Sehen schreiben - Schreiben sehen: Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel [Reprint 2012 ed.] 3484150963, 9783484150966

Die Studie versucht zwei von ihren methodologischen Voraussetzungen her unvereinbare Interessen - ein diskursanalytische

213 73 18MB

German Pages 446 [444] Year 2002

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Sehen schreiben - Schreiben sehen: Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel [Reprint 2012 ed.]
 3484150963, 9783484150966

Table of contents :
I. Vorbemerkungen
II. »Aufklären oder auch nicht aufklären«
1. »Ich [...] muß Licht von ihm haben« – Schillers ›Geisterseher‹
2. Visualitätsideologie der Aufklärung
3. Lichtspiele im ›Geisterseher‹
4. Den Leser »zerstreuen« ...
III. Liebesblickwechsel
1. Optische Bestattung der »Liebe« in Büchners ›Leonce und Lena‹
2. Strukturgehalte des Blickwechsels
3. Der gute Staat, die wahre Liebe und ihre optische Kritik
IV. Aufzeichnungen
1. »Fensterstudien« und »alte Mappen« – Raabes ›Chronik der Sperlingsgasse‹
2. Daguerréotypie – Dokumentationsleistung und Kunstanspruch
3. »Bunte Steine« und »wundersames Weben« – poetischer Realismus auf dem medialen Prüfstand
V. »Augeninspektion«
1. Vernetzte Bildvorstellungen in Przybyszewskis ›Totenmesse‹
2. Sehpurpur, Optographie und die Wende des Blicks nach Innen
3. »Geradezu gemalte Präparate der Seele« – Schwellenpoetologie »auf dem Grunde des Totenauges«
VI. Das ›besondere Erleben‹ in der Schrift
1. Musils ›Verwirrungen des Zöglings Törleß‹ im Umfeld experimenteller Leseforschung
2. »Nicht bloß Bücher [...], sondern Offenbarungen, Wirkliches«
3. Funktionalisierte Medienmetaphern – »Zauberlaterne« und »Kinematograph«
VII. Fensterblick, Bildbetrachtung, Lektüre
1. Wahrnehmungsreflexion und inszenierte Verstehensaporien in Kafkas ›Proceß‹
2. Dem »Auge des Beschauers« sind »im Kunstwerk Wege eingerichtet«
VIII. Sehen schreiben – Schreiben sehen
1. Medialität und Konstruktivität visueller Wahrnehmung
2. Wahrnehmungsdiskurs und literarische Texte
IX. Anhang
1. Literaturverzeichnis
2. Personenregister
3. Abbildungsverzeichnis

Citation preview

HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 96

VOLKER M E R G E N T H A L E R

Sehen schreiben - Schreiben sehen Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel

MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 2002

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Die Arbeit wurde im Jahr 2000 mit dem Promotionspreis der Universität Tübingen ausgezeichnet.

D21 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Mergenthaler, Volker: Sehen schreiben - Schreiben sehen : Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel / Volker Mergenthaler. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Hermaea; N.F., Bd. 96) ISBN 3-484-15096-3

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

I.

Vorbemerkungen

II.

»Aufklären oder auch nicht aufklären« ι. 2. 3. 4.

III.

IV.

V.

VI.

»Ich [...] muß Licht von ihm haben« - Schillers >Geisterseher< Visualitätsideologie der Aufklärung Lichtspiele im >Geisterseher< Den Leser »zerstreuen«

ι 19 .

19 32 67 82

Liebesblickwechsel

101

ι. Optische Bestattung der »Liebe« in Büchners >Leonce und Lena< 2. Strukturgehalte des Blickwechsels 3. Der gute Staat, die wahre Liebe und ihre optische Kritik . . . .

101 108 129

Aufzeichnungen

147

ι. »Fensterstudien« und »alte Mappen« - Raabes >Chronik der Sperlingsgasse< 2. Daguerréotypie - Dokumentationsleistung und Kunstanspruch 3. »Bunte Steine« und »wundersames Weben« - poetischer Realismus auf dem medialen Prüfstand

187

»Augeninspektion«

211

ι. Vernetzte Bildvorstellungen in Przybyszewskis >Totenmesse< . 2. Sehpurpur, Optographie und die Wende des Blicks nach Innen . 3. »Geradezu gemalte Präparate der Seele« - Schwellenpoetologie »auf dem Grunde des Totenauges«

211 229 252

Das >besondere Erleben< in der Schrift

265

ι. Musils >Verwirrungen des Zöglings Törleß< im Umfeld experimenteller Leseforschung 2. »Nicht bloß Bücher [...], sondern Offenbarungen, Wirkliches« 3. Funktionalisierte Medienmetaphern - »Zauberlaterne« und »Kinematograph«

147 162

265 291 305

V

VII.

Fensterblick, Bildbetrachtung, L e k t ü r e ι. Wahrnehmungsreflexion und inszenierte Verstehensaporien in Kafkas >Proceß< 2. Dem »Auge des Beschauers« sind »im Kunstwerk Wege eingerichtet«

V I I I . Sehen schreiben - Schreiben sehen

IX.

VI

321 321 345 371

ι. Medialität und Konstruktivität visueller Wahrnehmung 2. Wahrnehmungsdiskurs und literarische Texte

371 393

Anhang

407

ι. Literaturverzeichnis 2. Personenregister 3. Abbildungsverzeichnis

407 433 437

I. Vorbemerkungen

D i e uns heute langsam erscheinenden Filme der Jahrhundertwende überforderten die damaligen Zuschauer oft genug mit ihrer ununterbrochenen Bilderfolge, wechselnden Ansichten des Geschehens und unterschiedlichen Einstellungsgrößen. D i e neue ästhetische Erfahrung von Schnitt und M o n t a g e wurde oft genug als Zumutung, manchmal gar als Aggression empfunden. D o c h in der Folge lernten die M e n s c h e n nicht nur schneller zu sehen. Auch ihre visualisierten R a u m - und Zeitbegriffe wandelten sich über den K o n t a k t mit dem K i n e m a t o graphen, seinen Nachfolgern und Derivaten. Es bildeten sich feste filmische Montagekanons, in denen den bilderfahrenen Zuschauern nach und nach auch komplexe Sachverhalte zugemutet wurden, etwa die Erfahrung visualisierter zeitlicher Simultanität. Als moderne Sehschulen dienen neben dem K i n o auch die Malerei, Photographie, Fernsehen und Video, die sich zu einer visuellen Massenkultur summieren. H i e r wird die Sinnestätigkeit des Auges durch technische Apparate ebenso stimuliert wie simuliert. D u r c h die Erfindung von neuen Wahrnehmungsmustern und Sinnzuschreibungen verändern die Geräte das menschliche Verhalten, die Sichtweisen und am E n d e die menschliche Gesellschaft als Ganzes. 1

In diesem von Milos Vec beschriebenen

Transformationsgeschehen

kommt der Literatur ganz offenbar die Rolle der Zuschauerin, bestenfalls der kritischen Kommentatorin zu, denn unter den »gegenwärtig« Wahrnehmungsgeschichte schreibenden visuellen Medien der Moderne - »neben dem Kino auch die Malerei, Photographie, Fernsehen und Video« scheinen Texte keinen Platz zu haben. In der Logik dieser gängigen Einschätzung wäre die Literatur als abbildend, als einer nicht-literarischen Medienwelt nachgeordnet zu bestimmen und entsprechend nur »die Frage nach den Effekten technischer Medien in der Schriftkultur« 2 zu stellen; die Formel einer solchen funktionalen Lozierung lautet: »Literatur nimmt das Motiv [...] auf«. 3 Die Skala der poetischen Möglichkeiten beginnt so gesehen bei der bloßen Aneignung eines >Motivs< und erstreckt sich bis zur kritischen Distanzierung oder Hinterfragung kultureller Praktiken, 1

2

3

Milos Vec: Knick in der Optik. Für Augenmenschen: Sehtechniken in der Massenkultur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1 2 . 1 . 1999, S. N 5 ; die folgenden Zitate ebenda. Harro Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des ersten Weltkriegs. Darmstadt 1997, S. 8. Reinhard Heinritz: Teleskop und Erzählperspektive. In: Poetica 24 (1992), S . 3 4 1 - 3 5 5 , hier S. 342. I

wenn etwa »die deutsche Literatur der Zeit des Realismus der Photographie primär im Modus des Schweigens begegnet« 4 sein soll. Literatur bildet ab, dokumentiert, kommentiert oder kritisiert (selbst im Modus der Kritik rangiert das >Motiv< als vorgängig) von den modernen Medien initiierte »Semiotisierungsschübe«, ohne selbst, so hat es den Anschein, in Prozesse »sozialisatorischer, historischer, medialer Formung« 5 der visuellen Wahrnehmung einzugreifen. Ihren Beitrag zum Wahrnehmungsdiskurs hätte die Literatur demnach mit dem Paradigmenwechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, von der »hearing-dominance« zur »sight-dominance«, 6 als »Literalisierung, Verzifferung« längst geleistet, und nähme »gegenwärtig« 7 eine diskurstranszendente Position ein; die Geschichte der Wahrnehmung ist in diesem Verständnis das eine, die Literatur das andere, hier der eisige Gletscherkörper des Wahmehmungsdiskurses, dort die unter ihm zerriebenen »literarischen Ablagerungen«, elementar geschieden - hier Wasser, dort Erde: Dieser historische Prozeß, an dessen Ende unsere eigene Sinneserfahrung steht, ist nur dann kritisch zu beschreiben, wenn man all das mitzudenken versucht, was er überrollt oder zur Seite gedrückt hat - an den Grund- und Seitenmoränen erkennt man den historischen Weg eines Gletschers, wenn er schon längst verschwunden ist und nur die umgestaltete Landschaft hinterlassen hat. In der Geschichte der menschlichen Wahrnehmung sind solche Moränen Formen der Erfahrung, die sich der vom Auge regierten, auf Naturbeherrschung ausgerichteten Wahrnehmung bei ihrer zähflüssigen Expansion entgegenstellten. Am Rande des Hauptstroms, umgeformt und selber wieder historischer Veränderung ausgesetzt, haben sie sich als Sedimente erhalten. Am Rande des Siegeszuges, den das Auge durch die Geschichte der menschlichen Wahrnehmung beschreibt, liegen jene literarischen Ablagerungen, die [...] die Geschichte der dominierenden Wahrnehmungsform und ihre Trümmer [erfassen].8

Einziger Lichtblick der Autonomie einer derart als fremdbestimmt verstandenen Literatur ist in der Logik dieses Bildes die Vorstellung eines Gletscherstromes, dessen Weg wenigstens von derjenigen Landschaft vorgeschrieben ist, aus der er mechanisch »literarische Ablagerungen« herausschleift. »Im Zentrum« der Untersuchung von Peter Utz stehen erklärtermaßen diese »Ablagerungen« des Gletschers, nur das >Danach< 4

Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus. München 1990, S. 169. 5 Vec (s. Anm. 1). 6 Walter J . Ong: Orality and literacy. The technologizing of the word. London, N e w York 1982, S. 1 1 7 . 7 Vec (s. Anm. 1). 8 Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990, S. 8; die folgenden Zitate ebenda.

2

mithin, unter das all jenes begriffen wird, »was« der Gletscher »überrollt oder zur Seite gedrückt hat«. Damit ist aber nicht die präglaciale »Landschaft« gefaßt, wie es in der Formulierung zunächst anklingt, sondern die Hinterlassenschaften des Gletschers: die »Grund- und Seitenmoränen«. Literatur und Wahrnehmung operieren in der Logik dieser Bildvorstellung als getrennte Bereiche - eine Vorstellung, die ihrerseits entziffert werden kann als Sediment einer die heutige Herangehensweise an das Verhältnis von Sehen und Literatur »dominierenden Wahrnehmungsform«. Nicht im Blick ist nämlich das Unplausible einer strikten sphärischen Trennung von Wahrnehmungsgeschichte und Literatur, wie sie einseitig motiv- oder einflußgeschichtlich nach Reflexen forschenden Untersuchungen als Prämisse eingeschrieben ist. Literatur konstituiert sich zuallererst in einem visuellen Medium, der Schrift; der ihr korrespondierende Sinneskanal ist demnach das Auge. Entsprechend bezieht sie sich nicht nur auf visuelle Wahrnehmung und »schlägt [...] Kapital«9 aus ihr, sondern verlangt ihr zugleich Tätigkeit ab, es sei denn, man wollte (oder könnte) nur lauschend und tastend sich in der >Gutenberg galaxySehen< und >Literatur< ist allem Anschein nach eine Selbstverständlichkeit, die unter der glacialen Last der »gegenwärtig« die literaturwissenschaftliche Forschungslandschaft »dominierenden Wahrnehmungsform« mehr und mehr »zur Seite gedrückt« wurde und nur noch in der »Wahrnehmungsform« ganz anders Wahrnehmender zum Vorschein kommt: Der »seit dem Verluste [sjeines Gesichts« »ueber [s]ich selbst und [s]eine Unglücksgefährten die Blinden« forschende Ludwig von Baczko, »Professor für Geschichte bei der Artillerie-Akademie zu Königsberg«, breitet nämlich »[s]ein Buch [...] vor den Augen des Publikums«11 aus - eine Formulierung, die einem Blinden, für den sie eine »schmerzhafte Erinnerung an seinen Zustand«12 bedeutet, weit weniger leicht, dafür aber um so bewußter von der Hand gehen dürfte als einem Sehenden. »Blindheit erzeugt [...] besondere Schwierigkeiten«, wenn die Initiation der Wahrnehmenden in die Welt der Schrift » Ebenda, S. 3 1 . Deren Kennzeichen besteht indes gerade in der »reduction of experience to a single sense, the visual, as a result of typography«; Marshall McLuhan: The Gutenberg galaxy. The making of typographic man. Toronto 1962, S. 125. 11 Ludwig von Baczko: Ueber mich selbst und meine Unglücksgefährten die Blinden. Leipzig 1807, S. VII. 12 Johann Wilhelm Klein: Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden, um ihnen ihren Zustand zu erleichtern, sie nützlich zu beschäftigen und sie zur bürgerlichen Brauchbarkeit zu bilden. Wien 1819, S.V. 10

3

und mit ihr in die der Literatur erfolgt, »sobald das sehende Kind die Schule besucht«, denn dann werden die einfachen Laute, woraus die Wörter bestehen, und die mithin die Grundbestandtheile der Sprache ausmachen, mit den sichtbaren Zeichen derselben, den Buchstaben, so eng verbunden, daß von jetzt an das Kind sich gewöhnt, die Sprachlaute sich nur unter der Figur und dem Nahmen der Buchstaben zu denken.'3 Eine »für Blinde lesbare Schrift« dagegen vermag auf dieses Verbundsystem von Schriftkultur und visueller Wahrnehmung nicht zu bauen und muß also andere Sinneskanäle in Anspruch nehmen; sie »muß auf dem Papier erhaben seyn, so daß die Buchstaben und Wörter durch die darauf gelegten Finger fühlbar sind«.' 4 Literarische Texte können sich (seit der Dominanz der Schriftlichkeit) auf visuelle Wahrnehmung nicht beziehen, ohne ihr zugleich einen neuen Gegenstand zu liefern, ohne zugleich die visuelle Wahrnehmung ihrer Leser - bereits in einem ganz grundlegenden, materialen Sinne - in Gang zu setzen; im Verhältnis der beiden fungiert die Schrift und mit ihr die Literatur ebenso als Reflex und Movens visueller Wahrnehmung, wie diese als Reflex und Movens jener. Erst als Gegenstand visueller Wahrnehmung vermag ein literarischer Text an Prozessen »sozialisatorischer, historischer, medialer Formung« 1 ' des Wahrnehmungsdiskurses wirksam zu werden etwa indem er ideologische Gehalte und Implikationen der jeweils herrschenden Wahrnehmungspraktiken freilegt oder indem er Medien- oder Wahrnehmungsdesiderate in den Wahrnehmungsdiskurs einspeist. Das Wechselverhältnis bleibt demnach nicht auf die materiale Dimension der Entzifferung von Schrift beschränkt, sondern greift aus in sachliche und strukturelle Dimensionen. Umgekehrt müssen Annäherungen an den Diskurs über visuelle Wahrnehmung notwendig reduktionistisch verfahren, wenn sie die Schrift als medialen und materialen Gegenstand des Sehens oder literarische Texte als diejenige Instanz, die sich sachlich oder strukturell auf den Wahrnehmungsdiskurs bezieht, aus seiner Freilegung ausblenden. Solchen in der selbstbezüglich-autodynamischen Wechselbeziehung von Sehen und Schreiben wirksamen osmotischen Bewegungen gilt die Aufmerksamkeit der vorliegenden Untersuchung. Sie erfragt Spielarten und -regeln der Austauschprozesse ebenso wie ihre Effekte für und ihre Rückwirkungen auf die beteiligten Tauschpartner.

Ebenda, S. 51. '« Ebenda, S.65. Ί Vec (s. Anm. 1).

4

Auf den ersten Blick scheint ein solches Vorhaben einen schon nahezu gesättigten akademischen Markt zu bedienen, sind doch - vor allem im Umfeld der Cultural studies sowie diskurs- oder mediengeschichtlicher Interessen - zahlreiche Einzelbeiträge, Monographien und Sammelbände 16 zu verzeichnen, die sich, teils implizit, teils explizit, den Zusammenhängen von Sehen und Literatur widmen. Die Frage (vermeintlich) erneut aufzuwerfen, bedarf daher gründlicher Rechtfertigung. Bestimmt ist die Forschungslandschaft von zwei, an der Wahl des leitenden methodologischen Paradigmas sich abzeichnenden Tendenzen: Auf der einen Seite versammeln sich Untersuchungen mit vorrangig literaturwissenschaftlichem Interesse - es wird von den behandelten Texten aus gefragt - , auf der anderen solche mit dominant diskursanalytisch-kulturhistorischem Interesse - es wird von der Wahrnehmung her gefragt - , und zwar jeweils im heuristischen Paradigma einer »für den Gegenverkehr« nicht freigegebenen »Einbahnstraße«. 17 Fast allen Beiträgen ist die Vorstellung gemein, daß Wahrnehmungsdiskurs und literarische Texte trennscharf auseinanderzuhalten und in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis zu präsentieren seien, in dem literarische Texte gegenüber dem >Sehen< auf ihre mimetische Funktion festgelegt sind. In Bernd Büschs subtil freigelegter »Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie« etwa dienen die wenigen Rekurse auf literarische Texte, hier auf Barthold Heinrich Brockes' >Bewährtes Mittel 16

Ich nenne nur einige neuere, der Literaturwissenschaft (noch) zuzuordnende Titel: Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. Hrsg. v. Harro Segeberg. München 1996; Literatur intermedial. Musik - Malerei - Photographie - Film. Hrsg. v. Peter V. Zima. Darmstadt 1995; Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten. Hrsg. v. Michael Wetzel u. Herta Wolf. München 1994; Lea Ritter-Santini: Mit den Augen schreiben. In: Mit den Augen geschrieben. Von gedichteten und erzählten Bildern. Hrsg. v. Lea Ritter-Santini. München, Wien 1991, S. 14-26; Gerhart von Graevenitz: Das Ornament des Blicks. Uber die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes >West-östlicher DivanRunenberg< und Eichendorffs >Marmorbild< vorzunehmen (S. 95-159); Literatur wird allerdings als ästhetisches Sekundärphänomen, als »Resonanz« (S. 64) verstanden.

5

für die AugenMentalität< und >Geist< auch »jene des Buches und des Werks« 27 zählt. Da in einem solchen Verständnis »jeder Text [...] sich als Mosaik von Zitaten auf[baut], jeder Text [...] Absorption und Transformation eines anderen Textes«28 ist und nicht mehr verläßlich »durch eine bestimmte Zahl von Zeichen die Grenze seines Beginns und seines Endes markiert«,29 stellt diskursarchäologische Arbeit die Voraussetzung jeder textanalytischen ganz grundlegend in Frage: den fest umgrenzten Text. Erst an einem solchen Identitätskonstrukt vermögen textanalytisch-hermeneutische Bemühungen wirksam zu werden und von Texten ästhetisch ausagierten Problemstellungen nachzuspüren. Wird diesen Vorbehalten indes weitgehend Rechnung getragen, wie z.B. in Friedrich A. Kittlers >Aufschreibesystemen. 1800 · i900Texte< zu nahezu beliebig beschreitbaren Steinbrüchen, zu »Grund- und Seitenmoränen«, wenn man so will, in denen die Mosaiksteinchen des jeweils angegangenen, doch freilich nie zu einem abschließenden Mosaik sich fügenden Diskurses wie Geröll nur aufgelesen zu werden brauchen. So gewissenhaft und überzeugend sich Kittlers Umgang mit >Sedimenten< aus literarischen Texten von Goethe, E.T.A. Hoffmann, Rilke und vielen anderen auch ausnehmen mag, ein Interesse an der operationalen Größe >Text< wird nicht erkennbar. Die Vorstellung der Einheit Buch/Text rangiert in diesem Verständnis als Effekt diskursiver Praktiken, »sie wird erst ausgehend von einem kom2

s »Wie sind Text, Diskurs [...] methodisch zu verbinden?« und »welche Verfahrensänderungen werden für diskurstheoretische Arbeiten in den Textwissenschaften notwendig?« fragen z.B. Jürgen Fohrmann, Harro Müller: Einleitung: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Jürgen Fohrmann u. Harro Müller. Frankfurt a.M. 1988, S.9-22, hier S. 18.

26

Foucault (s. A n m . 2 i ) , S. 33. Ebenda, S. 33-35. 28 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Hrsg. v.Jens Ihwe. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1972, S. 345-375, hier S. 348. 29 Foucault (s. Anm. 21), S. 35; dasselbe Problem findet Foucault, S. 1 1 6 - 1 1 7 , angesichts des leitenden Begriffs »énoncé« wieder: Auf den »ersten Blick erscheint die Aussage als ein einzelnes, unzerlegbares Element [...]. Ein Korn, das an der Oberfläche eines Gewebes auftaucht, dessen konstitutives Element es ist. Ein Atom des Diskurses. Und da stellt sich sogleich das Problem: wenn die Aussage die elementare Einheit des Diskurses ist, worin besteht sie dann?« 27

30

Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme. 1800 · 1900. 3. Aufl. München 1995.

9

plexen Feld des Diskurses konstruiert«. 31 Einen Bezugspunkt solcher Entgrenzungsbestrebungen machen Jürgen Fohrmann und Harro Müller32 in dem Hans Robert Jauß zugeschriebenen Verständnis von Literaturwissenschaft aus: Vorausgesetzt wird zunächst die Begriffstrias Autor, Werk und Leser. Autoren schreiben Texte, Texte werden gelesen, und Lektüre veranlaßt Autoren zu neuer Vertextung, diese zu neuer Lektüre usw. Der Autor erscheint als Produzent, als Urheber von Werken, die ihm zugerechnet werden können [...]. Lektüre bringt den Text zum >Sprechen< und eröffnet zwischen Text und Leser einen Sinntransfer, der >Verstehen< ermöglicht. Durchaus könnte man Hermeneutik etikettieren als die Theorie verstehender Teilnahme [...], als eindeutige Signifikatzuweisung.

Entsprechend geht es seit dem Beginn des literaturwissenschaftlichen Projekts vornehmlich darum, Werken als Arrangements aus Signifikanten eindeutige Signifikate zuzuweisen. Der Sinn von Texten wird also nicht in ihrem manifesten So-Sein vermutet, sondern in einer noch zu entschlüsselnden Tiefenstruktur verortet, die als Signifikat fungiert.

So einleuchtend und zutreffend die von der Diskursanalyse vorgebrachte Kritik am Konstrukt des geschlossenen Textes, ja selbst an der physischen Einheit des Buches ist, so verbreitet, langlebig und wirkungsmächtig sind diese. Nicht nur, daß das Gros der archivierten Äußerungen über Texte und Bücher von solchen Vorstellungen geleitet ist und in ihrem Horizont zu betrachten wäre: Bücher gelangen noch immer mehrheitlich als Bücher auf den Markt, verfügen vielleicht gelegentlich über Spuren »professioneller Betreuung, um >angemessen< angeeignet werden zu können«, die Texte, Monumente, Dokumente, Bilder und Zeugnisse aber, die ihre Dissemination bewerkstelligen, sind ihnen nicht als Bibliotheken, Museen und Archive im Anhang mitgeliefert. Wenn die dominierende kulturelle Praxis am Konzept eines geschlossenen, fest umgrenzten >Buches< oder >Textes< festhält und ihrerseits Spuren in der Landschaft diskursiver Praktiken hinterläßt, ist ein Doppelblick - analytische Durchdringung nicht in synkretistisch montierten, sondern »>agonal< aufeinander« 33 bezogenen Perspektiven - geboten und legitim: zum einen gilt es, vermeintlich praxistranszendierend die Ermöglichungsbedingungen und Regeln dieser Praxis freizulegen und zu analysieren, zum anderen schließt diese Arbeit eine >' Foucault (s. Anm. 21), S.36. >J Vgl. Fohrmann/Müller (s. Anm. 25), S. 1 0 - 1 1 . " Norbert W. Bolz: Einleitung. Goethes Wahlverwandtschaften - Analysen zum Mythos Literatur. In: Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hrsg. v. Norbert W. Bolz. Hildesheim 1 9 8 1 , 8 . 7 - 2 0 , hier S. 8.

10

praxisimmanente Orientierung ein, die jenen Spuren und Effekten Schritt für Schritt nachgeht, die diskursive Praktiken im Umgang mit Texten hinterlassen. Das heißt aber keinesfalls, daß Lektüre unausweichlich als »einem universalen Imperativ des Verstehens« 34 das Wort redende Hermeneutik aufzufassen ist, die, »was nie geschrieben wurde, lesen« 35 möchte. Der Friedrich Schleiermacher zugeordneten, auf den einen >Geist< ausgerichteten Hermeneutik stellt Jochen Hörisch eine spielerische, nicht am Paradigma der Sinn-Feststellung orientierte Hermeneutik entgegen: D i e vereinheitlichende W u t des V e r s t e h e n s will, i n d e m sie Texte liebedienerischherrisch bis z u r U n l e s b a r k e i t ü b e r s c h r e i b t u n d u m s c h r e i b t , ein geistiges Z e n t r u m errichten, d a s alle >Großen d a s s e l b e sagen< ( E m i l Staiger) u n d kleine G e i s t e r erst gar nicht m i t r e d e n läßt. D i e f r ü h r o m a n t i s c h e u n d n i e t z s c h e a n i s c h e K o n z e p tion d e r I n t e r p r e t a t i o n aber will d e r e n B u c h s t a b e n s i n n erfüllen u n d interpretieren, d a z w i s c h e n r e d e n , u m d a s eine Z e n t r u m der M a c h t z u vervielfältigen. 3 6

Sich einzelnen Texten eingehend zu widmen und sie zugleich als »énoncés« des Wahrnehmungsdiskurses zu begreifen, fächert die analytische Arbeit in drei nicht hierarchisierbare, vielmehr einander durchkreuzende Vorhaben auf: in die >Tiefe< gehende Arbeit am Text (Lektüre weniger Texte), in die >Breite< gehende Arbeit am Diskurs (Untersuchung möglichst vieler »énoncés«) und Arbeit an deren Verknüpfung; die intensive Lektüre einzelner Texte rangiert dabei zugleich als Bestandteil der archäologischen Beschreibung des Diskurses über das Sehen, d.h. der ihn strukturierenden Regeln, seiner Funktionsweisen und der Geschichte seiner Erfassung. U m jedoch einen vertretbaren Umfang zu wahren, können nur wenige Texte auf ihren Beitrag zum Diskurs über das Sehen und zugleich auf die ästhetischen Konsequenzen ihrer Teilhabe am Diskurs hin untersucht werden. Wollte man Diskursgeschichte und -analyse auf ein möglichst breites Fundament stellen, hätte man als »énoncés« bestimmte Texte, Monumente, Dokumente, Bilder etc. in möglichst großer (idealerweise in unaufhörlich sich vergrößernder) Zahl in Augenschein zu nehmen, womit sie allerdings zu Diskurs-Zeugen funktionalisiert würden und die Frage nach ihrem spezifisch Ästhetischen ausgeblendet zu werden drohte. Beließe man es dagegen bei der Analyse sehr weniger »énoncés«, liefe man Gefahr, zwar tiefgreifende Lektüren der Texte vornehmen, über den Wahrnehmungsdiskurs jedoch keine repräsentativen Aussagen treffen zu können. Die analytische Arbeit kann deshalb nur in Gestalt einiger weniger (auf >4 Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1998, S. 86. »Ebenda, S. 82. ' 6 Ebenda, S. 81. 11

das mutmaßliche und freilich nicht abschließend vermeßbare Gelände des Diskurses) weiträumig verstreuter >Probebohrungen< erfolgen: »Uber den vermuteten Bereich« des Diskurses wird zu diesem Zweck »ein weitmaschiges Bohrpunktnetz gelegt und das Gebiet systematisch abgebohrt. Die Dichte des Bohrpunktnetzes, die Bemusterungsdichte, ist wesentlich abhängig von der Struktur« des Geländes, auf dem literarische Texte in den Diskurs über das Sehen eingelassen sind - »je komplizierter sie ist, desto dichter das Netz. Zur Groberfassung [...] ergeben«, zumindest bei der »Bemusterung von Lagerstätten« im Bergbau, schon einige wenige »Bohrlöcher [...] eine hinreichende Bemusterungsgenauigkeit«.v Von den ans Licht gebrachten >Bohrkernen< darf man sich auf dem Feld des Diskurses entsprechend bemusterungsgenauen »Aufschluß«38 über die Effekte und Rückwirkungen der Diskurszugehörigkeit literarischer Texte erhoffen. Daher soll dem Zusammenspiel von visueller Wahrnehmung und Literatur in exemplarischen Analysen nachgespürt und die funktionale Verflechtung ausgewählter Texte mit ausgewählten Feldern des Wahrnehmungsdiskurses erschlossen werden. Der Versuch, möglichst flächendeckend zu arbeiten, erwiese sich als von literaturgeschichtlichem Erkenntnisinteresse geleitet39 und liefe zwangsläufig auf wenig tiefschürfende, dafür aber mit nahezu lückenloser »Bemusterungsdichte« vorgenommene Bohrungen hinaus. Wo aber in die >Tiefe< gehen? Mit dieser Frage tritt die Schwierigkeit auf den Plan, die Auswahl der gewissermaßen als >Kronzeugen< der Verflechtung von Diskurs und Schrift behandelten literarischen Texte begründen zu müssen, die unausweichlich in einen Begründungszirkel führt. Da Diskurse einerseits ihrer strukturellen Logik nach unabschließbar, somit unendlich ausgedehnt sind und erst im Zusammenspiel unzähliger »énoncés« sich formieren, andererseits aber stets nur immanent und endlich beschreibbar sind, kann ein solcher Beschreibungsversuch seinem Darstellungsziel nie angemessen sein; er hat notwendig in Darstellungsformen auszuweichen, die vermeintlich repräsentative Einzelfälle als Stellvertreter oder Paradigmen eines darstellerisch uneinholbaren Gesamts behandeln. Wollte man diesem Immanenzproblem entgehen, hätte man idealerweise im Universum der »énoncés« all diejenigen auszumachen, die sich 37

38 39

>Bemusterung von LagerstättenSchürfarbeitenverlängernd< weiterschreibt, kommt das Aporetische eines solchen Unterfangens zur Geltung. Um einzelne »énoncés« aus dem Universum aller je möglichen »énoncés« überhaupt einem Diskurs (etwa dem über das Sehen) zuordnen zu können, bedarf es unumgänglich stets eines Vorverständnisses davon, was dieser Diskurs (etwa der über das Sehen) eigentlich sei, welchen Bereichen vermeintlich diskurszugehörige »énoncés« zu entnehmen sein mögen. Im montanen und freilich auch nur endlichen Paradigma gesprochen, liefe die Freilegung eines Diskurses auf das Unterfangen hinaus, die gesamte Erdkruste Schicht für Schicht abtragen, eine lückenlose »Durchforschung der Erdrinde«40 leisten zu müssen, anstatt sie mittels einer begrenzten Zahl von Probebohrungen zu erkunden. Diskursanalyse kann daher immer nur im Modus der >Probebohrung< fündig werden, und die zutage geförderten >Bohrkerne< können immer nur mit einem exemplarischen Anspruch dargeboten werden. Um also einzelne Bohrungen anzusetzen, ist eine zwar »eingehende«, doch unumgänglich spekulative »Voruntersuchung des Geländes, in dem sie durchgeführt werden sollen«,4' unerläßlich: »Fine grass covered the slope - grass that was spangled with flowers, with here and there patches of color, orange and purple and golden«42 (1017). Als solches »paradise« (1019) bietet sich der >A11 Gold Canyon< Bill, einem Goldsucher in der um 1905 entstandenen gleichnamigen Short story Jack Londons, dar - paradiesisch aber nicht nur seiner Abgeschiedenheit und Farbenpracht, sondern auch seines Versprechens wegen: »a pocket hunter's delight [...]. A secret pasture for prospectors« (1019). »Where the side-hill touched the water he dug up a shovelful of dirt and put it into the gold-pan« (1020), um sieben »golden specks« auszuwaschen. Flußabwärts - so schließt er aus weiteren »test-holes«(io27) auf eine Regel - nimmt der Ertrag kontinuierlich ab, flußaufwärts zunächst zu, dann wiederum stetig ab. »Line by line« liest er, ein »Bohrpunktnetz« auslegend, das Gelände, schreibt Zeile für Zeile einen Text darüber, bis die Stichproben ein Bild der Lagerstätte entstehen lassen:

40

41 4i

>LagerstättenerkundungSchürfarbeiten< (s. Anm.38), S.480. Jack London: All Gold Canyon. In: The complete short stories of Jack London. Bd. 2. Hrsg. v. Earle Labor. Stanford 1993, S. 1 0 1 7 - 1 0 3 4 , hier S. 1 0 1 7 ; die folgenden Zitate werden in Klammern fortlaufend im Text nachgewiesen.

13

A few feet back from his first line of test-pans he started a second line [...]. He began a third line of test-pans. He was cross-cutting the hillside, line by line, as he ascended. The centre of each line produced the richest pans, while the ends came where no colors showed in the pan. And as he ascended the hillside the lines grew perceptibly shorter. The regularity with which their length diminished served to indicate that somewhere up the slope the last line would be so short as to have scarcely length at all, and that beyond could come only a point. The design was growing into an inverted >V< [...]. The apex of the >V< was evidently the man's goal. (1023-1024)

Dem montanen Paradigma vergleichbar hat die vorliegende Arbeit nicht nur in die >Tiefe< gehende >Probebohrungen< an literarischen, in den Diskurs über das Sehen verstrickten Texten vorzunehmen, sondern eben auch, möglichst weiträumig, nach »énoncés« des Diskurses über das Sehen zu fragen. Wie die von Londons »prospector« vorgenommene Lagerstättenerkundung ihren Ausgang von nur vermeintlich arbiträren Indizien nehmen kann, so auch die diskurs- und textanalytische Untersuchung - im einen Fall von einem dem Betrachter sich stellenweise »golden« darbietenden Blumenteppich in einem abgelegenen Tal aus, im anderen Fall von einem vielleicht nur dem ersten Anschein nach beiläufigen Lemma aus. In der vorliegenden Untersuchung »systematisch abgebohrt« und im Zusammenspiel mit dem Diskurs über das Sehen eingehend untersucht werden Schillers >GeisterseherLeonce und LenaChronik der SperlingsgasseTotenmesseProceßEssay concerning human understanding< (1690) bekannt macht und das die Diskussion des ganzen Jahrhunderts prägt: Man nehme an, daß ein Blindgeborener durch bloßes Tasten gelernt habe, einen Kubus von einer gleich großen Kugel zu unterscheiden. Was geschieht, wenn dieser Blinde durch eine Operation sehend wird:

14

Kann er ohne erneutes Betasten, nur durch das Auge, nun die beiden Gegenstände unterscheiden und sie der früheren Tasterfahrung richtig zuordnen? Diese so künstlich angelegte Fragestellung trifft das aufklärerische Interesse an der Wahrnehmung in seinem Nerv. Denn das Gedankenexperiment stellt die doppelte Frage nach der Leistung der einzelnen Sinne wie auch nach der möglichen Einheit der Wahrnehmung. 43

Ebensogut ließe sich als Ausgangspunkt einer solchen Umakzentuierung René Descartes' bereits 1637 erschienener »Essai« >La Dioptrique< präsentieren, den er der Abhandlung >Discours de la méthode. Pour bien conduire sa raison, & chercher la vérité dans les sciencesLichtNarcissus und Narcissa< betitelte Novelle aus dem >Hexameron von RosenhainDen Armenien« (5 5). Im »gleich den andern Morgen« (67) angesetzten Verhör des Sizilianers bringt der Prinz diese ungewöhnliche Vorspiegelung zur Sprache, wobei seine Formulierung Raum für zwei Lesarten bietet, für eine dem Sizilianer oder seinem Spiegel magische Kräfte zugestehende und für eine trickbetrügerische: »Sie haben mich das Gesicht des Armeniers in Ihrem Spiegel sehen lassen. Wodurch bewirkten Sie dieses?« (69). Der Sizilianer jedoch gibt sich als Scharlatan zu erkennen: »Es war kein Spiegel, was sie gesehen haben. Ein bloßes Pastellgemälde hinter einem Glas, das einen Mann in armenischer Kleidung vorstellte, hat sie getäuscht« (69). Für diese vom Sizilianer favorisierte Lesart, die »alle diese geheimen Künste auf eine Taschenspielerei« (54) zurückzuführen versucht, liefert dieser stichhaltige Argumente, als der Prinz insistiert: > Aber wie konnten Sie meine Gedanken so gut wissen und gerade den Armenier raten ?< >[...] Ohne Zweifel haben Sie sich bei Tische in Gegenwart Ihrer Bedienten über die Begebenheit öfters herausgelassen, die sich zwischen Ihnen und dem Armenier ereignet hat.< (69)

Ihren Ausgang nimmt die im Mittelpunkt des >Geistersehers< stehende »Begebenheit, die vielen unglaublich scheinen wird« (45), »eines abends« (46) in Venedig »um die Karnevalszeit« (45), als der Prinz und der Graf von O** von einer Maske verfolgt werden. »Die Maske war ein Armenier« (46). Diese Maske konfrontiert kurz darauf, es war »neun Uhr vorbei« (47), den Prinzen mit einer diesem zunächst unverständlichen Nachricht: »Wünschen Sie sich Glück, Prinz< (indem sie [die Maske; V.M.] ihn bei seinem wahren N a m e n nannte). >Um neun U h r ist er gestorbene - Damit stand sie auf und ging. Wir sahen uns bestürzt an. - >Wer ist gestorben?< sagte endlich der Prinz nach einer langen Stille. (47)

fen zu sein, daß, wenn zwei Personen zugleich in ihn blicken, diese jeweils nicht mehr sich selbst, sondern nur die jeweils andere sehen können (hierfür müßte der Spiegel nur ausreichend klein sein, um nicht beide Hineinblickenden zu reflektieren): »Unfreywillig, wie von einer unsichtbaren Macht angezogen, fanden sie sich endlich beide vor dem Zauberspiegel, blickten beide zugleich hinein, und indem Dagobert mit schauderndem Entzükken Helianen und Heliane Dagoberten in der Stelle ihres eigenen Bildes erblickten, sanken sie einander in die Arme« (S.92).

22

»Der Verstorbene«, so unterrichtet eine Klammerbemerkung - und gibt zugleich Anlaß zu zahlreichen Spekulationen über historisch verbürgte Realsubstrate - , »war der Erbprinz, der einzige Sohn des regierenden der alt und kränklich ohne Hoffnung eigener Succession war« (49). Die Mitteilung des Armeniers wird sich gegenüber den »am sechsten Abend« (48) in einem schwarz versiegelten Brief eingetroffenen Neuigkeiten aus *** als zutreffend erweisen: »Der Prinz war zu einer Laterne getreten und fing an zu lesen. >Mein Cousin ist gestorben/ rief er. >Wann?< fiel ich ihm heftig ins Wort. Er sah noch einmal in den Brief. >Vorigen Donnerstag. Abends um neun UhrFernschreibekunst< eine aufsehenerregende Neuigkeit. 9

Entsprechend voraussetzungsreich gestalten sich die (vortelegraphischen) Rationalisierungsversuche des Prinzen, die er schließlich verwirft, weil »man«, wie er meint, »mit dem bloßen Zufall schon ausreicht« (101): Sie haben mit mir die nähern Nachrichten von der Krankheit meines verstorbenen Cousins gelesen. Es war in einem Anfall von kaltem Fieber, w o ihn ein Schlagfluß tötete. Das Außerordentliche dieses Todes, ich gestehe es, trieb mich an, das Urteil einiger Ärzte darüber zu vernehmen, und was ich bei dieser Gelegenheit in Erfahrung brachte, leitet mich auf die Spur dieses Zauberwerks. Die Krankheit des Verstorbenen, eine der seltensten und fürchterlichsten, hat dieses 9

Birgit-Susann Mathis: Eine Idee kommt nach Deutschland. In: So weit das Auge reicht. Die Geschichte der optischen Telegrafie. Hrsg. v. Klaus Beyrer u. Birgit-Susann Mathis. Karlsruhe 1995, S. 55-66, hier S. 55. Selbst die erste in Betrieb genommene längere Telegraphenverbindung vermag eine Übermittlungsdauer, wie sie im Falle des >Geistersehers< erforderlich wäre, nicht annähernd zu erreichen, wie sich aus der Darstellung von Paul Charbon: Entstehung und Entwicklung des Chappeschen Telegrafennetzes in Frankreich. In: So weit das Auge reicht. Die Geschichte der optischen Telegrafie. Hrsg. v. Klaus Beyrer u. Birgit-Susann Mathis. Karlsruhe 1995, S. 29-54, hier S. 36, ergibt: »Ein Ereignis, das im Laufe des Morgens [im rund 200 km entfernten Lille; V.M.] stattfindet, ist [...] nachmittags in Paris bekannt«.

23

eigentümliche Symptom, daß sie während des Fieberfrostes den Kranken in einen tiefen unerwecklichen Schlaf versenkt, der ihn gewöhnlich bei der zweiten Wiederkehr des Paroxysmus apoplektisch tötet. D a diese Paroxysmen in der strengsten Ordnung und zur gesetzten Stunde zurückkehren, so ist der Arzt von demselben Augenblick an, als sich sein Urteil über das Geschlecht der Krankheit entschieden hat, auch in den Stand gesetzt, die Stunde des Todes anzugeben. Der dritte Paroxysm eines dreitägigen Wechselfiebers fällt aber bekanntlich in den fünften Tag der Krankheit - und gerade nur soviel Zeit bedarf ein Brief, um von wo mein Cousin starb, nach Venedig zu gelangen. Setzen wir nun, daß unser Armenier einen wachsamen Korrespondenten unter dem Gefolge des Verstorbenen besitze, - daß er ein lebhaftes Interesse habe, Nachrichten von dorther zu unterhalten^] daß er auf mich selbst Absichten habe, die ihm der Glaube an das Wunderbare und der Schein der übernatürlichen Kräfte bei mir befördern hilft - , so haben Sie einen natürlichen Aufschluß über jene Wahrsagung, die Ihnen so unbegreiflich deucht. Genug, Sie ersehen daraus die Möglichkeit, wie mir ein Dritter von einem Todesfall Nachricht geben kann, der sich in dem Augenblick, wo er ihn meldet, vierzig Meilen 1 0 weit davon entfernt ereignet, ( i o o - i o i ) » A e n l i c h e P r o p h e z e i u n g e n « 1 1 u n d >ZufälleGeisterseherklärende< Licht der Aufklärung ist es aber, das im >GeisterseherLaterneOekonomischer Encyklopädie< 2? abgedruckte K u p f e r (Abb. 2 - 3 ) mit in den Blick nimmt. Das Hervorbringen der ersten Gestalt ordnet der Sizilianer selbst dem 28

Funk (s. Anm. 17), S. 148-149, 152. » Vgl. Anm. 16.

2

2

9

Projektionsverfahren der »Laterna magica« (71) mit akustischen und taktilen Satellit-Effekten zu und erklärt die scheinbaren Bewegungen der »Gestalt« durch den wallenden Rauch30 (71). Als Projektionszauber kann die zweite Erscheinung der Rahmenerzählung allerdings nicht mehr enttarnt werden. In Frage kommt vielmehr das von Funk beschriebene Verfahren der »Verkleidungen und Verlarvungen«, denn die Gestalt erscheint »körperlich« (61), und der »Saal«, durch den sie sich »mit majestätischem Schritt« bewegt, ist »helle wie zuvor« (61), womit auch der besten Projektion die Grundlage entzogen ist. Für die verbleibenden Rätsel unterbreitet der Prinz im Anschluß an das Verhör plausible Rationalisierungsvorschläge (90-101). Eine Auflösung der rätselhaften, in die Verantwortung des Armeniers gelegten, »alle Magie des Sizilianers als Apparatur«31 entlarvenden Geistererscheinungen aber (und somit eine Bestätigung der Mutmaßungen des Prinzen) gibt das Fragment nicht. Der Graf von O** stellt eine Aufklärung des »Bubenstücks [...], dem eine so wohl verteidigte Vernunft erlag« (102), lediglich in Aussicht. Die etwa von Michael Voges schon im fünften Heft der >Thalia< ausgemachten »Aufklärungen«, die »die vermeintlichen Wunder des ersten Teils als Betrug entlarvt«32 haben sollen, mithin eine umfassende »Enträthselung dessen, was mit« dem Prinzen »vorgegangen ist«,33 liefert erst eine 1796 erschienene Fortsetzung des >GeistersehersGeistersehers< zu fragen, versucht man lediglich, den Abbruch der Produktion zu erklären. Ironischerweise ist es gerade die Fülle der monomanen Erklärungsversuche, die deren Mangel kenntlich werden läßt. Hanns Sachs: Schillers Geisterseher. In: Imago 4 ( 1 9 1 5 / 1 9 1 6 ) , S. 69-95, S· 1 4 5 - 1 7 9 , hier S. 145, glaubt, »der Lösung der Frage, warum der >Geisterseher< dazu verurteilt war, Fragment zu bleiben, schon ziemlich nahe gerückt« zu sein. Seine Vorschläge besagen, »daß das plötzliche Abbiegen aus dem Detektivroman in die Liebesgeschichte ein Element des Widerspruches in das Werk getragen hat, dem es schließlich zum Opfer fallen mußte«, und »daß die Nötigung, bei der Fortsetzung des Romans das Inzestproblem, wenngleich in verhüllter Form, zu behandeln, jenen Widerwillen des Dichters gegen seinen Stoff verursachte, der sich in seinen Briefen so nachdrücklich ausspricht, und im schließlichen Fallenlassen des Planes gipfelte«. Fritz Martini: Erzählte Szene, stummes Spiel. Zum siebenten Brief des Baron von F . . . in Schillers >GeisterseherGeisterseher< dem Erzähler in die Quere - vielleicht liegt auch darin ein Grund, daß der Roman zum Fragment verurteilt wurde«. Hans Mayer: Schiller. Die Erzählungen. In: Hans Mayer: Zur deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen 1 9 6 3 , 8 . 1 4 7 - 1 6 4 , hierS. 1 6 0 - 1 6 1 , weiß, »daß die neue Hinwendung Schillers zur philosophischen Spekulation [...] dazu führen mußte, auf einen A b schluß der Geschichte zu verzichten«. Monika Schmitz-Emans: Zwischen wahrem und falschem Zauber. Magie und Illusionistik als metapoetische Gleichnisse. Eine Interpretation zu Schillers >GeisterseherGeisterseher< [...] Fragment [blieb] aus innerer Notwendigkeit; der Abbruch war die Folge einer in sich widersprüchlichen Textstruktur«. Klaus H . Kiefer (Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. Hrsg. v. Klaus H. Kiefer. München, Leipzig, Weimar 1991, S. 217) nimmt Schillers >Erzählproblem< in die Verantwortung: »Gerade darin [daß ein entlarvter Betrug dem Prinzen auch die Wahrheit verdächtig geraten ließ] jedoch machte sich [...] das Erzählproblem Schillers bemerkbardas ihn ja zum Abbruch des Textes bewogen hatte«. Andreas Käuser: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1989,besonders S.189-240,hierS. 190, meint, daß Schiller die »rein stoffliche Rezeption ein Grund dafür wurde, den >Geisterseher< unvollendet zu lassen«. Gert Ueding: Die Wahrheit lebt in der Täuschung fort. Historische Aspekte der Vor-Schein-Ästhetik. In: Literatur ist Utopie. Hrsg. v. Gert Ueding. Frankfurt a.M. 1978, S. 8 1 - 1 0 2 , hier S. 1 0 1 , kommt ausgehend von dem zutreffenden Befund, daß »über die Gründe [viel] spekuliert worden [ist], die Schiller bewogen haben mögen, die Arbeit am >Geisterseher< zu verzögern, schließlich gar abzubrechen«, zu einer weiteren Erklärung: »Ein Grund liegt sicher auch in der fehlenden Lösung des ästhetischen Problems, das sich Schiller hier gestellt hat«.

