzunehmen« (Thomas Meyer)« 32 Ders.: Das letzte Jahrhundert des Menschen. Was aber kommen wird, ist Netzwerk. Bemerkungen zu Sein und Zeit, in: FAZ , 2. Januar 1999; Ders.: Heideggers Gedichte, in: FAZ , 19. September 2008. 33 Thomas: »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«, S. 97–237. 34 Essenberg, Oliver van: Kulturpessimismus und Elitebewusstsein. Zu Texten von Peter Handke, Heiner Müller und Botho Strauß. Zugl.: Bamberg, Univ., Diss., 2003, Marburg 2004; Herzinger: Konservative Autoren, S. 469–492. 35 Denka, Andrzej: Konservative Denkfiguren in der essayistischen Prosa von Peter Handke und Botho Strauß nach 1989, in: Schmidt, Maike (Hg.): Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik, Kiel 2013 (GWL  – Geist & Wissen bei Ludwig 16), S. 243–269. 36 Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 8. 37 Ebd., S. 148–168. 38 Strauß: Anschwellender Bocksgesang, S. 204.

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begreift.39 Folgerichtig stellt er die These auf, dass wir es angesichts der fehlenden religiösen Tradition auch bei Strauß lediglich mit einer ästhetischen Haltung zu tun haben: mit dem höchst formal gefaßten Religionsbegriff, wie er uns in den Büchern der modernen Religionswissenschaft von Rudolf Otto bis Mircea Eliade entgegentritt. Religion ist bei Strauß geschrumpft auf den Glauben an ein Heiliges schlechthin, an ein Tremendum und Faszinosum, das nur wegen seiner Funktion gesucht wird, nicht wegen seines spezifischen Inhalts. Was Strauß interessiert, sind weder die Riten noch die Glaubensvorstellungen, noch die mit ihnen verbundenen Normen und Regeln einer distinkten Religion, sondern lediglich die Empfindungen, die das Heilige auslöst […]. Eine Denkhaltung aber, die bestimmte Phänomene vorrangig mit Rücksicht auf die Empfindungen betrachtet, welche sie hervorbringen, bezeichnet man nach Hegel als Ästhetik (Werke Bd. 13, 13). Es ist die Ästhetisierung der Religion, durch die sich Strauß vom genuinen Fundamentalismus unterscheidet.40

Die Argumentation ist nicht von der Hand zu weisen. Zum einen wird Strauß mit dem furchterregenden Begriff des Fundamentalismus in Verbindung gebracht, also quasi belastet, zum anderen wird er durch die Redefinition in Richtung Ästhetik (Aufladung des Fundamentalismus-Begriffs mit ästhetischem Gehalt) entlastet. Betrachtet man diese These hinsichtlich der bei Botho Strauß tatsächlich vorhandenen Bezüge zu Mircea Eliade (»Remythologisierung«)41 und Rudolf Otto (»tremendum«, »Zittern und Zetern«42, »Furcht und Z ­ ittern«43) sowie anderer Stellungnahmen zur Religion, die man unter dem gemeinsamen Nenner »Wiedererrichtung des Himmels«44 subsumieren könnte, stellt man fest, dass es sich dabei allenfalls um eine modifizierte Religiosität handeln kann. Strauß geht es tatsächlich darum, diejenigen Räume ausfindig zu machen, in denen das echt religiöse Empfinden möglich ist. Strauß versucht, sich trotz des fehlenden Eingebundenseins als religiöser Mensch zu definieren, so in seiner geistigen Autobiografie Die Fehler des Kopisten aus dem Jahre 1997:

39 Parsons, Talcott: Soziologische Theorie, Darmstadt / Neuwied 1973; Meyer, Thomas: Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Reinbek 1989. Hier zitiert nach Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 2. 40 Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 3. 41 Strauß, Botho: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit (1991), in: Ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München 1999 (Edition Akzente), S. 39–53, hier S. 47. 42 Strauß: Anschwellender Bocksgesang, S. 204. 43 Strauß, Botho: Wollt ihr das totale Engineering?, in: Die Zeit, 20. Dezember 2000. 44 Oberender, Thomas: Die Wiedererrichtung des Himmels. Die »Wende« in den Texten von Botho Strauß, in: Text+Kritik, H. 81 (1998), S. 76–99; siehe auch: Fuß, Dorothee: Bedürfnis nach Heil. Zu den ästhetischen Projekten von Peter Handke und Botho Strauß, Bielefeld 2001.

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Ich bin weder Jude noch Moslem, weder Katholik noch Zen-Buddhist – und doch versuche ich am weißen Rand der Konfessionen ein überlieferter Mensch zu sein. Denn in die Schrift jedes Tages münden viele Schriften.45

Das von Breuer vorgeschlagene Begriffswerkzeug »Ästhetischer Fundamentalismus« erfasst eine Tradition, die sich von der Romantik über das Werk von Friedrich Nietzsche und Richard Wagner, bis zur Jahrhundertwende des 19. zum 20. Jahrhundert, in der Wirkung der Autorentriade Stefan George, ­Rudolph Borchardt und Hugo von Hofmannsthal, erstreckt.46 Alle drei Autoren als Background der Lektüre von Strauß’ Anschwellender Bocksgesang zu betrachten, bleibt interessant, obwohl einige von Breuers Beobachtungen verifiziert werden müssen. So sind die von Breuer erkannten vermeintlichen Bezüge zum GeorgeKreis, die in der Parole »Herrschaft und Dienst«47 enthalten sein sollten, im Anschwellenden Bocksgesang nicht zu erkennen. Allerdings bestehen tatsächlich einige mögliche implizite Verweise auf diese Idee, etwa wenn Strauß »die Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, Tradition und Autorität«48 in seiner Diagnose der Orientierungslosigkeit anführt. Auch »Autorität, Meistertum« als Faktoren, die Strauß höher schätzt als »herrenlose (und widerstandslose)  Erziehung«49 passen gut ins Bild, obwohl nicht klar ist, ob sie von George oder von jemand anderem stammen, denn so originell ist der Einspruch gegen antiautoritäre Erziehung auch nicht. Ebenfalls differenzierter sollte der Zusammenhang mit Hugo von Hofmannsthal ausgearbeitet werden. Inwiefern sich die auf Hofmannsthal zurückgehende Formel »Bindung statt Emanzipation«50 als erkennbare Referenz von Anschwellender Bocksgesang verfolgen lässt, bedürfte ebenfalls eingehender Studien oder Einbeziehung weiterer Texte von Strauß. Der Versuch kann sich als lohnend erweisen, so widmet zum Beispiel Günter Sautter dem Zusammenhang der oben bereits zitierten geistigen Autobiografie von Strauß Die Fehler des Kopisten und der Rede von Hofmannsthal Wert und Ehre deutscher Sprache eine Analyse im Umfang eines ganzen Kapitels.51 Die Verbindungen zu George und zu Hofmannsthal erscheinen im Falle von Botho Strauß als zentral und sie wären (samt den anderen von Nadja Thomas untersuchten Bezügen zu Autoren der ›Konservativen Revolution‹) zu verfolgen, dennoch erscheint die Affinität zu 45 Strauß, Botho: Die Fehler des Kopisten, München 1997, S. 135. 46 Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 4. 47 Ebd. 48 Strauß: Anschwellender Bocksgesang, S. 203. 49 Ebd., S. 207. 50 Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 4. 51 Sautter, Günter: Politische Entropie. Denken zwischen Mauerfall und dem 11. September 2001 (Botho Strauß, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Peter Sloterdijk). Zugl.: München, Univ., Diss., 2001, Paderborn 2002, S. 72–88; siehe auch: Wiesberg, Michael: Erinnerung als Dichterpflicht. 25 Jahre »Anschwellender Bocksgesang« von Botho Strauß, Berlin 2018 (Erträge Band 6), S. 81–85.

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Rudolph Borchardt am plausibelsten (sie wird auch in einer wichtigen Studie von Harald Zils thematisiert).52 Diese Affinität wurde von Strauß im Text Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt bekundet, der als eigenständiger Essay (Erstdruck: FAZ , 23. Mai 1987) sowie als Einführung zur Borchardtschen Übersetzung von Platons Lysis gelesen werden kann.53 Das Close-Reading (mit einigen Rekursen zu anderen Texten von Strauß und zur einschlägigen Sekundärliteratur) ergibt ein interessantes Bild Rudolf Borchardts. Zu bedenken ist, dass es sich um Straußens Borchardt handelt, also ein Konstrukt, eine quasi literarische Figur. Die von Strauß angeführten Tatsachen sollten anhand der biografischen Quellen zu Borchardt verifiziert werden, was hier nicht vorgenommen wird. Die Kombination der in der Forschungsliteratur erörterten Topoi der ›Konservativen Revolution‹ mit einer inhaltsbezogenen Figurenanalyse kann in den folgenden fünf Punkten erfasst werden: (1) Heroentum / Vitalität; (2) Außenseitertum / Elitebewusstsein / E xklusivität / Einsamkeit (3); Fundamentalismus; (4) Das Volk und die Nation; (5) Schöpferische Restauration / Ästhetisches Programm.

1. Heroentum / Vitalität Straußens Borchardt entspricht dem Leitbild einer herausragenden, starken Persönlichkeit – »eine hochaufgerichtete Gestalt, ein Heros, der schuftet und schützt – einer der sprachmächtigsten Deutschen, mit Luther, Herder, Hörderlin« (DE 7); er wird auch nicht, obwohl er bekanntlich nach Hitlers Machtergreifung aus Deutschland nach Italien fliehen muss (»als Jude […] Deutschland für immer verlassen«, DE  8), als Opfer dargestellt. Es wird eher seine Wesensverwandtschaft mit Herakles hervorgehoben: »herakleische Stärke« (DE  8), »stammt nun eben aus dem Heraklesgeschlecht« (DE  2). Borchardt ist einer, der trotz unerreichbarer Ziele und eines selbst gewählten Außenseitertums nicht an seiner Epoche zugrunde geht. Viele seiner Ahnen, Romantiker, an denen er sich offensichtlich misst, verfielen der psychischen Krankheit, entweder dem Wahnsinn oder dem Selbstmord: In den Kontinuitäten stehen, so schreibt er einmal an Hofmannsthal, wer das nicht könne, der sterbe an Selbstgift wie Nietzsche und Hölderlin, Kleist und Keats. Bor­ chardt zerbricht nicht; aus Selbstzucht, aus Visionen der Gesundheit, aus tiefgeordnetem Geschichtsgefühl (DE 9 f.).

Vieles spricht dafür, dass wir es hier mit einer Variante des Topos »Aushalten auf verlorenem Posten« zu tun haben, der in Strauß’ Werk auch an anderer Stelle 52 Zils, Harald: Autonomie und Tradition. Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 2008, Würzburg 2009. 53 Strauß: Die Distanz ertragen (weiter: Sigle DE mit Angabe der Seitenzahl); Borchardt, Rudolf: Das Gespräch über Formen und Platons Lysis. Mit einem Essay von Botho Strauß, Stuttgart 1987 (Cotta’s Bibliothek der Moderne 66).

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vorkommt und  – bezugnehmend auf Armin Mohlers Analyse54  – bis hin zu Ernst Jüngers Heroischem Realismus zurückverfolgt werden kann.55 Aus reflektierender methodologischer Sicht entspricht diesem Phänomen die universalistisch-anthropologische Interpretation des Konservatismus (Kaltenbrunner), die den Menschen als böse und gefährlich begreift und Krisen wie etwa den Krieg als notwendige Reinigungsmechanismen erscheinen lässt.56 Die Gegenwart gilt hier als die Krise schlechthin, der Topos ist also weiter zu fassen und erstreckt sich auch auf die Haltung eines Borchardt-ähnlichen unabhängigen, zeitgenössischen Intellektuellen, den Strauß auch in sich selbst erkennt: »Es ist auf verlorenem Posten möglich zu sehen, was die ›Wächter der Demokratie‹ in ihrer Mitte offenbar nicht sehen können: zwei Drittel Wüste das bewachte Gebiet.«57

2. Außenseitertum / Elitebewusstsein / E xklusivität / Einsamkeit Borchardts Heroentum und Vitalität gehen mit einem Außenseitertum einher, was auch in dem janushäuptigen Leitbild des »Außenseiter-Heros«58 semantisch zum Tragen kommt. Als poeta doctus, der das Instrumentarium der Philologie und der Geschichtswissenschaft exzellent beherrscht und eine anspruchsvolle Pindar-Übersetzung vorgelegt hat, hat er am Ende dennoch das Gefühl der Einsamkeit: […] denken zu müssen, dass ich allein und gewissermaßen verstohlen auf dem vergrabenen Schatze hockte wie Reptilien in den Märchen. Ich wußte, dass es nicht zehn Menschen in unserer Kulturwelt gab[,] die diese unglaubliche, unvergleichliche Poesie unmittelbar genossen und sich assimilieren […] (DE 13).

Für Botho Strauß gilt auch Borchardts politische Auffassung als Merkmal der Exklusivität: »›selbstverständlich Monarchist damals, intransigenter absoluter und schweigsamer Legitimist heute‹: 1927« (DE 18). Aus der gegenwärtigen Perspektive betrachtet ihn Strauß als ein sonderbares Sammlerstück: »ein kostbares, höchst ausgefallenes Gesinnungsexemplar. Vor uns unter Glassturz Geschichte, ein Präparat (jedenfalls präpariert ihr subjektiv-begehrender, ihr geschichtsbewußter Anteil)« (DE  19). Darauf folgt der Vorstellungsgedanke, ihn in der heutigen Welt zu verorten: »[…] Borchardt unserer Tage […] würde nicht einmal mehr als der großartige Don Quichote angesehen, wäre nicht mehr der Mittebildner auf dem verlorenen Posten, sondern von vornherein ›nur noch ein Exot‹, der seinen ausgefallen Tic unter tausend anderen Ticverkäufern anböte« (DE 19). 54 Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. 3., um einen Ergänzungsband erweiterte Auflage 1989, Darmstadt 1989, S. 123 f. 55 Thomas: »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«, S. 129. 56 Ebd., S. 37–39. 57 Strauß: Die Fehler des Kopisten, S. 73. 58 Strauß: Anschwellender Bocksgesang, S. 206.

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Die allgemeine Entfremdung des Einzelnen, die Vielfalt der medialen Angebote, die marktwirtschaftliche Sättigung der Gesellschaft sind Faktoren, vor denen das Konzept des zum mythischen Ganzen der Volksgemeinschaft strebenden, einsamen Individuellen unsichtbar bleibt. Auch hier zeigt der Heroische Realismus sein anderes Gesicht: in der liberalen Demokratie wäre Borchardt nicht einmal als Außenseiter bemerkt, sein verlorener Posten würde keinen interessieren, und er, mit seinen aus dem Rahmen fallenden Ansichten, würde wahrscheinlich auf Desinteresse stoßen.

3. Fundamentalismus Botho Strauß nennt Rudolf Borchardt den »poetische[n] Fundamentalist[en]« (DE  14), was offensichtlich eine Variante des von Stefan Breuer vorgeschlagenen Werkzeuges des ästhetischen Fundamentalismus ist. Die Aufladung mit mythisch-religiöser Semantik sticht ins Auge: Der poetische Fundamentalist kehrt gegen Geschichte und Vergehendes die gedenkende Macht der Dichtung, dem Zeitenwandel enthoben wie Religion. »Denn Denken ist ein heimliches Gedenken, und wir sind nicht, was wir sind, sondern, was wir werden können«. Und dies Werden geschieht im Gegensinn zur Evolutionsgeschichte, »denn dem Einen zu, das Abwandlung wieder erbt, geht der ewig nach Integration, nie nach Differenzierung strebende Weg der Menschheit …« Das Prozeßschema […] vollzieht sich vielmehr  – für den Fundamentalisten  – im langwierigen Wechsel von gottnahen und gottfernen Zeiten. Das Heilige geht in ihr sowenig verloren wie Energie im Weltraum (DE 14 f.).

Die Verbindung mit dem Energieerhaltungssatz der modernen Physik, ist typisch für Strauß als poeta doctus. Obwohl es sich um verschiedene Formen der Übersetzung handelt, die das ästhetische Programm von Borchardt bestimmen, so spricht Strauß nicht zu Unrecht von einem »religiösen Programm« (DE 9). Der Widerspruch ist offensichtlich: Selbst wenn es sehr ambitionierte Übertragungsprojekte im Bereich der Klassik sind wie die Pindarischen Oden, Altionische Götterlieder und Dantes Divina Comedia, oft Nachdichtungen, die weit über die einfache akribische Arbeit eines Übersetzers hinausgehen, bleiben Übersetzungen dennoch Übersetzungen; sie bilden kein eigenes religiöses, geschweige denn politisches Programm, höchstens ein ästhetisches. Und selbst wenn von Strauß eine »Rebellion« (DE  20) heraufbeschworen wird, ist sie nicht als religiöser Aufruhr bzw. religiöse Revolte gemeint, sie wird am Ende des Essays als »Auflehnung gegen den Mythos der Jetztlebigkeit« (DE  22) erläutert – bei Strauß offensichtlich eine andere Variante des »Aufstandes gegen die sekundäre Welt«, wie sie anderenorts anhand der Idee von George Steiner hinsicht­lich seiner »Ästhetik der Anwesenheit«59 (dargestellt im Werk Von realer Gegen59 Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 37–53.

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wart, 1991) in ähnlich gedachter Weise umgesetzt wird. Die Befreiung von den sekundären Diskursen (hier des Journalismus und sonstiger Medien), und die »Wiederbegegnung mit dem Primären« (dem Mythos in Kunst und Theater), setzt ein radikales Handeln voraus: »Zerreißen all der Texte und Texturen, in die [der Mensch] sein Antlitz gehüllt hat«60. Und weiter heißt es: »Es wäre sehr die Frage, ob dies nicht notwendig einem Akt von fundamentalistischer Gewalt gleichkäme.«61

4. Das Volk und die Nation Und selbst wenn Strauß Borchardts Begriffe des Volkes und der Nation betrachtet, erscheinen sie ihm als harmlos, denn er erkennt darin vor allem sprachliche und kulturelle Potenz der Gemeinschaft (»deutsche Sprachgemeinschaft«): »Dies Volk ist gewiß ein sagenhaftes und nicht unter der Bevölkerung zu finden, auf Straßen und Sportplätzen nicht, die beschäftigte Menge füllt; es ist vielmehr mit seinen Königen tief in den Berg gesunken und schlummert dort, bis seine Stunde kommt« (DE  13 f.). Borchardts Distanzierung von Spengler (kein Konzept könne ihm als verwerflicher erscheinen als das vom Untergang des Abendlandes, DE  14), mag Strauß auch insofern beruhigen, als es eine Ablehnung des Nationalismus ist, wie man ihn heutzutage begreift. Die These wird von Breuer gestützt. Er situiert den historischen Autor Borchardt innerhalb des ästhetischen Fundamentalismus, der sich deutlich sowohl von der genuinen konservativen Revolution (im engeren Sinne von Thomas Mann), als auch von dem neuen Nationalismus sowie von dem Faschismus / Nationalsozialismus abhebt (wie in Anm. 24–29). Und dies trotz der einmaligen, öffentlichen Befürwortung von Hitler, von der sich allerdings Borchardt relativ schnell distanzierte und »getäuscht sah«.62

5. Ästhetisches Programm / Schöpferische Restauration Der (ästhetische) Fundamentalismus, wie er – folgt man Breuers These – von Borchardt als ästhetisches Programm praktiziert wird, ist im Konzept der ›Schöpferischen Restauration‹ enthalten. Die wichtigsten Grundsätze wurden in Borchardts Rede Schöpferische Restauration (1927) vorgetragen. Liest man einige Abschnitte dieses Textes, so sieht man, dass hier das Attribut ›schöpferisch‹ als ein relativ kontingenter Begriff benutzt wird, wobei sich allerdings einige Konturierungen erkennen lassen. So dient er Borchardt hauptsächlich zur Abgrenzung der »falsch aufgeklärten Moderne« gegen »›das wahre Alte‹ der 60 Ebd., S. 51. 61 Ebd. 62 Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 235.

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Antike und des Mittelalters«63. Möchte man die beiden Bereiche auseinanderhalten, so bietet sich die von Essenberg benutzte Differenzierung zwischen dem Universalismus einer »vorwärtsgewandten« und dem einer »rückwärtsgewandten Utopie«64 als Modell an. Zur vorwärtsgewandten Utopie würden zählen: Käuflichkeit der Welt, »der scholastisch gewordene Humanismus«, »rhetorische« Kategorien (anstelle der »schöpferischen«), der Zerfall der Liebe, auch der unwirkliche Zukunftstraum im Sinne von Rousseau, zur rückwärtsgewandten Utopie hingegen das wirklich Schöpferische: »Es durfte nicht […] ein neuer Mensch, eine neue Erde sein; der alte Gott, der alte Mensch, die alte Erde waren nicht tot, sondern nur verloren und verleugnet, mussten wiederkehren als das worin sie lebendig waren […]«.65 Das obige Modell wird von Strauß bereits im Gespräch über die Formen, dem Werk eines 25-jährigen Borchardt erkannt (DE 10). Wie man weiter erfährt, handelt es sich um ein fingiertes, in Anlehnung an Platons Lysis verfasstes Gespräch über die ästhetischen Bedingungen des Schreibens und Übersetzens in der Gegenwart und zugleich eine Verbindung »attischer Wechselrede« mit modernem kritischen Meinungsaustausch (DE  11, 19). Das von Strauß in höchsten Tönen gelobte ästhetische Programm Borchardts, in dem er ihn in der Nachfolge Pindars beinahe als »Retter der Frühe« und den »große[n] antike[n] Restaurator« (DE  15) ansieht, beruht offensichtlich auf Übersetzung und Übertragung. Dieser Tätigkeit – so rekonstruiert Strauß Borchardts ästhetische Absichten  – wird eine besondere Qualität zuerkannt: Wenn Texte aus alten Epochen übersetzt werden, dann wird nicht nur übersetzt, sondern ein spezielles Deutsch geschaffen, das dem Überbrachten gerecht wird, es müssen historische Studien vorangehen, man muss sich in die Epoche einfühlen (offensichtlich steht hier Dilthey mit seiner geistesgeschichtlichen Hermeneutik Pate): Wo er [den Kern der Frühe] berührt, wird er selbst mit Ursprung begabt, gelingt es ihm, in Zungen der Frühe gleich mit den Frühen zu sprechen, dort kann er nun übersetzen, das ist: sein Deutsch schaffen, es erneuern. Erneuern, ja, nicht kunststopfen: keine Verwandlungstricks, keine Maskenspiele des Stils – niemand war ärger feind allem Späten und Unechten als ebendieser Übersetzer, der nicht geringsten sentimentalen Sinn besaß für alte Zeiten (DE 8 f.).

Strauß verweist auf Borchardts ambitionierte Übertragungsprojekte, die dem Bedürfnis des Lesepublikums gerecht werden sollten. Wielands Übersetzung von Horaz’ Sermones [Satiren] wird von Strauß als Prototyp angeführt (DE  12). Im Falle der Pindar-Übersetzung scheint Borchardt seine Wirkungsabsicht ähnlich bemessen zu haben, obwohl er ohne liebende »Gemeinschaft« auskommen muss, müsse er folgerichtig »die Antike aus sich selber neu erschaffen« 63 Thomas: »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«, S. 102 f. 64 Essenberg, van: Kulturpessimismus und Elitebewusstsein, S. 173. 65 Borchardt, Rudolf: Reden. Hg. von Marie Luise Borchardt, Stuttgart 21998, S. 230–253, hier zitiert nach Thomas: »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«, S. 103.

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(DE  12). Auch Borchardts Übersetzung des Meisterwerkes Divina comedia von Dante misst Strauß an den Leistungen eines Goethe, der die Grundlagen für die neuhochdeutsche literarische Sprache schuf. »Den Namen für nachträgliche Geschichte liefert die anachrone Schöpfung des Dante Deutsch. […] Eine Ära muß er stiften wollen und ein Jahrhundert – und wenn es auch ein früher Vergangenes ist – neu in Bewegung setzen« (DE  17). Das anvisierte Übersetzungsprojekt solle – mit einfachen Worten ausgedrückt – der Vorstellung Rechnung tragen, wie Dante (1265–1321) auf Deutsch geschrieben hätte, in der »Sprache Hartmanns und Wolframs« (DE  16), wenn Deutsch seine Muttersprache wäre. So soll Borchardt eine Übersetzung gelungen sein: nicht übersetzt, nicht nachgedichtet noch etwa in eine moderne zeitgemäße Version gefaßt, sondern gleichsam von Grund auf miterzeugt, in einem nie gesprochenen, wohl aber möglichen, historisch versäumten Idiom, das sich dem ebenfalls zu Dantes Zeit nicht gesprochenen Toskanisch geschwisterlich verbindet (DE 16 f.).

So wird Borchardts ästhetisches Programm der schöpferischen Restauration von Strauß vorgeführt. Offensichtlich ist es auch mit dem von Stefan Breuer vorgeschlagenen Konstrukt des Ästhetischen Fundamentalismus zu vereinbaren. Diese Feststellung kann zugleich als Resümee betrachtet werden. Generell lässt sich das Paradigma des ›Ästhetischen Fundamentalismus‹ auf das Werk Strauß’ anwenden. Der einige Jahre vor dem kontroversen Anschwellenden Bocksgesang (1993) geschriebene, Rudolf Borchardt gewidmete Essay Distanz ertragen (1987) lässt überdies erkennen, dass die Strauß zugeschriebene Affinität zur ›Neuen Rechten‹ oder gar zu den Rechtsradikalen eher von den reflexartigen Behauptungen des deutschen Feuilletons geleitet worden war und die Bezüge zur vergessenen, literarischen Tradition (gegenrevolutionäre Topoi, wie Außenseitertum, Heroentum, Schöpferische Restauration etc.) verkannte. Dies wurde schon damals, Mitte der neunziger Jahre, von Teilen der literarischen Öffentlichkeit gesehen und kann durch den vorliegenden Beitrag nur bestätigt werden.

Björn Thesing, Heidelberg

»dass das Leben lebbar nur wird durch gültige Bindungen« Hugo von Hofmannsthals Schrifttumsrede im Lichte neoidealistischer Kulturkritik

Rudolf Euckens Kulturkritik Rudolf Eucken gilt im Forschungsdiskurs als »vergessener Nobelpreisträger«.1 Obwohl der Ostfriese zeitlebens in akademischen Kreisen belächelt wurde,2 generierte er mit seiner neoidealistischen Weltanschauung eine umfassende Breitenwirkung und zählte infolgedessen zu den herausragenden intellektuellen Persönlichkeiten seiner Zeit.3 Wie kaum ein anderer schaffte es Eucken nicht nur mit seiner eher populärwissenschaftlichen als fachspezifischen Sprache und einem Philosophieverständnis, das sich jenseits des disziplinären Diskurses der Universitätsphilosophie bewegte,4 seine Inhalte an ein breites Publikum des 1 Schäfer, Michael: Sammlung der Geister. Kulturkritischer Aktivismus im Umkreis Rudolf Euckens 1890–1945, Berlin / Boston 2020, S. 1–6; vgl. außerdem Fulda, Hans Friedrich: Neufichteanismus in Rudolf Euckens Philosophie des Geisteslebens?, in: Stolzenberg, Jürgen; Rudolph, Oliver-Pierre (Hg.): Wissen, Freiheit, Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge des sechsten internationalen Kongresses der JohannGottlieb-Fichte-Gesellschaft in Halle vom 3.–7. Oktober 2006 (Fichte-Studien 35). Bd. I, Halle (Saale) 2010, S. 107–150, hier S. 107–115. 2 »Tatsächlich ist damals die deutsche Gelehrtenwelt an meinen Bestrebungen mit voller Gleichgültigkeit vorbeigegangen, und es war unverkennbar, dass die akademischen Kreise meine Tätigkeit als für die Wissenschaft wertlos betrachteten« (Eucken, Rudolf: Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen Lebens, Leipzig 1921, S. 77). 3 Vgl. Beßlich, Barbara: Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890– 1914, Darmstadt 2000, S. 113; vgl. außerdem Schäfer: Sammlung, S. 6–13. 4 Exemplarisch sei hier auf die lobende Äußerung des Philosophen und Anthropologen Max Scheler gegenüber seinem Doktorvater verwiesen: »Ich gestehe, dass ich oft Ihre eigene große Unabhängigkeit von den Vorurteilen der gelehrten Kaste, ihrer Eitelkeit, ihrer kindischen Selbstüberschätzung, ihren halb tölpelhaften, halb dreisten Vorstellungen über die Religion (soweit sie nicht philiströse Kirchenchristen sind) bewundert habe; auch bewundert habe, wie Sie zu einer Zeit, wo sich die Philosophie durch diesen akademischen Gelehrtengeist völlig umfassen ließ, einsam und fest Ihre Wege gegangen sind […]« (Max Scheler an Rudolf Eucken, undatiert, in: Feyl, Othmar: Briefe aus dem Nachlaß des Jenaer Philosophen Rudolf Eucken (1900–1926). Zeitüberlegenheit und historisch-politische Wirklichkeit eines idealistischen Philosophen, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena 10 (1960/1961), S. 249–294, hier S. 285). Auf Schelers und Eu-

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bildungsaffinen deutschen Bürgertums heranzutragen, sondern darüber hinaus eine internationale Wirkung zu erlangen.5 Nachdem sich Eucken zunächst mit philosophiegeschichtlichen Arbeiten beschäftigt hatte, konzentriert er sich in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts auf die Erarbeitung eines eigenständigen philosophischen Systems. Dieses entspringt aus einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung der zentralen Grundbegriffe der Gegenwart, der Dichotomie von »Intellektualismus« und »Naturalismus«, welche als komplementäre Weltanschauungsmomente laut ­Eucken die »beiden beherrschenden Mächte der Kulturentwicklung« darstellten.6 Euckens ursprünglich rein philosophiegeschichtlich fundierte Begriffsarbeit avanciert anschließend zu einer umfassenden kulturellen wie zivilisatorischen Zeit­ diagnose, die in seinem Werk Geschichte und Kritik, das mit der dritten Auflage 1904 den Titel Geistige Strömungen der Gegenwart trägt, weiter elaboriert wird und eine dezidierte Absage an den materialistischen Positivismus als dominantes Weltanschauungsmodell umfasst. Ein »Hasten von Augenblick zu Augenblick«, welches mit dem unaufhaltsamen Fortschrittsgedanken des im 19. Jahrhundert sich etablierenden Positivismus einhergehe,7 habe allen »inneren Zusammenhang des Lebens« zerstört und sei ferner eine Gefährdung für die »wahrhaftige Gegenwart«. Mit dem konstanten Aufschwung des Individuums in der Neuzeit korreliere eine Verflachung in der gesamten geistigen Lebenswelt, welche der zivilisatorische Fortschritt nicht zu kompensieren vermag: »[…] über all den Erfolgen im einzelnen verdunkelt sich dabei der Gesamtsinn des Lebens.«8 Ziel von Euckens Weltanschauungsphilosophie ist folglich nichts weniger als die Überwindung jener dialektischen Ordnung von gegenseitig unvereinbaren ckens ablehnende Haltung gegenüber der rigiden universitätsphilosophischen Praxis unter Berücksichtigung des von Scheler brieflich gegenüber seinem Doktorvater – in attestierter Gesinnungsgleichheit – geäußertem Desiderat einer »Philosophie, in der ganze lebendige Menschen wohnen können« (ebd.) hat Barbara Beßlich hingewiesen (vgl. Beßlich: Kulturkrieg, S. 114). Zu Beginn der 1920er Jahre hat sich Scheler philosophisch von Eucken bereits weitestgehend distanziert (vgl. Schäfer: Sammlung, S. 312). 5 Vgl. Feyl: Briefe, S. 249. Zur Rezeption von Euckens Weltanschauung in Frankreich sowie dem Austausch mit Intellektuellen wie Henri Bergson vgl. Dathe, Uwe: Der Nachlaß Rudolf Euckens. Eine Bestandsübersicht, in: ZNThG 9 (2002), S. 268–301, hier S. 281; Wundt, Max. Die Philosophie an der Universität Jena. In: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Altertumskunde, neue Folge, 15. Beiheft (Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 4), Jena 1932, S. 449–450. 6 Eucken verwendet für ideengeschichtliche Bestände den Begriff »Syntagmen« (vgl. Wundt: Philosophie, S. 437–438). 7 Der 1846 geborene Eucken bekommt den Siegeszug des Positivismus und den damit verbundenen technologischen Aufschwung und demografischen Wandel als Zeitzeuge vollständig mit. Trotz eines allgemein zivilisationsaffinen Habitus hält er in seinen Lebens­ erinnerungen fest, dass dieser Siegeszug »unmöglich den Bedürfnissen des deutschen Geistes genügen« könne (Eucken: Lebenserinnerungen, S. 66). 8 Eucken, Rudolf: Geistige Strömungen der Gegenwart, Leipzig 61920, S. 249.

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und in ihrem Anspruch auf Ganzheit widersprüchlichen Systemen in einer umfassenden Geisteswelt, an der das Individuum selbst »im tätigen Vollzuge« in »Bewußtsein und Tat« teilnehmen und sich so zu einer ganzen Persönlichkeit entfalten kann.9 Euckens individualistische Fokussierung bricht aber zugleich mit einer intellektualistischen Tradition. Seine Philosophie, welche die Spannung zwischen Welt und Mensch, Subjekt und Objekt, zu überwinden versucht, leugnet aber auch das Vorhandensein einer materiellen Welt jenseits des epistemischen Zugriffs auf diese keineswegs. Ein Rückzug auf einen absoluten Idealismus Hegelscher Prägung kommt für Eucken folglich nicht infrage.10 Entscheidend für das neoidealistische Kalkül, welches der »drohenden Verflüchtigung des Lebens einen fest Halt entgegenzusetzen« sucht, ist das Aufgehen des Individuums in einer kulturkonstitutiven Tätigkeit,11 die sich im Kosmos eines umfassenden wie lebendigen »Geistesleben« vollzieht.12 Erst durch die Partizipation am weltüberlegenen Kosmos des Geisteslebens erlangt das Individuum Freiheit gegenüber den Zwängen der Moderne und hebt sich über die dichotome Zerfahrenheit derselben hinaus, indem es aus der reichen Tradition eines umfassenden Kulturbestandes schöpft und diesen emphatisch in eine neue und zeitgemäße Weltanschauung integriert.13 Obwohl sich Euckens Weltanschauung im Kontext des »Kulturkrieges« zunehmend nationalisierte,14 blieb er zeitlebens ein dezidiert international orientierter Denker. Ex post postuliert Eucken in seinen Lebenserinnerungen, dass die kulturellen und zivilisatorischen Probleme der Moderne internationaler Natur seien.15 Zwar gestand er bei der Behebung dieser Probleme der deutschen idealistischen Philosophie stets eine Sonderstellung zu, doch kommt diese Problemlösung, welche selbst von deutscher Warte aus im Sinne der gesamten Menschheit liegt, vollständig ohne eine pejorative Behandlung anderer Kulturkreise aus.16 Ein Grund dafür liegt sicherlich in Euckens internationaler

9 Wundt: Philosophie, S. 439. 10 »[…] ich habe den Intellektualismus stets als eine Verflachung und Verflüchtigung der Wirklichkeit abgelehnt […]« (Eucken: Lebenserinnerungen, S. 67; vgl. dazu Schäfer: Sammlung, S. 43 f.). 11 Wundt: Philosophie, S. 439. 12 Vgl. Eucken, Strömungen 61920, S. 235 f.; zum Begriff des »Geisteslebens« vgl. Schäfer: Sammlung, S. 47–49. 13 Vgl. Wundt: Philosophie, S. 438. 14 Vgl. dazu die umfassende Darstellung bei Beßlich: Kulturkrieg, S. 93–113. 15 »Ich habe mich stets als einen guten Deutschen gefühlt, und ich habe auch im Auslande dem Recht der deutschen Sprache nicht das mindeste vergeben, aber mein Hauptproblem war übernational, es erstreckte sich über alle Völker und Kulturkreise. Es galt, das gegenwärtige Leben von einer starken Unwahrhaftigkeit zu befreien, an der es leidet, und eine innere Erhöhung, ja Umwälzung des menschlichen Lebensstandes zu fördern; dafür aber fand ich mehr Wärme und mehr Unbefangenheit bei verschiedenen auswärtigen Völkern als in Deutschland« (Eucken: Lebenserinnerungen, S. 82). 16 Vgl. dazu Beßlich: Kulturkrieg, S. 106.

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Tätigkeit schon vor dem Weltkrieg begründet. Da seine Philosophie im Ausland wesentlich lebhafter rezipiert wurde, führten ihn zahlreiche Vortragsreisen in das europäische Ausland und bis in die USA .17 Auch postum wurde die kosmopolitische Gesinnung Euckens von seiner Frau Irene Eucken und dem Euckenbund geehrt, indem die Euckensche Villa in der Botzstraße 5 in Jena zu einem Ort internationalen Kulturaustauschs und zugleich zum Zentrum des dezidiert bildungsbürgerlich-konservativen Bundes, der zwischen 2500 und 4000 Mitgliedern in bis zu 25 Ortsgruppen zählte,18 wurde.

Tradition oder Kontingenz? Zur diskursiven Rahmung der Münchner Rede Nach der Jahrhundertwende führen die Besuche bei Harry Graf Kessler Hugo von Hofmannsthal nach Weimar und Umgebung. Auch im Hause Eucken, das stets einen starken Zulauf künstlerischer Persönlichkeiten erfuhr, ist Hofmannsthal dabei verkehrt.19 Im diskursiven Umfeld des Österreichers standen zudem viele Personen, die ihrerseits mit Eucken bekannt oder auch nach dem Ableben des Nobelpreisträgers im Kreise des Euckenbundes aktiv waren. Neben 17 Vgl. Eucken: Lebenserinnerungen, S. 82–96. 18 Zur Entstehung und zum Wirken des Euckenbundes vgl. Schäfer, Michael: Die Sammlung der Geister. Euckenkreis und Euckenbund 1900–1943, in: Kuhlemann, Frank-Michael; Schäfer, Michael (Hg.): Kreise  – Bünde  – Intellektuellen-Netzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890–1960, Bielefeld 2017, S. 109–135. 19 Vgl. Klinkowstroem, Wendula von: Walter Eucken: Eine biographische Skizze, in: Walter Eucken und sein Werk. Rückblick auf den Vordenker der sozialen Marktwirtschaft (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 41), hg. v. Walter Eucken Institut, Tübingen 2000, S. 53–115, hier S. 59. Die biografische Beziehung zwischen Hofmannsthal und Eucken ist nicht umfassend dokumentiert. Der Forschungsdiskurs stützt die Bekanntschaft des Dichters mit dem Jenenser Ordinarius auf den Bericht Walter ­Oswalts, des Urenkels Rudolf Euckens. Im Rahmen einer Diplomarbeit zu Walter Eucken, dem Sohn des Philosophen, gewährte dessen Enkel dem Verfasser, Jan Hüfner, ein Interview (vgl. Hüfner, Jan: Der junge Walter Eucken. Zur Bestimmung früher Einflussfaktoren auf sein Denken als Grundlage seines späteren Werks, München 2004 [1995]). Eine erste Begegnung zwischen Eucken und Hofmannsthal könnte sich im Februar 1906 ereignet haben. Hofmannsthal nimmt am 11. Februar an einem Empfang im Nietzsche-Archiv Weimar teil, an dem berühmte Künstler wie Richard Dehmel, Edvard Munch, Gerhart Hauptmann usw. mit dem »Kreis der Kunstfreunde von Jena und Weimar«, einem Verein, an dessen Leitung seit seiner Gründung 1904 Irene Eucken als Vorstandsmitglied maßgeblich teilhatte, zusammentrafen (vgl. Wahl, Volker: Jena als Kunststadt. Begegnungen mit der modernen Kunst in der thüringischen Universitätsstadt zwischen 1900 und 1933, Leipzig 1988, S. 93, zur Rolle Irene Euckens im Kreis um die »Kunstfreunde von Jena und Weimar« vgl. Neuland, Brunhild: Irene Eucken. Vom Salon zum Eucken-Haus, in: Horn, Gisela (Hg.): Entwurf und Wirklichkeit: Frauen in Jena 1900 bis 1933 [Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte 5], Rudolstadt 2001, S. 219–233, hier S. 223–225).

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Harry Graf Kessler20 etwa Walter Brecht, Rudolf Pannwitz21, Rudolf Borchardt22 und Otto von Taube. Letzterem bot Luise Seefried, die seit 1925 für den umfassenden kulturellen Erfolg des Euckenbundes in München verantwortlich war, sogar den Vorsitz der Münchner Ortsgruppe an.23 Besonders zur Zeit von Hofmannsthals Münchner Rede prägte der Euckenbund, der kurz zuvor seinen »Meister« verloren hatte, das intellektuelle Leben der Stadt.24 So fand auch die Gedenkfeier für Rudolf Eucken im Auditorium der Ludwigs-Maximilians-Universität statt, wo Hofmannsthal wenige Monate nach dem Ableben des Jenaer Ordinarius mit seiner Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation an die Öffentlichkeit trat. In dieser liefert Hofmannsthal nicht nur eine definitorische Annäherung an die kursierende Leerformel der ›konservativen Revolution‹,25 20 So ist es beispielsweise Eucken in seiner Funktion als Dekan der philosophischen Fakultät, der sich an Harry Graf Kessler wendet und diesen bittet, bei August Rodin vorzufühlen, ob er die ihm kurz darauf angetragene Jenaer Ehrendoktorwürde annehmen würde (vgl. dazu Wahl: Kunststadt, S. 56–77; Schäfer: Sammlung, S. 72 und 290). 21 Euckens Name findet sich auf der Liste der »wichtigsten Gelehrten und Schriftstellern«, denen Pannwitz nach Veröffentlichung ein Exemplar der Krisis der europäischen Kultur (1917) zusammen mit einem Schreiben, das Bezug zwischen dem Band und dem Arbeitsgebiet des Adressaten herstellt, zukommen lässt (vgl. Schuster, Gerhard [Hg.]: Hugo von Hofmannsthal / Rudolf Pannwitz. Briefwechsel 1907–1926, Frankfurt am Main 1993, S. 730). 22 Borchardts 1928 gehaltene Rede Die Entwertung des Kulturbegriffs. Ein Unglück und ein Glück entsteht ebenfalls für den Euckenbund und wurde von Brecht medial breit an­ gekündigt (vgl. König, Christoph / Oels, David [Hg.]: Hugo von Hofmannsthal – Walther Brecht. Briefwechsel. Mit Briefen von Hugo von Hofmannsthal an Erika Brecht [Marbacher Wissenschaftsgeschichte 6], Göttingen 2005, S. 168). 23 Vgl. Schäfer: Sammlung, S. 344 f. Otto von Taube schreibt am 8.11.1926 einen weltanschaulich affirmativen Beitrag über Leben und Werk des Jenaer Ordinarius für die »Münchner Neueste Nachrichten«. Dessen Redakteur, Wilhelm Ritter von Schramm, der dem Vorstand des Euckenbundes angehörte, ist ebenfalls einer der Münchner Austauschpartner Hofmannsthals (vgl. König / Oels: Briefwechsel Hofmannsthal – Brecht, S. 148–151, 166–168). Auffällig ist, dass sich das diskursive Umfeld Hofmannsthals in München verstärkt zu der Zeit mit Euckens Werk auseinandersetzt, in der Hofmannsthal gegenüber Willy Haas die Schwierigkeiten bei der Bearbeitung seines Vortragsthemas artikuliert: »Der Vortrag für München macht mir unbeschreibliche Mühe  – ich habe mich da übernommen, das Thema ist zu schwierig, kaum darstellbar. Ich frage mich heute noch, ob ich überhaupt so weit zu irgend einem Resultat der Darstellung komme, dass ich ihn halten kann« (Hugo von Hofmannsthal an Willy Haas, 2. Januar 1927, in: Italiaander, Rolf [Hg.]: Hugo von Hofmannsthal – Willy Haas. Ein Briefwechsel, Frankfurt / Berlin 1968, S. 73; vgl. dazu Innerhofer, Roland: »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation«, in: Mayer, Matthias; Werlitz, Julian [Hg.]: Hofmannsthal-Handbuch: Leben  – Werk  – Wirkung, Stuttgart 2016, S. 377–379, hier S. 377; Nostitz, Oswalt von: Zur Interpretation von Hofmannsthals Münchener Rede, in: Für Rudolf Hirsch zum 75. Geburtstag am 22. Dezember 1975, Frankfurt am Main 1975, S. 261–278, hier S. 261). 24 Zur umfangreichen Aktivität des Euckenbundes in der Münchner Ortsgruppe vgl. Schäfer: Sammlung, S. 336–348. 25 Zur Geschichte des Begriffs ›Konservative Revolution‹ vor der Verwendung durch Hofmannsthal vgl. Nostitz: Interpretation, S. 272 f.