31

2. Visualitätsideologie der A u f k l ä r u n g Die vom Sizilianer verwendete »Zauberlaterne« (70) bringt, dem zuvor schon erprobten >Zauberspiegel< vergleichbar, Licht in einer Weise zum Einsatz, die aufklärerischem Verständnis und Sprachgebrauch 36 zuwiderläuft. Auf dem Spiel steht die Lichtideologie der Aufklärung und mit ihr diejenige ihres biblischen Prätexts der Differenzierung verbürgenden UrErleuchtung: »GOtt sprach: Es werde licht. Und es ward licht. Und GOtt sähe, daß das licht gut war. Da schied GOtt das licht von der finsterniß, Und nannte das licht Tag, und die finsterniß nacht«.37 »Kein allgemeiner verständliches allegorisches Zeichen [...] als die aufgehende Sonne« kennt das Göttinger >Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen fürs Jahr 179K für die Aufklärung, für »dieses höchste Werk der Vernunft«. 38 Die erst im Licht zu treffenden Unterscheidungen bilden die elementare Voraussetzung einer verstehenden, klassifizierenden, berechnenden und beherrschenden Vernunft - eine Auffassung, die von der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch bis zum Ubergang ins 19. Jahrhundert (also noch während >Der Geistersehen erscheint) nahezu ungebrochen fortzubestehen scheint: Auf! auf! ihr forschenden Gedanken [...], Bestrebet euch, und sucht die Wahrheit In der glückseel'gen Klarheit, Und nehmt zu eurem Zweck des Lichtes Schein,

übersetzt Brockes aus den >Grund-Sätzen der Welt-Weisheit des Herrn Abts GENEST*, 3 9 um dem wahrnehmungsorganischen Komplement 36

Hierzu brillant: August Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus. Jena 1934. Nachdruck, Darmstadt 1968, S. 1 2 - 1 9 . 37 Die Bibel, oder die ganze Heilige Schrift des alten und neuen Testaments, nach der deutschen Uebersetzung D. Martin Luthers. Halle 1785; Gen 1,3-5. 38 Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen fürs Jahr 1792 (s. Anm. i), S. 2 1 3 , 2 1 2 . 19 B . H . Brockes: Von dem Licht. In: Herrn B . H . Brockes, verdeutschte Grund-Sätze der Welt-Weisheit des Herrn Abts G E N E S T , nebst verschiedenen eigenen theils Physicalischen theils Moralischen Gedichten, als des Irdischen Vergnügens in G O T T Dritter Theil. Hamburg 1728, S. 3 6 7 - 3 8 1 , hier S. 367. Nachweise aus dem >Irdischen Vergnügen in GOTT< werden auf der Grundlage der folgenden Bände gegeben (Sigle » I V G « und Bandangabe): Herrn B . H . Brockes, Irdisches Vergnügen in G O T T , bestehend in Physicalisch-und Moralischen Gedichten, Erster Theil, nebst einem Anhang etlicher übersetzten Fabeln Des Herrn de la Motte. 6. Aufl. Hamburg 1737; Herrn B . H . Brockes, Irdisches Vergnügen in G O T T , bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Nebst einem Anhange verschiedener dahin gehöriger Uebersetzungen. Zweyter Theil. Hamburg 17 j3; Hn. B . H . Brockes, Irdisches Vergnügen in G O T T , bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Vierter Theil. 2. Aufl. Hamburg 1735; Hn. B . H . Brockes, Irdisches Vergnügen in G O T T , bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Fünfter Theil, Hamburg 1736; Hrn. B . H . Brockes, Irdisches Vergnügen in G O T T , beste-

32

zum Licht die Hauptverantwortung im Erkenntnisprozeß zuzuweisen; folgerichtig spricht er »die Sonne« als »Himmels-Auge« 40 an. Selbstverständlich beginnt Brockes' im Horizont einer Huldigung des Schöpfungsplans verlaufende Abhandlung der »fünf Sinne« ebenso mit dem »Gesicht« wie die »Einleitung« zum >Auszug der vornehmsten Gedichte, aus dem von Herrn Barthold Heinrich Brockes in fünf Theilen herausgegebenen Irdischen Vergnügen in GottBestseller< Uwe-K. Ketelsen spricht vom »ersten populären Bucherfolg der deutschen Aufklärungsliteratur« 42 - nicht schuldig: Wenn wir es genau betrachten, Ist die Kraft von diesem Sinn Mit dem höchsten Recht zu achten, Als der Sinne Königin, Da ja die Künst' und Wissenschaften All' an unsern Augen haften: Künstlich, ja gelehrt, zu seyn Wirckt fast das Gesicht allein. hend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Sechster Theil. Hamburg 1739; Hrn. B . H . Brockes, Land-Leben in Ritzebüttel, als des Irdischen Vergnügens in G O T T Siebender Theil. Hamburg 1743; Herrn B . H . Brockes, Irdisches Vergnügen in G O T T , bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Achter Theil. Hamburg 1746; Herrn B . H . Brockes, Physicalische und Moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur, Nebst seinen übrigen nachgelassenen Gedichten, als des Irdischen Vergnügens in G O T T Neunter und letzter Theil. Hamburg 1748. 40 41

42

B . H . Brockes: Die Sonne. In: I V G I (s. Anm. 39), S. 1 1 6 - 1 4 0 , hier S. 120. B . H . Brockes: Die fünf Sinne. In: I V G II (s. Anm. 39), S. 2 7 0 - 3 1 5 , hier S. 270 (Strophe 12); im folgenden zitiere ich fortlaufend im Text unter Angabe der Strophen-Nummer. Dem Gesichtssinn widmet Brockes vierzehn (S. 270-283), den verbleibenden Sinnen zusammen dagegen nur einunddreißig Seiten (S. 284-307). Der Auszug der vornehmsten Gedichte, aus dem von Herrn Barthold Heinrich Brockes in fünf Theilen herausgegebenen Irdischen Vergnügen in Gott, mit Genehmhaltung des Herrn Verfassers gesammlet und mit verschiedenen Kupfern ans Licht gestellet. Hamburg 1738, entwirft zwar in der Einleitung (S. 1 - 3 ) wie das Gedicht >Die Welt« eine von allen Sinnen geleistete Wahrnehmungssynthese als Desiderat, aber die Verteilung der Wahrnehmung auf die Sinne zeigt die genannte Hierarchisierung in Reihenfolge und Quantität: Siebzehn Verse widmet Brockes dem Gesichtssinn, sieben dem Gehör, sechs dem Geschmack, fünf dem Geruch und sechs dem G e fühl. So wenig das Desiderat selbst die Visualitätsideologie hintergeht, so wenig gelingt dies dem >Auszugweltlichen< Sinne gleichberechtigt neben den beiden >geistigenBetrachtungen< (Str. 49,72,99) vor; und wenn das Versprechen, »auch vom Hören was [...] hören« (Str. 72) zu lassen, den akustischen Fernsinn bedient, setzt es doch wiederum einen sehenden Vor-Leser voraus. Ganz in diesem Sinne auch erklärt die Verortung der Wahrnehmungslehre in der johanneischen Interpretation des göttlichen Heilsplans, »daß G O T T dieses Rund der Erden [...] durch ein Wörtchen lassen werden«, das als gesprochen43 zu denkende Wort zum Schöpfungsursprung. Es wird aber sofort zurückgebunden an die Visualität der von diesem Ursprung kündenden »Schrift und Bibel« (Str. 1). Von wenigen Ausnahmen 44 abgesehen, geht das Auge im 18. Jahrhundert aus dem Konkurrenzkampf der Sinne noch gestärkt als Sieger hervor. Licht und Gesichtssinn avancieren zu Galionsfiguren der Aufklärung; die bereits in der griechischen Antike begonnene Hierarchisierung der Sinnesleistungen 4 ' wird auf die Spitze getrieben. Neben Brockes' >Irdischem 43 44

4!

Vgl. Gen 1,3-29. Z u den wenigen Ausnahmen gehört z.B. Johann Gottfried Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. Riga 1778, der den Tastsinn enorm aufwertet. Bereits antike Autoren faßten, folgt man David C . Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler. Frankfurt a.M. 1987, S. 17, das Sehen (auf den Feldern der Mathematik, der Medizin und der Philosophie) als »erlesensten und unerläßlichsten der Sinne«. Eine ideengeschichtliche Herleitung der Hierarchisie-

34

Vergnügen in GottBlindeLicht des Verstandest von >Licht gebenins Licht rücken* und ähnlichem«, ja »einige charakteristische Neuschöpfungen entspringen der gleichen Einstellung«.' 2 Daß visuelle Wahrnehmung und Erkenntnisprozeß über die rationalistische Lichtideologie aufs engste verflochten sind, bringt Karl Philipp Moritz' >Neues A . B . C . Buch, welches zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder enthält*,53 dem noch leseunkundigen (bildungs)bürgerlichen Nachwuchs bei (Abb. 4). Vorgestellt werden einmal mehr die fünf Sinne, einmal mehr macht das »Gesicht« den Anfang: »Das offne Auge sieht ins Buch«. Im Verbund von >pictura< und >subscriptio< wird die erste Fibel-Lehrstunde zur inszenierten transzendentalen Erfahrung, indem das lesende Kind sich selbst als zunächst sehend, dann lesend und schließlich als denkend entdeckt. Selbsterkenntnis ist der Fibel als Text-Geschehen eingeschrieben. Entsprechend changiert der das zweite Bild ausführlicher kommentierende Fibel-Text konsequent zwischen Deskription oder Bildkommentar und sich selbst wissender Ich-Rede, die den Leser selbst zum Kommentator des empirischen Lesegeschehens macht: Zweites Bild. Das zweite Bild stellt einen Knaben vor, der unter einem Baume sitzt, und in einem Buche lieset. Der Knabe hält den rechten Zeigefinger auf das Buch, damit er in der rechten Zeile bleibe. Der Knabe ist sehr aufmerksam und gaft nicht umher. Bei den Bildern stehen Buchstaben. Unter den Bildern stehen Worte. Wer nicht lesen kann, der besiehet nur die Bilder. ,0

Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990, S.22. >' Utz (s. Anm.44), S.64. (î Langen (s. Anm. 36), S. 13, 14. » Karl Philipp Moritz: Neues A . B . C . Buch, welches zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder enthält mit Kupfern, 2. Aufl. Berlin 1794. Auf funktionale Gehalte der Thematisierung der Sinnesleistungen macht bereits Utz (s. Anm. 50), S. 25-28, aufmerksam.

36

Wer aber lesen kann, der lieset auch die Worte, die darunter stehen.

Das offene Auge siebt ins Buch. M e i n A u g e ist o f f e n , und ich sehe damit ins B u c h .

Das Buch macht junge Kinder klug. Ich will in diesem kleinen B u c h e fleißig lesen lernen, damit ich noch mehr B ü c h e r lesen kann, w o d u r c h ich klüger werde. Ich muß beim lesen nicht zu dichte auf das B u c h sehen, weil man sich die A u g e n damit verdirbet. U n d z u m Lesen sind gute A u g e n nöthig. 5 4

« Moritz (s. Anm. 53), S. 7-8. 37

Die inszenierte Selbsterkenntnis unterliegt freilich Bedingungen: Umhergaffen höbe die transzendentale Situation auf, und ein zu geringer Abstand zur Schrift verdürbe die Augen. Die entscheidende Voraussetzung für auf diese Weise inszeniertes und indoktriniertes Selbstbewußtwerden aber liegt in der mit dem Lesen elementar verknüpften Fähigkeit des Sehens. Die als drittes Bild folgende Erörterung des Gehörs vermag Selbstbewußtsein nämlich nur dann noch zu inszenieren, wenn auch für die empirische Sprech-/Lese-Situation gilt: »Jetzt lese ich laut«,55 während die in den folgenden Bildern vorgestellten Sinne »Geruch«, »Geschmack« und »Gefühl« 5 ® keinen gedoppelten und damit transzendentalen Bezug zur Situation der empirischen Lektüre herstellen können und entsprechend in der an Erkenntnis-Effizienz orientierten Hierarchie der Sinne hintere Ränge besetzen müssen. Selbst das »Nachdenken« wird den Sinnen, insbesondere aber dem »Gesicht« nach- und somit untergeordnet: Das siebente Bild. Nachdenken. Ein Mann sitzet an einem Tische. Auf dem Tische liegt ein Buch. In dem Buche hat der Mann gelesen. Der Mann denkt nach. Ich lese in diesem Buche. Nachher mache ich das Buch zu. Dann muß ich nachdenken, was ich gelesen habe. 57

Dem »cogito« der cartesischen Seinsbegründung wird ein »lego« und diesem wiederum ein »video« als Ermöglichungsbedingung des jeweils folgenden vorgeschaltet. Doch nicht nur' 8 der Blick »ins Buch«, sondern auch der in die Welt wird zum Zielobjekt pädagogisch-didaktischer Anstrengungen. Deren Telos liegt in der Effizienzsteigerung des Sehens und in der Selbstbehauptung des bürgerlichen Subjekts - bei Brockes (1746) als verborgene Subtexte »eines religiösen Anliegens« wirksam, nämlich der Frage, »inwieweit [...] die Natur - als Schöpfung, Kosmos oder einzelnes Naturphänomen - die Funktion des religiösen Mittlers zwischen Mensch und Gott zu übernehmen« 59 vermag. Im Fahrwasser dieser Subtexte gerät, folgt man » Ebenda, S.9. ' é Ebenda, S. 1 0 - 1 3 . 57 Ebenda, S. 13. >8 Diese Lesart forciert Utz (s. Anm. 50), S. 25-26. E r leitet die von Moritz aufgestellte Hierarchie der Sinne aus ihrer Tendenz von größtmöglicher Distanz zur größtmöglichen Sinnlichkeit ab. " Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungs-

38

Ketelsen, Brockes' physikotheologische Naturlyrik »zum Instrument bürgerlicher Selbstaussprache und zum Gefäß bürgerlicher Ideologeme«: é o Bewährtes Mittel für die Augen. Wenn wir in einer schönen Landschaft, mit Anmuht rings umgeben, stehn, Und, durch die Creatur gerühret, aufmerksamer, als sonst geschehn, Den Schmuck derselben zu betrachten und eigentlicher einzusehn, Noch einst vernünft'ge Triebe fühlen; so finden wir, daß unsre Augen (Durch die Gewohnheit fast verblendet, und gleichsam ungeschickt gemacht) Der Vorwürf' Anzahl, Zierlichkeit, der Farben Harmonie und Pracht, Indem sie sich zu sehr vertheilen, nicht ordentlich zu sehen taugen. Es scheint, als ob sich die Gedanken, so wie der Augen Strahl, zerstreuen, Und daß dieß der betrübte Grund, wodurch wir uns der Welt nicht freuen, Noch GOtt, in Seiner Creatur, mit mehrerm Eifer, ehren können. Wir lassen, mit dem hellen Licht, in unsre sehende Krystallen Zu viele Vorwürf' auf einmahl, und zwar von allen Seiten, fallen Anstatt daß unsere Vernunft, zu einer Einheit sie zu ziehn, Sie nach einander zu betrachten, sie zu bewundern, sich bemühn, Und sich daran vergnügen sollte; so springet, recht wie Licht und Blick Von allen plötzlich rückwerts springet, auch ebenfalls der Geist zurück, Ohn' in der Cörper Schmuck und Ordnung, wie es doch nöhtig, einzudringen, Ohn' in uns Lust, Erkenntlichkeit und Dank aus uns herauszubringen. Der Unlust und des Undanks Quell', den wahren Unglücks-Brunnen nun Zu stopfen, und, nach Menschen-Art zu sehen, etwas doch zu thun, Und uns zum Sehn geschickt zu machen; raht ich ein Mittel anzuwenden, Das, wie ich neulich auf dem Felde spatzieren ging, von ungefehr, Bey den Betrachtungen, mir beyfiel, und das, zu brauchen, gar nicht schwehr. Es hat ein jeder von uns allen dieß Mittel selber in den Händen. Man darf, wofern man es gebraucht, inskünftige nicht ferner klagen: Ich weiß nicht was ich sehen soll, das Feld ist gelb, die Luft ist blau, Der Wald ist licht- und dunkel-grün, und dieß ist alles, was ich schau. Ihr seyd, durch meinen schlechten Vorschlag, gewiß geschickter GOtt zu preisen. In einem flachen offnen Felde, in welchem ihr spatzieren geht, Und, durch der Vorwürf Anzahl, nichts, als etwan Feld und Himmel, seht, Will ich euch, in verschiedner Schönheit, statt einer Landschaft, tausend weisen. Man darf nur bloß von unsern Händen die eine Hand zusammenfalten, Und sie vors Auge, in der Form von einem Perspective, halten; So wird sich, durch die kleine Oeffnung, von den dadurch gesehnen Sachen

60

prozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Frühaufklärung. Bd. ι. Tübingen 1981, besonders S. 3 1 0 - 3 6 1 , bestimmt den theologischen und religionsphilosophischen Ort des »Irdischen Vergnügens in Gott«. U w e - K . Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung. Poesie als Sprache der Versöhnung: alter Universalismus und neues Weltbild. Stuttgart 1974, S. 177.

39

Ein Theil der allgemeinen Landschaft zu einer eignen Landschaft machen, Von welcher, wenn man mahlen könnte, ein' eigne nette Schilderey Zu zeichnen und zu mahlen wäre. Man darf sie nur ein wenig drehen; So wird man alsbald eine neue, von ganz verschiedner Schönheit, sehen. Was nun die Ursach', daß die Schönheit für uns so sehr vervielfacht sey, Läßt sich ganz eigentlich erklären: Zu viele Vorwiirf' in die Augen, Die wir, durch gar zu grosse Menge, nicht recht zu unterscheiden taugen, Sind abgehalten, und die Strahlen, die in die spiegelnde Krystallen, Mit den Figuren ihrer Cörper, an des Gesichtes Nerven fallen, Sind nicht nur dadurch deutlicher, daß unser Geist sie schärfer merkt; Der kleine, durch die hohle Hand, formirte kleine Schatte stärkt, Durch sanfte Dunkelheit, das Auge, und folglich ist der Geist geschickt, Mit größrer Achtsamkeit, auf Dinge, die einzeln, schärfer sich zu lenken, Und die darinn vorhandne Schönheit, mit mehrerm Nachdruck, zu bedenken. Zumahlen es unwidersprechlich, und eine feste Warheit bleibet Das, was der Britten grosse Newton uns von dem Sinn der Augen schreibet, Sey vielen Menschen noch verborgen, so wie es vormahls auch gewesen: Es sey das Sehen eine Kunst, sowohl als Schreiben, oder Lesen, Wozu wir den Verstand sowohl, als wie zu allen andern Schlüssen, Ja öfters andre Sinnen mehr, um recht zu sehn, gehrauchen müssen. Ach, daß wir uns denn dieses Mittels, um, wie die Creatur so schön, Zu GOttes Ruhm, und unsrer Lust, mit mehr Bedachtsamkeit zu sehn, Und ihren Schmuck zu unterscheiden, zuweilen doch gebrauchen mögten, Damit wir öfters, wie bisher: Wie schön sind GOttes Werke! dächten! 6 ' Anvisiert ist ein auf das Wahrnehmungsverständnis der »new science« 62 bauendes Sehen, das nicht »zu viele V o r w ü r f auf einmahl, und zwar von allen Seiten« ins Auge dringen läßt und somit die Strukturierungsund Synthetisierungsleistung einer ungeübten »Vernunft« nicht überfordert. In dieser Uberforderung erblickt das Sprecher-Ich »der Unlust und des Undanks Quell'«. Unlust und Undank werden im ausbleibenden Gotteslob miteinander verschränkt: Eine »Creatur«, deren »Schönheit« und »Anmuht« dem Auge sich nicht erschließt, zeitigt »Unlust« beim Betrachter. Diese wiederum verhindert, daß die Naturbetrachter » G O t t in seiner Creatur, mit mehrerm Eifer, ehren können«. Unlust beim Betrachter stellt sich ein, weil dieser sich als Subjekt nur dann begreifen kann, wenn er sich in dieser »schönen Landschaft« seiner »ver61 62

B . H . Brockes: Bewährtes Mittel für die Augen. In: I V G V I I (s. Anm. 39), S. 660-663. Zu Brockes' Aneignung von Isaac Newtons 1704 erschienenen >Opticks< vgl. die einführenden Erläuterungen von Hans-Georg Kemper in Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Naturlyrik und Lehrdichtung. Hrsg. v. Hans-Georg Kemper. Stuttgart 1999, S. 18-20, sowie David G . John: N e w t o n s >Opticks< and Brockes< Early Poetry. In: Orbis Litterarum 38 (1983), S.205-214.

40

nünft'gen Triebe« inne wird, sich als Teil der göttlichen Schöpfung verorten und somit »vergnügt« sich seiner selbst vergewissern kann, eine Selbstgewißheit, die der Naturbetrachter um den Preis einer Ich-Spaltung in ein als integraler Teil der Schöpfung gedachtes und in ein diese Einheit denkendes Ich erkauft. Die Schöpfung gerät wie Moritz' Fibel zum » Wunder-A, B, C! / Worin, als Leser, ich, und auch als Letter, steh«.63 Nicht zufällig schlägt das Sprecher-Ich als »bewährtes Mittel« eine an die Lesetechnik 64 gemahnende Betrachtungsweise der Natur vor, eine Engführung, die in der vorletzten Strophe explizit und durch Hervorhebungen exponiert vorgenommen wird: »Es sey das Sehen eine Kunst, sowohl als Schreiben oder Lesen«. Soll die »Vernunft« »viele Vorwürf [...] zu einer Einheit [...] ziehn«, müssen die zahlreichen visuellen Sinneseindrücke »nach einander« betrachtet werden, damit der »Geist« nicht »wie Licht und Blick [...] plötzlich rückwerts springet«. Analog soll der Leseschüler »den rechten Zeigefinger auf das Buch« halten, »damit er in der rechten Zeile bleibe«. 6 ' Zusammengebracht sind zwei Kulturtechniken, eine bei Brockes schon wirksame, das Lesen, und eine (im Verständnis des Sprechers) noch zu implementierende, die strukturierende Naturbetrachtung, die »Fertigkeit zu lesen im Buche der Natur«, 66 wie sie etwa in dem >Das Thürmchen zu Ritzebüttel· betitelten Gedicht beschrieben und praktiziert wird. Das >Thürmchen< verschafft seinem Bewohner einen exponierten Beobachterstandpunkt, von welchem aus das Sprecher-Ich »die schöne Welt, als GOttes Werk, und als des grossen Schöpfers Bau, / Von Erde, Luft und Fluht verbunden, und wunderbar gefügt, beschauen« kann. Der Betrachtung sind phänomenologische und architektonische Bedingungen auferlegt: Ein Regel-rechtes A c h t - E c k theilt des Thürmchens Riinde richtig ein, W o v o n fünf Fächer nichts als Fenster, aus welchen, wegen seiner Höhe, Ich über alle Häus- und Felder, das Grenzen-lose Wasser sehe, So allesammt die schönsten Vorwürf', in einer schönen Landschaft seyn. [...] Von dem von hier zu sehenden, so weiten Kreise des Gesichts, Von den so vielen Gegenwürfen von Wiesen, Feldern, auf dem Lande, von den nicht wenigem im Wasser, auf dem Betrachtens-werthen Strande, U n d überall uns, durch den Glanz des all's erhelln'den Sonnen-Lichts, é

3 Β.H. Brockes: Die Welt. In: I V G I (s. Anm. 39), S. 490-496, hier S.493. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1993, S. 183, hat diesen Bezug anhand von Brockes' >WeltBewährten Mittel für die Augen< angesprochene ungeübte Naturbetrachter - wie ein Leser des 18. Jahrhunderts (vermeintlich)69 Buchstabe für Buchstabe - nun Sinneseindruck für Sinneseindruck aufnehmen, einen »festen Bild-Komplex in ein Nacheinander der Erscheinungen«70 auflösen, um »in verschiedner Schönheit, statt einer Landschaft, tausend« auszumachen, gilt es, das Sinnesdatenchaos gewaltsam einer Ordnungskraft zu unterwerfen: »Man darf nur bloß von unsern Händen die eine Hand zusammenfalten, / Und sie vors Auge, in der Form von einem Perspective, halten«. Der »Raht« des Sprecher-Ichs schiebt zwischen den Betrachter und die »Creatur« ein Medium, ein »Mittel«, das die Betrachtung der Schöpfung folgerichtig ihrer Unmittelbarkeit beraubt und, »wenn man mahlen könnte«, Bilder hervorzubringen gestattete. Genau solche Bilder >malt< Brockes' >Irdisches Vergnügen in Gott< zu großen Teilen vor den Augen seiner Leser aus. Bevorzugte Gegenstände der versammelten Gedichte sind »Landschaften«, »Wälder und Gärten«, »Berge« und »Hügel«, die im Verfahren der Parzellierung, Selektion und Rahmung in Einzelbetrachtungen oder -bilder, in Ansichten einzelner »Bäume« und »Wiesen«, »Zweige« und »Bluhmen« zerlegt und als Belege des göttlichen Schöpfungswunders gefeiert werden. 71 Der in der »Einleitung« zu Brockes' >Auszug der vornehmsten Gedichte< als >tabula rasa< entworfene Naturbetrachter folgt im Sehen sehr genau der als »bewährtes Mittel« vorgestellten Lektüretechnik; das vermeintliche Sinnesdatenchaos wird nämlich wohlgeordnet in Einzelbildern präsentiert:

Selbstbestimmung und Anpassung. Vorträge des Germanistentages Berlin 1987. Hrsg. v. Norbert Oellers. Bd. 1. Tübingen 1988, S.92-104, hier S.99. 69 Mit der Vorstellung, daß Lesen die Wahrnehmung und Identifikation jedes einzelnen Buchstabens voraussetzt, wird erst viel später gebrochen. Zutreffender wäre es, von Texteinheiten zu sprechen, da sich die Augen beim Lesen in Fixationssprüngen über die Zeilen bewegen, wobei je nach Zeilenlänge, Schriftgröße, Schwierigkeitsgrad des Textes und Lesefertigkeit des Lesers zwischen drei und sechs Fixationspausen stattfinden, in denen nur ein geringer Prozentsatz des Schriftmaterials wirklich identifiziert wird. Das Entziffern von Wörtern und die Herstellung von Sinn sind kognitive Leistungen, die allerdings erst in der apparategestützten Psychologie und Psychophysik des ausgehenden 19. Jahrhunderts erforscht werden. Vgl. Kapitel V I . i und VII.2. 70

Ingeborg Ackermann: »Geistige Copie der Welt« und »Wirkliche Wirklichkeit«. Zu Β. H. Brockes und Adalbert Stifter. In: Emblem und Emblematikrezeption. Vergleichende Studien zur Wirkungsgeschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Sibylle Penkert. Darmstadt 1978, 8.436-501, hier S.450; analog: Hans Christoph Buch: »Ut Pictura Poesis«. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács. München 1972, S. 87.

71

Die Beispiele entnehme ich folgenden Gedichten Brockes': >Bewährtes Mittel für die Auge™ (s. Anm. 39), >Die Berge*, in: I V G I (s. Anm. 39), S. 268-275; 'Der Gartens in: I V G I (s. Anm. 39), S. 1 6 2 - 1 7 3 .

43

Wenn iemand irgendswo in einer Höhle, Allwo desselben Sinn und Seele Von aller Creatur und allem Vorwurf leer, In steter Dämmerung erzogen war; U n d trat' auf einmahl in die Welt, Zumahl zur holden Frühlings-Zeit, U n d sähe dann der Sonnen Herrlichkeit, U n d säh' ein grün beblühmtes Feld, U n d sähe dick bebüschte Hügel, U n d sähe reiner Bäche Spiegel, Durch einen Schatten-reichen Wald, Mit seiner sich drin spiegelnden Gestalt, Umkränzt mit glatten Binsen, fliessen, U n d sähe Flüsse sich ergiessen, Auch ihrer Bürger schuppicht Heer; U n d säh' ein unumschräncktes Meer, U n d sähe bunte Gärten prangen, Auch, wann die Sonn' erst untergangen, Der Abend-Röthe güldne Pracht; U n d säh' in einer heitern Nacht Den Wunder-schönen Sternen-Himmel; [...] Daß er dadurch gestärcket sey, U m alles, was so Wunder-schön, Aufs neue wiederum zu sehn. Auf welche sonderbare Weise Würd' er sich nicht darob ergetzen! Würd er sich nicht halb selig schätzen? Er bliebe gantz gewiß dabey, Daß er, aufs mindst im Paradeise, Wo nicht schon gar im Himmel sey. 7 i D i e als » b e w ä h r t e s Mittel f ü r die A u g e n « a n g e p r i e s e n e S c h u l u n g des Sehens 7 3 gibt mit der v o r g e s c h l a g e n e n >Lesetechnik< eine B e g r ü n d u n g der v o n B r o c k e s s o gern a u s g e w ä h l t e n kleinen u n d kleinsten G e g e n s t ä n d e der N a t u r wie Früchte, Pflanzen, Vögel, Insekten, Sandkörner und Eiskristalle. 7 4 P o e t o l o g i s c h e n G e h a l t b e a n s p r u c h t das G e d i c h t aber i n s b e s o n d e r e 72

73

74

B . H . Brockes: Vorrede. In: Auszug der vornehmsten Gedichte, aus dem von Herrn Barthold Heinrich Brockes in fünf Theilen herausgegebenen Irdischen Vergnügen in Gott, mit Genehmhaltung des Herrn Verfassers gesammlet und mit verschiedenen Kupfern ans Licht gestellet. Hamburg 1738, S. 1 - 3 . Als Grundtendenz im Schreiben Brockes' heben dies die einführenden Erläuterungen von Kemper (s. Anm. 62), S. 1 4 - 1 5 , heraus. Exemplarisch seien einige Gedichte genannt, deren Titel bereits solche Gegenstände aufgreifen: >Die Roses i n : I V G I (s. Anm. 39), S. 79-89 u.ö.; >Die AnemonenDer Goldkäfers in: I V G I (s. Anm.39), S.99-100; >Der schönste

44

darin, daß es nicht nur eine Begründung der Auswahl der Gegenstände, sondern auch eine Legitimation für das mit dem >Irdischen Vergnügen in Gott< verfolgte religiöse Anliegen gibt, insofern mit der als »Mittel« bezeichneten, zum »Perspective« gefalteten Hand eine Reflexionsfigur für den Stellenwert von Kunstprodukten (der einzelnen Gedichte und des gesamten Opus) gegenüber der göttlichen »Creatur« gegeben wird: Produktion und Lektüre der poetischen Texte fallen strukturell75 ineins mit der Landschaftsbetrachtung; wie die Hand als »Mittel« zur strukturierenden >Lektüre< der Landschaft und somit zu Selbstbehauptung und Gotteslob dient, vermag dies in der Argumentation des Gedichts auch das »Mittel« der Dichtung. Produktion, Text und Lektüre erhalten einen eminenten, religiös begründeten Stellenwert; das Gedicht >Bewährtes Mittel für die Augen< wird als >Gebrauchsanweisung< lesbar und rückt in eine Schlüsselposition im >Irdischen Vergnügen in GottMomentaufnahmenschön< beigelegt wird, kommt Form zu; darin erst ist er als Gegenstand in der Vorstellung des betrachtenden Subjekts präsent. Auf der Suche nach »freien Naturschönheiten« begegnen in der >Kritik der Urteilskraft aus Brockes' Inventar bekannte Gegenstände, insbesondere »Blumen« (KdU 44,69 u.ö.), aber auch »viele Vögel (der Papagei, der Kolibri, der Paradiesvogel), eine Menge Schaltiere des Meeres sind für sich Schönheiten« (KdU 69); auf der Suche nach dem Kunstschö-

84 81

86

B . H . Brockes: Das Firmament. In: I V G I (s. Anm. 39), S. 3. Den im >Irdischen Vergnügen in Gott< nahezu omnipräsenten Bezug zur Problematik des Erhabenen haben Richter (s. Anm.4), S. 1 3 9 - 1 4 6 , Carsten Zelle: Das Erhabene in der deutschen Frühaufklärung. Zum Einfluß der englischen Physikotheologie auf Barthold Heinrich Brockes' >Irdisches Vergnügen in Gott«. In: Arcadia 25 (1990), S. 225-240, hier S. 237-238, und zuletzt Walter Erhart: Verbotene Bilder? Das Erhabene, das Schöne und die moderne Literatur. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 7 9 106, hier S. 85-90, herausgearbeitet. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. Karl Vorländer. 7. Aufl. Hamburg 1990, S. 1 1 7 . Im folgenden zitiere ich fortlaufend im Text (Sigle »KdU«) nach der Paginierung Vorländers.

47

nen 8/ findet man als »freie Schönheiten« etwa »ohne Absicht ineinander geschlungene Züge« ( K d U 44) vor, aber auch »Zeichnungen à la greque, das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten usw.« ( K d U 70), »selbst was man Zieraten (Parerga) nennt [...] wie Einfassungen der Gemälde oder Gewänder an Statuen, oder Säulengänge um Prachtgebäude« ( K d U 65). >Schön< heißt ein Gegenstand nur dann, wenn er unter die Kategorien der Qualität, der Quantität, der Relation und der Modalität fällt, d.h. wenn er ohne Interesse gefällt ( K d U 48), wenn er nicht auf einen Begriff gebracht werden kann ( K d U 58), wenn er als zweckmäßig ohne Zweck vorgestellt werden kann ( K d U 76) und wenn das Urteil als subjektiv-allgemeingültig jedermann anzusinnen ist ( K d U 82). Das Erhabene wird angesichts und eingedenk einer Natur erreicht, die sich als über alle Vergleichung gehende Größe und/oder Macht präsentiert: Wenn man also den Anblick des bestirnten Himmels erhaben nennt, so muß man der Beurteilung desselben nicht Begriffe von Welten, durch vernünftige Wesen bewohnt, und nun die hellen Punkte, womit wir den Raum über uns erfüllt sehen, als ihre Sonnen in sehr zweckmäßig für sie gestellten Kreisen bewegt, zum Grunde legen, sondern bloß, wie man ihn sieht, als ein weites Gewölbe, das alles befaßt [...]. Ebenso den Anblick des Ozeans nicht so, wie wir mit allerlei Kenntnissen (die aber nicht in der unmittelbaren Anschauung enthalten sind) bereichert ihn denken; etwa als ein weites Reich von Wassergeschöpfen, als den großen Wasserschatz für die Ausdünstungen, welche die Luft mit Wolken zum Behuf der Länder beschwängern, oder auch als ein Element, das zwar Weltteile voneinander trennt, gleichwohl aber die größte Gemeinschaft unter ihnen möglich macht; denn das gibt lauter teleologische Urteile; sondern man muß den Ozean bloß, wie die Dichter es tun, nach dem, was der Augenschein zeigt, etwa, wenn er in Ruhe betrachtet wird, als einen klaren Wasserspiegel, der bloß vom Himmel begrenzt ist, aber ist er unruhig, wie einen alles zu verschlingen drohenden Abgrund, dennoch erhaben finden können. (KdU 1 1 7 - 1 1 8 ) Die Möglichkeit, das am Unendlichen sich entzündende Erhabene an endlichen Kunstwerken zu suchen, schließt Kant kategorisch aus. Der Clou seiner Argumentation besteht darin, in den reinen ästhetischen Urteilen eine Darstellungspotenz auszumachen. Diese dem Schönen und Erhabenen zugeordneten Darstellungsweisen überbrücken im Falle des Schönen »symbolisch« ( K d U 2 1 1 ) , im Falle des Erhabenen »negativ« ( K d U 122) »die große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt« ( K d U 33); direkt und positiv ist es »nicht möglich, eine Brücke von einem Gebiete zu dem anderen hinüberzuschlagen« ( K d U 87

Kants Verständnis des Kunstschönen erschließt sich in drei Dimensionen: in einer hier berührten reflexionsästhetischen, in einer werkästhetischen (z.B. Ordnung der Künste) und in einer produktionsästhetischen (z.B. Genie).

48

33)· Die Darstellungspotenz des Schönen und des Erhabenen, ihre Fähigkeit, symbolisch oder negativ die Vernunft in den Bereich der Sinnlichkeit zu holen, manifestiert sich indes - ganz im Horizont aufklärerischer Visualitätsideologie - nur im Bereich der Fernsinne. Geruch, Geschmack und Gefühl sind ungeeignet, an Gegenständen »Form« oder »Unform« auszumachen, und kontaminieren reine ästhetische Urteile sofort mit Interessen, indem sie auf das Angenehme zielen oder als Indizien unmittelbarer Bedrohung wahrgenommen werden. Um den Preis der Sinnenzersplitterung erkauft Kant die beiden Varianten, der Vernunft in der Sinnenwelt Darstellung zu verleihen, denn die »Schönheit als Symbol« (KdU 2 1 1 ) und die »negative Darstellung« (KdU 122) im Erhabenen verdanken sich ausschließlich den Fernsinnen, vorzugsweise dem Gesichtssinn (die Ausnahmen unter den Beispielen: Vogelsang [KdU 86], Phantasieren in der Musik [KdU 70], mithin ein Klingen, das keinen offenkundigen Regeln gehorcht). Die das Erhabene auslösende Vorstellung einer über alle Maße gehenden Größe oder die einer die menschliche bei weitem übersteigenden Macht entsteht in erster Linie angesichts der Natur. Das Dynamisch-Erhabene expliziert er unter Rekurs auf kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, den grenzenlosen Ozean in Empörung gesetzt, einen hohen Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl. ( K d U 107)

Die vorwiegend der sichtbaren Welt entlehnten Beispiele vom Mathematisch-Erhabenen der Natur in der bloßen Anschauung liefern uns alle die Fälle, wo uns nicht sowohl ein größerer Zahlbegriff, als vielmehr große Einheit als Maß (zu Verkürzung der Zahlreihen) für die Einbildungskraft gegeben wird. Ein Baum, den wir nach Mannshöhe schätzen, gibt allenfalls einen Maßstab für einen Berg; und wenn dieser etwa eine Meile hoch wäre, kann er zur Einheit für die Zahl, welche den Erddurchmesser ausdrückt, dienen, um den letzteren anschaulich zu machen; der Erddurchmesser für das uns bekannte Planetensystem; dieses für das der Milchstraße; und die unermeßliche Menge solcher Milchstraßensysteme unter dem Namen der Nebelsterne, welche vermutlich wiederum ein dergleichen System unter sich ausmachen, lassen uns hier keine Grenze erwarten. Nun liegt das Erhabene bei der ästhetischen Beurteilung eines so unermeßlichen Ganzen [...] darin, daß wir im Fortschritte immer auf desto größere Einheiten gelangen. (KdU 101)

Die beiden prinzipiell möglichen Modi rein ästhetischer Naturbegegnung, das Schöne und das Erhabene, gemahnen nicht nur aufgrund ihrer Bestimmung als »Form« oder »Unform«, sondern auch aufgrund der 49

konkurrenzlosen Hegemonialstellung des Gesichtssinns eminent an das von Brockes' Gedicht als »bewährtes Mittel für die Augen« vorgeschlagene Modell der Wahrnehmungsschulung; den Aspekt nicht medial vermittelter, sondern durchgängig unstrukturiert wahrgenommener Natur arbeitet >Das Firmamene heraus. Sobald sich Natur aufgrund »zu vieler V o r w ü r f « nicht in die »Einheit« einer Anschauung bringen läßt, führt Brockes die zum »Perspective« geformte Hand als Medium der Begrenzung vor das Auge des Betrachters. Ausgehend von der Parzellierung der Natur im seiegierenden Blick wertet das Sprecher-Ich in Brockes' Gedicht die Landschaft als Beleg des göttlichen Schöpfungsplans, »dessen Eigenschaft kein Kiel beschreiben kann«,88 und gelangt von dort aus zu adäquatem Gotteslob. Indem als »bewährtes Mittel für die Augen« ein Medium zwischen Betrachter und Natur gebracht wird, verschiebt sich für diesen in der Terminologie Kants gesprochen Erhabenes zum Schönen.89 Entsprechend ist der » Verstand« im Spiel. >Das Firmamene dagegen begeht ausschließlich das Feld des Erhabenen und läßt das angesichts des Universums als »ein Staub, ein Punct, ein Nichts« 90 sich verlierende Individuum zur glückenden Selbstvergewisserung und damit zur Voraussetzung des Sprechens gelangen, indem es sich ohne mediale Intervention im Schöpfungsplan verortet: »Allgegenwärt'ger GOtt, in Dir fand ich mich wieder«. Wie dem sich auflösenden Ich der Rekurs auf einen in Gott verbürgten Sinn gelingt, der »Verlust« mithin als »glückseliger« und das »Nichts« als »heylsams« gedeutet werden können, bleibt im Dunkel. Lediglich der Verstand als diesen Umschlag bewerkstelligende Instanz wird wie im Falle der Kantischen Abgrenzung des Erhabenen vom Schönen (KdU 87) ausgeschlossen, denn die Erfahrung des Selbstverlusts angesichts des Firmaments »begrub selbst die Gedancken«. Während Brockes' >Bewährtes Mittel für die Augen< zur Parzellierung, Unterscheidung und Klassifikation visuell wahrgenommener Natur anleitet, um sie nicht als »der Unlust [...] Quell'«, sondern als »schönen« Beleg des Schöpfungsplans feiern zu können, und wie >Das Firmamene die Bewegung zum Absoluten nicht expliziert, wird diese bei Kant transparent gemacht. Sie verläuft - so hat es den Anschein - nicht über die Inthronisation medial vermittelten Sehens, sondern über einen das Sehen begleitenden, in den Gemütsvermögen des Menschen angesiedelten komplexen Reflexionsvorgang, der den bei Brockes noch im Dunkel einer unausge88

8? 90

B . H . Brockes: Die unsere Sele, durchs Gesicht, zur Ehre Gottes aufmunternde Schönheit der Felder, im Frühlinge. In: I V G I (s. Anm. 39), S. 3 7 - 4 1 , hier S.40. Darauf hat bereits Erhart (s. Anm. 85), S. 88, hingewiesen. Brockes (s. Anm. 84), S. 3; die folgenden Zitate ebenda.

50

sprochenen Setzung 91 gebliebenen Rekurs auf ein Unendliches klären könnte: N u r der von jeder medialen, begrifflichen oder teleologischen Einmischung freie Blick auf »rohe Natur« (KdU 97), eine »pure ocular vision«,92 führt zu einer spezifischen (ästhetischen) Erfahrung des Unendlichen, und zwar in der komplexen Uminterpretation der angesichts einer Sinnesdatenfülle, die sich in keine Anschauung mehr bringen läßt, entstehenden »Unlust« in »negative Lust«, die Kant das Erhabene nennt.93 Die Unlust zeitigende Erfahrung des Scheiterns der Erkenntniskräfte Verstand und Einbildungskraft angesichts übergroßer und/oder übermächtiger Natur kann von diesen selbst als Scheitern nicht interpretiert werden. Möglich ist dies allein in einer erneuten (Meta-)Reflexion von einer die Reflexionstätigkeit der Urteilskraft transzendierenden Position aus,94 für die einzig die Vernunft, das »übersinnliche Vermögen in uns« ( K d U 94), verantwortlich gemacht werden kann. Den als »bewährtes Mittel für die Augen« vorgeschlagenen Weg der Medialisierung zu beschreiten und die Überzahl an »Vorwürfen« der Natur in eine Reihe von Einzeleindrücken 9

' Vgl. Wolfgang Preisendanz: Naturwissenschaft als Provokation der Poesie: Das Beispiel Brockes. In: Frühaufklärung. Hrsg. v. Sebastian Neumeister. München 1994, S. 469-494, hier S. 478, der nachweist, daß der »Gottesbeweis« der Physikotheologie einem bereits bekannten Ziel folgt, wobei »die Existenz Gottes von vornherein vorausgesetzt« ist, »Argumentation und Demonstration [...] also zirkulär« verlaufen, »was in Brockes' Gedichten besonders kraß hervortritt«.

92

Paul de Man: Phenomenality and Materiality in Kant. In: Hermeneutics. Questions and Prospects. Hrsg. v. Gary Shapiro u. Alan Sica. Amherst 1984, S. 1 2 1 - 1 4 4 , hier S. 136, setzt diese »pure ocular vision« zu unrecht von den übrigen, fälschlicherweise als »concrete representations of ideas« bezeichneten Erklärungen des Erhabenen ab; diese argumentieren bei Kant stets im Modus der Negativität.

93

Beide, das Schöne und das Erhabene, perpetuieren einen Aufschub, das Schöne im Verhindern des abschließenden Zusammenspiels von Einbildungskraft und Verstand, das Erhabene im Verhindern des abschließenden Zusammenspiels von Einbildungskraft und Vernunft. Das Schöne führt per Analogie zum Sittengesetz, wobei die Analogie qua schönen Gegenstand (auf einen entzogenen Gegenstand: die Vernunft) oder qua Reflexion angesichts eines schönen Gegenstandes (Reflexion angesichts der Vernunft) erfolgt. Die Analogiebildung ist nicht mehr sinnlich, sondern erfolgt ausschließlich im Bereich des Intelligiblen. Sie suspendiert den sinnlichen Aspekt und relativiert dadurch den Brückenschlag. Da das Erhabene aber in einer Lesart ursächlich sinnlich ist, nämlich im Moment physischen Scheiterns, leistet es diesen Brückenschlag >ehrlicherKritik der Urteilskraft^ bei der Erreichung des Erhabenen »in Bildern und kindischem Apparat Hilfe zu suchen« ( K d U 122). Ganz frei von Medienintervention bleibt allerdings auch das Kantische Erhabene nicht. Unterzieht man nämlich die Denkfigur des Erhabenen einer Prüfung im Bereich der Empirie, gelten für das Sich-Innewerden der Vernunft Bedingungen, die strukturell der von Brockes zum »Perspective« zusammengefalteten Hand durchaus vergleichbar sind: »Der Mensch, der sich wirklich fürchtet, [...] befindet sich gar nicht in der Gemütsverfassung, um die göttliche Größe zu bewundern« ( K d U 109). Entscheidende Voraussetzung furchtloser Naturbegegnung ist ein ungefährdeter Betrachterstandort, die Subjektivität verbürgende Distanz zum somit nicht wirklich entgrenzenden und überwältigenden, sondern im Modus des >als ob< ( K d U 1 0 6 - 1 1 0 ) gebändigten und entsprechend vermittelten Naturgeschehen. Erst sie gewährt die für reine ästhetische Urteile (nicht nur im Falle des Schönen, sondern auch im Falle des Erhabenen) notwendige Interesselosigkeit: Die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, welcher den Zuschauer bei dem Anblicke himmelansteigender Gebirgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer, tief beschatteter, zum schwermütigen Nachdenken einladender Einöden usw. ergreift, ist bei der Sicherheit, worin er sich weiß, nicht wirkliche Furcht, sondern nur ein Versuch, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulassen, um die Macht ebendesselben Vermögens zu fühlen, die dadurch erregte Bewegung des Gemüts mit dem Ruhestande desselben zu verbinden und so der Natur in uns selbst, mithin auch der außer uns, sofern sie auf das Gefühl unseres Wohlbefindens Einfluß haben kann, überlegen zu sein. (KdU 116) Der Kantische Entwurf des empirisch gelesenen Erhabenen bewegt sich exakt in der Epochenmode: »Eine Lieblingsstellung des Aufklärers ist [...] die des >Zuschauers< oder >BeobachtersSehpunkt< das Objekt prüft«. 95 Man hat also in Brockes' medial geführter Argumentation nicht nur nach dem (oft genug expliziten) Schönen zu fahnden, bestärkt durch die Tatsache, daß die Natur in Brockes' Gedicht >Bewährtes Mittel für die Augen< nicht als Gewalt, als Gewitter etwa, als Erdbeben, Vulkan oder tobendes Meer, sondern geradezu harmlos als freies Feld eingeführt ist, sondern auch nach dem Erhabenen. Die Überlastung des Betrachters durch »zu viele V o r w ü r f « weist nämlich nicht auf das, was Kant das Schöne nennt, sondern führt vielmehr auf die Spuren eines das Erhabene erst ermöglichenden Scheiterns, im Versuch, die Sinnesdaten in das Ganze einer " Langen (s. Anm. 36), S. 12.

52

Anschauung zu bringen. Beide Argumentationen, die Kants und die der beiden Gedichte >Bewährtes Mittel für die Augen< und >Das Firmaments rekurrieren im Sehen auf ein Unendliches: Kant auf die Vernunftideen (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit), Brockes auf »GOtt« und dessen »Creatur«. Indem beide Gedichte von Brockes der Subjektivität der Beobachter den Boden entziehen (entdifferenzierte Natur entgrenzt das darin wandelnde und schauende Subjekt und nimmt es in sich auf), verleihen sie der Natur genau das, was Kant ihr als »Größe« und »Macht« bescheinigen wird. Hätte sie in ihrer Macht Gewalt über uns, so Kant, dann käme kein Erhabenes zustande, weil sie »unsere physische Ohnmacht [...] erkennen« ließe. Allein »wenn die Menschlichkeit in unserer Person unerniedrigt bleibt« (KdU 107), der Betrachter sich sicher weiß, kann er das Erhabene erreichen. Impliziert ist eine Distanzierungstheorie: Entweder ist die Sicherheit gewährende Distanz äußere Voraussetzung des Erhabenen oder, als innere, die Fähigkeit des Menschen, selbst in größter Gefahr ein ausreichend hohes Maß an »Kultur« (KdU 1 1 1 ) zu zeigen, um sich seiner Vernunft inne werden zu können. Nun scheint der Weg vom Erblicken des »in Empörung gesetzten« (KdU 107) Ozeans zur distanzaufhebenden Furcht bei Kant nicht so weit wie der vom Erblicken der grundlosen »Sapphirnen Tiefe« des Himmels oder gar des »offnen Feldes« zu »Unlust« und Schwindel bei Brockes, doch gehören zu Kants Beispielen der Erhabenheit erreichenden Naturschauspiele neben den spektakulären des Dynamisch-Erhabenen auch die des Mathematisch-Erhabenen, nämlich der »bestirnte Himmel« (KdU 117), große »Einöden« (KdU 116) und ausgedehnte, ruhig liegende Wasserflächen (KdU 117), denen strukturell die in Brockes' Gedichten geschilderten Situationen im »offnen Felde« und unter dem »freien Himmel« entsprechen: Die betrachtete Natur droht bei Kant wie bei Brockes, den Betrachter in einem Sog der Entdifferenzierung seiner Subjektivität zu berauben. Die Bevorzugung der Fernsinne, besonders aber des Gesichtssinns, gewinnt vor diesem Hintergrund an Plausibilität, denn die Ermöglichungsbedingung der von Kant vorgeschlagenen Denkfiguren (Schönes/Erhabenes) kann nur von den Fernsinnen gewährleistet werden. Gebricht es dem (Un-)Gegenstandsbezug nämlich an Distanz, kontaminieren Interessen das ästhetische Urteil und unterbinden die symbolische/negative Darstellung des Unendlichen. Die von Brockes als »bewährtes Mittel für die Augen« vorgeschlagene Transformation unbegrenzter und entstrukturierter Natur zur begrenzten durch medial gestützte Selektions- und Rahmungsoperationen des Betrachters gibt eine implizite Theorie des Schönen und Erhabenen, die wie die in der >Kritik der Urteilskraft weiter ausdifferenzierte, vorwiegend auf dem Feld des 53

Sehens explizierte Theorie in den Bahnen aufklärerischer Visualitätsideologie verläuft: Wege zu Gott, dem Schöpfungsplan oder den Vernunftideen führen, bei Brockes ohne, bei Kant mit transzendentalphilosophischer Begründung, wenn überhaupt, dann durch das Auge (in wenigen Fällen durch das Ohr). Die von Brockes als »bewährtes Mittel für die Augen« angepriesene Form instrumentell gestützter, parzellierender (Natur)Wahrnehmung gerät im 18. Jahrhundert zur Wahrnehmungssignatur schlechthin, wobei das alle Sehhilfen verbindende Merkmal in der Begrenzung des Sehfelds durch Rahmung liegt. Wie breit die Palette der Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen ist, verdeutlicht, um nur ein Beispiel zu nennen, die Naturbegegnung der Handelnden noch in Goethes 1809 erschienenen >Wahlverwandtschaftenauf einen Blick< zu überschauende »Miniaturbild«, das Ottilie »auf ihrer Brust« (W 335) trägt - eine Wahrnehmungssignatur, in deren Kontext auch Gründe für die Konjunkturentwicklung der Guckkastenbühnen zu suchen sind: »Durch den umschließenden Rahmen bleibt alles auf dieser Bühne, sei es noch so räumlich und plastisch gestaltet, letzten Endes doch nur Bild. Es ist dieselbe Wirkung, wenn wir durch die Rahmung eines Fensters die Außenwelt betrachten«.98 Gilt es, die Grenzen menschlichen Sehens zu überschreiten, der »Blödigkeit der Augen« 99 Abhilfe zu schaffen, kommen Teleskope, Mikroskope, Vergrößerungsgläser und Brillen zum Einsatz. Zedlers >Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste< feiert »Fern-Glaß, Perspectiv, Telescopium, Tubus« ganz im Duktus aufklärerischer Lichtrede als ein »optisch Instrument [...], dadurch man die weit entfernten Sa-

96 97

98

Langen (s. A n m . 36). Johann Wolfgang Goethe: D i e Wahlverwandtschaften. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 9. Hrsg. v. Christoph Siegrist u.a. München 1987, S. 286-529, hier S. 287; die folgenden Zitate werden in Klammern fortlaufend im Text nachgewiesen (Sigle »W«). H o r s t Schäfer: Das Raumproblem im D r a m a des Sturm und Drang. Emsdetten 1938, besonders S. 1 5 - 2 J , hier S. 18.

" B . H . Brockes: Von Spiegeln und Fern-Gläsern. In: I V G I I I (s. A n m . 41), 5 . 4 8 3 - 4 9 3 , hier S.485. 54

chen klar und deutlich sehen kann«; 100 »sie geben, was sich sonst verbarg, uns zu verstehn«. 101 Die »Fernrohrmanie des 18. Jahrhunderts« 102 kulminiert am Jahrhundertende in bereits »tausendfache Vergrößerung« bietenden »Telescopen«, »wodurch [...] Gegenstände auf dem Monde von nicht mehr als 188 Fußen im Durchmesser (die Bastille oder ihre Ruinen und die Aegyptischen Pyramiden sind größer)« 103 ausgemacht werden können. Die »präcisesten Beobachtungen« 104 kann der Astronom Johann Hieronymus Schroeter auf der Oberfläche des Mondes anstellen, während Mikroskope »ein Stäubchen, so vorhin nicht sichtbar«, unter dem bewaffneten Blick »wie ein Berg gestallt« und »eine Mülb und eine Miet' [...] fast dem Rinoceros und Elephanten gleich« 10 ' erscheinen lassen (Abb. 5). Für die enorme Verbreitung der Camera obscura im 18. Jahrhundert mag man wie Langen ihre geradezu idealtypische Umsetzung rationalistischer Wahrnehmungstechniken ins Feld führen, vielleicht auch ihre preiswerte Herstellung. Seinen besonderen Reiz verdankt das Medium aber seiner bereits Leonardo da Vinci bekannten funktionalen Affinität zum mensch-

>Fern-GlaßBewaffnung< des Auges »im technischen Zeitalter« instruktiv: Harro Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Darmstadt 1997, S. 19-50. 102 Joachim Rienitz: Kulturgeschichte des Fernrohrs. Tübingen 1985, S. 1 4 - 2 1 . Anders schätzt Ulrich Stadler: Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen. Zum Gebrauch optischer Instrumente in Hoffmanns Erzählungen. In: E . T . A . Hoffmann-Jahrbuch 1 (1992/93), S . 9 1 - 1 0 5 , hier S . 9 1 - 9 2 , die Rolle bisher Unerschließbares erschließender optischer Instrumente ein: »Der heroischen Frühphase [...] folgte im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Phase der Ernüchterung, in der nicht nur weniger spektakuläre Entdeckungen mit Fernrohr und Mikroskop gemacht wurden, sondern auch die Qualität der optischen Instrumente nur sehr langsam verbessert werden konnte«. Stadler stützt seine Einschätzung aber auf Äußerungen avancierter Naturforscher, ohne die z.B. durch die Entwicklung der optischen Industrie gestützte enorme Verbreitung und Popularisierung von Teleskopen und Mikroskopen zu bedenken - erst ihre Erschwinglichmachung konnte eine Breitenwirkung garantieren, mochte sie auch mit einem Qualitätsmangel (vgl. S.95, Anm.) erkauft sein. I0)

Anonymus: Einige Neuigkeiten vom Himmel. In: Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen fürs Jahr 1792 (s. Anm. 1), S . 8 1 - 1 1 6 , hier S . 9 1 . Johann Hieronymus Schröter: Aphroditographische Fragmente, zur genauem Kenntniß des Planeten Venus, sammt beygefügter Beschreibung des Lilienthalischen 27füßigen Telescops, mit practischen Bemerkungen und Beobachtungen über die Größe der Schöpfung. Helmstedt 1796, S. 203: Das beschriebene Lilienthalische Telescop arbeitet mit »einer 800 bis iooomaligen Vergrößerung«.