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sondern aktualisiert zugleich einschlägige Traditionsbestände einer neoidealistischen Kulturkritik Euckenscher Prägung.26 Zentral ist hierbei besonders die Überwindung von Dichotomien im Bereich des Geistigen zugunsten einer umfassenden Lebenseinheit, welche ein locus communis im Denken des Philosophen ist. Ein nahezu identisches Desiderat findet sich auch am Ende von Hofmannsthals Münchner Rede wieder: Alle Zweiteilungen, in die der Geist das Leben polarisiert hatte, sind im Geiste zu überwinden und in geistige Einheit überzuführen; alles im äußeren Zerklüftete muß hineingerissen werden ins eigene Innere und dort in eines gedichtet werden, damit außen Einheit werde, denn nur dem in sich Ganzen wird die Welt zur Einheit.27

Hofmannsthals Verlangen nach geistiger Einheit weist gerade in seiner Ablehnung von allem »im äußeren Zerklüfteten« und der Betonung einer ganzheitlichen gegenseitigen Durchdringung von innerer Geistigkeit und äußerer Welt zur Stiftung eines sinnhaften Ganzen eine unverkennbar neoidealistische Färbung auf, die besonders ein Jahr nach Ableben des Nobelpreisträgers diskursiv eine entsprechende kulturkritische Traditionszugehörigkeit im Münchner Auditorium evoziert haben dürfte. Das Desiderat nach geistiger Ganzheit zur Überwindung eines »zerfahrenen« oder »verworrenen« Zeitgeistes ist für die Kulturkritik neoidealistischer Prägung spätestens seit der Jahrhundertwende topisch. Im Fokus steht dabei stets das 19. Jahrhundert, welches die dichotomen Kulturentwicklungen potenziert und zugleich das Verhältnis zur Tradition erschwert habe, indem es »zu einer schärferen Scheidung der verschlungenen Gedankenmassen [dringt, BT]« und ein »friedliches Zusammengehen« der tradierten Bestände verbietet.28 Die geistesgeschichtlich hier so einschlägige Position Euckens, die über eine rege Aktivierung und Weiterführung der Traditionsträger des deutschen Idealismus einen größeren ideellen wie nationalen Zusammenhalt zu erreichen vorsieht, dürfte seinen meisten Rezipienten keineswegs neu oder originell erschienen sein. Eucken bedient sich hier nahezu epigonal des argumentativen Repertoires einer geistigen deutschnationalen Einheit,29 welches Johann Gottlieb Fichte bereits in seinen Reden an die deutsche Nation (1807/1808) so prominent formuliert hatte. Diese Aktualisie26 Zur nicht auf Eucken bezogenen, allgemeinen Beobachtung einer Kontinuität der Kulturkritik des 19. Jahrhunderts zur ›Konservativen Revolution‹ vgl. Andres, Jan: Überlegungen zum Essayismus der Kulturkritik und der ›Konservativen Revolution‹ in Deutschland 1870–1933, in: Braungart, Wolfgang; Kauffmann, Kai (Hg.): Essayismus um 1900, Heidelberg 2006, S. 83–100. 27 Hofmannsthal, Hugo von: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, in: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden: Reden und Aufsätze III (1925–1929), hg. v. Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt am Main 1980, S. 24–41, hier S. 40. Im Folgenden wird diese Ausgabe mit dem Kürzel GW III angegeben. 28 Eucken: Strömungen 31904, S. 1 f. 29 Die Frage nach Euckens vermeintlicher Epigonalität spaltete schon die zeitgenössische Forschung in zwei Lager (vgl. Beßlich: Kulturkrieg, S. 46–52).

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rung der Tradition Fichtes ist dabei nicht rein kontingent, tritt dem Rezipienten von Euckens Schriften besonders im Kontext des »Kulturkrieges« doch vielfach der Geist Fichtes entgegen.30 Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums von Fichtes Reden 1907/08 plante der Insel-Verlag eine erschwingliche Neuauflage in großer Stückzahl, gedacht für ein breites Publikum, zu der Rudolf Eucken, der den ehemaligen Lehrstuhl Fichtes innehielt, das Vorwort beisteuern sollte.31 Diese Ausgabe befand sich ebenfalls in der Bibliothek Hugo von Hofmannsthals, wobei es auffällig ist, dass Hofmannsthal ausschließlich im Bereich des einleitenden Vorworts Lesespuren hinterlassen hat.32 Diese Lesespuren sind besonders aufschlussreich, weil Eucken hier einerseits das Verdienst der Fichteschen33 Reden darstellt und ihre Relevanz für die in vielerlei Hinsicht parallele zeitgenössische Situation betont.34 Andererseits stellt für Eucken das geistig-nationale Wirken Fichtes einen Sonderfall dar, seien die Deutschen doch geneigt, Wissenschaft und Politik voneinander zu trennen. Fichte gebe nun dem Gelehrten eine »hohe Aufgabe eigentümlicher Art: er soll nicht an den vorhandenen Stand des geistigen Lebens gebunden bleiben, er soll ihn mutig weiterführen, er soll kräftig die Zukunft vorbereiten und so das Leben in Fluß halten.«35 Fichtes kulturoptimistisches Wirken liefert dabei wichtige Impulse für Euckens eigene Vorstellung von einer dynamischen Kulturnation. Sein tiefes Empfinden des desolaten Standes der Deutschen zusammen mit seinem rigiden Eintreten für einen nationalen Zu30 Zu Euckens Neufichteanismus in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Beßlich: Kulturkrieg, S. 79–93; vgl. außerdem Schäfer: Sammlung, S. 53. Hans-Friedrich Fulda zeigt hingegen, dass Fichte für die Genese von Euckens selbständiger Philosophie in den 1880er und 1890er keine zentrale Rolle spielt und bewertet den Neufichteanismus ­Euckens als »philosophische Legende« (Fulda: Fichteanismus, S. 139 f.). Auch im Kontext des Kulturkrieges zeige sich Eucken »deutlich weniger national infiziert« als andere national gesinnte Philosophen (ebd., S. 107). 31 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung von Beßlich: Kulturkrieg, S. 85–91. 32 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band XL : Bibliothek, hg. v. Ellen Ritter in Zusammenarbeit mit Dalia Bukauskaite und Konrad Hermann, Frankfurt am Main 2011, S. 204. Den Auftakt zu Reden im Allgemeinen – »Wie Reden vom Augenblick erzeugt werden und seinen Forderungen dienen, so pflegen sie an die jeweilige Lage gebunden zu bleiben und rasch zur bloßen Vergangenheit zu werden« – hat Hofmannsthal mit der Randbemerkung »Reden« versehen. 33 Es ist zudem auffällig, dass Eucken besonders die Position Fichtes als geistiger Führer in der Krise darstellt und die Situation des Entstehungskontextes mit dem eigenen Zeitgeist parallelisiert. Wenn Eucken folglich das Wirken Fichtes ehrt, idealisiert er ebenfalls sein eigenes Schaffen im Kontext der Kulturkrise seiner Gegenwart: »Denn es bleibt ein ergreifendes und erhebendes Schauspiel, inmitten eines Wankendwerdens aller Verhältnisse einen unerschrockenen und unerschütterlichen Mann zu sehen, dessen Charakterstärke und Geisteskraft allen Wirren und Zweifeln überlegen bleibt und der eine siegreiche Gegenwirkung hervorruft« (Eucken, Rudolf: »Zur Einführung«, in: Fichtes Reden an die deutsche Nation. Eingeleitet von Rudolf Eucken, Leipzig 1909, S. XV). 34 Vgl. Eucken: Einführung, S. IVf.; XIVf. 35 Eucken: Einführung, S. VIf.

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sammenhalt im Modus geistiger Arbeit machen Fichte somit nicht nur zu einem schillernden Vorbereiter und einer ergiebigen Bezugsquelle für Euckens eigenes Denken, sondern offerieren zugleich einen geeigneten Anknüpfungspunkt für Hofmannsthals in vielerlei Hinsicht analoge Position in der Schrifttumsrede. War es das »reizvolle Amalgam von Fachlichem und Weltanschaulichem« in Fichtes Reden,36 das für Eucken nach der Jahrhundertwende interessant war, so ist es die definitorische Ausgestaltung des Begriffs der Nation, die für Hofmannsthal von einiger Anziehungskraft gewesen sein könnte: Die Nation, wie sie die Individuen zusammenhält und die Jahrtausende hindurch in besonderer Art und Richtung wirken läßt, gilt ihm als eine charakteristische Gestaltung des geistigen und göttlichen Lebens, an die sich alles Wirken und Leben des Individuums anschließen muß, wenn es nicht ins Leere verrinnen soll.37

Insbesondere Euckens Ausführungen über Fichtes Begriff von der deutschen Nation als etwas dezidiert Ideellem, zu dessen Konstitution als »geistiges Werk« äußere Konstituenten sekundär sind,38 begegnen einem in Hofmannsthals Rede nahezu ungebrochen wieder. Neben der Laudatio auf Fichte liefert Eucken dem Leser eine komprimierte Darstellung der wesentlichen Punkte seiner eigenen Philosophie, so etwa in der Annahme, die deutsche Art zeige sich deutlich »in der Ausbildung eines selbstständigen Innenlebens«, das immer wieder aktivistisch zur dauerhaften Aktualisierung seiner Tradition oder, allgemeiner gefasst, zur Tat aufrufe.39 Analoges gilt für Euckens eigenen Befund über die Unsicherheit im nationalen Leben der Deutschen: Alle solche Verwicklung der Zeit erstreckt sich aber bei uns Deutschen, mehr als bei andern, politisch befestigteren Völkern, auch in das nationale Leben hinein, die 36 Beßlich: Kulturkrieg, S. 91. 37 Eucken: Einführung, S. IX  f. 38 »Wenn aber Fichte den Begriff der Nation in so hohem Sine faßt, so ist es ihm keineswegs ausgemacht, dass eine Volksmasse bei äußerem Zusammensein schon eine Nation im rechten und vollen Sinne bilde; so muß er auch dieses erst beweisen, dass das deutsche Volk eine Nation bedeute, d. h. dass es eine eigentümliche geistige Art besitze« (vgl. ­Eucken: Einführung, S. X). 39 Ebd., S. XI –XIII . Die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Erneuerung des geistig-natio­ nalen Zusammenhaltes in Fichtes Reden fällt dabei in den Bereich der Grundüberzeugungen des ›Aristotelikers‹ Eucken. Die zur Formelhaftigkeit neigende Prägung seines aktivistischen Idealismus erlaubt Eucken allerdings, sich ex post bekennend zu einer Vielzahl großer Deutscher zu verhalten und diese nachträglich als prominente Beispiele seiner eigenen Denkart zu inszenieren (zu den opportunistischen Zügen dieser Arbeitsweise vgl. Beßlich: Kulturkrieg, S. 85). So exponiert Eucken 1905 Friedrich Schiller als Vertreter eines die Menschheit vorantreibenden ethisch-idealistischen Aktivismus: »Er ist in dem Kreise unserer Dichter vor allem der Mann des Handelns und der That, der Mann, der sich der zuströmenden Welt nicht unterwirft, sondern ihr gegenüber eine unablässige Gegenwirkung übt« (Eucken, Rudolf: Was können wir heute aus Schiller gewinnen?, in: Kant-Studien 10 (1905), S. 253–260, hier S. 254).

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innere Gemeinschaft ist nicht lebendig genug, wir kommen nicht genügend dazu, einen gemeinsamen Charakter auszubilden […] Wie sollten wir aber dazu gelangen, ohne jener chaotischen Lage überlegen zu werden, und wie könnten wir das anders als durch eine kräftige Selbstbesinnung und durch die Belebung einer größeren Tiefe unseres Wesens?40

Der Schlüssel zur Bewältigung ebendieser »Verwicklung der heutigen Tage« ist nicht allein in einer konservatorischen Aktualisierung einer durch den radikalen Wandel der äußeren Umstände ungeeigneten Tradition zu sehen, sondern verlangt vielmehr ein »Vertrauen auf unser eigenes geistiges Vermögen«.41 Nicht nur bedient sich Hofmannsthal derselben Muster einer neoidealistischen Kulturkritik, sondern auch in den Antworten auf die neuen Anforderungen der »deutschen Zerfahrenheit«42 klingt ein neoidealistischer Traditionsbezug in dem kulturkritischen Duktus der Münchner Rede deutlich an.

Hofmannsthals Schrifttumsrede: Spurensuche neoidealistischer Kulturkritik Hofmannsthal eröffnet seine Rede mit den definitorischen Ausdeutungen der titelgebenden Begrifflichkeiten. Die Konzeption des geistigen Raumes der Nation betont unmittelbar eine idealistische Überlegenheit gegenüber einem bloß materiellen Raumbegriff, denn es ist das »geistige Anhangen«, das einen nationalen Zusammenhalt stiftet und nicht ein bloß räumlich-territoriales Nebeneinander.43 Dieser Raumbegriff zerfällt im Redeauftakt in zwei Bestandteile. Zum einen isoliert Hofmannsthal dasjenige, welches er den »Geist der Nation« nennt, ein von der Sprache getragenes, gemeinschaftsbildendes Gefüge, das aus dem Geist der Vergangenheit einen ideell-nationalen Zusammenhang »zwischen den Geschlechtern« zu stiften vermag.44 Die privilegierte Stellung der Sprache für die Genese nationalen Zusammenhaltes verweist neben dem für Hofmannsthal typischen sprachkritischen Assoziationsrahmen auf eine starke Kontinuität zur Tradition Fichtes.45 Zur Konstitution seines Begriffs der Nation und zum Zweck einer »Berufung von jener Lage [einer im geistig-nationalen Sinne disparaten, BT] an die tieferen Grundzüge und den bleibenden Kern des deutschen Wesens«, 40 Eucken, Einführung, S. XVI . 41 Ebd. 42 GW III , S. 27. 43 Diese Konzeption zeigt bereits eine hohe Affinität zum Fichteschen Denken (vgl. Anm. 38). 44 GW III , S. 24. 45 »In einer Sprache finden wir uns zueinander, die völlig etwas anderes ist als das bloße natürliche Verständigungsmittel […] wir ahnen dahinter ein Etwas waltend, das wir den Geist der Nation nennen uns zu getrauen.« (GW III , S. 24). Zur Kontinuität von Hofmannsthals früher Sprachskepsis in der Münchner Rede vgl. Nostitz: Interpretation.

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so Eucken, mache Fichte »vor allem die ›in ihrer Wurzel lebendige‹ deutsche Sprache geltend«.46 Während der »Geist der Nation« in seiner Fokussierung auf die geistige Gemeinschaftskonstitution der Generation einen unverkennbar idealistischen Charakter trägt, bedarf dieser zusätzlich realiter eines materiellen Trägers, der in der Schrift vorhanden ist.47 Die materielle Fundierung des geistigen Gebildes zeugt dabei von einer grundsätzlich neoidealistischen Denkweise, welche die Materialität der Wirklichkeit nicht kategorisch ausschließt, sondern in seiner Positivität anerkennt und einen strengen intellektualistischen Reduktionismus ablehnt. Das Schrifttum ist folglich die materiell notwendige Voraussetzung für ebenjenen actus tradendi,48 der alles Geistige und Höhere im Individuum zum »Geist der Nation« verschmelzen kann. Dass Hofmannsthal hier den Begriff des Schrifttums vorzieht, liegt darin begründet, dass der Begriff der Literatur assoziativ den »unglückliche[n] Riß in unserem Volk zwischen Gebildeten und Ungebildeten […] ins Gefühl [tre­ ten lässt]«49. Das Schrifttum, das verschiedenste Gattungen und eine ganze Typologie schrifttragende Medien vereint, steht dabei im Schatten des Begriffs ›Literatur‹, der im medialen Sinne ebenso weit gefasst wird, nur dass er – wenn er in gleicher Weise als Träger des Geistes der Nation gefasst werden soll – eine »geglaubte Ganzheit des Daseins« präsupponiert, die bei den Franzosen wohl vorhanden sei, bei der »Zerfahrenheit« der Deutschen hingegen nicht.50 Dieser Umstand war für Hofmannsthal ein so schwerwiegender Sachverhalt, dass er ihm vor der Ausarbeitung der Rede eine deutlich pessimistischere Ausrichtung gab. Ein halbes Jahr vor seinem Münchner Vortrag schrieb er an Willy Haas, den Herausgeber des Wochenblatts Die literarische Welt: Sie haben eine Zeitschrift gegründet, die in ihrer Form etwas für Deutschland neues ist, und etwas lebendiges, und haben sie die »Literarische Welt« genannt, und gerade das, was Sie da als Titel und Leitwort auf Ihre Blätter geschrieben haben, das gibt es eben nicht: es gibt in Deutschland keine litterarische Welt, gibt keine deutsche litterarische Welt – gibt nicht Litteratur, als ein Verbindendes, worin das Bleibende, der 46 Eucken: Einführung, S. Xf. 47 »Alles Höhere, des Merkens Würdige aber, seit vielen Jahrhunderten, wird durch die Schrift überliefert; so reden wir vom Schrifttum und meinen damit nicht nur den Wust von Büchern, den heute kein einzelner mehr bewältigt, sondern Aufzeichnungen aller Art, wie sie zwischen den Menschen hin und her gehen, den nur für einen oder wenige bestimmten Brief, die Denkschrift, desgleichen auch die Anekdote, das Schlagwort, das politische oder geistige Glaubensbekenntnis, wie es das Zeitungsblatt bringt, lauter Formen, die ja zuzeiten sehr wirksam werden können« (GW III , S. 24). Vgl. ebenfalls Pestalozzi, Karl: Zur Problematik von Hofmannsthals Schrifttumsrede, in: Ders. / Stern, Martin (Hg.): Basler Hofmannsthal-Beiträge, Würzburg 1991, S. 241–249, hier 243. 48 Vgl. grundlegend Barner, Wilfried (Hg.): Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquium 15). München 1989, S. IX–XXIV. 49 Vgl. GW III , S. 24 f. 50 Ebd., S. 27.

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Nationalgeist, mit dem wechselnden, dem Zeitgeist, sich immer in neuem Verhältnis mischt  – und worin sich die Stände und die Individuen begegnen, gibt nicht dies unsäglich Gesellige, Ermunternde, worin Gesellschaft und Nation, Weltsitte und Religion, Galanterie und Politik einander wechselweise zum Schauspiel werden, gibt nicht dies Europäische, dies Athenische, Römische, dies Französische – gibt es nicht und kann es nicht geben – nach unserem Schicksal abermals, unserem Schicksal als Nation sui generis. […] Dennoch gibt es ein Geistiges, ein schwer zu benennendes, mehr zu erleidendes als zu erkennendes, ein finster Großartiges, an dem Teil hat, wenn man dieser Nation angehört (ich spreche immer von der Nation in ihrem weitesten und reinsten Sinn, mit den fließenden Grenzen des Heiligen römischen Reiches) – und das zu erkennen einen vor der Verzweiflung behütet, und mit dem eignen Schicksal versöhnt.51

Das Auseinandertreten von Nationalgeist und Zeitgeist ist ein so folgenschweres Defizit, das auch der immer schwächere Abglanz einer Goethischen Tradition nicht zu kompensieren vermag. Die desolate Situation mangelnder nationaler Einheit und der prekäre Zustand der literarischen Tradition führt für Hofmannsthal zu einer schwarzmalerischen Diagnose: »Wir haben eine Literatur im uneigentlichen, konventionellen Sinne, die aufzählbar ist, aber nicht wahrhaft repräsentativ noch traditionsbildend ist.«52 Der Aufstieg zu geistiger Einheit, auf den die Schrifttumsrede zielt, ist dabei zugleich als Transformationsprozess zu verstehen, indem Schrifttum zu Literatur avanciert und als solche bereits den nationalen Geisterraum entscheidend konturiert. Die Kulmination von geistig-nationaler Einheit und Literatur hingegen, wie Hofmannsthal sie exemplarisch anhand der französischen Nation vorführt,53 51 Italiaander: Briefwechsel Hofmannsthal – Haas, S. 64. 52 GW III , S. 29. 53 Auf die Diskrepanz zwischen der ›Konservativen Revolution‹ als Strömung und Hofmannsthals Frankophilie verweist Jacques Le Rider: »[D]ie Münchener Rede ist zweifelsfrei die hymnischste Huldigung Hofmannsthals an die französische Kultur, die er als unübertreffbares Modell der Einheit zwischen einer Literatur und einer Gesellschaft darstellt. Nun ist aber ein Erkennungszeichen der ›konservativen Revolution‹ gerade die erbitterte Kritik an der französischen Zivilisation, die sie der tugendhaften deutschen ›Kultur‹ gegenüberstellt. Hofmannsthals militante Frankophilie, verbunden mit seiner vehementen Anprangerung der kulturellen Krise der deutschsprachigen Länder, macht diese Rede nahezu unvereinbar mit einem Moeller van den Bruck« (Le Rider, Jacques: Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende. Aus dem Franz. von Leopold Federmair, Wien [u. a.] 1997, S. 274). Die in der Forschung anzutreffende Irritation über die Formung des deutschen Nationalbildes anhand der Schablone des Französischen nimmt vor dem Hintergrund einer diskursiven Nähe der Münchener Rede zur Aktivität des international orientierten Euckenbundes Kontur an: Die Kulmination von kulturkritischem Konservatismus und Europäismus ist nicht nur maßgeblich für die Ideologie des Kreises um den Jenaer Philosophieprofessor, sondern zudem – qua diskursiver Rahmung der Rede – ein geeignetes Erklärungsmoment dafür, dass trotz der dezidiert konservativen Ausrichtung nicht die vieldiskutierte Dichotomie von deutscher Kultur und französischer Zivilisation als erstarrtes Instrument der Kulturkritik in Hofmannsthals Rede anklingt.

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spielt die möglichen Folgen eben einer einheitlichen Geisteswelt durch, die geistesverwandt im Zentrum von Euckens neoidealistischem Kalkül steht. Erst wenn der Einzelne in einem ideellen Gemeinschaftskosmos mit lebendigem Rückgriff auf große Vorbilder sein geistiges Potenzial entfalten kann,54 wird ein innovatives Kulturleben angeregt, das eine erneute »Bindung an [eine, BT] höhere Ordnung« anstrebt, wie sie zur Blütezeit eines immanenten Idealismus vorhanden war, bevor im Verlauf des 19. Jahrhundert ein umfassender Depravationsprozess diese ganzheitliche Lebensanschauung auflöste.55 Im Bereich kultureller Produktion reduziert Hofmannsthal diese Implikationen einer umfassenden Geisteswelt französischer Prägung  – Hofmannsthal spricht in diesem Zusammenhang von einem »geistigen Ganzen« –56 auf die Formel: »Mode belebt die Tradition, Tradition adelt die Mode.«57 Auch Rudolf Eucken lehnte einen reinen Traditionalismus zur Behandlung der disparaten Gegenwart ab. Im Rückgriff auf große Persönlichkeiten lasse sich allerdings »eine innere Überlegenheit gegen alle Verwicklung der heutigen Lage« erreichen.58 Analog zur ­Euckenschen Kulturkritik sieht Hofmannsthal in der »Deutschen Zerfahrenheit«59 das Gegenstück zum nationalstiftenden Einheitskosmos der 54 »Nichts ist im politischen Leben der Nation Wirklichkeit, das nicht in ihrer Literatur als Geist vorhanden wäre […] Der Journalist noch, und wäre es der kleinste, darf sich neben Bossuet und La Bruyère stellen, der Schullehrer ist der Gefährte Montaignes; Molière und Lafontaine, Voltaire und Montesquieu sprechen noch heute für alle, alle sprechen aus ihnen. Auch hier ist der Ring geschlossen« (GW III , S. 27). 55 Eucken, Rudolf: Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, Leipzig 21913, S. 8–13; vgl. dazu Schäfer: Sammlung, S. 49. Die Motivation der Grundlinien einer neuen Lebensanschauung liegt in der Diagnose einer Pluralität unterschiedlicher Lebensanschauungen, die »auf der Zeitoberfläche bunt durcheinander [wirbeln]« und die es in einem universalen Einheitsstreben zu überwinden gilt (vgl. ebd., S. 1 f.; vgl. zudem Anm. 27 und 73). 56 Der Begriff ›Geist‹ tritt im Verlauf der Rede zunehmend in den Vordergrund und emanzipiert sich von den Begriffen ›Schrifttum‹ und ›Literatur‹, wodurch der Eindruck einer neuidealistischen Fundierung der Münchener Rede noch gestärkt wird (vgl. Pestalozzi: Problematik, S. 247). 57 GW III , S. 25. 58 Eucken: Einführung, S. XVI . 59 Die Thematik der »Zerklüftung« der Deutschen beschäftigt Hofmannsthal bereits seit vielen Jahren (vgl. Nostitz: Interpretation, S. 263 f.). Obgleich Termini wie »Zerfahrenheit«, »Zerklüftung«, »Zerrissenheit« usw. allgemein topisch im Bereich moderner Kulturkritik sind, zeigt Hofmannsthals Dichotomie von französischer Ganzheit und deutscher Zerfahrenheit starke Kontinuitäten zur Euckenschen Kulturkritik auf. Die Diagnose der Deutschen als Volk der Zerfahrenheit findet sich nicht nur in der Einleitung zu Fichtes Reden, sondern auch in den Schriften im Kontext des »Kulturkrieges« sowie zentral in den 1920 erschienenen Lebenserinnerungen angeführt: »Bedenkliche Schwächen der deutschen Art sind unverkennbar. Wir Deutsche sind mehr Intelligenzmenschen als Willensmenschen, wir stellen uns zu sehr auf den freischwebenden Verstand, wir finden uns sehr schwer und nur in schlimmster Not zur Bildung eines gemeinsamen Willens. Ferner entbehren wir eines festen nationalen und politischen Instinkts, wie ihn manche andere Völker besitzen.« (Eucken: Lebenserinnerungen, S. 110).

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Franzosen: »Von einer Zusammenfassung aller produktiven Geisteskräfte der Nation im Gebiete der Literatur kann keine Rede sein. […] Kein Zusammenhang in der Ebene der Gleichzeitigkeit, kein Zusammenhang in der Tiefe der Geschlechterfolge.«60 Diejenigen, welche im Einzelnen und teilweise verborgen zwar nicht nach nationaler Identität, wohl aber nach »kosmischen Bindungen und den schwersten, ja religiösen Verantwortungen für die Gesamtheit« trachten, diese »durchaus vereinzelten, aber um die höchsten Bindungen bemühten«, bezeichnet Hofmannsthal nun im Geiste Nietzsches mit dem Begriff aus dessen Unzeitge­ mäßen Betrachtungen als »Suchende«.61 Ihnen gegenüber stellt er den Typus des deutschen Bildungsphilister, der symptomatisch für das depravierte Verhältnis der Deutschen zur eigenen Tradition Porträt steht.62 Der gegenüber Haas geäußerte pessimistische Ton tritt in diesem Kontext deutlich zurück. So bekennt Hofmannsthal sich in der Skizzierung der Tätigkeit suchender Geister als »Gewissen der Nation«, das »Scheinautoritäten stürzt, herrschende Zeitgedanken abwirft und unser schattenhaftes Daseins immer wieder ans Ewig bindet« zu einer deutlich kulturoptimistischeren Haltung, erkennt er doch nun: »[…] die Kraft und Gesundheit dieses Gewissens, seine deutsche Kühnheit, dass es wieder einmal die Schiffe hinter sich verbrennt, wie jener tollkühne Agathokles von Syrakus, als er in Afrika gelandet war, um den Angriff auf Karthago aufzunehmen«63. Die Hoffnungsträger deutscher Kulturarbeit, die er unter die Nietzscheanische Maske der »Suchenden« subsumiert,64 sind von der Forschung vielfach identifiziert worden.65 Durchzogen ist das Streben der »Suchenden« von einem antiromantischen Habitus,66 der sich sowohl in der Ablehnung eines idealisierenden Geschichtsverständnisses als auch in der Zurückweisung einer rein spekulativen Meta­ physik äußert. Der offene Traditionsbezug zur Kulturkritik Nietzsches verschleiert dabei zunächst die neoidealistische Färbung in der Münchener Rede. In der künstlerischen Tätigkeit der »Suchenden«, die für Hofmannsthal an die Tradition einer Hochzeit der deutschen Kulturträger um 1800 rückgekoppelt ist,67 tritt diese Färbung dann wieder deutlich hervor: Auch unseren Suchenden ist die Tiefe des Ich, die dunkle, eigene Seelenwallung das einzig gegebene und einzige Aufgabe dieses titanische Beginnen: jenes Ganze da außen mit den bloßen zwei Händen auszureißen aus seinem Stand, den es einnimmt 60 61 62 63 64 65

GW III , S. 28. Ebd., S. 29 f. Vgl. ebd., S. 30. GW III , S. 31. Vgl. ebenfalls Nostitz: Interpretation, S. 265 f. Vgl. dazu Haltmeier, Roland: Zu Hofmannsthals Rede ›Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation‹, in: Hofmannsthal-Blätter 17/18 (1977), S. 298–310, hier S. 302–307; Nostitz: Interpretation, S. 266–272. 66 GW III , S. 31, 67 Vgl. Nostitz: Interpretation, S. 264 f.

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in der Welt scheingeistiger Ordnungen, und es mit sich hinabzureißen in die tiefere Lebenswoge und von da es wieder emporzureißen zu neuer Wirklichkeit.68

Das »titanische Beginnen« der »Suchenden«, das Hofmannsthal hier als Transformationsprozess von »scheingeistiger Ordnung« zu »neuer Wirklichkeit« skizziert, bewegt sich in einem starken neoidealistisch geprägten Traditionsrahmen. Qua Verinnerlichung der äußeren Welt vollzieht der Suchende ein mit einem Universalitätsanspruch versehenes Schaffen, welches nicht dasjenige einer frei schwebenden metaphysischen Spekulation ist, sondern das Hinabreißen »in die tiefere Lebenswoge«; das anschließende Emporreißen zu »neuer Wirklichkeit« stellen ein tertium zwischen Intellektualismus und Materialismus dar. Die Ausgestaltung einer solchen Wirklichkeit durch eine Verquickung von Kulturarbeit und Geistesleben ist für Rudolf Eucken zentral.69 Vorbild steht hier Goethe, der mit seinem Schaffen eine »Synthese von Geist und Welt« vollzieht und so eine »neue Wirklichkeit« generiert. Ein solcher künstlerischer Lebensprozess wird für Eucken zum archimedischen Punkt einer universalen Lebensauffassung und mündet in seiner ontologischen Legitimation des Geisteslebens: »Sollte, was so in der Kunst eine unbestreitbare Wirklichkeit hat, nicht auch für das Ganze des Geisteslebens gelten, wäre es in der Kunst überhaupt möglich, stünde nicht hinter ihr ein Ganzes des Geisteslebens?«70 Der »titanischen Grundhaltung« steht bei Hofmannsthal das »furchtbare Erlebnis des 19. Jahrhunderts« gegenüber, welches in erster Linie durch einen positivistischen Wissenschaftsoptimismus gekennzeichnet ist  – »diesem Zwang, eine maßliche Vielfältigkeit in sich ausgleichen zu müssen, auf keinem Resultat länger als eine Sekunde ausruhen zu dürfen«, der »die Grundform der schöpferischen Anspannung der Deutschen« maßgeblich verändert hat.71 An dieser Stelle ist die Nähe zu Euckens Zivilisationskritik sogar in semantischer Hinsicht gegeben, hatte dieser doch in der Darstellung eines sich abhetzenden Voranschreitens der Wissenschaft als »Hasten von Augenblick zu Augenblick«72 ein verwandtes Bild für seine Kritik am Positivismus als unangefochtene lebensgestaltende Strömung des 19. Jahrhunderts geäußert. Ein weiteres Analogon zur Kulturkritik Euckens bildet Hofmannsthals Skepsis jener Vielzahl von heterogenen Strömungen gegenüber, die sich selbst verabsolutieren und einen Universalitätsanspruch in sich tragen. Dieses »Pandämonium von Ideen, die nach Lebenslenkung gierten«, quittiert er nicht nur mit dem ironisch gebroche68 GW III , S. 38. 69 Ein wahrhaftes Kulturleben hat für Eucken die Aufgabe, das »Geistesleben der Menschheit zu vermitteln« (vgl. Eucken: Strömungen 31904, S. 242 f.). 70 Eucken: Strömungen 31904, S. 30. Zu Euckens Goethe-Bild und zur Repräsentationsfunktion des Dichters für den Neoidealismus um die Jahrhundertwende vgl. Eucken, Rudolf: Goethe und die Philosophie, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Philosophie und Lebensanschauung, Leipzig 1904, S. 65–85). 71 GW III , S. 38 f. 72 Vgl. Anm. 8.

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nen Zusatz »als ob es lebenslenkende Ideen geben könnte«73, ihm gegenüber sieht auch Hofmannsthal einen idealistischen »deutschen Geist« walten, der sich, nachdem ihm die Luft des 19. Jahrhunderts »unatembar« wurde, von der Heterogenität losreißt.74 […] bewährt mit dieser einen Erleuchtung: dass ohne geglaubte Ganzheit zu leben unmöglich ist – dass im halben Glauben kein Leben ist, dass dem Leben entfliehen, wie die Romantik wähnte, unmöglich ist, dass das Leben lebbar nur wird durch gültige Bindungen.75

Die Bindung an ein geistiges Ganzes überwindet dabei ebenjene »Zweiteilungen, in die der Geist das Leben polarisiert hatte«, und verlangt prozessual nach einem umfassenden Syntheseverfahren, welches materielle und immaterielle Strömungen des Zeitgeistes »[z]ur Bildung einer wahren Nation« zum Ausgleich bringt, sodass »der Geist Leben wird und Leben Geist«.76 Den Prozess zur Konstitution eines geistigen Ganzen im Bereich der Nation bezeichnet Hofmannsthal abschließend mit dem Begriff der ›konservativen Revolution‹.77 Dieser zielt bei Hofmannsthal – wie auch bei Eucken – entschieden nicht auf die bloße Aktualisierung einer bestimmten Tradition ab: Konservative Revolution bedeutet nicht einfach Rückkehr zu einer vormodernen Vergangenheit oder auch nur Verklärung dieser Vergangenheit, sondern zielt darauf, eine anscheinend auf Abwege geratene Gegenwart zu bewältigen und zu erneuern, indem auf geschichtlich bewährte Normen und Muster zurückgegriffen wird. Hof73 Vgl. den analogen Befund Euckens, der sich ebenfalls von dem »Pandämonium der Ideen« zugunsten eines Einheitsgedankens zu distanzieren suchte: »In Wahrheit fehlt es nicht an Widerständen und Gegenwirkungen gegen jene chaotische Lage [i. e. die Zerfahrenheit widerstrebender Strömungen, BT], an Versuchen, ihr eine einheitliche Gestaltung des Lebens, ein einheitliches Bild der Wirklichkeit entgegenzusetzen; schade nur, dass diese Versuche meist unter dem Einfluß dessen bleiben, über das sie hinausstreben. Die Zeit des Spezialismus, der über der Arbeit an der endlichen Breite der Dinge alle Sorge um das Ganze vergaß, liegt glücklich hinter uns. Aber das Streben zur Einheit gestaltet sich zunächst meistens so, dass die einzelnen Lebens- und Wissensgebiete die Sache an sich reißen und das Bild vom Ganzen lediglich nach ihren besonderen Eindrücken, Erfahrungen, Interessen entwerfen« (Eucken: Strömungen 31904, S. 5). Als Antwort auf das im 19. Jahrhundert sich immer stärker etablierende Spezialistentum entwirft Eucken eine universalistische Metaphysik des Geisteslebens, die eine den beiden bestimmenden Strömungen von »Intellektualismus« und »Naturalismus« überlegene geistige Einheit zu stiften trachtet: »Die höchste uns mögliche Gewißheit kann nicht ein besonderes Gebiet, sondern nur eine Zusammenfassung zu einem Ganzen bieten; liegt im Geistesleben nicht eine der Verzweigung überlegene Einheit, und bricht nicht in dieser Einheit ein ursprüngliches Leben hervor, so läßt sich Leben und Streben nie zu einer Befestigung bringen« (ebd., S. 215). 74 GW III , S. 39. 75 Ebd., S. 39. 76 GW III , S. 40. 77 GW III , S. 41.

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Björn Thesing

mannsthal wollte nicht ins Mittelalter zurück, sondern weiter in eine andere, weniger disparate Moderne.78

So ist es auch nicht die romantische »träumerische Pietät gegen das Gewesene«,79 wonach die Suchenden um 1800 strebten und die Hofmannsthal zum Zeitpunkt der Münchner Rede vorschwebt, sondern »ein strengeres männlicheres Gehaben«, das zugleich mit der Tradition einer »unverantwortlich[en] Spekulation« bricht.80 Dass die Zerfahrenheit der Moderne nicht durch die bloße Restauration einer idealisierten Vergangenheit überwunden werden kann,81 sondern durch die Synthetisierung ideengeschichtlicher Bestände vor dem Hintergrund der Notwendigkeit ihrer Aktualisierung erreicht werden muss, ist ein locus communis in der neoidealistischen Kulturkritik Euckenscher Prägung. Konservativ kann dieser Prozess bei Hofmannsthal folglich heißen, »weil er nach gesellschaftlichen Bindungen strebt«.82 »Bindung« bedeutet in diesem Kontext zunächst einen ideellen Halt im Traditionsgefüge nationaler Einheit zu finden, die als solche nie abgeschlossen ist, sondern durch das Voranschreiten suchender Geister immer zugleich in der Besinnung auf die Tradition aktualisiert werden muss und folglich stets im Werden begriffen ist.83

78 Kiesel, Helmuth: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart X), München 2017, S. 880. 79 GW III , S. 36. Zur ablehnenden Haltung Euckens gegenüber einem romantischen Geschichtsdenken vgl. Eucken: Strömungen 31904, S. 254. 80 GW III , S. 37. 81 Die »gewaltigen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts« sind in ihrer Signifikanz für Eucken nicht zu leugnen und zwar dergestalt, dass eine einfach Aktualisierung vergangener geistiger Strömungen nicht durchführbar ist, da anerkannt werden muss, »dass wir auf einem wesentlich veränderten Boden stehen, und dass wir von ihm aus neu unsere Ziele zu suchen haben.« (Eucken, Rudolf: Zur Sammlung der Geister, Leipzig 1913, S. 16). 82 Pestalozzi: Problematik, S. 247. 83 »Was dieser synthesesuchende Geist erringt – wo immer hier, auch in der einzelnen Brust, von Errungenschaften die Rede sein kann –, das sind schon ins Chaos projizierte Punkte, deren Verbindungen den Grundriß jenes Geistraumes ergäben« (GW III , S. 40).

Maciej Walkowiak, Poznań

Jahre der Entscheidung Der preußische Sozialismus bei Oswald Spengler und Ernst Niekisch

Zu axiologischen und semantischen Dimensionen der Hauptbegriffe »preußisch« und »Sozialismus« in ausgewählten Werken Oswald Spenglers und Ernst Niekischs sowie im Kontext der Umbruchszeit in Europa Problemstellung Der Titel meines Beitrags signalisiert die Kategorie Jahre der Entscheidung in zwei Hauptdimensionen: Die zweite betrifft Europa, und die erste bezieht sich hauptsächlich auf Deutschland. In diesem bescheidenen Rahmen ist es jedoch lediglich möglich, unser Augenmerk auf die grundsätzlich wichtigen Aspekte zu lenken, um sie dann auf die Problematik zu fokussieren, die mit Oswald Spengler und Ernst Niekisch zusammenhängt. Für die beiden Autoren fungieren die zwei Hauptbegriffe: Preußentum und Sozialismus als antibürgerliche Verwandlungspotenziale, und dies ist ihr gemeinsamer Nenner. Das Preußentum ist für Spengler eine lebendige Idee, und der Sozialismus ist das herrschende Schlagwort eines ganzen Jahrhunderts. In der semantischen Dimension bleibt allerdings für ihn der Sozialismus grundsätzlich wichtig im nicht-marxistischen Sinne. Der junge Ernst Niekisch schöpft dagegen seine Inspiration aus der Lektüre der Werke von Karl Marx. Für ihn ist Marx zuerst ein Entlarver großen Stils.1 Sein Sozialismuskonzept, das sich dann zur Idee des Nationalbolschewismus radikalisierte, funktioniert anfänglich in seinen Grundsätzen nach marxistischen Prämissen, aber dann wurde der Marxismus von ihm als eine alles erklärende, totale Ideologie abgelehnt. In der großen Strömung der ›Konservativen Revolution‹ sind die beiden Begriffe relevante und semantisch mehrdimensionale Bedeutungsbereiche, die sich nicht nur bei Armin Mohler in zahlreichen Erscheinungsformen und Bedeutungsvarianten offenbaren.2 Nur kardinale Aspekte können hier im Kontext 1 Vgl. dazu: Niekisch, Ernst: Europäische Bilanz, Potsdam 1951, S. 258. 2 Vgl. dazu: Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Graz 1999. Der Autor positioniert die preußisch-sozialistische Semantik der ›Konservativen Revolution‹ in solchen Kapiteln, wie etwa: Der Nationalbolschewismus, S. 47–53, Der Osten, S. 146–150, Der »preußische Geist«, S. 150 und »Deutscher Sozialismus«, S. 254 f.

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der beiden Autoren kurz analysiert werden. Sie erscheinen hier nicht unbedingt als Gegenpole, obwohl sie andererseits natürlich ganz unterschiedliche Zeitdiagnosen stellen und ganz andere politische Konzepte entwickelten. Was sie aber verbindet, ist die quasi elitäre Apotheose und Mythisierung des Preußentums, was gegen den egalitären Geist der bürgerlichen Emanzipationstendenzen am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts verwendet wurde. Im Großrahmen wendet sich natürlich diese Auffassung des Preußentums gegen die Urquelle des modernen Desasters, und zwar gegen die Parolen der Französischen Revolution. Die axiologische Perspektive wirft Fragen auf, die für die beiden Autoren von primärer Bedeutung sind. Es wäre also zuerst zu fragen, welche Werte die beiden Zentralbegriffe für sie mit sich bringen und welche sie auch enthalten. Die Begriffe preußisch und Sozialismus sind bedeutende Konstrukte ihrer Wertesysteme, und obwohl sie bei ihnen semantisch anders funktionieren, bilden sie jedoch Grundstrukturen ihrer Axiologie. Ernst Niekisch und Oswald Spengler sind erstrangige Vertreter der ›Konservativen Revolution‹ in Deutschland, und in meiner Perspektive verkörpern sie zwei Denkrichtungen, die sowohl semantische Affinitäten als auch weitgehende Differenzen im Bereich dessen aufweisen, was für sie der ›preußische Sozialismus‹ war. Im Falle Niekischs erscheinen methodologische Schwierigkeiten bei dem Versuch, die Grundstrukturen seiner Begrifflichkeit zu rekonstruieren. Niekisch war in nicht wenigen Fällen inkonsequent, dazu kamen noch die Verwandlungsphasen seiner Denkweise über die Jahrzehnte hinaus. Mit dem Titel Jahre der Entscheidung spielt Spengler auf die beunruhigende Potenzialität der Entscheidungsvarianten der historisch-politischen Entwicklung in Deutschland und Europa an. Die für die europäischen Verhältnisse relativ lange Friedenszeit 1871–1914 brachte auch viele neue Konfliktherde unterschiedlicher Art mit sich: Den Gärungszustand intensivierten vor allem die Fragen nationalpolitischer, sozialer und ideologischer Natur. Die europäische Stabilität, die aus dem Wiener Kongress 1815 hervorge­gangen war, wurde in ein neues System der Machtverhältnisse nach der deutschen Vereinigung 1871 verwandelt. Es bewirkte eine neue geopolitische Konstellation in Europa, da Deutschland als eine junge europäische Macht den Anspruch lebte, in der internationalen Rangordnung bald aufzusteigen und eine Weltmacht zu werden. Der Begriff ›Umbruchszeit‹ weist also in diesem Kontext zwei Grunddimensionen auf: Es ist einerseits die Polyperspektive der Spenglerischen Theorie der morphologischen Kulturkreise, und andererseits ist es die europäische Perspektive, in der der abendländisch-faustische Kulturkreis seinem Untergang entgegenzusteuern scheint und in die Zivilisationsphase übergeht. In diesem Sinne wäre also im Großrahmen die ›Umbruchszeit‹ mit der Endzeit gleichzusetzen. Niekischs Träume von einem deutschen Endimperium enthalten dagegen ebenso den deutlich ausgeprägten preußischen Faktor, der für das Deutschtum sowohl eine Inspiration als auch eine politische Antriebskraft sein sollte. Und wie sieht diese Problemstellung in der Spengler-Perspektive aus?

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Spengler arbeitet gerne mit solchen Grundbegriffen wie Schicksalsidee, Kulturkreis und Zivilisation, die sich schon im Untergang des Abendlandes als semantisches Instrumentarium als dienlich erwiesen. Seine quasi barocke Arbeitsweise mit einem recht umfangreichen historischen Stoff und seine stellenweise erstaunliche Methodologie erschaffen neue geschichtsphilosophische Kontextualisierungen, durch die zwar neue Fragestellungen postuliert werden können, aber ihre nicht immer offensichtliche Lesbarkeit verlangt eine Leserhaltung, die eher an ungewöhnlichen Gedankengängen im Sinne Nietzsches geübt ist als an Denkstrukturen der klassischen, deutschen Geschichtsphilosophie. Damit erscheinen zwei große und inspirierende Meister Spenglers: Goethe und Nietzsche. Er ist ihr intellektueller und stilistischer Erbe. Im Vorwort zum Untergang des Abendlandes (1922) bezog sich Spengler retrospektiv und direkt auf die zwei Giganten des Geistes: Zum Schlusse drängt es mich, noch einmal die Namen zu nennen, denen ich so gut wie alles verdanke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen, und wenn ich mein Verhältnis zu diesem in eine Formel bringen soll, so darf ich sagen: ich habe aus seinem Ausblick einen Überblick gemacht. Goethe aber war in seiner gesamten Denkweise, ohne es zu wissen, ein Schüler von Leibniz gewesen. So empfinde ich das, was mir zu meiner eigenen Überraschung zuletzt unter den Händen entstanden ist, als etwas, das ich trotz des Elends und Ekels dieser Jahre mit Stolz nennen will: als eine deutsche Philosophie.3

Nietzsches philosophische Schriften können allerdings unterschiedlich ausgelegt werden, und so müsste hier präziser gefragt werden, was Spengler bei ihm so faszinierte und inspirierte. Er fand in Nietzsche einen Rebellen und einen Propheten zugleich, auch seine massive Kulturkritik des zweiten Reiches kam ihm sehr entgegen. Seine biologistisch und existenziell fundierte Vitalität des Körpers und des Geistes fand in Spengler ebenso einen dankbaren Empfänger. Es wäre auch am Anfang legitim, die Frage danach zu stellen, ob es nicht etwa widerspruchsvoll sei, sein Konzept des preußischen Sozialismus in den Großrahmen der geschichtspessimistischen Morphologie der Kulturkreise hineinzuschreiben. Die beiden Autoren Spengler und Niekisch arbeiten mit solch tradierten Begriffen wie etwa Preußentum und Sozialismus sehr eigenwillig, und dadurch erhalten die Begriffe eine neue und spezifische Semantik. Die Welt der Begrifflichkeit der beiden Autoren resultiert aus ihrer permanenten Auseinandersetzung mit der traditionellen Semantik in diesem Bereich, aber sie erleichtert nicht unbedingt die hermeneutische Arbeit daran. Im Großrahmen der Spenglerschen Morphologie funktionieren einzelne Kulturkreise ca. 1000 Jahre lang, und das scheint auch unabänderlich zu sein, aber er bietet in seiner Denkweise Gegenkonzepte, die diesen Untergangsprozess verlangsamen könnten. Und so ist auch sein Konzept des preußischen 3 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 2000, S. IX .

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Sozialismus zu deuten: Seine Basis sollten nämlich »der Geist der preußischen Tugenden«, die Stärke des großen Individuums und seine schöpferische Arbeit sein. Diese Idee sollte der Apotheose des autoritären Staates mit dem Preußentum als Basis zugrunde liegen. Christopher Clark schreibt darüber im Sinne Spenglers: »›Preußentum‹ implizierte folglich den Eifer für eine bestimmte Ordnung. Die ›Sekundärtugenden‹ der preußenfreundlichen Klischeevorstellung (Pünktlichkeit, Loyalität, Ehrlichkeit, Gründlichkeit, Präzision) waren allesamt Attribute des Dienstes für ein höheres Ziel.«4 Die Axiologie der hier infrage kommenden Grundbegriffe bei den beiden Autoren enthält also dynamische Potenziale der historischen und politischen Semantik. Die beiden zentralen Begriffe: Preußentum und Sozialismus machen hier die axiologische Achse der Betrachtung aus, aber um der umfangreichen Problematik gerecht zu werden, muss auch die Zeitgeschichte in diesbezüglichen Kontexten in Sachen Niekisch angesprochen werden. Ernst Niekisch reflektiert auch kritisch über das Bismarcksche Reich, dessen Staatsstruktur und Wesen alles andere war, als man im damaligen linksrevolutionären Lager erwartet hatte. Die deutsche Vereinigung, die eigentlich schon 1848–1949 hätte zustande kommen sollen, wurde mit einer Verspätung realisiert, die auch ihre Folgen hatte. Der Autor schreibt hier zwar vom »deutschen Bürgertum«, aber er meint damit wohl die linksorientierten Kräfte des Fortschritts. In seiner Schrift Deutsche Daseinsverfehlung diagnostiziert er das zweite Reich als das Reich ohne Idee: Das Bismarckreich schuf den deutschen Einheitsstaat; aber in welch ganz anderem Sinne geschah das, als das deutsche Bürgertum es sich vorgestellt gehabt hatte. An Stelle revolutionärer Volkshelden traten Generäle, an Stelle einer schöpferischen Revolutionsbewegung setzte sich ein auswärtiger Krieg; an Stelle von Vereinbarungen politischer Parteien rückten Verträge souveräner Bundesfürsten. Zu allemhin erfolgte die Gründung nicht einmal in einer deutschen Stadt; Versailles wurde, statt Frankfurt a. M., zur Wiege des Reiches.5

Das zweite Reich, obwohl es in vielerlei Hinsicht anders geartet war, als es Niekisch hätte akzeptieren wollen, hatte schon eine ausgeprägte Grundidee: Es war ein groß angelegtes Konzept, den Prozess der modernen Nationsbildung in Gang zu setzen und dafür auch die Reichsidee im Kontext des deutschen Sonderweges arbeiten zu lassen. Kurz und gut – es sollte ein moderner deutscher Nationalstaat mit preußischem Gepräge sein, der fähig sein müsste, den machtpolitischen Konkurrenzkampf mit den anderen Weltmächten effektiv zuwege zu bringen. Das wilhelminische Reich und die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts bleiben für die beiden Autoren relevante Bezugspunkte, an denen sich die beiden Geister ideell entzünden. Das Viereck, das hier Goethe, Nietzsche, Bismarck 4 Clark, Christopher: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2008, S. 494. 5 Niekisch, Ernst: Deutsche Daseinsverfehlung, Koblenz 1990, S. 53.

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und Marx ausmachen, bildet einen Bewegungsraum für Spengler und Niekisch, in dem ihre Gedankengänge sich herauskristallisieren können. Ein anderer historischer Kontext ist hier die politisch wirksame Virulenz, die vor allem aus der marxistischen Ideologie hervorging, die sich in dieser Zeitspanne in unterschiedlichen Erscheinungsformen und mit unterschiedlicher Intensität offenbarte. Erst aber der Ausbruch und der Sieg der bolschewistischen Revolution in Russland 1917 schufen in Europa eine ganz neue geopolitische Konstellation. Damit gewann der sog. Osten eine qualitativ neue Dimension: Für Deutschland wurde er zu einer neuen Potenzialität, die abgesehen vom ganzen politischen Spektrum ein relevanter Bezugspunkt war. Der Begriff Sozialismus nahm somit die pragmatische Dimension der diktatorischen Machtausübung an: Seitdem war der Sozialismus nicht nur eine politische Idee – er wurde in einem Staat verwirklicht und war ein ideologisches Machtinstrument. Im Deutschland der Jahre 1917/18 wuchs dagegen rapide die Gefahr, dass der bolschewistische Funke aus Russland zu einem revolutionären Lauffeuer hätte werden können. Und wie versteht Spengler die beiden Begriffe Preußentum und Sozialismus? In Jahre der Entscheidung lesen wir: Hier muß endlich das entscheidende Wort über Preußentum und Sozialismus gesagt werden. Ich hatte 1919 beide verglichen, eine lebendige Idee und das herrschende Schlagwort eines vollen Jahrhunderts, und bin […] nicht verstanden worden. […] Ich hatte gezeigt, dass in der von Bebel zu einer gewaltigen Armee geschmiedeten Arbeiterschaft, ihrer Disziplin und Gefolgstreue, ihrer Kameradschaft, ihrer Bereitschaft zu den äußersten Opfern jener altpreußische Stil fortlebte, der sich zuerst in den Schlachten des Siebenjährigen Krieges bewiesen hatte. […] Und ich zeigte, dass dieser Typus des In-Form-Seins für eine Aufgabe seine Tradition bis zum Deutschritterorden zurückführt, der in gotischen Jahrhunderten – wie heute wieder – die Grenzwacht der faustischen Kultur gegen Asien hielt. Diese ethische Haltung, unbewußt wie jeder echte Lebensstil und deshalb nur durch lebendiges Vorbild, nicht durch Reden und Schreiben zu wecken und heranzubilden, trat im August 1914 prachtvoll hervor  – das Heer hatte Deutschland erzogen  – und wurde 1918 von den Parteien verraten, als der Staat erlosch.6

Gegen die Parolen der Französischen Revolution könnten die Parolen des Preußentums positioniert werden: Staat, Ordnung und Pflicht. Spengler erblickt im Preußentum, dessen politische Inkarnation der preußische Staat ist, eine antirevolutionäre Macht und einen beachtenswerten Stabilisierungsfaktor für die weiße Rasse. Dabei versteht Spengler den Begriff Rasse wieder sehr eigenwillig und gegen den Strich.7 6 Spengler, Oswald: Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1961, S. 178 f. 7 »Alles dieses kann für eine messende und wägende Wissenschaft nicht erreichbar sein. Es ist für das Fühlen mit untrüglicher Gewissheit und auf den ersten Blick da, aber nicht für die gelehrte Betrachtung. Ich komme also zu dem Schluß, dass Rasse ebenso wie Zeit und

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Auch für die Umbruchszeit in Europa am Anfang des 20. Jahrhunderts sind Debatten charakteristisch, in denen modellhaft gesehen drei Fronten zu konstatieren sind: Erstens ist das die quasi progressive Tendenz im geistigen Gefolge der Französischen Revolution, die Gegentendenz dazu, die sich im Allgemeinen als konservativ bezeichnen lässt, und die sog. dritte Front, im Rahmen derer nach 1918 auch die ›Konservative Revolution‹ in Deutschland zu verzeichnen ist. Sie umfasst übrigens auch teilweise die zweite, die konservative Tendenz.

Zur Konzeptualisierung der Idee des preußischen Sozialismus bei Oswald Spengler und Ernst Niekisch an Beispielen ausgewählter Texte Das Sozialismuskonzept war bei Spengler antimarxistisch formuliert. Marxismus und Kommunismus waren für ihn destruktive und irreführende Ideen, die von falschen Voraussetzungen ausgehen und logischerweise falsche Resultate bringen müssen. In seiner bekannten Schrift Preußentum und Sozialismus kommentiert er dies wie folgt: »Der Marxismus ist gegenüber den angeborenen Formen des preußisch-sozialistischen Menschen sinnlos. Er kann sie verneinen und abschwächen, aber sie werden sich endlich wie alles Lebendige und Natürliche dem Theoretischen gegenüber als stärker erweisen.«8 Und in demselben Text lesen wir noch dazu: Der Marxismus ist eine Ideologie. Er trägt die Zeichen davon auch in seiner Geschichtsteilung, die der Materialist vom Christentum übrig behielt, nachdem die Macht des Glaubens erloschen war. Vom Altertum über das Mittelalter zur Neuzeit führt der Weg der Evolution, an dessen Ende der verwirklichte Marxismus, das irdische Paradies steht. […] Das Leben hat kein »Ziel«. Die Menschheit hat kein »Ziel«. Das Dasein der Welt, in welcher wir auf unserm kleinen Gestirn eine kleine Episode abspinnen, ist etwas viel zu Erhabenes, als dass Erbärmlichkeiten wie »das Glück der Meisten« Ziel und Zweck sein könnten. […] Aber dieses Leben, das uns geschenkt ist, diese Wirklichkeit um uns, in die wir vom Schicksal gestellt sind, mit dem höchstmöglichen Gehalt erfüllen, so leben, dass wir vor uns selbst stolz sein dürfen, so handeln, dass von uns irgendetwas in dieser sich vollenden Wirklichkeit fortlebt, das

Schicksal etwas ist, etwas für alle Lebensfragen ganz Entscheidendes, wovon jeder Mensch klar und deutlich weiß, solange er nicht den Versuch macht, es durch verstandesmäßige und also entseelende Zergliederung und Ordnung begreifen zu wollen. Rasse, Zeit und Schicksal gehören zusammen. In dem Augenblick, wo das wissenschaftliche Denken sich ihnen nähert, erhält das Wort Zeit die Bedeutung von Dimension, das Wort Schicksal die von Kausalverkettung; und Rasse, wofür wir eben noch ein sehr sicheres Gefühl besaßen, wird zu einem unübersehbaren Wirrwarr ganz verschiedener und verschiedenartiger Merkmale, die nach Landschaften, Zeiten, Kulturen, Stämmen regellos durcheinanderlaufen« (Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes, S. 712). 8 Spengler, Oswald: Preußentum und Sozialismus, Bremen 2013, S. 116.

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ist die Aufgabe. Wir sind nicht »Menschen an sich«. Das gehört zur vergangenen Ideologie. Weltbürgertum ist eine elende Phrase. Wir sind Menschen eines Jahrhunderts, einer Nation, eines Kreises, eines Typus.9

In dieser Diagnose manifestiert sich deutlich Spenglers elitäres Denken mit einem antimarxistischen und antidemokratischen Gepräge. Niekisch hatte zwar dagegen eine Bewunderung für die bolschewistische Revolution in Russland, aber auch er war nicht ganz frei von Befürchtungen und Ängsten vor dem expansiven sowjetischen Geist. Er grenzte sich vom Marxismus schon im Jahre 1925 auf die folgende Art und Weise ab: Der Marxismus ist die zugespitzte Formulierung der Tatsache des Klassengegensatzes; durch die mit den raffinierten Mitteln eines scharfen Verstandes zuwege gebrachte theoretische Zuspitzung wird der Klassengegensatz förmlich ins Unbedingte hinaufgesteigert, wird er als letzte Gegebenheit alles sozialen und geschichtlichen Geschehens ausgedeutet. Er macht die nebenbuhlerischen, mehr oder weniger unfriedlichen Beziehungen zwischen den Volksklassen, den ›Klassenkampf‹, zum Inhalt eines geistvollen wissenschaftlichen Systems, innerhalb dessen dem Klassenkampf die Rolle des letzten allein sinngebenden Erklärungsgrundes alles Daseins eingeräumt ist. Unter dem marxistischen Gesichtswinkel gewinnt die Staatentfremdung der Arbeiterschaft tiefe Bedeutsamkeit; sie ist davor gefeit, als eine bloße zufällige, willkürliche oder gar unnatürliche Verhaltungsweise gebrandmarkt zu werden; sie stellt sich vielmehr als das notwendige Ergebnis des Waltens einer unentrinnbaren sachlichen Gesetzlichkeit dar. […] Indem der Marxismus den Staat als lediglich klassenpolitische Tatsache sehen lehrte, wurde er zur Theorie schroffer Staatsverneinung, zur revolutionären Lehre im Sinne eines radikalen, die Traditionen vernichtenden Umsturzes.10

So wird ersichtlich, was das Sozialismuskonzept bei den beiden Autoren nicht war. Und damit sei auch die Negativbasis ihrer Sozialismuskonzepte präfigurativ skizziert. Was waren aber ihre positiven semantischen Dimensionen? Bei Spengler ist der preußische Sozialismus eigentlich ein ganzes Staatskonzept, in dem die spezifisch preußisch-protestantischen Tugenden eine grundsätzlich wichtige Rolle spielen und das ein Erneuerungspotenzial enthält. Er arbeitet dabei gerne mit der Denkfigur des englisch-preußischen Gegensatzes. In Preußentum und Sozialismus lesen wir dazu: Tiefere Gegensätze sind kaum denkbar. Arbeit gilt dem frommen Independenten als Folge des Sündenfalls, dem Preußen als Gebot Gottes. Geschäft und Beruf als die zwei Auffassungen der Arbeit stehen sich hier unvereinbar gegenüber. Man denke sich tief in Sinn und Klang dieser Worte hinein: Beruf, von Gott berufen sein – die Arbeit selbst ist da das sittlich Wertvolle. Dem Engländer und Amerikaner ist es der Zweck der Arbeit: der Erfolg, das Geld, der Reichtum. Die Arbeit ist nur der Weg, 9 Ebd., S. 119 f. 10 Niekisch, Ernst: Der Weg der deutschen Arbeiterschaft zum Staat, Berlin / Hessenwinkel 1925, S. 8 f.

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den man so bequem und sicher als möglich wählen darf. Es ist klar, dass ein Kampf um den Erfolg unvermeidlich ist, aber das puritanische Gewissen rechtfertigt jedes Mittel. Wer im Wege steht, wird beseitigt, einzelne, ganze Klassen und Völker. Gott hat es so gewollt.11

Spengler betont also das empirische Wirklichkeit verwandelnde Ausmaß der preußisch-sozialistischen Arbeit. Der Preuße arbeitet nach ihm, um sein irdisches Dasein zu vollenden und der Engländer arbeitet nur, um reich zu werden. Ein markantes Zitat aus derselben Schrift macht es zusätzlich deutlich: »Um die angeborene menschliche Trägheit zu überwinden, sagt die preußische, die sozialistische Ethik: Es handelt sich im Leben nicht um das Glück. Tu deine Pflicht, indem du arbeitest. Die englische, kapitalistische Ethik sagt: ›Werde reich, dann brauchst du nicht mehr zu arbeiten.‹«12 Im von Spengler postulierten preußisch-sozialistischen Staat fällt eine besondere Funktion dem Beamtentum zu. Jeder Arbeiter soll den Status eines Beamten erhalten, und dies gilt auch für alle Unternehmer. Es sollte also Industriebeamte und Handelsbeamte genauso gut wie militärische und Verkehrsbeamte geben. Der Sozialismus soll also schließlich auf dem Beamtenprinzip aufgebaut werden.13 Der Sozialismus bedeutet für ihn Macht, auch im Sinne der ethisch untermauerten Entscheidungsfähigkeit, die sich einerseits gegen den englischen Kapitalismus und andererseits gegen den russischen Kommunismus wendet.14 Der Sozialismus trägt auch bei Spengler eine faustische Ambivalenz in sich. Er schreibt darüber in Der Untergang des Abendlandes: Überblicken wir noch einmal den Sozialismus, unabhängig von der gleichnamigen Wirtschaftsbewegung, als das faustische Beispiel einer zivilisierten Ethik. Was seine Freunde und Feinde von ihm sagen, dass er die Gestalt der Zukunft oder dass er ein Zeichen des Niederganges sei, ist gleich richtig. Wir alle sind Sozialisten, ob wir es wissen und wollen oder nicht. Selbst der Widerstand gegen ihn trägt seine Form.15

Und wem gehört die Macht im von Spengler postulierten Staat? Sie gehöre dem Ganzen, womit die preußische Staatsgemeinschaft aller »Untertanen« gemeint ist. Der preußische Staats- und Ehrenkodex bleibt eine Garantie für alle, die sich zu Preußen bekennen wollen. Welche Bedeutung wäre aber sonst noch der preußischen Komponente in Spenglers Konzept zuzuschreiben? In welche Richtung geht seine Mythisierung des Preußentums? Nach seiner Auffassung ist das Preußentum vor allem ein Lebensgefühl und eine Lebenshaltung. In Preußentum und Sozialismus kommentiert er es folgenderweise: 11 12 13 14 15

Spengler: Preußentum und Sozialismus, S. 61. Ebd., S. 61. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 148. Spengler: Der Untergang des Abendlandes, S. 462 f.

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Ich möchte über den Begriff Preußentum nicht missverstanden werden. Obwohl der Name auf die Landschaft hinweist, in der es eine mächtige Form gefunden und eine große Entwicklung begonnen hat, so gilt doch dies: Preußentum ist ein Lebensgefühl, ein Instinkt, ein Nichtanderskönnen; es ist ein Inbegriff von seelischen, geistigen und deshalb zuletzt doch auch leiblichen Eigenschaften, die längst Merkmale einer Rasse geworden sind, und zwar der besten und bezeichnendsten Exemplare dieser Rasse. Es ist längst nicht jeder Engländer von Geburt ein »Engländer« im Sinne einer Rasse, nicht jeder Preuße ein »Preuße«.16

Das Preußentum fungiert also bei Spengler metaphorisch als eine geistige Formation, die eine retardierende Funktion im Untergangsstadium des Abend­ landes auszufüllen hat. Michael Thöndl hebt zu Recht den elitären Charakter dieser Formation hervor: »Spengler versteht unter ›Preußentum‹ die potenzielle – wenn auch nicht immer an den Herrschaftspositionen befindliche – politischmilitärische Elite der abendländischen Zivilisation.«17 In dieser Perspektive wird die Verteidigung des Abendlandes immer dramatischer, weil die Reihen der ›preußischen‹ Abendländer immer geringer werden: »In der von Spengler entwickelten Zivilisationsperspektive handelt es sich beim ›Preußentum‹ um die politische Grundhaltung einer immer kleiner werdenden Minderheit, weil die auf den Status von ›Urmenschen‹ bzw. ›Farbigen‹ zurückfallende Masse immer größer wird.«18 Hinzu kommt noch die schon erwähnte Kategorie des Schicksals, denn für Spengler ist ein Preuße immer bereit, seinem Schicksal zu begegnen. Die große historisch-politische Realität, eine preußische Gründung mit Friedrich dem Großen im Hintergrund, wurde von Tugenden geprägt wie Tatsachensinn, Disziplin, Korpsgeist, Treue und Entschlossenheit.19 Der preußische Sozialismus ist bei Spengler also auch ein sittlich-existenzielles Konzept, das sich gegen die gängige Vorstellung von dieser Idee wendet. Er schreibt darüber auch noch in seinem Text Jahre der Entscheidung aus dem Jahre 1933 wie folgt: Aber die Flachköpfe kommen nicht aus dem marxistischen Denken des vorigen Jahrhunderts heraus. Sie verstehen überall in der Welt den Sozialismus nicht als sittliche Lebensform, sondern als Wirtschaftssozialismus, als Arbeitersozialismus, als Massenideologie mit materialistischen Zielen. Der Programmsozialismus jeder Art ist Denken von unten, auf gemeinen Instinkten ruhend, Apotheose des Herdengefühls.20

Im selben Text warnt der Autor das ganze Abendland vor der apokalyptischen Lebensgefahr. Nur die preußische Haltung, verwirklicht in der Idee des preußischen Sozialismus könnte die Rettung für eine begrenzte Zeit bringen. Spenglers Konzept nahm zusätzlich Anfang der 1930er Jahre darwinistische Züge an: 16 17 18 19 20

Spengler: Preußentum und Sozialismus, S. 43. Thöndl, Michael: Oswald Spengler in Italien, S. 76. Ebd., S. 76. Thöndl verweist an der Stelle auf »Der Untergang des Abendlandes«, S. 89. Vgl. dazu Spengler: Preußentum und Sozialismus, S. 43 f. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, S. 179 f.

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Der Kampf um den Planeten hat begonnen. Der Pazifismus des liberalen Jahrhunderts muß überwunden werden, wenn wir weiterleben wollen. […] Das Leben ist Krieg. Kann man seinen Sinn verabschieden und es doch behalten? Das Bedürfnis nach fellachenhafter Ruhe, nach Versicherung gegen alles, was den Trott der Tage stört, gegen das Schicksal in jeder Gestalt, scheint das zu wollen: eine Art Mimikry gegenüber der Weltgeschichte, das Sichtotstellen menschlicher Insekten angesichts der Gefahr, das happy end eines inhaltleeren Daseins, durch dessen Langeweile Jazzmusik und Niggertänze den Totenmarsch einer großen Kultur zelebrieren.21

Seine antidemokratische Haltung, die sich auch in seiner von Nietzsche geerbten Begrifflichkeit offenbart (z. B. Herdengefühl, Instinkt, Nichtanderskönnen als Schicksal), resultiert dagegen aus seinem Kult des Individualismus. Interessanterweise aber schwankt sein Konzept des preußischen Sozialismus die ganze Zeit zwischen dem Status eines quasi kulturpolitischen Erneuerungspotenzials in der Zivilisationsphase des Abendlandes und im Großrahmen dem Fatalismus seiner Untergangstheorie. Diese Ambivalenz ist allerdings kein Widerspruch, denn das Ende des Abendlandes wurde schon in der Langzeitperspektive vorprogrammiert. Der preußische Sozialismus Ernst Niekischs ist anders konzipiert, obwohl die Verklärung des Preußischen – die bei ihm eigentlich nur bis 1933 als ein Positivum funktioniert  – und das Antibürgerliche weitgehende Geistesverwandtschaft mit Oswald Spengler verraten. Niekisch war schon biografisch durch den Gegensatz zwischen Preußen und Bayern geprägt. Sein antibürgerlicher Impetus fand schon – wie bereits erwähnt – in seiner Jugend eine Art Bestätigung in der Lektüre der Texte von Karl Marx.22 Seine politischen Konzepte und seine sich im Laufe der Zeit verwandelnde Ideologie lässt sich als durchaus eigenwillig und nicht immer kohärent bezeichnen. Seine preußisch fundierte Antibürgerlichkeit sollte bald in anarchistisch-revolutionäre Umsturzaktivitäten (seine Unterstützung und Mitwirkung an der Münchner Räterepublik 1919–1921) übergehen. Um die Konjunktion des Preußischen mit dem Sozialismus bei diesem Autor verstehen zu können, muss man auf einen der Zentralbegriffe der ›Konservativen Revolution‹ zurückgreifen: den Osten. Armin Mohler kontextualisiert diesen Begriff auch in Bezug auf Ernst Niekisch. Für die Entwicklung Preußens war ja der russische Faktor immer von großem Belang. Nicht nur rein geopolitisch gesehen stand das Gedeihen Preußens immer in einem direkten Zusammenhang mit guten Nachbarschaftsverhältnissen mit Russland. Mohler schreibt dazu: Je mehr das Abendland zerbröckelt, desto größer wird der Schatten, den Rußland über die ihm westlich vorgelagerte Halbinsel wirft – ein Schatten, in dessen Bereich ein wunderliches Gemisch von Angst, Abscheu und Bewunderung aufwächst. Von 21 Ebd., S. 209 f. 22 Vgl. dazu Niekisch, Ernst: Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse, Köln 1958, S. 11–15.

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den beiden großen Mächten, die Tocqueville und andere hellsichtige Geister schon im 19. Jahrhundert zu den bestimmenden Kräften des 20. heranwachsen sehen, übt Amerika zu keinem Zeitpunkt eine vergleichbare Ausstrahlung, vor allem von gleich tiefgehender Art, aus. […] Wie es [d. h. Preußen, M. W.] die kleindeutsche Lösung der brüchig erscheinenden, eines an Habsburg orientierten großdeutschen Reiches vorzieht, so wird ihm auch zum außenpolitischen Grundsatz, dass Preußen nicht gegen, sondern mit Rußland verwirklicht werden könne.23

Russland mit seinem großen revolutionären Potenzial bleibt für Niekisch ein bedeutender Orientierungspunkt. Und dann wurde Sowjetrussland für ihn ein relevanter ideologischer und geopolitischer Kontext. Niekischs preußischer Sozialismus  – in der radikalisierten Form fungiert er als der Nationalbolschewismus (Armin Mohler) – setzt sich aus einigen rudimentär bedeutenden Elementen zusammen. Niekisch selbst versteht erstens Preußen positiv als die Junkerherrschaft, die europafeindlich ist, indem er mit dem Begriff ›europäisch‹ Liberalismus und Demokratismus kritisiert.24 Der preußische Faktor spielt dabei die erstrangige Rolle, und Preußen ist für ihn eine antiliberale Gründung.25 Michael Pittwald diagnostiziert die Ideologie Niekischs und nennt den Krieg als Vater deutscher Staatlichkeit bzw. Vermittler sowie Einheitsstifter zwischen Staat, Herrschaft und Bevölkerung und eine Überhöhung des Staates.26 Pittwald schreibt weiter, Niekisch verstehe Preußen als ein Potenzial, das mit Deutschland gleichzusetzen sei. Preußen habe sonst nach Niekisch die Aufgabe, mit inneren Feinden im Reich abzurechnen und die hegemoniale Position Deutschlands in Europa anzustreben. Dies bedeute einen erfolgreichen Kampf gegen das »französische Europa« mit Russlands Hilfe, Errichtung »eines deutsch beherrschten Mitteleuropas« und Neuordnung des Ostraums. So sollte ein Endimperium gegen Veramerikanisierung und asiatisches Chaos entstehen. Als die Feinbilder gelten hier das römische Abendland, das Gleichheitsprinzip, Liberalismus, Feminismus, städtisches statt ländliches Leben sowie die Juden.27 Preußen fungiert also bei Niekisch nicht nur als ein elitär-sittliches Prinzip. Es ist auch ein expansives und antieuropäisches Projekt, dessen Ziel es ist, ein preußisch-deutsches Endimperium in Mittelost- und Osteuropa zu gründen. Armin Mohler schreibt in seiner historischen Übersicht über die drei Wellen des Nationalbolschewismus sowie über die auf Deutschland bezogenen, innenund außenpolitischen Kontexte dieser Ideologie.28 Niekischs Nationalbolsche23 Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, S. 146 f. 24 Vgl. dazu Niekisch, Ernst: Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse, S. 150. 25 Vgl. dazu Regensburger, Marianne: Versagen der Bourgeoisie. Wege und Wandlungen eines Publizisten und Kämpfers, in: zeit online, Zugriff vom: 27.11.2019. 26 Vgl. dazu Pittwald, Michael: Ernst Niekisch. Völkischer Sozialismus, nationale Revolution, deutsches Endimperium, Köln 2002, S. 300. 27 Vgl. dazu ebd., S. 300. 28 Vgl. dazu Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland, S. 47–53.

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wismus müsse aber präziser als eine radikalisierte Entwicklungsstufe seiner Auffassung des preußischen Sozialismus gedeutet werden. Immer zwischen rechts und links schwebend, bleibt sie ein Konkurrenzprodukt sowohl für den Kommunismus (und seine parteipolitische Vertretung – die KPD) als auch für den Nationalsozialismus (und für die NSDAP). Der politische Erfolg des Nationalsozialismus im Jahre 1933, der zwar als eine rechtsextremistische Ideologie abgestempelt wurde, aber im Grunde genommen eine geschickte Amalgamierung von links und rechts ist, lässt die Frage danach aufkommen, was wiederum dem Misserfolg des Nationalbolschewismus zugrunde liegt. Obwohl seine ideengeschichtliche Bedeutung relativ groß ist, bleibt seine machtpolitische Dimension und pragmatische Anwendbarkeit eigentlich gering. Es betrifft die zwei ersten Wellen des Nationalbolschewismus, der keine Mittel entwickelt hatte, um seine Durchsetzungskraft effizienter zu machen. Die erste nationalbolschewistische Welle ist um 1919/20 feststellbar. Sie entsteht unter dem Eindruck der Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 28. Juni 1919, der Deutschlands Tributpflicht festlegt, und des russisch-polnischen Krieges von 1920, der die Truppen des ebenfalls Versailles-feindlichen Sowjetrußland bis weit gegen Westen führt. […] Als Budjonnys Kavallerie bereits im Gebiet des Korridors streift, erwacht in vielen die Hoffnung, zusammen mit den Russen dem verlorenen und bereits offiziell abgeschlossenen Krieg doch noch einen günstigeren Ausgang anhängen zu können. Aber Weygand schlägt im August 1920 die Rote Armee vor Warschau. […] Rußland ist noch einmal zurückgeworfen und zieht sich auf seine inneren Aufgaben zurück. Und der deutsche Nationalbolschewismus fällt fürs erste auf die Tätigkeit kleiner Sekten ohne Rückhalt in den Massen und ohne Begünstigung durch die politische Lage zurück.29

Die zweite Welle erscheint im Jahre 1923, als in Ruhrbesetzung und Inflation sozialer und nationaler Notstand erneut zusammenfallen. Wieder regen sich nationalbolschewistische Kräfte. […] Doch es bleibt im wesentlichen bei Proklamationen. Zwar berichtet der Kommunist Heinz Neumann von kommunistischen Arbeitern, die unter dem Kommando preußischer Frontoffiziere aktive Sabotage gegen die Besatzungsmacht im Ruhrgebiet treiben – aber solche Vorgänge sind vereinzelt. Die behördliche Bezeichnung des Putschversuches von Küstrin als »nationalkommunistisch« ist symptomatisch aufschlußreich, ändert aber nichts daran, dass der Putsch ohne Beteiligung der Kommunisten vor sich ging. Diese zweite nationalbolschewistische Welle bleibt wie die erste ein Fiebersymptom.30

Und schließlich noch die dritte Welle, die 1930 begann. In der Zeitspanne 1930–1933, in den Jahren der direkten Entscheidung, wurde der Nationalbolschewismus zu einer politischen Idee, derer Aufstiegschancen auf der politischen Bühne wieder durch die katastrophale Wirtschaftskrise in Deutschland 29 Ebd., S. 47 f. 30 Ebd., S. 48 f.

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und generell im Westen begünstigt wurden. Trotz dem ganzen politischen Spiel mit der KPD und der NSDAP blieb der Nationalbolschewismus im Endeffekt wieder machtlos. Im Gegensatz zur ersten nationalbolschewistischen Welle fehlt jedoch der zweiten und vor allem der dritten der Rückhalt einer dafür günstigen außenpolitischen Lage. Daran ist nicht zuletzt eine innenpolitische Entwicklung schuld, welche der Sowjetunion die Lust an nationalbolschewistischen Experimenten in Deutschland zu rauben beginnt: der Aufstieg des Nationalsozialismus.31

Teilweise wurde somit die Frage nach der machtpolitischen Ineffizienz des Nationalbolschewismus in Deutschland beantwortet. Hinzu kommt noch der sowjetische Faktor: Obwohl Deutschland den Vertrag in Rapallo (1922) mit Sowjetrussland unterzeichnete, was ja den beiden Seiten  – den zwei großen Verlierern im Ersten Weltkrieg  – große (geo-)politische und wirtschaftliche Profite einbrachte, blieben jedoch generell wesentliche Teile der Gesellschaft der Weimarer Republik (von der KPD abgesehen) allen allzu sowjetfreundlichen Experimenten gegenüber reserviert. Die Zukunft von Privatbesitz spielte bei allen zukunftsorientierten politischen Konzepten für Deutschland eine bedeutende Rolle. Und bei der extremen Polarisierung der politischen Szene, auf der nur noch die NSDAP gegen die KPD in der Endphase der Weimarer Republik agierte, mochte dieses Argument mit über den NS -Erfolg 1933 entschieden haben. Die antibolschewistischen und die antisowjetischen Komponenten der NS Ideologie wirkten auf viele Wähler wie eine magnetische Kraft, wodurch dem Nationalbolschewismus der politische Boden weitgehend entzogen wurde. In dieser Hinsicht erweist sich Niekischs Diagnose in Deutsche Daseinsverfehlung als teilweise zutreffend, obwohl sie sich wieder einmal als charakteristisch für seine Denkweise zeigt. Seine Agit-Prop-Stilistik bestätigt auch die folgende Textpassage: Schon bald nach dem Novemberzusammenbruch 1918 hatten westdeutsche Industrielle einen Kriegsschatz gegen den Bolschewismus gegründet, der nie unter 500 Millionen Mark absacken durfte und aus dem der »Kampf gegen den Bolschewismus« finanziert werden sollte; jedes antibolschewistische Gepolter hatte Aussicht, daraus honoriert zu werden. Der Nationalsozialismus wurde bis 1933 aus ihm in reichem Umfange gefüttert. Die Knebelung der deutschen Arbeiterschaft sollte das Sowjetsystem seiner Hilfstruppe auf deutschem Boden berauben, die Niederwerfung der Sowjetunion die deutsche Arbeiterschaft in die Ohnmacht härtester kapitalistischer Sklaverei stürzen. So sicher vollzog sich schließlich der nationalsozialistische Aufmarsch auf deutschem Boden im Zeichen des Antibolschewismus, dass das Dritte Reich am Ende als antisowjetische Gründung, Hitler selbst als der plagiatorische Anti-Lenin erschien. Allein darauf, dass er in diese Stellung einrückte, beruhte seine weltpolitische Bedeutung.32 31 Ebd., S. 50. 32 Niekisch: Deutsche Daseinsverfehlung, S. 80 f.

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Resümierend lässt sich feststellen, dass sein preußischer Sozialismus als Prinzip aus dem deutschen Norden und Osten kommt und sich dem gewinnorientierten Kapitalismus englischer Provenienz zu widersetzen sucht. Seine seit dem Jahre 1926 herausgegebene Zeitschrift »Widerstand« wendet sich zuerst gegen die im Versailler Vertrag bestimmten Kriegsreparationen und damit auch indirekt gegen den Weltkapitalismus, der in seiner Perspektive der große Profiteur dabei sei. Niekisch kämpft aber auch in diesem Rahmen gegen die Enthumanisierung des Arbeiters und gegen die Vermassung der Produktionsverhältnisse. Durch sein Konzept versuchte er, die Arbeiter wieder in solidarische Lebenszusammenhänge zu bringen. Dabei war das preußisch-sozialistische Arbeitsethos wieder ein relevantes Postulat, in dem die traditionellen preußischen Tugenden zu einem Fundament werden sollten. Somit sollten auch Korruption, rücksichtsloses Profitstreben und mediale Manipulation eingeschränkt werden.

Resümee Im ganzen Spektrum der ›Konservativen Revolution‹ in Deutschland nehmen die zwei Begriffe Preußentum und Sozialismus einen wichtigen Platz ein. Sie treten innerhalb dieser Strömung in unterschiedlicher Konfiguration auf, die manchmal sowohl auf der axiologischen als auch auf der semantischen Ebene überraschen können. Die Grenzlinien zwischen links und rechts werden oft überschritten und verwischt. Es scheint angebracht, das Konzept des ›preußischen Sozialismus‹ von ­Oswald Spengler mit dem von Ernst Niekisch analytisch zusammenzustellen. Die beiden hervorragenden Autoren der ›Konservativen Revolution‹ schreiben sich mit ihren Konzepten in die große Debatte des frühen 20. Jahrhunderts hinein, in die Debatte, die weit über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes hinausging und innerhalb derer kardinale Fragen nach der deutschen und europäischen Zukunft gestellt wurden. Insofern waren es auch die Jahre der Entscheidung. Spenglers preußischer Sozialismus war eher kulturphilosophisch, darin auch deutlich antimarxistisch und in der Endphase auch darwinistisch fundiert. Niekischs Ideen sind eher expansionistischer orientiert als bei Spengler. Was sie aber verbindet, ist die Tendenz, die Antibürgerlichkeit in ihren Konzepten zu betonen und das Preußentum eindeutig zu idealisieren. Das letztere wohl mit der bedeutenden Einschränkung, dass Niekischs Enthusiasmus für das Preußentum nach der NS -Machtübernahme wesentlich nachließ. In seiner hier schon erwähnten Nachkriegsschrift Deutsche Daseinsverfehlung (1946) fungiert Preußen nur noch als der Inbegriff des massiven Militarismus und der abscheulichen Untertanenmentalität sowie als Wegbereiter des Dritten Reiches.33 Niekisch kritisiert auch hier Oswald Spenglers Schrift 33 Vgl. dazu ebd., S. 50 f.

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Preußentum und Sozialismus, indem er ihm eine deutlich ausgeprägte Neigung zum Nationalsozialismus vorwirft: Erschütternd ist es zu beobachten, wie begabte Wortführer des deutschen Geistes in den Bann des faschistisch-nationalsozialistischen Bestialismus gerieten. Spengler hatte in seinem »Preußentum und Sozialismus« preußische Zuchtmeisterei mit sozialistischer Menschenbetreuung gleichgesetzt. Zu welchem Ende er diese Begriffsverwirrung vollführte, ließ er durchblicken in den Worten: Wir sind Sozialisten, wir wollen es nicht u m s o n s t gewesen sein. Der Großbürger wollte sich dafür bezahlt machen, in die Verkleidung des »preußischen Sozialismus« gekrochen zu sein.34

Es mangelt in dieser Schrift nicht an Naivitäten und simplen Ideologismen, die ihren Ursprung im verwandelten Vulgärmarxismus haben. Niekischs slogan­ artige und ideologisch versimpelte Diagnostik ist Manifestation seiner Denkweise, für die früher keine Akrobatik im Großrahmen des Nationalbolschewistischen unmöglich war. Beispielsweise schreibt er über die Sowjetunion der Zwischenkriegszeit folgendermaßen: Die Sowjetunion war zum Vaterland der Proletarier geworden, ihr Vorbild war für die deutsche Arbeiterschaft eine große Verführung; das deutsche Kapital fand dort keinen Unterschlupf mehr. Das bloße Dasein der Sowjetunion war für das schwer­ industrielle Bürgertum ein ungeheuer Skandal; immer wieder stolperten deutsche Unternehmer über den moralischen und tatsächlichen Rückhalt, den die Arbeiterschaft von dorther empfing.35

Für die Ideengeschichte scheinen die beiden Autoren bis heute gleichmäßig frappant und herausfordernd zu sein. Sie stehen auch in der ersten Reihe der ›Konservativen Revolution‹ in Deutschland, aber Oswald Spenglers Nachlass und seine intellektuelle Resonanz sind unvergleichbar bedeutsamer und reichen weiter als das stark ideologisierte Gesamtwerk von Ernst Niekisch. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass Niekisch sich nicht selten in intellektuell und politisch sehr angestrengte und zweifelhafte Denkkonstrukte verstieg, die oft mit der Verkennung der politischen Realität einhergingen. Es betrifft vor allem seine mangelhafte Einschätzung der politischen Konkurrenz: Der im Deutschland der 20er Jahre rasch aufsteigende Nationalsozialismus sowie der von Moskau unterstützte Kommunismus erwiesen sich als die weitaus attraktiveren Angebote für die deutsche Wählerschaft als Niekischs preußischer Sozialismus, der in der Fachliteratur allgemein unter dem Begriff Nationalbolschewismus funktioniert. Die Weimarer Republik, die auch in bestimmten Kreisen als Krise der klassischen Moderne bezeichnet wurde, war wie ein riesengroßes Labor, in dem sich unzählige Ideen und Zukunftskonzepte für Deutschland und das ganze Abendland herauskristallisierten. In diese Zeit der Irrungen und Wirrun-

34 Ebd., S. 81. 35 Ebd., S. 80.

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gen fällt auch die letzte große Konjunktur der beiden semantischen Bereiche: des Preußentums und des Sozialismus. Der von allen politischen Lagern betonte Vorläufigkeitscharakter des Weimarer Staates generierte dabei eine immer deutlichere antidemokratische Einstellung, was die Umbruchsstimmung im Kulturpolitischen bekräftigte und das vorapokalyptische Gefühl der Endzeit stabilisierte. Am politischen Horizont zeichnete sich allmählich eine neue, enorme Herausforderung ab, durch die endgültig ›die Schmach von Versailles‹ überwunden werden sollte. Die Lage der deutschen Demokratie ist zwar am Anfang der 30er Jahre immer noch offen, aber die Weltwirtschaftskrise begünstigte entscheidend die politischen Kräfte, die sich schließlich als ihre Totengräber entpuppten. Deutschlands Schicksal – gelegentlich in der einschlägigen Forschungsliteratur mit Trojas Fall verglichen – war bekanntlich 1933 besiegelt: Die erste deutsche Demokratie scheiterte an sich selbst.36 In diesem großen politischen Ideenlabor spielten die beiden Autoren eine wesentliche Rolle, wobei die intellektuell stärker nuancierten Werke Oswald Spenglers eine tiefergreifende, geistige Resonanz auslösten. Spenglers intellektuelle Attraktivität für akademische Kreise ist bis heute viel größer als die von Niekisch. Davon zeugt auch eindeutig die wissenschaftliche Rezeption beider Werke. Oswald Spenglers Konzept des preußischen Sozialismus blieb zwar nur eine Idee, ist aber immer noch für die ideengeschichtliche Forschung Gegenstand analytischer Reflexion. Darüber entscheidet auch sein geistiges Format mit, durch das er Niekisch an Intellektualität bei Weitem zu übertreffen scheint.