104

Anonymus (s. Anm. 103), S.93. Brockes (s. Anm.99), S.491.

105

55

Abb. 5 liehen Auge. 1 0 6 Als »Entäußerung der technisch gewordenen Sinnesfunktion« 1 0 7 wiederholt die Camera obscura den

physikalisch-optischen

Aspekt des visuellen Wahrnehmungsvorgangs - »auch ist der innere [...] Raum des Auges einem solchen Zimmer völlig ähnlich und wird durch das schwarze [...] Pigment verdunkelt« 1 0 8 - , gestattet modellhaft »erweiterte Einsicht in die Gesetze des Sehens«: 109 Sehen sieht sich selbst. Konsequenter als in dem Pater Christoph Scheiner zugeschriebenen, in René Descartes' >La Dioptrique< 1 1 0 ins Bild gesetzten Experiment, die Rückwand eines enukleierten Rinderauges bis auf die Retina hin freizulegen, um das A b bild der Außenwelt auf deren Kehrseite zu erblicken (Abb. 6), kann der analytische Blick auf das Auge kaum ins Werk gesetzt werden. Indem mit 106

107

108

109 110

Vgl. Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. Hrsg. v. André Chastel. München 1990, S. 224-226. Die Schriften da Vincis wurden, so Lindberg (s. Anm.45), S. 296, »nicht vor Ende des achtzehnten Jahrhunderts ernsthaft gelesen« und erst Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlicht. Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. Frankfurt a.M. 1995, S. 104. >AugeDunkelheit< ihrer Herkunft: »die Augenmedizin gelangt [...] im 18. Jahrhundert« nämlich nicht nur, wie Peter Utz darlegt, »an den Umschlagspunkt von archaischem öffentlichem Heilungswunder und moderner medizinischer Technologie«," 7 sondern inauguriert mit dem Absolutismus des Sehens eine maßlose Furcht nicht nur vor dem Verlust des Augenlichts, sondern auch vor dem daran festgemachten Welt- und Selbstverlust. Rationale Durchdringung des Sehens ist nur um den Preis einer neuerlichen Auslieferung des Subjekts an seine nun perfideren Ängste zu haben, eine Dialektik, die in der Praxis voraufklärerischer Augenmedizin noch nicht entfesselt war. Dies geschieht erst mit der systematischen Katalogisierung der Augenkrankheiten (etwa »nach anatomischer Ordnung«), 118 mit der Verfügbarmachung neu erworbenen Wissens in der wissenschaftlichen sowie interessierten Öffentlichkeit und mit der damit einhergehenden Verbreitung von Anweisungen zur Pflege der Augen und Erhaltung der Sehkraft im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Von Carl Westphal, »einem praktischen Augenarzte«, stammt die »dem größern gebildeten Publiko und besonders denen Ständen, deren täglich Beschäftigung vorzüglich die Kräfte des Gesichts in Anspruch nimmt«, gewidmete >Kunst, gesunde Augen bis ins höchste Alter zu erhalten, ein schwaches und fehlerhaftes Gesicht zu verbessern und wieder herzustellen^" 9 »Wie sehr würde es den Verfasserfreuen«, heißt es dort in der Einleitung, »wenn er durch diese Blätter solche, die nie an den Verlust des Gesichts gedacht haben, zur Überlegung brächte«. 120 Die voraufklärerische Augenmedizin befand sich Kortum zufolge nahezu vollständig in den Händen herumschweifender Charlatane und empirischer Augenärzte, welche zwar die Handgriffe zu einigen Operationen verstanden [...], übrigens aber fast allgemein von allen gründlichen medicinisch-chirurgischen und optischen Kenntnissen entblöst und in der Theorie so unwissend waren, daß sich 1.7 1.8

120

Utz (s. Anm. 50), S. 2 9 - 3 1 . Beer (s. Anm.47), S . 3 1 . Westphal (s. Anm. 48), Vorrede, unpaginiert. Westphal (s. Anm. 48), S.6.

59

von ihren Bemühungen für die Vervollkommnung der Heilkunde der Augenkrankheiten wenig hoffen ließ, um so weniger da sie ihre Kunst, und was sie ihre Erfahrung darin etwa neues gelehrt hatte, als Geheimniß bewahrten. Riesenmäßige Fortschritte machte hingegen die Augenheilkunde, seitdem sich ächte Aerzte und Wundärzte in Menge derselben annahmen, auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen, nicht auf Auctorität der Alten baueten, selbst bey Operationen Hand anlegten, und durch Anwendung pathologisch-praktischer und optischer Grundsätze die Lehre von den Augenkrankheiten zu einer soliden Wissenschaft erhoben [...]. Im ganzen siebenzehnten Jahrhundert sind in der Kenntniß und Behandlungsart der Augenkrankheiten fast gar keine Fortschritte gemacht worden. Eigene Werke, welche die gesammte Lehre umfassen, sind in demselben nicht erschienen. 121 Folgt man dem Ophthalmologen Friedrich August Ammon, sind »Schriften über Pflege und Erhaltung der Sehkraft« erst »gegen Ende des 18. Jahrhunderts und im Anfang des 19. Jahrhunderts in großer Zahl erschienen, von Augenärzten wie von Brillen-Verfertigern, von Physikern, auch von Laien«. 122 Die freilich zu einseitig ausgefallenen, von einer akademischen Warte aus getroffenen Befunde von Kortum und Ammon überraschen nicht, wenn man bedenkt, daß die der Zunft der Bader und Barbiere zugehörigen, als »Marktschreyer, und Afterärzte« 1 2 3 gescholtenen Oculisten als selbständige Unternehmer ihre »grosse Kunst/ und geheime Wissenschafft« 124 weitgehend hermetisch ausübten. Studierte Mediziner widmeten sich fast ausschließlich der Theoriebildung und der inneren Medizin und überließen äußere (chirurgische, orthopädische), in seltenen Fällen auch medikamentöse Eingriffe in den menschlichen Körper den umherziehenden Wundärzten, Chirurgen, Bruch- und Steinschneidern, Zahnbrechern und Oculisten. Zu den wenigen Ausnahmen akademisch gebildeter Wundärzte, die entweder ein medizinisches Studium an einer Hochschule absolviert und sich danach z. B. durch praktische Arbeit in Feldlazaretten zum Chirurgen entwickelt hatten oder die zunächst zum Wundarzt ausgebildet worden waren und danach ein Studium der Medizin absolviert hatten, gehören Karl Kaspar von Siebold und, als »Begründer der wissenschaftlichen Chirurgie in Deutschland« 125 gefeiert, Lorenz Heister. Die Über121

Kortum (s. Anm.47), S. 16, 18; die wenigen Ausnahmen führt Kortum auf. Friedrich August Ammon: Kurze Geschichte der Augenheilkunde in Sachsen. Eine medicinisch-historische Skizze. Leipzig 1824, S. 54. "3 Plenk (s. Anm.47), S.9. 124 Flugblatt von Johann Balthasar Carl Kohn; als Faksimile in: Eike Pies: Ich bin der Doktor Eisenbarth. Arzt der Landstraße. Eine Bildbiographie über das Leben und Wirken des berühmten Chirurgen Johann Andreas Eisenbarth (1663-1727). Genf 1977, S.46. 125 Hans Killian: Meister der Chirurgie und die Chirurgenschulen im gesamten deutschen Sprachraum. 2. Aufl. Stuttgart 1980, S. 26. 122

60

windung der Trennung von wundärztlich-chirurgischer Praxis (Dimension der ars) und akademisch-schulmedizinischer Theorie (Dimension der scientia) gelingt mit regionalen Unterschieden erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts. 126 Bis dahin aber sicherten Wissensvorsprung und Nachfrage den freien Wanderunternehmern aller Geringschätzung ihres Berufsstandes zum Trotz große ökonomische Vorteile und brachten ihnen nicht nur das Stigma des Scharlatans, sondern nicht selten auch den Ruf des Wunderheilers ein. In diesem Ruf stand als heute vielleicht berühmtester Zunft-Exponent der zwischen 1686 und 1727 praktizierende Johann Andreas Eysenbarth. Seinen weithin bekannten Nimbus verdankt er neben zahlreichen medizinischen Erfolgen einer intensiven Werbetätigkeit, zu der nicht nur die Anfertigung und Verbreitung diverser Flugblätter, sondern auch die Einbindung in der Regel kostenpflichtiger medizinischer Eingriffe in kostenlose unterhaltende Darbietungen gehört. » 1704 hat Eysenbarth zu Wetzlar auf seiner Bühne sogar Komödie spielen lassen und einen Seiltänzer bei sich gehabt, um das Volk anzulocken«, 127 wobei die Trennung von Bühnenspektakel und medizinischem Eingriff (hinter der Bühne) nicht immer gewahrt blieb: In Frankfurt soll er nämlich »auf öffentlichem Theater [...] einem armen Blinden den Star« 128 gestochen haben. Wie sehr in der Wahrnehmung der Zeitgenossen die wundärztlich-oculistische Praxis an ein göttliches »Heilungswunder« gemahnt, legt nicht nur das einem 1698 in Spandau gedruckten Flugblatt Eysenbarths vorangestellte Motto »Deus sanat, Medicus curat« oder Georg Bartischs »christlich hochnötig Gebet zu dem Sone Gottes/ das er des Artztes hand, so er an blinde oder sonst gebrechliche Augen anleget, gnediglich regieren [...] wolle«, 129 nahe, sondern auch die Verknüpfung zweier ikonographischer Traditionslinien, zum einen die der Darstellung sakraler Augenheilungen (etwa durch Christus oder Tobias), zum anderen die der in Abbildungen festgehaltenen operativen Praktiken augenärztlicher Eingriffe. So überrascht es nicht, daß die Rembrandt zugeschriebene Zeichnung (Abb. 7) »Tobie ren126

Vgl. Irmtraud Gantz-Kohler: Uber Eigenschaften und Verhalten der Wundärzte in chirurgischen Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts. Diss. München 1983, S.7-8, 16; vgl. Killian (s. Anm. 125), S.29, 34. 127 Julius Hirschberg: Geschichte der Augenheilkunde. 2. Aufl. Leipzig 1 9 1 1 , S. 168. 128 Hirschberg (s. Anm. 127), Bd. 14.1 ( 1 9 1 1 ) , S. 168. 129 Georg Bartisch: Ο Φ Θ Α Λ Μ Ο Δ Ο Υ Λ Ε Ι Α . Das ist/ Augendienst. N e w e r vnd wolgegründter Bericht Von Ursachen vnd erkentnüs aller Gebrechen/ Schäden vnd Mängel der Augen vnd des Gesichtes/ wie man solchen anfenglich mit gebiirlichen Mitteln begegenen/ vorkommen vnd wehren/ Auch wie man alle solche Gebresten künstlich durch Artzney/ Instrument vnd Handgrieffe curiren, wircken vnd vertreiben sol. Dresden 15 8 3, S.62,2.

61

Abb. 7

dant la vue à son père« bei einer Überführung 1803 aus Versailles in das »Musée du Louvre« mit der N o t i z »Chirurgien pansant un blessé lavé au bistre sur papier blanc? Rembrandt«' 3 0 versehen und offenbar als Darstellung eines weit profaneren Gegenstandes aufgefaßt wurde: der zur Chirurgen-Ausbildung dienenden Dokumentation augenärztlicher Eingrif,JO

Jacques Derrida: Mémoires d'aveugle. L'autoportrait et autres ruines. Paris 1990, S. 33. Heinke Sudhoff: Ikonographische Untersuchungen zur >Blindenheilung< und zum >BlindensturzStarstechensThalia< abgedruckten Teils des >Geistersehers< erschienenen Ubersetzung von Ludovico Antonio Muratoris Abhandlung >Della forza della fantasia umanaDies k ö n n e schlechterdings nicht der Fall seyn, weil das, w a s er hörte u n d sähe, ü b e r seine Einsichten ginge. D i e E i n b i l d u n g s k r a f t verrichte ihre G e s c h ä f t e n u r mit denjenigen E i n d r ü c k e n , w e l c h e im G e d ä c h t n i ß als v o r m a l s v o n uns erhaltene a u f b e w a h r t w ü r d e n . A b e r er hätte b e y seinen wiederholten u n d ausführlichen U n t e r r e d u n g e n mit j e n e m G e i s t e D i n g e erfahren, w o v o n er v o r h e r nie gehört, nie gelesen, nie g e w u s t hätte, daß je ein M e n s c h d a v o n unterrichtet gewesen wäre. E r schlöße also hieraus, daß b e y seinen Visionen, w a h r e u n d w i r k l i c h e E r s c h e i n u n g e n irgend eines Geistes z u m G r u n d e lägen, der sich, w a s auch i m m e r die U r s a c h e d a v o n s e y n möchte, v o n ihm mit A u g e n sehn liesse. 1 5 0

Vorgängen der Desemantisierung (Verdrängen, Vergessen) 1 ' 1 trägt Tasso in seiner einem Inspirationsmythos das Wort redenden Argumentation so 147

Ludovico Antonio Muratori: Della forza della fantasia umana. Trattato. 2. Aufl. Venedig 1747; Ludwig Anton Muratori: Uber die Einbildungskraft des Menschen. Hrsg. ν. Georg Hermann Richerz. 2 Bde. Leipzig 1785. 1+8 Christoph Martin Wieland: Klelia und Sinibald oder Die Bevölkerung von Lampeduse. Ein Gedicht in zehn Bänden. In: C . M . Wielands sämmtliche Werke. Bd. 21. Leipzig 1796, S. 169-396, hier S. 175-183. Auf diesen Zusammenhang hat bereits Käuser (s. Anm.35), S. 224-232, aufmerksam gemacht. 149 Vita di Torquato Tasso Scritta Da Gio. Battista Manso Napolitano. Venedig 1621. Leichter zugänglich und Grundlage der Zitation: Giovan Battista Manso: Vita di Torquato Tasso. A cura di Bruno Basile. Rom 1995. >¡° Muratori/Richerz (s. Anm. 147), Bd. 2, S. 85. ' ' 1 Vgl. hierzu Renate Lachmann: Kultursemiotischer Prospekt. In: Memoria. Vergessen und



wenig Rechnung wie der Prinz. Der Argumentationsweise Tassos analog 1 ' 2 wird die »Erscheinung« des Prinzen von diesem ebenso als keinesfalls durch die Tätigkeit der Einbildungskraft hervorgebracht begründet. Der Prinz bestreitet nämlich, daß »diese Gestalt [...] bloßes Gemälde, [...] Gesicht [seinjer Phantasie« (130) gewesen sein soll, daß mithin seine »entzündete Phantasie sich etwas Idealisches, etwas überirdisch Vollkommenes [...] zusammensetzte« (133): »Kann die Phantasie etwas geben, was sie nie empfangen hat? - und im ganzen Gebiete meiner Darstellung ist nichts, was ich mit diesem Bilde zusammenstellen könnte« (134). Im Unterschied zu Mansos Tasso schließt der Prinz jedoch nicht auf einen >wirklichen< Geist, sondern ist, sieht man von der Stilisierung zur himmlischen Erscheinung (»Madonna«, »Glorie« [ 1 3 1 ] etc.) ab, von der physisch-empirischen Realität, der Leibhaftigkeit der Schönen überzeugt. Argumentativ aber schreiben sich Tasso und der Prinz gemeinsam in eine bereits zur Zeit Tassos außerordentlich virulente poetologische Debatte ein, die die Möglichkeit >origineller< Kunstproduktion (sei es unter dem Begriff >ingenium< im Renaissancehumanismus, sei es unter dem des >Genies< im 18. Jahrhundert) diskutiert. An der Instanz der Einbildungskraft indes zweifeln Tasso und Manso sowenig wie der Prinz und sein Dialogpartner, der Baron von F*"'*. Strittig ist lediglich der den Erscheinungen zugewiesene ontologische Status und das Zustandekommen des vermeintlich Originellen, noch nie Dagewesenen. Während Tasso das Unplausible einer Creatio ex nihilo im Rückgriff auf ein Inspirationsmodell verschleiert und wie der Prinz die Einbildungskraft vom Vorwurf der Einmischung entlastet, verortet dieser seine Erscheinung nicht im Geisterreich, sondern gerade in der empirischen Wirklichkeit. Manso und der Baron von dagegen halten an der Erklärung der Eindrücke durch die Intervention der Einbildungskraft fest. Dem Geist Tassos und der Schönen des Prinzen wird damit ihre Existenz, zumindest aber ihr So-Sein in der empirischen Welt bestritten. Die Tätigkeit der Einbildungskraft aber erhält in beiden Auseinandersetzun-

15:1

Erinnern. Hrsg. v. Anselm Haverkamp u. Renate Lachmann. München 1993, S . X V I I X X V I I , hier S. X V I I I . 1794 arbeitet Schiller an der Abhandlung >Uber naive und sentimentalische DichtungGeisterseher< ist es die »Phantasie«, die Vorgefundenes »zusammensetzte«, in der >Vita di Torquato Tasso< »die Einbildungskraft«, die nur mit im Gedächtnis verfügbaren »Eindrücken« arbeiten kann. Der Verdacht einer Intervention der als quellenabhängig bestimmten Einbildungskraft im Falle der Erscheinung des Prinzen drängt sich entgegen seinem Beharren auf Originalität und Realität der Schönen aber gerade auf, nicht nur, weil die Kirche »einiger vorzüglichen Gemälde« wegen als »merkwürdig« (126) gilt, sondern weil der Prinz auf »die Madonna unsers Florentiners« rekurriert, um eine, wie er sagt, freilich unzureichende Beschreibung »der geheimnisvollen Griechin« (137) zu geben: »Mit der Madonna, von der der Prinz [...] spricht, verhält es sich so« ( 1 3 1 ) , unterbricht der Baron die Wiedergabe der Binnenerzählung des Prinzen. Kurz nach der Abreise des Grafen von O"""' lernt der Prinz einen florentinischen Maler hier kennen [...]. Er hatte drei [...] Gemälde mitgebracht, die er für die Galerie im Cornarischen Palaste bestimmt hatte. Die Gemälde waren eine Madonna, eine Heloise und eine fast ganz unbekleidete Venus - alle drei von so ausnehmender Schönheit und am Werte einander so gleich, daß es beinahe unmöglich war, sich für eines von den dreien ausschließlich zu entscheiden. Nur der Prinz blieb nicht einen Augenblick unschlüssig; man hatte sie kaum vor ihm ausgestellt, als das Madonnenstück seine ganze Aufmerksamkeit an sich zog [...]. Er war ganz wunderbar davon gerührt; er konnte sich von dem Stücke kaum losreißen [...]. Dieses Gemälde kam dem Prinzen jetzt in Erinnerung. (131; meine Hervorhebung) Psychosemiologisch macht der Baron (im Rekurs auf den Erfahrungshorizont des Prinzen) einen Vorgang der Resemantisierung für die Erscheinung der schönen Griechin verantwortlich und bestreitet die Realität der vom Prinzen geschilderten »Gestalt«, nicht ihr Sein, aber ihr So-Sein. Suspendiert ist somit auch die Möglichkeit quellenunabhängiger Tätigkeit der Einbildungskraft, denn mit der Er-inner-ung beruft der Baron ein nicht nur psychosemiologisch, sondern auch strukturell lesbares, am Medienparadigma der Camera obscura ausgerichtetes mimetisch-heteronomes Darstellungsmodell. Z u r Debatte steht somit in der Dimension des discours 1 ' 3 des Textes (also jenseits des Argumentationshorizonts des Barons im Textgeschehen) nicht nur das So-Sein der dem Prinzen sich zeigenden schönen »Gestalt«, sondern im Wahrnehmungshorizont des Prin1

" Die Unterscheidung von »discours« und »histoire« übernehme ich von Tzvetan Todorov: Les catégories du récit littéraire. In: Communications 8 (1966), S. 1 2 5 - 1 5 1 . Die Kategorien dürfen allerdings nicht als >Entweder-Oder< verstanden werden, sondern als zwei einander bedingende Größen. Nicht die kategoriale Zuordnung eines ästhetischen Sachverhaltes ist gefragt, sondern die heuristische Erschließungskraft dieser Unterscheidung.

72

zen ihr Sein selbst, da sie als Projektion lesbar wird. 154 Strukturell' 55 liegt in der räumlichen Situierung der Erscheinung eine Camera obscura vor, bedenkt man, daß durch »ein einziges Fenster« Licht »in die Kapelle« dringt und die »Abendsonne« auf »jenem Bilde« der Schönen »spielte«. Voraussetzung einer solchen wäre aber wiederum ein außerhalb des Guckkastens befindliches Urbild, eine seiende oder gemalte Schöne, deren (realiter: seitenverkehrtes und auf den Kopf gestelltes) Abbild in der Kapelle zu sehen wäre - eine Anordnung, die sich etwa an Johann Wallbergs >Sammlung natürlicher Zauberkünste< hätte orientieren können, in der Vorschläge unterbreitet werden für Projektionen einer »camera obscura, Oder: verfinstertes Zimmer, darinnen all- und jede gegenüber situierte Dinge [...], als auch Menschen und Thiere, gehend, lauffend, springend und fliegend, in ihrer wirklichen Bewegung, natürlichen Farben, die kein Maler schöner exprimiren kann [...], auf die angenehmste Gestalt sich vorstellig machen«. Ist »das Zimmer durch Läden verfinstert, so wird in einen derer Läden ein Loch geschnitten«, »durch welches die Repräsentation geschehen solle« 156 (Abb. 12). Eine grundlegende Infragestellung der durch niemanden außer durch den Prinzen selbst bezeugten Wahrnehmung der schönen Griechin indes gestattet erst eine zweite, konkurrierende, durch den bisherigen Medienzauber nahegelegte Lesart, nämlich eine poietische, am Prinzip der projizierten Ent-äußer-ung orientierte, deren Medienparadigma die Laterna magica ist. Strukturell gleicht nämlich die Konstellation eines dunklen Raumes, durch dessen einzige Öffnung nach draußen Licht fällt, sehr genau der bei der Projektionsvorstellung des Sizilianers erprobten Konstellation: »Ein Fensterladen, der dem Kamine gerade gegenüber stand, war durchbrochen und mit einem Schieber versehen, um, wie wir nachher erfuhren, eine magische Laterne in seine Ö f f nung einzupassen, aus welcher die verlangte Gestalt auf die Wand über dem Kamin gefallen war« (64-65). Semiologisch gesprochen produziert die Camera obscura motivierte Zeichen, die Laterna magica dagegen arbiträre.' 57 Daß die im Anschluß angestellten Nachforschungen zur Entdek154

Giovanni Battista della Porta u.a. geben Modelle, wie die Schöne in die Kirche hätte gelangen können. Vgl. Busch (s. Anm. 107), S. 103. Realiter wäre eine solche Projektion schwer zu verwirklichen, in der Benennung, Ausschmückung und Anordnung der räumlichen Gegebenheiten und der Gestalt aber sind die entscheidenden Merkmale (Arbeitsbedingungen und Leistungen) der Camera obscura benannt. '''Wallberg (s. Anm.26), Bd. 1, S. 152, 154, 153. Die Laterna magica produziert nicht notwendig arbiträre Zeichen. Im Gebrauch um 1800 tut sie es allerdings. Als Vorläuferin des Diaprojektors wäre sie freilich in der Lage, ein photographisch erzeugtes Dia zu projizieren, wäre dann aber einer Camera obscura (dem Photoapparat nämlich, der das Dia erzeugt) wiederum nachgeordnet.

73

Abb. i2

kung der »geheimnisvollen Griechin« führen, mithin ein Urbild ausfindig machen, hebt den im Unklaren belassenen semiologischen/ontologischen Status der »Gestalt« in der Kirche aber nicht auf, um so weniger, als deren vermeintliche Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche keinen bleibenden Eindruck bei der »Griechin« hinterlassen zu haben scheint: >Es ist nicht das erste Mal, Signora, daß — daß - -< E r konnte es nicht heraus sagen. >Ich sollte mich erinnern,< lispelte sie >In der Kirche,< sagte er >In der :: ' ;; : ! 'Kirche war es,< sagte sie -

(152) Ebenso unbestimmbar bleibt der ontologische Status des Tasso erscheinenden Geistes in Richerz' Muratori-Übersetzung wie auch in Mansos >Vita di Torquato Tasso Wirklichkeit des Geistes anzuerkennen: 74

W i e ich mich hierüber mit ihm h e r u m z a n k t e , k a m es einst so weit, daß er m i r sagte: >Weil ich Sie nicht durch G r ü n d e überzeugen kann, will ich Ihnen vermittelst der E r f a h r u n g aus d e m I r r t h u m helfen. Ich will machen, daß Sie mit eignen A u g e n jenen G e i s t sehn, an den Sie auf meine A u s s a g e nicht glauben wollen.< Ich n a h m seine A n e r b i e t u n g an. G l e i c h am f o l g e n d e n Tage, w i e w i r ganz allein b e y m C a m i n saßen, richtete er seine A u g e n , u n d z w a r eine Zeitlang so unverrückt, nach einem Fenster, daß er mir auf meine A n f r a g e n keine A n t w o r t gab. E n d l i c h rief er aus: >Da ist er, der gefällige G e i s t ! G a n z freundlich stellt er sich ein, sich mit mir zu unterreden. B l i c k e n Sie ihn an, so w e r d e n Sie finden, daß ich die Wahrheit sagte.< - M i t u n v e r w a n d t e m A u g e sah ich dahin. A b e r so sehr ich es auch anstrengte, sah ich gar nichts weiter als die Stralen der Sonne, w e l c h e durch die Fensterscheiben in das Z i m m e r drangen. U n d indem ich n o c h immer, ohne das geringste zu entdecken, rings u m mich h e r u m sah, hörte ich, daß T o r q u a t o mit einem [für M a n s o nicht hörbaren; V . M . ] Dritten eine ernsthafte U n terredung f ü h r t e . ' s 8

Ganz ähnlich ist die »romantische Erscheinung« des Prinzen situiert - mit dem entscheidenden Unterschied jedoch, daß der Prinz als erfahrungsimmanenter Erzähler dieser Begebenheit fungiert (während Manso als Außenstehender berichtet) und mangels Distanz die Erscheinung nicht als Projektion klassifizieren kann - sowenig wie Tasso als gläubiger >Leser< es hätte tun können: Alles w a r düster ringsherum, nur d u r c h ein einziges Fenster fiel der untergehende Tag in die Kapelle, die Sonne w a r nirgends m e h r als auf dieser Gestalt. M i t unaussprechlicher A n m u t - halb knieend, halb liegend - w a r sie v o r einem A l t a r hingegossen - [ . . . ] A b e r w o finde ich Worte, Ihnen das himmlisch schöne A n g e s i c h t zu beschreiben [...]? D i e A b e n d s o n n e spielte darauf, u n d ihr luftiges G o l d schien es mit einer künstlichen G l o r i e zu umgeben. K ö n n e n Sie sich die M a d o n n a unseres Florentiners z u r ü c k r u f e n ? - H i e r w a r sie ganz, ganz bis auf die unregelmäßigen Eigenheiten, die ich an jenem Bilde so anziehend, so u n w i derstehlich fand. ( 1 3 0 - 1 3 1 )

Die Zweifel des Marchese Civitella an dem der schönen Griechin zugewiesenen ontologischen Status sind mit Blick auf die der Erscheinung inhärenten medientechnischen und poetologischen Aspekte so unberechtigt nicht, insbesondere dann, wenn man ihre erzählerische Präsentation bedenkt. Der Graf von O * * fungiert mittlerweile (zweites Buch; 102-159) nicht mehr als Erzähler, sondern als Redaktor. Die Nachrichten vom Prinzen erhält er vom Baron von aus dessen Briefen er »Auszüge« (110) versammelt. Einziger Zeuge der Begegnung in der Kirche ist der Prinz selbst, der dem Auslandskorrespondenten Baron von F * * * eine Schilderung der Vorkommnisse geben wird. Der Prinz »setzte sich« zu diesem Zweck »spät nach Mitternacht [...] vor das Bette« ( 129) des Barons, nimmt 158

Muratori/Richerz (s. Anm. 147), Bd. 2, S. 85-87. 75

mithin strukturell die Position der zur guten Nacht »Mährchen« erzählenden »Amme« 159 ein. Gegenüber den Aussagen der nach dem Prinzen suchenden Zeugen weist die Erzählung des Prinzen Ungereimtheiten auf: >Es ist mir heute etwas vorgekommen/ fing er an, >davon der Eindruck aus meinem Gemüthe nie mehr verlöschen wird. Ich ging von Ihnen, wie Sie wissen, in die ***Kirche, worauf mich Civitella neugierig gemacht [...]. Weil weder Sie noch er mir gleich zu Hand waren, so machte ich die wenigen Schritte allein; Biondello ließ ich am Eingang auf mich warten. Die Kirche war ganz leer [...]Geistersehers< läßt aber im Unklaren, ob es sich um eine projizierte oder lediglich um eine, wie der Prinz glauben machen will und selber glaubt, vom Licht der »Abendsonne« exakt1 angestrahlte Gestalt (»die Sonne war nirgends mehr als auf dieser Gestalt«) handelt, ebenso bleibt die Lichtquelle ausgeblendet, während Thoenerts Illustration die Lichtquelle ins Bild aufnimmt, die Faktur der Erscheinung freilegt und für die Gestalt allein einen Projektionsvorgang verantwortlich macht, dessen in die Zauberlaterne eingeschobenes Urbild erkennbar ist. Ehe der Prinz einer leibhaftigen Schönen begegnen wird, fügt der Graf von O * * einen weiteren, den »siebenten Brief« des Barons in seine Darstellung ein. Gegenstand dieses Briefes ist »eine romantische Erschei160

Vgl. hierzu den Kommentar von Hans Heinrich Borcherdt (s. Anm. 5), S. 429-430.

77

«fmipS

78

Abb. 14

nung«, die dem Marchese Civitella »selbst vor einiger Zeit vorgekommen war« und an die er sich durch die Schilderung des Prinzen »erinnerte«. Eine zweite Geschichte wird gegeben, und zwar diesmal, »um den Prinzen zu zerstreuen« (141). Die vom Baron favorisierte Funktionsbestimmung der Erzählung blendet allerdings deren reflexiven Gehalt aus. Bezieht man sie nämlich auf die Erzählung des Prinzen, wird sie lesbar als deren Kommentar. Ausgangspunkt der erzählten Begebenheit ist ein akustischer Reiz: »Menschenstimmen«, die der Marchese am Fenster einer entlegenen Villa stehend im Garten wahrnimmt. U m ihre Herkunft zu klären, faßt er sie ins Auge - strukturell sind hier die Bedingungen aufklärerischer Wahrnehmungspraxis genau erfüllt: er beobachtet aus der Distanz, gerahmt durch ein Fenster - und entdeckt »eine Mannsperson und ein Frauenzimmer [...], die einen kleinen Neger bei sich haben. Das Frauenzimmer ist weiß gekleidet, und ein Brillant spielt an ihrem Finger; mehr läßt« ihn »die Dämmerung noch nicht unterscheiden«. Da seine »Neugier [...] rege« (142) wird, wünscht der Marchese Aufklärung, die er als rationalistische Urszene zu bekommen scheint: Er holt seinen »Tubus herbei«, um sich »diese sonderbare Erscheinung so nahe zu bringen als möglich« und wird begünstigt durch den anbrechenden Tag: »Die Sonne ist nun ganz aufgegangen« (143). Aber nicht Klarheit, sondern gerade Unentscheidbarkeit liefert ihm das im Lichtspiel der eben aufgegangenen Sonne sich Darbietende: »Welche himmlische Gestalt erblicke ich! - War es das Spiel meiner Einbildung, war es die Magie der Beleuchtung?« (143). Das >klassische< Aufklärungsinventar hatte er bemüht: das Licht der aufgehenden Sonne, eine Sehhilfe, eine sichere Beobachterposition, ein rahmendes Fenster, 79

und doch vermochte er keine Gewißheit über das Gesehene zu erlangen. Wie im Falle der Erscheinung des Prinzen bleibt unentschieden, ob die Gestalt sich der vielleicht durch die von einem Gondolier gesungenen »Stanzen aus dem Tasso« (142) angeregten Tätigkeit der Einbildungskraft oder einem Lichtzauber verdankt 101 - beide Gestalten gewinnen ihren Reiz im Licht der auf- oder untergehenden Sonne (130/143), beide scheinen von einer »Glorie« (131/146) umgeben. Unentscheidbarkeit bleibt auch bestimmend für die sich anschließenden Beobachtungen des Marchese, verschoben allerdings von der Alternative imagination oder Lichtzauber< zur Alternative >Realie oder Imagination^ Zunächst schildert der Marchese ein scheinbar reales Geschehen: einen Abschied zwischen dem vermeintlichen Armenier und der vermeintlichen schönen Griechin, um den ontologischen Status des Beobachteten aber (im Unterschied zum Prinzen) sogleich wieder in Frage zu stellen: »Als ich von einem kurzen Schlummer erwachte, mußte ich über meine Verblendung lachen. Meine Phantasie hatte diese Begebenheit im Traume fortgesetzt« (145); wo genau deren Intervention beginnt, bleibt im Unklaren. Daß allerdings nicht allein seine »Phantasie« den Garten »mit so reizenden Gestalten bevölkert hatte«, erweist sich erst am nächsten »heitren Abend«, der auf »einige unfreundliche Tage« folgt; wiederum am Fenster stehend beobachtet er die Schöne. Diesmal erscheint sie ohne Glorie, nimmt einen Brief entgegen, den er später im Garten auffindet, kopiert und ihr wieder zuspielt (146-147). Die Uberformung der Realsubstrate durch die Tätigkeit der Einbildungskraft hat, wie der Marchese selbst urteilt, in ein »Schauspiel des Sonnenaufgangs« (143; meine Hervorhebung) geführt und »zu einem Roman die Anlage gemacht« (142; meine Hervorhebung). Im Unterschied zum Prinzen unterzieht Civitella seine Wahrnehmungen aber einer kritischen Revision. Trotz der den Status der Griechin in der Kirche in Frage stellenden Momente und trotz der vom Baron vorgebrachten Bedenken hält der Prinz - wie Mansos Tasso - an der Wirklichkeit und dem So-Sein der Erscheinung fest. Civitella vermag seinem »Schauspiel« dagegen einen angemessenen Ort zu verleihen, weil er das So-Sein der Erscheinungen »in sich«, der Prinz (wie Tasso) aber »außer sich« (T 60)'61 ausmacht. Civitella kann »folglich jene zu Wirkungen seiner eigenen Tätigkeit« erklären, während der Prinz (wie Tasso) seine vermeintlichen Sinnesempfindungen als das, was man »von aussen empfängt und erleidet« (T 60-61), für wirklich halten muß. »Schlummert« der ,6

' Wie im Falle des möglichen Prätexts der Erscheinungsgeschichte des Prinzen bricht auch hier der Text ohne Auflösung des ontologischen Rätsels ab. 162 Kant (s. Anm. 14), S.60. Im folgenden zitiere ich fortlaufend im Text (Sigle »T«)

80

Wahrnehmende »hiebey ein, so erlischt die empfundene Vorstellung seines Körpers, und es bleibt bloß die selbstgedichtete übrig, gegen welche die andren Chimären als in äusserer Verhältniß gedacht werden« (T 61). Civitella zieht nach seinem »Schlummer« (i4j) l é 3 reflexiv die ontologische Differenz ein, indem er sie als durch die »Phantasie« (T 67) fortgesponnen identifiziert; »das Blendwerk hört auf so bald man will, und die Aufmerksamkeit anstrengt« (T 68). Für real wird es unter Bedingungen verminderter Aufmerksamkeit erklärt, wie sie im »Schlummer« oder bei der »Beschaffenheit der Trunkenen«164 vorliegen. Wird »das Bild, welches ein Werk der bloßen Einbildung ist, [...] als ein Gegenstand vorgestellt, der den äußeren Sinnen gegenwärtig wäre« (T 67-68), ohne daß die Aufmerksamkeitstrübung dafür verantwortlich gemacht werden kann, liegt so Kant - ein pathologischer Fall vor, hervorgerufen »durch irgend einen Zufall oder Krankheit«, die »gewisse Organen des Gehirnes so verzogen und aus ihrem gehörigen Gleichgewicht gebracht« (T 67) haben. Weder im Falle der dem Prinzen erschienenen Griechin noch im Falle der vom Marchese beobachteten Schönen läßt sich der ontologische Status des Beobachteten endgültig klären, denn bei Civitella bleibt der Umschlagpunkt verborgen, beim Prinzen dagegen der ontologische Status der Erscheinung selbst. Statt Gewißheit über die Erscheinungen zu liefern, lädt dieses In-der-Schwebe-Halten zur poetologischen Lektüre ein. Wie im Falle der Diskussion der Erscheinung des Prinzen wird auch hier über die Problematisierung visueller Wahrnehmung das Problematische des Erzählens, von Textproduktion und -rezeption enggeführt. Die Spielregeln und Konsequenzen dieser Engführung gilt es im folgenden freizulegen, ohne allerdings, wie Schmitz-Emans, das Zusammenpiel von Produktion und Rezeption auf ausschließlich produktive Gehalte (im Akt der Fiktivierung) und ausschließlich passiv-rezipierende Gehalte (im Akt der Wahrnehmung/Lektüre) zu reduzieren; in einer solchen Vorstellung arbeiten Sehen und Lesen ausschließlich nach dem Modell der Camera obscura passiv, erleidend, heteronom: Dem falschen Zauberkünstler ist nichts heilig, insbesondere nicht die Grenze zwischen Schein und Sein. Eben damit aber befindet er sich vielleicht in guter Gesellschaft: in der des Dichters, der ja sein Publikum gleichfalls mit Fiktionen versorgt, etwas als wirklich vorspiegelt und dabei alle Kunstfertigkeit daran wendet, über den fiktionalen Charakter seiner Erfindungen hinwegzutäuschen.' 65 163 ,i4

,6s

Ebenso Kant (s. Anm. 14), S.68. Ebenda, S. 67. Analog beschreibt der Graf des Prinzen »Existenz« als einen »fortdauernden Zustand von Trunkenheit« (109). Schmitz-Emans (s. Anm. 35), S.36. 81

4· D e n Leser »zerstreuen« Erzähl- und Lektürereflexion entspringen im >Geisterseher< nicht zufällig der Reflexion auf visuelle Wahrnehmung. Gegenüber den mit der Aufklärungsideologie einhergehenden Vorstellungen und Praktiken des Sehens (größtmögliche Objektivität und eindeutige Identifizierbarkeit) verläuft die Thematisierung visueller Wahrnehmung im >Geisterseher< - so hat es zunächst den Anschein - affirmativ, doch unterminiert gerade das Aufklärung versprechende Zusammenspiel von Licht und visueller Wahrnehmung die erstrebte größtmögliche Differenzierung und Wahrheitstreue. Die Uberantwortung der Wirklichkeitswahrnehmung und -interpretation an die Tätigkeit nur eines einzigen Sinnes liefert sich zum einen der in der Aufklärungstopik verdeckten Ambivalenz des Lichts aus (es birgt die Möglichkeit der Täuschung), zum anderen aber auch der die Objektivität des Sehens durchkreuzenden Intervention der Einbildungskraft. Die im aufklärerischen Medienparadigma der Camera obscura vorliegende »Entäußerung der technisch gewordenen Sinnesfunktion« 166 reduziert den Sehvorgang auf seinen optisch-physikalischen Aspekt, kappt ihn schon am Sehnerv und blendet wirklichkeitskonstruierende und -interpretierende Aspekte aus. Strukturell lassen sich auf der Folie der im >Geisterseher< wirksamen Aspekte des Sehvorgangs (Ambivalenz des Lichts und Intervention der Einbildungskraft) für aufklärende Textproduktion und -rezeption entscheidende Bedingungen negativ umschreiben: eindeutiges, am Paradigma der Mimesis orientiertes vorurteilsfreies Schreiben und ebenfalls eindeutige, durch nichts getrübte Lektüre. Hier wie dort geht es um größtmögliche Objektivität: im aufklärenden Sehen, dessen Telos in der sachgerechten Klassifikation, Beurteilung und Verwertung des visuell Vorgefundenen besteht, ebenso wie im Erzählen des Grafen von O * * , als dessen Telos sich die möglichst objektiv betriebene Schilderung der »Begebenheit« (45) bestimmen läßt, die sich um den Prinzen entsponnen hatte. Die vom Grafen gegebene Ankündigung seines Erzählvorhabens stellt diese Engführung von Erzählen und Sehen bereits im ersten Satz des >Geistersehers< her: »Ich erzähle eine Begebenheit, die vielen unglaublich scheinen wird, und von der ich großenteils selbst Augenzeuge war« (45). Das Erzählvorhaben rückt in den Status eines optischen Instruments, eines einer Camera obscura vorgeschalteten Objektivs ein. Es verspricht zwei Leistungen: Wer »von einem gewissen politischen Vorfalle unterrichtet« ist, erhalte »einen willkommenen Aufschluß« über diesen, wer 166

Busch (s. Anm. 107), S. 104.

82

nicht, dem werde sie zumindest »als ein Beitrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des menschlichen Geistes« (45) dienen können. Den Abschluß der einleitenden Bemerkungen macht die Versicherung objektiver, Interventionen der Einbildungskraft kategorisch ausschließender Schilderung: »Reine, strenge Wahrheit wird meine Feder leiten«, eine Ausgangslage, die strukturell derjenigen Civitellas gleicht. Wie der Marchese nämlich im Rahmen des Fensters bei Sonnenaufgang aus sicherer Distanz durch ein Fernrohr die Vorgänge im Garten verfolgt, so blickt der Augenzeuge Graf von O * * auf jene Begebenheit und läßt seine Leser durch das (nur vermeintlich objektive) Medium seines Textes auf das Geschehen blicken. Wie Civitella immer wieder die Sicht durch die »Laubgewölbe des Gartens« (142) verdeckt wird, so ist auch der Graf nur »großenteils selbst Augenzeuge« der Ereignisse; dennoch bieten beide geschlossene Deutungen des Geschehens an. Und wie Civitella am Ende seiner Beobachtung den Umschlagpunkt in träumende Fortsetzung des Beobachteten nicht mehr markieren kann, so läßt sich auch der Umschlagpunkt in der nur vermeintlich sachlichen Schilderung des Grafen nicht ausmachen. Das Versprechen, objektiv zu berichten, verschiebt sich später, als der Graf selbst eine weitere, die Neutralität seiner Position in Zweifel ziehende Motivation des Erzählens zum Vorschein bringt, nämlich erheblich, und zwar zu einem in protestantischer Sicht geführten Entlastungsplädoyer. Die zu Beginn suggerierte, neutrales Erzählverhalten implizierende Unparteilichkeit - »ich [...] werde durch den Bericht, den ich abstatte, weder zu gewinnen noch zu verlieren haben« (45) - wird aufgegeben zugunsten stark deutenden, auktorialen Erzählens: So endigte sich eine Unterredung [zwischen dem Grafen und dem Prinzen; V.M.], die ich darum ganz hieher gesetzt habe, weil sie die Schwierigkeiten zeigt, die bei dem Prinzen zu besiegen waren, und weil sie, wie ich hoffe, sein Andenken von dem Vorwurfe reinigen wird, daß er sich blind und unbesonnen in die Schlinge gestürzt habe, die eine unerhörte Teufelei ihm bereitete. Nicht alle, - fährt der Graf von fort - die in dem Augenblicke, w o ich dieses schreibe, vielleicht mit Hohngelächter auf seine Schwachheit herabsehen und im stolzen Dünkel ihrer nie angefochtenen Vernunft sich für berechtigt halten, den Stab der Verdammung über ihn zu brechen, nicht alle, fürchte ich, würden diese erste Probe [der Geistererscheinungen; V.M.] so männlich bestanden haben. Wenn man ihn nunmehr auch nach dieser glücklichen Vorbereitung dessenungeachtet fallen sieht; wenn man den schwarzen Anschlag, vor dessen entferntester Annäherung ihn sein guter Genius warnte, nichtsdestoweniger an ihm in Erfüllung gegangen findet, so wird man weniger über seine Torheit spotten als über die Größe des Bubenstücks erstaunen, dem eine so wohl verteidigte Vernunft erlag. Weltliche Rücksichten können an meinem Zeugnisse keinen Anteil haben; denn er, der es mir danken soll, ist nicht mehr. Sein schreckliches

83

Schicksal ist geendigt; längst hat sich seine Seele am Thron der Wahrheit gereinigt, vor dem auch die meinige längst steht, wenn die Welt dies lieset; aber - man verzeihe mir die Träne, die dem Andenken meines teuersten Freundes unfreiwillig fällt - aber zur Steuer der Gerechtigkeit schreib' ich es nieder: Er war ein edler Mensch, und gewiß wär' er die Zierde des Thrones geworden, den er durch ein Verbrechen ersteigen zu wollen sich betören ließ. (102) Sichtbar wird die Kontamination der in Aussicht gestellten sachlichen Schilderung mit Interessen und Affekten. Es gilt nun, den schuldig gewordenen Prinzen, dessen »Schicksal« des Grafen »ganze Teilnehmung erweckt« hatte, im »feurigsten Interesse der Freundschaft« ( 1 1 0 ) posthum, nicht vor dem jenseitigen »Thron der Wahrheit« (102), sondern vor einer diesseitigen Lese-Öffentlichkeit zu entlasten, ihm »Gerechtigkeit« (102) zu erschreiben. Z u diesem Z w e c k führt der Graf von O"'* nicht nur die Geschehnisse und Gespräche während des gemeinsamen Aufenthalts in Venedig und die Briefe des Barons an, sondern liefert auch Einblicke in die Sozialisation und in das Innere des Prinzen. Erkennbar werden insgesamt drei Pfeiler seines Plädoyers: Der Prinz sei erstens O p f e r eines außerordentlich perfiden »Bubenstücks« (102), zweitens O p f e r einer »bigotten, knechtischen Erziehung« (103), die ihm wirklichen Halt in der Religion versagte, und drittens O p f e r seines für Beeinflussungen anfälligen »Gemüts« (102 u.ö.). Der rationale Vernunft-Mensch und Skeptiker, als der der Prinz bei der Beurteilung der Prophezeiung, der Geistererscheinungen und der Erzählung des Sizilianers sich gezeigt hat, 167 wird in der Deutung des Geschehens durch den Grafen aus der Verantwortung entlassen und somit für unfrei erklärt. Im Plädoyer des Grafen gerät er zum Spielball dieser Determinanten: »Er war mit der Kette entsprungen, und eben darum mußte er der Raub eines jeden Betrügers werden, der sie entdeckte und zu gebrauchen verstand. Daß sich ein solcher fand, wird, wenn man es noch nicht erraten hat, der Verfolg dieser Geschichte ausweisen« (104). Ins Spiel kommt mit dem Kippen des neutralen Erzählvorhabens des G r a fen von O * * somit zunächst ein Element der Deutung und Wertung. Fragt man, ausgehend von diesen Befunden, nach dem (freilich in der Rahmenfiktion immer schon gebrochenen) ontologischen Status des vom Grafen von O * * teils berichteten, teils aus zusammengetragenen Zeugnissen (re)konstruierten Geschehens, steht nicht nur die vom Grafen erbrachte Konstruktionsleistung und Wertung zur Debatte. Vielmehr stellt sich nun auch die Frage nach dem dieser Syntheseleistung inhärenten Gehalt fiktionaler Uberformung: Kippt die Fiktion eines Sachtextes um in die Fik167

So auch Jürgen Bolten: Friedrich Schiller. Poesie, Reflexion und gesellschaftliche Selbstdeutung. München 1985, S. 143. 84

tion eines fiktionalen Textes, bricht in den Erzählmodus der »reinen strengen Wahrheit« das »Spiel der Einbildungskraft« ein, wie das lediglich entstehungsgeschichtlich begründete Fazit von Michael Voges nahelegt: »Was als Aufsatz begann, endet schließlich als Roman«? 168 Inwieweit ist das mit dem vermeintlich mimetischen >Objektiv< des Textes bewaffnete Auge des Lesers von der fiktionalen Uberformung betroffen? Bevor sich diese Fragen aber beantworten lassen, müssen die dem Grafen zuzuordnenden Erzählleistungen von den montierten Binnenerzählungen, Nachrichten und Briefen geschieden werden. Als alles umspannende Präsentationsinstanz wirkt in der »dritten verbesserten Ausgabe« 169 von 1798, dem Titelblatt zufolge »herausgegeben von Schiller«, ein Redaktor. Ob dieser mit »Schiller« identisch ist oder als dem Herausgeber »Schiller« untergeordnete weitere Herausgeberinstanz fungiert, ist unentscheidbar. »Schiller« und/oder der Redaktor gehören bereits dem Bereich des Fiktionalen an. Ein »als Herausgeber maskierter Autor«, 170 »Schiller«, bezeichnet nicht den Autor eines fiktionalen Textes, sondern schreibt sich als Herausgeber eines fingierten Geschehens selbst in den Bereich des Fiktionalen ein: Maskerade impliziert Fiktionalisierung. Das Eingreifen einer solchen Verwaltungsinstanz läßt sich zunächst dem Untertitel ablesen: »Aus den Memoires des Grafen von O * * « (45). Er macht eine >Der Geisterseher< überschriebene Selektionsleistung kenntlich, für die der Graf von O * * nicht verantwortlich zeichnen kann. Eine immanente Begründung hierfür liefert der Graf von O * * selbst: »wenn diese Blätter in die Welt treten, bin ich nicht mehr« (45, analog 102). N u r posthum, also unter der Ägide eines die Interessen des Grafen vertretenden >TestamentvollstreckersDer Geisterseher< sei »ursprünglich als Beitrag zur Aufklärung realer Ereignisse konzipiert« gewesen. Schiller habe aber bald »die ästhetische Qualität des Geheimbundmaterials« (S. 344-345) entdeckt. Von diesem Befund her erklärt Voges sowohl den Abbruch des >GeisterseherSpiegel< des Sizilianers »den Armenier« (5 5) zu erkennen, den der Sizilianer als »einen Mann in armenischer Kleidung« (69) hingeworfen haben will. O b w o h l sich seit dem Landgang nach der Brenta-Fahrt »ein russischer Offizier« (53) in der Gesellschaft des Prinzen zeigt, dessen »Physiognomie« (53) die Anwesenden bereits eingehend studiert hatten (53-54), glauben der Prinz und der Graf erst wesentlich später in diesem den Armenier wiederzuerkennen. Im Anschluß an die doppelte Geisterbeschwörung »sahen wir«, schreibt der G r a f , »alle auf einmal den vermeintlichen Russen an. Der Prinz erkannte in ihm ohne Mühe die Züge seines Armeniers wieder« (62) - unbeantwortet bleibt die Frage, wie er die Züge des Armeniers wiedererkennen kann, den er bisher 178

>MaskeVenedigGruppen< (Schweizer oder Kaufleute) die zahlenmäßige Bedingung einer aus »einigen« Personen bestehenden Gruppe tatsächlich erfüllt. Entscheidend an diesen Unklarheiten ist aber, daß sie immanent begründet sind und auch durch eine nur in Aussicht gestellte Vervollständigung des Fragments' 8 ' zum abgeschlossenen Roman nur schwer ausgeräumt werden könnten. 183

184 185

>EinigThaliaSemiotik< von Spiegelungen vgl. Umberto Eco: Uber Spiegel. In: Umberto Eco: Uber Spiegel und andere Phänomene. München 1988, S. 26-61. Zu Spiegelspielen informiert Jurgis Baltrusaitis: Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien. 2. Aufl. Gießen 1996. 188 >Spiegelkabinet (Spiegelkasten)Spiegelkabinet (Spiegelkasten)< (s. Anm. 188); Johann Carl Fischer: Physikalisches Wörterbuch oder Erklärung der vornehmsten zur Physik gehörigen Begriffe und Kunstwörter so wohl nach atomistischer als auch dynamischer Lehrart betrachtet mit kurzen beygefügten Nachrichten von der Geschichte der Erfindungen und Beschreibungen der Werkzeuge in alphabetischer Ordnung. Bd.4. Göttingen 1 8 0 1 , S.735-739. Friedrich Schlegel: Fragmente. In: Athenaeum 1,2 (1798), S. 3 - 1 4 6 , hier S. 29. Vgl. Kapitel III.2. Diese beiden möglichen Lesarten entdeckt bereits Schmitz-Emans (s. Anm. 3 5), S. 40-41, ohne allerdings den komplexen Implikationen (Dehierarchisierung etc.) dieser Anordnung nachzugehen. Vielmehr bedeutet die daraus abgeleitete Fragestellung - »Können und müssen wir nicht die hier artikulierten Vorbehalte gegen eine der Fiktionalität verdächtigten Erzählung in der Erzählung vom >Geisterseher< selbst beziehen?« - eine auf die Einlösung poetologischer Entwürfe Schillers beschränkte Simplifizierung. Ubersehen werden die sachlichen Widersprüche und Unklarheiten in den Schilderungen des Grafen von O * * und folglich auch das Abbildungsverhältnis zwischen Rahmen- und Binnentext. Schmitz-Emans leitet daher die »»Lügenhaftigkeit«« des Grafen schlicht aus seiner Tätigkeit als Erzähler ab.