36 Vgl. dazu Treviranus, Gottfried Reinhold: Das Ende von Weimar. Heinrich Brüning und seine Zeit, Düsseldorf / Wien 1968, insbesondere das Kapitel Trojas Fall: Deutsches Schicksal 1933, S. 353–371.

Sandro Gorgone, Messina

Natur und Wildnis in der ›Konservativen Revolution‹ »Offen liegt das Meer, in’s Blaue Treibt mein Genueser Schiff. Alles glänzt mir neu und neuer, Mittag schläft auf Raum und Zeit –: Nur dein Auge – ungeheuer Blickt mich’s an, Unendlichkeit!« Friedrich Nietzsche, Nach neuen Meeren, in: Lieder des Prinzen Vogelfrei

Der Große Mittag Die in diesen Versen Friedrich Nietzsches aus den Liedern des Prinzen Vogelfrei ausgedrückte Erfahrung des Großen Mittags bildet  – so die These des Beitrags – die Grundvoraussetzung für ein Verständnis der Natur als Wildnis in den Werken einiger wichtiger Autoren der ›Konservativen Revolution‹, die die Philosophie Nietzsches in unterschiedlichen Richtungen und Gebieten als Mittel gegen die moderne – wissenschaftliche und ästhetische – Auffassung von Natur verwendeten. In der griechischen Tradition war der Mittag die Stunde der großen Stille, der Augenblick der entsetzlichen Wiederkehr der Schatten der Vorfahren und zugleich der göttlichen Epiphanien. Die ersten christlichen Autoren charakterisierten die Gefahr dieser Stunde, in der die heidnischen Naturgötter sich in der erotischen Gestalt der Trägheit (in der spiritus acediae) offenbarten, als »demonium meridianum« (vgl. Psalm XV, 5). Paradoxerweise besitzt diese Stunde des blendenden Lichtes und der sommerlichen Hitze überwiegend einen unheimlichen Charakter: Unterirdische, plutonische, finstere Wesen tauchen aus der Tiefe auf; vertraute Orientierungen fangen an zu schwanken, und klare Unterscheidungen  – zwischen Lebendigem und Totem, Offensichtlichem und Verborgenem, Gegenwärtigem und Vergangenem – lösen sich beklemmend auf. Die scharfen Gestalten und die klaren und harmonischen Gefüge der apollinischen Welt geben der zwielichtigen und subtilen Macht der dionysischen Natur nach. Der gefährliche Augenblick des Mittags bringt mit sich die Versuchung der Gleichgültigkeit und des Schlafes, das heißt die Gefahr, die gesicherte Grenze und die Bestimmungen des Individuums durch den Einbruch dämonischer Kräfte zu verlieren. Aus diesem Grund verbot Pythagoras seinen Jüngern am Mittag zu schlafen und Sokrates wiederholt dieses Verbot in der Erzählung des Zykladenmythos im platonischen Phaidros1. 1 Vgl. Plato, Phaidros, 257B–258E.

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Erst in der idyllischen Dichtung von Theocritus und im römischen Arkadien erhält die stille Stunde des Mittags den später traditionell gewordenen bukolischen Charakter. Seitdem ist die Mittagsstunde die Zeit des Gottes Pan, den die Hirten fürchten und verehren. Aber statt einer beruhigenden und idyllischen Stimmung herrscht in dem Nietzscheanischen Bild des Mittags eine überwältigende und ängstliche Atmosphäre: Vor allem in der sommerlichen stillen Glut des Mittags strahlt die Natur eine unheimliche und spannungsreiche Macht aus. Emblematisch ist in dieser Weise der Aphorismus 308 im zweiten Teil von Menschliches, allzu Menschliches: Nach einem tätigen und sturmreichen Morgen überfällt den Menschen eine »seltsame Ruhesucht« am Mittag des Lebens: Er will Nichts, er sorgt sich um Nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, – es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist Alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. – Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vorbei, das Leben reisst ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen, Geniessen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend herauf, stürmereicher und thatenvoller als selbst der Morgen war.2

Vor der entsetzlichen Offenbarung der elementaren Naturmacht erstarrt der Mensch in der Leere des Unwillens: In der Mittagsstunde, in der der Gott Pan alle lebendigen Wesen im Schoß der Natur sammelt, um sie zu stärken und zu erneuern, stürzt der Mensch in einen gelähmten Zustand, in einen »Tod mit wachen Augen«, der keinen Schlaf erlaubt: Die schreckliche Spinne, das Symbol der nihilistischen Interpretation der Ewigen Wiederkehr des Gleichen,3 spinnt alles in ein versteifendes Lichtnetz. Das bukolische Bild des Mittags wird hier von der panischen Angst einer tödlichen Kenntnis ersetzt, und das flüchtige Glück der Einstellung des Willens erweist sich als ein »schweres Glück«.

2 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / ​ New York 1999, S. 690. Über die für das ganze Denken Nietzsches zentrale Erfahrung des großen Mittags siehe Schlechta, Karl: Nietzsches großer Mittag, Frankfurt am Main 1954. 3 Vgl. den berühmten Aphorismus Nr. 341 der Fröhlichen Wissenschaft, in dem die Spinne als das Symbol der nihilistischen Macht der ewigen Wiederkehr dargestellt ist: vgl. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in Nietzsches Kritische Ausgabe, Abt. V, Bd. 2.

Natur und Wildnis in der ›Konservativen Revolution‹

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Der göttliche Kairos des Mittags (Stefan George) Als Unterbrechung eines heiligen Schlafes und als dionysische Zerklüftung der Natur, aus der allein ihre belebenden und erneuernden Kräfte entspringen, wird das Nietzscheanische Erbe der Mittagserfahrung in die Dichtung Stefan Georges und seines Kreises aufgenommen.4 Im Gedicht Nachmittag5 wird die »südenklare luft in mittagstille« von den »sengenden strahlen« einer »blitzender kraft« durchgedrungen. Die sengenden Strahlen, die von einem »wolkenfreien firmamente« niedersinken, treffen den »Einsamen«, der sie in Glut und Glanz des Mittags mit tiefer Entzückung wahrnimmt. Die Lebensfülle des Mittagsaugenblicks nimmt die Figur des Gottes Pan an, der zusammen mit der Jugendgöttin Hebe in Kränzen einherschreitet und »maassloses glück« spendet.6 Am Mittag taucht das für die Naturauffassung Georges typische Gefühl des »Anderen« auf, d. h. eine Naturtiefe, die dem menschlichen Einfluss radikal entzogenen bleibt. George kennt kein »Naturgefühl« im Goetheschen oder romantischen Sinne (die Natur als eine Gesamtheit von Phänomenen, Kräften und Energien, in denen der Mensch nur eine geringe Rolle spielt, aber sich erkennen und widerspiegeln kann). Wie Willi Koch in seinem einflussreichen George-Buch7 anmerkt, lässt sich das »Andere« in der Natur nicht begreifen: »Es ist verschlossen, fern, feindlich. […] Das ›Andere‹ steht drohend im Wege.«8 4 Für die Nietzsche-Rezeption bei George und in seinem Kreis vgl. Weber, Frank: Die Bedeu­tung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis, New York u. a. 1989; Raulff, Ulrich: Des Lesens Anfang ist das Ende der Legende. George und Nietzsche: Fragmente zu einem Doppelporträt, in: Text+Kritik, 168, 2005, S. 76–85; Immer, Nikolas: Mit singender statt redender Seele. Zur Nietzsche-Rezeption bei Stefan George und seinem Kreis, in: T. Valk (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der Klassischen Moderne, Berlin 2009, S. 55–86; Lehmann, Peter Lutz: Stefan George contra Nietzsche? In: Neue Beiträge zur George-Forschung, 1988, 13, S. 21–30. Für eine Analyse des entscheidenden Einflusses der Werke Nietzsches auf George und die deutsche Literatur des frühen 20. Jahrhunderts vgl. Travers, M.: Critics of Modernity. The Literature of the Conservative Revolution in Germany, 1890–1933, New York u. a. 2001, S. 56–62. Nach Philipp Redl wurde die Rolle Nietzsches als gescheiterter und überwundener Vorläufer Georges durch den von Ernst Gundolf und Kurt Hildebrandt verfassten Nietzsche-Band (Nietzsche als Richter unserer Zeit, Breslau 1923) bestimmt: »Ernst Gundolf und Hildebrandt funktionalisieren Nietzsche als letzlich gescheiterten Vorläufer Georges und hierarchisieren so das Verhältnis zwischen Dichter und Philosoph […]. Sie würdigen Nietzsche als Gegner eines abzulehnenden Zeitalters, bemängeln aber die fehlende Affirmation von etwas wirklich Neuem« (Redl, Philipp: Nietzsche im George-Kreis, in: Kaufmann Stephan u. a. (Hg.): Nietzsche und die Konservative Revolution, Berlin 2018, S. 103–117, hier S. 116). 5 George, Stefan: Nachmittag, in: Der siebente Ring, Gesamt-Ausgabe der Werke, hg. von Georg Bondi, Bd. 6/7, Berlin 1931. 6 Vgl. George, Ursprünge, in: Der siebente Ring, S. 126–129. 7 Koch, Willi August: Stefan George: Weltbild, Naturbild, Menschenbild, Halle 1933. 8 Ebd., S. 56.

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Dagegen ist die Erscheinung der Natur als Landschaft für das menschliche Gefühl offen, nachbarlich nahe. Dementsprechend ist nach Koch »Georges Gesamtbild der Natur in ein dämonisches Bild und ein Landschaftsbild geteilt. Das Dämonische erschreckt den Menschen, die Landschaft tröstet ihn«9. Das Dämonische,10 das die Formen des Erhabenen am meisten annimmt (Gewitter, nächtliches Moor, Hochgebirge, etc.), offenbart sich auch in der Gluthitze des Hochsommermittags, in der das unheimliche Gefühl einer radikalen Fremdheit des Menschen in der Natur auftaucht. Während die Natur sich zumeist als gestaltloses Chaos präsentiert – daher die in der Dichtung Georges häufig vorkommende Figur der »Weltnacht« –, enthüllen sich in der Mittagserfahrung gestaltgebende Kräfte, die imstande wären, sich dem schon seit Langem waltenden modernen Prozess der Verstofflichung, Entseelung, Mechanisierung und Atomisierung der Natur entgegenzusetzen und aus der »Weltnacht« zur Gewinnung eines kosmischen Naturbildes zu führen. Das wäre möglich – in einer ante litteram ›ökologischen‹ Perspektive –, nur wenn der Mensch seine willentliche Einstellung gegenüber die Natur verlässt: »Der Weg zur Natur«, merkt Koch an, »ist gehbar, wenn sich der Mensch willenslos der Natur überlässt, er wird immer stärker verbaut, wenn er sich gegen sie empört und gegen sie kämpft.«11 Im Gegensatz zur Goetheschen Auffassung der Natur als Urstrom des Lebens und dem romantischen Naturverständnis als Vergegenständlichung des Übersinnlichen besitzt die Natur bei George einen starken ›heidnischen‹ und unidyllischen Charakter. Der Dichter vermag sich nicht mehr in die Natur »einzufühlen«, wie es paradigmatisch in der romantischen Dichtung Eichendorffs  – das klarste Beispiel dafür ist das Gedicht Mondnacht, in dem die Seele ihr kosmisches Zuhause in der Natur findet – geschieht. Georges Natur ist dementsprechend völlig entromantisiert; sie kümmert sich nicht mehr um die Menschen und ist mit sich selbst beschäftigt; sie bleibt unheinheitlich und »gegenüber« und kann nicht mehr das Gefühl von Geborgenheit bieten.12 In dem Gedicht Der Mensch und der Drud aus der Sammlung Das neue Reich (1928) wird dieses befremdliche Gefühl der Unzugehörigkeit des Menschen zur Natur noch vertieft; die verächtliche Frage des Menschen zum Wesenskern der Natur, d. h. zur Wildnis, »Was willst du überbleibsel grauser wildnis?«, wird wie folgend beantwortet:

9 Ebd., S. 56 f.. 10 Nach Koch ist »Georges Bild der Natur als eines dämonischen Wesens […] in seinem bäuerlichen Naturgefühl verwurzelt« (ebd., S. 63). 11 Ebd., S. 59. Durch seinen Willen und seinen Verstand versucht der Mensch die Natur zu unterwerfen und damit den Übergang von Gestaltlosem zu Gestalthaftem, d. h. die Bildung der Landschaft zu vollziehen. Emblematisch ist in dieser Hinsicht das Gedicht Urlandschaft aus der Sammlung Traurige Tänze. 12 Vgl. Koch: Stefan George, S. 73.

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Du bist nur mensch… wo deine weisheit endet / Beginnt die unsre […] Wenn dein getreide reift dein vieh gedeiht / Die heiligen bäume öl und trauben geben / Wähnst du dies käme nur durch deine list. / Die erden die in dumpfer urnacht atmen / Verwesen nimmer – sind sie je gefügt / Zergehn sie wenn ein glied dem ring entfällt.

Die verzaubernde Wildnis, die sich im Mittag entfaltet, ist also erforderlich für das Leben des Menschen und der gestalteten Natur, obwohl ihre entsetzliche Macht zugleich als beunruhigende und bevorstehende Gefahr den Menschen bedroht und sich seinem Verständnis entzieht. Schließlich kann der Drud dem Menschen mahnen: So hör nur dies: uns tilgend tilgt ihr euch. / Wo unsre zotte streift nur da kommt milch / Wo unser huf nicht hintritt wächst kein halm. / Wär nur dein geist am werk gewesen: längst / Wär euer schlag zerstört und all sein tun / Wär euer holz verdorrt und saatfeld brach … / Nur durch den zauber bleibt das leben wach.

Die durch den erschütternden Einbruch der Wildnis bedingte Verzauberung der Welt wirkt an der für Georges Dichtung typischen musikalischen und rhythmischen Verklärung der gedichteten Wirklichkeit und vor allem an der Überwindung der traditionellen objektiven Zeit-Raum-Dimension mit. Die ästhetische Verzauberung der Welt, in der der olympische »verklärende Spiegel« des hellenischen Willens wirkt, dient George nicht nur dazu, gegen die wissenschaftliche und von der Religion des technischen Fortschritts geprägte Entzauberung der Natur zu kämpfen, sondern auch die ›plastische‹ Macht des Göttlichen in der Natur darzustellen. Das neue Reich beginnt mit einer Aufforderung zum Perspektivwechsel: von der nordischen Trübe zum Mittagsland, zum »Zauber des Dinges und des Leibes der göttlichen Norm«. Die Verkörperung Gottes und die damit verbundene Vergottung13 des menschlichen Leibes, die den philosophischen Kern dieser Gedichtsammlung darstellen, stehen in einer engeren Beziehung zur Nietzscheanischen Lehre vom ungeheuren Augenblick,14 die sich in der Mittagserfahrung am besten veranschaulichen lässt. Der Dichter drückte dieses Verhältnis besonders stark und emblematisch bereits in dem Gedicht Kairos aus der 1907 erschienenen Sammlung Der siebente Ring aus: »Dies Geheimnis ist das schwerste: / Augenblick als höchster Gott.«15 Die in diesen Versen ausgedrückte immanente Kairos-Auffassung des Göttlichen, des kommenden Gottes, als höchste und äußerste Figur des Menschlichen, lässt die Mittagserfahrung Nietzsches in der Perspektive der Dringlichkeit einer treffenden und sinnbildenden Entscheidung erscheinen, die die chronologische 13 Vgl. dazu Gundolf, Friedrich: Stefan George, Berlin 1930. 14 Zu diesem Grundgedanken Nietzsches vgl. Salaquarda, Jörg: Der ungeheure Augenblick, in: Nietzsche-Studien, 18, 2010, S. 317–337 und Pasqualotto, Giangiorgio: Nietzsche: attimo immenso e con-senitre, Tilgher, Genova 1981. 15 Die folgenden Ausführungen richten sich nach Dörr, Georg: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007, S. 329–335.

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Zeitfolge unterbricht und neue unerhörte Tatdimensionen erschließt.16 Der Einbruch des Kairos-Gottes zerbricht und erneuert zugleich die Geschichte des Menschen, ähnlich wie die Theophanie des Gottes Pan am Mittag den Alltag unheimlich umwälzt, aber zugleich mit neuen Wachstumskräften belebt.17 Die Lehre vom Kairos gilt offensichtlich, wie die Auseinandersetzung des ganzen George-Kreises mit der Philosophie Henri Bergsons (élan vitale)  bezeugt, als Kritik der Auffassung des linearen Zeitverlaufs der Geschichte; die Bevorzugung des zyklischen Modells ist nach Armin Mohler18 ein wichtiges Kennzeichnen der meisten Autoren der ›Konservativen Revolution‹. Die Idee des Augenblicks hat, wie George behauptet, weder etwas mit der theologischen oder metaphysischen Ewigkeitslehre noch mit Heraklits Fluss des Werdens zu tun; sie ist überhaupt keine Lehre, sondern eher, wie bei Nietzsches Zarathustra, ein echtes sinnliches Erlebnis: Sie ist nicht zu beweisen, sie ist nur zu erleben [!]. Sie hängt daran, […] dass man nicht vom Sinnlichen wegsieht, um das Göttliche zu erfassen, sondern das Göttliche im Sinnlichen erlebt. […] Es gibt […] Augenblicke im organischen Leben (Zeugung, Geburt, Tod), im geistigen Leben (Liebe und geistiges Empfängnis), in der Geschichte in einem prominenten Geschehen, und unter den Menschen zum Beispiel bei Genies, in denen sich die gleichförmigen Lebensmomente von Generationen konzentrieren.19 16 »Diese Kairos-Auffassung – der Augenblick wird als ›höchster Gott‹ bezeichnet – legitimiert die Einmaligkeit des Kreises als kulturgeschichtliches Phänomen und bedeutet ebenso eine weitere Distanzierung vom Ästhetismus sowie eine Hinwendung zur Tat. […] Gerade im in der Diesseitigkeit erlebten Augenblick […] wird Sinnhaftigkeit erfahren« (Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos, S. 329). 17 Einige Interpreten haben die Verleibung Gottes mit der Figur des »plastischen Gottes« erklärt, die George gegen denselben Nietzsche als Wiederholung und Betonung des Begriffes von ›plastischen Kraft‹ verwendete: »Der ›plastische Gott‹ ist der leibhaft, in schönster Gestalt wahrhaft erscheinende – und nicht unsichtbar-geistig bleibende – Gott« (Trawny, Peter: George dichtet Nietzsche. Überlegungen zur Nietzsche-Rezeption Stefan Georges und seines Kreises in: George-Jahrbuch, 3, 2000, S. 51). George selbst hatte in einem Brief an Friedrich Gundolf von 11. Juni 1910 die Abwesenheit des »plastischen Gottes« in Nietzsches Werk betont: »In Nietzsche steht doch ziemlich alles. Er hat die wesentlichen großen Dinge verstanden: nur hatte er den plastischen Gott nicht (daher sein Missverstehen der Griechen besonders Platons)« (George, Stefan / Gundolf, Friedrich: Briefwechsel, hg. von Robert Boehringer u. Georg Peter Landmann, München-Düsseldorf 1962, S. 202). 18 Mohler denkt, dass Nietzsches Konzeption der ewigen Wiederkehr des Gleichen und des ungeheuren Augenblicks ein Paradigma der ganzen ›Konservativen Revolution‹ darstelle: »Von der ›Konservativen Revolution‹ kann auf jeden Fall gesagt werden, dass jene Behauptung einer von Nietzsche verkörperten Wende [scil. vom linearen zum zyklischen Geschichtsbild] zu einem wesentlichen Ausgangspunkt ihres Denkens wird« (Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland. 1918–1932. Ein Handbuch, Darmstadt 1989, S. 90). 19 Landmann, Edith: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf u. a. 1963, S. 40. So kommentiert Dörr Georges Darstellung des ›ewigen Augenblickes‹: »Es ist erstaunlich, dass George  – obgleich er immer wieder betont, dass man den ›ewigen Augenblick‹ nur ›erleben‹ könne – versucht, diesen ideengeschichtlich abzuleiten und aus historisch ver-

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Abgesehen davon, dass der eschatologische20 Augenblick der Gotteserscheinung entweder einen religiösen oder politischen Sinn (der chiliastische Einbruch des neuen Reiches) erhält oder nur eine ästhetische Utopie bildet, stellt – wie Dörr behauptet – die Kairos-Erfahrung, in der das Nietzscheanische Bild des Großen Mittags wiederklingt, die Möglichkeitsbedingung der »Freisetzung der Individualität unter der schwierigen Bedingungen der Moderne«21 dar. Daraus resultiert die Umwertung des ursprünglicheren griechischen philosophischen Sinnes der Mittagsstunde, in der sich hingegen die Grenzen des Individuums durch den Einbruch universaler göttlicher Kräfte auflösen.

Die Weide der Hirten (Friedrich Georg Jünger) In Die Perfektion der Technik (1946) versteht Friedrich Georg Jünger die Technik als Verschwendung der Fülle und des Überflusses des Lebens, die beide im Symbol des Mittags versinnbildlicht sind: Die Technik erzeugt keine Reichtümer; durch ihre Vermittlung aber werden uns Reichtümer zugeführt, verarbeitet und dem Verbrauch erschlossen. Es ist ein beständiger, stets wachsender, immer gewaltiger werdender Verzehr, der hier stattfindet. Es ist ein Raubbau, wie ihn die Erde noch nicht gesehen hat. Der rücksichtlose, immer gesteigerte Raubbau ist das Kennzeichen unserer Technik. Und nur dieser Raubbau ermöglicht sie und lässt sie zur Entfaltung kommen.22

Die rationale Organisation und die Macht des Automatismus der Technik nutzten die Naturressourcen und verletzen zugleich die tiefe Einheit und das Reichtum der Natur, deren höchstes Sinnbild der Gott Pan ist. Der Techniker kennt schiedenen Ewigkeitsauffassungen eine ›Synthese‹ zu bilden. Dass er sich selbst als eines der ›Genies‹ sieht, in denen sich ›die gleichförmigen Lebensmomente von Generationen konzentrieren‹, scheint offensichtlich, da er glaubt, das neue ›griechische Jahrhundert‹ heraufgeführt zu haben« (Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos, S. 331). 20 Vgl. Emrich, Wolfgang: »Sie alle sahen rechts – nur Er sah links«. Zur Eschatologie Stefan Georges, in: Lehmann, Peter Lutz / Wolff, Robert (Hg.): Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein: eine Dokumentation, Heidelberg 1979, S. 65–78. 21 Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos, S. 332. 22 Jünger, Friedrich Georg: Die Perfektion der Technik, Frankfurt am Main 2010, S. 28. Die Technik ist nach Friedrich Georg Jünger das beste Mittel, diesen tiefen Bedarfszustand zu organisieren und durch den Schein eines sich immer weiter steigernden Wohlstandes zu verschleiern: »Wo immer der Mensch das Feld des technischen Fortschrittes betritt, dort erfolgt ein organisatorischer Zugriff gegen ihn. Die Technik deckt nicht nur den Bedarf, sie organisiert ihn zugleich. Und indem sie das tut, stellt sie den Menschen in ihren Dienst« (ebd., S. 90). In der Organisation und im Automatismus erkennt er die zwei Hauptcharaktere der Technik, die alle nicht organisierbaren Gebiete – die Wildnis – fundamental bedrohen: »Das technische Denken, dem ein unbegrenztes Machtstreben innewohnt, tritt hier gebietend und rücksichtslos auf. Erfüllt von einem unerschütterlichen Glauben an die Organisation, treibt es diese überall vorwärts, breitet sie überall aus und verschlingt das unorganisierte Leben, wo immer sie es antrifft« (ebd., S. 93).

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keine hybris; er betrachtet die Erde als ein lebloses Gebiet, dem er durch seine instrumentale Vernunft eine exakte und künstliche Planung auferlegen will. Er unterwirft gewaltsam die elementaren Naturkräfte dem effizienten Betrieb des riesigen Apparats produktiven Arbeitens: Die elementare Natur und der Mechanismus, der von der Geistigkeit und dem Willen des Menschen gesteuert wird, stoßen aufeinander, und das Ergebnis ist ein Akt der Unterwerfung, durch den elementare Kräfte in Dienst gestellt werden. Ihrem freien Spiel wird auf eine gewaltsame Weise ein Ende gemacht.23

Friedrich Georg Jünger betont das Paradox, dass das rationale Denken, das an sich arm an elementarer Kraft ist, fähig sei, durch die zwingende Verwendung der Technik die elementaren Naturkräfte in Gang zu setzen.24 Die Maschine, die die elementaren Kräfte für ihren Lauf nutzt, kann zugleich den elementaren Energiefluss steuern und produktiv machen, obwohl ihre rationalen Voraussetzungen dem gefährlichen und irreführenden Elementaren entfliehen. Dennoch besitzt die technische Ratio einen dämonischen Charakter,25 indem die der Maschine unterworfenen elementaren Kräfte sich am Menschen auf subtile und unheimliche Weisen rächen. In der Vollendung dieses Prozesses, den Jünger als die Perfektion der Technik kennzeichnet, taucht die dämonische Stimmung als beängstigende und drängende Drohung der Katastrophe auf. In Griechische Mythen (1957)26 interpretiert Jünger die dämonische Kraft der Natur, die der Aneignung und Nutzung durch den Menschen Widerstand leistet, als Offenbarung des Gottes Pan, dem Gott der Wildnis, der in einer mittleren Position zwischen dem hellen Apollo und dem dunklen Dionysos steht. Pan herrscht nicht nur auf der grenzlosen und unvermessenen Erde, die die an Demeter geweihten gepflegten und vermessenen Äcker umschließen, sondern hütet das Geheimnis des Wachstums selbst. In dem der Wildnis gewidmeten Dialog bestimmt Friedrich Georg Jünger27 das Reich von Pan als Ort des reinen 23 Ebd., S. 121. 24 »Die elementare Natur wird durch das mechanische Werk gebändigt, sie wird gewaltsam zusammengepreßt und überwunden, sie wird auf eine künstliche Weise ausgenutzt« (ebd., S. 122). Aber neben dem Prozess der Mechanisierung muss man auch den entsprechenden Prozess der ›Elementarisierung‹ der technischen Welt (und des technischen Denkens) erkennen: »Mechanisierung und Elementarisierung sind nur zwei Seiten des gleichen Arbeitsvorganges, sie bedingen einander. Die eine ist ohne die andere nicht zu denken. Diese Wechselwirkung tritt mit wachsender technischer Perfektion immer deutlicher hervor. Und aus ihr kommt die reißende dynamische Bewegung, die dem technischen Fortschritt eigentümlich ist, seine kreisende Geschwindigkeit, sein Vibrieren und Zittern, die explosive Wucht, die er zeigt« (ebd.). 25 Vgl. ebd., S. 123 (Fußnote 14). 26 Jünger, Friedrich Georg: Griechische Mythen, Frankfurt am Main 1957. 27 Jünger, Friedrich Georg: Die Wildnis, in: Otto, Walter Friedrich (Hg.): Anteile. Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1950. Zum Begriff von ›Wildnis‹ in diesem Dialog vgl. Gregorio, Giuliana: Imagines naturae bei Friedrich Georg Jünger, in: Figal, Günther / K napp, Georg (Hg.): Natur, Jünger-Studien, Bd. 5, Tübingen 2011, S. 152–171.

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und grenzlosen Aufgehens der ursprünglichen Naturkräfte im Gegensatz zu dem Gebiet der Zivilisation, der Bändigung, der Gesetze und der Regeln, die er als das Reich der olympischen Götter bezeichnet, die genau durch die Setzung klarer Grenzen herrschen. Die Wildnis ist aber kein irreführender Wald im Gegensatz zu den hellen Wegen der apollinischen, rationalen Welt; wie Massimo Cacciari vorschlägt, ist sie eher als Lichtung zu verstehen, als Urgrund, in den sich der Mensch in seine ursprüngliche Stille und Freiheit vor der rechnerischen und verbindlichen Gewalt der Technik zurückziehen kann: Als Lichtung innerhalb der teuflischen Maschinerie des Nihilismus […] ist die Wildnis […] jener offene Ort, jener Urgrund, wo sich der Mensch in sich selbst, in sein eigenes Schweigen zurückzieht – in eine eigene in-fantia –, d. h. in seine eigene ursprüngliche ›Freiheit‹ dem erdrückenden Kalkulieren, der konstruktiven Gewaltsamkeit der Technik gegenüber.28

An einer entscheidenden Stelle des Wildnis-Dialogs, den Jünger in der 1950 erschienenen Festschrift für Martin Heidegger, Anteile, veröffentlicht, sagt Cheiron, der weiseste und gerechteste Zentaur: Fürchte dich nicht. Hier ist nichts benannt, ist alles namenlos. Deshalb spricht es vernehmlicher die eigene Sprache. Du hörst sie und verstehst sie nicht, du hast kein Ohr für sie, und weil sie dir fremd ist, dringt ein Schauder durch dich hin. […] Was du Irre nennst, das ist Geborgenheit, die keines Zeichens bedarf.29

Das Land des Pan, das man nicht umpflügen kann  – »Pan liebt den Pflug nicht«! –, hütet das Geheimnis des Wachstums und der Gesetzgebung, indem es frei von jedem Gesetz und jeder Grenzbestimmung ist. Trotzdem ist der phallische Gott Pan ein Zeuger, doch in einer ganz anderen Weise als die Titanen, deren Erzeugen vor allem von einer eisernen Willensanstrengung erfüllt war. Er ist eher der Gott des Reifens. In den Griechischen Mythen schreibt Jünger: »In seinem tiefen Mittagsschlaf wie in seiner wachen Bewegung erscheint er als Zeuger. […] In der Muße des Pan zeigt sich das mühelose Sein des Gottes, dem alle Not und Anstrengung fremd ist; es zeigt sich in seiner Freude an musischen Dingen. […] Pan ist ein Gott der Reife und allem Reifenden hold, ist wie Dionysos ein Gott des Überflusses und der Fruchtbarkeit, ist ein Mehrer und Spender.«30 Verschwendung und Überfluss bedeuten eben kein Abnutzen der Naturressourcen, sondern stellen im Gegenteil die größte Verehrung und Verwahrung der Quelle der Wachstumsmächte dar. Im Land des Pan herrscht die »Schonung«. Mit diesem Schlüsselwort meint Jünger genau das Gegenteil von Pflege, die hingegen im Land der Demeter herrscht: Die Schonung der Wildnis erträgt keinen Ackerbau und im Allgemeinen keine 28 Vgl. Cacciari, Massimo: Ernst Jünger e Martin Heidegger, in: Chiarini., Paolo (Hg.): Ernst Jünger. Un convegno internazionale, Napoli 1987, p. 77 [Übers. v. Verf.]. 29 Jünger: Die Wildnis, S. 236. 30 Jünger: Griechische Mythen, S. 67–68.

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an einem Zweck orientierte Tätigkeit, kein zwingendes Gesetz, doch bildet sie zugleich den Kern, d. h. die Möglichkeitsbedingung aller Gesetze: »Ohne Schonung ist nichts Gesetz, ohne Schonung gibt es kein Gesetz mehr.«31 Auf diese Weise entspricht Jünger der langen juristischen Tradition, die Carl Schmitts Der Nomos der Erde kulminiert, der die Grundlegung des Gesetzes in der ursprünglichen Landnahme und Landverteilung sieht. Die olympischen Götter herrschen laut Jünger durch die Grenze: »Herrschaft und Grenzen sind eins […]. Sie sind ganz Grenze, ganz Licht.«32 Der Zentaur hingegen ist »Sohn der Erde« und dem Ursprung des Lebenswachstums näher als die Götter. In der Wildnis waltet das »erste Gesetz«, das Gesetz des grenzenlosen und unvermessenen Wachstums, von dem aber alle Gesetze, Pflichten und Maßen abhängen. Die Wildnis beginnt am Ende der »Weide der Hirten«, die weit über den Acker hinausgeht und sich gegen das Gebirge hinzieht;33 sie beginnt dort, wo der Wald, das Ufer und die Gebirge ›einsam‹ werden und zur Lichtung führen, zum echten Herzen der Wildnis. Die so gemeinte lichte Ortschaft des Wachstums verweist auf den altgriechischen Begriff von φύσις als Aufgehen, Sichaufschließen und Anwesenlassen; die griechische physis ist daher mit der Dimension des Sichentziehens und Sichverbergens wesentlich verbunden.34 Die Wildnis als Ursprung und physis scheint allerdings im Jüngers Dialog unersetzlich verloren. Der Zentaur Cheiron wird sich bald von ihr verabschieden, und der Halbgott Herakles, der »Täter«, hat schon die Weide der Hirten geschändet, indem er Namen, Grenzen und Maß in die Wildnis gewaltsam eingeführt hat. Die Wildnis kann also nur im Herzen aufbewahrt und behütet werden, aber kein Aufenthalt und kein Widerstandsgebiet ist im wilden Land des Pan mehr möglich.35

31 Jünger: Die Wildnis, S. 237. 32 Ebd., S. 241. 33 »Die Hirten wohnen unsichtbar und außerhalb des Ödlands der verwüsteten Erde« (Heidegger, Martin: Überwindung der Metaphysik, in: Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe, Bd. 7, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt am Main 2000, S. 96). 34 In diese Richtung geht die Auslegung Heideggers der ursprünglicheren Bedeutung des griechischen physis vor allem bei Aristoteles: vgl. Heidegger, Martin: Vom Wesen und Begriff der Physis. Aristoteles, Physik B, 1, Gesamtausgabe, Bd. 9, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt am Main 1976, S. 239–302. 35 Ähnlich ist die Meinung von Giuliana Gregorio: »Die Wildnis als unangetasteter Ursprung scheint also unwiderruflich verloren zu sein. Wie könnte sie noch einen wirklichen Ort von möglichem Widerstand darstellen? Im Heideggerschen Sinne könnte sie vielleicht nunmehr nur erinnert, im Andenken verwahrt werden […]. Ist aber dieses Andenken, diese Erinnerung in unserem Zeitalter noch möglich? Oder bleibt die Wildnis – wenn sie überhaupt fortbleibt – für uns vielmehr etwas Unvordenkliches, um mit Schelling zu sprechen? Dies scheint mir letzten Endes die Antwort Friedrich Georg Jüngers zu sein« (Gregorio: Imagines naturae bei Friedrich Georg Jünger, S. 157).

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Die Wildnis im Herzen (Ernst Jünger) Friedrich Georgs Bruder Ernst Jünger glaubte hingegen, in der Wildnis ein Schutzgebiet und eine Befreiung von aller technischen Organisation und Arbeitsanforderungen finden zu können. In der Schrift Über die Linie, die ebenfalls in der Festschrift Anteile erschien und eine Art Phänomenologie des Nihilismus als Vollendung der technischen Mobilmachung und der durchdringenden Vormacht der Arbeit als Lebensform skizziert, verwendet Ernst Jünger erstmals den Terminus Wildnis. Die Wildnis dient ihm dazu, den Übergang über den Nullmeridian des Nihilismus zu denken, d. h. die »Rettung« vor dem totalisierenden Aktivismus und Funktionalismus einer von der Gestalt des Arbeitens völlig geprägten spätmodernen Welt.36 Die Wildnis als Ort des inneren Widerstands nahm jedoch bereits Ende der 1930er Jahre eine zentrale Position in Jüngers Überlegungen zur politischen und philosophischen Lage seiner Zeit ein. Das Werk, mit dem Jünger von der Euphorie der Technik und dem Aktivismus des Arbeiters endgültig Abstand genommen und das brutale Regime des Nationalsozialismus allegorisch dargestellt hat, ist der 1939 erschienene Roman Auf den Marmorklippen37. Die in der Rautenklause lebenden Brüder leisten geistigen Wiederstand gegen die dunkle Macht des Oberförsters, der den Wald hinter der Großen Marina mit blutiger Grausamkeit beherrscht, und zwar nicht durch politische Tätigkeit oder soziales Engagement, sondern in der Beobachtung und Erforschung der Pflanzen, in der Bewunderung der Blumen und ihrer rätselhaften Lebensmacht. Schon in diesem Roman wird die Erlösungsmacht des Wortes – des dichterischen und des denkerischen Wortes – durch die sorgfältige Übung des Katalogisierens und des Nennens aufgezeigt.38 Die zeitlose Kraftquelle des Waldes, die tiefer als jeder gewaltsame Machtanspruch liegt, dient als das einzige Widerstandsmittel, indem sie die Möglichkeit bietet, die größten Werke des Menschen – wie das Herbarium Othos – vor der irdischen Zerstörung ins unvergängliche Reich des Geistes durch die Verbrennung (den Holocaust) der bergkristallenen Lampe des Nigromontan zu retten, 36 Über die zentrale Rolle dieses Widerstandsbegriffes in den Werken Ernst Jüngers ab den Fünfziger Jahren siehe Koslowski, Peter: Der Waldgänger. Zwischen Anarchie und Nihilismus, in: Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers, München 1991. 37 Für eine Analyse dieses Romans vgl. Kiesel, Helmuth: Ernst Jüngers Marmor-Klippen. Renommier- und Problembuch der 12 Jahre, in: Bachleitner, Norbert / Begemann, Christian u. a. (Hg.): Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 14 (1), 1989, S. 126–164. 38 Die wesentliche Verbindung zwischen Wort und Wald kommt dann wieder explizit am Ende des Waldganges: »Der Ort des Wortes ist der Wald. Das Wort ruht unter den Worten wie Goldgrund unter einem frühen Bild. […] Die Sprache gleicht nicht nur einem Garten, an dessen Blüten und Früchten der Erbe bis in sein höchstes Alter sich erquickt; sie ist auch eine der großen Formen für alle Güter überhaupt« (Jünger: Der Waldgang, S. 371 f.).

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in der die Kraft des Sonnenfeuers gespeichert ist. Die Ordnung und die Harmonie der Pflanzenwelt stellen das wirksamste Mittel gegen die Tyrannis, die Unterdrückung und jede Verletzung des Rechts und der menschlichen Würde dar. Am 30. Oktober 1944 schreibt Ernst Jünger in Strahlungen mit explizitem Verweis auf die Marmorklippen: »Das Leben der Pflanzen und sein Kreislauf sichern die Realität, die durch Dämonenkräfte aufgelöst zu werden droht. Die Gegenspieler des Oberförsters sind Gärtner und Botaniker.«39 Mit dem Bild der Wildnis wollte Jünger die von der Tätigkeit des Typus des Arbeiters nicht besetzten Gebiete kennzeichnen,40 jene »Oasen inmitten der Wüste«, in denen sich der geistige Widerstand ansiedeln und dann – durch die Tätigkeit »kleiner Eliten« – zum »Kampf um eine neue Freiheit«41 führen kann. Die Wildnis wird also bei ihm der Raum der in jeder politisch, sozial und existenziell finsteren Lage erreichbaren Freiheit: Die Freiheit […] wohnt nicht im Leeren, sie haust vielmehr im Ungeordneten und Ungesonderten, in jenen Gebieten, die zwar organisierbar, doch nicht zur Organisation zu zählen sind. Wir wollen sie die Wildnis nennen; sie ist der Raum, aus dem der Mensch nicht nur den Kampf zu führen, sondern aus dem heraus er auch zu siegen hoffen darf. Das ist dann freilich keine romantische Wildnis mehr. Es ist der Urgrund seiner Existenz, das Dickicht, aus dem er eines Tages wie ein Löwe hervorbrechen wird. Gibt es doch auch in unseren Wüsten Oasen, in denen die Wildnis blüht.42

Diese Oasen in der Wüste, in der der einzelne Mensch sich anstrengen mag, der nihilistischen Verwüstung und Zerstörung der Zeit zu widerstehen, sind erst durch die Erfahrung der elementaren Mächte und das Bevorstehen der Gefahr und der Katastrophe, durch die Überwindung der für das Bürgertum typischen Angst vor der elementaren Macht des Lebens erreichbar. Hier zeigt sich ein für die meisten Autoren der ›Konservativen Revolution‹ kennzeichnendes Erbe des Denkens Nietzsches, d. h. seine tiefe Überzeugung, dass »Leben überhaupt heisst in Gefahr [zu] sein«43 und dass erst durch die Auseinandersetzung mit der Gefahr, die der ontologischen Konstitution des Seins als Werden entspricht, das Wesen des Lebens zu erfahren und zu retten sei. Die erste und höchste Gefahr, die seltene und einzelne Menschen anzunehmen und zu überwinden vermögen, wenn sie Kraft aus der Wildnis schöpfen, ist die Gefahr des Todes. Durch die 39 Jünger, Ernst: Kirchhorster Blätter, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, Stuttgart 1979, S. 314. 40 Über die metaphysische Revolution des Arbeiters und die kontroverse Auseinandersetzung Ernst Jüngers mit der literarischen und philosophischen Konstellation der ›Konservativen Revolution‹ siehe Benedetti, Andrea: Rivoluzione conservatrice  e fascino ambiguo della tecnica. Ernst Jünger nella Germania weimeriana: 1920–1932, Bologna 2008. 41 Jünger, Ernst: Waldgang, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, Stuttgart 1979, S. 304. 42 Jünger, Ernst: Über die Linie, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, Stuttgart 1979, S. 273. 43 Nietzsche,  Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1: Unzeitgemäße Betrachtungen, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York 1999, S. 360.

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Annahme dieser Gefahr wird der Mensch frei von der Todesangst, die jede unterdrückende und tyrannische Macht verwendet, um sich festzusetzen. Die zweite Grundmacht, die aus der Wildnis strömt, ist die des im Gott Pan versinnbildlichten Eros, aber nicht nur in Form des sexuellen Triebes: Sexualität stellt nur ein illusorisches Mittel gegen die tyrannische Vormacht der Technik und manifestiert ihre produktive und aktivistische Macht im Organischen. Nur die erotische Sehnsucht nach dem anderen Menschen, die sich in Liebestaten und Freundschaften verwandelt und zum Opfer bereit ist, kann eine Oase in der Wüste der titanischen Welt des Arbeiters eröffnen. Die dritte Grundmacht der Wildnis, die Jünger in der Schrift Über die Linie nennt, ist die schöpferische Kraft der Kunst; die echte Kunst stellt nach Jünger eine Oase in der Wüste dar, nicht nur weil sie das Zeitalter gestalten und ›erlösen‹ kann, sondern vielmehr, weil sie die metaphysische Macht versinnbildlicht, die die ganze Welt der Maschinen und der Arbeit bewegt, und damit fähig ist, die Stille in die Welt zu bringen, denn »die Stille wohnt in der Gestalt, auch in der Gestalt des Arbeiters«44. Damit berühren wir ein weiteres, entscheidendes Thema der ›Konservativen Revolution‹, dies ist die Stille im Herzen der Bewegung, die Untätigkeit, die jeder Tätigkeit zugrunde liegt. Die Wildnis ist also der Ort der Erfahrung und der Überwindung des Nichts. Diese Erfahrung aber gelingt erst in der Brust des Einzelnen, sodass wir bei Ernst Jünger eine Art Verinnerlichung der Wildnis finden. Das Ende von Über die Linie lautet entsprechend: Die eigene Brust: das ist, wie einst in der Thebais, das Zentrum der Wüsten- und Trümmerwelt. Hier ist die Höhle, zu der die Dämonen andrängen. Hier steht ein jeder, gleichviel von welchem Stand und Range, im unmittelbaren und souveränen Kampfe, und mit seinem Siege verändert sich die Welt. Ist er hier stärker, so wird das Nichts in sich zurückweichen. Es wird die Schätze, die überflutet waren, auf der Strandlinie zurücklassen. Sie werden die Opfer aufwiegen.45

Der große Kampf gegen das Nichts muss also zuerst in der »Brust des Einzelnen« geführt werden, denn nur dort wachsen die Kräfte, die vermögen, die nivellierende und berechnende Macht der Technik auf die rationalen, organisatorischen Gebiete zu beschränken: »Wenn die Bekämpfung des Nihilismus gelingen soll«, schreibt Jünger in der Friedensschrift ursprünglich aus dem Jahr 1944, so muss sie sich in der Brust des Einzelnen vollziehen. […] Hierzu ist nötig, dass auch im Leben des Einzelnen die Technik auf ihr Gebiet verwiesen wird, genauso, wie es in der Staatverfassung geschehen muss. Die Mittel und Methode des technischen Denkens dürfen nicht dorthin übergreifen, wo dem Menschen Glück, Liebe und Heil erwachsen soll. Die geistig-titanischen Kräfte müssen von den menschlichen und göttlichen getrennt und ihnen unterstellt werden.46 44 Jünger: Über die Linie, S. 276. 45 Ebd., S. 279. 46 Jünger, Ernst: Der Friede, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart 1980, S. 229.