94

fiktionalen zum Höherifiktionalen verlaufenden, die beide sowohl beglaubigend als auch entlarvend auf sowohl den rahmenden als auch den integrierten Text bezogen werden können. Strukturell ist in dieser Anordnung auch die Schachtelung zur Mise en abyme aufgehoben. Die in beide Richtungen verlaufende Spiegelung läßt nämlich nicht mehr unterscheiden, welcher Spiegeltext integrierend, welcher integriert ist. Ganz gleich durch welchen »Ritz« in welchem >Spiegel< der Leser auch blickt - durch den des integrierenden oder durch den des integrierten - , er erblickt einen integrierenden, der sich in einem integrierten spiegelt, der einen integrierenden spiegelt, der wiederum einen integrierten spiegelt... und so fort. Nicht zufällig stellt Johann Zahn das Vexierspiel der »cistulae speculares« unter der Kapitelüberschrift »Magia Tele-Dioptrica, in qua reconditiora magisque admiranda Technasmata Teledioptrica proferuntur & exponuntur« 1 ' 2 in einen magischen Zusammenhang, und nicht zufällig gehören »die vielen schwindelhaften [...] Vorspiegelungen und Spiegelgaukeleien« für Gustav Friedrich Hartlaub »von jeher zur sogenannten >Natürlichen MagieMagie< bleibt indes nicht auf die Fiktionswelt des >Geistersehers< beschränkt; vielmehr zieht sie den empirischen Leser in den Strudel der Vertauschungen und Dehierarchisierungen mit hinein. Wie die Binnentexte den fiktiven Lesern der Rahmentextfiktion eine Verifikationsleistung (Authentizitätsaspekt) oder die Leistung der spekulativen Vervollständigung (Problematik des Erzählabbruchs) abverlangen, so fordern die von »Schiller« herausgegebenen, ebenfalls unvollständigen und mit dem Anspruch authentischer Schilderung auftretenden »Mémoires des Grafen von O * * « (in der Fassung der Buchausgabe von 1798) vom empirischen Leser ebenso Verifikation und Vervollständigung. Die zunächst nur im fiktionalen Binnenraum angelegten Spiegelungen reichen nämlich über den fiktionalen Bereich hinaus, indem die in der fiktionsimmanenten Reflexion auf Lektüre und Deutung angelegte Konstellation >Erzähltext-Leser< in den empirischen Raum der Romanlektüre >hinausgespiegelt< wird. Diese strukturelle Transzendierung der fiktionalen Welt wiederholt nun die zwischen dem Rahmentext und den Binnentexten ins Werk gesetzten Spiegel-Effekte. Wiederum zwei Wirkungen sind denk1,2

193

Johann Zahn: Oculus artificialis teledioptricus sive telescopium, ex Abditis rerum Naturalium & Artificialium principiis protractum novâ methodo, eâque solida explicatum ac comprimís ê triplici fundamento physico seu naturali, mathematico dioptrico Et medianico, seu practico stabilitum. 2. Aufl. Nürnberg 1702, S. 718, 687. Gustav Friedrich Hartlaub: Zauber des Spiegels. Geschichte und Bedeutung des Spiegels in der Kunst. München 1 9 5 1 , S. 1 1 8 .

95

bar: die Entlarvung der Binnentexte untermauert den Authentizitätsanspruch des entlarvenden Textes oder aber sie sensibilisiert den Leser für immanente Widersprüche. Läßt sich nun diese von der rahmenden Empirie der Romanlektüre in die Fiktionswelt gerichtete Wirkung ebenfalls reziprok von der Fiktionswelt in die Welt der Empirie hinaus verlängern? Die fiktionsimmanent angelegte Spiegelstruktur legt es nahe. Die Effekte sind weitreichend: der Binnentext, die »Memoires des Grafen von O**«, könnte nicht nur als entlarvter, sondern zugleich auch - wie am Beispiel der Erzählung des Sizilianers gezeigt - als diskursiv entlarvender gelesen werden, der die >Authentizität< der empirischen Lektüresituation in Frage zu stellen beginnt und ein »ontologisches Schwindelgefühl des Lesers«194 freisetzt. Bezieht man diese rezeptionsästhetische Dimension der Romanlektüre in die Konstellation mit ein, ist das in rein struktureller Betrachtung (beim Blick ins Innere durch den »Ritz«) außen vor bleibende LeserSubjekt in das textuelle »Spiegelkabinet« eingelassen (Abb. 15) und damit der Raum für »Verirrungen des menschlichen Geistes« (45) geöffnet,195 denn wer das Kabinett betritt, wird sich als vervielfältigt und virtualisiert erfahren. In dieser den Leser spiritualisierenden textuellen Bewegung rückt >Der Geisterseher< selbst in die Position eines Geistersehers ein: in der produktionsästhetischen Bedeutung des Wortes - als Instanz, die »Geister sichtbar zu machen, d.h. zu eitleren«196 versteht (bzw. zu verstehen vorgibt) - , indem er die Pneumatisierung des Lesers zum Spektrum erreicht, in der rezeptionsästhetischen Bedeutung des Wortes - als Instanz, die »Geister zu sehen glaubt«1'7 - , indem er dem derart >körperlo1,4

Z u diesem Ergebnis kommt Christiaan L. Hart Nibbrig: Spiegelschrift. Spekulationen über Malerei und Literatur. Frankfurt a.M. 1987, S. 91, bei seiner Untersuchung textueller Spiegelstrukturen und ihrer Implikationen in Miguel de Cervantes' >Don QuijoteGeistersehereiTrick< des Sizilianers gehört offenbar in den Kontext »der vielen schwindelhaften, nur scheinbar magischen, in Wirklichkeit optisch zu erklärenden Vorspiegelungen und Spiegelgaukeleien« der Katoptromantie des 18. Jahrhunderts - »als typisch galt (und gilt) etwa das Wiederfinden verlorener Gegenstände, die Ertappung von Dieben, die Entlarvung von Urhebern bösen Zaubers«. 1 " Flüchtiges Hineinsehen, sei es in einen Spiegel, sei es in den Text, und geeignete Disposition (Präsuppositionen beim Lesen) - der Armenier war Tischthema (69) - lassen auf der vermeintlichen Spiegelfläche erkennen, was man erkennen will: Das Speculum verlangt auf der Basis nur weniger Anhaltspunkte (armenische Kleidung) nach Spekulation, nach »Mutmaßen«. 200 Der morphologische Konnex ist im Begriff des vom Sizilianer praktizierten »Spiegelsehens« auch semantisch gesichert: »Spiegelsehen oder Cristallen sehen Inspectio crystalli vel speculi magici, Speculatoria, werden diejenigen abergläubischen Bemühungen genennet, da man durch einen gewissen Spiegel oder Glas zukünfftige oder auch verborgene Dinge zu offenbaren vorgiebt«. 201 Ebenso inszenieren mehrere Textkomplexe den Spekulationszwang. Maskerade und ihr rezeptionsästhetisches Komplement, die Spekulation oder das Raten, treten als Organisationsmetaphern hervor. Die als Maske erkannte Maske fordert zur spekulativen Lektüre auf: Wer steckt dahinter? Die Erzählungen geben sich ganz in diesem Sinne als Maskeraden: Wer steckt dahinter? Sie sind erkennbar als Maskierung von Sachverhalten, die es zu erraten gilt, womit zur Spekulation eingeladen ist. Sowenig der Prinz, der Graf und der »Engländer« als >Leser< aus dem Spekulationszwang entlassen werden, so wenig gilt dies für den sich mit der Erzählung des Grafen befassenden Leser. Daß es Schiller nicht darum zu tun war, den 198

i01

Klaus Bartels: Proto-kinematographische Effekte der Laterna magica in Literatur und Theater des achtzehnten Jahrhunderts. In: Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. Hrsg. v. Harro Segeberg. München 1996, S. 1 1 3 - 1 4 7 , hier S. 140. Hartlaub (s. Anm. 193), S. 122. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. Berlin, N e w York 1989, S.685. >SpiegelsehenGeistersehers< zu mindern, legen drei Buchausgaben von 1789, 1792 und 1798 nahe, die am Fragmentcharakter nicht rütteln. Das von Schmitz-Emans genannte »Fazit, das zu ziehen dem Leser überlassen wird«, »Nirgends läßt sich >die< Wahrheit finden: Schein und Spiel konstituieren alle Ebenen der Romanwirklichkeit und dies ist das letzte, im Grunde negative Resultat der poetischen Reflexion über den Schein«,202 nimmt in diesem Sinne eine Simplifizierung vor. Freilich läßt sich »falscher Zauber [...] nicht mehr von echtem unterscheiden, da es keinen verbindlichen Maßstab für Falschheit und Echtheit gibt«, doch entzieht der Text als diskursives Ereignis dem Leser als Entität die ontologische Selbstgewißheit, mithin auch die Fähigkeit, dieses Fazit von sicherem Boden aus zu ziehen. Auch die hier vorgenommene Freilegung der Strukturen und Effekte ist, streng genommen, d.h. gemessen an diesem Befund, >haltlose< Spekulation und produziert einen performativen Widerspruch, denn sie verdankt sich der Sicherheit eines Standpunkts, den der Text zerschreibt. Wer lesend in den Einflußbereich dieser im Textgeschehen des >Geistersehers< entbundenen >Spekulationen< und >Zerstreuungen< gerät, kann freilich seinen Augen nicht mehr trauen. Wenn aber ausgerechnet das >Medium< der Aufklärung, das Licht, und sein Komplement, der Gesichtssinn, Ambivalenz und Entdifferenzierung freisetzen, statt für sichere Unterscheidungen und größtmögliche Objektivität der Erkenntnisleistung zu sorgen, zeichnet sich eine der herrschenden Epochensignatur des 18. Jahrhunderts diametral >entgegengeschriebene< Bewertung visueller Wahrnehmung ab, bis hin zur bewußten funktionalen Suspension des Sehens, wie sie etwa von Georg Büchners Leonce eingefordert wird: »Weg mit dem Tag! Ich will Nacht«. 203 Dieser irritierende Subtext verbleibt indes nicht in der Neutralität seines Faktums, sondern wird als programmatische Umwertung entzifferbar, die defizitäre Wahrnehmungsbedingungen wie »Verblendung« (145), Trübung durch einen »Schleier« (130), durch »Dunkelheit« (129) oder »Dämmerung« (142) nicht mehr an ihrer nun freilich nur noch geringen Strukturierungs-, Differenzierungs- und klassifikatorischen Erkenntnisleistung mißt, sondern an ihrer poetischen >FruchtbarkeitGegenstand< im grellen Licht, sei es in der Finsternis. Ausgerechnet das von Chodowiecki als Metapher der »Aufklärung« gefeierte »Schauspiel des Sonnenaufgangs« (143) setzt die Wahrnehmungstüchtigkeit - hier Civitellas - außer Funktion: »mein Auge floh zurück, geschlagen von dem blendenen Licht« (143), das sich im »Tubus« präsentiert, nun, da »die Sonne [...] ganz aufgegangen« (143) war. Solche Rede opponiert dem blinden Vertrauen in die von Gesichtssinn und Licht verbürgte Erkenntnis- und Differenzierungsleistung ganz entschieden. Ist für diese der »Verlust des edelsten Sinnes« mit dem Verlust der ganzen Welt gleichbedeutend und somit »nächst dem des Lebens« am höchsten beziffert, wertet die Nachtideologie das Entdifferenzierungsversprechen eines defizitären Sehens gerade auf, und zwar auf dem Feld der Poetik/Ästhetik: Die freilich zu lesende »Poesie ist Musik für das innere Ohr, und Mahlerey für das innere Auge; aber gedämpfte Musik, aber verschwebende Mahlerey. - Mancher betrachtet Gemälde am liebsten mit verschloßnen Augen, damit die Fantasie nicht gestört werde«. 204 Zum idealen Leser gerät in dieser Logik der Blinde, der die defekte >Camera obscura< seines Wahrnehmungsapparats durch die poetische Produktivität einer >Laterna magica< ersetzen muß: »der Blinde sucht in sich ein inneres Licht zu entflammen, indem er von der Natur des äußern beraubt ward. Die ganze Schöne der Welt verhüllt sich ihm in Nacht und Finsterniß; er muß folglich eine innere Schönheit entwickeln«. 20 ' »Es ist« dann zumindest für den »Direktor des k.k. Blinden-Institutes in Wien«, Johann Wilhelm Klein - »nicht zu zweifeln, daß der Blinde dabey manchmal in dem Fall seyn werde, daß er sich eine Sache in seinem Sinn schöner und vollkommener vorstellt, als sie wirklich ist«20é, und wie der blinde Knabe in den 1804/1805 erschienenen >Nachtwachen. Von Bonaventura< die Heilung als Verlust begreift: »O Nacht, Nacht, kehre zurük! Ich ertrage all das Licht [...] nicht länger«.207

204

Friedrich Schlegel: Fragmente. In: Athenaeum 1,2 (1798), S. 3 - 1 4 6 , hier S.45. Ludwig von Baczko: Ueber mich selbst und meine Unglücksgefährten die Blinden. Leipzig 1807, S. 73-74. 106 Johann Wilhelm Klein: Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden, um ihnen ihren Zustand zu erleichtern, sie nützlich zu beschäftigen und sie zur bürgerlichen Brauchbarkeit zu bilden. Wien 1819, S. 22. 207 Nachtwachen. Von Bonaventura. Penig 1804/1805, S. 200. 205

IOO

III. Liebesblickwechsel

ι. Optische Bestattung der »Liebe« in Büchners >Leonce und Lena< Leonce' Wunsch nach Verdunkelung - »Sind die Läden geschlossen? [...] Weg mit dem Tag! Ich will Nacht, tiefe ambrosische Nacht« 1 (100) macht, wie Henri Poschmanns Kommentar zu erkennen gibt, kein Hehl aus ihrem literarhistorischen und Mitte der 1830er Jahre bereits anachronistisch anmutenden Ort: Diese Art, selbst der Sonne spottend, eine Festnacht anzuordnen, könnte Schillers Fiesko abgelauscht sein [...]. Im Geiste und in der Technik des romantischen Spiels näher liegt ein von Musset in >Les caprices de Marianneambrosische Nacht< führte Johann Heinrich Voß in seiner Ubersetzung von Homers >Odyssee< ein, die zum Kernbestand des allgemeinen Bildungsguts der Zeit gehörte. 3 Genau dieser Kernbestand bildet den überaus weiten, »teils demonstrativ ausgestellten, teils versteckten« Anspielungshorizont des Stückes. Georg Büchners nicht selten ostentative »Spiegelungstechnik des Zitierens« 4 läßt die Lektüre oder Aufführung des Stücks zu einem Streifzug durch die Bibliothek der »Kunstperiode« werden: Ausgewiesenermaßen zitiert werden, abgesehen von der offenkundigen Bezugnahme auf Brentano [...], nur Shakespeare und Adelbert von Chamisso. Unausgewiesene Zitate einzelner Formulierungen, Sentenzen und Bilder aus Werken von Ludwig Tieck, Alfred de Musset [...], Ludwig Holberg, Lenz, Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Bonaventura, Eichendorff, Friedrich Schlegel und neben Brentano und Shakespeare auch Goethe und Schiller, Heine und Platen, aber auch aus der >BibelLes caprices< de Marianne«. > Poschmann (s. Anm. 1), S. 621-622. 4 Ebenda, S.616.

ΙΟΙ

gewebt [...]. Der künstlerisch-literarische Anspielungshintergrund wird noch ergänzt durch philosophiegeschichtliche Bezugsfelder (Kant, Fichte und Hegel, Descartes und La Mettrie). 5

Kaum eine Stelle findet sich noch in dem kurzen Stück, für die die Büchner-Philologie nicht die in Frage kommenden Prätexte in Erfahrung gebracht hätte, ja »es ist sogar die Hypothese gewagt worden, theoretisch wäre es nicht verwunderlich, wenn eines Tages für jeden Satz des Lustspiels eine Art Quellennachweis bereitstündeLeonce und Lena< befasse - und das, obwohl bereits die dritte Szene des ersten Aktes die Liebe zum Gegenstand der Rede macht: ROSETTA Deine Lippen sind trag. Vom Küssen? LEONCE V o m G ä h n e n ! ROSETTA O h !

LEONCE Ach Rosetta, ich habe die entsetzliche Arbeit... ROSETTA N u n ?

5

Poschmann (s. A n m . 1), S. 609. Ebenda. 7 Matthias Morgenroth: Formen und Funktionen des Komischen in Büchners >Leonce und LenaLeonce und LenaZiel< zu gelangen - , eine Erfahrung, die Valerio in »ein Bild des menschlichen Lebens« ( 1 1 2 ) überführt: ich schleppe diesen Pack mit wunden Füßen durch Frost und Sonnenbrand, weil ich abends ein reines Hemd anziehen will, und wenn endlich der Abend kommt, so ist meine Stirn gefurcht, meine Wange hohl, mein Auge dunkel, und ich habe gerade noch Zeit, mein Hemd anzuziehen als Totenhemd. (112) Der Erfahrung und dem Bewußtsein dieser Struktur korrespondierender Gemütszustand ist die »Melancholie« (96 u.ö.), der sich Leonce mehrfach zuordnet und ganz folgerichtig auf der Matrix der Entfremdungsstruktur nach Möglichkeiten der Identitätsversicherung sucht - etwa im Modell transzendentaler Apperzeption: »Dann - habe ich nachzudenken, wie es wohl angehen mag, daß ich mir einmal auf den Kopf sehe. - O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Das ist eines von meinen Idealen« (95), oder, wie der im »Gras« liegende Valerio, im Modell des »Narren« (97), der sich der herrschenden »Vernunft« (97) widersetzt und das »Narrenhaus« (98) für den Lebensunterhalt sorgen läßt: Ein Narr! Ein Narr! Wer will mir seine Narrheit gegen meine Vernunft verhandeln? Ha, ich bin Alexander der Große! Wie mir die Sonne eine goldene Krone in die Haare scheint, wie meine Uniform blitzt! Herr Generalissimus Heupferd, lassen sie die Truppen anrücken! Herr Finanzminister Kreuzspinne, ich brauche Geld! Liebe Hofdame Libelle, was macht meine teure Gemahlin Bohnenstange? Ach bester Herr Leibmedicus Cantharide, ich bin um einen Erbprinzen verlegen. Und zu diesen köstlichen Phantasien bekommt man gute Suppe, gutes Fleisch, gutes Brot, ein gutes Bett und das Haar umsonst geschoren, - im Narrenhaus nämlich, - während ich mit meiner gesunden Vernunft mich höchstens zur Beförderung der Reife auf einen Kirschbaum verdingen könnte, um - nun? - um? [...] mit Würde: Herr, ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen, ich habe eine ungemeine Fertigkeit im Nichtstun, ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der Faulheit. Keine Schwiele schändet meine Hände, der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner Stime getrunken, ich bin noch Jungfrau in der Arbeit. (97-98) Geradewegs in ein »Narrenhaus« führten solche Begabungen nicht nur in »diesen köstlichen Phantasien« Valerios, sondern auch in der Empirie der 11

Hermann J . Wallraff u.a.: Arbeit. In: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft. Hrsg. v. der Görres-Gesellschaft. 6. Aufl. Bd. 1. Freiburg 1957, Sp. 396-429, hier Sp. 396, 399.

104

bürgerlichen Gesellschaft: in ihrer »ethischen Verfolgung des Müßiggangs [...], die durch die Gemeinsamkeit der Arbeit garantiert ist«,12 und in ihrer »administrativen Ausgrenzung der Unvernunft«,13 von der all jene erfaßt wurden, die sich dem Nützlichkeitsdogma der bürgerlichen Ideologie widersetzen: »Bettler und Vagabunden, Besitz-, Arbeits- und Berufslose, Verbrecher, politisch Auffällige und Häretiker, Dirnen, Wüstlinge, mit Lustseuchen Behaftete und Alkoholiker, Verrückte, Idioten und Sonderlinge«.'4 Wie die »Arbeit« so steht auch die »Liebe« in den Augen Leonce' ganz im Zusammenhang permanenter, entfremdender Verweisung; sie beharrt auf Trennung und gehorcht nicht nur der Ordnung des Hofes, sondern - als discours gelesen - auch der Logik der Repräsentation. In dieser genuin bürgerlichen Struktur1' kommt die vermeintliche Institutionalisierung der Liebe, das Heiraten, dem Leertrinken eines Ziehbrunnens gleich (107). Nie wird das Ziel erreicht; der Brunnen ersetzt das entzogene Wasser noch im Moment des Daraus-Schöpfens. Die Umarmung der beiden >LiebendenSprachspiel< eingespeisten »Augen« greift Leonce auf, integriert sie in seine Bildvorstellung der sterbenden Liebe, die er nun weiterführen kann, und zwar als Rosetta »ihn umfassen [...] will« (102): G i b Acht! Mein Kopf! Ich habe unsere Liebe darin beigesetzt. Sieh zu den Fenstern meiner Augen hinein. Siehst du, wie schön tot das arme Ding ist? Siehst du die zwei weißen Rosen auf seinen Wangen und die zwei roten auf seiner Brust? Stoß mich nicht, daß ihm kein Ärmchen abbricht, es wäre Schade. Ich muß meinen Kopf gerade auf den Schultern tragen, wie die Totenfrau einen Kindersarg. (102)

Die tote »Liebe« wird als »Ding« angesprochen, womit für das >Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm< »oft mit geringschätzung, doch auch in mitleidiger und gutmütiger Stimmung, immer aber herabblickend [...] eine person gemeint« ist, »ein lebendiges wesen, manchmal ein geisterhaftes«, auch »kinder werden gerne so genannt«, »am häufigsten« aber »ein junges mädchen, eine junge frau«. 17 Wie aber ist die anthropomorphisierte »Liebe« in Leonce' »Augen« gelangt? 17

>Ding S c h r e i b e n < i n >SehenSpiegelkabinet (Spiegelkasten)«. In: Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. In Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern hrsg. v. J . Meyer. 2. Abt. Bd. 9. Hildburghausen u.a. 1852, S. 1052-1054, hier S. 1052.

110

rende, bis in Büchners Stück vorgedrungene Modeerscheinung - gemeint sind »Spiegelkabinette« oder, wie es im Stück heißt, »Spiegelzimmer« (ι 1 1 ) - kann der von Schlegel vorgeschlagenen Anordnung Kontur verleihen: Bringt man zwey Planspiegel so zusammen, daß sie gegen einander unter einem Winkel, der kleiner als i8o° ist, geneigt sind, so wird ein zwischen beyden Spiegeln gestelltes Objekt in einem jeden Spiegel ein Bild zuwege bringen. Können alsdenn die von dem einen Spiegel zurückgeworfenen Strahlen wieder auf den andern fallen, so verursachen sie in dem andern Spiegel ein neues Bild. Können diese von dem andern Spiegel abermahls zurückgehenden Strahlen auf den ersten Spiegel fallen, so machen sie wiederum ein Bild. Auf solche Art bewirken immer die von dem einen Spiegel reflektirten Strahlen in dem andern ein neues Bild, wenn nämlich die zurückgeworfenen Strahlen auf den andern fallen können. Es hängt bloß von der Lage der Spiegel gegen einander ab, wie viel Mahl die von jedem Spiegel reflektirten Strahlen auf den andern fallen, und ein neues Bild zu Stande bringen können. 35

Befindet sich »ein leuchtender Punkt zwischen beyden Spiegeln«, dann erscheint das Bild eines solchen Objektes [...] bey einem Neigungswinkel der Spiegel von 120 Graden 2 Mahl, von 90 Graden 3 Mahl, von 72 Graden 4 Mahl, von 60 Graden 5 Mahl, von 5 1 V 7 Graden 6 Mahl, von 45 Graden 7 Mahl, von 40 Graden 8 Mahl, von 36 Graden 9 Mahl u.s.f. es wird sich also das Bild eines Objektes zwischen zweyen parallelen ebenen Spiegeln unzählige Mahle vervielfältigen. 36

Hält man schließlich den »leuchtenden Punkt« aus der Anordnung fern, so spiegeln sich nur noch die Spiegelflächen selbst ab, nun tatsächlich zu »einer endlosen Reihe von Spiegeln«. Während die mathematische Berechnung mit der idealen Größe des Punktes arbeiten kann, der als >Ort< ohne räumliche Ausdehnung den Strahlengang der Reflexionen zu keinem Zeitpunkt verdeckt und zugleich die Position markieren müßte, von der aus die »endlose Reihe« wahrgenommen werden kann, muß die Versuchsanordnung in der empirischen Wirklichkeit das wahrnehmende Subjekt in sich aufnehmen: »Ob jemand, der die Spiegel vor sich hat, alle oder nur einige von diesen Bildern sehen könne, das hängt von der Stelle, wo sich das Auge befindet [...], ab. Soll es alle Bilder sehen können, so

" >Spiegelkabinet, Spiegelkasten«. In: Johann Carl Fischer: Physikalisches Wörterbuch oder Erklärung der vornehmsten zur Physik gehörigen Begriffe und Kunstwörter so wohl nach atomistischer als auch dynamischer Lehrart betrachtet mit kurzen beygefügten Nachrichten von der Geschichte der Erfindungen und Beschreibungen der Werkzeuge in alphabetischer Ordnung. Bd.4. Göttingen 1801, S.735-739, hier S.735-736. J6 Ebenda, 5.736-738. III

muß es sich nothwendig in dem Theile des Raumes zwischen den Spiegeln befinden«.37 Befindet sich der Betrachter aber in dieser Weise zwischen den Spiegeln, verdeckt er Teile der Reflexion, befindet er sich außerhalb der Anordnung, kann er immer nur eine beschränkte Anzahl von Reflexionen, nur eine endliche »Reihe von Spiegeln« registrieren, eine Differenz, die dem Scharfblick Walter Benjamins bei der Erörterung des romantischen Reflexionsbegriffs nicht entgangen ist: »Anschauen können wir uns nicht, das Ich verschwindet uns dabei immer. Denken können wir uns aber freilich. Wir erscheinen uns dann zu unserm Erstaunen unendlich, da wir uns doch im gewöhnlichen Leben so durchaus endlich fühlen«.' 8 Die Praxis hat auf diese Wahrnehmungseinschränkung mit dem »Spiegelfenster«, einem »aus Spiegelglas bestehenden Fenster, welches, obgleich unbelegt, dennoch die Außengegenstände abspiegelt und, daher das Einsehen in das Zimmer erschwert, hingegen dem Inwohner die Aussicht erleichtert«,39 geantwortet oder man hat »Löcher« in die Spiegelbeschichtung gekratzt, »durch welche man« in den Raum zwischen den Spiegeln »sehen kann«.40 Zum Vorschein kommen mit den Spiegelanordnungen die für das Funktionieren der im Blickwechsel erreichbaren Intimität geltenden Bedingungen: Um nämlich »eine endlose Reihe von Spiegeln« in einer optischen Apparatur zu erzeugen, müßten die einander gegenüberstehenden Spiegel nicht nur zur Reflexion, sondern auch zur gleichzeitigen Wahrnehmung dieser Reflexion befähigt sein, da die Anordnung ja entweder das wahrnehmende Subjekt zu eliminieren oder aber den Anspruch auf eine »unendliche Reihe« von Reflexionen aufzugeben hätte. Zur Spiegelung und gleichzeitigen Wahrnehmung geeignet ist aber in ganz besonderer Weise41 das Auge, präziser noch: die Pupille. Vor dem Hintergrund dieser von Leonce ins Spiel gebrachten, im Blickwechsel angelegten Spiegelfunktion des Auges ließe sich im Blickwechsel zwischen Leonce und Rosetta eine solche Signatur der Entstrukturierung und Dehierarchisierung ausmachen: Im Auge Leonce' spiegelte sich Rosetta, in deren abgespiegeltem Auge sich wiederum der Rosetta abspie37 Ebenda, S.738. 38 Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. 1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhausen Frankfurt am Main 1974, S. 7 - 1 2 2 , hier S. 32; meine Hervorhebung. 39 >SpiegelfensterSpiegelkabinet, Spiegelkasten< (s. Anm. 3 5), S. 739. 41 »Spiegelfenster« oder mit winzigen Gucklöchern versehene »Spiegelkästen« folgen dem Modell des Auges.

112

gelnde Leonce spiegelte, und so fort. Umgekehrt und zugleich spiegelte sich im Auge Rosettas Leonce, in dessen abgespiegeltem Auge sich wiederum die Leonce abspiegelnde Rosetta spiegelte, und so fort.42 Das Urbild erschiene (auch) als Abbild, das Abbild (auch) als Urbild. Die Erörterung dieser Anordnung darf den Modus des Konjunktivs allerdings nicht aufgeben, denn Leonce »hält sich die Augen zu« (102), als Rosetta »erschrocken« verlangt, angesehen zu werden, um »nur einen Blick« (102) noch erhäschen zu können; die besondere, eben nur im Blickwechsel mögliche Liebes-Intimität kommt nicht zur Entfaltung, denn Leonce gesteht ihr »keinen« (103) solchen Blick zu. Das Augen-»Grab« bleibt geschlossen- »ich behalte den Eindruck« (103), kündigt Leonce an, und Rosetta »entfernt sich traurig« (103). Statt dieser Ermöglichungsfigur der Liebe im Geschehen zwischen Leonce und Rosetta Raum zu geben, indem Leonce den Blickwechsel zuließe, thematisiert er die strukturellen Bedingungen und Versprechen eines solchen Liebesblickwechsels: »Was meinst du: um ein klein wenig, und meine liebe Liebe käme wieder auf die Welt« (103). Die Verweigerung des Blickwechsels durch Leonce' vorsätzliches Verschließen der Augen setzt die Hoffnung auf eine Verwirklichung der formulierten Liebes-Utopie ostentativ aus. Zu einem weiteren Liebesblickwechsel, der die »liebe Liebe« tatsächlich »wieder auf die Welt« zu bringen vermöchte, kommt es während des gesamten Stückes aber - so hat es den Anschein - nicht mehr. Wie, unter welchen Bedingungen und vor allem in welchem ontologischen Status wäre es möglich, das im »Eindruck« Abgelegte »wieder auf die Welt«, d.h. in die vorgestellte Empirie zurückzubringen? Den Gesetzen des von Leonce aktivierten Vorstellungsfeldes der Optik zufolge wäre diese »liebe Liebe« nur virtuell, nur als >Revenante< zu erreichen, denn sie könnte Leonce' Auge nur durch genau den >Eingang< verlassen, durch den sie es >betreten< hat - dann aber als Projektion einer Projektion. Da sie nämlich im Auge als »totes [...] Ding« (102) ausgewiesen ist und somit - semiologisch gesprochen - den Status einer Abbildung innehat, eines Uneigentlichen mithin, brächte jede >Wiedergeburt< der »Liebe« nicht die ursprüngliche, von Leonce beerdigte, sondern eine wieder(ge)holte »Liebe« und damit eben eine andere zum Vorschein. 42

Diese Leistung akzentuiert Christoph Wulf: Das gefährdete Auge. Ein Kaleidoskop der Geschichte des Sehens. In: Das Schwinden der Sinne. Hrsg. v. Dietmar Kamper u. Christoph Wulf. Frankfurt a.M. 1984, S. 2 1 - 4 5 : »Mit dem Auge sucht man das Auge des anderen und spiegelt sich in ihm. Den anderen sehend wird man selbst gesehen und empfindet sich als sehenden« (S. 23). Das Moment der Entgrenzung wird allerdings nicht herausgestrichen, sondern lediglich die Struktur transzendentaler Apperzeption.

"3

Im optischen, von Leonce ins Spiel gebrachten Paradigma verbleibend, wäre eine solche >Wiedergeburt wiederum nur als optisches Spiel zu bewerkstelligen, als Umkehrung der im Medienparadigma der Camera obscura wirksamen Projektionsrichtung, und zwar im Medienparadigma der für die >RevenanteGeisterseher< bekannten Laterna magica. Sie »stellt« nämlich »eine vollkommen umgekehrte Cameram obscuram vor«.43 Laternae magicae projizieren (in der Regel) fiktionale Bilder auf eine Leinwand oder auf Rauchschwaden; ihr poetologisches Korrelat ist nicht wie im Falle der Camera obscura Mimesis, sondern Poiesis.44 Nach den Regeln der Optik, die Leonce zunächst bemüht hatte, wäre seine »liebe Liebe« (103) als eine solche optische >Revenante< zu denken, wären also zwei reziprok verlaufende Projektionsmechanismen hintereinandergeschaltet: Eine Camera obscura, die vermeintlich Reales in einem ersten Schritt fiktionalisiert, verinnerlicht, und eine Laterna magica, die dieses Fiktionale, den »Eindruck« der toten Liebe, in einem zweiten Schritt wieder entäußert und scheinbar real macht, tatsächlich aber ein Abbild eines Abbilds produziert. So wie Leonce sich »jeden Tag vier und zwanzigmal herum[stülpt], wie einen Handschuh« (103), mithin das Innere nach Außen kehrt und das Außere nach Innen, wäre diese Verschaltung von Verinnerlichung und Entäußerung zu denken. Leonce' Liebe zu Rosetta wäre auf der Ebene der vorgestellten Wirklichkeit des Stückes aus der erstrebten Unmittelbarkeit zunächst zurückgenommen in die Strukturen der Verdinglichung, sodann zurückgenommen in die Zeichenhaftigkeit des verinnerlichten Bildes (Camera obscura) und schließlich zurückgenommen in die Fiktionalisierung der Entäußerung (Laterna magica). Diese Anordnung erwiese sich allerdings als folgenschwer für das gesamte Stück: Leonce' »Liebe« zu Lena stünde nicht nur, wie man bisher festgestellt hat, »als eine bloße Stellvertretung [...] im Zeichen des Todes«,45 sondern erschiene als >Revenante< im ontologischen Status doppelt fiktionalisiert,46 43

44

45

46

>LaterneLeonce und LenaRevenante< in die Welt gelangen, weil sie damit ihrer Erst- und Einmaligkeit, ihrer Authentizität und Unmittelbarkeit beraubt wäre. »Heiraten! Das heißt einen Ziehbrunnen leer trinken« (107), muß Leonce ganz folgerichtig ablehnen: »Valerio! Valerio! Wir müssen etwas Anderes treiben. Rate!« (107). »Gelehrte«, »Helden«, »Genies« oder »nützliche Mitglieder der Gesellschaft« (108) zu werden, scheidet aufgrund der unumgänglichen Verstrickung in bürgerliche Funktionalisierungszusammenhänge ebenfalls aus: A h Valerio, Valerio, jetzt hab' ich's! Fühlst du nicht das Wehen aus Süden? Fühlst du nicht, wie der tiefblaue, glühende Äther auf und ab wogt, wie das Licht blitzt von dem goldnen, sonnigen Boden, von der heiligen Salzflut und von den Marmor-Säulen und Leibern? Der große Pan schläft, und die ehernen Gestalten träumen im Schatten über den tiefrauschenden Wellen von dem alten Zauberer Virgil, von Tarantella und Tambourin und tiefen, tollen Nächten von Masken, Fackeln und Guitarren. Ein Lazzaroni! Valerio! Ein Lazzaroni! Wir gehen nach Italien. (108)

Leonce' Vorschlag, der in Aussicht gestellten Heirat und Integration in die staatlichen Funktionszusammenhänge als Lazzaroni zu entgehen, stellt aber keineswegs die eingeforderten Koordinaten sicher, denn bemüht wird ein Topos, der aus überwiegend der Literatur der Romantik entlehnten Vorstellungen und Zitaten montiert ist, wie E. Theodor Voss nachgewiesen hat.47 Mit diesem in sich bereits brüchigen Vorschlag, mit der Aussicht, in »Italien« den beklagten Strukturen sich entziehen zu können, verlassen Valerio und Leonce das Reich »Popo«. Wie Leonce und Valerio sich über die staatlich verordnete Heirat und über die mit dieser einhergehenden Gehalte austauschen, so tun dies Lena 47

Vgl. E. Theodor Voss: Arkadien in Büchners >Leonce und LenaArkadienMetamorphosen< kennen; Julius Friedrich Karl Dilthey: Instruction für den Unterricht in dem Großherzoglichen Gymnasium zu Darmstadt. Darmstadt 1827, zit. nach: JanChristoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie. Stuttgart, Weimar 1993, S. 78.

116

dumque sitim sedare cupit, sitis altera crevit, dumque bibit, visae conreptus imagine formae spem sine corpore amat, corpus putat esse, quod unda est. adstupet ipse sibi vultuque inmotus eodem haeret ut e Parió formatum marmore signum. [···] se cupit inprudens et, qui probat, ipse probatur, dumque petit, petitur pariterque accendit et ardet. inrita fallaci quotiens dedit oscula fonti! in mediis quotiens visum captantia collum bracchia mersit aquis nec se deprendit in illis! quid videat, nescit, sed, quod videt, uritur ilio atque oculos idem, qui decipit, incitât error. (Ill 4 1 5 - 4 3 1 ) «

Lenas Funktion in einer dem Modell der »hilflosen Quelle« verpflichteten »Liebe« bestünde darin, als nun nicht mehr akustisch, sondern optisch bestimmte Echo an die Stelle der Quelle zu treten, um Narziß, dessen Position Leonce eingenommen hätte, dessen Bild zurückzuspiegeln. Strukturell betrachtet ermöglichte sie dem »Mann« die Bildung einer Ganzheitsfiktion des >IchLeonce und Lena< 1836 entstandener)'1 Probevorlesung. Über Schädelnerven< skizziert sind: Wie das »Offnen und Schließen« der Blütenkelche werden alle Funktionen in der Natur »durch keine äußeren Zwecke« - etwa durch ein kausal gedachtes Reiz-Reaktions-Schema - »bestimmt, und ihr sogenanntes zweckmäßiges Aufeinander- und Zusammenwirken ist nichts weiter als die notwendige Harmonie in den Äußerungen eines und desselben Gesetzes«, »eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit«.'2 Von einer ideellen Setzung aus, daß nämlich alles Wirken prinzipiell einer unbeschränkten Handlungsfreiheit entspringe und sich zu einer von Lena explizit berufenen »Harmonie« (117) füge, richtet sich diese Argumentation eine AutonomieNische ein. In einer solchen Denkungsart ausgeblendet ist »das einzige Gesetz der teleologischen Methode«, die dem nun photosynthetisch motivierten Offnen und Schließen der »Kelche« zugrundegelegte »größtmögliche Zweckmäßigkeit«.! 5 Ausgeblendet ist in Lenas Entwurf auch die teleologische Erklärung des Wechsels von Tag und Nacht und ersetzt durch eine Ordnung, in der »die Grillen den Tag einsingen und die Nachtviolen ihn mit ihrem Duft einschläfern« (117). Ausgeblendet zwar, aber nicht etwa, wie Heinz Wetzel nahelegt,'4 absent: Was Lena als Bild ihrer Liebeskonzeption gibt, wird als brüchig vorgestellt," als gebunden an Prämissen, die von Lena später selbst unterlaufen werden: »Ich brauche Tau und Nachtluft wie die Blumen« (117). Im Angewiesensein Lenas und der Blumen auf »Tau und Nachtluft« ist die Autonomie suspendiert, Lena und die Blumen sind heteronom bestimmt. Lenas Heteronomie begründet sich in der Funktionalisierung durch die höfische Staatsraison und im Eingebundensein in die »Zweckmäßigkeit« der Natur: Von »Tau und Nachtluft« ist sie »wie die Blumen« abhängig, die sich nur in einer idealistischen Lesart selbstbestimmt der »Morgensonne und dem Abendwind« öffnen können. Lenas »Flucht« (113) als Akt der Negation und diesen wiederum als Zeugnis ihrer Autonomie zu lesen und mit der Konzeption

SJ SJ H

55

Poschmann (s. Anm. 18), S.910, geht von »Überschneidungen« bei der Arbeit an >Leonce und Lena< und an der >Probevorlesung< aus. Büchner (s. Anm. 18), S. 1 6 0 - 1 6 1 . Ebenda, S. 160. Für Heinz Wetzel: Das Ruinieren von Systemen in Büchners >Leonce und LenaRevenanteRevenanteHorribilicribrifax Teutsch< des Andreas Sl

8}

84

8s

Als Kompositum aus »ίσος« (gleich) und »bella« (schön, Schöne) wäre ισα bella/Isabella als »der Schönen gleich« zu lesen. Dies entgeht z.B. Morgenroth (s. Anm. 7), für den nur »Leonce [...] die Rolle des Verliebten [...] spielt« (S.63). Die Qualität der Rede und des Agierens von Lena aber wird gar nicht erfragt; entsprechend bleibt die Uneigentlichkeit ihrer Rede (Bezüge auf Mythologeme wie Echo/Narziß, Christus, auf die heilige Odilia, auf die Schäfer-Literatur) außen vor. >GrasmückeWiedergängerin< über eine »Geschichte« (114) verfügt und da das Bildsystem Lenas als geträumtes >Kuckucks-Ei< nicht mehr bedenkenlos als verläßliche Liebesrede gelesen werden kann. Und dennoch werden die ambitiösen Selbst- und Liebesentwürfe Leonce' und Lenas auf diese Weise nicht grundlegend erschüttert, da das Ineinanderblenden ihrer Perspektiven eine >Überblendung< der Brüche gewährleistet: Leonce bleibt das Uneigentliche der Liebe Lenas und Lena das Uneigentliche der Liebe Leonce' verborgen, womit die Erfahrung der jeweils als authentisch genommenen Liebe des einen zu derjenigen des jeweils anderen werden kann. Die emphatische Interpretation des sprachlichen Blickwechsels ist nun allerdings an die strenge Immanenz der beiden Sprechenden gebunden, intim mithin, denn im Unterschied zum Leser/Zuschauer weiß Lena nicht um die Implikationen der Rede Leonce'. Umgekehrt blendet Leonce die negativ konnotierte »Grasmücke« aus seiner Bildrede völlig aus - das erste Lemma, das er aufgreift ist der »Traum«. Das nächste Wort, das Leonce und Lena miteinander und zusammen, vermeintlich einig also, sprechen, ist das >Ja-Worts und zwar in der letzten Szene des Stückes. »Heiraten! Das heißt einen Ziehbrunnen leer trinken« (107), hatte Leonce vor Verlassen des Hofes, also am Vortag, mit Valerio ganz im Einverständnis, getönt. Entsprechend überrascht zeigt sich Valerio: »Heiraten? Seit wann haben es Eure Hoheit zum ewigen Kalender gebracht?« (120). Valerios Nachfrage (aus der sich eine Absichtserklärung Leonce' erst erschließen läßt) eröffnet den dritten Akt, den zweiten beschloß ein unmittelbar im Anschluß an die verschmelzende Liebesrede mit Lena unternommener Selbstmordversuch Leonce': laß mich dein Todesengel sein. Laß meine Lippen sich gleich seinen Schwingen auf deine Augen senken. Er küßt sie. Schöne Leiche, du ruhst so

L E O N C E SO

86

Andreas Gryphius: HorribilicribrifaxTeutsch. Scherzspiel. Hrsg. v. Gerhard Dünnhaupt. Stuttgart 1976, S . 4 1 . Cohn (s. Anm. 85), S.20.

134

lieblich auf dem schwarzen Bahrtuch der Nacht, daß die Natur das Leben haßt und sich in den Tod verliebt. L E N A Nein, laß mich. Sie springt auf und entfernt sich rasch. L E O N C E Z U viel! Zu viel! Mein ganzes Sein ist in dem einen Augenblick. Jetzt stirb. Mehr ist unmöglich [...]. Er will sich in den Fluß stürzen. V A L E R I O springt auf und umfaßt ihn. ( I 18) Ungemein hellsichtig analysiert Leonce Leistung und Grenzen der Liebesrede und bringt ebenso wie zu Beginn des dritten Aktes Valerio einen entscheidenden Aspekt ins Spiel: den der Zeitlichkeit. Im vorgestellten Geschehen, jenseits der beiden ineinander entfalteten Bildsysteme kann die in der Liebesrede erreichte Verschmelzung keine Wirklichkeit haben, denn ihre besondere Leistung verdankt sie wie im Falle des Blickwechsels dem Ereignischarakter der Rede, dem Hier und Jetzt der Verschmelzung im Sprechen, nicht der Erinnerung daran: Ein »Versinken im unbegrenzten Moment« aber ist »in der Unmöglichkeit zeitloser Existenz zwingend« 88 verunmöglicht. Während Lena schon zuvor nicht ausgeschlossen hatte, sich zu binden, »bis die Leichenfrau die Hände auseinandernähme und sie Jedem über der Brust faltete« (109), liefert Leonce eine »humane und philobestialische« Begründung für seinen Sinneswandel: Weißt Du auch, Valerio, daß selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, daß das Leben noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können? Und dann kann ich doch einer gewissen Art von Leuten, die sich einbilden, daß nichts so schön und heilig sei, daß sie es nicht noch schöner und heiliger machen müßten, die Freude lassen. Es liegt ein gewisser Genuß in dieser lieben Arroganz. Warum soll ich ihnen denselben nicht gönnen. (120) N u n schließt die Ehe die Liebe nicht aus, sie garantiert sie nicht. Das Verhältnis zwischen Leonce und Lena ließe sich noch immer, wenn auch an den »Augenblick« des optischen oder sprachlichen Blickwechsels gebunden und seiner Erst- und Einmaligkeit beraubt, als Verschmelzung, als Ineinssetzung beider begreifen: wieder(ge)holt würden keine externen »Geschichten« ( 1 1 4 ) der »Liebe«. Die Bedingung dafür ist bekannt: Leonce und Lena müßten sich in einem referenzlosen Raum bewegen, eine Bedingung, die im Vorfeld der Eheschließung gegeben zu sein scheint, denn weder kennt Leonce die Identität Lenas, noch kennt sie die seine: weiß sie auch, wer Sie sind? Sie weiß nur, daß sie mich liebt. V A L E R I O Und weiß Eure Hoheit auch, wer sie ist? L E O N C E Dummkopf! Frag' doch die Nelke und die Tauperle nach ihrem Namen. V A L E R I O [...] LEONCE

88

Luhmann (s. Anm. 67), S. 177.

135

VALERIO Das heißt, sie ist überhaupt etwas, wenn das nicht schon zu unzart ist und nach dem Signalement schmeckt. - Aber wie soll das gehen? Hm! Prinz, bin ich Minister, wenn Sie heute vor Ihrem Vater mit der Unaussprechlichen, Namenlosen mittelst des Ehesegens zusammengeschmiedet werden? Ihr Wort? LEONCE Mein Wort! (120)

A m Hof König Peters wird unterdessen, »obwohl der Prinz nicht kommt und die Prinzessin auch nicht« (124), die im Rahmen staatspolitischer Erwägungen vorgesehene Hochzeit mechanisch vorbereitet. Die Vorbereitungen lassen Merkmale einer Inszenierung erkennen, machen den »freien Platz vor dem Schlosse des Königs Peter« ( 1 2 1 ) ebenso zur Bühne wie den »großen Saal«, den »geputzte Herren und Damen« »sorgfältig gruppiert« (122) bevölkern. Arrangiertes gerät über dem Warten auf das Brautpaar aus den Fugen und gibt sich als Maskerade zu erkennen: »Es ist ein Jammer«, klagt der Zeremonienmeister, Alles geht zu Grund. Die Braten schnurren ein. Alle Glückwünsche stehen ab. Alle Vatermörder legen sich um, wie melancholische Schweinsohren. Den Bauern wachsen die Nägel und der Bart wieder. Den Soldaten gehen die Lokken auf. Von den zwölf Unschuldigen ist Keine, die nicht das horizontale Verhalten dem senkrechten vorzöge. Sie sehen in ihren weißen Kleidchen aus, wie erschöpfte Seidenhasen [...]. Die Herren Offiziere kommen um all ihre Haltung [...]. Die Hofdamen stehen da, wie Gradierbäu(m)e. Das Salz krystallisiert an ihren Halsketten. ( 1 2 2 - 1 2 3 )

Da »im Programm steht: sämtliche Untertanen werden von freien Stükken, reinlich gekleidet, wohlgenährt und mit zufriedenen Gesichtern sich längs der Landstraße aufstellen« (121), werden aus dem Volk Statisten zwangsrekrutiert. Um zunächst dem »Landrat«, später dann dem Zeremoniell »keine Schande« zu machen, gilt es, den »Untertanen« ihren Text beizubringen: SCHULMEISTER [...] Könnt ihr noch Eure Lektion? He! Vi! D I E BAUERN Vi! SCHULMEISTER Vat! D I E BAUERN Vat!

SCHULMEISTER Vivat! D I E BAUERN Vivat!

SCHULMEISTER SO Herr Landrat, Sie sehen, wie die Intelligenz im Steigen ist. Bedenken Sie, es ist Latein. ( 1 2 1 - 1 2 2 )

Ganz im Zeichen des Theatralischen betreten dann auch Leonce, Lena, Valerio und die Gouvernante das >Hof-Theaterdas Sagen< hat, und konsequenterweise kommt sie nach der Demaskierung nicht mehr zu Wort. Anders Leonce. Er findet sehr schnell in seine neue Rolle, denn er »weiß besser, was« Lena »will« als sie selbst. Sein anschließender Vorschlag zur Neugestaltung des gemeinsamen Reiches bleibt eben sein Vorschlag, womit der Entfaltungsraum für die >autonome Blume< empfindlich eingeschränkt ist. Der von Leonce und (einstimmend von) Valerio vorgeschlagene Staatsentwurf stellt keine Besserung in Aussicht, im Gegenteil, er stellt die Liebes- und Selbstkonzeption Lenas grundlegend in Frage. Es ist nämlich von den Prämissen abhängig, ob das Offnen und Schließen der Blumen, Blüte und Frucht, Sonne und Mond in einer Welt der Freiheit in »? Ebenda, 8.169. 98 Ebenda, S. 170.

141

deren Willen oder in einer Welt der Determination in den naturgesetzlichen Mechanismus gelegt sind. Nicht zufällig wird als >Entdecker< der »Blumenuhr« der Naturforscher und Systematiker Carl von L i n n é " gehandelt. Im Bereich naturgesetzlicher Wirkungszusammenhänge verortet sie auch das Gemeinwissen, wie es etwa >Bertuch's Bilderbuch< schult: Bekanntlich öffnen sich die Blumen zu einer mehr oder minder bestimmten Zeit des Tages und schliessen sich während der Nacht. Dieses O f f n e n und Schliessen findet dann so gleichmäßig den einen wie den andern Tag statt, dass man f ü r die meisten Stunden des Tages Blumen auswählen kann, an deren O e f f nen man diese Tageszeiten erkennen kann. Eine solche Zusammenstellung hat schon Linné eine Blumenuhr genannt, und auf unserer Tafel finden wir ein solches Zifferblatt von einer Auswahl solcher Blumen dargestellt. 100 (Abb. 18)

»Blumenuhr« und »Kalender«, die »nur nach Blüte und Frucht« (129) Auskunft geben, sind nicht nur, wie in der Perspektive Lenas, als einem inneren Gesetz der Schönheit zum Recht verhelfend, sondern auch geknüpft an dieselbe Teleologie der Natur zu denken, die die Zeit nach Erdumdrehung und -laufbahn mißt. Daß »das Zeitmaß der Blumenuhr [...] unmechanisch« 101 ist, wie Jörg Jochen Berns meint, hat nur in einer ausschließlich idealistischen Perspektive Bestand. Wenig anders verhält es sich mit dem der Optik entlehnten Bild eines von Brennspiegeln umstellten, ewigen Sommer verheißenden Landes. Die Brennspiegel-Enklave wäre nämlich nur funktionsfähig, solange Sonnenlicht auf die Spiegel fällt;

" Vgl. Caroli Linnaei Philosophia botanica in qua explicantur fvndamenta botanica cvm definitionibvs partium, exemplis terminorvm, observationibvs radiorvm, adiectis Figuris aeneis. Editio secunda. Berolini 1/80, S. 274: »Horologium Florae ex sequenti tabula formandum, postquam meteorici & Tropici flores exclusi sunt, de quibus alibi«; S. 276: »Horologia Florae quotannis conficienda sunt in quavis Provincia, secundum Frondescentiam, Efflorescentiam, Fructescentiam, Defoliationem, observato simul Climate, ut inde constet diversitas Regionum inter se«. Linné's eigenhändige Anzeichnungen über sich selbst mit Anmerkungen und Zusätzen von Afzelius. Berlin 1826, S. 127-128, lassen an der Gesetzmäßigkeit der Funktionsweise der Blumenuhr keinen Zweifel: »Aus einem Annotationsbuche für die Jahre 1744-1750. Dieses kleine Buch von 4" Bogen und in groß Octavformat enthält: a. Observationen betreffend Vigiliae Florum, Horologium Florae [...]. Diejenigen, welche sich auf die Tageszeit beziehn, wo gewisse Gewächse ihre Blumen öffnen und wieder zusammenschließen und also den Grund zu einer Blumenuhr legen«. 100 Bertuch's Bilderbuch enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Blumen, Früchten, Mineralien, Trachten und allerhand andern unterrichtenden Gegenständen aus dem Reiche der Natur, der Künste und Wissenschaften; alle nach den besten Originalen gewählt, gestochen, und mit einer kurzen wissenschaftlichen, und populären Erklärung begleitet. Bd. 12. Weimar 1830, Tafel C C C L X X V , No. 81. "OI Jörg Jochen Berns: Zeremoniellkritik und Prinzensatire. Traditionen der politischen Ästhetik des Lustspiels >Leonce und Lenaautonomen< Subjekt unter Strafe das Arbeiten verbieten sollen, ganz gleich, ob es arbeiten will oder nicht. Verordneter Müßiggang errichtet als Gegenentr

43

wurf dieselben Strukturen der Heteronomie, Verdinglichung und Entfremdung, bedient dieselbe Logik der Repräsentation wie die negierte bürgerliche Welt. Die Rede Leonce' und Valerios gerät in diesem Sinne affirmativ. 102 In solcher Brüchigkeit bleibt dem Stück durchaus nicht das versöhnliche Ende, das die Gattung verspricht, doch bringt es, so hat es den Anschein, >Augenblicke< der Uberwindung zur Entfaltung. Nicht nur in ihrer Rede rekurrieren die Figuren unentwegt auf den optischen Diskurs - zur Sprache kommen neben den Brennspiegeln 103 (129) spiegelnde Quellen, Knöpfe und Augen (101, 1 1 3 , 125), ein Spiegelzimmer ( i n ) , Prismen (103), Mikroskope (128), Mond- und Sonnenschein (129 u.ö.), eine Blumenuhr (129), Augen (101 u.ö.) und schließlich die Schutzheilige der Augenleidenden - , auch die für die Verwirklichung ihrer »Liebe« entscheidenden Funktionen und Leistungen delegieren die Figuren an den Wahrnehmungsdiskurs: Die wenigstens prekäre Annäherung an die Vorstellung einer vollständig dehierarchisierenden, die Beteiligten zugleich verschmelzenden und in ihrer Subjektivität bestätigenden »Liebe«, erfolgt im Modell eines wechselseitige Spiegelungen in Gang setzenden Blickwechsels. Selbst für die latente Relativierung der Vereinigungspotenz dieser Anordnung werden Strukturen optischer Paradigmen (Camera obscura, Laterna magica) in Anspruch - oder präziser: aus der literarischen Aservatenkammer, aus den Bücherregalen der »Kunstperiode« genommen. Wollte man die im Stück nahezu flächendeckend eingesetzte »Spiegelungstechnik des Zitierens« 104 auf eine (vielzitierte) Formel bringen, böte sich als Fundort Brentanos >Godwi< an, der sehr wahrscheinlich in den Kreis der >ausgeschlachteten< Prätexte des Stückes gehört: 10 ' »Das Romantische ist also ein Perspectiv« 106 (G 258). Mit diesen Worten beginnt Godwis Interpretation der Rede von Maria: »Alles, was zwischen unserm Auge und und einem entfernt zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgiebt, ist romantisch« (G 258). Godwi präzisiert und verankert die Bestimmung des Romantischen als >visuelle Näherung< und >eigenwertige Mittelbarkeit< noch deutlicher im optischen Paradigma: »Das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases« (G I0i

Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Kitzbichler (s. Anm. 15), S. 78. Zur Konjunktur und praktischen Verwertung von Brennspiegeln zwischen 1750 und 1830 vgl. Jurgis Baltrusaitis: Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien. 2. Aufl. Gießen 1996, S. 145-155. 104 Poschmann (s. Anm. 1), S.616. •°'< Ebenda, S.625. 106 Brentano (s. Anm. 31), S. 258-259; ich zitiere fortlaufend im Text unter der Sigle »G«. 103

144

258-259)· Zwischen den »Gegenstand« des Stücks und das Auge des Lesers stellt Büchner als »Perspectiv« ein aus zahlreichen Textsegmenten, Reminiszenzen und Motiven montiertes >Romantisches< - und gerade dessen mediale Perspektivierung bestimmt den historischen Ort der Figuren im Stück. Anders als in Schillers >Geisterseher< und anders als in Texten Hoffmanns, Eichendorffs, Jean Pauls oder Brentanos gehören optische Geräte, Laternen und Spiegel nicht zur Ausstattung der Figuren, von der aus sich ihr poetologischer Gehalt erfragen ließe. Sie sind fast ausschließlich in ihrer Rede präsent und dort als anachronistische literarische Verfügungsmasse markiert, die wie die poetische und die philosophische Rede, vermittelt, nämlich zumeist romantischer (oder von der Romantik bevorzugt adaptierter) Tradition entnommen ist: »Wir haben Alles wohl anders geträumt mit unseren Büchern, hinter der Mauer unseres Gartens, zwischen unseren Myrthen und Oleandern« (113). So scharfsichtig das Problematische bürgerlicher Strukturen, so unbrauchbar sind auch die diesen entgegengestellten er-redeten utopischen Konzepte Leonce' und Lenas gezeigt.

145

IV. Aufzeichnungen

ι. »Fensterstudien« und »alte Mappen« Raabes >Chronik der Sperlingsgasse< »Sie sehen gern aus dem Fenster« 1 (24), lautet eine Fremdcharakterisierung des Chronisten von Raabes >Chronik der SperlingsgasseChronik der Sperlingsgasse< hat man sich in der Raabe-Forschung nur sehr vereinzelt (und wenn überhaupt, dann am Rande) gewidmet: Für Lutz Zimmermann »spielt [...] das Fenster« immerhin »eine entscheidende Rolle« 2 in der >Chronik der SperlingsgasseChronik< ein, mit dem Schließen des Fensters werden die »letzten Zeilen« ( 1 7 1 ) niedergeschrieben, womit die >Chronik< ' Ich zitiere fortlaufend im Text unter Angabe der Seitenzahl, wobei folgende Ausgabe zugrundeliegt: Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse. In: Wilhelm Raabe. Sämtliche Werke. Bd. 1. Hrsg. v. Karl Hoppe u. Max Carstenn. Göttingen 1965, S. 7 - 1 7 1 , hier S. 24. * Lutz Zimmermann: Berlin in Prosa: Wilhelm Raabes >Chronik der Sperlingsgasse«. In: Euphorion 81 (1987), S.427-437, hier S.432, fragt vom Fenstermotiv ausgehend nach Modellen der Großstadterfahrung. J Herman Meyer: Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), 8.237-267, hier S. 246. Meyer arbeitet kommunikative Implikationen der Fensterblicke in der Sperlingsgasse heraus (S. 244-247). 4 Marilyn Sibley Fries: The Changing Consciousness of Reality. The Image of Berlin in Selected German Novels from Raabe to Döblin. Bonn 1980, S. 14.

147

strukturell selbst in die P o s i t i o n eines F e n s t e r s u n d ihre L e s e r in die eines in ein o d e r aus einem F e n s t e r S c h a u e n d e n e i n r ü c k e n , w i r d sie auf diese Weise d o c h v o n F e n s t e r ( b l i c k e ) n u m r a h m t , mit d e m ersten e r ö f f n e t , mit d e m z w e i t e n geschlossen. A n g e l e g t u n d g e r a h m t ist auf diese Weise jed o c h nicht n u r das P r o j e k t des »Fenster- u n d G a s s e n s t u d i u m s « , die B l i c k e aus F e n s t e r n in die Welt u n d v o n d e r Welt in die Fenster. V i e l m e h r liefert die > C h r o n i k d e r Sperlingsgasse< mit d e r ersten, auf den » 1 5 . N o v e m b e r « datierten u n d mit einem e n t s c h e i d e n d e n F e n s t e r b l i c k v e r k n ü p f t e n E i n t r a g u n g des C h r o n i s t e n z u g l e i c h die B e g r ü n d u n g des S c h r e i b e n s , u n d z w a r (zunächst) in einer B e w e g u n g v o n k r i t i s c h e m R e a l i t ä t s b e z u g z u r w i r k lichkeitsentrückten anachronistischen Lektüre:5 Es ist eine böse Zeit! - Mißmutig hatte ich die Zeitung weggeworfen, mir eine frische Pfeife gestopft, ein Buch herabgenommen und aufgeschlagen. Es war ein einfaches altes Buch, in welches Meister Daniel Chodowiecki gar hübsche Bilder gezeichnet hatte: Asmus omnia sua secum portans, der prächtige Wandsbecker Bote des alten Matthias Claudius, weiland homme de lettres zu Wandsbeck, und recht ein Tag war's, darin zu blättern. Der Regen, das Brummen und Poltern des Feuers im Ofen, der Widerschein desselben auf dem Boden und an den Wänden - alles trug dazu bei, mich die Welt da draußen ganz vergessen zu machen und mich ganz in die Welt von Herz und Gemüt auf den Blättern vor mir zu versenken. A u f s Geratewohl schlug ich eine Seite auf: Sieh! da ist der herbstliche Garten zu Wandsbeck. Es ist ebenso nebelig und trübe wie heute; leise sinken die gelben Blätter zur Erde, als bräche eine unsichtbare Hand sie ab, eins nach dem andern. Wer kommt da den Gang herauf im geblümten bunten Schlafrock, die weiße Zipfelmütze hinterm Ohr? - E r ist's - Matthias Claudius, der wackere Asmus selbst! [...] ein großer Gedanke ist ihm >aufs Herz geschossen* - das große neue Fest der Herbstling ist erfunden - der Herbstling, so anmutig zu feiern, wenn der erste Schnee fällt, mit Kinderjubel und Bratäpfeln und Lächeln auf den Gesichtern von jung und alt!Wenn der erste Schnee fällt wie ich in diesem Augenblick wieder einmal einen Blick zur grauen Himmelsdecke hinaufwerfe, da - kommt er herunter wirklich herunter, der erste Schnee! Schnee! Schnee! der erste Schnee! - In großen wäßrigen Flocken, dem Regen untermischt, schlägt er an die Scheiben [...]. Schnell springe ich auf und ans Fenster. Welche Veränderung da draußen! ( 1 1 - 1 2 ) - eine V e r ä n d e r u n g , die W a c h h o l d e r , a m F e n s t e r stehend, z u m I n s p i r a t i o n s m o m e n t gerät: Jetzt ist die Zeit für einen Märchenerzähler, für einen Dichter. - Ganz aufgeregt schritt ich hin und her; vergessen war die böse Zeit; auch mir war, wie weiland 5

Auf eine ähnliche Bewegung - nämlich zum Traum hin - macht Eduard Klopfenstein: Erzähler und Leser bei Wilhelm Raabe. Untersuchungen zu einem Formelement der Prosaerzählung. Bern 1969, S. 32, aufmerksam.

148

dem ehrlichen Matthias, ein großer Gedanke >aufs Herz geschossene >Ich führe ihn aus, ich führe ihn aus!< brummte ich vor mich hin, während ich auf und ab lief [···]· >Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse!
ChronikAllgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände< von 1833, heißt im strengen Sinne des Wortes ein Geschichtsbuch, welches die Geschichte einer Zeit überhaupt mit ihren Merkwürdigkeiten, ohne Beschränkung auf ein besonderes Volk und ohne jede Hinsicht auf besondere Anordnung und Darstellung, nach der Folge der Jahre enthält; von ihr unterscheiden sich die Annalen [...], in denen kurz und einfach das merkwürdigste aufgezeichnet ist, was in einzelnen Jahren, besonders bei einem bestimmten Volke, vorfiel. Allein diese Unterscheidung gilt nur dem Worte, nicht der Sache nach, denn in den ältesten Chroniken sind alle Begebenheiten nach der Folge der Jahre geordnet.'3 N u r wenig später nennt >Meyer's Conversations-Lexikon< mit Blick auf das Verfahren eine »Chronik« ein »Buch, das die Begebenheiten der allgemeinen Geschichte oder einzelner Völker und Stämme, oder einzelner Städte nach der Jahresfolge schlicht und trocken erzählt«. 14 Der systematische Kernbestand chronikalischen Schreibens besteht nach Auskunft der ' ' Das ist nicht im Blick bei Dieter Arendt: Künstler-Figurationen im Werk Wilhelm Raabes oder: »Er war überhaupt keine ausgesprochene Künstlernatur«. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 1987, 8.46-83, hier S.48, der Wachholders »Gattungsbestimmung« um den »Bilderbuch«-Aspekt verkürzt auf die Formel: »eine Chronik, kein Roman«. 12 >BilderbuchChronik der Sperlingsgassec Mimesis und Poiesis. »Ich schreibe keinen Roman«, stellt Wachholder in Aussicht, »und kann mich wenig um den schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmern« (15), doch trägt bereits der Entwurf des Schreibprojekts ganz grundlegend die Züge schriftstellerischer Kontrapunktik und gibt Anlaß zur Skepsis gegenüber den poetologischen Äußerungen Wachholders. 18 ' 7 Heiligen- oder Andachtsbilder werden spätestens seit dem Spätmittelalter in »ein Gebetoder Erbauungsbuch eingelegt«; Dorothee Klein: Andachtsbild. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Bd. 1. Hrsg. v. Otto Schmitt. Stuttgart 1937, Sp. 681-687, hier Sp. 68 j. Hinweise auf mit Heiligenbildern versehene Chroniken geben Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990, S. 247: »Der Chronist [Matthew Paris] fügte in seinen Text auch ein Bild ein«, und Heinrich Alt: Die Heiligenbilder oder die bildende Kunst und die theologische Wissenschaft in ihrem Verhältniß historisch dargestellt. Berlin 1845, der im 15. Jahrhundert »illustrirende Miniaturbilder« (S. 123) in der »sogenannten Armenbibel«, in »den Heiligenspiegeln«, in »Evangelienbüchern und Katechismen« nachweist (S. 248). 18

»Was die >Chronik< anbelangt«, resümiert Frank C. Maatje: Der Doppelroman. Eine literatursystematische Studie über duplikative Erzählstrukturen. Groningen 1964, S.44, »nirgends waltet das horizontal-lineare Prinzip, die (angeblich nicht vorhandene) Kontrapunktik deutlicher als gerade in dem Nebeneinander von Erzählen und Erzähltem«. Maatje wertet diesen Befund aber nicht in seiner strukturellen Dimension, sondern als Indiz für die »Bescheidenheit des greisen Erzählers« (S. 43). Seine bereits 1964 in die RaabeForschung eingebrachte Warnung ist ebenso berechtigt wie (offenbar) ungehört: »Den größtmöglichen Deutungsfehler macht man, wenn man den [!] >naiven< Erzähler aufs Wort glaubt« (S.44). Den Chronisten Wachholder gar wie Herman Meyer: Der Sonderling in der deutschen Dichtung. München 1963, S. 230, als »Sprachrohr des Dichters« Raabe im Hinblick auf poetologische, politische oder psychologische Äußerungen zu behandeln, birgt um so mehr die Gefahr einer Reduktion. Ein solches Verfahren scheint indes nicht Ausnahme, sondern eher die Regel der dominant biographisch ausgerichteten Raabe-Leser zu sein: Pongs (s. Anm. 6), S. 90, spricht von der »Wachholder-Maske des jungen Dichters«; Walter Dietze: Zeitstimmung und Zeitkritik in Wilhelm Raabes »Chronik der SperlingsgasseIch schreibe keinen Roman0 ihr Dichter und Schriftsteller Deutschlands [...]Chronik der SperlingsgasseChronik der SperlingsgasseBlicklenkungmalerische< Schreib-Tätigkeit begrifflich einzuholen, rekurriert Wachholder implizit auf das im Modus der Poiesis arbeitende Darstellungsparadigma der Zauberlaterne. Eingangs hatte er seine Memoria-Arbeit im Bild dieses Mediums beschrieben: »Ein Bild nach dem andern zieht wie in einer Laterna magica an mir vorbei« (19), jetzt bestimmt er sein bisheriges (und weiteres) Schreiben in der Sprache derselben Medientechnik als »ein buntes, freundliches Wechselspiel« (75): »ein Bild das andere nachziehend, dieses festgehalten, jenes entgleitend [...]. So schreibe ich weiter« (75). Diese Absichtserklärung scheint er der späteren Einschätzung Strobels zufolge konsequent im Blick behalten zu haben: >Hören Sie, Wachholden, sagte heute Strobel, mit den zusammengehefteten Bogen der Chronik aufs Knie schlagend, >wenn Ihnen einmal Freund Hein das Lebenslicht ausgeblasen hat, irgend jemand unter Ihrem Nachlaß diese Blätter aufwühlt und er sich die Mühe gibt, hineinzugucken, ehe er sie zu gemeinnützigen Zwecken verwendet, so wird er in demselben Fall sein wie der alte Albrecht Dürer, der ein Jagdbild lobte, aber sich zugleich beklagte, er könne nicht recht unterscheiden, was eigentlich die Hunde und was die Hasen sein sollten. Sie würfeln wirklich Traum und Historie, Vergangenheit und Gegenwart zu toll durcheinander, Teuerster; wer darüber nicht konfus wird, der ist es schon! Und wenn sie noch ihre Bilder einfach hinstellten wie ein alter, vernünftiger, gelangweilter Herr und Memoirenschreiber! Aber nein, da rennt Ihnen ihr Mitarbeitertum der >Welken Blätter< zwischen die Beine, da putzen Sie Ihre Erinnerungen auf mit dem, was Ihnen der Augenblick eingibt, hängen hier ein Glöckchen an und da eins, und ehe man's sich versieht, haben Sie ein Ding hingestellt wie 24

Vgl. Die Chronik der Sperlingsgasse. Herausgegeben von Jakob Corvinus. Berlin 1857. Inwieweit beide Werke zur Deckung gebracht sind, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen - feststellen kann man nur, w o die Spaltung in chronikalisches und chroniktranszendentes Schreiben statthat und welche Passagen der Chronik unverändert einverleibt werden: Briefe, Aufzeichnungen etc. 1

59

wie ein Gebäude aus den bunten Steinen eines Kinderbaukastens. Das ist hübsch und bunt, aber es paßt nichts recht zusammen, und wenn man es genau besieht - puh! - Nehmen Sie's nicht übel, aber manchmal gleicht Ihre Chronik doch dem Machwerk eines angehenden literarischen Lichts, das sich mit Rousseau getröstet hat: Avec quelque talent qu'on puisse être né, l'art d'écrire ne s'apprend pas tout d'un coupfarblos/ farbigs >eintönig/bunt< >leblos/belebt< (15,75,151,160), um die ästhetischprogrammatischen Eckdaten seines Schreib- und Montageprojekts zu benennen und im Bewußtsein des Lesers zu halten. In die ontologische Differenz >mimetisch/poetisch< ist eine >chrono-logische< eingelegt - seine zeitlichen Koordinaten legt der Text fest zwischen der Gegenwart des Chronik-Schreibens und den >Vergangenheiten< des Erzählten. Die ins Spiel gebrachte Chiffre der Farbigkeit steht indes nicht nur für ein Wertungs- und Darstellungskonzept, das freudig rezipierten Erinnerungen bunte Bilder abgewinnt, traurigen dagegen blasse und eintönige. Auch die sprachkritische Zuordnung >bunt: authentisches Erlebnis< versus >blaß: inadäquate schriftliche Fixierung< - »wie abgeblaßt und schal sieht alles aus, was ich bis jetzt zusammengetragen und niedergeschrieben habe; wie farbenbunt und frisch erlebte es sich« ( 160) - erschöpft die Chiffre nicht. Vielmehr wird an die farbige Gestaltung die Erwartung herangetragen, eine (zudem ornamental wirksame) Verknüpfungsleistung zu erbringen, mithin der Sammlung verschiedenster Daten und disparater »Aufzeichnungen« eine Sinn verbürgende Architektur zu verleihen. Für Lebendigkeit, Freude, Authentizität und Zusammenhang soll die farbige Ausgestaltung des Projektes sorgen, das sich ausgerechnet an der alles andere als lebendigen Gattung der Chronik orientiert: Das Vorhaben, wie die »alten Mönche« eine Chronik schreiben zu wollen, erweist sich Wachholders eigener Einschätzung nach nämlich als durchaus anachronistisch, stellt er sein Projekt doch explizit in die Nachfolge »jener alten naiven Aufzeichnungen, die in bunter Folge die Begebenheiten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen« (15; meine Hervorhebung). Und doch griffe eine Zuordnung zu kurz, die das Bilderbuch als zeitgemäßes und die »Chronik« als anachronistisches Genre auswiese, denn gerade die vermeintlich überkommene >Tugend< chronikalischen Schreibens, ihr am Ideal der Objektivität ausgerichteter Dokumentationsanspruch, trifft den Nerv der Zeit. Das Verfahren der »Chronik der Sperlingsgasse« betritt nämlich ein terminologisch und argumentativ um die Mitte des 19. Jahr161

hunderts (zumindest dem Anschein nach gerade neu) besetztes Terrain: das der Photographie.

2. Daguerréotypie - Dokumentationsleistung und Kunstanspruch N u r fünfzehn Jahre vor Raabes mit dem Beginn der Arbeit an der >Chronik der Sperlingsgasse< ineinsfallendem, allerdings erst nachträglich in den 188oer Jahren konstruiertem »Tag der Federansetzung« 27 kauft die französische Deputiertenkammer Jacques Louis Mandé Daguerres und J o seph Nicéphore Niepees medientechnische Entwicklung, die nach dem geschickteren Vermarktungstrategen benannte Daguerréotypie, auf und übergibt sie der Öffentlichkeit zum Gebrauch. Insbesondere die ältere Mediengeschichtsschreibung erklärt die Zusammenarbeit der beiden Photographie-Pioniere, besonders aber das Jahr 1839 zur >Erfindung< der Photographie. 28 Im Blick ist dabei die geradezu erdrutschartige Popularisierung der neuen Technik, die zunächst ganz »Paris, erst auf den Fensterbänken, dann auf Straßen und Plätzen« mit »Daguerreotypapparaten« 29 bevölkerte. Binnen kürzester Zeit verbreitet sich auch im übrigen Europa die Nachricht von der »Kunst des Franzosen Daguerre, vermittelst chemischen Prozessen die Bilder der Camera-Obscura auf Kupferflächen von plattirtem Silber zu fixiren«, 30 ja bereits vor Erscheinen der von Daguerre auflagenreich und in mehreren Ubersetzungen europaweit veröffentlichten Schrift >Historique et description des procédés du Daguerréotypie et du Dioramacamera obscura< auf sie übertrugen). Ich hingegen sage: nein, es waren die Chemiker«38 - , gelangt ein struktureller Sachverhalt in den Blick. Eine Fülle unerläßlicher >innovatorischer< >Prä-Texte< weicht die Vorstellung einer >Au(c)torschaft< der Photographie entscheidend auf, verlagert sie vor oder siedelt sie auf einem anderen disziplinären Feld an. Erkenntnisleitendes Interesse der Mediengeschichtsschreibung ist dabei stets die Herkunft der Photographie - die Ergebnisse erschöpfen sich entsprechend in der Ausgrabung von Vordenkern - , nicht aber die Frage, weshalb die Bemühungen um ein Verfahren, »die Bilder der Camera-Obscura [...] zu fixiren«,39 seit den 1820er Jahren so zahlreich sind. Helmut Gernsheim sammelt zwar im Bereich der Kunst artikulierte »Visionen der Photographie«,40 erfragt aber weder Motivation noch Bedingungen dieser Artikulation. Folgerichtig muß dann auch außen vor bleiben, weshalb zur Artikulation der »Visionen« bevorzugt die Felder der Literatur und der bildenden Kunst beschritten werden. Worin gründet das von Thomas Neumann zur Voraussetzung der >Erfindung< erklärte »Verlangen nach Photographie«?41

36

Ebenda, S. 178. Mit Skepsis begegnen der Konstruktion der erfundenen Photographie auch Martin Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt a.M., N e w York 1994, besonders S. 248-249, und Walter Koschatzky: Die Kunst der Photographie. Technik, Geschichte, Meisterwerke. München 1987, S. 1 4 - 1 5 , dem sich »die Bildaufzeichnung mittels lichtempfindlicher Materialien« darstellt als »das Ergebnis von Generationen vereinzelter Forscher, von Experimenten einsamer Denker, von viel Systematik auch, ebenso aber auch das von Irrwegen, Zufällen, Mißerfolgen [...]. Die Photographie ist also alles eher als ein folgerichtiges, zielbewußt erstrebtes Produkt einer geradlinigen Entwicklung« (S. 14).

" Busch (s. Anm. 3$), S. 178. 58 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1986, S.90. 59 Isenring (s. Anm. 30), S. 3. 40 Helmut Gernsheim: Geschichte der Photographie. Die ersten hundert Jahre. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1983, S. 34. 41 Thomas Neumann: Sozialgeschichte der Photographie. Neuwied, Berlin 1966, S. 58.

164

Das Zusammenspiel der Systeme Literatur und Photographie vor diesem Hintergrund (wenn überhaupt)42 als einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu beschreiben, wie Gerhard Plumpe vorschlägt, mündet zumeist in den Befund, »daß die deutsche Literatur der Zeit des Realismus der Photographie primär im Modus des Schweigens begegnet«,43 daß sie »als technische Neuerung« nur »langsam in den Verwendungszusammenhang der Literatur« 44 gelangte. Zugrunde liegt solchen Einschätzungen die Vorstellung zweier strikt voneinander getrennter und hierarchisch geordneter Größen: der photographischen Entwicklung und Praxis im Bereich des Empirischen - einseitig verstanden als Vorrangiges, als Stoff oder Motiv und der dichterisch-literarischen Praxis im Bereich des Fiktionalen ebenfalls einseitig verstanden als Sekundäres, als Medium der Aneignung und Darstellung. Die Vorstellung einer der >Erfindung< der Photographie in diesem Sinne vollständig heteronom begegnenden Literatur liegt dabei zunächst sehr nahe, denn ein in den 1840er Jahren so emphatisch begrüßtes Ereignis wie die >Entdeckung< und Popularisierung der Möglichkeit, am damaligen Verständnis gemessen schockierend perfekte Abbildungen der Wirklichkeit herzustellen, muß, so wäre zu vermuten, mit dem vermeintlich nachgeordneten Diskurssystem >ÄsthetikErfindung< der Photographie die Aufgabe der Verwirklichung des (auch und gerade im Bereich der Literatur) lange Erträumten.46

42

Jürgen Zetzsche: Die Erfindung photographischer Bilder im zeitgenössischen Erzählen. Zum Werk von U w e Johnson und Jürgen Becker. Heidelberg 1994, S. 19, schildert ausführlich die desolate Forschungslage (»daß die Beziehung zwischen Photographie und Literatur in der deutschen Literaturwissenschaft und in der Theorie zur Photographie kaum Beachtung fand«), für die er die von Käte Hamburger begründete Auffassung der »Unvereinbarkeit von photographischen Bildern und literarischen Texten« verantwortlich macht.

4

> Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus. München 1990, S. 169. 44 Zetzsche (s. Anm.42), S. 16, behandelt »Photographien [...] in literarischen Texten« als »Initiatoren des Erzählens, Anlässe zu Suche nach Vergessenem oder Verdrängtem, Auslöser von Geschichten, Gelenkstellen zwischen Vergangenheit und Erzählgegenwart« 45



(S.17); .. Wobei >Ästhetik< als Disziplin doppelt vektoriert ist: zum einen als Wahrnehmungstheorie, zum anderen als Theorie der Künste. Zur >Vorbereitung< der Photographie vgl. Peter Galassi: Before Photography. Painting and the Invention of Photography. N e w York 1981. 165

A b b . 20

Z u den >harten< empirischen Voraussetzungen (die anders als die poetischen »Visionen« nicht das Desiderat der Photographie formulieren wollen und können) gehört neben der (etwa durch Athanasius Kircher vorangetriebenen) 47 Entwicklung transportabler Camerae obscurae (Abb. 19), die die möglichst naturgetreue zeichnerische oder malerische Wiedergabe 47

Vgl. Athanasii Kirchen Ars magna lucis et umbrae, In X. Libros digesta. 2. Aufl. Amsterdam 1 6 7 1 , S. 7 1 3 - 7 1 4 .

166

etwa von Landschaften oder Stadtansichten herzustellen erlaubten48 (Abb. 20), die »Beschäftigung mit den lichtempfindlichen Silbersalzen«, zunächst »im Bannkreis alchimistischer«, im 17. Jahrhundert dann wissenschaftlicher, etwa von Johann Heinrich Schulze zur Diskussion gestellter »Deutungen«. 49 Aber auch diese Voraussetzungen sind ihrerseits nicht als monolithische Blöcke optisch-technischer oder chemischer Inspiration in der Landschaft des Fortschritts zu denken. Vielmehr handelt es sich um in der Rezeption am wirkungsmächtigsten geratene Äußerungen, um prominente >PrätexteSchlüsseldatum< 1839. Charles François Tiphaigne de la Roches bereits 1760 in Frankreich erschienener und schon im darauffolgenden Jahr ins Deutsche übersetzter Roman >Giphantie< - >oder die Erdbeschauung< (so der Untertitel der Ubersetzung) - formuliert sehr präzise ein Desiderat des Photographischen, der dauerhaften Einschreibung reflektierten Lichts in ein Speichermedium. Ausgangspunkt ist ein auf »Giphantie«, einer »Insul, welche von unzugänglichen Wüsteneyen umgeben ist«,50 situierter >Fensterblick' Ebenda, S. 91; das folgende Zitat ebenda. >2 Ebenda, S. 92; die folgenden Zitate ebenda. 53 Ebenda, S. 23. !4 Ebenda, S.92.

167

einer neuen Geschäftigkeit; meine Augen waren beständig verführet, und meine Hand konnte mich kaum überzeugen, daß ein Bild mir soweit sollte ein Blendwerk vormachen können«. Die v o m Vorsteher gegebene Erklärung der protophotographischen mimetischen Höchstleitung dieses Fenster-Bildes muß, in historischer Perspektive betrachtet, den Bereich des Wunderbaren, Magischen, Utopischen bemühen, angezeigt durch die entlegene Verortung der »den elementarischen Geistern« übergebenen »Insul [...], dahin kein Sterblicher, ohne einen mehr als menschlichen Beystand, durchkommen kann«. 55 In systematischer Hinsicht aber werden, bis hin zur >Dunkelkammerscience fiction< antizipiert: die Reflexion des Lichts, der Objektivitätsanspruch der Ablichtung und ihr Illusionierungseffekt ebenso wie die Entzeitlichungs- 56 und Fixierleistung: Die elementarischen Geister, setzte der Vorsteher weiter hinzu, sind nicht sowohlen geschickte Mahler, als vortreffliche Naturverständige, du wirst davon urtheilen, wenn du die Art ihrer Würkungen einsiehest. Du weist, daß die Stralen des Lichtes, wenn sie von verschiedenen Cörpern zurück prallen, ein Bild machen, und diese Cörper auf allen glatten netzförmigen Oberflächen, auf dem Augenhäutlein abmahlen, wie zum Exempel, auf dem Wasser, auf einem Spiegel. Die elementarischen Geister haben gesuchet, diese vergängliche Bilder veste und bleibend zu machen. Sie haben eine sehr subtile, klebrichte und zähe Materie zusammen gesetzet, die sehr geschickt ist, zu trocknen, und sich hart zu machen, vermittelst derselben ist ein Gemälde in einem Augenblick gemachet. Sie überziehen mit dieser Materie ein Stück Leinwand, und halten solches gegen die Objecte, welche sie mahlen wollen. Die erste Würkung der Leinwand ist diejenige eines Spiegels. Man siehet darauf alle nahe und entfernte Cörper, von welchen das Licht das Bild herbringen kann. Aber was der Spiegel nicht kann, das kann die Leinwand vermittelst ihres zähen und klebrichten Ueberzugs, und sie behält also die Bilder. Der Spiegel zeiget euch alle Gegenstände getreulich, aber er behält keinen; unsere Leinwände zeigen solche nicht weniger getreulich, und sie behalten sie alle. Diese Eindrückung der Bilder ist das Werk des ersten Augenblickes, worinn die Leinwand solche empfängt. Man nimmt es alsogleich weg, man stellet es an einen dunkeln Ort; eine Stunde darauf ist der Ueberzug aufgetrocknet, und ihr habt ein Bild, welches um so viel kostbarer ist, weil keine Kunst der Wahrheit so nachahmen, und keine Zeit solches Bild auf einige Weise verderben kann [...]. Die Richtigkeit der Zeichnung, die Wahrheit des Ausdrucks, den schwächern oder stärkern Auftrag der Farben, die Schattirung und Erhöhung, die Regeln des Perspectives; alles das überlassen wir der Natur. Diese präget mit dem sichern Gang, der sich allemal selbst gleich ist, auf unsere Leinwandtücher solche Bilder, welche den Augen ein Blendwerk vormachen, und die Vernunft in " Ebenda, S. 24. ,6 Daß Photographien »das Sichtbare der Vergänglichkeit zu entwinden« suchen, zeigt Busch (s. Anm. 35), S. 221. 168

Zweifel setzen, ob das, was man etwas Würkliches nennet, nicht eine andere Gattung von Gespenstern seye, welche den Augen, dem Gehör, dem Gefühl, allen Sinnen auf einmal etwas weis machet. 57

Während der Vorsteher seine Ausführungen mit einer Kritik an allzu großem Vertrauen in die Leistungen sei es isolierter, sei es konzertierter Sinnestätigkeit abschließt, transformiert das Sprecher-Ich das Illusionserlebnis in die Formulierung eines Desiderats. Er rechnet das >photographische< Verfahren den »Aufgaben« zu, »welche ich den Naturverständigen in unsern Tagen vorlegen, und die Entscheidung ihrer Scharfsinnigkeit überlassen will. Unterdessen konnte ich die Augen nicht von diesem Gemählde wegwenden [...]. Solche Bilder gelten vor würkliche Sachen«.' 8 Formulierungsbedingung solcher Entwürfe - und der de la Roches ist bei weitem kein Einzelfall 59 - ist ihre Verortung in einem nicht der Welt der Empirie zugehörigen Bereich, etwa des Wunderbaren wie im Falle de la Roches oder des Pathologischen/Phantastischen wie im Falle E.T.A. Hoffmanns. Dessen >Nachtstücke, herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier< setzen eine ganz ähnliche Konstellation ins Werk: Hinter einem entlegenen Fenster nimmt das Sprecher-Ich des >Das öde Haus< betitelten Stückes das Gesicht einer Frau wahr: Schnell kauft' ich den kleinen Spiegel, der es mir nun möglich machte, in bequemer Stellung [...] nach dem Fenster hinzuschauen [...]. Den kleinen Taschenspiegel, der mir so täuschend das anmutige Bildnis reflektiert, hatte ich zum prosaischen Hausbedarf bestimmt. Ich pflegte mir vor demselben die Halsbinde fest zu knüpfen. So geschah es, daß er mir, als ich einst dies wichtige Geschäft abtun wollte, blind schien, und ich ihn nach bekannter Methode anhauchte, um ihn dann hell zu polieren. - Alle meine Pulse stockten, mein Innerstes bebte vor wonnigem Grauen! - ja so muß ich das Gefühl nennen, das mich übermannte, als ich, so wie mein Hauch den Spiegel überlief, im bläulichen Nebel das holde Antlitz sah [...]. N u r so viel will ich sagen, daß ich unaufhörlich die Versuche mit dem Spiegel erneuerte, daß es mir oft gelang, das geliebte Bild durch meinen Hauch hervor zu rufen. 60 (N 177, 180)

Vom »tiefsten Entsetzen« über die Speicherleistung seines Mediums gepackt, sucht Theodor in Ermangelung medientechnischer Erklärungsmu57

D e la Roche (s. Anm. 50), S.92-95. >8 Ebenda, 8.95-96. 59 Auf de la Roches und auf weitere »Visionen«, »Prophezeiungen«, »Phantasien und Vorahnungen« machen Gernsheim (s. Anm. 40), S. 34-35, Erwin Koppen: Literatur und Photographie. Uber Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung. Stuttgart 1987, S. 15-29, aufmerksam. 60 E . T . A . Hoffmann: Nachtstücke herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier. In: E.T.A. Hoffmann. Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 3. Hrsg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt a.M. 1985, S.9-345, hier S. 177, 180; die folgenden Zitate werden unter Verwendung der Sigle » N « in Klammern fortlaufend im Text nachgewiesen.

169

ster die Ursachen bei sich selbst und klassifiziert sein Erlebnis als pathologisch, ja sieht sich schon »auf dem Wege zum Tollhause« (Ν 181) und eilt, kurzfristig »zur Besinnung« gebracht, »schnell zu dem Doktor K., berühmt durch seine Behandlung und Heilung der Wahnsinnigen«. Die medizinische Untersuchung bestätigt zunächst die Befürchtungen Theodors, denn die Diagnose des Arztes lautet dahin, daß Theodor »auf unerhörte Weise psychisch angegriffen« (Ν 182) sei. Die Verortung der Ursachen im Bereich des Pathologischen verschiebt sich indes in den Bereich des Phantastischen, als sich erweist, daß der Arzt zusammen mit Theodor »in den Spiegel schauend erblaßte« (N 183), weil er »ebenfalls das Bild im Spiegel sah« (N 198). Kaum anders stellt sich die mimetische Arbeit des »Kunstspiegels« dar, mit dem ein »gelehrter Jude aus Polen« in Achim von Arnims erstmals 1812 erschienener Erzählung >Isabella von Ägypten< »das Bild der schönen Bella [...] festgemalt« 61 hat. Wie sehr solche Leistungen im Bereich des Unwahrscheinlichen verortet werden, verdeutlicht ein 1841 - immerhin zwei Jahre nach der Veröffentlichung Daguerres - erschienener Artikel im >Leipziger Stadtanzeigerc »Und wenn jener Musje Daguerre in Paris [...] hundertmal behauptet, mit seiner Maschine menschliche Spiegelbilder auf Silberplatten festhalten zu können, so ist dieses hundertmal eine infame Lüge zu nennen«.62 Vor dem Hintergrund solcher prospektiven wie reflexiven Verschränkungen zweier Diskursfelder (Ästhetik und Photographie) überraschen Befunde wie der von Plumpe in mehrfacher Hinsicht: Eine Stoffgeschichte der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts fände zu einer Rubrik >Photographie< nur wenig Material vor. Beschränkte sie sich auf die sog. >hohe< Literatur, müßte sie gänzlich Fehlanzeige melden, hätte nicht Wilhelm Raabe in einer Erzählung der Figur des Photographen einige Bedeutung zugemessen.^3

Durch die der Literatur implizit zugewiesene Nachrangigkeit gegenüber dem neuen Medium bleiben (historisch-diachron betrachtet) die proto61

61

63

Achim von Arnim: Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe. Eine Erzählung. In: Achim von Arnim. Werke in sechs Bänden. Bd. 3. Hrsg. v. Renate Moering. Frankfurt a.M. 1990, 8.622-744, hier S.686, 687. Vgl. Kapitel III.3. Anonymus. In: Leipziger Stadtanzeiger 1841, zit. nach Max Dauthendey: Der Geist meines Vaters. Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert. München 1 9 1 2 , S. 62-63. Plumpe (s. Anm.43), S. 165; Plumpe bezieht sich auf Raabes 1887-88 entstandenen Roman >Der LarEffi Briests nach poetologischen Konsequenzen wird nicht gefragt. I/O

photographischen, durch die Konzentration auf das Stoffliche der >hohen< Literatur (synchron-systematisch betrachtet) die diskursiven Aspekte der Literatur unberücksichtigt bei der Taxierung des Verhältnisses der beiden Medien zueinander. Im ersten Fall wird die Vorstellung der >Erfindung< eines Mediums genährt, im zweiten Fall werden die Manifestationen des Photographischen in den impliziten Darstellungs- und Repräsentationsverfahren der Literatur64 vernachlässigt. Fragt man statt dessen in der Dimension des discours nach der Diskursverschränkung, nach der Interaktion von vermeintlich traditioneller Ästhetik und vermeintlich neuer Photographie, so öffnet sich der verengte Blick und erschließt ein Spielfeld wechselseitiger Aneignungen vor und nach 1839, das im Anschluß (exemplarisch) freigelegt werden soll. Zu den ersten, die sich ein Bild vom Verfahren und von den ersten Exponaten der Daguerréotypie machen können, zählt ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Paris: Alexander von Humboldt, dessen Brief an Carl Gustav Carus vom 25. Februar 1839 einen Hinweis gibt auf eine mit der Betrachtung von Daguerréotypien (und später freilich auch anderen Formen photographisch erzielter Wirklichkeitswiedergabe) eng verknüpfte Wahrnehmungspraxis - das intensive, durch Sehhilfen unterstützte Studium der Photographien, hier der ersten Demonstrationsexemplare Daguerres: »Ich sah eine innere Ansicht des Hofes des Louvre mit den zahllosen Basreliefs. - Il y avoit de la paille [qui] venoit de passer sur le quai. En voyez vous dans le tableau? - Non. Er gab mir eine Loupe und es zeigen sich leuchtende Strohhalme an allen Fenstern«. 6 ' »Das Vergrößerungsglas«, berichtet der Pariser Korrespondent des deutschen >KunstBlattss Eduard Kolloff, am 24. September 1839, macht den unermeßlichen Vorzug dieser von den Strahlen des Tageslichts gestochenen Kupferstiche nur noch einleuchtender; wir entdecken mit jedem Schritt immer neue, immer köstlichere Einzelheiten und unendlich viele Feinheiten und N ü anzierungen, welche dem unbewaffneten Auge in Wirklichkeit entschlüpfen. Herr Daguerre hat eine Ansicht vom Pont des Arts aufgenommen und die ganze Reihe von prächtigen Monumenten auf dem rechten Seineufer, w o der Verbindungsflügel der Tuilerien mit der Gemäldegalerie befindlich, in einen kleinen Rahmen gefaßt. Jede Linie, jede Stelle, die kleinsten Unebenheiten des Terrains und der Gebäude, die am Ufer aufgestapelten Waren, die zartesten Gegenstände, die kleinsten Kieselsteine am Rand des Flusses und die verschiedenen 64

65

Als Quellen konsultiert Plumpe nicht zufällig mehrheitlich Äußerungen zur Photographie in diskursiv-ästhetischen Abhandlungen. Alexander von Humboldt an Carl Gustav Carus, 25.2. 1839. In: Carl Gustav Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Bd. 5. Hrsg. v. Rudolph Zaunick. Leipzig, Dresden 1 9 3 1 , S. 76-79, hier S. 77.

171

Grade von Durchsichtigkeit, welche sie dem Wasser mittheilen, - Alles ist mit unglaublicher Genauigkeit und Bestimmtheit wiedergegeben. 66

Die Inspektion einer Daguerréotypie vom »Atelier« des Schweizer Landschaftsmalers und Daguerréotypisten Johann Baptist Isenring durch die Redaktion des >Bayerischen Landboten< zeigte ein Hautrelief zwischen den Büsten Homers und einer Venus, an der Seite ein aufgeschlagenes Buch, an dem wir nicht nur den Titel, Abbildungen von Altertümern und Gemälden, sondern selbst mittels einer Loupe den Text ganz vollständig lesen können, obwohl er dem unbewaffneten Auge in Gestalt kleiner Punkte erscheint. 67

Selbst enormer Vergrößerung halten Photographien stand: »Sieht man« sie »durchs Mikroskop, so entwickelt der feinste Punkt sich zu einem detaillierten Gegenstand«.68 Diese aufschlußreiche Leistung erbringt die Photographie durch ihr immenses, dem menschlichen Auge bei größeren Filmformaten um ein vielfaches überlegenes Auflösungsvermögen. Ein früher, mit dem Medium der Photographie bereits von Kindesbeinen an bestens vertrauter Interpret dieser winzige Wirklichkeitsdetails überhaupt erst visuell zugänglich machenden Leistungen der Photographie ist der fünfundvierzigjährige Max Dauthendey. Dauthendeys 1912 erschienene Erinnerungen an seinen schon früh als Photograph tätigen Vater stellen diesen als deutschen Pionier auf dem Gebiet der Daguerréotypie dar. »Die ersten Daguerreotypbilder in Deutschland« 69 sollen ihm »im Juni 1841« gelungen sein, »als die Tage am längsten waren und das Jahr seinen Lichtgipfel erklommen hatte«:70 Dauthendeys Vater erlebte [...] staunend, winzige, haarscharfe, kleine Menschenspiegelbilder vor sich zu sehen, die die Gesichter mit allen kleinsten Falten und Fältchen in entzückender Naturtreue wiedergaben. Die Bilder waren nur so groß wie gewöhnliche Visitenkarten. Darauf war der ganze Mensch wie ein Zwerglein scharf 66 67

68

69

Anonymus: Der Daguerreotyp. In: Kunst-Blatt 77 (1839), S. 305-308, hier S. 306. Der Bayerische Landbote, München, 18.3. 1840; meine Hervorhebung. Zit. nach: Erich Stenger: Die beginnende Photographie im Spiegel von Tageszeitungen und Tagebüchern. Ein Beitrag zum 100jährigen Bestehen der Lichtbildnerei 1839-1939. Würzburg-Aumühle 1940, S. 30. Hans Christian Andersen an Henriette Hanck, 24.2. 1839. In: Der Dichter und die Welt. Briefe von Hans Christian Andersen. Hrsg. v. E. von Hollander. Weimar 1 9 1 7 , S. 167-168, hier S. 168; meine Hervorhebung. Dauthendey (s. Anm. 62), S. 7 1 , schreibt diese Leistung seinem Vater zu. Zur Skepsis gegenüber den von Dauthendey geschilderten Zusammenhängen mahnt insbesondere K o p pen (s. Anm. $9), S. 1 3 1 , der Dauthendey »nachträgliche literarische Mystifizierung« vorhält. Von Interesse ist hier jedoch weniger die Faktizität des Materials als die von Dauthendey ausgemachten Implikationen photographischer Darstellung und ihrer Rezeption. Ebenda, S.75.

172

wiedergegeben. Die Kleidernähte, die Knöpfe, am Boden ein paar herabgefallene Blätter von den Apfelbäumen, der Garten mit dem Gewimmel von winzigen Blättchen hinter der aufgenommenen Person - alles das mußte man erst lernen zu sehen, denn Holzschnitte, Kupferstiche oder Gemälde, die man bis dahin als Abbilder der Welt gekannt hatte, zeigten niemals mit so zierlicher Sorgfalt die haarscharfen Linien der Baumäste. Man sah jetzt die Schlagschatten und Lichter an jedem kleinsten Laubblatt. 71 Im Unterschied zu den Zeitgenossen der Daguerréotypie erkennt Dauthendey über das Wissen hinaus, daß bisherigen, auf die Hand eines H o l z schneiders, Kupferstechers, Zeichners oder Malers angewiesenen Abbildungen der Wirklichkeit mimetisch engere Grenzen gesetzt waren, bereits eine notwendige Veränderung in der Wahrnehmungspraxis: Die Implementierung neuer visueller Wahrnehmungsweisen bleibt aber nicht nur, wie es Dauthendeys Beobachtungen betonen, auf den Bereich der Wirklichkeitswiedergabe beschränkt, sondern berührt auch den Bereich der >Alltagswahrnehmungobjektive< Wiedergabe, Enthebung aus der mit Verlust drohenden Zeitlichkeit, Verfügbarmachung winzigster Einzelheiten und damit Ö f f n u n g visuell erstmals dauerhaft zugänglicher Detailwelten - kann Michelangelo Antonionis >BlowUp< (1966) bezeichnet werden. In den Mittelpunkt des Geschehens stellt Antonioni Thomas, einen Photographen, der in einem Park auf Motivsuche für einen Bildband über London auf ein Paar (Abb. 2 1 ) aufmerksam wird. Zunächst unbeobachtet fertigt er einige Photographien an, zieht aber den überraschend heftigen Groll der Frau auf sich, als er entdeckt wird. Ihre heftige Reaktion - es kommt zu einer kurzen, nicht nur verbalen Auseinandersetzung mit dem Photographen - und das spurlose Verschwinden des Mannes nach dem Streit veranlassen Thomas, von der fluchtartig

den Schauplatz über die Rasenfläche verlassenden Frau noch

einige Aufnahmen zu machen. Nachdem er noch am selben Tag von ihr aufgesucht und um die Herausgabe des Negativfilms gebeten wird, speist er sie mit der falschen Filmspule ab, um den Film umgehend zu entwikkeln. Einer ersten mit der Lupe durchgeführten Untersuchung der N e g a tive (Abb. 22) folgt die Vergrößerung - nichts anderes bedeutet »blow up« hier - , dann die eingehende, zunächst noch ziellose Untersuchung der Photographien (Abb. 23): N o c h vor seiner Entdeckung schien das G e büsch im Hintergrund - so schließt er eine Blickachse bildend aus K ö r perhaltung und Mimik der Frau (Abb. 24) - deren Aufmerksamkeit erregt zu haben. E r forscht wiederum mit einer Lupe (Abb. 25) nach der Ursache f ü r ihre Neugier und kann den f ü r die Frau offenbar so interessanten Bereich ungefähr eingrenzen. Indem er den auf diese Weise abgezirkelten kleinen Bildausschnitt extrem vergrößert (Abb. 26), gelingt es ihm, Hin-

73

Buddemeier (s. Anm. 29), S. 78-79; vgl. auch John Berger: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Reinbek 1974, S. 18.