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Aber der Kampf um die Wildnis, in der der Mensch unter allen äußeren Umständen seine innerliche Freiheit behüten kann, ist nicht ein einsamer und egoistischer Kampf um die Selbstrettung. In dem Kampf gegen das Nichts und die Zerstörung kann nämlich der einzelne Mensch die Rettung für Viele bedeuten. Der in der eigenen Brust durchgeführte Kampf hat nicht nur eine individuelle Bedeutung, sondern kann gleichzeitig großen Einfluss auf viele andere haben, zum einen durch seinen Beispielcharakter und die hinterlassenen Zeugnisse, zum anderen kann derselbe auch starke Wirklichkeitsänderungen veranlassen: »So gleicht der Einzelne dem Lichte, das, sich entzündend, zu seinem Teile die Verdunkelung bezwingt. Ein kleines Licht ist größer, ist zwingender als sehr viel Dunkelheit.«47 Diese Einsicht stellt für Jünger einen Wendepunkt in seinem Denken und seinem Werk dar: Seit diesem Einschnitt sucht er die Möglichkeit einer Verwandlung des Elementaren, die er weder in den heroischen Taten des Kriegers noch in den typischen Dynamiken des Arbeiters und in der von ihm durchgeführten totalen Mobilmachung der Welt findet, sondern allein im Herzen des Einzelnen. Diese Verwandlung des Elementaren, die allein im Einzelnen und in den von Jünger später umrissenen Figuren des Waldgängers, des Anarchen und des Sehers48 gelingen kann, geschieht genau in der Integration der Wildnis ins menschliche Handeln und in der Betrachtung der Natur. In dem der Freiheit im Zeitalter der titanischen Vormacht der Technik gewidmeten Essay Der Waldgang (1951) deutet Jünger die Wildnis durch das Bild des Waldes. Wie die Wildnis ist der symbolische Wald überall und bietet die Möglichkeit des inneren Widerstandes: »Wald ist in den Einöden wie in den Städten, wo der Waldgänger verborgen oder unter der Maske von Berufen lebt. Wald ist in der Wüste und im Maquis. Wald ist im Vaterlande wie auf jedem anderen Boden, auf dem der Widerstand sich führen läßt.«49 In der Wildnis erfährt der Mensch seine wesentliche Unabhängigkeit von irgendwelchen zeitlichen und vergänglichen Ordnung und erhält als Vertreter der metaphysischen Gestalt eine Ahnung seiner Unsterblichkeit; durch die Initiationserfahrung des symbolischen Todes, die im Waldgang geschieht, gewinnt er die Sicherheit, dass »jeder Mensch unsterblich [ist] und dass ein ewiges Leben in ihm ist, unerforschtes und doch bewohntes Land, das er selbst leugnen mag, doch das keine zeitliche Macht ihm rauben kann«50. Nun erhält die Wüste einen echten existenziellen und metaphysischen Charakter und die Oasen in der Wüste bekommen einen transzendenten Glanz; die Wildnis zeigt dementsprechend ein paradiesisches Aussehen: 47 Ebd., S. 236. 48 Für eine philosophische Auslegung dieser antagonistischen Figuren des Arbeiters vgl.: Bonesio, Luisa / Resta, Caterina: Passaggi al bosco. Ernst Jünger nell’era dei Titani, Milano 2000. 49 Jünger: Der Waldgang, S. 353. 50 Ebd., S. 370.

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Der Reichtum des Menschen ist unendlich größer, als er ahnt. Es ist ein Reichtum, den niemand rauben kann und der im Lauf der Zeiten auch immer wieder sichtbar anflutet, vor allem, wenn der Schmerz die Tiefen aufgegraben hat. […] Das ist die Ursache seines Durstes, der in der Wüste wächst – und diese Wüste ist die Zeit.51

Die schöpferische Kraft der Wildnis verhüllt sich wesentlich hinter jeder Steigerung der Verwüstung und der nihilistischen Reduktion: die größte Kühnheit des Menschen besteht nicht in dem kriegerischen Übermut, sondern gerade darin, die Wüste des Lebens, d. h. seine Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit zu vertiefen und damit zu verklären. Im letzten Satz der Schrift Der Waldgang taucht die Macht der Wildnis wieder auf: »Wer tiefer gräbt, erreicht in jeder Wüste die brunnenführende Schicht. Und mit den Wassern steigt neue Fruchtbarkeit herauf.«52 Die Tiefe der Wildnis taucht aber auch durch die stereoskopische Beobachtung der Natur auf. Mit dem Schlüsselwort ›Stereoskopie‹ meint Jünger die Fähigkeit, gleichzeitig Tiefe und Oberfläche, Vielfältigkeit und Einheit zu erfassen und daher die Durchsichtigkeit des kristallischen Schussfadens des Wirklichen zu erhellen.53 Der sinnliche Anschein der Naturphänomene gibt den stereoskopisch geübten Augen eine merkwürdige Durchsichtigkeit und lässt sie das am meisten verborgene Niveau der Tiefe – die Wildnis – durchleuchten. Diesen rätselhaften dem analytischen Blick der Wissenschaft versperrten Grund macht die elementare Durchsichtigkeit der Natur, die Kristalltiefe, die sich aber nur in der Projektion der sinnlichen Phänomene offenbart. Die platonische Absicht Jüngers ist, in der stereoskopisch gefassten Gestalt den einheitlichen Sinn der Erscheinungswelt zu erkennen. Die Natur stereoskopisch zu betrachten, bedeutet also, keinen für die Naturwissenschaften typischen Reduktionismus auszuüben, sondern, wie bei dem Blick durch das Stereoskop, den verschiedenen Naturfragmenten jedes Mal einen neuen einheitlichen Sinn zu verleihen und darüber hinaus eine Gestalt in ihnen zu erkennen. Das Sichdurchsetzen dieser Sichtweise als Hauptmittel der Naturbetrachtung bezeichnet, wie sich Jünger selbst bewusst ist, eine stilistische Kehre seines Werkes, die mit dem Text Sizilischer Brief an den Mann im Mond zusammenfällt: Jünger bemerkt selbst, dass sich von diesem Brief aus dem Jahr 1930 ausgehend eine echte stereoskopische Wende seines Stils vollzieht.54 Man könnte vielleicht die stereoskopische Sicht mit dem lateinischen Begriff von perspicuitas verglei51 Ebd., S. 370 f. 52 Ebd., S. 373. 53 Für eine breitere Betrachtung der Stereoskopie Jünger verweise ich auf Gorgone, Sandro: Strahlungen und Annährungen. Die stereoskopische Phänomenologie Ernst Jüngers, Tübingen 2016. 54 Jünger, Ernst: Strahlungen. Tagebücher 1941–1945. Tübingen 1949, S. 166. Dazu vgl. Katzmann, Volker: Ernst Jüngers Magischer Realismus, Hildesheim / NewYork 1975 und Seferens, Horst: »Leute von übermorgen und von vorgestern«. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945, Bodenheim 1998, S. 154–163.

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chen, die zugleich Durchsichtigkeit der Dinge, Klarheit der Darstellung und Offensichtlichkeit bedeutete; das prägnante Verb perspicěre deutet dann verschiedene Tätigkeiten an: mit dem Blick einen Gegenstand durchdringen, etwas erkennen und auch etwas von einem Hintergrund unterscheiden. Die stereoskopische perspicuitas ist daher keine impressionistische Einfühlung, sondern reine und strenge Denkeinsicht, die auf eine ganzheitliche, weder analytische noch synthetische, sondern synoptische Vorstellung zielt, in der der polyphone Einklang der Naturphänomene sich äußern kann. Der Jüngersche synoptische komparative Blick, der mit der physiognomischen Methode Spenglers und der Naturgestaltphilosophie Goethes eng verwandt ist, führt in die harmonische Tiefe der Phänomene durch die Überlagerung ihrer vielfältigen semantischen und symbolischen Niveaus ein. Die stereoskopische Sicht erlaubt daher, die Gestalteinheit, d. h. die Sinntotalität in der Vielfältigkeit der Phänomene zu erblicken; solche Einheit zeigt sich aber in der Naturwelt nicht unmittelbar, sondern durch Typisierungsprozesse, denn der Typus ermöglicht das Erscheinen des Ungesonderten auf der Phänomenaloberfläche: »Im Typus wird das Ungesonderte sichtbar, und zwar dadurch, dass es im Gegenstand erscheint – oder anders ausgedrückt: im Typus sagt das Objekt aus, dass es mehr enthält als seine gesonderte Erscheinung.«55 Nur in der Beobachtung der Natur- und Kulturdynamik der Typisierung kann der Mensch seiner inneren Beteiligung am Gestaltwalten bewusst sein, in dem er darin seine Würde und sein Schicksal findet: »Gestalt besitzt […] auch der Einzelne, und das erhabenste und unverlierbare Lebensrecht, das er mit Steinen, Pflanzen, Tieren und Sternen teilt, ist sein Recht auf Gestalt.«56 Solcher Besitz gilt als geistlicher Vorrat und sicherer Schutz gegen die härteste Probe des Lebens, gegen das entsetzliche Grassieren der Verwüstung und des Nichts; solcher Besitz ermöglicht sogar, wenn notwendig, die höchsten Lebensopfer: Das Leben gilt in dieser Hinsicht nur als Verweis auf die Geltung der Gestalt. Die einsame stereoskopische Betrachtung der Gestalten im Naturreich, in dem sie sich am klarsten zeigen, stellt also die eigentliche Modalität jenes inneren Widerstandes dar, den Jünger zuerst gegen die vernichtende Gewalt des Krieges und dann gegen den technischen Totalitarismus unermüdlich geübt hat. Es geht bei solcher Haltung weder um eine verächtliche Selbstdurchsetzung des Autors gegen seine Zeit noch um eine »Panzerung des Blicks«57 oder um ein »Heroismus der Passivität«58, die eine kalte, gleichgültige und erbarmungslose Betrachtung der Ereignisse ermöglicht und die Erfahrung der geschichtlichen Katastrophe verhindert. Was Jünger in seiner Autorschaft versucht, ist hingegen 55 Jünger, Ernst: Typus, Name, Gestalt, in: Sämtliche Werke, Bd. 13, S. 168. 56 Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 41. 57 Vgl. Lethen, Helmuth: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuch zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994. 58 Vgl. Herf, Jeffrey: Ernst Jünger’s Magical Realism, in Ders.: Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and Third Reich, Cambridge 1984, S. 70–108.

Natur und Wildnis in der ›Konservativen Revolution‹

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eine mühselige Übung des Schauens, die sich am deutlichsten in den subtilen Jagden der entomologischen Forschungen zeigt. In diesem Forschungsbereich wird die geistige Freiheit des einzelnen Menschen in jeder geschichtlichen Lage geschützt und genährt, sodass seine metaphysische Verwurzelung in der Wildnis anschaulich wird. Was Jünger in seinen unermüdlichen Naturbeobachtungen stereoskopisch sucht, ist genau das Durchscheinen der Wildnis in der Oberfläche der Phänomene; solch ein stereoskopisches Durchscheinen drückt sich emblematisch in der Hauptfrage der Verschwendung des Vergänglichen aus: Der Überfluss einer Quelle, die erbarmungslos zur Vernichtung auserkoren ist, ist genau das, was wir schon als geheimnisvollen Kern der Wildnis herausgearbeitet haben. Diese Frage nach der Verschwendung des Vergänglichen kann somit letztlich als die Hauptfrage gekennzeichnet werde, in der Jünger der Natur am tiefsten begegnet ist. Sie wird meisterhaft in der Schrift Das spanische Mondhorn behandelt. Diese zentrale Frage kann nicht befriedigend, wie es die Philosophieüberlieferung will, durch den Zusammenhang zwischen dem Opfer des Individuums und der Arterhaltung beantwortet werden (ein klares Beispiel dafür sind die Überlegungen Schopenhauers über die Todesangst)59. Die einzige Antwort kann nur in der Richtung gefunden werden, auf die die letzten Verse von Goethes »Faust« hinweisen: »Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis.«60 Die Vergänglichkeit zeigt sich als Spielart der Tiefe, als Symbol, als stereoskopische Durchsichtigkeit der zeitlosen Tiefe der Wildnis auf der zeitlichen Oberfläche der Welt und als zeitliche Ausstrahlung des Zeitlosen: Erfüllung liegt außerhalb der Zeit; sie ist dem Augenblick näher als den Jahrtausenden. […] Der Augenblick ist näher als das Jahrhundert an der Ewigkeit. Er kann sich zu immer größerer Gewalt erheben und endlich Zeit und Dauer überhaupt vernichten im endgültigen Triumph. Da solches außerhalb der Zeit liegt, kann es in ihrem Rahmen nur durch Gleichnisse begriffen werden: wir schließen auf ein Unbekanntes, indem wir Sichtbares gebührend wahrnehmen.61

Der Mensch kann immer nur die Spur und die Schatten des Wunderbaren62 erblicken, aber nie seine Fülle erfahren. Der prächtige Flug der Käfer ist also nur ein Gleichnis des unsichtbaren Wunders der Natur, des unendlichen Aufgehens von imagines. Alle sichtbaren Gestalten sind nur Zeugnisse der gestaltbildenden Kraft der Natur; in ihrem Auf- und Untergehen spielen sie ihre tragische Zeugenfunktion eines Unvergänglichen: »Alle sichtbaren Bilder sind Brandopfer, sind Dienst im Umgang vor einem unsichtbaren Bild.«63

59 60 61 62 63

Vgl. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig 2018. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust II , Akt V, vv. 12104–12105. Jünger, Ernst: Das spanische Mondhorn, in: Sämtliche Werke, Bd. 13, Stuttgart 1981, S. 61. Vgl. ebd., S. 68. Ebd., S. 70.

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Dem Menschen und seinen Werken und Kunstwerken ist die Aufgabe übertragen, das unerschöpfliche Entstehen und Sichabwechseln von imagines auf der Bühne der Welt und der Natur zu bewundern und zu bezeugen.64 Die Mannigfaltigkeit und die Pracht der imagines gehören wie Blüten zum Festschmuck des Lebensfrühlings; sie können sich der Gefräßigkeit von Chronos entziehen und auf zeitlose Ordnungen verweisen, weil ihre flüchtigen Erscheinungen der Hochzeit, d. h. der hohen, festlichen Zeit gehören, in der verschwendet, gesungen, getanzt und außerordentlich getrunken und gegessen wird, in dem Weihen gespendet werden und eine Stunde ein ganzes Leben aufwiegen kann.65

64 Vgl. ebd., S. 72 f. 65 Vgl. dazu das Kapitel Figaros Hochzeit in Annährungen, in: Sämtliche Werke, Bd. 13, S. 277–291.

Grzegorz Kowal, Wrocław

Ist Friedrich Nietzsche der legitime Vordenker der ›Konservativen Revolution‹? Zu Ernst Jüngers Essay Der Kampf als inneres Erlebnis

1 In der Zwischenkriegszeit hat der polnische Kritiker und Übersetzer Tadeusz Boy-Żeleński die These gewagt, Friedrich Nietzsche sei wie eine Mutter, die noch viele Kinder zu stillen vermag. Seine Ansicht speiste sich aus handfesten Fakten: Nietzsches Gedankengut, der Kosmos seiner Ideen, war richtungsweisend für die Psychoanalyse, den Expressionismus und die Hermeneutik. Zugleich offenbarten seine Ansichten ihre prophetische Kraft, den bisherigen Jüngern Nietzsches schlossen sich im Laufe der Jahre weitere Gruppen an, unter ihnen Vertreter der konservativen und nationalsozialistischen Revolution, Begründer und Befürworter von Existenzializmus, Poststrukturalismus und Dekonstruktion. Das alles mag nicht wundern. Sowohl der metaphorische Sprachstil des Zarathustra, die literarische Form, derer sich sein Autor gerne und oft bediente (Aphorismus), als auch die Spannbreite der Themen, denen er sich zuwandte, lassen sein Werk zu Recht als wahre Fundgrube für mannigfaltige und divergierende Strömungen erkennen. Nietzsches Wirkung war dabei im doppelten Sinne des Wortes extrem (nicht zu verwechseln mit politischem Extre­mismus). Einerseits erwiesen sich seine eigenartigen Visionen und Diagnosen als scharf, tief, vielfältig und nachhaltig, andererseits als widerspruchsvoll, polarisierend, provozierend, kontrovers und radikal. Auf der einen Seite leistete er einen durchaus wertvollen Beitrag zur Kultur, auf der anderen war sein Name verrufen, sogar verdammt, insbesondere im Kontext seiner vermeintlichen »gedanklichen Nähe zum Hitlertum«1. Wenn man im Falle der Gedankenführung Nietzsches von einer bestimmten, wenn nicht weitgehenden Offenheit, die viele Fragen zulässt und neue Interpretationen erst ermöglicht, sprechen darf, so muss man auch betonen, dass ihn dies nicht nur attraktiv für den kulturellen Transfer, sondern auch anfällig für politische Vereinnahmungen machte. Das, was sich noch 1932 als zu naiv ablehnen ließ: »Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen«2, wurde von der Realität im ›Dritten Reich‹ eingeholt. Die Nazis suchten nach der philosophi1 Riedel, Manfred: Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama, Leipzig 2000, S. 235. 2 Tucholsky, Kurt: Vom Wesen des Tragischen, Die Weltbühne 1932, Nr. 2, S. 54.

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schen Untermauerung ihrer chauvinistischen, imperialistischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Ideologie und fanden sie beim die Herankunft des Übermenschen verkündenden Nietzsche. In der Forschung spricht man deshalb von einem der größten geistigen Missbräuche im 20. Jahrhundert überhaupt.3 Dem Einsiedler von Sils-Maria fiel die Rolle eines Sündenbocks zu, eines Mitverantwortlichen für Shoah, in deren Folge man ihn postfaktisch – wie es in einer Karikatur zu sehen war4 – während der Nürnberger Prozesse auf die Anklagebank zwischen Hermann Göring und Rudolf Hess gesetzt hat. Die Frage, wieviel Hitler in Nietzsche sei (oder auch umgekehrt: wieviel Nietzsche in Hitler sei), schien deshalb nur auf den ersten Blick ernst gemeint zu sein. In Wirklichkeit drückte sich darin die Absurdität der These der ungebrochenen Kontinuität des deutschen Nationalismus von Nietzsche zu Hitler aus, vom Verkünder des Übermenschen zur Verkörperung des letzten Menschen. Schließlich stand »Hitlers Politik […] in direktem Gegensatz zu allem, was Nietzsche je gelehrt hat«5. Auf jeden Fall sollte man Ursachen nicht mit Wirkungen verwechseln, »nicht […] glauben, dass Nietzsche den Faschismus gemacht habe, sondern der Faschismus ihn«6. Am Rande sei hier bemerkt, dass sich die ›braunen‹ Bezugnahmen auf Nietzsches Ideen als diejenigen erwiesen haben, die er vorausge­ sehen und vor denen er gewarnt hatte: »Meine Feinde sind mächtig worden und haben meiner Lehre Bildnis entstellt, also, dass meine Liebsten sich der Gaben schämen müssen, die ich ihnen gab.«7 Die flüchtige Darstellung der verwickelten und verwirrenden Rezeptions­ geschichte Nietzsches mag an dieser Stelle genügen. Ein teilweise vergleichbares Interpretationsschema lässt sich auf den geistigen Nährboden der ›Konservativen Revolution‹ hin anwenden. Zum einen sollte das Gewebe der dicht miteinander verwobenen Fäden, die von Nietzsche über Jünger zur ›Konservativen Revolution‹ führen, analysiert werden. Zum anderen drängt sich die Frage auf, inwieweit die Anleihen, die Protagonisten der ›Konservativen Revolution‹, einschließlich Jünger, beim »Ahnherrn«8 Nietzsche genommen haben, begründet und berechtigt waren. Wieviel Nietzsche steckt in der ›Konservativen Revolution‹? Hat man hier nicht erneut mit einem Missverständnis, wenn nicht 3 Bei Rüdiger Safranski heißt es: »Dass man Zarathustra aber auch anders [als im Rahmen der nationalistischen Gesinnung, G. K.] verstehen konnte, zeigt Hermann Hesses 1919 erschienene Schrift Zarathustras Wiederkehr. Hesse erinnert an den empörenden Missbrauch, der mit Nietzsche, insbesondere mit seinem Zarathustra, getrieben worden sei« (Safranski, Rüdiger: Nietzsche. Biographie seines Denkens, München 2000, S. 344 f.). 4 Vgl. Taureck, Bernhard H. F.: Nietzsche und der Faschismus. Eine Studie über Nietzsches politische Philosophie und ihre Folgen, Hamburg 1989, S. 83. 5 Riedel, Nietzsche in Weimar. S. 84. 6 Mann, Thomas: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, Berlin 1948, S. 39. 7 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 4: Also sprach Zarathustra, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 106. 8 Kaufmann, Sebastian u. a.: Nietzsche und die Konservative Revolution: Zur Einführung, in: Dies. (Hg.), Nietzsche und die Konservative Revolution, Berlin / Boston 2018, S. 7.

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gar mit einer langen Reihe von Missverständnissen zu tun? Die Rückführung dessen, was den konservativen Revolutionären vorgeschwebt hat, auf Nietzsches Lebensphilosophie scheint zur Geschichte der Entstellungen zu gehören, in der Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Ihr ist es gelungen, ihren lieben »Fritz« zu einem Kriegsphilosophen zu stilisieren und somit den politischen, in erster Linie rechtsorientierten Bezugnahmen auf ihn den Weg zu ebnen. Und auch wenn Nietzsches Interesse am Kriegsphänomen einigermaßen ambivalent war, so trat bei ihm unverkennbar dessen metaphorische Bedeutung in den Vordergrund. Außer dass er ihn als »insbesondere […] geistiges Ringen«9 verstand, vermochte er dem realen Krieg irreversible Schäden nüchtern zu attestieren. Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass »Jahr aus Jahr ein die tüchtigsten, kräftigsten, arbeitsamsten Männer in ausserordentlicher Anzahl ihren eigentlichen Beschäftigungen und Berufen entzogen werden, um Soldaten zu sein«. Seine Ausführungen schloss er mit der rhetorischen Frage, ob sich die Kriegsführung lohne, wenn »dieser groben und buntschillernden Blume der Nation alle die edleren, zarteren, geistigeren Pflanzen und Gewächse, an welchen ihr Boden bisher so reich war, zum Opfer gebracht werden müssen«10. Einige Tage vor seiner geistigen Umnachtung hingegen wiederholte er mit Nachdruck: »Ich bringe den Krieg. Nicht zwischen Volk und Volk: ich habe kein Wort, um meine Verachtung für die fluchwürdige Interessen-Politik europäischer Dynastien auszudrücken, welche aus der Aufreizung zur Selbstsucht Selbstüberhebung der Völker gegeneinander ein Prinzip und beinahe eine Pflicht macht.«11 Nietzsche fand im Krieg eine griffige und bildliche Denkkategorie. In ihm sollte sich das äußern, was man (höchst) persönlich heraufbeschwört, was innerhalb der menschlichen Gewalt liegt. Laut Nietzsche weisen Kriege das geistige und emotionale Potenzial auf, ihre politische Ausrichtung ist hingegen ausgeschlossen. Dafür, dass der Philosoph militärische Kriege verneinte, sprachen mehrere Gründe. Zum einen tragen diejenigen, die sie erklären, sie nicht aus; zum anderen werden sie den allermeisten aufgezwungen, wobei nur die allerwenigsten über sie entscheiden. Die fragwürdigen Aktivitäten von Elisabeth Förster-Nietzsche wurden mittlerweile reichlich dokumentiert und analysiert, wobei die Welt davon sehr spät, erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr. Der Besitz der Urheberrechte verlieh ihr große Macht, die sie dazu nutzte, die (Einzel- und Gesamt-)Ausgaben der Werke ihres Bruders zu monopolisieren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhun9 Niemeyer, Christian: Krieg, in: Nietzsche-Lexikon, hg. v. Christian Niemeyer, Darmstadt 2009, S. 186. 10 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches I und II , hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 315 f. 11 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 13: Nachlaß 1887–1889, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 639; Hervorhebung im Original.

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derts waren hauptsächlich die von ihr verfälschten Schriften in Umlauf. Unter ihnen stachen hervor: Ecce homo mit zahlreichen Auslassungen, insbesondere von die Familie diffamierenden Stellen, und willkürlichen Ergänzungen, in erster Linie von Fragmenten, die sich der Entdeckung der nationalen Seele Nietzsches verschrieben; Der Wille zur Macht, ein Werk, das der Philosoph zwar nie geschrieben hatte, das jedoch bis heute unter seinem Namen herausgegeben wird, und im Endeffekt eine Kompilation von beliebig ausgewählten Aphorismen bildet, deren Ziel es ist, den Anschein zu erwecken, es handle sich hierbei um eine zentrale Kategorie Nietzsches, die nur »im Sinne des – auf kriegerische Zwecke hinweisenden  – Interesses«12 verstanden werden sollte; Also sprach Zarathustra in der Kriegsausgabe aus dem Jahre 1918, die ein zusätzliches, vierseitiges, im Original nicht vorkommendes Kapitel mit den nur dem Krieg gewidmeten Aphorismen enthielt. Die Selbststilisierung Elisabeth Försters zur einzig legitimen und dabei zuverlässigen Hüterin des Erbes ihres Bruders schläferte die Aufmerksamkeit der Nachwelt ein. Man nahm an, die in Italien, Deutschland und der Schweiz zerstreuten und inzwischen glücklich aufgefundenen, akribisch bearbeiteten und zum ersten Mal veröffentlichten Handschriften Nietzsches blieben Extrakte seiner Lehren. Folglich liegt die Vermutung nahe, dass auch Ernst Jünger dem Betrug zum Opfer fiel. Trug auch er gegen Kriegsende in seinem Tornister – neben »François Villon und dem Simplicius Simplicissimus«13 – »die berühmt-berüchtigte Kriegs-Ausgabe von Zarathustra«14? Dass die einschlägige Forschung die starke These vertreten kann, dass es 1914 ›weltweit‹ zu einem ›Einschnitt in der historischen Genese des Nietzsche-Bildes‹ gekommen sei, der im Wesentlichen an den Befund geheftet wird, dass Nietzsche nun als ›Philosoph des Ersten Weltkrieges‹ gelesen wurde, lag vor allem an ihr [Elisabeth Förster, G. K.]: Sie war es, die Nietzsche immer wieder und in zustimmender Weise mit Krieg im wortwörtlichen Sinne in Verbindung brachte und systematisch als (deutschen) Kriegs-Philosophen las bzw. aufbereitete, so dass selbst noch nach dem (Ersten) Weltkrieg aus dem Umfeld des Weimarer Nietzsche-Archivs ungerührt verlautete, Nietzsche habe eher mit Freudigkeit denn mit Trauer ein ›neues kriegerisches Zeitalter‹ prognostiziert, ›innerlich erhoben‹ im Hinblick auf die ›befreienden […] Wirkungen‹ des Krieges.15

Zarathustra trägt den Untertitel: Ein Buch für Alle und Keinen. Zu welcher Gruppe der Leser lässt sich Jünger rechnen? Hatte er die Einsicht in die verschlüsselte Geschichte des persischen Religionsstifters gewonnen, oder vermochte er aus ihr nur den groben Aufruf zur körperlichen Zucht herauszulesen? 12 Niemeyer, Krieg, S. 189. 13 »Man zog über das Grausige hinweg mit genagelten Stiefeln, ehern und blutgewohnt, den François Villon und den Simplicius Simplicissimus im Tornister« (Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1926, S. 16). 14 Niemeyer, Krieg, S. 189. 15 Niemeyer, Krieg, S. 188.

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Zu den Irrwegen der Interpretation, auf die der genannte Untertitel verwies, äußerte sich Nietzsche einige Jahre später im autobiografischen Ecce homo: Als sich einmal der Doktor Heinrich von Stein ehrlich darüber beklagte, kein Wort aus meinem Zarathustra zu verstehn, sagte ich ihm, das sei in Ordnung: sechs Sätze daraus verstanden, das heisst: erlebt haben, hebe auf eine höhere Stufe der Sterblichen hinauf als ›moderne‹ Menschen erreichen könnten.16

2 Es wäre ratsam, die Lebenswege von Jünger und Nietzsche vor dem Hintergrund des Krieges darzustellen und zu vergleichen. In Jüngers Leben und Werk nahm der Krieg eine zentrale Stellung ein, die des »Kriegsgottes«17. Dieses Selbstverständnis lässt sich auf einige Fakten zurückführen. Unter den prominentesten ›Konservativen Revolutionären‹ war »das Kriegserlebnis […] nur bei Jünger wirklich aus ›erster Hand‹«18. Er nahm an zwei Kriegen teil, die keine gewöhnlichen Kriege, sondern Weltkriege waren. Er erlebte sie aus unmittelbarer Nähe, an der Front, im Angesicht des Todes. Alles in allem ist der Krieg an ihm im doppelten Sinne nicht spurlos vorübergegangen. Einerseits wurde er ein Dutzend Mal verwundet, sein Körper, genauer genommen, seine Narben wurden zum Träger der Erinnerungen an den Krieg; andererseits prägte der Krieg ihn in vielerlei Hinsicht, darunter als Menschen, Denker, Verfasser und Befürworter der ›Konservativen Revolution‹. Dass sich nahezu sein ganzes Leben um die Ereignisse an der Front drehte, kann nur im Kontext einer Traumatisierung durch den Krieg verstanden werden. Dass er zum anerkannten Vertreter der ›Konservativen Revolution‹ wurde, der den Krieg zu rechtfertigen und in sein Weltbild zu integrieren suchte, lässt sich nur im Prisma seines im Krieg auf die Probe gestellten Kampfgeistes nachvollziehen. Jünger wäre wohl am besten dazu berufen, Nietzsches Worte als eigene zu verkünden: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.«19 Noch deutlicher werden die genannten Zusammenhänge anhand konkreter Zahlen. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, war Jünger fünfzig. Da die beiden Weltkriege insgesamt zehn Jahre dauerten, hat er als Soldat und Offizier bis dahin genau ein Fünftel seines Lebens geopfert. Geopfert, nicht verschwendet, 16 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6: Ecce homo, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 298 f.; Hervorhebung im Original. 17 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 22. 18 Beyme, Klaus von: Konservatismus. Theorien des Konservatismus und Rechtsextremismus im Zeitalter der Ideologien 1789–1945, Wiesbaden 2013, S. 234. 19 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 60; der zitierte Aphorismus trägt den Titel: Aus der Kriegsschule des Lebens.

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denn Jünger neigte in seinen Berichten dazu, den Krieg an sich zu bejahen, ihm eine quasi sakrale Dimension zu verleihen. Er schenkte dem Krieg zehn Jahre seines Lebens, während dieser ihn zu seinem Auserwählten, Eingeweihten machte. Als andere in der Rückblende darüber klagten, die besten Landsleute oder die fruchtbarsten Jahre in der Kriegszeit verloren zu haben, fand Jünger im Krieg die mythisch anmutende, in der westlichen Zivilisation abhandengekommene Einheit (vor allem mit der Natur, den Ahnen und den Toten) wieder. Sollte das Kriegsgeschehen darüber hinaus auch das Böse manifestieren, so ging es darum, es fruchtbar zu machen, es in den ewigen Kreislauf der Dinge einzubeziehen, es als Vorbedingung, die kreativen Kräfte zu entfesseln, anzusehen. Einer solchen Perspektive stand etwa Manès Sperber entschieden entgegen, der im Rückblick auf die Vor- und Nachkriegszeit verbittert feststellte: »Die provisorische Existenz hatte zwölf Jahre gedauert – Jahre, die in meinem Leben die besten hätten sein müssen.«20 Mit Blick auf Nietzsche präsentiert sich dieser Sachverhalt etwas komplizierter. Auch wenn dem Dichter des Zarathustra die Wiederherstellung der verlorengegangenen Einheit ebenfalls am Herzen lag, so war er bestrebt, sie nicht durch den Krieg zurückzugewinnen. Die uns in diesem Kontext interessierende Parallele zwischen Nietzsche und Jünger betrifft die Aktivierung des Menschen. Für Jünger stellte gerade der Krieg ein herausforderndes Moment dar, das den Menschen bekräftigen, kraft dessen man Hindernisse des Lebens und Schicksalsschläge überwinden solle. Demgegenüber entwickelte der 1900 verstorbene Philosoph die Konzeption des Willens zur Macht, der – in kleinerer Skala – in gewöhnlichen, routinierten Handlungen des Alltags obwaltete.21 Im Groben waren sich die beiden Denker einig, im Einzelnen hingegen unterschieden sie sich weit voneinander. Beiden zufolge braucht der Mensch stets etwas, was ihm Widerstand leistet, ohne eine solche Widerständigkeit der Welt entsteht die Gefahr der Stagnation. Gleich dem Übermenschen behauptet, mehr noch, konstituiert er sich, indem er das Bisherige überwindet. Fehlen um ihn herum oder in seinem Innern korrekturbedürftige Unzulänglichkeiten, so erlahmt seine aktive und kreative Potenz. Das vergleichbare Ziel Nietzsches und Jüngers, dem Menschen eine aktive Rolle in der Gestaltung der Zukunft abzuverlangen, soll nicht über Unterschiede zwischen beiden Denkern hinwegtäuschen. Aktive Kräfte freizulassen, bedeute – darin waren sie sich noch einig – schöpferisch zu sein. Und schöpferisch konnte nur derjenige werden, der auf dem Weg zum Neuen dazu fähig war, das Vorhandene zu zerstören, der dazu bereit war, das Alte aufzuopfern. Darin lag der Sinn des von ihnen gepriesenen Heroismus. Doch verorteten sie den heroischen Menschen unterschiedlich. Während für den Pour-le-Mérite20 Sperber, Manès: All das Vergangene … Die Wasserträger Gottes. Die vergebliche Warnung. Bis man mir Scherben auf die Augen legt, Wien 1983, S. 888. 21 »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 147 f.).

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Träger die Heroik auf den Schlachtfeldern aufblühte, erkannte sie der körperlich eher schwache Nietzsche in unterschiedlichen Ausprägungen des Alltags. Den genannten Standpunkt teilte einer seiner polnisch-jüdischen Leser mit dem kränklichen Nietzsche: Janusz Korczak war der Ansicht, der Held solle auf die Außenwelt nicht mit dem Argument der Kraft, sondern mit der Kraft der Argumente einwirken. Nicht das Schlachtfeld solle sein Element sein, sondern das Leben alleine. Im Grunde genommen weisen in Korczaks Augen alle, die sich bereit erklären, für das Vaterland zu fallen, eine Charakterschwäche auf, denn in der Wahl des verfrühten Todes manifestiert sich die Flucht vor dem Leben, vor dessen Last und Eintönigkeit. Die Bezeichnung als wirkliche Helden verdienen hingegen diejenigen, die den alltäglichen Kampf aufnehmen. Der metaphorisch verstandene Feind wandelt sich somit in die vielköpfige Hydra, zu Widrigkeiten des alltäglichen Lebens können Krankheiten samt unterschiedlicher Süchte sowie auch Zeitgeist, schwierige Lebenslage, harte Arbeit, Einsamkeit, Ausgrenzung, »lange Gewohnheiten«22 oder unglückliche Liebe gezählt werden. Dadurch dass man kämpft, hat man schon gewonnen – diese Worte stammen zwar nicht von Nietzsche, aber sie muten sehr Nietzscheanisch an. Ihren Sinn fasst Korczak zusammen: »Zwar ist Heldentum zum Tod nicht schwer, aber dieses tropfenweise Tag für Tag, Stunde um Stunde, diese beständige, andauernde Anstrengung verlangt fast mehr als Heldentum …«23 Zur Gruppe der richtigen Krieger wäre für Nietzsche und Korczak beispielsweise Stephen Hawking zu zählen, der sein Bestsellerbuch, Eine kurze Geschichte der Zeit, schon im Rollstuhl, lahmgelegt durch Multiple Sklerose, verfasste. Den Heroismus ordnete Nietzsche dem Alltag zu. Zu seinem auslösenden, initiierenden Moment gehörte nicht der militärische Krieg, sondern der in der Kultur ausgetragene Kampf. Die Kultur, die sich gleich dem Nietzscheschen Bild der Wüste in der Phase des Verfalls befand, sollte mit neuen Impulsen zur Wiedergeburt aufgeweckt werden. Dabei waren jedoch selten Krieger gefragt, eher kulturstiftende Genies. Am Rande sei hier bemerkt, dass die Heraufkunft der Übermenschen nicht alleine Zukunftsprojektion war. Zwar schuf erst der Tod Gottes einen Freiraum, der ihr künftiges Erscheinen ermöglichte, doch waren sie laut der Idee der ewigen Wiederkehr schon immer da; folglich ging es allein darum, die ihre Wiederkunft begünstigenden Umstände vorzubereiten. Wenn Übermenschen schon einst existierten und wenn Nietzsche sie sogar ab und zu beim Namen erwähnte, so entstammten sie in den meisten Fällen der Kunst (Cäsar, Napoleon und Christus bilden Ausnahmen). Die Heraufkunft der Übermenschen bleibt zwar eine politische Angelegenheit, sie haben sich jedoch zugleich von der Welt der Politik fernzuhalten. Den Rang des Übermenschen, 22 Nach Nietzsche wären nur »kurze Gewohnheiten« zu dulden (Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3: Fröhliche Wissenschaft, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 535). 23 Beiner, Friedhelm: Themen seines Lebens. Kalendarium: Werk-Biographie, Bd. 16: Janusz Korczak. Sämtliche Werke, Gütersloh 2010, S. 211.

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der die »schenkende Tugend« verkörpert und der die passive Rolle des Geschöpfs der Geschichte gegen eine aktive Rolle des Gestalters der Zeit tauscht, verdienten sich in Nietzsches Augen beispielsweise da Vinci, Shakespeare, Goethe, Schopenhauer oder Wagner. »Was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst antipolitisch«24  – diese Worte Nietzsches verheißen die neue Akzentsetzung. Die politisch motivierte Wendung zum Nationalstaat soll zugunsten der Erziehung zur Freiheit an Bedeutung verlieren: »keine gelehrte Erziehung, keine patriotische Einklemmung, kein Zwang zum Brod-Erwerben, keine Beziehung zum Staate – kurz Freiheit und immer wieder Freiheit«25. Die Ideen des Übermenschen, des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen müssen im Kontext des Nihilismus gesehen werden. Die sich hier aufdrängende Frage lautet: Wie sah das Verhältnis von Nietzsche und Jünger zum Nihilismus aus? Eines steht dabei fest, dass Nietzsche ihn anders als Armin Mohler in der kanonischen Studie Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932 verstand. Mohler gab Hermann Goldschmidt folgend an: »Unter Nihilismus ist zu verstehen: der Glaube und die Erkenntnis, dass hinter allen Glaubensinhalten, Erkenntnisinhalten und Werten nichts steckt, und der Wille, alle Glaubensinhalte, Erkenntnisinhalte und Werte auf dieses Nichts zurückzuführen.«26 Zwar schreibt Nietzsche im Kontext der Überwindung des Nihilismus von der Notwendigkeit einer Umwertung aller Werte – schließlich haben sich laut ihm die obersten Werte entwertet und die dürftigsten glänzen in voller Pracht, doch erlangt sein Verständnis des Nihilismus, dem er in seinen genealogischen Studien auf den Grund geht, eine tiefere Bedeutung. Der Nihilismus hängt nämlich mit dem Wollen eng zusammen. Paradoxerweise entlarvt sich als nihilistisch nicht jemand, der nichts will, sondern jemand, der nicht will, der den Willen aufgegeben hat. Schließlich ist im ersten Fall der Wille vorhanden, selbst wenn das der Wille zu nichts ist, im zweiten hingegen ist der Wille (also der Antrieb von allen Prozessen im Kosmos) ganz erloschen. Hier kommt noch einmal die Nietzschesche Metapher der Wüste zur Hilfe, die zwei Perspektiven bildhaft vereinigt. Sie bleibt seine Antwort auf den Nihilismus als Agonie und somit auf Prozesse, denen man passiv beiwohnt, die sich ohne Anteil- und Einflussnahme des Menschen vollziehen. Die Wüste stellt nicht einen Ort, sondern einen Zustand dar. Sie versinnbildlicht den Verfall der Kultur, gleichzeitig ermöglicht und erfordert sie jedoch die totale Erneuerung. Nietzsches Philosophie des aktiven Nihilismus setzt voraus, dass nur derjenige aufbauen kann, der zuvor vernichtet hat. »Und nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen.«27 24 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 106; Hervorhebung im Original. 25 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1: Unzeitgemäße Betrachtungen, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 411. 26 Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1919–1932. Ein Handbuch, Darmstadt 1989, S. 92. 27 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 145.

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»Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit.«28 Dieses Zitat aus dem Zarathustra widerspricht der nächsten These Mohlers. Umstritten ist in diesem Fall die Stelle über die Freiheit: »Der Mensch möchte sich von etwas in sich selbst befreien und kommt doch nicht davon los.«29 Laut Nietzsche ist es höchste Zeit, bei der Frage nach einer Befreiung radikal umzudenken. Es geht nicht darum, sich von etwas oder jemandem loszulösen, stattdessen gilt es zu fragen, wozu man es tut. Und der Prophet des Übermenschen lässt nicht lange auf die Antwort warten: Man befreit sich zur Überwindung. Solange man überwindet, ist man Mensch. Wie schon zuvor angedeutet, lagen Nietzsches und Jüngers Kriegsbild fundamental andere Erfahrungen zugrunde. Der philosophierende Dichter erlebte zwar ebenfalls zwei Kriege, teilgenommen aber hat er nur an einem. Sein erstes »Stahlgewitter« (zwischen Preußen und Österreich) entlud sich zwar, als er nicht viel älter als der Soldat Jünger war, in seinen ersten und zugleich letzten Krieg (1870) zog er jedoch erst als 26-jähriger Universitätsprofessor. Sein Verhältnis zu Waffenkriegen, das von seinem Freundeskreis beeinflusst und von der Länge und dem Charakter seiner Dienstzeit geprägt war (zuerst 1867/68 die Erfüllung der Dienstpflicht, zuletzt 1870 der Krankenpflegerdienst während des deutsch-französischen Krieges), wies auffallende Unterschiede auf. Man muss zunächst betonen, dass der Waffenkrieg zwischen Preußen und Frankreich sich ebenso stark auf das Bewusstsein der Zeitgenossen auswirkte wie der lange Krieg 1914–1918. Beide Kriege zogen umwälzende Einschnitte in der sozial-politischen Dimension nach sich. Die Jahre 1870/71 zeigten, dass militärische Konflikte nicht mehr den Interessen der Herrscherhäuser entsprachen und dienten. Die Nationalstaaten lösten fortan die alten Dynastien ab. Das Jahr 1918 leitete hingegen Modernisierungsprozesse ein, übrigens nicht nur im militärischen, sondern auch im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich. Der endgültige Zusammenbruch von Monarchien und Kolonialmächten übertrug sich u. a. auf die Beschleunigung der Emanzipation von Frauen, den Ausbau der Sozialstaaten, die Entwicklung der Massenmedien und Massenkultur und die Liberalisierung der Sitten. Bei der ersten Musterung im Jahre 1864 wurde der Gymnasiast Nietzsche trotz eines Sehfehlers für diensttauglich erklärt. Der Dienst war obligatorisch, jedoch stand die Entscheidung, zu welcher Zeit man ihn antrat, einigermaßen frei. Da dem frisch gebackenen Absolventen der Schule in Pforta die Universität lieber als die Kaserne war, ging er nach Bonn und studierte dort klassische Philologie und Religion. Wie weit die militärische Geschichte Deutschlands und das Leben Nietzsches auseinanderdrifteten, zeigte wohl am deutlichsten das Jahr 1866: Auf den preußisch-österreichischen Krieg reagierte er nicht mit dem Einzug des patriotisch Gesinnten, sondern mit dem Wechsel des Studienortes nach Leipzig. Davon, dass er für die Armee alles andere als geschaffen war, 28 Ebd., S. 111. 29 Mohler, Die Konservative Revolution, S. 91.

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konnte er sich 1868 selbst überzeugen. Einberufen als Einjährig-Freiwilliger musste er sein Studium unterbrechen, doch vergingen keine fünf Monate, bis er seinen Artilleriedienst infolge eines Reitunfalls abbrechen musste. Zwar gelang es Nietzsche, sich von dem zugezogenen Brustmuskelriss zu erholen, doch begleiteten die gesundheitlichen Probleme, die einsetzen, ihn lebenslang. Eine gewisse Parallele dazu bildete Nietzsches Teilnahme am deutsch-französischen Krieg. Nachdem er sich gegen den Rat des Ehepaars Wagner zum Krankenpflegedienst gemeldet hatte, erkrankte er an Ruhr und Rachendiphterie. Die Geschichte wiederholte sich: Seine Rekonvaleszenz zog sich viel länger hin, als sein Einsatz dauerte. Nachdem Nietzsche kaum eine Woche lang die Verletzten gepflegt hatte, musste er monatelang selbst in Pflege genommen werden. Dies veranlasste einen der Biografen Nietzsches zu folgendem Kommentar: Die Erkrankung muß nicht sehr bösartig gewesen sein, denn trotz der damals doch noch recht mangelhaften medizinischen Mittel war der Patient nach einer knappen Woche, am 14. September [1870], schon so weit, dass er zur Erholung nach Naumburg reisen konnte, wo er sich bis zum 21. Oktober pflegen ließ. Trotz dieser Kürze des unmittelbaren Kriegserlebnisses waren die Eindrücke nachhaltig und ernüchternd. Nicht Siegerglanz und Heldenpathos, sondern Schmutz und Elend und eine un­ verantwortliche Gefährdung menschlicher Existenz mußte er sehen. Ihm nahestehende Menschen standen in diesem tückischen Feuer, manche waren schon gefallen, sinnlose Opfer eines sinnlos-frevelhaften Übermutes geworden, ruhten sie in fremder Erde.30

Zusammenfassend lässt sich Folgendes feststellen: Während zu Lebzeiten des erwachsenen Nietzsche zwei Kriege stattfanden, nahm er nur an einem aktiv teil. Auch beschränkte sich seine Bewaffnung auf das Verbandszeug, ihm wurde nicht der Graben an der Frontlinie zum Domizil, sondern der Spitalzug. Auch führte nicht die übliche Verwundung, sondern eine eher unspektakuläre Infektion zu seiner Freistellung. Von den 200 Tagen, die die Kampfhandlungen von 1870/71 dauerten, wirkte der Basler Professor knappe fünf Tage mit. Der Krieg als Denkfigur lässt sich zwar aus seiner Philosophie nicht wegdenken, aber es wäre genauso falsch, von den hier angeführten bescheidenen Zahlen und unwiderlegbaren Fakten abzusehen und ihnen zum Trotz den realen Krieg von und bei Nietzsche hochzuspielen. Durch die geringe Bedeutung, die der reale Krieg für Nietzsches Leben spielte, ergab sich der niedrige Rang, der ihm in seinem Werk zukam. Hierin unterscheidet sich Nietzsche von Jünger gewaltig. Der Autor von In Stahlgewittern und der Krieg bilden eine Art Symbiose. Ohne Krieg wäre er nicht derjenige geworden, der er war: »Ich habe mich sehr verändert durch den Krieg.«31 Dank ihm wurde er zum gefeierten Helden und Bestsellerautor. Im Krieg fand er das Hauptthema und Hauptmotiv seiner Romane und Essays, den 30 Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Biographie, München u. a. 1993, Bd. 1, S. 578. 31 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 77.

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Materialschlachten verdankte er sein schriftstellerisches Profil. Insofern brachte ihm der Krieg – neben Grenzerfahrungen – nicht nur den weltweiten Ruhm, sondern zugleich lebenslang hohe Tantiemen. Dies begründet die These, dass Jüngers Absichten darauf hinausliefen, »den bestehenden gesellschaftlichen Zustand kämpferisch zu überwinden«. Diese konservativ-revolutionäre Haltung, die übrigens auch andere verinnerlichten, resultierte hauptsächlich »aus dem Kriegserlebnis«32.

3 Im Essay Der Kampf als inneres Erlebnis wird Jüngers nüchterne Beobachtungsgabe in dichterische Bildersprache gefasst. Da sich sein Verfasser den Krieg groß ausmalt und da er sich selbst als Krieger bezeichnet, gibt er unzweideutig zu verstehen, dass er zur Elite gehört. All das, was einen gewöhnlichen Soldaten ausmacht, ist ihm nicht nur fremd, sondern auch zuwider. Während der Soldat sich lieber beurlauben lässt, fiebert der Krieger dem Kampf entgegen; während Ersteren die Sehnsucht nach Geborgenheit heimsucht, verinnerlicht der zweite »den Willen zum Kampf«33, »den Willen zum Siege«34, »den Willen zu töten«35. Wenn Jünger schreibt: »Ja, der Soldat in seinem Verhältnis zum Tode, in der Aufgabe der Persönlichkeit für eine Idee, weiß wenig von den Philosophen und ihren Werten«36, so muss man nach seinem eigenen Verhältnis zu Philosophen im Allgemeinen und zu Nietzsche im Besonderen fragen. Was las Jünger – als Krieger, als Landsknecht – aus Zarathustra heraus? Nicht ohne Zufall wurde im vorigen Absatz Also sprach Zarathustra erwähnt. Der Kampf als inneres Erlebnis erweckt überraschend viele Assoziationen mit der fabel- und parabelhaften Geschichte des persischen Religionsstifters. Die entsprechenden Parallelen fallen sofort auf. Dabei muss jedoch eingeräumt werden, dass es sich lediglich um implizite Anknüpfungen handelt. Jünger erwähnt an keiner einzigen Stelle seines Essays Nietzsches Namen. Dennoch sind die Bezugnahmen alles andere als gut verwischte Spuren. Als etwas durchaus Offensichtliches äußern sie sich in der Verwendung Nietzschescher Begriffe, im Dialog mit Nietzsches Konzeptionen und schließlich in der globalen Aussage des vom »Priester« Jünger offenbarten Kriegsmysteriums. Parallel zur Wanderung Zarathustras vollzieht sich seine Wandlung. Der ­Zarathustra, der von vielen Interpreten für Nietzsches Hauptwerk gehalten wird, kann als eine Apologie all dessen gelten, was dem Lebensstrudel entspricht. Deshalb rücken Aktivität, Prozess, Wandel, Bewegung, Mobilität, Wille, 32 Pfahl-Traughber, Armin: Konservative Revolution und Neue Rechte. Rechtsextremistische Intellektuelle gegen den demokratischen Verfassungsstaat, Opladen 1998, S. 52. 33 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 37, 68, 106. 34 Ebd., S. 103. 35 Ebd., S. 9. 36 Ebd., S. 102.

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Dynamik in den Vordergrund.37 Der »Melancholie alles Fertigen«38 zufolge bleibt nichts ein für alle Mal bestehen; der Mensch wird, was er ist; alles ist so viel wert, dass es zugrundegeht; Fragen zu stellen ist wichtiger als Antworten zu geben; das Leben gewinnt an Sinn, wenn in ihm die gesetzten Ziele nicht unbedingt erreicht, sondern vor allem angestrebt werden, Hauptsache also ist es, stets unterwegs zu bleiben; das menschliche Leben lässt sich nur ästhetisch (überwindend) rechtfertigen – diese und ähnliche Aussagen durchziehen leitmotivisch das ganze Werk Nietzsches. Zugleich setzt Zarathustra das, was er kündet, in die Tat um, wodurch er an Glaubwürdigkeit gewinnt und Aufmerksamkeit auf sich zieht, schließlich eilt er mit der »fröhlichen Wissenschaft« zu den Menschen: Der alte Gott ist tot, der neue Übermensch ist schon im Kommen. Welche Lehren Zarathustras stießen auf Jüngers Interesse? Von welchen ließ er sich inspirieren? Die Parallelen liegen auf der Hand, sowohl im Allgemeinen, als auch im Einzelnen. Zunächst interferieren globale Aussagen von Also sprach Zarathustra und Der Kampf als inneres Erlebnis. Während Nietzsche-Zarathustra in die Rolle des Propheten hineinschlüpft und die Herankunft des Übermenschen verkündet, so schließt auch der Krieger Jünger an seine Diagnosen eine Vision an: »Was sich hier vorbereitet, ist schon eine Schlacht im Sinne einer ganz neuen Zeit.«39 Das neue Bewusstsein, dass der Mensch und die Maschine von nun an eine unzertrennliche Einheit bilden, bricht herein. In einer überraschenden, wenn auch etwas naiven Kombination der beiden Konzepte verwandelt sich der Übermensch zum Flieger, wie etwa auch bei Manès Sperber: Nach wenigen Minuten war es so weit, er stieg ins Flugzeug; während er seinen ledernen Helm über den Kopf zog, warf ein Soldat den Propeller an. Wir wichen alle zurück. Ich setzte mich ins Gras, gar nicht mehr müde und schläfrig, sondern seltsam wach. Wir sahen das Flugzeug übers Feld rollen und sich schließlich schwankend erheben. Es kreiste zweimal über unseren Köpfen, ehe es, von einem Band von Sonnenstrahlen erfaßt, vergoldet davonflog, in der Richtung, aus der der Kanonendonner herübertönte. Hätte ich damals das Wort ›Übermensch‹ gekannt, ich hätte es auf diesen Flieger angewandt. Gerne wäre ich bis zu seiner Rückkehr dageblieben, um seiner Landung zuzusehen, aber auch um zu beobachten, ob solch ein Mann sich auf Erden genau so bewegt wie alle anderen Menschen.40

Zugleich kann Der Kampf als inneres Erlebnis mit Recht eine Apologie genannt werden, eine Apologie des Krieges. Jünger schlägt hierfür eine rhetorische Volte, 37 Diese Kategorien genossen bei konservativen Revolutionären einen hohen Wert. »Revolutionär war auch der Kult der Bewegung, der keinen Ruhezustand duldete« (Beyme, Konservatismus. S. 235). 38 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 229; Hervorhebung im Original. 39 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 104. 40 Sperber, All das Vergangene …, S. 158 f.

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die sich als eine gedankliche Brücke zu Nietzsche erweist. Weil in der Nachfolge des 1900 verstorbenen Philosophen die Gegensätze zusammengehörten,41 so sollte sich der Wille zum Krieg als der Wille zum Tod und zum Leben in einem entlarven. Zwar forderte Nietzsche dazu auf, »Städte an den Vesuv« zu bauen, »Schiffe in unerforschte Meere« zu schicken, mit anderen Worten: »gefährlich [zu] leben«42, womit er unter anderem Kompromisslosigkeit und Leidenschaft meinte, doch kam es bei ihm darauf an, sie nicht im Krieg und sicherlich nicht auf Kosten des Lebens von anderen Menschen auszuleben. Hätte Jünger diesen Gedanken Nietzsches nicht radikalisiert und dessen Erfüllung nicht auf den Krieg bezogen, so wirkten die Diagnosen und Visionen der beiden Denker verwandt. Unisono rufen beide dazu auf, die Beziehung zwischen Freund und Feind umzudefinieren43: In den Feinden soll man seine besten Freunde erkennen und feiern, schließlich fordern sie den Gegenpart zu höchsten Leistungen und Errungenschaften heraus. Wenn man das in die Kriegssprache Jüngers übersetzt, so hieße es: Den Gegner besiegt man nur dann, wenn man ihn an seinen Qualitäten überragt. Und auch das Zusammenspiel von Leben und Tod betonten die beiden Revolutionäre immer wieder. In der möglichst breiten Perspektive war dies ein Versuch, die einst verlorene Einheit neu zu stiften, wiederzugewinnen, quasi heraufzubeschwören. In der Weltanschauung Jüngers erlangt die mythisch anmutende Einheit eine fundamentale Bedeutung, mit ihr beabsichtigt er die Triebe, den heroischen Menschen und das tragische Leben aufzuwecken. Eins werden sollen die Menschen mit Toten, Ahnen, Natur (Erde), Tieren, selbst Feinden. Mit dieser Konzeption wiederholt Jünger das gleiche, was Nietzsche unter den Altphilologen bekannt machte. Der Basler Professor bediente sich fünfzig Jahre zuvor der Dionysos-Figur, um die Grenzen des principium individuationis aufzuheben. Im Rausch saugt der Mensch den Kosmos in sich ein, wobei zugleich der Mensch sich im Kosmos auflöst. In der verengten Perspektive Jüngers bilden Tod und Leben zwei Seiten derselben Medaille, paradoxerweise sind sie keine Gegensätze, sondern unterschiedliche Grade der gleichen Daseinsform. Somit schließen sie sich nicht aus, sondern ergänzen einander, sie spenden einander Kraft. Die Zusammengehörigkeit von Leben und Tod brachten Heidegger und Nietzsche auf aphoristische Formeln zurück. Der Mensch ist zum Tode geboren: »Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod

41 Die Zusammengehörigkeit von Gegensätzen kam zum Ausdruck schon alleine auf der sprachlichen Ebene, also in der Bezeichnung der ›Konservativen Revolution‹. Das, was als antagonistisch galt, wurde hier gekoppelt. Vgl. Pfahl-Traughber, Konservative Revolution und Neue Rechte, S. 48. 42 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, S. 526 f.; Hervorhebung im Original. 43 An dieser Stelle muss noch ein anderer prominenter Protagonist der ›Konservativen Revolution‹, Carl Schmitt, genannt werden. In seinen Arbeiten ging er auf die Gegenüberstellung von »Freund« und »Feind« ein. Diese Kategorien hatten aber bei ihm keine symbolische oder metaphorische Bedeutung. Vgl. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, Berlin 1991, S. 28.

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dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten.«44 Bei Jünger sollte diese Formel ausgerechnet im Krieg ihre quasi höchste Ausprägung finden: »Leben heißt töten.«45 Nietzsche rühmt die Mobilität, deren höchste Erfüllung Jünger im Krieg findet. Zum Wesen des Menschen gehört – so ersterer – die Fähigkeit, grundverschiedene Situationen herauszufordern und mit ihnen zu ringen, der zweite hingegen meint, der Krieg stelle die wohl größte Kraft dar, die uns zu verändern vermag. Man kommt aus dem Kriege nie als ein gleicher zurück. Der Autor des Zarathustra plädiert dafür, das menschliche Potenzial, stets ein anderer zu werden, bis an die äußerste Grenze auszuschöpfen. Es geht darum, das Leben in allen Farben und Formen auszukosten, sich nicht nur zwischen Extremen zu bewegen, sondern auch mit diesen Extremen eins zu werden. Schließlich kann nur das helfen, das Lebensrätsel zu lösen, also dem Leben in seiner uneingeschränkten Vielfalt näherzukommen und das Gesamtbild des Menschen zu vervollständigen. Jünger entgegnet dem Nietzscheschen Aufruf die Feststellung, dass dem Krieg als einer Zäsur außer der rein zeitlichen auch eine epistemologische und quasi evolutionstheoretische Dimension zukommt. Der Krieg sei immer ein Einschnitt – den Menschen vor und nach dem Krieg trennen Welten. In einer Nietzsche vergleichbar scharfen, kompromisslosen und metaphorischen Sprache heißt es, »der Krieg ist es, der die Menschen und ihre Zeit zu dem machte, was sie sind«, »nicht nur unser Vater ist der Krieg, auch unser Sohn. Wir haben ihn gezeugt und er uns.« Am Ende schließt der Verfasser von Der Kampf als inneres Erlebnis: »Ich habe mich sehr verändert durch den Krieg.«46 Wenn Jünger betont, dass der Krieg unser Vater und Sohn sei, meint er damit ebenfalls, dass wir Vater und Sohn des Krieges sind. Gleichzeitig Vater und Sohn zu sein, auf dieses in zahlreichen Varianten vorhandene Bild stößt man immer wieder bei Nietzsche.47 In manchen Fällen entspricht ihm das Paar Dionysos und Apollo, in anderen hingegen sind bei ihm Übermensch und Unmensch, Schöpfer und Geschöpf, Meister und Schüler, Gärtner und Garten, Herr und Sklave, Wanderer und sein Schatten, Hirt und Herde komplementär. Beides gleichzeitig zu sein, wird von Nietzsche mit der erstrebten Aktivität und Produktivität gleichgesetzt. Es geht darum, die Zeit, in die man hineingeworfen wird, zu prägen, die »Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs«48. Wir vermögen nur solch eine Welt zu erschließen, die wir selbst geschaffen haben. »Es ist nicht leicht möglich, fremdes Blut zu verstehen.«49 Wenn Nietzsche darüber hinaus schlussfolgert, dass »Herren-Moral und Sklaven-Moral […] sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele«50 vorzufinden sind, so gibt 44 45 46 47 48 49 50

Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, S. 468. Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 37. Ebd., S. 3, 4, 77. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 129, 351. Ebd., S. 268. Ebd., S. 48. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 208; Hervorhebung im Original.

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er unzweideutig zu verstehen, dass die Kategorie des Feindes hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, auf das Innere hin reduziert werden muss. Er sei keine äußere Instanz, es sei etwas in uns. Der so begriffene Feind verdient sich demnach unsere Liebe: Ein ander Ding ist der Krieg. Ich bin meiner Art nach kriegerisch. Angreifen gehört zu meinen Instinkten. Feind sein können, Feind sein – das setzt vielleicht eine starke Natur voraus, jedenfalls ist es bedingt in jeder starken Natur. Sie braucht Widerstände, folglich sucht sie Widerstand.51

Den Feind trennt vom Freund nämlich nur eine dünne Linie, schon allein seine Gegenwart nötigt uns dazu, eigene Grenzen zu verschieben oder sogar zu überschreiten, mehr noch, ihm verdanken wir die Überzeugung, dass diese Grenzen eigentlich nicht existieren. Somit enthüllen Nietzsches Worte: »Ihr müsst stolz auf euern Feind sein: dann sind die Erfolge eures Feindes auch eure Erfolge«52 ihren tiefen Sinn unter Ausschluss des Krieges. Nietzsche zeigt, dass der Krieg seine Worte ihrer internen Logik beraubt. Der Krieg nämlich markiert eine Notzeit, in der Erfolge des Feindes zwangsläufig in eigenen Niederlagen münden. Die Idee, dass Übermensch und Überwindung eng verbunden sind, weist in einem Aspekt auffällige Ähnlichkeit zur Theorie Darwins auf. Im Tierreich bedürfen Gattungen ihrer natürlichen Gegner, fehlen solche, arten sie aus. Genauso sind auch dem Übermenschen »Feinde« lieb; gewiss sollten sie nie – wie es im Krieg passiert – vernichtet werden. Ist das nicht ein weiteres Beispiel dafür, dass Jünger mit seiner Aufforderung zur »Vernichtung des Gegners«53 an Nietzsches Konzeptionen vorbeischießt? Zwar liegt bei beiden Denkern das Ziel in der Überwindung, doch scheint Jünger – dem totalen Krieg und der totalen Mobilmachung vergleichbar – von der totalen Überwindung geblendet zu sein, vom Zustand, »sich im Kampfe völlig zu entfesseln«54. Bei dieser extremen, quasi anarchistischen Form muss man jedoch auch nihilistische Handlungen und antikulturelle Züge in Kauf nehmen, damit rechnen, dass größere Schäden als erwachsender Nutzen zu verzeichnen sind. Zwar ist der alte Gott tot, und der neue Übermensch kann ihn von nun an ablösen, doch impliziert dieser Wechsel auch eine andere Aufgaben- und Gewaltensetzung. Mit Gottes Tod löst sich zum Beispiel die Macht, über Tod und Leben von Menschen zu entscheiden, auf. Der Übermensch lehnt diese Verantwortung hingegen ab, da Nietzsche ihm eine kulturstiftende Rolle zuweist. In Jüngers Essay wimmelt es sowohl von Begriffen Nietzsches als auch von seinen Bildern. Beim Lesen von Der Kampf als inneres Erlebnis stößt man immer wieder auf Übermenschen, Überwindung, Übergang, Werden, »Gut und Böse«, Wüste, »glückselige Inseln«, Willen zur Macht. Jünger scheint – wie bereits an51 52 53 54

Nietzsche, Ecce homo, S. 274; Hervorhebung im Original. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 59. Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 8. Ebd., S. 10.

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gedeutet – aus dem Reservoir der Nietzscheschen Bilder reichlich geschöpft zu haben. Dies soll im Folgenden an vier Beispielen illustriert werden: Zunächst hilft Jünger die rhetorische Figur der Brevitas, das metaphorische Bild aus Zarathustra – die Parallele zwischen Übermensch und Blitz – zu verdichten: Ich liebe alle Die, welche wie schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkünden, dass der Blitz kommt, und gehn als Verkündiger zu Grunde. Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Übermensch.55

Bei Jünger heißt es: »Es steckt eine Schönheit darin, die wir schon zu ahnen imstande sind, in diesen Schlachten zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft, in denen der heiße Wille des Blitzes sich bändigt und ausdrückt durch die Beherrschung von technischen Wunderwerken der Macht.«56 Da das Wort »Blitz« (in zahlreichen Sprachvarianten) im Essay Der Kampf als inneres Erlebnis tatsächlich oft vorkommt, liegt die Vermutung nahe, dass Jünger seine übliche Bedeutung – höchstwahrscheinlich in Anlehnung an Zarathustra-Nietzsche – sprengte. Ebenso wie in der Schmiede, in der verarbeitete Schwerter blitzen, so wird auch im Kriege der neue Mensch gestählt. Übrigens scheint auch hier Jünger in die Schatzkammer der Nietzscheschen Begriffe und Bilder eingebrochen zu sein. Die Idee, »mit dem Hammer zu philosophieren« (so lautet fast wortwörtlich der Untertitel der Schrift Götzen-Dämmerung), wurde schon um die Jahrhundertwerde aufgegriffen. Der polnische Dichter und Übersetzer Nietzsches, Leopold Staff, thematisierte 1901 in der unter dem aussagekräftigen Titel Träume von der Übermacht erschienenen Gedichtsammlung im Gedicht Schmied die Notwendigkeit, das menschliche Herz zu stärken, es mit Hammerschlägen gegen diverse Widrigkeiten und Hindernisse des Lebens immun zu machen. Im Anschluss daran entwickelte Heidegger Jahre später seine einzigartige Konzeption. Bei ihm heißt es nicht mehr, mit dem schweren Hammer mit voller Wucht auf die Dinge einzuhauen, sondern sie subtil abzuklopfen, um aus den (hohlen oder volltönenden) Geräuschen auf ihren Wert bzw. ihre Wert­ losigkeit schließen zu können.57 Mit Der Kampf als inneres Erlebnis übernimmt Jünger zweifellos den Deutungsversuch von Staff: Der Krieg »ist die Hammerschmiede, in der die Welt in neue Grenzen und neue Gemeinschaften zerschlagen wird«58. »Gehämmert und gemeißelt«59 werden die Menschen, Achtung gewinnen dabei nur diejenigen, die unter den Schlägen des Schmiedes veredelt werden. Jünger greift zur Metapher der Schmiede nicht in Bezug auf das Leben, sondern im Hinblick auf den Krieg  – das verbindende Element drängt sich 55 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 18. 56 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 105. 57 Vgl. Heidegger, Martin: Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 6.1: Nietzsche, Frankfurt am Main 1996, S. 63. 58 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 70. 59 Ebd., S. 4.

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von alleine auf, es ist der allgegenwärtige Stahl. Im Angesichte »der Schmiede der Schlachten«60 oder der Schule des Krieges61 bleibt die Frage offen, welches Wissen und welche Kompetenzen eine derartige Schule zu vermitteln hätte? Wenn die Geschichte die beste Lehrerin des Lebens ist, was lernt man dann aus ihr? Dass dem Krieg um jeden Preis vorgebeugt werden muss, oder dass ganz im Gegenteil alle menschliche Erfahrung, Vernunft und Mühe der Überlistung des Feindes dienen soll? Was würde in diesem Kontext bedeuten, aus den Fehlern zu lernen? Dass man sie nicht wiederholt (keine Konflikte anzettelt) oder dass man die Fehler berichtigt (sich nicht mehr überlisten lässt)? Im zweiten Falle wäre der Angriff die beste Verteidigung. Paradoxerweise wäre hier eine solche »Verteidigung« angestrebt, durch die der Feind am besten total besiegt, also bis zur kleinsten und letzten Sippe ausgemerzt werden soll. Zwar bemerkt Nietzsche auch: »Der Krieg ist der Vater aller guten Dinge«, er fügt aber gleich darauf hinzu: »Der Krieg ist auch der Vater der guten Prosa.«62 Jünger nimmt sich diese Worte zu Herzen, ebenfalls als Verfasser von In Stahlgewittern. Weil er den Krieg jedoch einengend versteht und seine metaphorische Bedeutung übersieht,63 biegt er in die Sackgasse der Banalisierungen und Trivialisierungen der Ideen Nietzsches ab. Seine Anknüpfung an Nietzsche: »Der Krieg, aller Dinge Vater, […] er hat uns gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind«64 gehört unverkennbar zur Geschichte der Rezeption, dieser Lesart ist aber zu eigen, dass sie ihr allmähliches Abweichen von der Quelle der Inspiration am Ende unkenntlich macht. Die letzte Stelle in Jüngers Text, die eine Gemeinsamkeit mit Nietzsches Schriften verrät, betrifft das Motiv der schenkenden Tugend. Lassen wir Nietzsche zu Wort kommen: »Der Sonne lernte ich Das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche: Gold schüttet sie da in’s Meer aus unerschöpflichem Reichthume, – – also, dass der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert!«65 Der Sinn der schenkenden Tugend kann wie folgt wiedergegeben werden: Man vermehrt, indem man teilt. Wenn der Mensch zu viel von etwas aufgesammelt hat, ist er dazu gezwungen, es zu verteilen. Gelingt ihm das nicht, geht er  – gleich der Sonne – am lastenden Überschuss zugrunde. Dieser Akt ist ein gutes Beispiel für den Perspektivenwechsel bei Nietzsche. Der Mensch teilt, nicht weil er will, sondern weil er muss – er wird dabei von Egoismus getrieben. Und der andere nimmt es entgegen, nicht weil er muss, sondern weil er will. Er tut es aus Mitleid. Nietzsche entwickelt hier sein eigenes Konzept eines Spiels zwischen Geben und Nehmen. Man braucht wohl nicht hinzuzufügen, dass damit scharfe Kritik an 60 61 62 63

Ebd., S. 73. »Der Krieg ist eine große Schule« (ebd., S. 71). Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, S. 448; Hervorhebung im Original. Nietzsche hegt in Jenseits von Gut und Böse den Wunsch, »dass der Krieg, der er [der Mensch der Gegensätze, G. K.] ist, einmal ein Ende habe« (Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 120; Hervorhebung im Original). 64 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 3. 65 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 249.

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der christlichen Tradition (nicht aber an Christus) geübt wird. Alles in allem ist es ein Ansatz, an dem auch Jünger interessiert zu sein scheint, was seinen entsprechenden Niederschlag in den Worten findet: »Es muß draußen schönes Wetter sein. Die Herbstsonne streut spätes Gold in blanken Münzen durch die Vorhänge.«66 Die Vertreter der ›Konservativen Revolution‹, einschließlich Jünger, greifen zur Nietzscheschen Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen.67 Ihre Auseinandersetzung mit der genannten Konzeption impliziert im Kontext der besonderen Aufwertung des Krieges die Frage nach der Bedeutung des Lebens. Zieht man in den Krieg, so rechnet man damit, dass man nicht zurückkommt. Hubert Orłowski konfrontiert uns mit dem Janusgesicht des Wortes und Phänomens »Schlacht«. Während einer solchen bleibt man im doppelten Sinne dem Thanatos ausgeliefert: Man schlachtet und man wird geschlachtet.68 Der Krieg ist somit immer eine zweischneidige Waffe. Was hat die Idee der ewigen Wiederkehr damit zu tun? Zunächst muss eingeräumt werden, dass sie den intensiven Augenblick (eines Kriegers) dem uniformen Leben (eines Philisters) vorzieht: »Der Augenblick wird köstlicher Besitz.«69 Kehrt alles in unendlich vielen Zyklen zurück, so reicht es aus, einem Zyklus beizuwohnen, um die Ewigkeit zu erfahren. Ein umwälzendes Ereignis einmal zu erleben, am besten als Mitwirkender, bis zum tiefsten Grund des Lebens hinabzusteigen, dorthin, wo das Leben aufhört, um zu begreifen, dass eine seiner Facetten der Tod ist. Gerade die Idee der ewigen Wiederkehr macht diese ewige Wahrheit des flüchtigen Lebens plausibel. In der Welt, in der eine solche Lebensphilosophie praktiziert wird, fühlte sich Jünger heimisch. Als eifriger Befürworter der ewigen Wiederkehr ging er so weit, den Krieg zu den Naturgesetzen, die – wie bekannt – einem kreisförmigen Zeitverlauf unterliegen, zu rechnen. »Der Krieg ist ebensowenig eine menschliche Einrichtung wie der Geschlechtstrieb; er ist ein Naturgesetz, deshalb werden wir uns niemals seinem Banne entwinden. Wir dürfen ihn nicht leugnen, sonst wird er uns verschlingen.«70 Soll hier noch einmal die Frage nach der Bedeutung des Lebens im Kontext der Apologie des Krieges gestellt werden, so ließe sie sich mit der Paraphrase Jüngers beantworten: Wie merkwürdig das lauten mag, spiegelt die Bejahung des Krieges die Verherrlichung des Lebens wider. »Aber wer in diesem Krieg nur die Verneinung, nur das eigene Leiden und nicht die Bejahung, die höhere Bewegung empfand, der hat ihn als Sklave erlebt. Der hat kein inneres, sondern nur ein äußeres Erlebnis gehabt.«71 66 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 59. 67 Mehr zur ewigen Wiederkehr als einem wichtigen Topos innerhalb der ›Konservativen Revolution‹ vgl. Kaufmann, Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 2. 68 Vgl. Orłowski, Hubert: Wojna – cierpienie – śmierć. Glosa do Ernsta Jüngera, in: Ders., Zrozumieć świat. Szkice o literaturze i kulturze niemieckiej XX wieku, Wrocław 2003, S. 67, 79 f. 69 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 101. 70 Ebd., S. 36. 71 Ebd., S. 105.

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Ernst Jünger war unumstritten ein Nietzscheaner. Und er war ein treuer Leser des Zarathustra, dies jedoch hauptsächlich im Kontext eines wortwörtlich lebenslangen Dialogs mit dem »fünften ›Evangelium‹«72, wie Nietzsche selbst sein Hauptwerk zu bezeichnen pflegte. Die inspirierende Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Lebensphilosophie Nietzsches wurde nie abgebrochen, wofür etwa die Strahlungen viele Beweise liefern. Umstritten hingegen bleibt Jüngers Zugang zu Nietzsche. Zu wortwörtlich hat er seine Worte genommen, zu tendenziell gelesen und zu einseitig interpretiert, als hätte er vergessen, dass er es hier mit einem Skeptiker und Provokateur ohnegleichen zu tun hatte. Sein Nietzsche ist allzu plakativ. Offensichtlich fehlten ihm das, was der Einsiedler von Sils-Maria oftmals seinen Lesern anempfohlen hat: »Pathos der Distanz« und »Finger für nuances«73. Nietzsche, der allerlei Grenzen aufgehoben hat, der sich bewusst keiner Gruppierung anschloss (er hielt sich fern von allen Parteien, Kirchen und politischen  – sowohl sozialistischen als auch nationalen – Manifesten), um seine Freiheit nicht zu gefährden, der die Individualität zum höchsten Wert erhob, wurde von Jünger in ein Interpretationsschema gezwängt. Die Kriegsperspektive, die Jünger annahm, wirkte sich negativ auf das Nietzsche-Bild aus. Der Krieg, dem der von vielen Krankheiten heimgesuchte Philosoph die Funktion einer Denkkategorie, eines Ausgangspunktes für weitreichende Ausführungen zuwies, wurde von Jünger verabsolutiert. Der Krieg gewann zwar bei ihm die Oberhand, doch vollzog sich der Sieg auf Kosten des Umgangs mit Nietzsche. Man kann die These wagen, dass hierdurch der Nährboden für die nächsten trivialisierten, politisch motivierten Vereinnahmungen Nietzsches vorbereitet wurde. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass sie einen der unparteiischsten Philosophen überhaupt trafen.

72 Laut Nietzsche ist Zarathustra »eine ›Dichtung‹, oder ein fünftes ›Evangelium‹ oder irgend Etwas, für das es noch keinen Namen giebt« (Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, Bd. 6: Januar 1880 – Dezember 1884, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 2003, S. 327). 73 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 138, 110; Hervorhebung im Original.

Krzysztof Polechoński, Wrocław

Zur ›politischen‹ Rezeption von Edwin Erich Dwinger aus polnischer Perspektive 

In der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts darf der Fall Edwin Erich ­Dwingers als beinahe exemplarisch gelten. Wir haben es hier mit einem Autor zu tun, dessen Werk heutzutage kaum populär ist – weder unter Lesern noch unter Literaturforschern –, und das obwohl Dwinger seinerzeit, am Ende der Weimarer Republik und Anfang des ›Dritten Reichs‹, zu den meistgelesenen Autoren gehörte: Die Gesamtauflage seiner Werke (darunter auch Übersetzungen) belief sich damals auf zwei Millionen Stück.1 Zweifelsohne gehörte ­Dwinger damals zu den Literaten, die als Bestsellerautoren zu bezeichnen sind und deren Geltungsbereich weit über die Grenzen Deutschlands hinausreichte. Doch gehört dies längst der Vergangenheit an, verlor sein Name doch in der deutschen Literaturgeschichte des vergangenen Jahrhunderts vollkommen an Relevanz. Fehlende Neuauflagen, geringes bzw. kein Interesse der Kritiker und Literaturwissenschaftler, weitgehende Abwesenheit in den Kompendien und literaturgeschichtlichen Synthesen, Mangel an grundlegenden Monografien, die Biografie, Werk und Gesamtbibliografie (der Primär- und vor allem Sekundärliteratur) aufarbeiten – all das scheint diesen Tatbestand zu bestätigen. Der auf das Jahr 1998 fallende 100-jährige Geburtstag des Schriftstellers regte, bis auf wenige Ausnahmen,2 keine Aktivitäten an, die dem Prozess des Vergessens 1 Diese Angaben kann man den Pressemitteilungen entnehmen, die nach dem Tode des Schriftstellers erschienen. »Sein Sibirisches Tagebuch entstand, zunächst in zwei Bänden, Armee hinter Stacheldraht und Zwischen Weiß und Rot. Die beiden Bücher erreichten allein in Deutschland eine Auflage von mehr als zwei Millionen und wurden in mehr als zehn Sprachen übersetzt« – so schrieb Pozorny, Reinhard: Edwin Erich Dwinger zum Gedenken. Der Verfasser des Sibirischen Tagebuchs ist still gestorben, in: Deutsche Wochen-Zeitung, 1982, Nr. 1, S. 9. Auf ähnliche Zahlen beruft sich eine anonyme Pressenotiz: »Die Bücher Dwingers erreichten vor dem Zweiten Weltkrieg eine Auflage von zwei Millionen Exemplaren« (Edwin Erich Dwinger †, in: Die Welt, 1981, Nr. 296, S. 17). Allerdings müssten die Auflagezahlen verifiziert werden. 2 Eine der Ausnahmen war der beachtungswerte Aufsatz von Karl Schlögel: Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1998, Nr. 105, S. 44. Erst in den letzten Jahren beobachtet man ein größeres Interesse für Dwinger, was u. a. folgende Veröffentlichungen bezeugen: Schmitz, Vera Margarita: Edwin Erich Dwingers Romantrilogie Die deutsche Passion (ed. 1929–1932). Eine Untersuchung des Kampfes um die Deutungshoheit über den 1. Weltkrieg in der Kriegsliteratur der späten Weimarer Republik, Hamburg 2017; Dahlmanns, Karsten: Zum Bilde Großbritanniens und der Briten bei Edwin Erich Dwinger, Ernst Jünger, Edlef Köppen und Erich Maria Remarque, in: Studia

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hätten entgegenwirken können. Diese zunächst innerdeutsche Entwicklung bedingt zugleich das ausbleibende Interesse in Ausland, so auch in Polen, wo Dwinger im Prinzip nicht mehr als ehedem wichtiger Schriftsteller anerkannt wird – der Autor und sein ehemals bekanntes Werk hörten auf Gegenstand lebendigen Interesses zu sein. Die Aufnahme von Dwingers Büchern in Polen ist ein Modellbeispiel für einen Kontinuitätsbruch innerhalb der Rezeption eines Schriftstellers in Wissenschaft und Literaturkritik. Die Zäsur bildet der Zweite Weltkrieg und seine – politisch bedingten – langfristigen Konsequenzen. Vergleicht man das Vor- mit dem Nachkriegsbild des Literaten in der polnischen Presse, fällt eine radikale Veränderung auf, die sich innerhalb nur einiger Jahre der Abwesenheit des Schriftstellers in den polnischen Veröffentlichungen während des Zweiten Weltkriegs vollzog. Es ist zugleich offensichtlich, dass diese Wende spezifische Gründe hatte, die unabhängig sind von der ideologischen Positionierung Dwingers, seinen thematischen Präferenzen oder der künstlerischen Qualität seines Werkes. Entscheidende Bedeutung kam in diesem Fall dem politisierten, konfrontativen Charakter des offiziellen Kulturlebens und damit einhergehend den Umständen einer Rezeption und Beurteilung der deutschen Literatur in der Volksrepublik Polen zu. Nichtsdestotrotz verblüfft der drastische Wechsel von Affirmation zum Anathem. Das ganze Spektrum denkbarer Urteile könnte mit zahlreichen Beispielen veranschaulicht werden, die in diesem Rahmen jedoch nur stichprobenartig und vereinzelt genannt werden sollen. Auf Edwin Erich Dwinger wurde man in Polen in der Zwischenkriegszeit dank des autobiographischen Romans Die Armee hinter Stacheldraht aufmerksam. 1930 wurde das Buch zweimal veröffentlicht – zunächst vom 2. Februar bis 12. Mai in »Nowy Dziennik«, einer Krakauer jüdischen Zeitung in polnischer Sprache und Mitte Mai3 in einer Buchfassung im Krakauer Verlag »Panteon«. Das Werk wurde überraschend schnell  – nur ein Jahr nach dem Erscheinen der Originalfassung4 – für die polnische Veröffentlichung vorbereitet, und die autorisierte Übersetzung von Wanda Kragen gehörte zu den ersten bedeutenden Arbeiten der verdienten Übersetzerin. Unter den über zwanzig polnischen publizistischen Rezeptionszeugnissen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg finden sich einige umfangreichere Besprechungen, die im Tenor zumeist positiv und lobend, zuweilen sogar enthusiastisch gehalten sind.

Niemcoznawcze, 2017, Bd. 60, S. 371–384; Dietzsch, Steffen: Dwinger und der russische Bürgerkrieg 1919/1920: Zwischen Weiß und Rot, in: Dahlmanns, Karsten u. a. (Hg.): Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg, Göttingen 2020, S. 283–292. 3 Urzędowy Wykaz Druków Wydanych w Rzeczypospolitej Polskiej (1930, Nr. 18, S. 379, Pos. 4222) erfasste Die Armee hinter Stacheldraht unter den »von der Nationalbibliothek vom 11. bis 17. Mai 1930 registrierten Schriften«. Das Buch musste also unmittelbar mit Abschluss der deutschen Publikation in der Zeitschrift »Nowy Dziennik« veröffentlicht worden sein. (Die letzte Folge erschien am 12. Mai 1930). 4 Dwinger, Edwin Erich: Die Armee hinter Stacheldraht. Das sibirische Tagebuch, Jena 1929.

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Das feuilletonistische Echo auf Dwingers Bücher setzte in Polen direkt 1929 ein, also mit Erscheinen der Armee hinter Stacheldraht in Deutschland und noch vor der Veröffentlichung der polnischen Übersetzung.5 Bald darauf wurde der Roman im Januarheft des folgenden Jahres in der sorgfältig redigierten Zeitschrift »Przegląd Współczesny« besprochen und zwar innerhalb einer umfassenden Schilderung »der deutschen Literatur über den Großen Krieg« – neben Im Westen nichts Neues von Remarque und den ihr gewidmeten deutschen Auseinandersetzungen6 sowie Ludwig Renns soeben auf Polnisch verlegtem Roman Krieg. Der Rezensent Zygmunt Wojciechowski urteilte neben einer ausführlichen Wiedergabe von Textausschnitten wie folgt über Die Armee hinter Stacheldraht: »Das Buch E. E. Dwingers will ein Dokument bleiben«, das »sich zum Ziel setzt, als Wahrheitsspiegel zu fungieren«. Innerhalb des von Dwinger skizzierten Bildes des russischen Kriegsgefangenlagers in Sibirien als einer »Hölle auf Erden« entdeckt der Rezensent einen »einzigen hellen Punkt«, und zwar die »Erscheinungen des menschlichen Mitleides«. Dies veranlasst ihn zu einer bedeutungsvollen Parallelisierung: In dieser Huldigung der Mitleidsidee als genuinem Wert stehen die Erinnerungen Dwingers nicht allein. Von einer ähnlichen Idee ist auch das Buch Remarques durchdrungen. Zutreffend haben es die Widerstreiter Remarques formuliert, indem sie ihre Vorwürfe einschlägig ausgedrückt haben. Es erinnert an eine vergleichbare Polemik, die in Polen gegen Żeromski gerichtet war. Żeromski, Remarque und Dwinger scheinen Recht zu haben.7

Die durchaus positiven Beurteilungen von Die Armee hinter Stacheldraht – diesem »mit gefährlicher Courage verfassten Tagebuch eines sibirischen Kriegsgefangenen«8 – sahen Remarque als angemessene Vergleichsgröße an und drückten dies in Wendungen wie »Remarque in Sibirien«9 oder »ein Buch von der Größe Remarques« aus.10 Des Weiteren wurde gelobt, dass »man den Blättern lebendige Wahrheit anmerkt, die man nicht verfälschen kann«11, sowie, dass 5 Wojciechowski, Zygmunt: Remarque na Syberii. Dwingera »Armia za drutem kolczastym«, in: Kurier Poznański, 1929, Nr. 586, S. 11. 6 Gemeint sind die publizistischen und literarischen Stellungnahmen in Deutschland unmittelbar nach der Veröffentlichung von Remarques Bestsellerroman, wie z. B.: Requark, Emil Marius: Vor Troja nichts Neues; Scheldt, Wilhelm Müller: Im Westen nichts Neues. Eine Täuschung; Nickel, Gottfried: Im Westen nichts Neues und sein wahrer Sinn. 7 Wojciechowski, Zygmunt: Z literatury niemieckiej o wielkiej wojnie, [in der Rubrik:] Geistesleben im Ausland, in: Przegląd Współczesny, [Januar] 1930, Nr. 93, S. 141. 8 Grabowski, Zbigniew: [Rez.:] Ernest Hemingway: A farewell to arms, London 1929, ­Jonathan Cape (ed.), in: Pamiętnik Warszawski, 1930, H. 6, S. 92. 9 Wojciechowski, Zygmunt: Remarque na Syberii. Dwingera »Armia za drutem kolczastym«, in: Kurier Poznański, 1929, Nr. 586, S. 11. 10 Grabowski, Zbigniew: Książka na miarę Remarque’a, in: Kurier Literacko-Naukowy, 1930, Nr. 25 [Beilage zu Ilustrowany Kurier Codzienny, 1930, Nr. 58], S. IV. 11 Ebd.