174

Abb. 21

A b b . 22

A b b . 23 J

75

A b b . 24

A b b . 25

A b b . 26

176

weise auf ein Gewaltverbrechen sichtbar zu machen, zunächst eine mit einem Revolver bewaffnete Hand (Abb. 27), nach der Untersuchung einer anderen Photographie auf einer an dieser vorgenommenen Ausschnittvergrößerung dann einen Leichnam (Abb. 28-31) - eine nur durch die photographische Notation mögliche Leistung. Die für Thomas' Entdekkung entscheidenden Voraussetzungen verdanken sich ausschließlich dem photographischen Zugriff auf die Wirklichkeit des englischen Parks. Erst die durch keine Intervention des Subjekts verfälschte photographische »Spurensicherung« 74 - semiologisch gesprochen liegen motivierte Zeichen vor - läßt den Schluß von der abgebildeten bewaffneten Hand und von dem abgebildeten Leichnam auf die empirische Existenz dieser beiden Bildelemente in der Wirklichkeit des Parks zu; die Entzeitlichungsarbeit der Photographie als visuelles Speichermedium erst gestattet nachträgliche und beliebig oft wiederholbare Betrachtung der abgebildeten Wirklichkeit, und erst die photographische Verfügbarmachung auch kleinster Details ermöglicht die intensive, mit der Lupe vorgenommene Untersuchung der festgehaltenen Wirklichkeit. Konsequenterweise findet Thomas bei einer sofortigen zweiten Begehung des potentiellen Tatorts an der durch die Photographie angezeigten Stelle den Begleiter der Frau tot neben einem Strauch vor (Abb. 32). So weit lassen sich die ersten knapp 80 Minuten des Films als Loblied auf die detektivisch-juridische Verwertbarkeit und semiologische Verläßlichkeit photographischer Medien (also auch des Mediums Film) lesen, eine Interpretation, deren Infragestellung die letzten Minuten von >Blow-Up< vorantreiben und mit ihr einen semiologisch-medienkritischen Impetus 75 freisetzen. Nach der Rückkehr in sein mittlerweile durchwühltes und um nahezu alle photographischen Zeugnisse erleichtertes Atelier gewinnt die Medienreflexion eine neue - entscheidende - Nuance: Die einzige zurückgelassene Photographie zeigt stark vergrößert und folglich sehr grob gekörnt den Toten (Abb. 31) und damit zwar das in einer Kette von Zeugnissen (zusammen mit der Photographie der mit dem Revolver bewaffneten Hand; Abb. 27) 74

Busch (s. Anm. 35), S. 221. Freilich unterliegt auch die Photographie subjektiven Einmischungen wie der Festlegung eines Bildausschnitts oder der Wahl der Brennweite, die Gegenstände entweder (Tele-Effekt) näher zusammenzurücken oder ihren Abstand gerade zu vergrößern (Weitwinkel-Effekt) scheint. Da die Bildinformation, der die Aufmerksamkeit hier gehört, zufällig entdeckt wird, kann sie auch nicht intentional verfälschend erzeugt worden sein.

7i

Koppen (s. Anm. 59), S. 13 5, liest >Blow up< als Beitrag zur Photographie-Debatte, erfragt aber nicht diskursgeschichtliche Zusammenhänge oder wahrnehmungsideologische Gehalte der Vergrößerungspraxis, sondern bewertet diese als »Motiv [...] der Magie der Photographie«, weil »dabei immer mehr Verborgenes zutage« (S. 136) komme.

177

Abb. 2 7

Abb. 28

Abb. 29 178

Abb. 30

Abb. 31

Abb. 32 I

79

wichtigste, ohne Kontextualisierung als entmetonymisiertes Einzelglied jedoch völlig wert- und bedeutungslose Dokument. Uber beteiligte Personen enthält es nämlich keine, über den Tatort nur spärliche Informationen: die extreme Vergrößerung ist mit einem fundamentalen Kontextverlust und einer Ent-Ortung erkauft. Ohne diesen photographisch dokumentierten, metonymisch verketteten Kontext vermag die Wirklichkeit des Verbrechens nicht mehr in ausreichend zuverlässig vorgezeichneten Bahnen (re-)konstruiert und der Tatort nicht mehr identifiziert zu werden, womit die Photographie zwar nicht ihren Authentizitätscharakter, aber doch ihre Beweiskraft einbüßt. Herausgebracht ist ein ganz wesentliches Defizit photographischer Weltbegegnung und -auswertung. Das einzelne photographisch hergestellte Zeugnis kann kontextentfremdet nur ein sehr ungewisses Bild von der Welt vermitteln, wie Thomas' weiteres Vorgehen deutlich werden läßt. Um sich seiner Wahrnehmung und Interpretation neuerlich zu versichern und sie wiederum (diesmal planmäßig) photographisch festzuhalten, begeht er den Tatort ein weiteres Mal und findet nun, in der empirischen Wirklichkeit, nicht die leiseste Spur eines Verbrechens mehr vor. Ohne Beglaubigung in der Empirie (etwa durch Zeugen, die Leiche oder wenigstens Spuren davon) muß er den Beweis für die Authentizität seiner Entdeckung bei jedem Mitteilungsversuch schuldig bleiben, er ist zurückgeworfen in die Hermetik eines ganz privaten und daher fragilen Wissens. Die Ambivalenz und Bedenklichkeit der in den 1840er Jahren so gefeierten Eigenschaften photographischer Weltaneignung und -wiedergäbe - ihr Objektivitätsanspruch, ihre Entzeitlichungsarbeit und ihre archivarische76 sowie detailerschließende Verfügbarmachung der abgelichteten Wirklichkeit - werden semiologisch decouvriert. Als zur (Re-)Konstruktionsarbeit unerläßliches Speichermedium ist die Photographie nur dann noch geeignet, wenn sie Daten in einer Fülle und Verläßlichkeit bereithält, die zwingende Schlüsse auf ein Gesamt zulassen. Der einzelne photographisch fixierte Wirklichkeitsausschnitt liefert lediglich subjektiver Erinnerungsarbeit eine Grundlage - sie aber kann auf soziale Beglaubigung nur als >Erzählung< mit ungewissem ontologischen Status rechnen. Mit der Ermöglichung eines ausgiebigen analytischen Zugriffs auf die mit dem Anspruch bisher unerreichter mimetischer Objektivität abgelichtete und gespeicherte (d.h. der Zeit enthobene) Wirklichkeit etabliert die Technik der Photographie eine neue Praxis visueller Weltbegegnung, 76

Diesen Aspekt hat z.B. Hubertus von Amelunxen: Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot. Berlin 1988, S. 39-50, betont.

180

eine Entwicklung, die im Sprachgebrauch früher Photographie-Rezipienten als >Sehen LernenZuschauers< oder >BeobachtersSehpunkt< das Objekt prüft«. 8 ' Diese Prüfung der primordialen Wirklichkeit geschieht im 18. Jahrhundert vorzugsweise unter dem Mikroskop oder unter Zuhilfenahme eines Teleskops oder Perspektivs (musterhaft inszeniert von Jean Pauls Luftschiffer Giannozzo, der »über ein Dutzend Marktflecken und ein halbes kleiner Städte wegging, und durch [sjeinen gläsernen Fußboden und [s]ein englisches Kriegsperspektiv herunterguckte in die Gärten und Gassen«), 82 unter den Bedingungen der Photo77

So z.B. Humboldt (s. Anm. 65) und Dauthendey (s. Anm. 62). Busch (s. Anm. 35), S. 217; analog Buddemeier (s. Anm. 29), S.70. 79 Busch (s. Anm. 3 j), S. 210. 80 Buddemeier (s. Anm. 29), S. 78-79. 81 August Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus. Jena 1934. Nachdruck, Darmstadt 1968, S. 12. 82 Jean Paul: Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch. In: Jean Paul's sämmtliche Werke. Bd. 17. Berlin 1841, S. 1 1 1 - 2 1 8 , hier S. 120. 78

181

graphie mit Hilfe der Lupe, worin wahrnehmungsstrukturell ein nur marginaler Unterschied besteht. Um die Funktionsweise von Erdteleskopen (Refraktoren) erläutern zu können, empfiehlt der Physiker Johann Joseph Prechtl 1828 nämlich »folgenden Versuch«: Man nehme eine Glaslinse [...] und stelle sie vor eine dem Fenster eines Zimmers gegenüberliegende Wand, während die außer dem Fenster befindlichen Gegenstände durch die Sonne beleuchtet werden. Durch die Linse wird von diesen äußern Gegenständen nun ein kleines Bild, gleich einem Gemälde, auf der Wand entworfen. N u n nehme man ein gewöhnliches Vergrößerungsglas (eine Loupe), und betrachte dieses Bild [...] damit; so sieht man nun dieses Bild vergrößert, und so, als wenn der wirkliche Gegenstand den Augen wäre näher gerückt worden. 83

Aufklärerischer Ferndiagnose und Rahmenschau sowie der diesen Wahrnehmungspraktiken inhärenten Ideologie (Distanzierung, Konzentration, Begrenzung, Verdinglichung)84 verpflichtet, unterstreicht die Photographie leichthin ihren Anspruch, auf dem Feld der Ästhetik im Sinne einer Theorie der Wahrnehmung (rezeptionsästhetischer Aspekt) angesiedelt zu werden. Weitaus komplizierter verlief die Selbstbehauptung der Photographie auf dem Feld der im Sinne einer Theorie der schönen Künste verstandenen Ästhetik (werk- und produktionsästhetischer Aspekt). So zahlreich und emphatisch die Begeisterungsäußerungen über die genannten Leistungen der Photographie (Zeitenthebung, Verfügbarmachung, Mimesisleistung) auch waren und wie sehr das >neue< Medium auch den sich etablierenden »Geist des herrschenden Positivismus« 8 ' getroffen oder sogar gefördert haben mag, schon zu Beginn der 1840er Jahre wurden Stimmen laut, die der Photographie jeden Anspruch auf Kunstcharakter bestritten. Sehr überzeugend hat Plumpe Ursachen und Argumentationsweisen dieser Haltung dargelegt: die wesentlichen (diskursanalytisch gesehen verschlüsselten) Argumente lauteten dahin, photographischen Abbildungen Mangel an Lebendigkeit anzulasten und daher ihre mimetische Höchstleistung, ihre Fähigkeit zu »exakter mathematischer Wiedergabe«,86 unter Rekurs auf eine idealistische Argumentation ins Gegenteil verkehrt mit den Stigmata des >TotenUnwahrenGeistlosen< und >Unindividuellen
Buddemeier (s. Anm. 29), S. 80. 86 Ebenda, S. 70.

182

versehen zu können: 87 »Ein Antlitz, durch Heliographie wiederholt, behält«, so bemängelt der Popularästhetiker Friedrich Thiersch, »ungeachtet aller mikroskopischen Genauigkeit und Treue den Charakter des Todten und Leblosen; es fehlt ihm der frische Hauch menschlichen Lebens, von dem es durchdrungen seyn muß, um zu erregen und Teilnahme zu erwecken«. 88 Auf der Suche nach dem Kunstcharakter des Photographischen ist es vor allem der vermeintliche Mangel an Ideellem, dessen Walten von der Darstellung verlangt wird. Photographien erbringen keine Verknüpfungsleistung - so lautet der gängige V o r w u r f - , sondern sind mechanische, vom Licht erbrachte Einschreibungen in eine handwerklich arbeitende und zu bedienende optische, technische und chemische Anordnung: was »der zeichnende Sonnenstrahl auf der jodierten Silberplatte im Nu fertig bringt«, wird »als eine geistlos treue Wiederholung der wirklichen Welt«8? klassifiziert. Talbot erinnert sich 1839 an erste photographische Versuche. >Verräterisch< ist seine Formulierung, die das das Licht reflektierende photographierte >Objekt< (durchaus zutreffend) zum >Subjekt< des Einschreibevorgangs erklärt: »Auf diese Weise machte ich den Sommer 1835 mehrere Bilder meines Wohnhauses auf dem Lande [...]. Dieses Haus ist, wie ich annehme, das erste, von dem man sagen kann, daß es sein eigenes Bild gezeichnet habe«90 - eine Anordnung, die den Künstler seiner Funktion weitgehend beraubt. Und bereits 1841 kann man im >Intelligenzblatt der Stadt Bern< das lange gültige, an solchem >Mangel< entzündete Credo der Photographie-Kritiker lesen: »Geist und Leben werden diesem rein mechanischen Vorgange immer unerreichbar bleiben, er wird das schöpferische Nachbilden des Malers niemals ersetzen können«.91 Gerade der ganz individuellen Verknüpfungsleistung wird in den leitenden, deutlich noch dem Geniekonzept verpflichteten, produktionsästhetisch begründeten Vorstellungen dessen, was Kunst sei, die ausschlaggebende Rolle zugewiesen, und an dieser Verknüpfung mangle es der Photographie notwendig. Was dem Maler Ludwig Richter während eines Aufenthalts in Rom von 1824 bis 1825 widerfährt, legt diesen Zusammenhang frei: Er machte die 87

Vgl. Plumpe (s. Anm.43), S.44. Friedrich Thiersch: Allgemeine Ästhetik in akademischen Lehrvorträgen. Berlin 1846, S. 70. 8 ' J o s e f Bayer: Ästhetik in Umrissen. Zur allgemeinen philosophischen Orientierung auf dem Gebiete der Kunst. Bd. i. Prag 1856, S. 145. 90 Zit. nach Wolfgang Baier: Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie. Halle 1964, S.85. ' ' Anonymus: Portraitfabrik zu London durch das Daguerreotyp. In: Intelligenzblatt der Stadt Bern, 1 0 . 1 1 . 1841. 88

183

»Erfahrung, daß ein Jeder die Natur anders ansieht oder vielmehr anders reproducirt«, 92 als er und drei ihn begleitende Maler, »bemüht, den Gegenstand möglichst objectiv, treu wie im Spiegel, wiederzugeben«, 93 je eine Ansicht »der großen Cascade des Anio« verfertigten. Wir saßen [...] eng nebeneinander, der großen Cascade des Anio gegenüber, und malten von diesem Standpunkt ein und dieselbe Partie. Jeder befleißigte sich der möglichsten Treue in der Wiedergabe des Gegenstandes, und deshalb war ich nicht wenig überrascht, als ich, am Schluß der Arbeit aufgestanden, die vier vor mir liegenden Bilder überblicken konnte und sie so abweichend von einander fand [...]. Ich merkte, daß unsere Augenpaare wohl das Gleiche gesehen, aber das Gesehene in eines Jeden Innerem je nach seiner Individualität sich umgestaltet hatte.

A m Ende liegen Richter nicht etwa vier übereinstimmende Wiedergaben der Landschaft vor, sondern vier ganz unterschiedliche »Bilder«: in der Stimmung, in Farbe, im Charakter der Contur war bei Jedem etwas Anderes hereingekommen, eine leise Unwandlung zu spüren [...]. A m stärksten trat es bei einem Melancholicus hervor. Bei ihm waren die bewegten Umrisse der Busch- und Felsmassen ruhiger und geradliniger, die heitere Farbe der goldig bräunlichen Felsen bleicher und trüber geworden; dagegen machte sich ein nächtliches Violett in den Schatten sehr geltend, welche in der Natur doch so klar und farbig erschienen, 94

während sein »eigenes Opus zwar unsicher, tastend, suchend, nachfühlend, aber gegen die drei anderen am objektivsten und treuesten erschien«.95 Das photographische Pendant zu diesem Effekt wäre weit weniger überraschend ausgefallen, denn unter jeweils gleichen Voraussetzungen (Zeit, Kamera, Optik, Standort, Lichtverhältnisse, Filmmaterial und Motiv) wäre es für vier Photographen weitaus schwieriger gewesen, in der Bildgestaltung Refugien des Individuellen zu besetzen. Gerade das aber erklärt Richter in Ubereinstimmung mit der >Kunstdoxa< des 19. Jahrhunderts zum Merkmal von Kunst, indem er aus seinem Erlebnis schließt, »daß die Kunst nur der beseelte Wiederschein der Natur aus dem Spiegel der Seele sei«. Zugrunde liegt den die Photographie als >Unkunst< behandelnden Einschätzungen eine Form diskursherrschaftlicher Tyrannei: Wenn, wie es die >Doxa< des ästhetischen Diskurses will, Kunst an die Subjektivität ihrer Hervorbringung konstitutiv gebunden ist, dann kann die Photogra91

Ludwig Richter. Lebenserinnerungen eines deutschen Malers. Selbstbiographie nebst Tagebuchniederschriften und Briefen. Hrsg. v. Heinrich Richter. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1887, S.160. " Dieses und die folgenden Zitate ebenda, S. 159. 94 Ebenda, S. 159-160. 95 Dieses und das folgende Zitat ebenda, S. 160.

184

phie Kunstcharakter nur erlangen, wenn ihr Verfahren Individualisierung zuläßt, wenn also das künstlerische Subjekt den technischen Apparat seiner kreativen Intention zu unterwerfen vermag.96 Auf der Grundlage der den Kunstanspruch der Photographie dementierenden Argumentationen gelingt es Plumpe, »den faktischen Diskurs der Photographen als Ergebnis eines kulturellen Zwanges zu entziffern«.' 7 Die Zwangssystemen eigene Dialektik aber verortet die f ü r diesen Z w a n g Verantwortlichen nicht auf der Seite des herrschenden Diskurses allein, vielmehr ist die Verantwortung f ü r die Abwertung photographischer Hervorbringungen auch (und vielleicht gerade) auf der Seite der Photographen zu suchen. Anstatt nämlich ihren ganz spezifischen, etwa im Bereich der Imitatio-Debatte zu verortenden Kunstanspruch zu begründen, haben sie sich in die geläufigen Argumentationsschemata des Ästhetischen eingefügt und zu deren Stabilisierung beigetragen. Das Individuelle hat man produktionsästhetisch in der Festlegung von Bildausschnitten gesucht, den photographischen Apparat dem Pinsel oder Stichel des Malers oder Kupferstechers vergleichen wollen, den »Mangel an Leben«' 8 mit Weichzeichnereffekten oder mit der Wahl von Maler-Leinwand als Filmmaterial ausgeglichen und schließlich nach dem Vorbild der zeitgenössischen Szenenmalerei abgelichtete Arrangements" (tableaux vivants) zu photographischen Kunstprodukten erklärt: »von kunsthistorischer Seite ist [...] dargelegt worden, daß die Bildsemantik der >Kunstphotographie< im 19. Jahrhundert zeitgenössische Tendenzen der Malerei aufgenommen und in den meisten Fällen unmittelbar zu imitieren versucht hat«. 100 D e m >Mangel< an Lebendigkeit und Individualität widmen sich ganz offensichtlich Überlegungen des Schweizer Malers, Kupferstechers und Daguerréotypisten Isenring, denn er beginnt bereits 1840 mit retuschierenden Eingriffen in Portrait-Daguerréotypien. Infolge anfangs erforderlicher, f ü r die Portraitierten peinigend langer Belichtungszeiten von bis zu zehn Minuten hatten die blinzelnden Augen, besonders aber die Pupillen, befremdende, die unerwünschte photographische Faktur bewußt haltende Spuren der Verwischung auf den Platten hinterlassen, die Isenring durch manuelle Eingriffe auf der Bildoberfläche zu retuschieren verstand.

97 98

99

100

Plumpe (s. Anm.43), S.49. Ebenda, S. 127. Adalbert Stifter an Gustav Heckenast, 20. Juli 1857. In: Adalbert Stifters Sämmtliche Werke. Bd. 19. Hrsg. v. Gustav Wilhelm. Prag, Reichenberg 1923, S. 32-42, hier S. 35. Vgl. Erika Billeter: Malerei und Photographie im Dialog von 1840 bis heute. Zürich, Bern 1977, S. 200-219; v gl· auch Helmut Gernsheim: Die Fotografie. In Zusammenarbeit mit Alison Gernsheim. Wien, München, Zürich 1971, S. 1 6 1 - 1 6 7 . Plumpe (s. Anm.43), S. 144· 185

E r beseitigte »das Verwaschene dieser Portraite«, indem »er das G l ä n z e n de des A u g e s durch Bloßlegen oder R i z e n der Silberplatte an der entsprechenden Stelle darstellte«. 1 0 1 Bald erweiterte Isenring das A u s m a ß der E i n g r i f f e und begann mit farbiger Ausgestaltung der Bilder. I m Katalog zu seiner »photographischen Kunstausstellung« 1 0 2 v o n 1840 kündigt er an, durch die Zuthat seiner Erfindung zur Lösung der höchst schwierigen Frage, ob und wie das kalte, todte und starre, weil durch Natur-Nothwendigkeit entstandene photographische Typenprodukt des Einwirkens der freithätigen Kunst irgendwie fähig sei und durch deren Nachhülfe zu einem wirklich schönen, künstlerischen Ganzen umgestaltet werden könne, nicht Unwesentliches beigetragen zu haben. Seine Porträts sind - er darf es ohne Unbescheidenheit bemerken - nicht mehr blos kalte Reflexe des Objektivglases der Camera-Obscura, die Augen derselben sind nicht geschlossen oder verwischt, sondern offen, der Stern mit der Pupille distinct und heiter, die Bilder haben überhaupt Färbung und Leben und nähern sich in Ton und Effekt den Gemälden. Nachdem ihm die Nachbildung lebender Personen auf photographischem Wege gelungen, wagte der Unterzeichnete noch einen Schritt weiter. Er versuchte seinen photographischen Porträts auf mechanischem Wege Färbung zu geben. Wieweit derselbe es in solchem Koloriren der Lichtbilder - wenn man das Anduften derselben mit Farbe so nennen kann - gebracht hat, davon möge das Publikum sich selbst durch Anschauung überzeugen.103 V o m P u b l i k u m in St. Gallen, Bern, Zürich, München, A u g s b u r g und Stuttgart erhält er gute N o t e n : Das Bild ist nicht, wie man vermuthen sollte, frostig und tonlos, - ein kalter, todter Reflex dessen, was die Natur durch das Objektiv auf der Silberplatte zurückgelassen hat, - das Lichtbild, wir übertreiben nicht, ist unter der Hand des Künstlers, der durch eine kaum bemerkbare Nachhülfe die Spontaneität (Freithätigkeit) der Kunst in das starre, naturnothwendige Typenprodukt zu bringen wußte, ein wahres Gemälde geworden.104 G e g e n ü b e r der ästhetischen >Doxa< z w a r affirmativ, aber doch sehr erfolgreich, w e r d e n die mit » C o l o r i r u n g des Fleisches, des Haares und der G e wänder« aufwartenden P r o d u k t e Isenrings - hier in der >Bayerischen N a tional-Zeitung< - rezipiert, »als wären sie mit dem Stift hin auf das Papier

" " Anonymus: Ueber die neuere Verbesserung des Daguerreotyps, und die Anwendung desselben zum Portraitieren lebender Personen. In: Polytechnisches Journal 80 (1841), S. 229-232, hier S. 229. 102 Isenring (s. Anm. 30), S. 7. ,0 3 Ebenda, S.5. 104 Anonymus: Die Isenring'schen Lichtbilder. In: St. Galler Zeitung, 1.8. 1840; zit. nach: Erich Stenger: Der Daguerreotypist J . B . Isenring. Seine Verdienste um Einführung und Ausgestaltung der Daguerreotypie 1839-1842. Berlin 1 9 3 1 , S.7-8.

186

gezaubert worden. Aber welcher Stift, welche Menschenhand könnte so zeichnen«! 10 '

3. »Bunte Steine« und »wundersames Weben« poetischer Realismus auf dem medialen Prüfstand »O, es ist wahrlich nicht das, was mich am meisten fesselt und hinreißt, was ich auf das Papier festbannen kann; - ein ganz anderer Maler müßte ich sein, um das zu vermögen« (19). Nicht ein vom nur bescheidenen Erfolgen erster Kolorierungsversuche enttäuschter Isenring klagt hier, sondern Raabes Chronist Johannes Wachholder, wenngleich das Versprechen, »hübschen, farbigen, zierlich ausgeschnittenen Heiligenbildchen [...] ähnliche Blätter einflechten und durch die eintönigen, farblosen Aufzeichnungen meiner alten Tage frischere, blütenvollere Ranken schlingen« zu wollen, sich durchaus dem Sprachgebrauch der an der Kolorierung experimentierenden Photographie-Pioniere zuordnen ließe. Terminologisch bewegt sich der Streit um den Kunstanspruch der Photographie nämlich auf demselben Terrain wie Wachholder. Hier wie dort sind die Oppositionspaare >farblos/farbigeintönig/bunt< >leblos/belebt< beherrschend. In der Kunstdebatte antwortet auf den gegen die Photographie gerichteten Vorwurf, färb- und leblose Wiederholungen zu liefern, die Praxis des Retuschierens und Kolorierens - »die Bilder« erhalten derart »überhaupt Färbung und Leben«. 106 Der Gefahr, bloß »eintönige, farblose Aufzeichnungen« aneinanderzureihen, setzt Wachholder das Einflechten »frischerer, blütenvollerer Ranken« (15) vorbeugend entgegen. Beiden, Chroniken wie Photographien, wird eine hoch mimetisch-authentische, trotz der subjektiven Fluchtpunkte (Auswahl, Perspektive) gerne objektiv genannte Dokumentationsleistung bescheinigt, beide sind als Speichermedien memorativ tätig und machen das Gespeicherte analytischen Zugriffen verfügbar. Wachholders Chronik öffnet sich wie die photographische Praxis einem beiden vermeintlich ungemäßen Diskurs des Ästhetischen, im Falle der Photographie vertreten durch ihren Kunstanspruch und durch die Praxis belebenden Kolorierens, im Falle der >Chronik der Sperlingsgasse< durch das Farbe und Leben verbürgende, die Chronik zusammenhaltende Projekt »Traum- und Bilderbuch der Sperlingsgasse«

105

106

Bayerische National-Zeitung, München, 1 1 . 1 0 . 1840; zit. nach Stenger (s. Anm. 104), S. 10, 9. Isenring (s. Anm. 30), S. 5.

187

(i8). Diese zwischen Raabes >Chronik< und den frühen Zeugnissen und Praktiken der Photographie auszumachenden terminologischen und produktionsästhetischen Ubereinstimmungen legen die Vermutung nahe, daß man in Wachholders Projekt auf Spuren der Photographie stoßen könnte. Als Stoff oder Motiv sucht man in der >Chronik< trotz eines wahren Medienspektakels - genannt werden »Brille« (18 u.ö.), »Fernglas« (18 u.ö.), »Fernrohr« (71), »Laterna magica« (19), »Lupe« (81), »Operngukker« (18) und »Spiegel« (128 u.ö.) - jedoch vergeblich nach der Photographie und hätte, machte man sich eine motivgeschichtliche Herangehensweise zueigen, 107 aus diesem Negativbefund auf eine vollständig abstinente Haltung des Textes gegenüber dem >neuen< Medium zu schließen. Wie aber lassen sich dann diese Affinitäten erklären? Die Frage nach Charakter und Movens der Berührung oder Zusammenarbeit dieser beiden Medien-Diskurse drängt sich auf, um so mehr, als sich die Berührungspunkte von Photographie und >Chronik der Sperlingsgasse< nicht auf den Aspekt der Farbigkeit und Lebendigkeit bildlicher Darstellung beschränken. Sowohl im Sprachgebrauch beider Medien wie auch hinsichtlich ihres Darstellungs- und impliziten Rezeptionsprogramms finden sich Affinitäten, deren Ursachen es zu klären gilt. Von einer Raabes >Chronik< vergleichbaren Situation geht Heinrich Heines im Oktober 1854, 108 also im Jahr von Raabes auf November datierter »Federansetzung« unter dem Titel >Lutezia< erschienene Sammlung journalistischer Berichte aus, die im vorangestellten »Zueignungsbrief. An Seine Durchlaucht, den Fürsten Pückler-Muskau«, umrissen wird. Wie Wachholder »durch die eintönigen, farblosen Aufzeichnungen [sjeiner alten Tage frischere, blütenvollere Ranken schlingen« (15) will, so »verwob« 109 Heine, »um die betrübsamen Berichterstattungen zu erheitern«, diese »mit Schilderungen aus dem Gebiete der Kunst und der Wissenschaft, aus den Tanzsälen der guten und der schlechten Societät«. Im Unterschied zur >Chronik der Sperlingsgasse< verbindet der Zueignungsbrief den literarischen Diskurs mit dem photographischen aber explizit, 107

So etwa Koppen (s. Anm. 59), S. 37: »Es gibt praktisch keine große technische Erfindung oder wissenschaftliche Entwicklung, die von den Autoren sofort in ihrer Bedeutung erkannt oder gar literarisch thematisiert worden wäre«. Zugrunde liegt die Vorstellung einer nur explizit und vom Autor bewußt vorgenommenen Aneignung photographischer Darstellungsmodi u.a. 108 Der Kommentar zu Heinrich Heine: Lutezia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. In: Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 1 3 , 1 . Hrsg. v. Volkmar Hansen. Düsseldorf 1988,8.468, nennt »den 1 1 . Oktober 1854« als »Ausgabetag der drei Bände«. ,0 » Ebenda, S.18. 188

und zwar, indem die Daguerréotypie als Metapher des treu wiedergegebenen »Bildes der Zeit in seinen kleinsten Nüanzen« 110 gebraucht wird: Ein ehrliches Daguerreotyp muß eine Fliege eben so gut wie das stolzeste Pferd treu wiedergeben, und meine Berichte sind ein daguerreotypisches Geschichtsbuch, worin jeder Tag sich selber abkonterfeite, und durch die Zusammenstellung solcher Bilder hat der ordnende Geist des Künstlers ein Werk geliefert, worin das Dargestellte seine Treue authentisch durch sich selbst dokumentirt. Mein Buch ist daher zugleich ein Produkt der Natur und der Kunst, und während es jetzt vielleicht den populären Bedürfnissen der Lesewelt genügt, kann es auf jeden Fall dem späteren Historiographen als eine Geschichtsquelle dienen, die, wie gesagt, die Bürgschaft ihrer Tageswahrheit in sich trägt. 1 1 1

Die durch >Flechtarbeit< gewonnene ansprechendere Gestaltung wird aber in beiden Fällen mit einem Authentizitätsverlust erkauft. Wachholder muß sich den Vorwurf seines fiktionalen Kommentators Strobel gefallen lassen, »Traum und Historie, Vergangenheit und Gegenwart zu toll durcheinander« gehen zu lassen, Heine den Vorwurf seines empirischen Kommentators Volkmar Hansen: Mit dem Rekurs auf die Daguerréotypie, benutze er »eine zur Mode gewordene technische Erfindung, um den historiographischen Anspruch des Paris-Buchs zu unterstreichen [...]. Der Anspruch Heines an seine Berichte, authentische Dokumente zu sein, trifft durch seine Retuschen nur begrenzt zu«. 112 Die von Heine (und von vielen anderen) praktizierte metaphorische Terminologie-Verwertung, die Aneignung der Sprache der Photographie durch den ästhetischen Diskurs - bis in die Buchtitel dringen Daguerréotypie und Photographie, vor allem in den 1840er, joerund 60er Jahren, vor 1 ' 3 - , stellt nur einen gangbaren Weg begrifflicher Engführung von Photographie und Literatur dar. Bewegt sich nämlich der photographische Diskurs - durchaus naheliegend - terminologisch auf dem Feld des Literarisch-Ästhetischen, etwa

Ebenda, S. 19. Ebenda. 1.2 Heine (s. Anm. 108), S. 624. Zu weiteren Adaptionen der Daguerréotypie bei Heine vgl. Siegbert Prawer: Heine and the Photographers. In: German Life and Letters 34 (1980), S. 64-73. " 3 K . L . Hencke [d.i. Friedrich Hermann Klencke]: Daguerreotypen und Chaussee-Gestalten. Leipzig 1841; Friedrich Wilhelm Hackländer: Daguerreotypen. Aufgenommen während einer Reise in den Orient in den Jahren 1840 und 1 8 4 1 . 2 ß d e . Stuttgart 1842; Andreas Haupt: Daguerreotypen der Zeit. Dichtungen. Bamberg 1845; Theodor König: Paul Werner. Ein Daguerreotyp. Leipzig o.J.; Hans Wachenhusen: Berliner Photographien. Berlin o.J. Auf diese und weitere Titel macht Plumpe (s. Anm.43), S. 1 7 7 - 1 8 6 , aufmerksam. »In Texten wie diesen sucht man eine Bezugnahme auf Darstellungsmöglichkeiten und Bildeigentümlichkeiten des Mediums Photographie vergebens«, sie zeugen, so Plumpe (s. Anm.43), S. 177, vielmehr vom »Versuch einer modischen Teilhabe«. 1.1

189

wenn die Photographie zur »Sonnenmalerei«,"4 der »zeichnende Sonnenstrahl«1'5 zum Kunst schaffenden >Autorsubjekt< gerät, so verläuft die Aneignungsbewegung genau in die entgegengesetzte Richtung. Beschreitet die >Chronik der Sperlingsgasse< diesen Weg, obwohl sie sich »einer modischen Teilhabe«"6 am Sprachschatz der Photographie doch so konsequent enthält? Mehrfach 1 ' 7 rückt Wachholder das in der Sperlingsgasse waltende Licht, sei es von Lampen, sei es von der Sonne oder vom Mond, in diese (im strengen Sinne des Wortes) >photo-graphische< Position des Autorsubjekts ein, etwa wenn er, möglicherweise orientiert an Hans Christian Andersens >Bilderbuch ohne BilderChronik der Sperlingsgasse< entscheidende Demarkationslinie ein: Für »Unberufene« wie Strobel, den in der Erstausgabe von 1856/57 noch aufgeführten fiktiven Herausgeber »Jakob Corvinus«' 57 und, mehr noch, den empirischen Leser, tritt - so hat es den Anschein - statt des umfassenden Integrationshorizonts lediglich die Faktur in den Vordergrund. Er »flicht gern allerhand Zitate ein«, 138 beschreibt Hermann Anders Krüger zutreffend Wachholders eklektizistische Schreib- und Redeweise und bestimmt ihn damit keineswegs als Sonderling: »Zwischen 1780 und der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde es zu einer regelrechten Mode, zusätzliche Abbildungen in Bücher einzufügen«. Visuelle Annotation, das »Einlegen, Einkleben, Einbinden« von Stichen, Miniaturen, Handschriften u.ä. wurde zur weit verbreiteten »Amateurtätigkeit«, 139 und zwar nicht nur, um repräsentative und wertvolle Unikate zu produzieren, sondern auch um einzelne sachlich zusammengehörige »Blätter vor ihrer Zerstreuung zu bewahren«. 140 Als »Grangerizing« ist diese Neuordnungspraxis, benannt nach ihrem bevorzugten >OpferBiographical History of England^ 141 europaweit in die Bibliophilieterminologie des 19. Jahrhunderts eingegangen. Wachholders Arbeit an der Chronik, als Flechtwerk, als bricolage gekennzeichnet, läßt sich dieser • ' S »Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Menschheit, und die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte - Gottes! Wohin führt uns das?« (92). 1)6 Die Kontingenz kann freilich nur ästhetisch inszeniert sein. 137 Vgl. Die Chronik der Sperlingsgasse (s. Anra. 24). 158 Herrn. Anders Krüger: Der junge Raabe. Jugendjahre und Erstlingswerke. Nebst einer Bibliographie der Werke Raabes und der Raabeliteratur. Leipzig 1 9 1 1 , S. 84. 139 Uta Kornmeier: Aus einem Buch viele Bücher machen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.10. 1998, S. N6. 140 G . A . E . Bogeng: Einführung in die Bibliophilie. Leipzig 1 9 3 1 . Nachdruck, Hildesheim 1968, S. 202. 141 James Granger: Biographical History of England, from Egbert the Great to the Revolution, consisting of Characters dispersed in different Classes, and adapted to a Methodical Catalogue of Engraved British Heads. Intended as an Essay towards reducing our Biography to System, and a help to the knowledge of Portraits; with a variety of Anecdotes and Memoirs of a great number of persons not to be found in any other Biographical Work. With a Preface, showing the utility of a collection of Engraved Portraits to supply the defect, and answer the various purposes of Medals. 2 Bde. London 1769. 198

Tradition unschwer zuordnen. Das metaphorische Feld des Flechtens steht aber im krassen Widerspruch zur Metaphorik der Strobelschen Kritik, lassen sich doch »toll durcheinander« liegende »Steine« nur schwer als Fäden, geschweige denn gar als Geflecht präsentieren. Als zusammenhaltende, zu »Fäden«, »Ranken« oder Strängen ordnende Instanzen bestimmt Wachholder zunächst zwei Sammelpunkte: einen lokalen, die Sperlingsgasse - »wie die Fäden laufen mußten, um hier in der armen Gasse sich zusammenzuschürzen zu einem neuen Bunde« (169) - , und einen personalen, seinen eigenen Wahrnehmungshorizont - »was mir die Vergangenheit gebracht hat, was mir die Gegenwart gibt, will ich hier, in hübsche Rahmen gefaßt, zusammenheften« (15). Erst in diesen Integrationsperspektiven lassen sich die Bauelemente zu »Fäden« und »Ranken« verbinden, bevor sie flechtender Weiterverarbeitung zur Verfügung stehen. Aus diesem textilen Verfahren macht Wachholder kein Geheimnis: »Ranken schlingen«, »Blätter einflechten« (15), »Fäden schlingen« (104 u.ö.) und »anknüpfen« (25) bestimmt die fast permanent zur Sprache gebrachte Kompositionspraxis, ja selbst im nicht-metaphorischen Sprachgebrauch wird die Faktur betont, etwa wenn Strobel »die Nadel einfädelte, mit welcher« Wachholder »das Dokument der Chronik anheften wollte« (122) und somit textilen und textuellen Diskurs >zusammennäht S. 97-206, besonders S. 1 4 1 - 1 6 6 , hier S. 1 5 1 - 1 5 2 ; vgl. auch Evald Lidén: Baumnamen und Verwandtes. In: Indogermanische Forschungen 18 (1905/06), S.485-509, hier S.494; und O. Knoop: Der Wacholder. Die Verwendung des Strauches und des Holzes. In: Blätter für pommersche Volkskunde 4 (1895), Nr. 1, S.69-70.

200

Wachholders Projekt, jeweils abhängig von der gewählten Perspektive, als »eine lose Folge reizender und rührender poetischer Bilder, welche noch zu keinem Kunstwerke sich zusammenfügen konnten und wollten«, 146 wie Raabes Zeitgenosse Hans von Wolzogen meint (Position des nur »Steine« vorfindenden »Unberufenen« Strobel), oder aber es »reiht sich Bild an Bild« 147 zu einem Erzählstrang, wie Fehse (mit Wachholder übereinstimmend) vorschlägt. Während eine »lose Folge« (meine Hervorhebung) »toll durcheinander« gewürfelter Bilder nach keinem Prinzip >geordnet< erscheint, folgt eine >Reihe< von Bildern, »ein Bild das andere nachziehend« (75), dem verknüpfenden Prinzip der Kontiguität. Das >Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm< führt unter dem Verbum »reihen« ein im Sprachgebrauch eminent an Wachholders Beschreibung seines Verfahrens erinnerndes semantisches Feld auf: »durch etwas zusammenhaltendes verbinden, z.b. durch einen faden, streifen oder dergl. auf einen faden ziehen, mit einem faden durchnähen, zusammenschnüren, flechten, einflechten«. 148 Treffender allerdings als mit Wachholders eigener Memoria-Metapher könnte das nur bei >Berufenen< greifende Verfahren kaum beschrieben werden: »Ein Bild nach dem anderen zieht wie in einer Laterna magica an mir vorbei« (19). Wachholders Memoria-Arbeit wird als Sequenz zusammenhängender, zu einer sinnvollen Geschichte sich fügender Bildvorstellungen lesbar, führt den Erinnerungsvorgang mit der im Innern des Projektionsgeräts arbeitenden Bildpräsentationstechnik eng. Dieser durch das Gehäuse der Laterna magica neugierigen Blicken entzogenen Technik gilt es auf die Spur zu kommen. »Von der monotonen Musik des Regens da draußen« (18) immer mehr eingelullt, der »Gegenwart vollständig entrückt« (18-19) ~~ hier kommt bezeichnenderweise das poetische Medium par excellence, die »Laterna magica« (19) ins Spiel - , entwickelt Wachholder die beiden ersten umfangreicheren Erinnerungsbilder. Der Ansicht von Ulfeiden - »Was ist das für eine kleine Stadt zwischen den grünen buchenbewachsenen Bergen?« (19) - folgt, wie in einer Zauberlaterne, ein Bildwechsel, der den Bildbetrachter kurz in die Realität der Vorführung zurückholt, findet doch der sich >erinnernde< greise Wachholder für einen Augenblick in die Realität seiner Memoria-Arbeit zurück - »Ich selbst habe ja graue Haare. Vater und Mutter 146

147 148

Hans von Wolzogen: Von der Sperlingsgasse bis zum Krähenfelde. In: Bayreuther Blätter 4 (18 81), S. 357-364, hier S.359. Fehse (s. Anm.7), S.64. >ReihenLoseChronik der Sperlingsgasse< zugrundeliegenden Verknüpfungstechnik. Wie sehr die Laterna magica (als Vorläuferin nicht nur der Kinematographie, sondern auch des Diaprojektors) in den Kontext photographischer Darstellungsformen gehört, ist bekannt. Und dennoch scheint sie auf den ersten Blick vom gemeinsamen Weg des photographischen Diskurses und der >Chronik der Sperlingsgasse< wegzuführen. Als Medienparadigmen »realistische^] Schreibweisen« gelten zu Recht »Guckkasten und Camera obscura«,149 mithin der Photographie weitaus näher stehende Wahrnehmungs-

149

Harro Segeberg: Rahmen und Schnitt. Zur Mediengeschichte des Sehens seit der Aufklärung. In: Wirkendes Wort 43 (1993), S. 286-301, hier S. 290-291.

203

und Projektionsmodelle, während die Laterna magica ja dezidiert fürs Poetische steht, weil sie Imaginiertes, Fiktives, Phantastisches zu scheinbar präsentischer Darstellung zu bringen vermag und die mimetische Leistung der Photographie derart hintergeht. Kaum zufällig schließt sich an diesen ersten Einblick in die Memoria-Tätigkeit Wachholders eine poetologische Reflexion an, die sich am nicht die Realität des sich erinnernden, sondern die des erinnerten (in Liebe zu Marie Volkmann entbrannten) Wachholder ausleuchtenden Mondlicht entzündet: Es ist eine gefährliche Sache, in den Momenten ungewöhnlicher Aufregung sei es Freude oder Schmerz, Haß oder Liebe - sich dem klaren, weißen Licht des Mondes auszusetzen. Das Volk sagt: Man wird dumm davon. Wirklich, wundersame Gedanken bringt dieser reine Schein mit sich; allerlei tolles Zeug gewinnt Macht, sich des Geistes zu bemächtigen [...]. Zauberhafte Aussichten in phantastische nebelhafte Gründe öffnen sich zu beiden Seiten; nie gehörte Stimmen werden wach, locken mit Sirenengesang, flüstern unwiderstehlich, winken den Wanderer ab vom sicheren Wege, und bald irrt der Bezauberte in den unentrinnbaren Armidengärten der Fee Phantasie. (21)

Diese Reflexion des der »Gegenwart vollständig entrückten«, sich präsentisch erinnernden (Tempus!) Wachholder, über deren Voraussetzung - Distanz zur eigenen Disposition nämlich - der erinnerte liebestolle Student Wachholder noch nicht verfügen konnte, ist doppelt vektoriert: Zum einen kommentiert sie das Sehnen des erinnerten Verliebten im realen Mondlicht jener »stürmischen, dunklen Herbstnacht«, zum andern läßt sie sich auf die Memoria-Arbeit des gealterten Chronisten beziehen. Eingelullt »von der monotonen Musik des Regens« irrt »der Bezauberte« nämlich selbst »in den unentrinnbaren Armidengärten der Fee Phantasie«. Was Wachholder er-innert, in die Bildvorstellungen fixierende >Camera obscura< seiner Memoria aufgenommen hatte, wird phantastischpoetisch überformt wieder ausgestrahlt - im Paradigma der Laterna magica. Sie bildet die systematische Klammer des Schreibprojekts (und steht daher nicht zufällig als erstes Erinnerungsbild an so exponierter Stelle): Den Chronik-Aspekt bedient sie in ihrer zeitlichen Dimension, dem syntagmatisch-diachronen Hintereinander von Einzelbildern, die zu einer >Geschichte< verbunden werden; den Bilderbuch-Aspekt bedient sie in ihrer ikonologischen Dimension, indem paradigmatisch-synchron Einzelbilder aus einer Unzahl von Bildern ausgewählt werden. Als Chronik kann die >Chronik der Sperlingsgasse< daher nur für >Berufene< lesbar, als Bilderbuch dagegen nur für »Unberufene« sichtbar sein. Um sie in ihrer Doppelschlächtigkeit zu erfassen, muß sie unter einem Doppelblick gelesen werden, mit den Augen des »Karikaturenzeichners« Strobel als Bil204

derbuch, mit denen des gelehrten »Chronikenschreibers« (92) Wachholder als Chronik. Die Rede von den vom Verständnis der Chronik ausgeschlossenen »Unberufenen« (zu denen zuletzt freilich auch akademische Leser der Chronik zu zählen wären) gewinnt durch den Rekurs auf das Medienparadigma der Laterna magica weiter an Kontur: >Unberufen< heißt nur, wer nicht in der Lage ist, die (als bunte Steine brachliegenden) Einzelbilder imaginativ in einen Bildzusammenhang zu überführen, wem es mithin nicht gelingt, die Leerstellen zwischen den einzelnen, durch die Laterna magica zu ziehenden Transparentbildern zu füllen. Die aus einzelnen »toll durcheinander« liegenden »Steinen« zu gewinnende Kontiguität der von Wachholder in einem weiteren Synthetisierungsschritt erst zur >Chronik der Sperlingsgasse< verflochtenen »Fäden« besteht nicht per se, sondern ist als durch das lesende Subjekt zu erbringende Gemütsleistung konzipiert. Aus der »losen Folge« von Bildern ergibt sich derart im Wahrnehmungs- und Erinnerungshorizont Wachholders eine durchaus sinnvolle >Reihe< von Bildern, erscheinen die »bunten Steine« der Chronik wie »an eine schnür gereihte edelsteine« 1 ' 0 oder wie »perlen«, die sich »auf einen faden aufreihen lassen«. Hervorgebracht wird eine Geschichte, die zunächst zu Elise - einem erklärten Gegenstand der Chronik - führt und sodann deren Lebenslauf weiterschreibt. Ihren Ausgang nimmt die >Bilderreihe< von dem in Ulfeiden aufgenommenem Jugendidyll, das Wachholder, Franz Ralff und Marie Volkmann zeigt. Es schließen sich erinnerte Bildvorstellungen an, die den in Marie verliebten »Studenten der Philosophie« (21) und den in Italien geschulten »Maler Franz Ralff« (22) darstellen. »Und weiter schweift« Wachholders »Geist« zur »jungen Waise« Marie, ehe er selbst und Ralff um die Gunst Maries wetteifernd ins >Bild< gebracht werden. Es schließen sich weitere Bildvorstellungen des erfolgreichen Liebeswerbers Ralff und des erfolglosen Wachholder, der glücklichen, »blondlockigen« Marie und schließlich eines »kleinen Kindes« an, der Tochter von Marie und Franz: »Elise genannt in den Blättern der Chronik« (22). An den um Elise gesponnenen, »stellenweis unterbrochenen Faden« (25) knüpft Wachholder zahlreiche, zunächst traurig anmutende >Bilder< an, die sich zu einer Familiengeschichte bündeln, in der Wachholder die Rolle des »Pflegevaters« (54) übernimmt. Erinnerungsetappen sind, um nur einige der wichtigsten zu nennen, der Tod und die Bestattung Maries, der Tod Franz Ralffs, der Einzug Gustavs in die Sperlingsgasse, die zwischen Gustav und Elise sich entwickelnde Liebe und >Reihen< (s. Anm. 148), Sp.652; das folgende Zitat ebenda.

205

schließlich ihre Vermählung. Erst von einem als kommemorative >Urszene< lesbaren Bild aus vermag Wachholder den Faden abzurollen. Die unter der >Lupe< der Bild-Erinnerung entdeckte und imaginativ überformte Szene in Ulfeiden stellt nämlich nicht nur den ersten erinnernden Rückgriff Wachholders dar, sondern bildet auch den sachlichen, die Lebensgeschichten der Hauptpersonen Marie, Franz, Wachholder, Elise und Gustav zusammenhaltenden Ausgangspunkt dieses Erzählstrangs. Zu klären, »wie die Fäden laufen mußten, um hier in der armen Gasse sich zusammenzuschürzen zu einem neuen Bunde« (169), ist das um diese als Geschichte >zweier< Familien sich entpuppende >Bilderreihe< zentrierte sachliche Anliegen Wachholders, dessen Erreichen eine Fortführung der Arbeit überflüssig macht: »Was sollte ich noch viel erzählen«; »was sollte ich noch viel hinzufügen?« (170), leitet Wachholder das »Ende der Chronik der Sperlingsgasse« ( 1 7 1 ) ein. Verflochten ist diese >Bildergeschichte< mit einer zweiten, entlang dem Schreibprozeß laufenden, deren Zusammenhalt nicht mehr durch die an Elise entzündete Erinnerung Wachholders (personaler Sammelpunkt), sondern durch seine die Verfertigung der Chronik begleitenden »Fenster- und Gassenstudien« gewährt wird (lokaler Sammelpunkt): Ausgangspunkt ist in diesem Fall der das Projekt begründende Fensterblick in den ersten Schnee; es folgen sodann erste Blikke in die Gasse und in die Gegenwart (mit der freilich auch >gegenwärtige< Themen ins Spiel gebracht werden: das Verhältnis zu Frankreich, Industrialisierung und Proletarisierung der Gesellschaft, die Nationalfrage etc.), der Einzug Strobels, das »Bild« (36) der Tänzerin, die Karsten-Episode, der Tod des Kindes, die Strobeliana und schließlich Strobels Aufbruch. Der >mitlaufende< poetologische Faden fungiert als Bindeglied zwischen den beiden vorigen, denn er sichert zum einen zahlreichen Reflexionen auf den Erinnerungs- und Schreibvorgang ihren Platz und gewährleistet zum anderen das Hinübergleiten von einem Bild-Strang zum nächsten, von der Wahrnehmung der Gegenwart zur Vergegenwärtigung des Vergangenen, vom Modus der Wahrnehmung zum Modus der Erinnerung und Imagination: Nachdem »das Kind der Tänzerin [...] in dieser Nacht« (124), in Wachholders Schreibgegenwart mithin, gestorben, »die kleine Leiche« (127) bestattet, und der Vorfall in die Chronik aufgenommen worden ist, läßt Wachholder eine die Stoffe und Ereignisse der Chronik kommentierende (wiederum am Paradigma der Laterna magica orientierte) Betrachtung folgen: Wie Schatten ziehen die Bilder bald hell und sonnig, bald finster und traurig vorüber [...]. Sei die Nacht aber auch noch so dunkel, ein Stern funkelt stets hin-

206

ein: Elise! - Ich brauche nur in meine alten Mappen und Erinnerungsbücher mich zu versenken [...] und es wird wieder fröhlicher Tag in mir. (127) Diese kurze Reflexion auf den Trosteffekt der Erinnerungen an Elise beschließt Wachholder durch einen Wechsel in den Modus erinnernder Vergegenwärtigung (Tempus!): Ich drücke die Augen zu, und - sie ist vor mir mit ihrem süßen Lächeln, sie schlägt sie auf, diese großen blauen Augen, in denen ich Trost suche und finde. Elise, Elise, nun bist du ein großes, schönes Mädchen geworden, und das Bild dort, welches dein toter Vater von deiner toten Mutter malte, gleicht einem Spiegel, wenn du so sinnend davor stehst. (128) Wolzogens Verdikt, das die zur »losen Folge reizender und rührender poetischer Bilder« erklärte >Chronik der Sperlingsgasse< aus dem erlauchten Kreis der »Kunstwerke« kategorisch ausschließt, führt zurück zur >Doxa< des in der Mitte des 19. Jahrhunderts waltenden ästhetischen Diskurses, des Diskurses, der ganz entscheidend die Anerkennung der Photographie als Kunstform torpediert, ihr den Mangel an Leben, Individualität und Beseelung vorgeworfen hatte. Wie eng >Die Chronik der Sperlingsgasses die ästhetische Theoriebildung in der Mitte des 19. Jahrhunderts und die Photographie miteinander verknüpft sind, liegt in den terminologischen und darstellungsprogrammatischen Gemeinsamkeiten (und in ihrem gemeinsamen Fluchtpunkt, dem »Geist des herrschenden Positivismus«) 151 zutage. Einen gebündelten und wirkungsmächtigen Beleg dieser Verwandtschaftsverhältnisse gibt eine für die Literaturgeschichtsschreibung maßgebliche Äußerung Otto Ludwigs, der den Begriff des >poetischen Realismus< in den ästhetischen Diskurs eingebracht hat: »Die Kunstwelt des künstlerischen Realisten ist ein erhöhtes Spiegelbild des Gegenstandes, aber nach dem Gesetze der Malerei zu klarer Anordnung gediehen«. 1 ' 2 Formuliert ist die Bedingung für einen im ästhetischen Paradigma des Realismus einzig möglichen >rechtmäßigen< Kunstanspruch: die Uberformung, Beseelung, Synthetisierung der >nacktenDeutschen Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit (terminologisch übrigens auf den poetologischen, petrologischen und ikonologischen Feldern sich bewegend, die wenig später Raabes >Chronik der 151 151

Buddemeier (s. Anm. 29), S. 80. Otto Ludwig: Der poetische Realismus. In: Otto Ludwig. Shakespeare-Studien. Hrsg. v. Moritz Heydrich. Leipzig 1872, 8.263-269, hier S. 266.