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»das Buch Dwingers nicht nur ein literarisches Werk ist, sondern auch eine humanitäre Tat, als Demaskierung des Animalischen in dem Menschen und Entblößung der Schrecken des Krieges«12. Neben den überwiegend zustimmenden Urteilen gab es jedoch auch kritische Äußerungen. In der katholischen Wochenschrift »Tęcza« stellte Józef Kisielewski fest, dass das Buch tendenziös verfasst sei: Der Autor dichtet dem Feind schlimmste Untaten an, bei gleichzeitiger Idealisierung Deutschlands, dem er alle Tugenden der Welt zuschreibt. Der Standpunkt ist letztlich nachvollziehbar und dem einseitig verstandenem Patriotismus anzulasten. Es fällt jedoch schwer, der Kritiklosigkeit und Parteilichkeit des Autors zuzustimmen, die etwa in der Behauptung, die er dem Leser aufzwingen will, zu Tage tritt, dass Deutschland den Krieg unvermeidlich aufnehmen musste und diesen als Verteidigungskampf führte. In dieser Tendenz zur Verbreitung des deutschen Nationalismus entbehrt Armee hinterm Stacheldraht den Wert eines historischen Dokuments.13

Die Abschlussbemerkung ist charakteristisch für den Standpunkt der Posener »Tęcza« und ihren Redakteur,14 einen für die deutschen Themen empfindlichen sowie gegenüber jeglichen Erscheinungen des deutschen Nationalismus stets kritischen Journalisten. Eine in ironisch-skeptischem Tenor gehaltene Diagnose der Gegenwart in Nazideutschland stellte der Beitrag Romansowa publicystyka von Tadeusz Świątek dar, erschienen in März 1936 in »Kurier Literacko-Naukowy« (der Beilage zum auflagenstarken »Ilustrowany Kurier Codzienny«). Unter den ausführlich behandelten Belletristen tauchte – neben Hanns Johst, Hans Grimm, Josef Ponten und Kasimir Edschmid – Dwinger als »diesjähriger Preisträger von Hamburg« auf.15 Świątek schreibt höhnisch: Er schilderte das Schicksal deutscher Kriegsgefangener im sibirischen Tagebuch Die Armee hinterm Stacheldraht sowie die Irrwege ihrer Flucht durch den brennenden Osten in Zwischen Weiß und Rot. Er zog als Kriegsfreiwilliger ins Feld, kehrte entmutigt, enttäuscht, kompromissbereit zurück. Jetzt erholte sich Dwinger aber, hat die traurigen Erinnerungen beiseite gelegt – und steigt zum ordentlichen Soldaten auf, bereit für den Neuanfang. Der preisgekrönte Roman Die letzten Reiter aus dem Jahr 1935 ist eine Apotheose der schönen Zeiten, als er bei den Dragonern war und in dem östlich vorgeschobenen deutschen Vortrupp Richtung Riga ritt. Er ist der Ansicht,

12 Bergel, Rajmund: Ludzie czy »szakale«. Powieści wojenne A. Zweiga i E. Dwingera [T. II], in: Głos Narodu, 1930, Nr. 277, S. 4. 13 Kisielewski, Józef: Trzy książki polskie i dwie tłumaczone. Miłaszewska – Bandrowski – Kossowski – Laurentin – Dwinger, in: Tęcza, 1930, H. 42. 14 Später schrieb er die dokumentar-historische Reportage über die Geschichte des deutschslawischen Konflikts Ziemia gromadzi prochy (1939). Im gleichen Jahr erschien die Übersetzung ins Deutsche: Die Erde bewahrt das Vergangene (in Form eines vervielfältigten Typoskripts). 15 Dwinger wurde 1935 mit dem Dietrich-Eckart-Preis der Stadt Hamburg ausgezeichnet.

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dass dies eine letzte Großtat des ritterlichen Krieges war, nach der sich heute, in der Epoche des motorisierten Kampfes, sein Reiterherz sehnt. Eine Art Ostsee-Kossak.16

Während des Zweiten Weltkriegs fand das im ›Dritten Reich‹ entstehende Schrifttum im besetzten Polen kaum Interesse, geschweige denn eine willkommene Aufnahme. Besonders galt dies für die im Dienst gegenwärtiger Propagandaziele stehenden Werke, und in diese Sparte gehörte zweifelsohne eines der Bücher Dwingers: Der Tod in Polen (1940). Leider konnten keine Zeugnisse dafür gefunden werden, ob diese, an deutsche Leser gerichtete, von einem stark antipolnischen Grundton geprägte und mit gefälschten Angaben manipulierend wirkende Schrift damals von Polen wahrgenommen wurde. Am Rande sei erwähnt, dass Dwinger das besetzte Polen sogar selbst besuchte: Er hielt sich auf dem Weg zur Ostfront in Warschau auf und besuchte auch das Pferdegestüt in Janów Podlaski. Eines der wenigen polnischen Zeugnisse zu Dwinger aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammt von dem herausragenden Prosaiker und Publizisten Józef Mackiewicz. Es findet sich in einer 1942 verfassten und konspirativ verbreiteten Studie Prawda w oczy nie kole (Die Wahrheit beißt nicht)  – einem Buch, das lange als verschollen galt, glücklicherweise wiederentdeckt und 60 Jahre nach seinem Entstehen publiziert wurde. Mackiewicz-Forscher beurteilen die Arbeit als »singuläres biographisches Zeugnis und historisches Dokument, das die soziale Stimmung im Wilnaer Gebiet dokumentiert und zugleich Ansichten und politische Analysen bietet von einem der genauesten Beobachter der damaligen Ereignisse«17. Dwinger fand dort  – im Abschnitt Straszny cień pada od wschodu (Der Osten wirft einen ungeheuren Schatten) – als »Verfasser der Trilogie über die Erlebnisse in Russland«18 ausführliche Erwähnung, wobei besonders erstaunt, dass Mackiewicz die neueste Frontberichterstattung Dwingers, Wiedersehen mit Sowjetrussland (1942), bereits bekannt war.19 Die Tatsache, dass die deutsche Kultur die Kultur einer der beiden Besatzungsmächte war und darüber hinaus des einzigen von den kommunistischen Behörden offiziell anerkannten Besatzers (denn über den zweiten, den sowjetischen, durfte man damals kein Wort verlieren), hatte langfristige Konsequenzen in Polen, die vor allem eine tiefgreifende Feindlichkeit oder zumindest Ableh16 Świątek, Tadeusz: Romansowa publicystyka, [in der Rubrik:] Literarische Revue, in: Kurier Literacko-Naukowy, 1936, Nr. 12, [Beilage zu Ilustrowany Kurier Codzienny, 1936, Nr. 83], S. VIII –IX . Der letzte Satz enthält eine Andeutung auf bekannte polnische Künstler, die sich auf die Kriegsmalerei spezialisierten, etwa vertreten durch folgende Angehörige der Familie Kossak: Juliusz (1824–1899), Wojciech (1856–1942) und Jerzy (1886–1955). 17 Bolecki, Włodzimierz: Ptasznik z Wilna. O Józefie Mackiewiczu (Zarys monograficzny), Kraków 22007, S. 214. 18 Die Rede ist zweifelsohne von Die deutsche Passion. 19 Vgl. Mackiewicz, Józef: Prawda w oczy nie kole, in: Ders.: Werke, Bd. 17, London 2002, S. 166.

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nung der deutschen Kultur gegenüber begründeten. Nach dem Krieg fiel das Schüren einer antideutschen Stimmungen nicht schwer in einem Lande, das den Horror der brutalen Besatzung durch das Hitler-Regime erlebt hatte. Rasch profitierte man in politischer Hinsicht davon: Die Deutschlandfeindlichkeit bot ein effizientes Instrument in der eigenen nationalen Legitimierung.20 Der Begriff ›Nation‹ wurde von der kommunistischen Partei gezielt instrumentalisiert; er bezog sich auf alles, was mit der neuen Nachkriegsordnung zusammenhing: neue Einrichtungen, die Partei, die Armee, das politische und wirtschaftliche Programm. Die Kommunisten arbeiteten damals ohne Unterlass an der Festigung eines Selbstbilds als »führender Kraft« im Befreiungskampf, wobei sie sich gleichzeitig das Verdienst einer »Rückkehr Polens auf die piastischen Gebiete« sowie eines Schutzgaranten gegen erneute deutsche Aggression zuschrieben. Die politischen Veränderungen nach 1945 verurteilten die Polen für den Ostblock und das Bündnis mit der UdSSR . Diese wurde in der »Polnischen Arbeiterpartei« (PPR) wie in der gesamten Propaganda der Volksrepublik Polen als die einzige Macht dargestellt, die Dauerhaftigkeit der Oder-Neiße-Grenze sicherstellte. Laut dieser Propagandabemühungen galt die Situierung des Landes im sowjetischen Block als polnische Staatsräson: Das unter Moskauer Kontrolle stehende Regime wurde zum Garanten der territorialen, politischen und wirtschaftlichen Stabilität erhoben. Die Nachkriegsrezeption Dwingers entsprang dem allgemeinen Klima, das die Rezeption deutscher Kultur und Literatur in der VRP begleitete und in dem literaturkritische und -historische Wertungen ideologischen und politischen Kriterien untergeordnet wurden. Auch wenn der lange Zeitabschnitt von 1945 bis 1989 eine große Anzahl von polnischen Rezeptionszeugnissen hervorbrachte, so fehlen zugleich vorurteilsfreie Analysen, die nur auf ästhetischen Urteilen beruhen. Die ersten Nachkriegsjahre standen vor allem unter dem Zeichen einer kritischen Abrechnung mit dem Erbe des ›Dritten Reichs‹; eine wissenschaftliche Rezeption Dwingers, sowohl durch Germanisten als auch Historiker (oder Rechts- und Ideenhistorikern), setzte hingegen erst im Laufe der Zeit ein. Nach 1945 knüpfte man an keines der früheren Urteile über Dwinger an: Es tauchten keine Assoziationen mit Remarque auf, dessen Roman Im Westen nichts Neues um 1930 als Hauptbezugspunkt für die Schwemme an Weltkriegsliteratur fungierte. Der Autor der Armee hinter Stacheldraht, der von Jerzy Nyka in der späten Zwischenkriegszeit als »sehr sympathische Figur der deutschen Literatur […], Verfasser einer gewissenhaften Berichterstattung von der Reise in die Sowjetunion sowie Hungerbeschreibung in der Ukraine, bei den Wolgadeutschen,«21 charakterisiert wurde, galt kurz nach dem Krieg als »verbissener 20 Vgl. Zaremba, Marcin: Komunizm, legitymizacja, nacjonalizm. Nacjonalistyczna legitymizacja władzy komunistycznej w Polsce, Warszawa 2001. 21 Nyka, Jerzy: Das deutsche Schicksal (Garść uwag i spostrzeżeń o nowej literaturze niemieckiej), in: Tęcza, 1938, Nr. 4, S. 19 f. (Es handelt sich hier um das Werk »Und Gott schweigt …? Bericht und Aufruf«, 1936).

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Revisionist und Feind der UdSSR«22, als »Anstifter zum Haß«23, eine der »Kreaturen des Dritten Reichs«24, als »herausragender faschistischer Literat« (an der Seite von Hanns Johst, Hans Grimm, Ernst Jünger und Ernst von Salomon)25 und als Vertreter »des NS -Schrifttums«,26 dessen Rückkehr ins literarische Leben in Deutschland man als Zeichen einer »Refaschisierung des politischen Lebens«27 deutete. Die damals formulierten Urteile wurden im Laufe der folgenden Dezennien zumeist unreflektiert übernommen, wodurch in den Nachkriegsjahren ein schablonenhaftes Bild Dwingers als faschistischer Autor zementiert wurde. Auch die späteren Kommentatoren unterstrichen den »feindlichen«, »reaktionären« und »militaristischen« Charakter seines Œuvres. Bezeichnenderweise änderte sich diese negative Haltung auch nicht, als 1955/1956 ein beachtlicher Teil der deutschen Literatur eine Rehabilitierung erfuhr. Die in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre etablierte negative Einschätzung Dwingers ließ offenbar keine späteren Korrekturen zu. Dwinger blieb Gegenstand eines politisierten Diskurses und die gegen ihn geführten Attacken verloren nicht an Schlagkraft. So erklärte man ihn 1956 zum »Barden des Dritten Reichs«28, zehn Jahre später wird er als der »berüchtigte SS -Mann Dwinger«29 sowie als »NS -Schreiber«30 verunglimpft. Ein anderes Mal werden angebliche Millionenauflagen bekanntgegeben, die »Verkünder alter Mythen, Konsaliks und SS -Dwingers erreichen« (sic!). Diese intensiv praktizierte Kompromittierensstrategie, die zuweilen – was das obige Zitat bezeugt – nach den für die literarische Kritik unüblichen Mitteln griff, machte keinen Halt vor brutalen Bezeichnungen, wie literarische »Troglodyten«31 sowie »nationalistische Scharfmacher in der Literatur«32. Das 1938 in der Posener Monatsschrift »Tęcza« geäußerte Urteil Jerzy Nykas über Dwinger als »sehr sympathische Figur junger deutscher Literatur« könnte man mit einer ganzen Reihe von Nachkriegsurteilen konfrontieren. Als eine Zusammenfassung der letzten dürften wir den Satz Wilhelm Szewczyks gelten 22 Podkowiński, Marian: Truciciele, in: Twórczość, 1952, Nr. 3, S. 180. 23 WISZ [Szewczyk, Wilhelm]: Piewca nienawiści rehabilituje się, [in der Rubrik:] Co robią Niemcy, in: Odra, 1947, Nr. 39, S. 2. 24 Podkowiński, Marian: Literatura niemiecka na rozdrożu, [in der Reihe:] Z notatnika berlińskiego, in: Nowiny Literackie, 1948, Nr. 33, S. 1. 25 Ranicki, Marceli: Z dziejów literatury niemieckiej 1871–1954, Warszawa 1955, S. 299. 26 Naganowski, Egon: Cena ludzkiej godności, in: Nowa Kultura, 1953, Nr. 4, S. 2. 27 Karst, Roman: Literatura Niemiec Demokratycznych, in: Wola Ludu, 1950, Nr. 198, S. 4. 28 Podkowiński, Marian: Zatrute źródła (Korespondencja własna »Nowej Kultury« z Bonn), in: Nowa Kultura, 1956, Nr. 23, S. 8. 29 Szewczyk, Wilhelm: Współczesna literatura rewizjonistyczna w NRF, in: IX Zjazd Pisarzy Ziem Zachodnich i Północnych. Bydgoszcz / Toruń 26–29.05.1966, Poznań 1966, S. 75. 30 Hitlerowski skryba znowu funkcjonuje, in: Życie Literackie, 1968, Nr. 9, S. 15. 31 Podkowiński, Marian: Niemcy i ja, Warszawa 1972, S. 235. 32 WISZ [Szewczyk, Wilhelm]: Obrońcy i grabarze kultu, [in der Reihe:] Co robią Niemcy, in: Życie Literackie, 1971, Nr. 33, S. 2. In der polnischen Publizistik wurde die Strategie der Kompromittierung zu dieser Zeit nicht nur bezüglich Dwinger verwendet, sondern auch bei anderen deutschen Schriftstellern wie Ernst Jünger.

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lassen. Der schlesische Publizist und Literat beschrieb in seinem Lehrbuch Die Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts (1962) Dwinger in Worten, die genau das Gegenteil besagen: »Es ist eine der unsympathischsten Figuren der deutschen Gegenwartsliteratur.«33 Die polnische Auseinandersetzung mit deutscher Literatur spielte sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vor allem jenseits der universitären Strukturen ab.34 Tonangebend war die aktuelle Publizistik, die im Dienst ideologischer Agitation die politisch bipolare Weltaufteilung auf die Literaturwertung übertrug. Aggressiv im Ausdruck beteiligte sie sich an aktuellen Auseinandersetzungen und Diskussionen mithilfe von Invektiven, Pamphleten und Pasquillschriften, die politische Gegner, zu denen auch Dwinger gerechnet wurde, diskreditierten. Als Beispiel für diese ideologisch motivierten Wertungen und Ressentiments, die gleich nach dem Kriege erschienen, mag der Ausschnitt aus einem Beitrag des Feuilletonisten Wilhelm Szewczyk in der Reihe Co robią Niemcy? von 1948 dienen: Dwinger denazifiziert! Es ist wahrhaft unglaublich […]. Die Rehabilitierung ­Dwingers bedeutet nichts anderes als eine weitere politische Provokation Westdeutschlands gegen Sowjetrussland. Letztendlich kehren die Bücher Dwingers, die typische Goebbels-Propaganda enthalten, in die Bibliotheken zurück, dank eines Rehabilitierungsurteils, das der Verstärkung einer Stimmung der deutschen Nation dienen soll, an der es heutzutage den angelsächsischen Machthabern liegt.35

Diese Bewertung erfuhr eine allmähliche Neugewichtung durch die akademische Forschung, vertreten vor allem durch die Germanistik, wobei eingeräumt werden muss, dass ihre Beiträge weder die grundlegende Bewertung des Literaten noch seine Rezeption im Wesentlichen beeinflusst haben. Die frühesten Vertreter einer polnischen Dwinger-Forschung in der Nachkriegszeit waren Wilhelm Szewczyk, Marian Podkowiński, Aleksander Rogalski, Egon Naganowski, Roman Karst und Marceli Ranicki (der spätere Marcel Reich-Ranicki). Die zweite Welle initiieren  – überwiegend, wenn nicht ausschließlich  – akademische Forscher, genauer Germanisten, zu denen Marian Szyrocki, Hubert Orłowski, Jan Chodera, Stefan H. Kaszyński, Irena und Zbigniew Światłowski sowie Jan Miziński zu rechnen sind. Zur typischen Konfrontation kommt es Anfang der 1960er Jahre, als zeitgleich zwei Synthese­versuche auf dem Buchmarkt konkurrieren: die 1962 erschienene Literatura niemiecka w XX wieku (Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert) von Wilhelm Szewczyk, welcher die Seite der nichtakademischen Kritik vertrat, und ein Jahr später Szyrockis Historia literatury niemieckiej (Geschichte der deutschen Literatur), stellvertre-

33 Szewczyk, Wilhelm: Literatura niemiecka w XX wieku, Katowice 1962, S. 200. 34 Diese Unterscheidung zwischen einer »akademischen« und einer »nichtakademischen« Kritik verwendete der polnische Germanist Hubert Orłowski in seinen Arbeiten. 35 WISZ [Szewczyk, Wilhelm]: Co robią Niemcy? in: Odra, 1948, Nr. 37, S. 2.

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tend für die akademische Kritik. Diese zwei Zugriffe trennt nur ein Jahr, doch unterscheiden sich das dort skizzierte Bild des deutschen Schrifttums und des in diesem Beitrag interessierenden Schriftstellers fundamental. Die in der Zwischenkriegszeit dominierende Beurteilung des Autors der Armee hinter Stacheldraht wird in der VRP ignoriert. In den Nachkriegsjahren wird stattdessen systematisch ein Negativbild des Literaten gezeichnet, wobei diese Jahre für die polnische Beurteilung westdeutscher Autoren prägend waren. Dies gilt in speziellem Maße für diejenigen, die im ›Dritten Reich‹ aktiv waren und auch nach dem Krieg zu konservativen Rechten gezählt werden konnten oder durch nationalistische, antisowjetische oder antikommunis­tische Haltung auffielen. Die allgemeine Verurteilung der Nachkriegszeit führte zu so kategorischen Urteilen wie dem folgenden: »Innerhalb der zwölf Jahre brauner Herrschaft ist in Deutschland kein einziges literarisches Werk vom Rang entstanden.«36 Die ideologisch orientierte Kritik konnten die polnischen Rezensenten direkt den DDR-Zeitschriften wie »Der Aufbau« und »Die Weltbühne« entnehmen. Einer der Vertreter der damaligen kommunistischen Kritik, »gemäß den scharfen antifaschistischen Prinzipien«37, war Günther Cwojdrak, der in der Kattowitzer Zeitschrift »Odra«38 publizierte. Unter den späteren Zeugnissen, sei auch das Dwinger gewidmete Lemma aus der Feder von Jan Chodera in Das kleine Wörterbuch deutscher, österreichischer und schweizerischer Schriftsteller39 angeführt. Dieses bildet letztlich eine Kopie des entsprechenden Eintrags im in der DDR veröffentlichten Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller40 (1967 erweitert um Einträge zu folgenden Literaten: Edgar Maass, Heinrich Zerkaulen, Werner Beumelburg, Hans Zöberlein, Franz Schauwecker, Heinz Steguweit, Josef Magnus Wehner, Richard Euringer, Josef Martin Bauer sowie Heinz Günther Konsalik).

36 M. R. [Ranicki, Marceli]: Postępowa literatura niemiecka w okresie hitlerowskiego mroku, Warszawa 1953, S. 7. 37 WISZ [Szewczyk, Wilhelm]: Co robią Niemcy?, in: Odra, 1948, Nr. 33, S. 2. 38 Vgl. Cwojdrak, Günther: Literatura powojennych Niemiec [anonyme Übersetzung], in: Wieś, 1949, Nr. 3, S. 8; Ders.: Zachodnioniemieckie abecadło literackie, in: Odra, 1949, Nr. 9, S. 2. Ein wenig später erschien in der DDR ein anderes Buch Günthers Cwojdraks: Die literarische Aufrüstung, Berlin 1957, die in Polen von Mieczysław Suchocki ([in der Rubrik:] Oceny i omówienia, in: Przegląd Zachodni, 1958, Nr. 6, S. 477–483) besprochen wurde. In der polnischen Übersetzung erschien das Buch unter dem Titel »Remilitaryzacja literatury« [Remilitarisierung der Literatur] (übersetzt von Jerzy Typrowicz, mit Nachwort von Zbigniew Szumowski, Poznań 1960). Dwinger wird hier sehr oft als der Hauptvertreter der westdeutschen Kriegsliteratur genannt, es werden umfangreiche Fragmente seiner Werke (wie General Wlassow, Die verlorenen Söhne, Wenn die Dämme brechen) zitiert und kommentiert. 39 Chodera, Jan / Urbanowicz, Mieczysław (Hg.): Mały słownik pisarzy niemieckich, austriackich i szwajcarskich, Warszawa 1973, S. 77 f. 40 Albrecht, Günther u. a. (Hg.): Lexikon deutschprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart, [Bd. 1:] A–K, Leipzig 1967, S. 274–277.

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Während dieser Phase der öffentlichen Rezeption war es der polnischen Leserschaft nicht möglich, sich selbst ein Bild von Dwinger und seinen Texten zu machen, wurde doch keines seiner Werke nach dem Krieg in Polen veröffentlicht. Es ist selbstverständlich, dass bei den negativen Urteilen über seine Person und sein Werk weder eine Übersetzung noch eine Neuauflage der Vorkriegsübersetzungen opportun erschien: In den von der Zensur kontrollierten Verlagen war an eine Veröffentlichung der Bücher Dwingers nicht zu denken, und das Risiko eines entsprechenden Vorschlags wagte wohl keiner der Verlagsredakteure oder -lektoren einzugehen. Unter diesen Voraussetzungen konnte die kritische Bewertung von Dwingers Werk somit nicht überprüft und gegebenenfalls revidiert werden, was mannigfaltigen Polemiken und Fehleinschätzungen Tür und Tor öffnete: So führte man Dwinger beispielsweise künstlich mit Ernst Jünger zusammen. Wilhelm Szewczyk formulierte in Literatura niemiecka w XX wieku die These, dass »sich Jünger zum geschätzten Lehrer für viele weitere Autoren entwickelt, von denen wir uns erlauben, lediglich E. E. Dwinger zu erwähnen«41. Fraglos trat Marian Szyrocki in die Fußstapfen Szewczyks, der in seiner umfassendsten Synthese der deutschen Literatur behauptete, dass »ein Edwin Erich Dwinger Schüler Jüngers war«42. In der bereits erwähnten Literatura niemiecka w XX wieku Szewczyks (in der Skizze Tematy odwetu [Revanchistische Themen]) findet sich unter dem Label einer »revanchistischen Strömung« ein anderes Paar: Dwinger und Edzard Schaper. So heißt es hier etwa: »Im Prinzip bedienen sich Literaten wie Dwinger und Schaper des jeweils gleichen revanchistischen Programms.«43 Unter diesen Bedingungen konnte das Bild Dwingers nicht auf dem üblichen Wege – durch Lektüre – revidiert werden, zumal niemand ein verstärktes Interesse an einer solchen Neubewertung hatte. Es ist zu vermuten, dass der so präparierte Dwinger auf eigenartige Art und Weise »bequem« war – er galt als harter »Faschist« und »Militarist«, als glühender Feind der UdSSR , den man stets einfach an den Pranger stellen konnte. Dieses Urteil bedurfte keiner zusätzlichen Begründung, es galt als endgültig nachgewiesen und unumstritten. Dwinger wurde folglich für unbegrenzte Zeit mit einem Bann belegt, wobei das Urteil in seiner Abwesenheit gefällt worden war und es keine Aussicht auf Aussetzung, Bewährung und schon gar nicht auf Begnadigung gab – zugleich stellte man die Rechtskräftigkeit des Urteils und die Glaubwürdigkeit der Richter zum damaligen Zeitpunkt nicht infrage. In der Gesamtschau der Äußerungen von 41 Szewczyk: Literatura niemiecka …, S. 55. 42 Szyrocki, Marian: Dzieje literatury niemieckiej. Handbuch, Bd. II , Warszawa 1972, S. 181. Zur hartnäckigen Koppelung der Namen Dwinger und Jünger aus politisch-ideologischen Gründen siehe: Exkurs Oferta ideologiczna. Jünger i Dwinger, in: Kunicki, Wojciech / ​ Polechoński Krzysztof: Ernst Jünger w publicystyce i literaturze polskiej lat 1930–1998. [Bd. I:] Studium recepcyjne. Bibliografia, Wrocław 1999 [eigentlich 2000], S. 123–129. 43 Szewczyk: Literatura niemiecka, S. 202.

Zur ›politischen‹ Rezeption von Edwin Erich Dwinger  

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polnischen Schriftstellern, Publizisten, Deutschlandexperten, Literaturkritikern und Deutschphilologen kann der Fall insofern als paradigmatisch bewertet werden. Diese erschwerte Rezeptionssituation blieb bis Anfang der 1980er Jahre bestehen – und endete etwa zeitgleich mit dem Tod des Literaten. Die kritischen Urteile aus den 1980er Jahren bildeten nur noch ein schwaches Echo der bissigen Pamphlete und Verrisse, die die polnische Dwinger-Rezeption in den ersten Nachkriegsjahrzehnten dominiert hatten. Grundsätzlich anderslautende, gehaltvolle und ausgewogene Urteile brachten erst die 1990er Jahre hervor, wie etwa den im »enzyklopädischen Lexikon« Deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts publizierten Eintrag von Wojciech Kunicki, der unter anderem sogar Parallelen zwischen dem Werk des deutschen und dem eines polnischen Schriftstellers feststellen konnte: In seinem Schaffen nach 1945 veranschaulicht Dwinger, ähnlich wie J. Mackiewicz, die Tragödie der Russen, die infolge der gegenrevolutionären Bestrebungen in die Kollaboration mit den Nazis verwickelt wurden: General Wlassow. Eine Tragödie unserer Zeit (1951); Sie suchten die Freiheit … Schicksalsweg eines Reitervolkes (1952).44

Darüber hinaus verdiene laut Kunicki »der Roman Wenn die Dämme brechen. Der Untergang Ostpreußens (1950), der die Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen beschreibt, Aufmerksamkeit aus der polnischen Perspektive«45. Durch einen ähnlich unvoreingenommenen Blick zeichnete sich auch die bündige Präsentation, die in der Zeitschrift »Fronda« von Tomasz Gabiś publiziert wurde, aus. Sie situiert Dwinger in der Ideenkonstellation der deutschen ›Konservativen Revolution‹ – Armin Mohlers Klassifizierung gemäß – in der Strömung des »soldatischen Nationalismus«46. Auch die ungemein positiv rezipierte Arbeit Wojciech Kunickis Konservative Revolution in Deutschland 1918–1933 hebt die Bedeutung des Autors Der Armee hinter Stacheldraht in den rechten Strömungen der Weimarer Republik hervor.47 Dwinger taucht mehrmals in der »Rezeptionsstudie« Ernst Jünger in der polnischen Literatur und Publizistik der Jahre 1930–1998 auf.48 Wie es scheint, ist die Rezeption der Werke Edwin Erich Dwingers in Polen eine abgeschlossene Angelegenheit. Ein Wiedererwachen der Popularität des Autors ist kaum zu erwarten, auf eine erneute Auflage seines einzigen ins Polnische übersetzten Werkes ist nicht zu hoffen und schon gar nicht mehr auf die Übersetzung weiterer Bücher. Dies schließt natürlich das Interesse polnischer 44 Zybura, Marek (Hg.): Pisarze niemieckojęzyczni XX wieku. Leksykon encyklopedyczny PWN , Warszawa 1996 [eigentlich 1995], S. 68. 45 Ebd. 46 Gabiś, Tomasz: Konserwatywna rewolucja, in: Fronda, 1997, Nr. 8, S. 114. 47 Kunicki, Wojciech: Wprowadzenie, in: Rewolucja konserwatywna w Niemczech ­1918–1933, Poznań 1999. (Poznańska Biblioteka Niemiecka, Bd. 6), S. 19, 45, 79, 631. 48 Kunicki, Wojciech / Polechoński, Krzysztof: Ernst Jünger w publicystyce i literaturze polskiej lat 1930–1998. [Bd. I:] Studium recepcyjne. Bibliografia, Wrocław 1999, passim.

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Germanisten nicht aus, obwohl bis jetzt keine umfangreicheren Spuren einens solchen Interesses festzustellen waren. Die Schlussfolgerung, die teilweise aus dem hier präsentierten Material resultiert, lässt sich gleichzeitig zum Postulat erheben: Der komplizierte Fall eines vergessenen Literaten verlangt nach einer eingehenden Untersuchung, wobei das Verfolgen von Rezeptionsspuren ein wesentliches Element dieses Postulats bildet.

Krzysztof Żarski, Wrocław

Harald Laeuen und die rückwärts­ gewandte ­Utopie »Polen« im Kontext der jungkonservativen Föderalismus­ debatten der frühen dreißiger Jahre Im Jahre 1932 erschien im Breslauer Korn-Verlag der von Edmund Schulz und Ernst Jünger vorbereitete Bildband Die veränderte Welt1 Die Tatsache der Publikation von einem der verlegerisch anspruchsvollsten Werke Jüngers in der abgelegenen Firma am Ende des Reiches wird vermutlich niemals eine ausreichende Beleuchtung erfahren. Die Konstellation mutet zu Recht exotisch an, zumal der Schriftsteller lebenslang eine Abneigung gegen den Osten hegte2 und wie die meisten Vertreter seines geistigen Milieus lediglich Russland in den Horizont seiner Interessen einbezog. Die Verbindungslinien nach Breslau sind infolge der geschichtlichen Umwälzung von 1945 beinahe komplett unkenntlich geworden, signalisieren jedoch die Aktivität eines der intellektuellen Zentren der ›Konservativen Revolution‹, das sich nicht über den Breslauer Standort, sondern den überregional und international agierenden Korn-Verlag definierte. Es handelte sich um eine Gruppe von Intellektuellen, die sich gleichzeitig um mindestens drei Einrichtungen gruppierten, das Berliner ›Politische Kolleg‹, die Zeitschrift »Der nahe Osten« und den niederschlesischen Korn-Verlag. Diese umfasste neben dem unumstritten im Zentrum stehenden Hans Schwarz3 weitere Intellektuelle wie Harald von Koenigswald, Friedrich Schinkel, Carl Dyrssen, Otto Weber-Krohse und Harald Laeuen, wobei als ihr Schutzpatron bis 1925 Moeller van den Bruck fungierte. Die Rolle von Moeller van den Bruck für den Kreis charakterisierte einer von den »Jüngeren«4 im Rahmen eines Rundfunkvortra1 Jünger, Ernst / Schulz, Edmund: Die veränderte Welt, Breslau 1933. 2 Letztens kam diese Einschätzung in der Biografie Gretha Jüngers zum Tragen, die einschlägige Charakteristik ihres Mannes lieferte. Vgl. Villinger, Ingeborg: Gretha Jünger. Die unsichtbare Frau, Stuttgart 2020. 3 Hans Schwarz (1890–1967), Dramaturg, Mitbegründer vom Politischen Kolleg, gemeinsam mit Martin Spahn Herausgeber der Zeitschrift »Der Nahe Osten«. Er war der Nachlassverwalter Moeller van den Brucks. Aufschlussreich bleibt Nostiz, Oswalt von: Hans Schwarz. Ein Preuße im Umbruch der Zeit (1890–1967), Hamburg 1980. 4 So nannten sich die Mitglieder des Kreises um Moeller, die offensichtlich den eigenartigen Umgangsformen des George-Kreises verpflichtet blieben. Es wäre wichtig, den Verwandtschaften beider Kreise separat nachzugehen, denen ein ausgeprägtes Meister-Schüler-Verhältnis eigen war.

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ges, der zum 10. Todestag Moellers vorbereitet wurde.5 Armin Mohler lieferte eine recht vage Beschreibung der »Preußen- und Ostmystiker«6, die zunächst mehr verdeckte als enthüllte, auch wenn er die Bedeutung des Kreises erstmals zur Diskussion stellte. Die Erläuterungen zu den jeweiligen Vertretern blieben knapp und insbesondere hinsichtlich ihrer Nachwirkung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lückenhaft. In den letzten Jahrzehnten erfuhren die Zusammenhänge in erster Linie in Wojciech Kunickis fundierten Schilderung der regionalen »NS -Kultur- und Literaturpolitik«7 grundlegende Erörterung. Unter den Verdiensten dieser Studie rangiert die Ausarbeitung der Fortdauerversuche des Kreises in den ersten Jahren des NS -Regimes sowie die eingehende Schilderung der beiderseitigen Anpassungsstrategien der neuen Kulturpolitiker und der alt-konservativen Kreise. Die institutionelle Verankerung und deutschlandweite Autorenwerbung des Korn-Verlages untersuchte 2015 Ulrike Geßler eingehend, deren akribisch ausgearbeiteten Aufsatz zum Korn-Verlag »Von friderizianischer Tradition erfüllt, sind die Mauern des Hauses«. Die letzten Jahre der Buchverlage Wilhelm Gottlieb Korn in Breslau (1929–1945)8 die allmählich ans Tageslicht kommenden Netzwerke der Firma vor Augen führt. Gemäß dem ordnendsystematisierenden Anspruch beider Studien kommt die ideelle Profilierung der jeweiligen Autorengruppen im Verlag nicht zur vollständigen Entfaltung, wenn auch Kunicki und Geßler den konservativ-revolutionären Empfindlichkeiten lebhaftes Interesse entgegenbringen. Anstelle des zunächst als dringendes Desiderat aufzufassenden Postulats einer flächendeckenden Analyse des Phänomens wird innerhalb des vorliegenden Aufsatzes eine Probestudie zur Ideenbildung und dem Nachleben der Breslauer Jungkonservativen angeboten, die eines ihrer manifesten Konzepte anvisiert. Der Föderalismus ist in der Forschungsliteratur einhellig als derartiges Markenzeichen anerkannt, ohne dass tragfähige und verbindliche Definitionen der diffus ausgelegten Formel vorliegen. Zu ihren greifbaren Elementen gehörte die Anerkennung vom multikulturellen Charakter Preußens, die vom Hintergrund der als epochale Katastrophe empfundenen Grenzziehung des Versailler Vertrages die Alternativszenarien der Beziehungen zu den ›Jungvölkern‹ erwog. Die Überlegungen visierten ›polnische Preußen‹ an, entfalteten aber großzügige Umgestaltungspläne Osteuropas in geschichtlicher und aktueller Perspektive.

5 Laeuen, Harald: Erinnerungen an Moeller van den Bruck. Rundfunkvortrag zum 10. Todestag von Moeller van den Bruck, o. O., o. J. [vermutlich am 30. Mai 1935 vom Sender Breslau übertragen]. 6 Mohler, Armin: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Dritte Auflage, Darmstadt 1989, S. 463 f. 7 Kunicki, Wojciech: »auf dem Weg in dieses Reich«. NS -Kultur- und Literaturpolitik in Schlesien 1933–1945, Leipzig 2006. 8 Geßler, Ulrike: »Von friderizianischer Tradition erfüllt, sind die Mauern des Hauses«. Die letzten Jahre der Buchverlage Wilhelm Gottlieb Korn in Breslau (1929–1945), in: Urszula Bonter, u. a.: Verlagsmetropole Breslau 1800–1945, München 2015, S. 377–456.

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Gerade in der Hinsicht waren der Vorstellungskraft der Jungkonservativen beinahe keine Grenzen geboten, was erst die Attraktivität ihrer länderübergreifenden Visionen ausmacht. Diese waren bewusst an keine strikten politischen oder wissenschaftlichen Vorgaben gebunden, die ihre Umsetzung verlangen würde, was der Geste einer Projizierung willkürlich formulierter Überlegungen in den imaginierten Raum Osteuropas gleichkam. Ihre Verwandlungskraft, Plastizität und aufkeimendes Innovationspotenzial wollen wir anhand einer Analyse des Schrifttums Harald Laeuens vornehmen, das auf eine für zahlreiche konservative Revolutionäre distinktive Manier zwischen intellektuell anspruchsvoller Essayistik und literarisch ambitioniertem Schaffen oszillierte. Harald Laeuen9 (1902–1980) entstammte einer im pommerschen Lauenburg ansässigen Apothekerfamilie, die wohlhabend genug war, dem Sohn das Studium der Volkswirtschaft an den Universitäten Tübingen, Greifswald und Berlin zu sichern. Laeuen engagierte sich rasch in der Burschenschaft Derendingia und übernahm daraufhin die Leitungsfunktionen in den studentischen Organisationen politischer Prägung, von denen der Hochschulring deutscher Art am wichtigsten war. Laeuen stellte selbst den Kontakt zu Max Hildebert Boehm her, der binnen weniger Jahre den jungen Mann in die Strukturen der Jungkonservativen in Berlin einführte, in erster Linie innerhalb des ›Politischen Kollegs‹. Ulrich Prehn arbeitete eindrucksvoll heraus, wie intensiv die intellektuelle Prägung in diesem Kreis war, die den Nachwuchs am ›Kolleg‹ als ›Eleven‹ oder ›Alumni‹ umschreiben ließ. Der Hamburger Historiker fand Aussagen von Boehm heraus, die ähnliche Regelmäßigkeit für Laeuen selbst bestätigen: »Auch in seinen größeren publizistischen Arbeiten über Ostfragen ist Laeuen den Anregungen treu geblieben, die er unserem Kreise verdankt.«10 In allen Quellen wird einhellig das junge Alter des Intellektuellen unterstrichen, mit dem er die weiteren Stufen seiner Karriere erstieg. Diese ging in Richtung publizistischredaktioneller Arbeit, die folgende Titel umfasste: »Osteuropäische Korrespondenz«, »Burschenschaftliche Blätter«, »Pommersche Tagespost« und die »Schlesische Zeitung«, wo er in den Jahren 1933 bis 1935 arbeitete und die für unseren Zusammenhang wichtigste Bekanntschaften schloss. Als entscheidend für den Werdegang Laeuens erwies sich die vierjährige Arbeitszeit als Auslandskorrespondent in Warschau 1935–1939, als er für »Münchner Neueste Nachrichten« und ähnliche Titel schrieb. Die Jahre des Zweiten Weltkrieges verbrachte Laeuen als Journalist in Berlin, wobei er Bücher über Polen und Rumänien veröffentlichte, die dazu führten, dass Ulrich Prehn seine Bezeichnung als Polenexperte 9 Knappe biografische Angaben werden hier anhand des im Nachlass Laeuen im Marburger Herder-Institut aufbewahrten Lebenslaufes aus der Feder Laeuens übernommen sowie der akribisch recherchierten Abhandlung von Prehn, Ulrich: Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik, Göttingen 2013. 10 BAK , N 1077/1, »Um das gefährdete Deutschtum«. Zit. Prehn: Max Hildebert Boehm, S. 220.

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stets in Einführungszeichen setzt.11 Nach 1945 arbeitete Laeuen neben kleineren Pressetiteln zeitweise für »Die Welt« und »Die Zeit«, wobei ihm 1955 der Durchbruch in die deutsche Öffentlichkeit mit dem Buch Die Polnische Tragödie gelangt, das im Stuttgarter Steingrüben Verlag drei Auflagen erlebte.12 Beflügelt vom Erfolg seines Buches, bemühte sich Laeuen 1956 um eine Auslandskorrespondentenstelle der FAZ in Warschau, plante somit in die Funktion der späten dreißiger Jahre zurückzukehren, was jedoch unter vollkommen anderen politischen Bedingungen an der Visaverweigerung der polnischen Behörden scheiterte. Daraufhin folgte die Einstellung als Rundfunkredakteur, Tätigkeit in der Zeitschrift »Osteuropa« sowie regelmäßige Teilnahmen an mannigfaltigen deutsch-polnischen Treffen (z. B. Lindenfelser Gespräche), die bis heute kaum erschlossen sind. Eine Ausnahme bildet das Historikertreffen in Tübingen im Oktober 1956, das hinsichtlich der Netzwerkbildungsmöglichkeiten für Laeuen denen seiner Warschauer Jahre nahekam.13 Im ersten Schritt soll die Vorbereitungsphase der Föderalismusformel im Breslauer jungkonservativen Kreis der dreißiger Jahre Erläuterung finden, zweitens die Ideenausarbeitung und Modifizierung Mitte der fünfziger Jahre in Westdeutschland unter der Feder Harald Laeuens geschildert, die in der Publikation der umfassenden Schrift Die polnische Tragödie kulminierte, und schließlich ihre überraschende exil(!)-polnische Aufnahme am Beispiel des Briefwechsels von Harald Laeuen und Jerzy Stempowski beleuchtet werden. Im Mittelpunkt bleibt die literarische Qualität der Lauenschen Essayistik, deren Visionen der Wirklichkeitsanalyse weit entrückt waren und in Richtung komplexer rückwärtsgewandter Utopien schritten. Die Hauptthese des vorliegenden Aufsatzes besagt, dass die Föderalismusformel der ostdeutschen Jungkonservativen über ihren, den traditionellen nationalistischen Duktus nuancierenden Charakter unter der Feder Harald Laeuens in den Jahrzehnten nach 1945 einen produktiven Dialog mit ausgewählten Fragmenten polnischer Kulturüberlieferung, Persönlichkeiten des polnischen geistigen Lebens sowie den polnischen Literaten im In- und Ausland anregte. Produktiver Dialog ist in dem Zusammenhang nicht mit künstlicher, geschweige denn aufgezwungener Annäherung zu verwechseln, genauso wenig mit der Auf-

11 Sowohl diese Publikationen als auch eingehende Analyse des Verhältnisses Laeuens zur NS -Ideologie und schließlich seine Gesamtbiografie sind als dringende Forschungspostulate zu bezeichnen. 12 Die Rezeption dieses Werkes ist bis heute nicht erforscht. Offensichtlich erntete dieses neben positiven Besprechungen ein beachtliches Leserinteresse. Armin Mohler nahm von der Veröffentlichung in seinem Eintrag zu Laeuen innerhalb des Handbuches keine Notiz. 13 Das Treffen ist von dem Breslauer Historiker Krzysztof Ruchniewicz eingehend beschrieben. Ruchniewicz, Krzysztof: Rozmowy w Tybindze w październiku 1956 roku. Pierwsze spotkanie historyków polskich i niemieckich po II wojnie światowej, in: Sobótka 1999, H. 1, S. 79–93.