207

Sperlingsgasse< beschreitet) die Fähigkeit zugesprochen, dem »Marmorsteinbruch« des »Lebens« »den Stoff zu unendlichen Bildwerken« >abzusehenTotenmesse< zierende und der verborgene Autor des Paratextes dem Namen nach zur Deckung bringen lassen.12 7

Die Vorrede des Paratext-Sprechers ist in der Erstausgabe (s. Anm. 6), S. 6-7, durch einen Seitenumbruch von der »Erzählung« des Certain getrennt. »Die Struktur« des »Requiem aeternam« erkennt Klim (s. Anm.4), S . 7 1 , in den neun Teilen »im Großen und Ganzen« wieder: »Sie besteht aus neun Teilen, die den acht Teilen einer musikalischen Totenmesse und der kurzen gesprochenen Predigt beziehungsweise Gedenkrede entsprechen sollen: dem Introitus, Kyrie, Oratia, der Homilie, dem Tractus, Dies Irae, Offertorium, Sanctus und Agnus Dei. Die einzelnen Teile entsprechen im Großen und Ganzen auch sinngemäß den Teilen der Messe«.

8

Vgl. Gerard Genette: Paratexte. Frankfurt a.M., N e w York, Paris 1989, S. 157-280. Z w a r ist »die Feststellung, daß Vorworte wie Nachworte im allgemeinen nach dem jeweiligen Text geschrieben werden« für Genette (s. Anm. 8), S. 169, »ein Gemeinplatz«, entscheidend ist aber die Frage, ob dieser Sachverhalt im Vorwort auch kenntlich gemacht ist. Stärkstes Indiz für die Nachträglichkeit des Paratextes ist sicherlich der Hinweis, »die Erzählung« sei »in der Ichform geschrieben« (10). Zu Beginn des Paratextes kündigt der Sprecher an: »Einen von den [...] >Certains< führe ich hier vor« (9). Zum Ausdruck kommt aber nicht etwa ein Vorhaben (im Sinne von: >will ich vorführen»). Vielmehr kündigt der Sprecher etwas an, dessen er sich bereits gewiß ist: eine Vorführung.

9

10 11

11

Zu dieser Kategorie vgl. Genette (s. Anm. 8), S. 328-384. Stanislaus Przybyszewski: Zur Psychologie des Individuums. I. Chopin und Nietzsche. Berlin 1892; Stanislaus Przybyszewski: Zur Psychologie des Individuums. II. Ola Hansson. Berlin 1892. Ein Umstand, der die Tendenz zu biographischen Argumentationen gefördert zu haben scheint, einer gerade dem Blick des Biographen augenfälligen Bemerkung Przyby213

Die Trennung zwischen dem Ich des Paratextes und dem Ich des von diesem eingeleiteten Textes wird durch den Paratext und seine Sprache der Verwaltung augenfällig. Bereits der erste Satz signalisiert, daß das Eingeleitete den Charakter einer Inszenierung trägt, für deren Regieführung das Sprecher-Ich einsteht: »Einen von den Unbekannten, von den im Dunklen und in Vergessenheit lebenden >Certains< führe ich hier vor« (9). Als Zweck der Vorführung wird sogleich ein analytisches Interesse bestimmt und zugleich empirische Existenz der vorgeführten Person suggeriert: Einen Unbekannten, Einen >vom Wege< habe ich aufgelesen. Die Menschen, die ich analysiere, brauchen durchaus nicht literarische >Größen< zu sein; aus dem Empfindungsleben eines fein konstruierten Alkoholikers, eines Monomanen, der an Schreckbildpsychose leidet, kann man tiefere und feinere Rückschlüsse auf die Psychologie der Zeit, auf die Natur einer wirklich individuellen Veranlagung gewinnen, als aus den Werken manches großen Literaten. (10) Ebenso unverschleiert wie der Zweck bleibt die ihm eigene Signatur der Verdinglichung. Das Problematische eines solchen Zugriffs wird aber sogleich >ausgeräumt< - allerdings nicht argumentativ, sondern mittels einer Behauptung: Der Psychologe hat selbstverständlich das unumschränkte, unbegrenzte Recht, ein solches Experimentierobjekt mit derselben Freiheit zu behandeln, mit derselben Ruhe, mit demselben Jenseits von Gut und Böse, wie es beispielshalber dem Botaniker ohne Widerrede eingeräumt wird, wenn er eine neue Spezies behandelt. Von diesem Recht habe ich Gebrauch gemacht. (10; meine Hervorhebung) szewskis in >Ferne komm ich ich her.... Erinnerungen an Berlin und Krakau< zum Trotz: »Bislang war ich ein Feind der Literaturhistoriker, die in der Seele und im Leben eines Künstlers herumwühlen, um so zum Verständnis seines Werkes zu gelangen. Da mir jedoch allmählich bewußt wird, in welchem Grad das Leben eines Künstlers - natürlich nicht das reale, sichtbare, sondern das geheime, unendlich vielgestaltige - einwirkt auf sein Werk, beginne ich die verzweifelte, fieberhafte Neugier zu begreifen, mit der sich diese Herren bis zur Seele des Künstlers durchzuwühlen suchen. Allein, ihre Mühe ist vergeblich [...]. Der Literaturhistoriker gerät völlig aus dem Häuschen über ein äußeres Erlebnis des Künstlers, er analysiert es nach allen Richtungen, beschreibt es mit peinlicher Genauigkeit, die an einen Forscher erinnert, der seine Beute seziert; er zieht aus diesem Erlebnis Gott weiß was für Schlüsse, konstruiert Analogien zwischen Erlebnis und Werk und vergißt darüber das Wichtigste: daß das Erlebnis nicht den Anstoß zum Werk gab, sondern umgekehrt das Werk den Anstoß zum Erlebnis«; Stanislaw Przybyszewski: Ferne komm ich her .... Erinnerungen an Berlin und Krakau. In: Stanislaw Przybyszewski. Studienausgabe. Werke, Aufzeichnungen und ausgewählte Briefe in acht Bänden und einem Kommentarband. Bd. 7. Hrsg. v. Oliver Stümann. Paderborn 1994, S. 1 1 . »Wenn ich also über mich schreibe«, fährt Przybyszewski ebenso unbescheiden wie irrtümlich fort, »so nur, weil ich untersuchen will, welche Faktoren auf mein schöpferisches Werk eingewirkt haben, was meine Seele geformt hat, welchen Einflüssen ich unterlegen bin; und über mich schreibend, werde ich versuchen, einen Beitrag zur Aufklärung eines der größten Geheimnisse der menschlichen Seele zu geben: zum Schaffensprozeß des Künstlers«; S. 14.

214

Unter der Feder des nach den Mechanismen und Gesetzen der Psyche forschenden Analytikers zeigt sich der Certain im Status einer Pflanze, aus deren Zergliederung der »Botaniker« sich Einsicht in Naturgesetze verspricht. Unter solchem Zugriff ist der Mensch »sich selbst eine Präparatsammlung geworden, ein Herbarium von getrockneten Blumen«,'3 wie Hansson 1893/94 hellsichtig in einer Rezension der >Totenmesse< notiert. Innerhalb dieser Koordinaten lokalisiert sich der Sprecher des Paratextes ebenso wie der immer wieder um Klassifikation und analytische Schärfe in der Selbstbeobachtung bemühte Certain; beide stehen damit in derselben Tradition wie der mit dem Skalpell hantierende Büchner oder der mit seiner Botanisierbüchse umherschweifende Volkslehrer Roder aus Raabes >Chronik der SperlingsgasseTotenmesse< der so sehr begrenzten Erkenntnisleistung unbewaffneter Augen: »Mein Subjekt [...] guckt durchs Mikroskop oder, je nachdem, durchs Fernrohr« (15). In den Blick bringt ein solches Erzählen Mikrokosmen des Selbst, wie der Sprecher des Paratextes verdeutlicht: die »feinen und feinsten Wurzelfasern« »des menschlichen Gehirnes« (9). Unter der teleskopischen »oder, je nachdem«, mikroskopischen Optik der erzählerischen Präsentation drohen Maßstabsverzerrungen, die aber um der Vergrößerung der Erkenntnisleistung willen in Kauf genommen werden: »Wenn auch manches >cent fois grandeur naturelle< erscheint, so schadet auch das nichts! Was groß ist, kann besser gesehen werden; für den Psychologen kann solche Größe nur willkommen sein«14 (9-10). Die Engführung optischer Medien mit der »Erzählung, in der dies individuelle Leben speziell in Rücksicht auf den Geschlechtswillen untersucht wird« (10) (gemeinsamer Fluchtpunkt ist der Positivismus), im Medium der Schrift rückt das als analytisch bestimmte und den Certain unter die Lupe nehmende Erzählen des Paratext-Sprechers in die Position eines optischen Mediums und transformiert die Lektüre strukturell zur - freilich inszenierten - visuellen Wahrnehmung des Lesers. Zwar sind bestimmte Selbsteinschätzungen des Certain, gemessen an den Diagnosen des Paratext-Sprechers durchaus zutreffend, etwa wenn er die Möglichkeit in Erwägung zieht, daß seine Irritationen »vielleicht [...] 13

Ola Hansson: Eine moderne Todtenmesse. In: Die Nation 1 1 (1893/94), S. 14—16, hier

S T 14

- 5·

Auch hierin folgt die >Totenmesse< dem eingangs genannten Bezugspunkt der Schriften >Zur Psychologie des Individuums. IVorführung< führt auf das Feld des Theatralischen, das »Motto: Fismoll-Polonaise. Op.44. Friedrich Chopin« (7) auf das Feld der Musik, das >Auflesen< auf das Feld einer als intertextuell verstandenen Literatur. Mit der Intervention einer paratextuellen Sprecherinstanz selbst ist dann auch ein kanonisch-populäres, fast schon trivial gewordenes Schema, eine »literarische >GrößeWertherLeiden des jungen WerthersTotenmesse< um das Problem eines Ich-Verlusts und seiner möglichst authentischen narrativen Präsentation zentriert; im >Werther< wird das am Selbstverlust des Titelhelden sich entzündende Darstellungsproblem durch den »Herausgeber«' 6 der Briefe aufgefangen - »Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammlet und leg es euch hier vor«' 7 - , in der >Totenmesse< durch die medizinisch-klassifikatorische Vorrede, die den Certain zum pathologischen Fall erklärt. Der gegenüber Johann Wolfgang Goethes Erfolgsroman keimende Reminiszenz-Verdacht erhärtet sich entscheidend durch das Selbstmordmotiv, Goethes Roman hat, wie übrigens auch die >TotenmesseErscheinung< macht der Certain kaum noch zufällig »nur« seinen »Überzieher« aus, »der am Nagel hing« (34). Terminologisch verweist das Spiegelmotiv auf das Verfahren der Prätext18

Goethe (s. Anm. 16), S. 298-299. ' ' Mit der Aufforderung »Ophelia, geh in ein Kloster« (23), spricht der Certain als Hamlet, der Ophelia in der Ubersetzung von August Wilhelm von Schlegel (William Shakespeare: Hamlet. Prinz von Dänemark. Berlin. Leipzig o.J., S. 75.) mehrmals »Geh in ein Kloster« entgegenwirft. Der Certain rückt sich auf diese Weise in die Position eines romantischen Hamlet ein und weist nicht nur seine Rede, sondern auch sich selbst als Zitat aus.

217

aneigung, indem die Farb-Spiegelung ein >Spiegelbild< für die Text-Spiegelung gibt, für das Zitationsverfahren mithin. Die die Verunsicherung des Certain wie des Lesers freisetzende Frage: »Ob es Traum war oder Wirklichkeit« (24), stellt sich der Certain erst im sechsten und längsten von neun Abschnitten, und zwar anläßlich einer ihn bestürmenden Fülle von »Bewußtseinsepisoden«, denen »es am Kausalzusammenhang« fehlt (31). Die in den ersten vier Abschnitten zur Sprache gebrachten »Bewußtseinsepisoden« und Sachverhalte dagegen vermag er immer wieder begrifflich einzuholen. Im Duktus eines Schöpfungsberichts entwirft der Certain im ersten Abschnitt die vom Monismus inspirierte20 Grundlage der >TotenmesseTotenmesse< ζ. B. für Peter Sprengel: Geschichte der ' deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998, besonders S.405-407, hier S.406. Da das »Geschlecht« allerdings immer nur differentiell gedacht werden kann, enthält dieser Ursprungsmythos bereits einen logischen Sprung. 218

souverän klassifizierender Manier verantwortlich gemacht: »Ich entstamme einer Mischehe zwischen einem protestantischen Bauern und einem katholischen Weibe, das einer alten, verarmten aristokratischen Familie angehörte« (20). Entsprechend macht er »neben dem Bauern« in sich den »Aristokraten« aus: »In jede Nervenfaser drang dieser Zwiespalt hinein« (21). Gegenüber dieser in den vier ersten Abschnitten wirksamen reflexiven Einholung des vermeintlichen »Wahnsinns« schlägt der Certain im fünften Abschnitt einen anderen Ton an, der das Begriffliche zu eliminieren verspricht: »Mein Gehirn habe ich auf die grüne Weide geschickt, auf das sterile Moor meiner Heimat; jetzt bin ich ganz Synthese, ganz Konzentration, ganz Geschlecht. In meinen Armen ruhst du, und es ist Nacht. Wir küssen uns« (22). Im Mittelpunkt des Abschnitts steht ein geschlechtlicher Vereinigungsakt, dessen ontologischer Status im Unterschied zu den vorigen »Bewußtseinsepisoden« nicht mehr geklärt wird. Seine narrative Entfaltung erfolgt nicht mehr reflektierend aus der Distanz, sondern als Kommentar in unmittelbarer Nähe zum Geschehen (angezeigt etwa durch die dominierende Verwendung des Präsens).21 Den Wendepunkt in der Spontan-Interpretation der Vereinigung bildet ein Blick ins Wahrnehmungsorgan selbst - »ich blicke in deine abgründigen Augen« (23). Vor dem >Augen-Blick< wird die Vereinigung, die »Auflösung meines Seins in dem deinigen« (23), als vollständige Verschmelzung, als »himmelstürmender Triumph der Geschlechtsfreiheit« gefeiert und gipfelt in einem ekstatischen »Ja, ja, ja, ja« (23). Mit dem >Augen-Blick< aber »schau[t]« der Certain das angesprochene Du »als etwas Fremdes, Weites, Millionen Meilen weit Entferntes« (23) an, negiert den Selbstauflösungseffekt, der mit der Vereinigung einhergeht: »Aber nein, - nein, - um Gotteswillen nein!« (23), um sich sodann seiner Unabhängigkeit und damit seiner selbst zu vergewissern: »Und sage mir, wie du mich liebst! [...] Ich brauche deine Liebe nicht! [...] - Steh' auf; zieh dich an [...]. Ophelia, geh in ein Kloster« (23). Ob es sich bei der Vereinigung um eine Leistung des »großen Gehirns« handelt, »das solche lustige Farce von Pubertäts- und Gymnasiastenliebe in Szene setzen kann« (23), oder um den Effekt eines wirklichen »Liebesdeliriums« (23), bleibt im Dunkel, für den Leser wie für den Certain selbst, insbesondere dann, wenn man die eingangs zitierte erkenntnistheoretische Skepsis auf diese Erfahrung bezieht: »Ich weiß nicht, ob es Traum war oder Wirklichkeit« (24). In dieser erst im nächsten, dem sechsten Abschnitt angestellten skeptischen Retrospektive auf die Vereinigung

21

Der Gebrauch von Präteritum und Perfekt im fünften Abschnitt ist auf vier von über 60 Fällen begrenzt.

219

(und auf weitere, im Verlauf des sechsten Abschnitts vorgestellte »Bewußtseinsepisoden«) wird diese als »schwarze Messe« 22 interpretiert, »in der das sterbende Geschlecht sich austobte mit seiner zerstörenden A g o nie und Todeskrämpfen« (24). Im fünften Abschnitt nimmt das SprecherIch zu keiner Zeit eine Sprech-Position ein, von der aus über den ontologischen Status der Vereinigung entschieden werden könnte. Die im sechsten Abschnitt artikulierte Ungewißheit, die das Erleben des Certain und entsprechend auch das von ihm in der »Ichform« narrativ Wiedergegebene ontologisch betrachtet ins Zwielicht rückt, bildet die Basis für eine Reihe von auf den ersten Blick nicht klassifizierbaren Empfindungen, Wahrnehmungen, Bildvorstellungen oder Halluzinationen. Z w i schen diesen vermutet der Certain eine verborgene Verbindung, einen »Kausalnexus« (29), den er bis zuletzt nicht auszumachen vermag, weil er ihn in der Welt der Objekte - etwa »zwischen dem Café und dem Totenbette« (29) - oder aber physiologisch in einer ganz individuellen Gehirnanomalie - »In meinem Gehirne sind Lücken und Löcher« (31) - , nicht aber in den bildlichen Strukturen seines Erlebens und seiner Wahrnehmungen aufzuspüren sucht. Als verborgener »Kausalnexus« gibt sich dem strukturell interessierten Blick indes eine Logik der M o t i w e r k n ü p f u n g zu erkennen, die es freizulegen gilt. Die Variation und Verknüpfung der Motive hat auf sechs der insgesamt sieben Fiktionalitätsebenen 23 (Abb. 3 5) statt. In der Gegenwart des Sprechens (zweite Fiktionalitätsebene) äußert der Certain jene Zweifel am ontologischen Status der Vereinigung, vermag sie nicht »Traum [...] oder Wirklichkeit« zuzuordnen, ja hält es für möglich, daß sie »nur das psychische Epiphänomen von physischen Zerstörungsakten, von alkoholischem Delirium« (24) war (dritte Fiktionalitätsebene). Retrospektiv werden Effekte einer Selbstzerstörung aktualisiert, ohne daß ihr Zusammenhang bewußt würde: »Seit zwei Tagen schlief ich nicht; ich aß nicht. Ich trank nur reinen Spiritus« (24) (dritte Fiktionalitätsebene). Die Sinne liefern im »wunderbaren Takt [s]einer Gefühle« keine verläßlichen Daten mehr, sondern ein synästhetisches Wirrwarr: Er »sah die Musik« (25), »empfand« »das Ultraviolett [...], aber nicht als Farbe« (25), geriet als Effekt dieser »Symphonie der Qualen« (25) neuerlich »in Ekstase« (26) und entwickelt eine »Brunst nach den weich-

" D a s Vokabular der >Totenmesse< hat den wenigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit diesem Text offenbar entscheidende interpretatorische A n s t ö ß e gegeben. D i e U n tersuchungen beschränken sich indes zumeist auf die Z u o r d n u n g einzelner M o t i v e z u Erscheinungsformen v o n »Nekrophilie, Vampirismus, Satanismus«; Sprengel (s. A n m . 20), S.406. iJ

A u f der ersten Fiktionalitätsebene hat das Erzählen des Paratext-Sprechers statt.

220

Vorrede des Paratextsprechers Sprechgegenwart des Certain (Gegenwart) Reflexion auf das Vergangene (Präteritum) halluzinierte T o t e Vision des Schlangcnmauls

Erinnerung an das C a f é Erzählung des Traumexperiments T r a u m der Liebsten

7 6 5

5 4

3

1

Abb. 3 5

kalten Totenhänden [...]. Der Schweiß rann mir von der Stirne, kalter, feuchter Schweiß; ich hatte die Empfindung, die ich oft bekam, wenn ich in den Anatomiesaal trat an kalten Wintertagen und die Leichen beim Sezieren betastete« (26-27). Die Ubereinstimmung einer ersten Empfindung (»kalter, feuchter Schweiß«) mit erinnerten Empfindungen am Seziertisch führt den Certain in eine als Halluzination interpretierte Welt (vierte Fiktionalitätsebene): Und immer deutlicher und deutlicher fühlte ich die Totenhände, wie lange Stangen streckten sie sich mir aus irgend einer Höhle entgegen. Mein Gehirn produzierte mit einer übermenschlichen Halluzinationskraft diese Hände [...], sie zogen und rissen an mir, ruckweis, und ich fühlte, wie mein Körper abwechselnd widerstrebte und nachgab und nach hinten fallen wollte, Ruck für Ruck. Ich wurde gerissen, gezogen, geschleppt, gezerrt, Schritt für Schritt, in ohnmächtigem Widerstand, bis ich in das Nebenzimmer hineinfiel. Im Scheine, einer Totenkerze lag ein totes Weib. (27)

Ausgehend von dieser als Halluzination interpretierten (möglicherweise von Félicien Rops inspirierten; Abb. 36) Begegnung entwickelt der Certain, wie er weiter darlegt, »eine schauerliche Vision« (fünfte Fiktionalitätsebene), und zwar ausgelöst durch Lichtspiele der »Totenkerze« auf 2 2 1

Abb. 36

dem Gesicht der Toten: »Der Docht war ausgebrannt; das Licht flackerte und warf spielende Schatten auf ihr Gesicht [...]. Auf dem mit Lichtern und Schatten wie ein Tigerfell gesprenkelten Gesichte sah ich eine schauerliche Vision: weit aufgerissen ein Klapperschlangenmaul mit eigentümlich hin und her züngelnder Zunge (27). Im Erlebnishorizont des Certain (vierte Fiktionalitätsebene) erlangt die Tote eine Sprache. Die Stimme der 222

Toten versetzt den Certain sofort in eine andere Imaginationswelt (fünfte Fiktionalitätsebene): Nein! sie spricht, sie spricht, - Herrgott, sie spricht! Und sie sprach. In diesem Moment stürzte ich auf den Boden und fiel in ein brütendes Sinnen. Ich hörte nur noch ihre Stimme, die von sehr weit herkam. Alles wich zurück; ich saß mit ihr in einem hellen Café, in einem mystischen Clair-obscur. (28)

Identifiziert sind durch das Ineinanderlegen der Personalpronomina die halluzinierte Tote und die verlorene Geliebte, an deren Abschied im Café der Certain sich erinnert. Im erinnerten Café-Gesprâch (fünfte Fiktionalitätsebene) legt er dem imaginierten »Du« in einer Erzählung (sechste Fiktionalitätsebene) offen, daß es ihm Versuchsobjekt und gleichgültig gewesen sei: »Ich sprach ganz kalt und klar, beinahe zynisch [...]. Wie du die erste Nacht bei mir bliebst und, todmüde wie du warst, einschliefst, habe ich Traumexperimente mit dir gemacht. Ich stand auf, - Herrgott, dein Leib war mir so gleichgültig, so unendlich gleichgültig« (29). Beschlossen wird der sechste Abschnitt mit einer Rückkehr zum »toten Weib«, in die Fiktionswelt vierten Grades mithin: Plötzlich riß ich mich empor; die ganze Vision, die mein Gehirn vielleicht spontan, vielleicht in ein paar Sekunden der Ohnmacht produziert hatte, war verschwunden. Wieder sah ich das Weib auf dem Totenbette liegen [...]. Jetzt wußte ich genau, daß ich sie berühren mußte; nur noch die Sanktion meines Gehirnes fehlte dazu [...]. Das tote, blutende Weib reckte sich in fürchterlicher Majestät im Sarge auf, und mit [...] fürchterlicher Wucht stieß sie mich mit beiden Fäusten in die Brust. (29-30)

Eine Rückkehr in geringerfiktionale Dimensionen erfolgt nicht: »Bewußtlos flog ich weit weg« (30). Die »Traumexperimente« des Certain führen auf die Spuren derjenigen Technik, die auch seinen scheinbar ohne Kausalität aufeinander folgenden »Bewußtseinsepisoden« zugrundeliegt; das Verschaltungsverfahren wird nämlich - en abyme - abgebildet. »Mit solcher Exaktheit und Präzision«, stellt der Certain »ganz kalt und klar, beinahe zynisch« fest, habe das »Gehirn« der »Liebsten« »auf den Außeneindruck geantwortet«. Ohne Bewußtsein, nämlich im Schlaf, integriert die Schlafende ein wirkliches Geräusch in ihren Traum oder produziert diesen angeregt durch das Geräusch: »Ich nahm«, so protokolliert der Certain sein Experiment, eine Wasserkanne und goß Wasser in eine Schüssel, immer stärker und stärker, bis du erschrocken aufwachtest. Ich fragte dich liebevoll, was du geträumt hättest, und freute mich, daß dein Gehirn mit solcher Exaktheit und Präzision auf 223

den Außeneindruck geantwortet hatte. Du weißt es wohl noch, du träumtest, daß in deiner Vaterstadt ein Feuer ausgebrochen wäre und die Leute mit Wasser und Löscheimern kämen. (29)

»Traumexperimente«, wie der Certain sie an seiner Liebsten vornimmt, sind dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht unbekannt. Im Erscheinungsjahr der >Totenmesse< führt Wilhelm Weygandt unter anderen »Traumvorstellungen« eine wie im Falle des »Traumexperiments« durch akustische Sinnesreize ausgelöste auf: Als ich auf einer grösseren Reise die Nacht durch mit der Eisenbahn fuhr, hatte ich im Traum die Empfindung eines lauten Pfeifens und zwar schien mir dasselbe auszugehen von einem grossen rebhuhnartigen Vogel, der sich langsam zeigte, wie er vor mir auf der Erde sass. Sodann wurde ich wach und erkannte, dass das anhaltende Pfeifen von der Lokomotive herrührte. 24

Die vielleicht wirkungsmächtigste Zusammenschau solcher dem Einfluß der »äußeren Sinnesreize«25 auf die Traumproduktion nachspürenden Praktiken liefert im Jahr 1900 Sigmund Freuds >Traumdeutung< (die sich übrigens mehrfach auf Weygandts Abhandlung bezieht). Grundlage der Experimente ist eine von Freud aufgegriffene 2 ^ und systematisierte Regel: Wenn wir einschlafen wollen, [...] verschliessen [wir] die wichtigsten Sinnespforten, die Augen, und suchen von den anderen Sinnen jeden Reiz oder jede Veränderung der auf sie wirkenden Reize abzuhalten. Wir schlafen dann ein, obwohl unser Vorhaben nie völlig gelingt. Wir können weder die Reize vollständig von den Sinnesorganen fernhalten noch die Erregbarkeit unserer Sinnesorgane völlig aufheben, (T 14)

so daß diejenigen »Sinnesreize, die uns während des Schlafes zukommen, [...] zu Traumquellen werden« (T 14) können. Eine solche »Kausalverkettung« (T 29) von »Reiz und Trauminhalt« (Τ 15) gilt dann als nachgewiesen, wenn es gelingt, »bei einem Schlafenden durch planmäßige Anbringung von Sinnesreizen dem Reiz entsprechende Träume zu erzeugen« (T 15); Przybyszewskis Certain verfährt vor dem Hintergrund dieser Experimentalroutine sehr erfolgreich: »ich freute mich«, resümiert er die an das Experiment sich anschließende Befragung der Erwachten, »daß dein Gehirn mit solcher Exaktheit und Präzision auf den Außeneindruck ge24

16

Wilhelm Weygandt: Entstehung der Träume. Diss. Leipzig 1893, S.45. Dieses und die folgenden Zitate werden unter Verwendung der Sigle »T« in Klammern fortlaufend im Text nachgewiesen, wobei folgende Ausgabe zugrundeliegt: Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Leipzig, Wien 1900, S. 14; als weitere Traumquellen nennt Freud »innere (subjective) Sinneserregung« (S. 20), »inneren, organischen Leibreiz« (S. 22) und »psychische Reizquellen« (S. 27). Weygandt (s. Anm. 24), S. 16, nennt Wilhelm Wundt als ihren Urheber.

224

antwortet hatte« (29). Die vom Certain freudig begrüßte, begrifflich aber unpräzise als >Antwort< oder (bei Freud) als >Entsprechung< gehandelte Beziehung zwischen »Reiz und Trauminhalt« läßt sich semiologisch als Äquivalenz- oder Ähnlichkeitsbeziehung bestimmen. Meßbar wird sie nur, wenn zwischen Reiz und Traum-Reaktion eine (wie auch immer geartete) »Aehnlichkeit« (T 15) besteht. Im Falle der >Totenmesse< besteht eine solche Äquivalenz zwischen dem gehörten Geräusch, das der Certain erzeugt, indem er neben der Schlafenden »Wasser in eine Schüssel« gießt, und dem >geträumten< Geräusch der mit »Wasser und Löscheimern« ausgeübten Löscharbeiten in der brennenden »Vaterstadt« der >ProbandinGrundzügen der physiologischen Psychologies »aus dem wachen Zustande als Lichtchaos des dunkeln Gesichtsfeldes [...] bekannt sind, unter ihnen namentlich die subjectiven Netzhauterregungen«. 28 Entscheidend ist, daß sich »eine innige Beziehung zwischen beiden [Netzhautempfindungen und Traumbildern] 17 lS

Freud (s. Anm. 25), S. 16, spricht von »verweben«. Wilhelm Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig 1874,8.657.1889 erhält Przybyszewski »als Geschenk Wundts physiologische Psychologie«, über der er, wie es in einem Brief an Tomasz Pajzderski heißt, »den ganzen Tag« sitzt; Stanislaw Przybyszewski an Tomasz Pajzderski, 29. Dezember 1889; zit. nach Klim (s. Anm.4), S. 33.

225

erkennen« (Τ zi) läßt, eine Beziehung, die wiederum als »Aehnlichkeit« oder Äquivalenz zu bestimmen wäre: Wundts Beispiel, das Freud zitiert, macht nämlich für im Traum ausgebreitete »zahllose Vögel, Schmetterlinge, Fische, bunte Perlen, Blumen u. dergl.«29 den »Lichtstaub des dunkeln Gesichtsfeldes« verantwortlich, als deren Traum-Effekte er die Vertreter aus Fauna und Flora entziffert: »Die zahlreichen Lichtpunkte, aus denen derselbe [Lichtstaub] besteht, werden von dem Traum zu ebenso vielen Einzelbildern verkörpert, die wegen der Beweglichkeit des Lichtchaos als bewegte Gegenstände angeschaut werden«. Das bilderreiche Arsenal der »Bewußtseinsepisoden« des Certain, denen es nur vermeintlich »am Kausalzusammenhang« fehlt (31), ist immanent vernetzt durch eine Fülle solcher Äquivalenzen. Ausgehend von der Frage nach dem »Kausalnexus [...] zwischen dem Café und dem Totenbette« (29), nach der Verknüpfung zweier unmittelbar aufeinanderfolgender, durch diese Begriffe angezeigter »Bewußtseinsepisoden« mithin, läßt sich das >missing linkCafé< und >TotenbettKaninchen vor der Schlangen »Auf einmal kauerte ich nieder wie ein angeschossenes Wild« (27). Der magisch fixierende Blick der im Modus der »Vision« vergegenwärtigten Schlange wird in das Motiv des Blickwechsels32 umgebogen: »Die Leitung zwischen mir und dem Totengesichte war so stark, daß ich deutlich fühlte, wie mächtige galvanische Ströme mir die Augen ausfraßen« (28). Die auf dem Antlitz waltende »Kerzenlichtsprache« (29), das flackernde Spiel von Licht und Schatten greifen - und das ist entscheidend für den »Kausalnexus« - die Lichtverhältnisse im »Café«, das »in einem mystischen Clair-obscur«, im »Helldunkel« einer »auffal-

Die Verknüpfung von Schlangenblick, Frauenkörper und Lust ist in den zu Beginn der 1890er Jahre entstandenen mehrfach variierten Bildern >Die Sünde< und >Die Sinnlichkeit< von Franz von Stuck aktuell, aber auch in Bildern von Odilon Rédon (>Serpent-AuréoleLe bonheur dans le crimes 1874), Max Klinger (>Die SchlangeBöser Blickanimalischen< (Selbst-)Wahrnehmung des Certain setzt das erinnerte Café-Gesprâch in Gang, wiederum über iko33

>Clair-obscurHelldunkelmalereiVersuchskaninchens< seiner »Traumexperimente« zu bringen. Ein weiterer Blickwechsel, nun im Zusammenspiel mit der halluzinierten Toten, versetzt den Certain in die Position des b e u tegierigem Jägers: »Und das tote Gesicht sprach in wechselnder Kerzenlichtsprache, und sah mich an mit lüsternen, üppigen Augen. Und immer stärker fühlte ich, wie die Hyänenbrunst sich in mir reckte« (29-30), bis er »wie eine Pantherkatze« der »Leiche« sich näherte, »an ihr [riß und sog], und plötzlich [...] mit geifernden Lippen, wie ein Vampir, schrill in ihre Brust hinein[biß] [...] und [...] an dem toten Fleische« »zog und zerrte«

(30).

2. Sehpurpur, Optographie und die Wende des Blicks nach Innen Ikonographische Aquivalenzbeziehungen bilden das subkutane Vernetzungssystem der scheinbar nur »aufeinandergepropften«, nur dem Anschein nach unverständlichen und in keinem Zusammenhang stehenden »Metaphera«. Seine entscheidenden Impulse bezieht die im Bewußtsein des Certain waltende >Bilderflut< aus den >Augen-BlickenTotenmesse< insgesamt lesbar ist: Ich erinnerte mich plötzlich, daß nach einer alten Sage auf dem Grunde des Totenauges der letzte Todeskampf zu sehen sei. Das mußte ich sehen, das große Lebensrätsel auf dem Grunde des Totenauges, die wüste Brautnacht, in der sich Tod und Leben paaren. Ich hatte nur den einen Gedanken, der über mein Gehirn hinausging, der mit dem spitzen Ende in den Grund des Totenauges griff und dort mit dem andern Pol zusammenstieß; die Leitung war geschlossen. Ich fühlte Funken in meine Augen springen, deutliche, blaßgrüne, elektrische Funken.

229

Die Drähte der Leitung brannten an den Polen ab, sie wurden immer kürzer, ich mußte immer näher rücken; wie eine Pantherkatze schlich ich langsam an die Leiche heran, - ich war dicht an ihr. Mit irren, keuchenden Fingern suchte ich das Lid zu heben; ich zitterte und flog an allen Gliedern; ein fürchterlich verzerrtes Wollustgrinsen lag auf dem Gesichte. Mich überkam ein geschäftiges Treiben. Ich hob das Lid mit kunstgerechtem Griffe langsam hoch, geschäftsmäßig, wie bei der Augeninspektion; aber meine Finger glitten das Gesicht herab, sie betasteten es, ein Fieberparoxysmus überkam mich, ich arbeitete mit autonomen Gliedern, ich hatte die Empfindung, daß mein Kopf mir durch das Fenster flöge, und ich lachte und schrie und fühlte meine eigenen Laute auf mich zurückprallen. (30)

Auf die Spuren des historischen Ortes dieser vom Certain ins Spiel gebrachten vermeintlichen »alten Sage« führt dessen eigener medizinischer Sprachgebrauch: »Wie bei der Augeninspektion« sieht er sich dem Auge der halluzinierten Toten sich nähern und »das Lid mit kunstgerechtem Griffe langsam« heben. Eine Augeninspektion ist es auch, die sich der Szene als ophthalmologisches Realsubstrat unterlegen ließe, mit einem entscheidenden ontologischen Unterschied aber: Die teilweise empörten Reaktionen auf die >Totenmesse< in der gebildeten Welt - Hansson prophezeit ihr sogar das »Interesse« des »Staatsanwalts«36 - entzündeten sich an einem (mit sakralen Motiven, Gattungen und Kontexten enggeführten) wohlgemerkt poetisch-fiktionalen Lust-Vampirismus, dessen Ursachen der Certain unisono mit dem Sprecher des Paratextes in »Krankheit« und »Wahnsinn« sucht. Nicht minder >vampiristisch< als der Certain, allerdings in der medizinischen >Normalität< und Realität des 19. Jahrhunderts und dort legitimiert durch die Integrität potentieller wissenschaftlicher Erkenntnisvermehrung, verfährt die physiologische Experimentalroutine auf der Suche zunächst nach den Gesetzen des Sehpurpurs und bald auch nach »Optogrammen«, dem »großen Lebensrätsel auf dem Grunde des Totenauges«. Wie im Falle der >Totenmesse< bedient sie sich protokollarischen Sprechens. Mit der systematischen Untersuchung des Sehpurpurs legt der Physiologe Franz Boll die Voraussetzung eines jeden »auf dem Grunde des Totenauges« sich abzeichnenden Bildes frei:

36

Hansson (s. Anm. 13 ), S. 14. Den Grund hierfür sieht Sprengel (s. Anm. 20), S. 406, in den »krassen Vermischungen des Heiligsten mit dem Profansten« und in den »Vorstößen ins Obszöne und Perverse«. Zur empörten Rezeption der >Totenmesse< vgl. Ulrich Steltner: »Im Anfang war...«. Die deutschen Versionen von Przybyszewskis Rhapsodie »Requiem aeternamMeyers LexikoneQtgfett^ 3 m äuge be« ubenbcn gegenfäfren (3.33. gieniterfray gegen scietié roar non einem bellen Rimmel gerietet), fo entfielt au« fünf leuchten ben auf ber 9îe$fjaut baburct), büß ber etríifen tefte^enben nur an ben ftärfer belichteten Ebjeft ein fals großartigen Humbug< auf. Wilhelm Horn verglich 1857 in seinem >Photographischen Journal< die Netzhaut mit der Silberplatte und riet, ein Stereomikroskop zu bauen, >durch welches man in den Augen des Ermordeten zugleich die beiden Bilder betrachtend, den Mörder plastisch und in Naturgröße, daher viel deutlicher erblicken würdePhotographischem Journal· ein Statement der »Redaction«, dessen vermeintlich ironischer Duktus allerdings eher ein Produkt der Skepsis Stengers sein dürfte. Bezogen ist die »Bemerkung der Redaction« auf einen nicht namentlich gekennzeichneten Beitrag: Photographisches Bild im Auge eines Todten. Die Entdeckung dieses Bildes im Auge eines Todten ist ganz dazu gemacht, uns zuerst staunen und dann etwas frösteln zu machen. Man denke sich: die Netzhaut des Auges eines Todten bewahrt den Eindruck des zuletzt von ihm gesehenen Gegenstandes mit photographischer Treue! Ist der Letzte, den der Todte sah, sein Mörder, so trägt das unglückliche Opfer das Daguerreotyp desselben auf seiner Netzhaut: ein entsetzlicher Blutzeuge gegen seinen Mörder. Dr. Pollack, ein ausgezeichneter Arzt, veröffentlicht in der >Democ. Press.< seine Untersuchungen über diesen vollkommen neuen Gegenstand. Er hat gefunden, dass die >Todesbilder< die letzten Eindrücke auf der Retina unter dem Mikroskop wunderbar zart, klar und genau sich darstellen. Es ward sofort bei einem Ermordeten in Auburn eine Untersuchung des Auges angeordnet, die Dr. Sandforth leitete. Der Bericht, welchen dieser dem Gerichte abstattete, lautet folgendermaßen: Zuerst brachten wir das Auge in eine schwache Lösung von Atropin, welche eine Erweiterung der Pupille bewirkte. Dann betupften wir das Ende des Sehnervens mit dem Extrakt, worauf der Stern des Auges hervorquoll und herausstehend blieb. Jetzt wandten wir eine starke Linse an und erblickten die rohe, vorwärts gebeugte Gestalt eines Mannes in einem hellen Rocke, und neben ihm, gleichsam in der Luft aufgehangen oder schwebend einen Stein. Das Auge war nicht unbeschädigt erhalten, das Bild daher unvollständig, was wahrscheinlich in der Loslösung des Sehnervs vom Gehirn seinen Grund hatte. Wäre die Untersuchung vorgenommen worden, ohne dass das Auge aus seiner Höhle entfernt worden wäre, so bleibt kein Zweifel, dass das Bild auf der Retina sich vollkommener erhalten hätte. Die verzogenen Umrisse und namentlich die jetzt unerkennbaren Gesichtszüge des Mörders, welcher auch nach der Meinung der Leichenbeschauer durch einen Stein seinem Opfer den Schädel zerschmetterte, würden in klarer, deutlicher Weise sich gezeigt haben. Dieser Eindruck müsste um so schärfer und bestimmter gewesen sein, als die Todesangst des Ermordeten denselben zu einem viel heftigeren gemacht haben muss, wie solcher sonst empfangen zu werden pflegt.' 1 Mit der Fixierung des Transitorischen schreibt sich die den Optogrammen zugeschriebene Leistung in das Stammbuch einer photographischen Ä s thetik ein, und nicht zufällig entfaltet die Debatte um die Netzhautbilder ihre größte Virulenz zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit mithin, für die photographische Effekte und Verfahren bereits zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Der »Redaction« des »Photographischen Journalsletzten Bildletzter BilderWiederaufnahme der Kühne'sehen Untersuchungens ein »schachbrettartiges Muster mit perspektivischen Verkürzungen« (Abb.41), die »Ziffer 3«, die »Ziffer 75«66 (Abb.42) oder sei es dasjenige Bild, das sich im Auge des »alten Hundes« abgezeichnet haben mag, als der Certain diesen »totschießen wollte, weil er nicht mehr zu gebrauchen war« (28). Zur Optimierung der Speicherleistung wird die Belichtungszeit vermessen, der Augapfel ausgestülpt und fixiert, das Lid entfernt oder angenäht. Unter den Labor-Bedingungen der 1970er Jahre kommt Klothmanns Heidelberger Dissertation zu dem desillusionierenden Ergebnis, »daß nur unbewegliche, kontrastreiche und grobe Objekte verwertbare Optogramme ermöglichen« 67 und daß »diese Methode auf Grund der langen Belichtungszeit nicht für kriminalistische Zwecke«, 68 etwa der erkennungsdienstlich verwertbaren Photographie von Mördern 64

Karl Wilhelm Müller: Goethe's letzte literarische Thätigkeit, Verhältniss zum Ausland und Scheiden nach den Mittheilungen seiner Freunde dargestellt. Jena 1832, S. 29, 21; vgl. hierzu auch Robert Steiger, Angelika Reimann: Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik. Bd. 8. München, Zürich 1996, S . 6 1 3 . Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme. 1800 1900. 3. Aufl. München 1995, S. 280. Kittler bezieht diese Praxis auf die gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete Praxis, Probanden an Tachistoskopen per Lichtblitz exponierte Schriftproben entziffern zu lassen; vgl. Kapitel V I . i . 66 Thomas Klothmann: Optogramme auf der Kaninchennetzhaut (Wiederaufnahme der Kühne'schen Untersuchungen). Diss. Heidelberg 1975, S. 19, 20, 22. 67 Ebenda, S.23. " Ebenda, S. 27.

241

u.ä., dienlich sein kann. Der Versicherung zum Trotz, »bei dem Gegenstande ganz von seiner Feuilletonfähigkeit« 69 absehen zu wollen, scheint Kühne doch selbst in die Reihen »phantasievoller Todtenbeschauer diesund jenseits des Oceans« eingetreten zu sein, deren »Schauen zum Scheinen« (31) geraten ist. Dem Interessierten gegen Ende des 19. Jahrhunderts bleibt angesichts der Zeugnisse, wie Przybyszewskis Certain, die Ungewißheit, »ob es Traum war oder Wirklichkeit« (24), ob »Außen« oder »Innen« (31). Daß »auf dem Grunde des Totenauges der letzte Todeskampf zu sehen sei«, wie der Certain referiert, kann zwar nicht als übermäßig »alte«, aber doch immerhin als »Sage« angesprochen werden. Im Unterschied zu den physiologischen Versuchsanordnungen allerdings ist das im Auge Abzubildende, der »Todeskampf«, »die wüste Brautnacht, in der sich Tod und Leben paaren«, oder das »Lebensrätsel«, der Einschreibung zwar als vorgängig, der Aufzeichnungsapparatur Auge aber nicht als äußerlich markiert, erwartet der Certain doch nicht die Abbildung eines Mörders oder einer, was auch immer darstellenden letzten visuellen Wahrnehmung der Toten, sondern die Abbildung eines inneren Geschehens vorzufinden. Damit nimmt er, unterlegt man die physiologische Experimentierpraxis als Folie, eine entscheidende Uminterpretation vor, deren Telos sich erst unter einem Doppelblick, in einem sowohl wissenschaftlich-technischen als auch ästhetisch-poetologischen Fragehorizont erschließt. Wie die vom Certain begonnene Augeninspektion nämlich nach den optographischen Spuren eines vermeintlich sichtbaren Geschehens sucht, die nun nicht mehr von der Außen-, sondern von der Innenwelt herrühren sollen, so wird die empirische Praxis der Optographie und ihre Darstellungsfunktion zur in den 1890er Jahren vermehrt diskutierten >Seelenphotographie

H.J.W. Dam: The new marvel in photography. A visit to Professor Röntgen at his laboratory in Würzburg; his own account of his great discovery; interesting experiments with the cathode rays; practical uses of the new photography. In: McClure's Magazine 6 (1896), April, S . 4 0 3 - 4 1 5 , hier S . 4 1 1 .

74

Röntgen (s. Anm. 72), S. 133. Eine Darstellung dieser in der ersten des Hälfte des 19. Jahrhunderts gehäuft auftretenden Bemühungen liefert Gundolf Keil: Einleitung. In: Angelika Schedel, Gundolf Keil: Der Blick in den Menschen. Wilhelm Conrad Röntgen und seine Zeit. München, Wien, Baltimore 1995, S. 1 - 1 1 , besonders S. 8. Zu weiteren als »Prioritätenansprüche in der Frage der Entdeckung der Röntgenstrahlen« versammelten Zeugnissen vgl. Otto Glasser: Wilhelm Conrad Röntgen und die Geschichte der Röntgenstrahlen. Mit einem Beitrag Persönliches über W.C. Röntgen< von Margret Boveri. Berlin 1 9 3 1 , S. 162-166.

7!

2

43

»Sensitiven«76 gehört als »Traum vom Blick in den Menschen«77 ebenso in den Kontext der Sichtbarmachung des Unsichtbaren wie der sogenannte Mesmerismus78 im Ausgang des 18. Jahrhunderts, die ebenfalls auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datierte Debatte um die »Geisterphotographie«79 oder die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erzeugten »mediumistischen«8° Photographien Albert Freiherrn von Schrenck-Notzings. »Der Grund, warum« das von Karl Freiherr von Reichenbach unermüdlich in zahlreichen Veröffentlichungen verhandelte »Od« »der wissenschaftlichen Forschung bis jetzt gänzlich entgangen, ja von der Wissenschaft geradezu und hartnäckig zurückgestoßen und ausgeschlossen worden ist, liegt« im Verständnis ihres Urhebers Reichenbach nicht im Fehlen eines unumstößlichen Existenzbelegs, sondern lediglich in der mangelhaften Infrastruktur zu seiner Erbringung, eben in d e m M a n g e l an e i n e m allgemeinen O d o s k o p u n d O d o m e t e r , w e l c h e f ü r J e d e r m a n n s G e b r a u c h z u g ä n g l i c h w ä r e n , u n d w o m i t sein D a s e y n leicht u n d in die A u g e n f a l l e n d aller Welt d a r z u t h u n g e w e s e n s e y n w ü r d e . U n d die U r s a c h e , w a r u m h i n w i e d e r u m ein O d o s k o p bis jetzt sich nicht hat f i n d e n lassen

- Reichenbach schließt seinen argumentativen Zirkel - , e n t s p r i n g t aus der N a t u r des O d e s selbst, n ä m l i c h aus seiner K r a f t , alle S t o f f e u n d alle R ä u m e z u d u r c h d r i n g e n u n d sich n i r g e n d s a n h ä u f e n , niemals bis z u r a l l g e m e i n e n W a h r n e h m b a r k e i t sich v e r d i c h t e n z u lassen. F ü r W ä r m e , E l e k t r i c i tät, L i c h t giebt es bis auf einen g e w i s s e n G r a d I s o l a t o r e n , f ü r O d h a b e ich keinen a u f z u f i n d e n v e r m o c h t . 8 1 76

Karl Freiherr von Reichenbach: Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Ode. Eine Reihe experimenteller Untersuchungen über ihre gegenseitigen Kräfte und Eigenschaften mit Rücksicht auf die praktische Bedeutung, welche sie für Physik, Chemie, Mineralogie, Botanik, Physiologie, Heilkunde, gerichtliche Medicin, Rechtskunde, Kriegswesen, Erziehung, Psychologie, Theologie, Irrenwesen, Kunst, Gewerbe, künstlichen Zuständen, Menschenkenntniß und das gesellschaftliche Leben in weitem Umfange haben. 2 Bde. Stuttgart, Tübingen 1854-1855.