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gabe eigener Positionen und Eigenart. Selbstverständlich blieb dieses Angebot ihrem historischen Rahmen verpflichtet und darf keinen Anspruch auf Universalität erheben, behält aber die Attraktivität alternativer Szenarien geistigen Austauschs beider Nachbarvölker. Im Hinblick auf die Aufarbeitung vom historischen Erbe der ›Konservativen Revolution‹ schöpft dieser Zugriff aus den Erkenntnissen der Abhandlung von Daniel Morat, der den symbolischen Übergang von der Tat zur Gelassenheit bei herausragenden Vertretern dieser Denkrichtung beschrieb.14 Harald Laeuens Œuvre ist aus diversen Gründen für eine Probelektüre geeignet, indem wir eine Figur ins Auge fassen, die im einstigen Ostdeutschland als die Verbindungsperson Ernst Jüngers auftrat, an den wichtigsten Veranstaltungen der neuen Nationalisten teilnahm, wie dem vielbeschworenen Geheimtreffen auf dem Eichhof15 im September 1929, sowie, unabhängig von den tragischen geschichtlichen Umwälzungen,16 Kontakte zur geistigen Elite Polens unterhielt. Für die ausgeprägte Gabe Laeuens zur Netzwerkbildung liegen mehrere Beweise vor, wobei Kunicki in der Zeit um 1930 in ihm gar den Berater des Korn-Verlages sowohl »bei den nationalbolschewistischen, als auch bei den ›normalen‹ apolitischen Publikationen zu Polen«17 erblickt. Interessanterweise vermochte Laeuen bereits in jenen Jahren seine Kompetenz zur Beurteilung schöngeistiger Literatur zur Schau zu stellen. Herr Laeuen sprach mir davon, dass er neben verschiedenen anderen Dingen auch polnische Romane und Novellen sucht, die sich zur Übersetzung ins Deutsche eigneten. Ich nannte ihm damals einige und verhehlte ihm nicht, dass ich von der zeitgenössischen polnischen Literatur nicht gerade viel hielte, dass nach meiner Ansicht von den lebenden Autoren nur Marja Dąbrowska der Übersetzung wert sei.18 14 So der Titel der gewichtigen Studie von Morat, Daniel: »Von der Tat zur Gelassenheit«. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007. 15 Im Sommer 1929 fand bei Werner Kreitz auf dem Eichhof in Rheindalen bei Mönchengladbach eine Tagung nationalistischer ›Führer‹ und Publizisten statt, die von der »Mittelstelle für nationale Publizistik« organisiert war. Vgl. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biografie, München 2007, S. 328. 16 Eine Ausnahme bildeten die Jahre des Zweiten Weltkrieges, die auch für Laeuen im vielfachen Sinne als dunkle Jahre zu bezeichnen sind. Sein Interesse am Thema Polen und Osteuropa ließ nicht nach; nichts ist über seine Kontakte zur örtlichen Bevölkerung bekannt. 17 Vgl. Kunicki: »auf dem Weg in dieses Reich«, S. 355–365. In einem Unterkapitel zu Heinrich Koitz erarbeitete Kunicki aufgrund ausgedehnter archivalischer Recherche die Bemühungen um die Übersetzungen aus dem Polnischen für den Breslauer Korn-Verlag, dabei die Rolle Laeuens unterstreichend. 18 Brief von Elga Kern an Dr. Kurt Fiedler RSK . Berlin vom 30. August 1935. BArch. RK 2108 Z0005. Zit. nach Kunicki: »auf dem Weg in dieses Reich«, S. 356. Wie Wojciech Kunicki ermittelte, besorgte die deutsch-jüdische Autorin Elga Kern vermutlich auch eine Teilübersetzung aus »Nächte und Tage« Maria Dąbrowskas. Die Bemühungen des Korn-Verlages um die polnischen Literaten erläutert auch Geßler: »Von friderizianischer Tradition

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Der bekannte Roman von Dąbrowska Nächte und Tage erschien daraufhin tatsächlich in deutscher Übersetzung von Heinrich Koitz19 in Breslau,20 wobei Harald Laeuen immer mehr als der eigentliche Mitbegründer der »polnischen Welle« bei Korn in den Blick gerät.21 Der studierte Nationalökonom22 Laeuen brauchte allerdings einen literarischen Mentor, der ihn gleichzeitig in die Arkanen der schriftstellerischen Werkstatt als auch in die Freiheit historischer Publizistik einführte, die sich unter Essayistenfeder jenseits der akademischen Strenge entfalten durfte. Der Raumgedanke, die Föderalismusidee der Jungkonservativen avancierte bei dem Deutschphilologen und Theatermenschen Hans Schwarz zum willkommenen Vorwand, in die Fußstapfen der Frühromantiker zu treten. Atemberaubende kombinatorische Einfälle setzten vollkommen disparate historische Ereignisse in Verbindung, die neue Qualitäten der Vergangenheitsdeutung hervorbrachten. Es war die schriftstellerische Fantasie, die mit so anspruchsvollen Mitteln wie Analogie, Experiment oder Provokation arbeitet und trockene Tatsachen in anregende Denkanstöße verwandelt, die in brillante historische Essayistik münden. Ein beredtes Zeugnis vom lediglich vordergründigen Umgang Laeuens mit dem Sujet Polen bringt der für die Bedürfnisse des vorliegenden Aufsatzes als Übergangstext zu bezeichnender Beitrag Wider die Staatsallmacht (1949). Der deutsche Autor prangert die liberale Wirtschaftsgepflogenheiten nachahmende Staatsmaschinerie an, die alleine auf Effizienzsteigerung erpicht ist und jeder

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erfüllt«, insb. im Unterkapitel »Der Fall Maria Dąbrowska-Nächte und Tage«, S. 426–431. Nuancieren könnte man lediglich die Information, ob Harald Laeuen Warschau 1935 extra aufsuchte oder dort bereits in der Funktion des Auslandskorrespondenten arbeitete, die er im selben Jahr aufnahm. Heinrich Koitz (1901–1943) war eine weitere Figur im Netzwerk des Breslauer KornVerlages, die vermutlich enge Kontakte mit Laeuen unterhielt. Der Absolvent Breslauer Slawistik war nach Otto Forst-Battaglia der chronologisch zweite deutsche Übersetzer der Nächte und Tage. Auf diesen Umstand hat Ewa Głębicka hingewiesen. Vgl. Głębicka, Ewa: Wokół Nocy i dni Marii Dąbrowskiej w przekładzie Leo Lasińskiego, in: Pamiętnik Literacki H. 1, 2004, S. 175–200, hier S. 180, Fußnote 14. Ferner Drewniak, Bogusław: Polsko-niemieckie zbliżenia w kręgu kultury 1919–1939, Gdańsk 2005, S. 132–134; Kunicki 2006, S. 355 und 763. Vgl. Żarski, Krzysztof: Kornowie, in: Kunicki, Wojciech / Kopij, Marta u. a.: Wrocław literacki / Literarisches Breslau, Wrocław 2007, S. 350–372. Vgl. Głębicka, Ewa: Wokół Nocy i dni Marii Dąbrowskiej, S. 175–200. Głębicka zitiert einen Brief von Maria Dąbrowska an Leo Lasiński aus dem Jahre 1953, in dem die polnische Autorin sich an die Besuche von Heinrich Koitz Ende der dreißiger Jahre bei ihr in Warschau erinnert. Den neuesten Forschungsstand bringt die für das Jahr 2021 angekündigte Edition der Nächte und Tage in der philologisch vorbildlichen Reihe »Biblioteka Narodowa«, die mit einem umfassenden Vorwort von Ewa Głębicka versehen wird. Es ist anzunehmen, dass Laeuen die Warschauer Besuche von Heinrich Koitz bei Maria Dąbrowska zumindest organisatorisch unterstützte. Seine als Dissertation vorgelegte Studie über die »Östliche Agrarrevolution« bezeichnete Laeuen charakteristischerweise als keine »wirtschaftsgeschichtliche«, sondern »ideengeschichtliche« Abhandlung.

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menschlichen Note entbehrt. »Zuviel Herz zu haben, ist schädlich, Kraft und Kälte sind allein geschätzte Eigenschaften, wenn es sich um die Verfolgung äußerer Ziele handelt.«23 Als grauenerregend empfand der Publizist bereits Ende der vierziger Jahre die wachsende Unübersichtlichkeit und Abstraktheit der Staatsinstanzen, in den Mittelpunkt seines Interesses rückten jedoch die Folgen der Technikerherrschaft für die zwischenmenschlichen Kontakte. Was Laeuen diagnostiziert, ist die Verwandlung des modernen Staatsgetriebes in den Jüngerschen Arbeiter-Staat, eine in alle Sphären des menschlichen Lebens eingreifende Instanz, die nicht geringste Freiräume der Selbstregulierung überlässt. Die Kritik richtet sich scheinbar gegen den »sozialistischen Despotismus« der Ostblockstaaten, wo die Gnadenlosigkeit der Verwandlung greifbarer ist: »Es gibt keine Schätzung des Menschen an sich, Fürsorge hat den Nutzeffekt zu steigern, die Tourenzahl der Maschine zu erhöhen.« Der scharfsinnige Beobachter und Leser Jüngers weiß jedoch, dass es sich um Entwicklungen planetarischen Charakters handelt, die eine ihrem Wesen nach, verwandte Entfaltung in der Welt westlicher Demokratien erfahren. Die Logik der totalen Mobilmachung macht nämlich vor keinerlei politischen Systemen halt, die eine komplette Funktionalisierung des Menschen anstrebt. Bereits in dem Text, wo Polen keine Erwähnung findet, sucht Laeuen nach den Oasen in der Vergangenheit, Sphären der imaginierten Idylle, wie die Habsburger Monarchie oder das Osmanenreich. Im Jahre 1930 veröffentlichte Harald Laeuen den Aufsatz Die geschichtlichen Kräfte Polens24, der in nuce die meisten der von ihm jahrzehntelang entfalteten Ideenstränge beinhaltete. Die Gedankengänge von Hans Schwarz zu Föderationsbildungsplänen übertrug der Verfasser geschickt auf den jagellonisch beherrschten Raum Osteuropas zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Spektakulär fiel dabei die Parallelisierung von Preußen Anfang des 20. Jahrhunderts und der untergehenden Adelsrepublik am Ende des 18. Jahrhunderts. Beide Staatsgebilde sollten den gleichen Versuchungen erliegen, die ihr Potenzial einschränkten: »Die jagellonische Idee, die Idee der föderativen staatlichen Zusammenfassung eines großen Raumes, wurde abgelöst von der nationaldemokratischen Idee, auf der das gegenwärtige europäische Staatensystem beruht.« Jeder Versuch der Unterordnung von Polen war zum Scheitern verurteilt, sobald übernationale Konzentrationspunkte wie die preußische Monarchie unter der Herrschaft von Friedrich Wilhelm  IV. aufgegeben waren. Es fehlte an einem gemeinsamen geistigen Fundament, das jenseits des Politischen den Raum konsolidieren sollte.

23 Laeuen, Harald: Wider die Staatsallmacht, o. J. o. O., [vermutlich um 1949 verfasst]. DSHI  100 24 Laeuen, Harald: Die geschichtlichen Kräfte Polens, in: Wagner, Siegfried: Die polnische Gefahr, Berlin 1930, S. 3–18. Der Verfasser bedankt sich bei Herrn Dr. Martin Hollender (Berlin) für die Beschaffung dieser Schrift.

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Wir versuchten, wie die Polen, nur als Westeuropäer nach Osten vorzudringen, aber wir waren keine Kolonisatoren mehr in dem Sinne, dass wir auf östlichem Boden verwurzelten und eine neue geistige Rasse begründeten, wie einst als Ergebnis der ostelbischen Kolonisation des Mittelalters das Preußentum.25

Halten wir fest, dass Laeuen bereits 1930 ein Polen projizierte, das großzügig denkt, d. h. nicht im Sinne der zähen Kämpfe um einzelne Ortschaften, sondern kultureller und freiheitlicher Durchdringung riesiger Räume, die dazu auch auf wirtschaftlicher Ebene prädestiniert waren. Kurzfristig gesehen wollte Laeuen damit ein Vorbild für die alternative preußische Ostpolitik etablieren, langfristig eine Neuregelung der ostmitteleuropäischen Verhältnisse anstreben, die zumindest die Eigenart des Besonderen einer Landschaft respektierte. Deutlich klingt hier die Großzügigkeit der Worte Hans Schwarz’ nach: »Seltsam, wie diese Seele im Osten blieb! Wie Breslaus genius loci zwischen Warschau und Krakau steht! Kein Wunder, dass Schlesien auch die Gärungen des Ostens teilte.« Die Stärke derartiger, zum Zeitpunkt ihrer Entstehung verblüffender Behauptungen, als Denkanstöße konzipiert, lag nicht im politischen Umsetzungspotenzial, sondern in der Aufforderung zur Horizonterweiterung, Ideenbildung, die den imaginierten Osten erst einmal in der Vorstellungskraft etablieren sollte.26 Ein jenseits der festgefahrener Interpretationswege argumentierender Schreibstil Laeuens war deutlich vernehmbar, dem die Erfahrungen vierjähriger Arbeit als Auslandskorrespondent in Warschau (1935–1939) zum fruchtbaren Eintauchen in die Welt der polnischen Literatur und Kultur verhalfen.27 Mitte der fünfziger Jahre wandte sich Laeuen einer Thematik zu, die sich in der westdeutschen Öffentlichkeit der Adenauer-Ära aus naheliegenden Gründen keiner großen Beliebtheit erfreute. Das Land hinter dem Eisernen Vorhang und der Zone assoziierte man mit Kriegs- und Nachkriegstragödien, diplomatische Kontakte waren nicht geknüpft, die Kulturkontakte auf ein Minimum begrenzt, und die mentale Fixierung auf die Grenzproblematik schien dauerhaft zu werden. Selbst die Umstände legen den Gedanken nahe, dass Laeuen ein Buch vorlegte, das die im Titel erwähnte, »Tragödie« nicht auf Polen reduzierte, sondern breiter aufzufassen bereit war. Im ursprünglichen Sinne des Wortes erzählte er somit die Geschichte von einem schmerzvollen Sturz aus großer 25 Ebd. 26 Gleiche Gedankengänge entwickelte interessanterweise in Polen zeitgleich Jerzy Stempowski, der seinen Landsleuten eine geistige Verkümmerung bezüglich der Ostproble­ matik attestierte, die auf föderativem Fundament neu konzipiert werden müsse, sollten die Polen überhaupt als Alternative für Russland infrage kommen. 27 Die Jahre des Zweiten Weltkriegs bedeuteten in der Hinsicht für Harald Laeuen einen deutlichen Rückschritt, der auf seine eingehende Analyse wartet. Dementsprechend mag es nicht verwundern, dass Ulrich Prehn die Bezeichnung »Polenexperte« hinsichtlich Laeuen konsequent in Einführungszeichen setzt. Vgl. Prehn, Ulrich: Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik, Göttingen 2013. Umso mehr wartet diese Figur auf eine ganzheitliche biografische Untersuchung.

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»Fallhöhe«, den ein bedeutendes Land der europäischen Völkerfamilie aus einer hohen Stellung »schuldlos schuldig« erfuhr. Anders ausgedrückt analysierte Laeuen den im Aufklärungszeitalter vielfach diskutierten Untergang der Adelsrepublik, unterzog diesen vollkommen neuen Interpretationen und bemühte sich um Schlussfolgerungen, die ihre Geltung für die mentale Neuordnung Europas beanspruchen durften. Eine waghalsige Aufgabe, zumal die Aufgeklärten ein bis heute kaum revidierbares Urteil über die Gründe dieser Katastrophe aussprachen. Mehr noch, die Modernisierungswege der westlichen Zivilisation über die Jahrhunderte hinweg schienen dies einwandfrei zu bestätigen. Die vermeintlichen Sünden und Schwächen der Adelsrepublik dienten somit als willkommenes Spiegelbild für den Glanz eigener Vorteile. Die Verteidigung des kaum zu Verteidigenden muss von daher als intellektuelle Provokation erörtert werden, die imaginiertes und konstruiertes »Polen« als Projektionsfläche eigener Träume, Wünsche und Hoffnungen in Anspruch nimmt. Demzufolge verfuhr Laeuen zweigleisig, indem er neben die detailtreue, akribische Rekonstruktion der historischen Begebenheiten an der Weichsel zwischen dem Mittelalter und der Volksrepublik einen zweiten Narrationsstrang legte. Für diesen nahm er sich eine dichterisch anmutende Freiheit der Interpretation vor, die genau dadurch polnische Dichter und Denker begeistern sollte, wie noch zu zeigen sein wird. Die Vergangenheit eines ostmitteleuropäischen Landes fungierte als Denkspiel, Exerzierfeld des Geistes, romantisches Experiment. Das Werk als Ganzes ist vor dem Hintergrund der dezent artikulierten literarischen Ambitionen Laeuens als eine rückwärtsgewandte Utopie zu betrachten, die ihr Arkadien im Goldenen Zeitalter der polnischen Adelsrepublik entdeckte. In der Mitte des 20. Jahrhunderts, als die ferne Zukunft inklusive der Weltraumeroberungsträumen die Fantasie der ganzen Schriftstellergeneration beflügelte, bewegte sich der Autor gegen den reißenden Strom dieser Mode. Das genuin Literarische an seiner Arbeitsmethode am Sujet »Polen« war das Zerlegen der gegebenen historischen Wirklichkeit in kleine Elemente, die nach einem geschickt konzipierten Muster daraufhin zusammengefügt wurden und schließlich eine qualitativ neue, geschlossene und überzeugende Narration hergaben. Die Desinvolture dieser Geste übernahm Laeuen von seinem Mentor Hans Schwarz und perfektionierte diese über konsequente Distanzierung von der für Sachbücher eigentümlichen und erwarteten Tatsachenwiedergabe, die, vordergründig präsent, als Kulisse für das freie Assoziationsspiel fungiert. Folgerichtig war das erklärte Anliegen Laeuens weder die Schilderung »des polnischen Schicksals« noch »eine Staatskritik«, sondern »ein Beitrag zu dem ewigen Thema der menschlichen Freiheit«. Die beiden erstgenannten Elemente waren in dem Sinne unverzichtbar, als sie die Materie für eine Aufarbeitung vom Erbe der ›Konservativen Revolution‹ unter den Bedingungen der Nachkriegszeit darstellten. Diese Qualitäten der Laeuenschen Prosa erkannte der polnische Schriftsteller Jerzy Stempowski treffsicher, indem er diese folgendermaßen charakterisierte:

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Harald Laeuen ist kein Historiker, der die Dokumente erörtert und auf ihrer Grundlage sich um die Wiedergabe eines Geschichtsbildes sowie der Begriffe vergangener Jahrhunderte bemüht. Sein Buch würde ich eher der Geschichtsphilosophie zu­ rechnen. Auf der Grundlage reicher Materialien, mithilfe unzähliger Vergleiche und Annäherungen, arrangiert der Autor die bekannten Tatsachen in neuer Manier, nebenbei die Urteile der polnischen und der deutschen Historiker revidierend. In der besten Tradition des deutschen Essays verbindet sein Buch die Methodik mit der Vorstellungskraft.28

Noch deutlicher, wenn auch über ausgesuchte Bezugsbildung, wertete Stempowski den literarischen Anspruch des deutschen Buches kurz nach der Lektüre: Der Verfasser (Laeuen, K. Z.) spart nicht mit bitteren Anmerkungen gegen die Histo­ riker, die, seiner Meinung nach, den Sinn einstiger adelsrepublikanischen Gesellschaftseinrichtungen verzerrten. Allein das Interesse der Deutschen am geistigen Erbe der Jagellonen trägt etwas selbst dem E. T.A. Hoffmann Würdiges.29

Nun ist diese Behauptung auf unterschiedliche Art zu interpretieren, wobei nicht nur das Außergewöhnliche der Konstellation vom deutschen Autor, der die Ostgefilde des längst untergegangenen Ostreiches beschreibt, gemeint ist, sondern zwei Merkmale der Hoffmannschen Prosa ins Spiel kommen: ihre Doppelbödigkeit und nahezu schrankenlose Phantasiemacht, die autonome Welten kreiert. Einer solchen utopischen und gleichzeitig bezaubernden Welt begegnen wir inmitten eines scheinbar trockenen historischen Traktates. Für die Auseinandersetzung mit dem Thema Freiheit brauchte Laeuen das Beispiel eines Landes, das in den Augen Europas an ihrem Übermaß zugrunde ging, für ihre Wiedergewinnung jahrhundertelang kämpfte und daraufhin standhaft verteidigte. Solche Auffassungen über die Geschichte Polens vertrat der Historikerzunft im In- und Ausland, wobei inländische Forscher die Opferrolle Polens ungern aus den Augen verloren, während ausländische gerne die Eroberungslust der Adelsrepublik betonten. Die Positionen bildeten zwei Seiten einer Medaille, die die Polen als mutige Krieger darstellten, die zwar mehr Niederlagen als Siege erlitten, aber ihre unzweifelhaft männlichen Tugenden ununterbrochen unter Beweis zu stellen bereit waren. Laeuen gelang eine komplett abweichende Akzentsetzung, indem er die Weiblichkeit der Landeseinwohner in den Vordergrund rückte. Eine Charakteristik, die im vollkommen positiven 28 Stempowski, Jerzy: Idea jagiellońska, in: Chabiera, Magdalena (Hg.): Jerzy Stempowski: Niemcy, Bd. II 1940–1965, Warszawa 2018, S. 363 (dt. K. Z.). 29 Stempowski, Jerzy: Brief an Maria Dąbrowska, vom 12. September 1956, zit. Chabiera: Jerzy Stempowski, S. 363 (dt. K. Z.). Die verdienstvolle Herausgeberin seiner deutschen Essayistik erörtert in ihrem Kommentar zum obigen Brief (Fußnote 3, S. 351) die biografischen Verbindungen Hoffmanns zu Polen sowie seine Unterstützung für den Freiheitsdrang der Polen. Den Möglichkeiten wäre ein Blick ins Werk Hoffmanns selbst an die Seite zu stellen, der die Palette der von Stempowski suggerierten Beziehungen ergänzt.

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Sinne ausgelegt, die Kategorie der Freiheit neu zu definieren erlaubte und die ganze Palette ihrer überraschenden Facetten ausbreitete. Eines der relevantesten Talente, die Laeuen mit der KR-Intellektuellen teilte, war die Gabe, nicht in Begriffen, sondern in Bildern zu denken. Eines der aussagekräftigen Bilder der Abhandlung evoziert die Feststellung: »Tanzend ist Polen zugrunde gegangen.«30 An die Stelle des Leidens, Kampfes und Trauer kommt das überraschende Abschiedsfest einer in ihrem traditionellen Wesen zum Fortbestehen unfähigen Staatsgebildes. Die Dekadenz von Venedig31 mit ihren üppigen Maskenbällen, ausufernden Spielen und Identitätstausch wird hier heraufbeschworen, ohne vom alleingültigen Standpunkt der »Stärke, Nüchternheit und rastloser Arbeit« verdammt zu werden. Der Leser sieht die aus der Geschichte vertrauten Elemente in einer theatralisch anmutenden Szene so kunstvoll und überraschend arrangiert, dass die Bilder eines Giovanni Battista Piranesi in den Sinn kommen, um bei der Beschwörung Venedigs zu bleiben. Die heraufziehende Niederlage, die als Schmach und Demütigung empfunden werden sollte, verwandelt sich bei Laeuen in einen Karneval, der über seine Mehrdeutigkeit keine einfachen Schuldzuweisungen zulässt, die den Charme des Spielerischen bis zum Äußersten auslebt. Möglicherweise ist dieser Aussage mehr Reife zuzusprechen als auf den ersten Blick zumutbar, indem eine Schicksalsakzeptanz zum Worte kommt, wie Werner Jaeger diese für griechische Polis diagnostizierte: »Die geschichtliche Form ihres Staates hatte sich ausgelebt, und keine künstliche neue Organisation konnte sie ersetzen.«32 In der Aufgabe des sinnlosen Kampfes erblickt der Autor eine Quelle unüberwindlicher Stärke, Fortdauer und Regenerationskraft, deren Wurzeln jenseits staatlicher Organisationsformen33 schlagen. Die Beschwörung der Weiblichkeit entzieht Laeuen dabei der Sphäre der eindimensional verstandenen Erotik, indem der ganzen Palette dieses geistig aufgefassten Phänomens Rechnung getragen wird.34 Diskret eingeflochten in die Ausführungen ist dabei als fester Bezugspunkt das ewig Weibliche Goethes präsent, aber die direkte Inspirationsquelle ist im Werk von Hans Schwarz zu erblicken. Verstreute und vage Hinweise darauf hinterließ Laeuen in einem im Nachlass aufbewahrten Typoskript: Lyrik ist heute wenig gefragt, die Schwarzschen Gedichtbände sind dem Publikum meist nicht mehr zugänglich. Wir sind für die Nachkriegszeit auf die schmale Aus30 Laeuen: Polnische Tragödie, S. 187 31 Die Serenissima ist lediglich zwei Jahre später – 1797 – als die Adelsrepublik untergegangen, wobei die beiden Katastrophen längst gerne in Verbindung zueinander gebracht werden. 32 Jäger, Werner: Paideia, III . Bd., S. 373, Berlin 1947. Zit. Laeuen, S. 205. 33 Interessanterweise genauso jenseits nationaler Zuschreibungen. 34 Es wäre einer Untersuchung wert, inwieweit die Weiblichkeitskonzeption Laeuens mit den Überlegungen von Edgar Julius Jung aus der »Herrschaft der Minderwertigen« übereinstimmen.

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gabe der Neuen Gedichte (Stromverlag) angewiesen. Sie sprechen vom Wunder der Schöpfung und von der Gottesverlassenheit, vom Licht und von der Gnade im Bereich der christlichen Verkündigung. Nur aus der religiösen Substanz lässt sich eine Mitte des Lebens wiedergewinnen, ohne die es schal bleiben muss. Von dieser Substanz hat die Frau mehr bewahrt als der Mann, über dessen Versagen die Schwarzsche Dichtung schonungslose Aussagen macht, während sie einem Kult des Mütterlichen ergeben ist.35

Ein weiterer, etwas verdeckter Inspirationsstrang Laeuens ist in dem vielgelesenen Buch Nikolaj Berdjajews Das neue Mittelalter36 zu finden. Der russische Philosoph diagnostizierte als charakteristisches Merkmal der von ihm als neues Mittelalter beschworenen Gegenwart die an Bedeutung gewinnende Rolle der Frau. Diese Entwicklung brachte Berdjajew jedoch nicht mit der voranschreitenden geschlechtlichen Gleichberechtigung in Verbindung, die auch schon seine Epoche kennzeichnete, sondern mit dem Element des Familiären, Gemeinschaftlichen, Genossenschaftlichen, als dessen natürliches Zentrum er die Frau erblickte. Gerade an dem Punkt begegnete die Kulturkritik Laeuens Berdjajew, der die ausschließlich männerdominierte Kultur als ausgedörrt, ausgemergelt und für das Unheil des 20. Jahrhunderts verantwortlich empfindet. Ihre Bloßstellung ist darüber hinaus auf den Weltkrieg zurückzuführen, bei dem der russische Philosoph den ersten und der deutsche Publizist den zweiten Weltkonflikt meinte. »Die Männerkultur ist zu rationalistisch, diese ging zu weit weg von den unmittelbaren Geheimnissen vom Weltall und kehrt zu diesen über die Frau zurück.«37 Die Rückkehr zur Frau bedeutete im symbolischen Sinne das Recht auf Individualität, die sich nicht über Eroberungen in der Außenwelt definierte, sondern das Lob des gewöhnlichen, alltäglichen Lebens sowie Sympathie und Mitleid für einfache Menschen umschloss.38 Eine Bezugsperson für diese Zuschreibungen war im Kreis der deutschen ›konservativen Revolutionäre‹ ein weiterer russischer Philosoph, Wasilij Rosanow, dessen Positionen mit folgender Szene am besten zu charakterisieren sind: »Auf die Frage ›Was tun?‹ antwortete er scheinbar banal ›Wie was tun? Soll es Sommer sein, die Erdbeeren auslesen und Konfitüre kochen, soll es Winter sein, den Tee mit diesen Konfitüren trinken?‹« Die scheinbar banale Anekdote bringt die Beschaffenheit des 35 Laeuen, Harald (?): Eros und Psyche. Das Werk des Dichters Hans Schwarz, NL Laeuen, DSHI 100 Laeuen. Der Kurztext entstand vermutlich um das Jahr 1950. 36 Berdjajew, Nikolaj: Das neue Mittelalter, Berlin 1924. 37 Berdjajew: Das neue Mittelalter, in: Henryk Paprocki (Hg.): Mikołaj Bierdiajew: Nowe Średniowiecze. Los człowieka we współczesnym świecie, Warszawa 2003, S. 89 (dt. K. Z.). Es ist frappierend, wie sehr Laeuen bei der Beschäftigung mit Bierdjajew dem Vorbild seines guten Bekannten Ernst Jüngers folgte, der in Paris ab 1943 wertvolle Hinweise auf die konkreten Werke dieses Autors vom russischen, in der französischen Hauptstadt arbeitenden Arzt Salmanoff, erhielt. 38 Die Charakteristik der Ansichten Rosanows nach Breczko, Jacek: Poglądy historiozoficzne pisarzy z kręgu Kultury paryskiej. Przezwyciężenie katastrofizmu. Odrzucenie mesjanizmu, Lublin 2010.

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osteuropäischen Raumes in der Perspektive Harald Laeuens auf den Punkt: Der Rückzug des polnischen Adels auf seine Höfe, die Nichtbeteiligung am öffentlichen Leben wird vom Hauptlaster zur Kardinaltugend umgewertet, vita activa gegen vita contemplativa ausgelotet, das Glück des Alltäglichen ausgesprochen. Den als ausgeprägte Persönlichkeiten gefeierten Schlachzizen wird sogar das Recht auf Anarchie eingeräumt, da diese der Vermassung und Nivellierung vorbeugt oder anders ausgedrückt vor den Zugriffen des ausufernden Staates schützt. Der absolute Staat nämlich zerstört »die individuellen Verbindungen und bodengewachsenen Organismen, in denen auf eigene Weise menschliches Glück erblüht«39. Anstelle dieses Zentralverbandes können die auf Brüderlichkeit fußenden Gemeinschaften treten, die kein Konkurrenzverhältnis, sondern Kooperationskünste entwickeln. Die legendäre Rückständigkeit Polens erweist sich plötzlich als Alternativszenario für den vom Fortschrittsdenken besessenen und versklavten Westen. Die Preisgabe vom Beschleunigungsdrang befreit die Einwohner vom Migrationszwang, da diese ihr Leben in den jeweiligen Regionen als gleichwertig empfinden. Was Laeuen faszinierte, war die Fähigkeit, auf eine unkriegerische Art dieses jenseits aller Regelmäßigkeiten europäischer Entwicklung liegende Land zu vergrößern, das jahrhundertlang über den Grad der darin waltenden Freiheit fremde Bauern und Bürger anlockte. Die Unionspolitik ersetzte die Eroberungskriege, da die polnische Anpassungskunst und Anschmiegsamkeit reibungslose Integration fremder Ethnien und Religionen sicherstellten. Ausnahmslose Großzügigkeit bildete den Kitt des kolossalen und dabei nicht auf Gewalt aufgebauten Föderation. Erst eine Zeit, die erfahren hat, zu welcher Niedrigkeit ein Leben der Stärke entarten kann, versteht, wie furchtbar die Beraubung des kollektiven Organismus um jene zarten Saiten ist, ohne die das seelische Wachstum verdorrt. In dem Worte ›Schönheit‹ drückt sich ein großer Gehalt und eine Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies aus, von der sich das polnische Herz nicht zu befreien vermochte.40

Die Worte vom verlorenen Paradies umschrieben am treffendsten das imaginierte »Polen«, das zur symbolischen Heimat des von der forcierten Modernisierung und dem katastrophalen Krieg gefolterten Europäers aufsteigen kann. Als solches existierte es niemals in der realen Welt, kaschiert waren beinahe alle sozialen Spannungen, ethnische Reibungen und aufgegebene Reformprojekte. Laeuen verzauberte den Raum »Polen«, um der »entzauberten Moderne« ein Gegenbild vorhalten zu können. Des Landes Unheil wurzelte angeblich in der allmählichen Verwestlichung verstanden als Verfall in die Muster des Macht-

39 Laeuen, Harald: Die Polnische Tragödie, Stuttgart 1954, S. 58, zit. Neumann, Friedrich Wilhelm: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge, Bd. 4, H. 2 (1956), S. 181–185. 40 Laeuen, Polnische Tragödie, S. 205.

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denkens, die das Bild der Idealföderation sprengten. Diese begünstigte nämlich die engstirnig nationalistische Vorgehensweise im Zentrum Europas, die sich paradigmatisch am preußisch-polnischen Antagonismus manifestierte. Die Tür zum Paradies schloss und die Rückkehr dorthin war nur innerhalb des utopischen Denkens möglich.

Harald Laeuen und Jerzy Stempowski Es ist erstaunlich wie weit die Verwandtschaft der Visionen Laeuens mit den Gedankengängen des polnischen Exilschriftstellers Jerzy Stempowski41 ging, wobei diese zwangsläufig die Frage nach einer eventuellen Abhängigkeit aufwirft.42 Ihre Entschlüsselung ist dadurch erschwert, dass der polnische Schriftsteller aus dem Erbe diverser Autoren der deutschen ›Konservativen Revolution‹ schöpfte. Unter den häufig gebrauchten Begriffen im Werk des Essayisten befand sich die »totale Mobilmachung« als Sinnbild der im Beschleunigungszustand begriffenen Welt. Nachweislich besaß Laeuen einen Aufsatz von Stempowski in seinem Privatarchiv unter dem Titel: Die polnische Intelligenz gestern und heute, der in der Prager »Slavischen Rundschau« erschien.43 Die Rolle von Stempowski im geistigen Leben Polens war selbst bei bescheidener, wenn auch prägnanter Publikationstätigkeit dermaßen exponiert, dass von der Vertrautheit Laeuens mit seinen Ansichten bereits in den dreißiger Jahren auszugehen ist. Schwerer ins Gewicht fällt, dass die beiden Intellektuellen, die vollkommen unterschiedlichen intellektuellen Traditionen entstammten, nach 1945 fast zum Verwechseln gleiche Positionen der Modernekritik besetzten. Ihre staatspolitischen Ansichten, die in der Aufwertung des Individuums mündeten, ver­ deutlichen eine Skepsis den anonymen Großverbänden gegenüber. Anstelle der auf männlicher Aggression fußenden Konkurrenzverhältnisse sollte eine neue Qualität der zwischenmenschlichen Kontakte herbeigeführt werden. Harald Laeuen räumte in der Hinsicht Jerzy Stempowski eine Inspirationskraft ein, die ihm die seit dem Erscheinen des Buches Die polnische Tragödie relevanten Ideen zur Entfaltung verhalf: Sie haben in mich die Idee gepflanzt, die Geschichte vom Standpunkt des Mediators zu betrachten, eine fruchtbare Idee, wie mir scheint, angesichts der heroisierenden 41 Jerzy Stempowski lebte seit 1940 bis an sein Lebensende im schweizerischen Bern. Heutzutage wird er zu den bekanntesten Essayisten der polnischen Literatur im 20. Jahrhundert gezählt. Aufgrund seiner Abstammung aus den Ostgebieten Polens, die nur zu Zeiten der Adelsrepublik in ihren Grenzen lagen, darf man einen Vergleich zu preußischpommerschen Abstammung Harald Laeuens wagen. 42 Diese bedürfte einer eingehenden Analyse, die künftigen Studien vorbehalten werden muss. 43 Stempowski, Jerzy: Die polnische Intelligenz gestern und heute, in: Slavische Rundschau, Nr. 1/2, Prag 1939, S. 7–14.

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Geschichtsbetrachtung, die wir gewohnt sind. Ich denke von Zeit zu Zeit immer wieder darüber nach, nur hege ich Zweifel, ob ich dazu fähig bin, die Aufgabe zu bewältigen. Vielleicht, wenn ich mich mit Ihnen vereinte, aber wir sind räumlich leider weit voneinander entfernt. Ich wünschte sehr, dass wir uns einmal wiedersähen und dann nicht in Verbindung mit einer Massenveranstaltung wie in Wien.44

Den an die Prämissen vom Sozialdarwinismus erinnernden Konkurrenzkampf der Staaten sollte ihre Brüderlichkeit ersetzen, die als ein waltendes Prinzip ebenso die Regeln zwischenmenschlicher Beziehungen ergänzen und modifizieren sollte. Stempowski machte auf die Tatsache aufmerksam, dass Freiheit und Gleichheit eine rechtmäßige Verankerung in den republikanischen und demokratischen Staaten erfuhren, während die Brüderlichkeit auf dieselbe formelle Art und Weise nicht anzuordnen war. Diese Worte verfasste der polnische Intellektuelle im Sommer 1939, als Harald Laeuen in Warschau jedem gesellschaftlichen Ereignis folgte und den Anschein deutsch-polnischer Annäherung bis zum letzten Augenblick vor dem Kriegsausbruch bewahrte. Die Gemeinsamkeiten im Denken der beiden Autoren wurzelten in ihrem erklärten Anliegen, nicht nur eine Staatskritik, sondern eine neue Anthropologie zu betreiben, der Verwandlung zwischenmenschlicher Beziehungen zuzuarbeiten. Ihr Fundament sollte die Freiheit bilden, die aber als Antwort auf die voranschreitende Versachlichung, Mechanisierung und Automatisierung den Müßiggang als Rezept verschrieb. Den bewussten Ausstieg aus der »total mobilgemachten« Welt erblickten die beiden in direkter Herausforderung der vom Techniker verordneten Lebensweise, die jenseits der Disziplin, der Arbeit und der Pflichterfüllung lag. Für Jerzy Stempowski bedeutete Laeuens Buch Die polnische Tragödie schließlich den Anlass, den eigenen Standpunkt in Sachen der einstigen polnischen Ostgebiete (Kresy) zu profilieren. Diesen Tatbestand bekräftigte Stempowski an seinem Lebensabend in einem Brief an den späteren Nobelpreisträger Czesław Miłosz, dem er das Schicksal von Stanisław Vincenz erläuterte: Im Land weckt es kein Interesse.45 Frau Maria sagte mir, dass die Jagellonen-Erinnerungen dort als überflüssige Unterhaltung eine einhellige Ablehnung erfahren, die die Aufmerksamkeit vom einzigen wirklichen, d. h. piastischen Polen ablenken. Niemand will von den Ukrainern hören, mit denen die Rechnung für quittiert gehalten wird. […] Das Buch von Harald Laeuen (Polnische Tragödie), die eine Apologie der Adelsrepublik darbietet und in Deutschland in drei Auflagen Furore macht, kommentierte man in Polen gar feindlich. Der den Jagellonenstaat preisende Deutsche ist ein Provokateur, der die Odergrezenrevision vorbereitet. Auf diese Weise ist das Buch, 44 Laeuen, Harald: Brief an Jerzy Stempowski, vom 22. Dezember 1962. Der Verfasser bedankt sich bei Frau Direktorin Anna Buchmann aus dem Polenmuseum Rapperswil für die Scans der Briefe Harald Laeuens an Jerzy Stempowski und die Genehmigung zum Druck ihrer Fragmente. 45 Gemeint ist das im kommunistischen Polen ausbleibende Interesse an einer Handschrift von Stanisław Vincenz.

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das für den polnischen Leser eine fantastische Lektüre bedeutet, a limine verworfen, ohne in ihren Inhalt einzudringen.46

Die bruchstückhaft erhaltene Korrespondenz schlägt im letzten der Briefe einen Bogen zurück in die Breslauer Konstellationen der Zwischenkriegszeit, als Laeuen in der Rolle des Literaturvermittlers des Korn-Verlages um die Gunst der polnischen Schriftstellerin Maria Dąbrowska warb. Dreißig Jahre später, unter vollkommen veränderten historischen Bedingungen, sondierte Laeuen schon wieder in Sachen der Autorin der Tage und Nächte, diesmal als mögliche Kandidatin für die von seinem Freund Hans Schwarz konzipierte Auszeichnung des deutschen Buchhandels:47 Vertraulich möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich von deutschen Verlegern nach Maria Dąbrowska gefragt worden bin. Es wird erwogen, ihr den ›Friedenspreis des deutschen Buchhandels‹ zu verleihen. Ich habe mich sehr dafür ausgesprochen, weiß aber natürlich nicht, wie der Entscheid ausfallen wird. Meinen Sie, dass Frau Dąbrowska annehmen würde? Ich würde es sehr begrüßen, wenn die deutsche Seite auf diese Weise eine polnische Schriftstellerin dieses Ranges auszeichnete.48

In Jerzy Stempowski fand Laeuen nicht nur den Sohn vom langjährigen Partner Maria Dąbrowskas, Stanisław Stempowski, sondern einen profilierten Kritiker ihres literarischen Schaffens und intellektuellen Vertrauten insbesondere in der Nachkriegszeit.49 Dąbrowska selbst teilte mit Laeuen die Faszination für die Formen der zwischenmenschlichen Kooperation, die auf Genossenschaftskonzepten fußten, wenn auch in ihrem Falle sozialistischer Provenienz.50 Der Schlüssel zu mannigfaltigen Bezügen auf die polnische Schriftstellerin liegt aber in der Prosa ihres großartigen Romans selbst verborgen. Seine Anziehungskraft für Laeuen bestand in der Tatsache, dass das Werk ein letztes Mal das atemberaubende Panorama vom Leben des polnischen Adels entrollte, der zwischen dem Januaraufstand 1863 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zur neuen Intelligenzschicht51 mutierte. Der Hauptheld Bogumił Niechcic verkörperte in 46 Jerzy Stempowski an Czesław Miłosz, Brief vom 27. Juni 1966, in: Barbara Toruńczyk (Hg.): Jerzy Stempowski. Listy, Warszawa 2000, S. 110–112, hier S. 111. 47 Es handelte sich um den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, allerdings war Dą­ browska für ihren Roman Nächte und Tage viermal für den Nobelpreis nominiert, dabei erstmals im Jahre 1939. 48 Laeuen, Harald: Brief an Jerzy Stempowski, vom 22. Dezember 1962. Nachlass Jerzy Stempowski, Polenmuseum Rapperswil. 49 Die besagten Verbindungen sind so eng und vielschichtig, dass diese eine gesonderte Erörterung verdienten. 50 Dąbrowska war Anhängerin der Ideen des heute fast vergessenen Theoretikers der Genossenschaftsidee Edward Abramowski, die nicht zuletzt in die dargestellte Welt ihrer Werke Eingang fanden. 51 Intelligenz entspricht in etwa dem deutschen Begriff Bildungsbürgertum, wenn auch ihre gesellschaftlichen Wurzeln nicht primär im Bürgertum schlugen, sondern breite Kreise verarmter polnischer Aristokratie umfassten.

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den Augen Laeuens offensichtlich das Potenzial eines auf Großzügigkeit, Selbsterfüllung und harmonischer Entfaltung fußenden Lebens, das Privatglück entdeckt, jedoch gleichzeitig seine Begrenzungen zu spüren bekommt.

Epilog Harald Laeuen hinterließ ein essayistisches Werk, das unter den Exilpolen in der Mitte des 20. Jahrhunderts Aufsehen erregte. Sein intellektueller Partner Jerzy Stempowski führte ihn in die Kreise der polnischen Exilzeitschrift »Kultura« in Paris, wo unter der Ägide von Jerzy Giedroyć die Ausgabe eines besonderen Deutschlandheftes eruiert wurde, das neue Wege kultureller Zusammenarbeit beider Nationen erkunden und als Alternative zur kommunistischen Propaganda der »wiedergewonnenen Gebiete« fungieren sollte. Es fällt auf, dass für das Deutschlandheft, das im Jahre 1951 Gegenstand eines intensiven intellektuellen Austauschs zwischen Stempowski und Giedroyć war, der polnische Schriftsteller seine Übersetzung von Fragmenten von Ernst Jüngers Strahlungen (1949) sowie eine Besprechung der Essayistik seiner Bruders Friedrich Georg Jüngers anbot, womit das Interesse am intellektuellen Erbe der ›Konservativen Revolution‹ deutlich genug signalisiert war,52 was offensichtlich den Boden für die weitere redaktionelle Gestaltungsarbeit vorbereitete.53 Es muss dahingestellt beiben, ob hinter dem Hinweis auf die intensive Revision der Geschichte Preußens in Deutschland sich bereits das Interesse Stempowskis am Schrifttum Laeuens verbarg. Die Hoffnungen zerstreuten sich bald, und das besagte »Kultura«-Heft ließ bis 1984 auf sich warten, als eine neue Generation der polnischen Intellektuellen sich an seine Ausarbeitung machte. Harald Laeuen transferierte aus seiner »konservativ-revolutionärer« Zeit die Neigung zu föderalistischen Konzepten, die unter seiner Feder in der Nachkriegszeit zu einer anregenden und literarisch anspruchsvollen Vision aufstiegen. Es war gerade die Qualität des Literarischen, die Laeuens Essayistik zur relevanten Inspirationsquelle für Jerzy Stempowskis Reflexion über die Neuordnung Europas machte. Seine im Kern literarische Kreation Polnische Tragödie, gehört heute der Vergangenheit an, wobei ihre rege Aufnahme unter der liberalen polnischen Intelligenz als ein weiterer Hinweis auf den heterogenen Charakter der Ideenwelt deutscher ›Konservativer Revolution‹ zu interpretieren ist. 52 Stempowski, Jerzy: Brief an Jerzy Giedroyć, vom 27. Februar 1951, in: Jerzy GiedroyćJerzy Stempowski. Listy 1946–1969. Bd. 1, S. 148. 53 Diese Zusammenhänge fehlen erstaunlicherweise in der verdienstvollen Edition von Kerski, Basil (Hg.): Przeciwko wrogości. »Kultura« wobec Niemiec i sąsiedztwa polskoniemieckiego, Paryż / K raków 2020, die in der wichtigen und bis heute 25 Bände umfassenden Buchreihe erschien: W kręgu paryskiej Kultury. Das Vorwort von Basil Kerski beleuchtet u. a. den Hintergrund der Bemühungen der Kultura-Leute um das Deutschlandheft der Zeitschrift.