77

Keil (s. Anm.75), S.4. Die Verbindungslinie vom Magnetismus über Reichenbachs Od-Lehre zur Entdeckung der Röntgenstrahlen zieht z.B. Ludwig Tormin: Magische Strahlen. Die Gewinnung photographischer Lichtbilder lediglich durch odisch-magnetische Ausstrahlung des menschlichen Körpers. Düsseldorf 1896. 79 Vgl. hierzu die Darstellungen von Gustav Wilhelm Gessmann: Die Geisterphotographie. Leipzig O.J., G . Manetho: Die Geisterphotographie. In: Occultistische Bilderbogen 13 (O.J.), dort wird sie explizit in den weiteren Kontext der »Photographie des Unsichtbaren« gestellt, sowie die Hinweise von Stenger (s. Anm. 50), S. 1 7 7 - 1 7 8 , zur »spiritistischen Photographie«. 80 Albert Freiherr von Schrenck-Notzing: Materialisationsphänomene. Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie. München 1914. 81 Karl Freiherr von Reichenbach: Odisch-magnetische Briefe. Stuttgart, Tübingen 1854, S. 197-198. 78

244

»Vermittelst jener« von Reichenbach in Anschlag gebrachten physikalisch (den Röntgenstrahlen vergleichbaren) wie metaphorisch bestimmten »Alldurchdringlichkeit« 82 ließe sich der Wunsch, »einander, wie man zu sagen pflegt, ins Herz sehen« zu können, beim Wort nehmen. Solche Anstrengungen, ein Element zu finden, das »alle Stoffe und alle Räume zu durchdringen« 83 vermag, ebnen den Entdeckungen Röntgens strukturell den Weg - ein Umstand, den Gustav Theodor Fechner 1876 mit fast diskursanalytischem Weitblick schon in Erwägung zu ziehen scheint, indem er die mögliche Relevanz der von »exacten Forschern« 84 zurückgewiesenen »Odlehre« Reichenbachs und ihrer »Anhängerschaar« 85 ins Spiel bringt; sie wäre nämlich »in der That für die Wissenschaft von Wichtigkeit, und sollte es einmal gelingen«, schließt Fechner seine >Erinnerungen< ab, die von Reichenbach erwähnten Strahlen nachzuweisen, »so würde man immerhin der Odlehre dankbar dafür zu sein haben, daß sie auf den Weg dazu geführt hat«.86 Auch in der Retrospektive - nun Ludwig Büchners 1896 - läßt sich »auf den ersten Anblick eine gewisse Verwandtschaft« des Ods »mit den Röntgenschen Strahlen«87 offenbar nicht leugnen, doch der »Beweis bleibt abzuwarten«. 88 Der metaphorische wie der bisher nicht »ohne Eingriff in die Integrität des Organismus« 8 ' mögliche physiologische Blick ins Refugium des Lebens, »ins Herz«, scheint mit der Entdekkung der »X-Strahlen« greifbar nahe, erhofft sich doch ein Interviewer Röntgens, nun ganz im physiologischen Sinne, »that the photographing of the various organs is possible«.90 Und tatsächlich: »Mit Hilfe der neuen Apparate«, so kündigt die auflagenstarke >Gartenlaube< noch 1896 an, ist es möglich, einen Einblick in das Innere des Brustkorbes beim lebenden Menschen zu erhalten. Hierbei wird die Stellung gewählt, daß die zu untersuchende Person ihren Rücken der Röhre zukehrt, weil in dieser Stellung das Herz am deutlichsten und am wenigsten vergrößert auf dem Fluoreszenzschirme hervortritt [...]. Man beobachtet auch rhythmische Bewegungen, die man

8:1

Ebenda, S. 199. Ebenda, S. 197. 84 Gustav Theodor Fechner: Erinnerungen an die letzten Tage der Odlehre und ihres Urhebers. Leipzig 1876, S. ι. 8 ' Tormin (s. Anm. 78), S. 12. 86 Fechner (s. Anm. 84), S. 55. 87 Ludwig Büchner: Die Röntgenschen Strahlen und die Reichenbachsche Od-Lehre. In: Die Gartenlaube 1896, S. 1 4 1 - 1 4 3 , hier S. 1 4 1 . 88 Ebenda, S. 143. 8 ' Franz M. Groedel: Die weitere Ausgestaltung des Röntgenkinematographen und die mit demselben erzielten Resultate. In: Verhandlungen der deutschen Röntgen-Gesellschaft 7 ( 1 9 1 1 ) , S. 59-62. 9° Dam (s. Anm.73), S.414. 83

2

45

A b b . 44 unschwer (Abb.

als Z u s a m m e n z i e h u n g e n

und Erweiterungen

erkennen

kann. 9 '

44)

In der vorgestellten Welt des >ZauberbergBerghofInnerste< p h y s i o l o g i s c h z u r S c h a u : » d i e S t u m p f n a s e d i c h t a n d i e S c h e i b e « g e p r e ß t , » d i e E i n b l i c k in eines M e n s c h e n o r g a n i sches Inneres g e w ä h r t e « (1,280), w a r Castorps Aufmerksamkeit [...] in Anspruch genommen von etwas Sackartigem, ungestalt Tierischem, dunkel hinter dem Mittelstamme Sichtbarem, und zwar größtenteils zur Rechten, v o m Beschauer aus gesehen - das sich gleichmäßig ausdehnte und wieder zusammenzog, ein wenig nach A r t einer rudernden Qualle. »Sehen Sie sein Herz?< fragte der H o f r a t , indem er [...] mit dem Zeigefinger auf das pulsierende Gehänge wies ... G r o ß e r Gott, es w a r das Herz, J o -

247

Abb. 46

achims ehrliebendes H e r z , w a s H a n s C a s t o r p sah! >Ich sehe dein Herz!< sagte er mit gepreßter Stimme. ( 1 , 2 8 0 - 2 8 1 )

Endgültig »an der Pforte von erhabenen Dingen« 94 befindet sich in diesem Horizont Reichenbachs 1855 freilich noch dem Bereich der Wunschvorstellungen zugehörige Frage, »ob es [das Od] einen constitutiven Bestandtheil unseres Seelenwesens ausmache«. Als speichertechnisches Komplement zur organischen Photographie des menschlichen Innenlebens mittels »X-Strahlen« rangiert nun natürlich die okkultistische Vorstellung der >Seelenphotographieherkömmlichen< Naturalismus - für Przybyszewski »par excellence« vertreten durch den »rücksichtslosesten Naturalisten des Aeusseren« ( P N 155), Max Liebermann, - zum »psychischen Naturalismus« stellt sich Przybyszewski als eine Wende des Blicks dar, die loi

Meine Hervorhebungen; zum Begriff der »Individualität«, zur Naturalismusrezeption und zum >Munch-Aufsatz< Przybyszewskis vgl. Marx (s. A n m . 30), S. 96-97, S. 1 1 0 - 1 1 7 und S. 1 3 0 - 1 3 6 .

2

5!

strukturell sehr genau der Umakzentuierung der »alten Sage« in der >Totenmesse< entspricht: Alle bisherigen Maler waren Maler der äusseren Welt, jedes Gefühl, das sie darstellen wollten, kleideten sie in irgend einen äusseren Vorgang, jede Stimmung haben sie erst mittelbar aus der äusseren Umgebung entstehen lassen. Die Wirkung war immer mittelbar durch das Mittel der äusseren Erscheinungswelt. Seelische Phänomene, durch äussere Vorgänge, états d'âmes durch état [!] de choses auszudrücken, war die bisherige, unverbrüchliche Tradition, die kein Maler zu verletzen wagte. ( P N 154)

Daß der »psychische Naturalismus« nicht allein auf diese vermeintlich authentischen Darstellungsmöglichkeiten der Malerei zugeschnitten ist, sondern auch - und länger schon als in der Malerei - in der Literatur praktiziert werden soll, bringt Przybyszewski gegen Ende seines Beitrags zur Sprache: »Leser, die sich dafür interessieren, verweis[t]« er »auf Maeterlincks Serres chaudes« 103 (PN 156): Munch hat eine Tradition, freilich eine, von der er kaum etwas wissen wird, nämlich eine litterarische. Es giebt nämlich in Brüssel und in Paris eine Anzahl selbstverständlich >ganz verrückter< Menschen, die auf eine selbstverständlich >ganz hirnverbrannte Idee< verfallen sind, die feinsten und subtilsten seelischen Associationen, die leisesten und intimsten Gefühlsäusserungen, die wie Schatten durch die Seele huschen, in Worten wiederzugeben. Ihre Seele, ihr Innerstes ist die einzige Realität. ( P N 155)

Gegen dieselbe »unverbrüchliche Tradition«, mit der »Münch vollständig gebrochen« (PN 154) habe, richtet sich auch der Sprecher des Paratextes in der >Totenmesse Gemeint ist Maurice Maeterlinck: Serres chaudes. Poèmes. Paris 1889.

252

Leben paaren«, bleibt ihm wie dem Leser vorenthalten. Solche okkult(istisch)en Nachforschungen hätten in der optographischen Darstellungslogik der »alten Sage« auf dem »Grunde des Totenauges« eine mimetisch-treue Abbildung des »letzten Todeskampfes« zum Vorschein zu bringen und damit auch eine Abbildung jener als »Brautnacht« von Leben und Tod bezeichneten Erfahrung auf der Schwelle von Immanenz und Transzendenz. Eine solche Schwellensituation zwischen Leben und Tod ist es auch, die die »Augeninspektion« durch den Certain überhaupt erst ermöglicht: Mit dem »Weib auf dem Totenbette« (29) ist nämlich nicht nur die dem Certain aus dem »Anatomiesaal« offenbar vertraute Praxis angesprochen, »die Leichen beim Sezieren« (27) zu betasten, sondern auch der religiös unterlegte »passage« vom Diesseits ins Jenseits. Zur Bestattung, verstanden als »rite de passage«, gehört neben »einer ganzen Reihe von Riten« auch - zu diesem Ergebnis kommt eine erstmals 1908 erschienene kulturanthropologisch-systematische Untersuchung von Arnold van Gennep - , »daß der Leichnam oder der Sarg eine bestimmte Zeitlang im Sterbezimmer (Totenwache), der Eingangshalle des Hauses usw. verbleibt«. 104 Als Variante dieses Ritus entzifferbar wird die vom Certain halluzinatorisch produzierte Anordnung sowohl durch den Titel >Totenmesse< als auch durch eine Reihe von Requisiten: »Im Scheine, einer Totenkerze lag ein totes Weib« (27), und zwar zunächst »auf dem Totenbette« (29), später dann »im Sarge« (30). Zur Spiegelung der dargestellten Schwellensituation (»Brautnacht, in der sich Tod und Leben paaren«) in der diese Darstellung überhaupt erst ermöglichenden Schwellensituation («totes Weib« »auf dem Totenbette«) treten weitere Spiegelungen hinzu: Als zitierter Werther befindet sich der Certain nämlich ebenfalls in einer Schwellensituation, womit sich die >Totenmesse< nicht nur auf die halluzinierten Bildvorstellungen des Certain, sondern auch auf seine Existenz beziehen läßt: »Jetzt beginnt die Agonie; es geht zu Ende« (33). Konsequenterweise beschränken sich die im siebten, achten und neunten Abschnitt angestellten Überlegungen des Certain nicht nur auf die ihm angemessen erscheinende Suizidform, sondern auch auf den »passage« und das >JenseitsTotenmesse< die »Klagen eines Bräutigams am Sarge seiner toten Geliebten« 1 0 ' abhorcht - , sondern auch in der >metaphysischen< Dimension der im ersten Abschnitt entfalteten Interdependenz von Geschlecht und Seele. Gegenstand der auch auf diesen »passage« beziehbaren >Totenmesse< ist ein vom Certain im neunten Abschnitt angesprochenes »Du«: »Und so leb' du mir wohl« (40). Erst die näheren Bestimmungen des »Du« verleihen diesem seine doppelte Kontur. »Du bist aus meinem Gehirn verschwunden« (40). Den Bezugsrahmen, die »eine große Uridee, durch die ich dich entstehen ließ« (41), hatte der Certain bereits im ersten Abschnitt entfaltet: »Und so schuf sich das Geschlecht endlich das Gehirn« ( 1 1 ) , das es »in Sinnesorgane« ( 1 1 ) ausstülpte. Es zerteilte Das, was ganz war, in tausend Modifikationen, differenzierte Gemeingefühle zu distinkten Sinneseindrücken, zerschnitt ihre Verbindungen unter einander, daß einer und derselbe Eindruck in verschiedenen Sensationen kostbar würde, daß die einheitliche Welt als fünf- und zehnfache Welt erschiene [...]. Das war die Geburt der Seele. (11) In der »Brautnacht [...] des Geschlechtes mit der Seele« (12) wurde die Seele [...] krank und welk und siech [...]. Und so muß die Seele untergehen; so muß die siegende Bakterie an dem resorbierten Leukozyten sterben. Aber ich liebe die heilige, große Funktion, in die sich mein Geschlecht verflüchtigte und sublimierte: meine große sterbende Seele, die mir mein Geschlecht geraubt hat und es auffraß, um daran zu sterben. Und so muß ich untergehen an meinem zerfallenden [...] Geschlecht. (13; meine Hervorhebung) Als »Liebste« und als »Totenbraut« ist nicht nur die zuvor als »Du« und als »Ophelia« angesprochene Frau, sondern auch diese geliebte »heilige, große Funktion«, die »große sterbende Seele« des Certain entzifferbar, seine 105

Wiencyslaw A. Niemirowski: Stanislaw Przybyszewski in Berlin (1889-1898). In: Literarisches Leben in Berlin 1 8 7 1 - 1 9 3 3 . Hrsg. v. Peter Wruck. Bd. 1. Berlin 1987, S.254-298, hier S. 268. Niemirowski bezieht sich offenbar auf den halluzinierten Sarg; der Certain der Sprechgegenwart befindet sich jedoch allein in einem Raum mit einem »Tische« und einem »Strauß von Blumen« am »Fenster« (38).

254

freie ungeschlechtliche Seele mit ihrer Ruhe der anfangslosen Ewigkeit, sie, die heilige besiegte Siegerin, sie, die Allumfassende, Anfang sie und Ende, sie, der höchste, letzte allgewaltige Ausdruck Meines Stammes, sie, die sterben muß, weil das Geschlecht es will, 106 sie, die sterben muß, weil sie es selbst will [-]. Und so leb' du mir wohl. Du bist aus meinem Gehirn verschwunden. (39-40) Jenseitsüberlegungen, wie sie für Totenmessen als Spielart und Teil eines Ubergangsritus üblich sind, strengt der Certain aber nicht nur bezogen auf die sterbende Seele an (Rückkehr »in die eine große Uridee«; 41), sondern auch bezogen auf eine menschliche, dem Verwesungsprozeß anheimgegebene »Liebste«, der die sterbende Seele überantwortet werden soll: Aber jetzt: in jenem Augenblick, wo ich vielleicht einmal Eines mit dir werde, wo irgend ein Geschöpf die anorganischen Stoffe, in die wir dann zerfallen, in sich aufnehmen wird, um sie irgend einem anderen Wesen organisch wiederzugeben: wo wir uns finden werden in ein und demselben Pflanzengefäß, auf einer und derselben molekularen Bahn: jetzt, Liebste, inmitten dieser lächerlich doktrinären Ideen will ich meine Stirn in deinen Schoß legen und will dir deine schönen langen Hände küssen, - zu deinen Füßen werfe ich die schwere Last meiner Herrschaft über die Welt und alle Kreatur: ich gebe dir meine Seele zurück. (40-41) Vier Schwellensituationen, vier Ubergänge spiegelt demnach die (semiologisch) selbst als »passage« gekennzeichnete »Augeninspektion« ab: den »passage« des »Weibes auf dem Totenbette«, den des zum Suizid, zur »rückschreitenden Metamorphose« (41) entschlossenen Certain, den der toten Geliebten und schließlich den der »Seele«. Der »auf dem Grunde des Totenauges« vermutete Gegenstand der Abbildung, »die wüste Brautnacht, in der sich Tod und Leben paaren«, und das Verfahren des Abbildens entsprechen sich dabei sehr genau, denn ebenso wie die Konservierung des Transitorischen, des Ubergangs vom Leben zum Tod, dargestellt ist, so liegt diese Konservierung auch der Darstellungsleistung der Opto-/ Photographie zugrunde. In der Logik der vom Certain ins Spiel gebrachten »alten Sage« wie auch im Gefolge der umstrittenen US-amerikanischen Entdecker der >Totenbilderletztes Bild< ein solches Ubergangsgeschehen vor und damit ,oé

Auf der Grundlage der Ausgabe von 1893 (s. Anm.6), S.68, verbessert; die Ausgabe von 1990 (s. Anm. 1) führt den >Vers< »sie, die sterben muß, weil das Geschlecht es will« zweimal auf. 2

55

immer auch den produktionsästhetischen Gehalt photographischer Aufzeichnungsverfahren selbst. In semiologischer Perspektive leistet die physische wie psychische - Optographie demnach weit mehr als nur eine nahezu perfekt mimetische Wiedergabe eines vorgängigen Geschehens, nämlich die fünfte Spiegelung, nun des Zeichengebungsprozesses selbst, fällt doch mit der Geburt des Zeichens alles vormalige Leben vom Bezeichneten ab. Der Semiosevorgang wird sowohl vollzogen wie reflektiert, das Zeichen produziert und diese Hervorbringung - en abyme - abgebildet. Was der Certain ausspart, indem er seine Aufmerksamkeit vom »Lid« des »Totenauges« abschweifen und seine Finger am Gesicht der Toten hinabgleiten läßt, ist nicht nur die Inspektion der »großartigsten O f fenbarungen des Intimsten und Innersten der Menschenseele« (10), der »Entladungen der menschlichen Seele«, 107 sondern auch die der Grundstruktur der Semiose. Und dies geschieht nicht ohne Grund, denn die mimetische Leistungsfähigkeit der in der »alten Sage« angesprochenen Optographie verfügt über einen entscheidenden Mangel, der das Projekt des »psychischen Naturalismus« in Frage stellt: sie vermag zeitlich Erstrecktes freilich »nur andeutungsweise«, 108 niemals aber authentisch darzustellen. Sobald ein Vorgang oder ein Geschehen in eine bildliche Darstellung überführt werden soll, kann dies nur um den Preis einer Fest-stellung geschehen, die komplexe Vorgänge abbildet, Geschehen in Bilder transformiert, Leben zum Tod (im bildlichen Zeichen) gerinnen läßt. Mit der Erwartung, die der Certain an die »alte Sage« richtet, den »Todeskampf«, »die wüste Brautnacht, in der sich Tod und Leben paaren«, abzubilden, überfordert er die Darstellungspotenz der Opto-/Photographie. Beide Gegenstände sind nämlich in ihrer zeitlichen Erstreckung akzentuiert: als >Kampf< und als >NachtAugeninspektion< dar, in der ebenfalls ein (spätestens im Werther-Bezug deutlich geworde'° 7 Glasser (s. Anm.75), S. 153. 108 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Gotthold Ephraim Lessing. Werke. Bd. 6. Hrsg. v. Albert v. Schirnding. München 1974, S. 7 - 1 8 7 , hier S. 103. Die hier ins Spiel gebrachte Problemkonstellation steht im Mittelpunkt von Lessings wirkungsmächtiger Abhandlung.

256

ner) »Todeskampf«, eine »wüste Brautnacht, in der sich Tod und Leben paaren«, zur Darstellung zu kommen hätte - nun aber diejenige des Certain (auf höheren fiktionalen Ebenen auch diejenigen des »toten Weibes, seiner »Liebsten« und der »Seele« und semiologisch des Zeichengebungsprozesses). Sein »Empfindungsleben«, sein »Zittern«, »sein Puls«, sein »individuelles Leben« und die »großartigsten Offenbarungen des Intimsten und Innersten« seiner »Menschenseele« sollen in ein »Totalitätsbild« (10) überführt werden. Beide >Augeninspektorenabgebildet< zu finden, der Certain im Medium des Bildes, der Leser im Medium der Schrift. So sehr »Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie« und so sehr »Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerei« 109 sein mögen, der semiologisch begründete Vitalitäts- und Authentizitätsverlust der vermeintlich perfekt-mimetischen Wiedergabe, sei es im Bild (»Augeninspektion«), sei es in der Schrift ^Totenmesse^, bleibt von der medialen Differenz gänzlich unberührt, denn weder Bild noch Schrift vermögen das jeweils zeichenhaft Dargestellte im Modus der Präsenz zur Erscheinung zu bringen: »Auf dem Grunde des Totenauges« kommt bestenfalls ein Abbild des »Todeskampfes« zum Vorschein, in der »Erzählung« vermögen der »intimste Puls« und »das leiseste Zittern« eben nur »geschrieben« sich zur Geltung zu bringen - unüberwindbar bleibt der bereits der Darstellungsleistung der Photographie zur Last gelegte »Mangel an Leben«. 110 Diese mit dem Vorgang der schriftlichen oder bildlichen (nicht zufällig im Paradigma der Photographie verhandelten) Fixierung einhergehende Uberführung eines Lebendigen in den Bereich des Todes läuft, semiologisch und poetologisch gewendet, dem vom Paratext-Sprecher entwickelten Schreibvorhaben ebenso zuwider wie dem in der »alten Sage« gegebenen Versprechen: »Ich erinnerte mich plötzlich, daß nach einer alten Sage auf dem Grunde des Totenauges der letzte Todeskampf zu sehen sei« - nicht etwa ein (wie auch immer beschaffenes) Abbild des Todeskampfes, sondern dieser selbst soll zu sehen sein. Ebenso zielt die »Erzählung« auf die Illusion von Präsenz. Sie »ist in der Ichform geschrieben, weil man in ihr den intimsten Puls am besten erfassen« (10) und noch »das leiseste Zittern [...] am deutlichsten vernehmen« (10) könne. Die unter diesem Vorzeichen darstellerischer Au'°9 Ebenda. " " A d a l b e r t Stifter an Gustav Heckenast, 20. Juli 1857. In: Adalbert Stifters Sämmtliche Werke. Bd. 19. Hrsg. v. Gustav Wilhelm. Prag, Reichenberg 1923, S. 32-42, hier S. 35; vgl. Kapitel IV.ι. 2

57

thentizität, wie sie in der Modellvorstellung des »psychischen Naturalismus« oder der >Seelenphotographie< begrifflich gefaßt ist, inszenierten Schwellensituationen des »toten Weibes«, des Certain, der »Liebsten« und der »Seele« verlieren ihr Lebendiges, geraten eben zu »geschriebenen« oder »gemalten Präparaten«. Die »wüste Brautnacht« - nun poetologisch gelesen - von authentischem Innenleben und >bildlicher< Fixierung durch den Paratext-Sprecher schrumpfte auf einen nun nicht ophthalmologisch, sondern zeitlich bestimmten Augenblick zusammen. Pointiert gesagt, fände man »auf dem Grunde des Totenauges« nicht nur das »große Lebensrätsel« vor, sondern eben auch - zu allem Übel auch noch »cent fois grandeur naturelle« - die Selbstaufhebung der im Erzählprojekt ostentativ in Aussicht gestellten Vitalität und Authentizität der Darstellung. Den »Mangel an Leben« in der bildlichen Darstellung auszumerzen, gelingt ungefähr zeitgleich zur Entstehung der >Totenmesse< - so hat es zunächst den Anschein - dem Illusionierungsmedium par excellence: der Kinematographie. Wie bereits eine ihrer medialen Wegbereiterinnen, die Photographie, vollzieht auch die Kinematographie die Wende des Blicks ins Innere menschlicher und tierischer Körper, und zwar als »Röntgenkinematographie« - eine offenbar bereits für die Zeitgenossen unausweichliche medientechnische Entwicklung: »Es konnte nicht ausbleiben, daß« angesichts der Möglichkeit, das bewegte Innere des Menschen auf einem Fluoreszenz-Schirm darzustellen und von den zur Erscheinung gebrachten Abbildungen Photographien anzufertigen, der Gedanke aufkam, eine Reihe von Röntgenbildern des Schirmes nacheinander, also z.B. ein sich bewegendes Objekt, aufzunehmen. Einer der ersten, der auf diesen Gedanken kam, scheint der Schotte Dr. John Maclntyre gewesen zu sein, der Aufnahmen eines sich bewegenden Froschschenkels machte, die er zu einem Kinofilm zusammensetzte und zum ersten Male Ende 1896 vor der Glasgower Philosophischen Gesellschaft vorführte. 1 1 1 (Abb. 49)

Zwar bildet diese noch vor der Jahrhundertwende etablierte Aufzeichnungs- und Wiedergabetechnik den bisherigen Höhepunkt des nach innen gewendeten mediengestützten Blickes, doch gelingt es der Röntgenkinematographie ebensowenig, das Gesetz der Mortifizierung des Abgelichteten außer Kraft zu setzen wie zuvor der Photographie und ihren

1,1

Glasser (s. Anm. 75), S. 174. Als Pionier der direkten (d.h. die Einzelbilder der Bewegung nicht vom Fluoreszenzschirm abnehmenden) Röntgenkinematographie wird Franz M. Groedel: Die Technik der Röntgenkinematographie. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 35 (1909), S.434-435, gehandelt.

258

Abb. 49 nach >innen< gerichteten medialen Derivaten, der Seelen-, Geister- und Röntgenphotographie. Um wieviel weniger »die Worte >GeistSeele< oder >Körper«Totenmesse< nämlich - ins Werk gesetzt ist; sie greift aus in eine für die Gattung der Missa pro defunctis grundlegende Dimension. Ihrer Gattungsbezeichnung nach fungieren Totenmessen nämlich, ganz besonders im 19. Jahrhundert, als Gebrauchstexte und drohen somit in die Reihe der »unzähligen Requiem-Vertonungen für den täglichen Gebrauch ohne ästhetische Ansprüche« 117 gestellt und auf diese Weise selbst der nun nicht theologisch, sondern kulturgeschichtlich begründeten Vergänglichkeit überantwortet zu werden. Wenn mit der über das Gattungsmerkmal vollzogenen Kennzeichnung der >Totenmesse< Przybyszewskis als Gebrauchstext eine als discours inszenierte Auslieferung an das kulturelle Vergessen einhergeht, überliefert der Text zunächst sich selbst, zugleich aber auch Generationen von Lesern einer rituell umstellten Schwellenerfahrung: Das »individuelle Leben« (10) des Certain und des Textes bildet sich in den toten Zeichen der Schrift ab, der Text inszeniert - genau wie der Certain, von dessen Untergang er erzählt, - seinen Suizid und überläßt es der Gemeinde der Trauernden, ihn seines nun nicht eschatologischen, sondern ästhetischen Heils, seiner Unsterblichkeit im literarischen, aus »den Werken« der »großen Literaten« (10) gebildeten Kanon, immer wieder neu zu versichern. Im zyklisch begründeten biologistisch-evolutionstheoretischen Unsterblichkeitsmodell der >Totenmesse< - kaum zufällig fällt der Name »Darwin« ( 3 1 ) - präsentierte sich eine solche Unsterblichkeit weniger als Erinnerung an die >TotenmesseDas Tier, von der Scholle losgelöst, mit inneren Wurzeln, ein automatischer Oxydationsapparat, entnimmt der Pflanze organische Verbindungen, Eiweißkörper, Kohlenhydrate, Fette, Sauerstoff, und gibt sie an Luft und Boden in anorganischer Form zurück.< >Die Pflanze, an der Scholle haftend, mit äußeren Wurzeln, ein bewegungsloser Reduktionsapparat, entnimmt der Luft und dem Boden anorganische Verbindungen und gibt sie dem Tiere in organischer Form zurück.< (40)

In die Welt der Textproduktion und -rezeption versetzt ist ein Stoffwechselmodell produktionsästhetischer Intertextualität entworfen, das Texte in kleine Einheiten - Zitate und Lemmata - zerlegt. Für die Unsterblichkeit der Texte bürgt die neuerliche Integration und Montage der Versatzstücke, indem »irgend ein Geschöpf die anorganischen Stoffe, in die« Texte »dann zerfallen, in sich aufnehmen wird, um sie irgend einem anderen Wesen«, dem Leser des neuen Textes nämlich, »organisch wiederzugeben« (40) - ein Verfahren, das die >Totenmesse< selbst unverhohlen praktiziert. Zugleich ist sie damit im intertextuellen >Stoffwechselkreislauf< situiert. Im Unterschied zur liturgisch fixierten und in Text und Architektur verbindlichen Totenmesse der römisch-katholischen Kirche ist der Text der >Totenmesse< Przybyszewskis nämlich nicht als homogenes Gefüge biblischer Rede, 1 1 ' sondern als lockeres Konglomerat konzeptuell teilweise unvereinbarer literarischer, musikalischer, kunstgeschichtlicher, mythologischer, wissenschaftlich-säkularer und biblisch-sakraler Textsegmente und Bausteine 120 komponiert. So gelesen ist es der Text selbst, der 1,8

Dem prägnanten Duktus nach gemahnen die Stellen an Darstellungen in den gängigen Lexika; vgl. etwa >StoffwechselParaphrasen< zu publizieren. " Robert Musil an Wiener Verlag, Berlin, 2 1 . 1 2 . 1905 (B I,i6). ·' Diesen Ruf erwirbt sich Musil, folgt man Werner Fuld: Der Schwierige. Zu Verlagsproblemen Robert Musils. In: Robert Musil. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. 3. Aufl. München 1983, S. 44-62, insbesondere während der Arbeit an >Der Mann ohne Eigenschaften^ 14 Robert Musil an Wiener Verlag, Berlin, 2 1 . 1 2 . 1905 (Β 1,16). 15 Vgl. Elisabeth Stopp: Musils >TörleßDie Verwirrungen des Zöglings Törleß< in die Nähe der von Beineberg bevorzugt konsultierten Bücher, »in denen kein Wort von seinem Platze gerückt werden durfte, ohne den geheimen Sinn zu stören« (19). Mit einer solchen am materiellen Substrat der Literatur ansetzenden Wirkungs-Ästhetik schreibt sich Musil in den Kontext wissenschaftlicher Bemühungen um »ergonomische Optimierungen der Lesezeit«18 ein. In den 1890er Jahren beginnen Psychologen, Psychophysiker und Lesephysiologen, wie zuvor Augenärzte, Pädagogen, Setzer, Drucker und Buch-

,6

17

18

terpunktion beschränkt: »Musil ging zu dieser Zeit beim Schreiben jeder Seite, was ihr Aussehen betraf, sehr bewußt vor, speziell bei der Interpunktion« (S. 237); »Die Interpunktion war für Musil zu dieser Zeit ein wichtiges Stilmittel, eine Weise des >FühlbarDie Verwirrungen des Zöglings TörleßVerwirrungen des Zöglings Törleß< gelten in Fachkreisen als ideale Lesebedingungen 51 Schriftgrade von acht bis elf Punkt, bei einem engen Satz ohne >Löcher< sechzig bis siebzig Zeichen pro Zeile und dreißig bis vierzig Zeilen pro Seite sowie ein ausgewogenes Verhältnis von Satzspiegel und Papierrand. Bereits 1880 hatte der Mediziner Hermann Cohn nach den Kriterien »Größe der Buchstaben«, »Durchschuß«,

4!

Dodge/Erdmann (s. Anm. 20), S. 7. James McKeen Cattell: Ueber die Zeit der Erkennung und Benennung von Schriftzeichen, Bildern und Farben. In: Philosophische Studien 2 (1885), S.635-650. 47 Vgl. ebenda, S.636. 48 Dodge/Erdmann (s. Anm. 20), S.9. Vgl. Julius Zeitler: Tachistoskopische Untersuchungen über das Lesen. In: Philosophische Studien 16 (1900), S. 380-463, hier S. 380-382. 49 Dodge/Erdmann (s. Anm. 20), S. 16. Messmer (s. Anm. 44). 4é

11

Vgl. Émile Javal: Die Physiologie des Lesens und Schreibens. Leipzig 1907, S. 2 1 3 - 2 5 2 . 2

75

»Dicke der Buchstaben«, »Länge der Zeilen« und »Approche« (Laufweite) den »Begriff >schlecbter Druck< [...] eingehender definirt«. 52 A n der für Lese- und Typographieforschung entscheidenden Apparatur, »am Tachy[s]toskop«n nämlich, befaßt sich Musil - seit Oktober 1903 Student »der Philosophie, vornehmlich [der] Logik und experimentellen Psychologie« 54 in der »Tradition Helmholtz's unter Professor Stumpf«, 55 vermutlich im Labor des »neuen Zentrums der Forschung in Berlin« 56 mit den im menschlichen Sehen und den in Buchstaben und Buchstabengruppen angelegten Bedingungen des Lesens: Von einer gewissen Geschwindigkeit aufwärts werden sich schon die vorcentralen Prozesse verwirren. Rein optische Nachbilder sind eigentlich ausgeschlossen, da ja die Buchstaben nacheinander im selben Punkt gesehen werden. Es wäre aber zu untersuchen, ob nicht doch ein Totalanblick des Wortes oder doch seiner mittleren Partien zustande kommen kann. Sodaß die mittleren Buchstaben befestigter sind (Entweder die Buchstaben hinterlassen zwei Eindrücke, - für sich und in der Gesamtheit - oder es ist bloß ihr Zusammenhang lebhafter.) Die ersten Buchstaben können am leichtesten vergessen werden. Wenn das ganze Gesichtsfeld ausgefüllt ist, ist die Aufmerksamkeit am wenigsten gehetzt; woher gerade die mittleren Partien zusammengefaßt werden. Die gemachten Fehler können ihren Grund haben in: optischen Prozeß, Apperception, Reproduktion. Je nach dem wird Anderes aus ihnen zu schließen sein [···] Den Unterschied zwischen rein optischer Perception und Auffassung, bzw. dem der betreffenden Zeiten könnte man vielleicht feststellen, indem man als auslösenden 57 Reiz einmal einen optischen, ein ander Mal einen akustischen verwendet.' 8 In den kryptisch anmutenden Notizen Musils sind für die Lese-Forschung entscheidende Fragen angesprochen, wie etwa die Ermittlung der Mindest-Expositionsdauer zur »rein optischen Perception und Auffassung«, d.h. zur Wahrnehmung des Licht-Reizes und zur Identifizierung 52

Hermann Cohn: Ueber Kurzsichtigkeit, Bücherdruck und Schulärzte. In: Deutsche Rundschau 25 (1880), S.423-438, hier S.427, 430, 4 3 1 , 432; analog: Hermann Cohn: Ueber Schrift, Druck und überhandnehmende Kurzsichtigkeit. In: Tageblatt der 53. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Danzig vom 18. bis 24. September 1880, S.42-52.

" Τ I,i25 (Heft 24: 1904/05). S4 Robert Musil: Curriculum vitae. In: Robert Musil. Gesammelte Werke. Bd. 2. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek 1978, S. 949-951, hier S.949. " Ebenda. ' 6 Ebenda. 57 Verbessert aus »auslöschenden«. ! ® Τ I,i25 (Heft 24: 1904/05). 2/6

des Exponierten, oder die bevorzugten Fixationspunkte bei der Lektüre von Wörtern - »die Stellen direkter Fixation treffen vielleicht stets ungefähr die Wortmitten«, 59 lautete die fünf Jahre zuvor aufgestellte Hypothese von Dodge und Erdmann. Die Zeitdifferenz zwischen Reizwahrnehmung und Identifizierung gibt Auskunft über die Dauer der mentalen Verarbeitung der Sinneseindrücke (ebenso sind mögliche Fehlerquellen angesprochen). Insbesondere aber die Frage, »ob nicht doch ein Totalanblick des Wortes oder doch seiner mittleren Partien zustande kommen kann«, zielt auf die Ausleuchtung des Zusammenspiels optischer, psychophysischer, neurologischer und mentaler Gesetzmäßigkeiten des Lesens auf der einen und der für verstehendes Lesen notwendigen Expositionsdauer der Schrift auf der anderen Seite. Rund zwanzig Jahre später beschreibt Musil im Entwurf zum Essay >Ansätze zu neuer Ästhetik< »den Hauptvorgang in unsrem Sehakt« und bezieht sich auf die Kulturtechnik des Lesens: Wir sehen Chiffern, Sigel, Abkürzungen, Zusammenfassungen, Begriffe, Gewußtes [...]; ihn [den Sehakt; V. M.] durchdringend und tragend gehen vom sinnlichen Material dominante Bruchstücke in ihn ein und eine rege Fülle anderer [...]. Wir nähern uns einem unbekannten Gegenstand und sehn einen unbestimmten Knäuel von Eindruck solange, bis uns einfällt, was das ist, wonach mit einem Schlage die Eindrücke zusammenspringen und diesen Gegenstand bilden. Wir lesen weder Buchstaben noch Worte, sondern Satzteile von ungefähr 3/4 Zeilen Länge und sind auch sehr erstaunt, wenn wir etwa das Blatt umkehren und um das Fliegengitter schwarzer dunkelgrauer Buchstaben u. weißer hellgrauer Zwischenräume bemerken, durch das wir aus- u. - eingeschlüpft sind.60 Daß die Größe der Buchstaben und die Entfernung zwischen Auge und Schrift für die Lesbarkeit, für die verständige »Auffassung« der exponierten Schriftteile, zu den maßgeblichen Determinanten gehören, gilt um 1900 als Grundlagenwissen der Lese-Forschung am Tachistoskop; wie die Prüftafeln der Augenheilkunde - etwa >Dr. Snellen's Probebuchstaben zur Bestimmung der SehschärfeHnturpbilojopt)ir. »erlin, Ü. £abel. tro j&jt. so A. Sdíaiiborpli. 5. ; Eljne inncrit £alt. lír;álilimg. Sui beut îânifàeit «on 3. T. üiefller. 2. «ufi. »remen. \\ ,»i¡dier. 3 Sdiroeber, IS.; luí 3d)Io6 out Wcero. ¡Kornau. »reitau, S. Sdjottlaenber. :t ,//. 2(t|iinionii, 3utSieid|cbeá3bealí. trei Sortrâfle. ïeipjifl, Don Carlos« etwa kostete«, wie Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Uberblick. München 1991,8.247, recherchiert, »zwei Reichstaler - Reclam bot ihn nach 1867 für ein Vierundzwanzigstel dieses Preises an, nämlich zwei Groschen«. 8l

284

ben in eleganten Ganzleinenbänden« 85 gekostet. Entsprechend sehen die (auf das Maß von Cohn gebrachten) 86 typographischen Rohdaten der Reclamausgabe aus: Die Buchstabengröße im Haupttext überschreitet die i% mm-Grenze nicht, in den Anmerkungen erreicht sie nicht einmal ι mm. Der Durchschuß beläuft sich im Haupttext auf rund ι % mm, »unter 2'/2 mm«, mahnt Cohn, »dürfte er in keinem Schulbuche sein«. 87 Aus seinen Befunden zieht Cohn eine Konsequenz, die Törleß die Lektüre des Reclambandes versagen müßte: Die Schulbehörden dürften sich nicht begnügen, den Inhalt der zu empfehlenden Bücher zu studiren, mit dem Millimetermaßstabe in der Hand müßten sie von jetzt ab jedes Schulbuch prüfen und es unerbittlich auf den Index prohibitorum librorum setzen, wenn die Buchstaben kleiner als 1,5 mm sind.88 Den >Streit der Facultäten< beendet eine bereits 1798 zu den Entwicklungen im Buchdruck Stellung beziehende »Nachschrift« Kants, worin er »den Verfasser der Kunst das menschliche (auch besonders das literärische) Leben zu verlängern«, 89 den Pathologen Christoph Wilhelm Hufeland, auffordert, daß er wohlwollend auch darauf bedacht sey, die Augen der Leser (vornehmlich der jetzt großen Zahl der Leserinnen, die den Uebelstand der Brille noch härter fühlen dürften) in Schutz zu nehmen: auf welche jetzt aus elender Ziererey der Buchdrucker, (denn Buchstaben haben doch als Malerey schlechterdings nichts Schönes an sich) von allen Seiten Jagd gemacht wird; damit nicht, so wie in Marocko, durch weiße Ubertünchung aller Häuser ein großer Theil der Einwohner der Stadt blind ist, dieses Uebel aus ähnlicher Ursache auch bei uns einreiße, vielmehr die Buchdrucker desfalls unter Polizeygesetze gebracht werden. - Die jetzige Mode will es dagegen anders; nämlich: 1) Nicht mit schwarzer, sondern grauer Tinte (weil es sanfter und lieblicher auf schönem weißem Papier absteche) zu drucken. 2) Mit Didotschen Lettern, von schmalen Füßen, nicht mit Breitkopfschen, die ihren Namen Buchstaben (gleichsam bücherner Stäbe zum Feststehen) besser entsprechen würden. 3 ) Mit lateinischer (wohl gar Cursiv-) Schrift 85

Vgl. hierzu die Verlagswerbung in Kant (s. Anm.69), S. 1 9 7 - 2 1 6 (unpaginiert): Von den in »Philipp Reclam's Universal-Bibliothek« »bis November 1887 erschienenen [...] 2330 Bänden« beträgt der »Preis jeder Nummer 20 Pfennig«, S. 197, unpaginiert; Kants »Kritik der praktischen Vernunft< erscheint als Doppelnummer 1 1 1 1 + 1 1 1 2 (S. 203, unpaginiert) und als »Miniaturausgabe« zum Preis von 80 Pfennig (S. 2 1 3 , unpaginiert).

86

Als tertium comparationis dient den Messungen Cohns (s. Anm. 52), S.427, das kleine »n«. E r hat »einfach mit dem Millimetermaßstab die Buchstaben« gemessen, »und zwar das >nNachtwachen. Von Bonaventuras moniert, daß ihm »eine große Iliade in Sedez herausgegeben, nimmer behagen will«, und spricht zugleich vom »Lorgnetten Zeitalter«, in dem »die kleinen [Gegenstände] recht gründlich kultivirt werden, weil Kurzsichtige in der Nähe um so schärfer sehen«.94 Es floriert

90

Immanuel Kant: Der Streit der Facultäten in drey Abschnitten. Königsberg 1798, S. 202204. ?I Kant hatte diverse kürzere Aufsätze in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht, u.a. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 4 (1786), S.481-494 (Satzspiegel: 6,8 cm χ 1 1 , 3 cm, 29 Zeilen, Fraktur Petit mit 1 Punkt Durchschuß). 52 Kittler (s. Anm. 18), S. 1 1 1 . Kittler isoliert einen Innovationsvorschlag Kants aus einem ganzen Verbund, deren übrige mit später experimentell bestimmten übereinstimmen. Lediglich in der Zurückweisung der von vielen Zeitgenossen gewünschten Antiqua-Lettern läßt sich das Statement Kants als altmodisch qualifizieren. Da Kittler aber gerade die Bedeutung des Fraktur-Antiqua-Streits enorm aufwertet und die anderen Elemente der Leseerleichterung ausblendet, muß Kant als altmodisch gelten. « Wittmann (s. Anm. 84), S. 184. 54 Nachtwachen. Von Bonaventura. Penig 1804/1805, S. 167, 1 3 2 - 1 3 3 .

286

das Geschäft mit Sehhilfen - man denke nur an den »Lorgnetten und Brillen«, »immer mehr und mehr Brillen« feil bietenden Coppola aus E.T. A. Hoffmanns >SandmannKritik der praktischen Vernunft< und neun Jahre nach dem Erscheinen der >Verwirrungen des Zöglings Törleß< wird der Ich-Erzähler Pernath von Gustav Meyrinks >Der Golem< »das >Prager Tagblatt< von der Wand nehmen und« warten - und klagen: »Die Buchstaben liefen wie Ameisen über die Seiten, und ich begriff nicht ein einziges Wort, von dem, was ich las«.108 Die Hochkonjunktur lesefreundlicher und freilich kostspieliger - Renommierbände, wie sie Törleß' Mathematiklehrer zugeordnet sind (77), steht im Kontext des »auf die Vermittlung ,0)

Cohn (s. Anm. 52), S. 424-42 5. Ebenda, S.427. '°> Dies hat Lorck (s. Anm. 80), S. 2401, und Carl B. Lorck: Handbuch der Geschichte der Buchdruckerkunst. Bd. 2. Leipzig 1883, S. 256 nachgewiesen. Lorcks Zählung erfolgte auf der Grundlage des »letzten Hinrich'schen Katalogs«; von 486 Titeln aus dem Bereich »Schöne Literatur, Volksschriften und Verschiedenes« waren nur 32, von 618 aus dem Bereich »Philosophie, Pädagogik, Schulbücher, Bildungs- und Jugendschriften« nur 100 in Antiqua gedruckt (S. 2401). 106 107 108

Cohn (s. Anm. 52), S.427. Kant (s. Anm. 90), S. 204. Gustav Meyrink: Der Golem. Roman. 1 1 . Aufl. Frankfurt a.M., Berlin 1992, S.262.

289

— 113 —

hiejjj eá nur Petting unb toteber Petting — ate ob bet fein perfönltdjet ©φΗ^ί)eiliger märe. ift beffer, §at er fidj toahrfcheinlich gebaut, Don bem einen fidf) aUeë gefallen ju laffen ate Don jebem ettoaS. Unb Petting toirb tf)m Derfprodjen haben ihn ju fehlen, toentt er i§m in allem ju SBillen ift. Aber fte foUen fid} geirrt haben, unb id) toerbe e3 Saftni nodj auátreiben!" „SSie bift bu barauf getommen?" „3dj bin ihnen einmal nachgegangen." „SBo^in?" „Φα nebenan auf ben Soben. SReiting fiatte Don mir ben ©djlüffel jum anbern Singang. 3Verwirrungen des Zöglings Törleß< um dreizehn Zeilen entlastet, mit großzügigem Papierrand versehen, die Schriftgröße um zwei Punkte angehoben und Blindmaterial, ein Durchschuß von drei Punkten, eingelegt (Abb. 56-57).

2. »Nicht bloß Bücher [...], sondern Offenbarungen, Wirkliches« Daß die Erwartungshaltung, mit der Törleß an Geschriebenes herantritt, aber einen ganz >besonderen< Lese-Effekt anvisiert, zeigt der Versuch, »wieder das gewisse Buch« (95) zu lesen. Törleß hatte sich die Situation sorgsam ausgedacht gehabt: Vorne saß Basini, hinten er, mit den Augen ihn festhaltend, sich in ihn hineinbohrend. Und so wollte er lesen. Nach jeder Seite sich tiefer in Basini hineinsenkend. So mußte es gehen; so mußte er die Wahrheiten finden, ohne das Leben [...] zu verlieren ... (95)

Die erhoffte Wirkung stellt sich jedoch nicht ein, »Törleß warf wütend das Buch zur Erde«. Die umgehend nachgelieferte Begründung des Scheiterns führt auf die Spuren der Medialität des Buches: »Es war zu wenig un110

Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Wien, Leipzig: Wiener Verlag 1906. 1 ' ' Die 1 9 1 1 bei Georg Müller in München erschienene Ausgabe und die 1915 beim S. Fischer Verlag in Berlin erschienene Lizenzausgabe sind »von Mänicke und Jahn in Rudolstadt« in Fraktur Bourgeois gedruckt. Die folgenden Ausgaben sind in Antiquaschrift (Corpus und Bourgeois) gedruckt, die 1931 von Ernst Rowohlt in Berlin verlegte Ausgabe ist »gedruckt in der Offizin Haag-Drugulin A G . in Leipzig«, »Satz und Druck« der 1957 in Hamburg bei Rowohlt erschienenen stammt »von Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege/Werra«, die »rororo Taschenbuch Ausgabe« von 1959 ist »gesetzt aus der Linotype-Cornelia«; ihre »Gesamtherstellung« besorgten »Clausen & Bosse, Leck«.

291

Abb. 5 6

vermittelt« (95). Die sorgfältig inszenierte Lektüre gehört in eine Reihe von >Versuchsanordnungen< mit identischer Grundstruktur. Sie besteht in der Törleß immer aufs neue ernüchternden Differenz zwischen der ungeheuren »Wucht« scheinbar unmittelbarer »Eindrücke« (90) »von fürchterlicher, tierischer Sinnlichkeit« ( 1 7 - 1 8 ) und der Erfahrung ihrer begrifflich-reflexiven Uneinholbarkeit, darin, »daß er zur Ausdeutung dieser Woge, die den ganzen Organismus überflutete, nur über Bilder verfügte, welche davon in seine Sinnlichkeit fielen«: auf der einen Seite die »Wucht der dunklen, ungehobenen Masse«, auf der anderen die »Repräsentanten an der Oberfläche«, die »in gar keinem Verhältnis zu« den vorigen »standen« (90), da sie, semiologisch gesprochen, in ihrer Arbitrarität bewußt werden. Zu den wichtigsten >Versuchsanordnungenbesonderen< (dem Anschein nach unmittelbaren sinnlichen) Erlebens durch den Erzähler nehmen im Buch rund zwei Drittel des Raumes ein. Vom Erzähler ange292

A b b . 57

reichert wird dieses >Kerngeschehen< durch Rück- und Ausblicke auf Törleß' Lebensabschnitte, die den Deutungsversuchungen der Verwirrungen seitens des Lesers Vorschub leisten und als eigenständige, aber durchaus nicht von vornherein stimmige oder gar erschöpfende Interpretation der Geschehnisse zu genauerer Untersuchung anhalten. Wie der Versuch, neuerlich »das gewisse Buch« zu lesen, nun aber auf Produktions- und Rezeptionsebene bezogen, gestalten sich die »Versuche, [...] Aufzeichnungen« jener >Episoden< anzufertigen. Auch in diesem Fall bleiben »die geschriebenen Worte [...] tot, eine Reihe von grämlichen, längst bekannten Fragezeichen, ohne daß jener Augenblick wieder erwacht wäre, in dem er zwischen ihnen hindurch wie in ein von zitternden Kerzenflammen erhelltes Gewölbe geblickt hatte« (93) - ein Effekt, der der von Musil von den »Korrekturen am ersten Druck« erhofften »Wirkung« strukturell vergleichbar ist. Doch von »einer solid bürgerlichen« (41) Position aus läßt sich das >besondere< Erleben des seine eigenen Notizen und »die Reclamausgabe jenes Bandes« lesenden Törleß nicht begrifflich (in Rede oder Denken) einholen. Konsequenterweise müßte dieses >besondere< Erleben in seiner spezifischen Ereignishaftigkeit dem impliziten und empirischen Leser, der es ja mit geschriebenen Worten zu tun hat, konstitutionell unzugänglich und von derselben Erfahrung der sprachlichen Uneinholbarkeit geprägt sein, wie im reziproken Falle die Verbalisierungsversuche Törleß'. Selbst die in erlebter Rede gegebenen Passagen könnten beim Leser entsprechend nur eine unzureichende Spur dessen hinterlassen, was an Törleß sich vollzogen hat. Semiologisch gesprochen 293

würde das »Fleisch des Wortes«, 112 das Signifizierende, im Erfahrungshorizont des impliziten/empirischen Lesers sowenig diaphan auf einen vermeintlich dahinter stehenden Sinn, ein Signifiziertes, wie im Erfahrungshorizont Törleß'. »Notieren wollte« Törleß »die ganze Reihe jener gewissen Erfahrungen von dem Abend bei Bozena an bis zu jener unbestimmten Sinnlichkeit, die sich die letzten Male bei ihm eingestellt hatte«" 3 (88). Wie aber sollen die >besonderen< Erlebnisse Törleß', seine dem Leser in »geschriebenen Worten« mitgeteilten »Erfahrungen« ungemilderter Sinnlichkeit, zu »Offenbarungen«, zu »Wirklichem« werden, wie es Beineberg von »den Büchern der indischen Philosophie« (19) erwartet? Im Medium der Schrift erweisen sie sich ebenso als »tot« wie die in Törleß' Notationsversuchen präsentierten. Kann die Schrift, wovon sie spricht, zugleich »vor Augen zaubern« (9)? An den >Verwirrungen des Zöglings< hätte sich auf der Ebene der Rezeption ein solche Verwirrungen stiftendes Lektüreerlebnis zu entzünden, womit die Frage nach solches Lesen verbürgenden Lektüreprogrammen zur Debatte steht. Die von Törleß und Beineberg programmatisch eingeforderte PräsenzLektüre, die der Schrift »Offenbarungen, Wirkliches« abverlangen soll und deren Materialität entsprechend zu transzendieren hätte, bildet gegenüber der Kant-Lektüre Törleß' die Negativfolie. Texte sollen die »Reaktionen des Gehirns « ( 1 3 ) kontrollieren - und zwar (binnenfiktional) der Figuren und (rezeptionsästhetisch-empirisch) des Lesers. Als Modell einer solchen »Wirkung« läßt sich das Zusammenspiel von Bozenas Rede und Törleß', der Ausgeliefertheit gegenüber ihren Ausführungen zum Trotz, produktiver Rezeption ihrer Erzählung entziffern: »Während Bozena sprach, fühlte sich Törleß ihren gemeinen Anspielungen fast wehrlos preisgegeben. Was sie schilderte, sah er lebendig vor sich. Beinebergs Mutter«, von deren Vorgeschichte Bozena berichtet, »wurde zu seiner eigenen« (32). Die Erinnerung, die Bozena ausbreitet, »etwas besonders Lustiges« (31), scheint in einer Weise präsentiert zu sein, die Törleß selbst zu Erinnerungen anregt, ja nötigt (er fühlt sich »preisgegeben«), denn: »Er erinnerte sich der hellen Räume der elterlichen Wohnung. Der gepflegten, reinen, unnahbaren Gesichter [...], der vornehmen kühlen Hände [...]. Eine Menge solcher Einzelheiten fielen ihm ein« (32). Was Bozenas Rede ins ,Ii

Jacques Derrida: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. In: Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 3 5 1 - 3 7 9 , hier S. 362. " J Gebildet wird die »Reihe jener gewissen Erfahrungen« vom Besuch bei Bozena (29-36), von den Erlebnissen in der Kammer (45-47,49-50, 55,69-72), von der Erinnerung an die Hütten (61), vom Himmelblick (62-63, 65-66) und von den >Lichtspielen< im Schlafsaal des Instituts (84-87).

294

Werk setzt, entzieht sich der bewußten Kontrolle des sehenden und erinnernden Törleß' offenbar: »Es war ihm nur so durch die Grenzen des Bewußtseins geschossen - blitzschnell oder undeutlich weit - am Rande nur wie im Fluge gesehen - kaum ein Gedanke zu nennen« (32-33). Mit der Frage, die sich Törleß stellt: »Was ist es, das es ermöglicht, daß diese Bozena ihre niedrige Existenz an die meiner Mutter heranrücken kann?« (33), ist - rezeptionsästhetisch - zugleich die Frage nach dem >Kunstgeheimnis< gelesener oder gehörter Texte gestellt: Wie Törleß gegenüber den Effekten der Rede Bozenas erweist sich auch der Leser gegenüber den Effekten der >Verwirrungen des Zöglings Törleß< sowohl als Subjekt der Sinnkonstitution als auch als Objekt eines steuernden Textes, der damit im Moment der Rezeption gegenüber einem lesenden oder zuhörenden Subjekt die ihm zugewiesene reine Objekt-Position preisgibt und strukturell auch als Subjekt einer Lektüre entziffert werden kann. Ein derartiges Lesen darf sich freilich nicht an der Lektüre der »Reclamausgabe jenes Bandes« orientieren, die Törleß erwirbt und unter schweißtreibender Anstrengung zu lesen versucht, sondern muß ungestört, das Bewußtsein des Leseaktes unterdrückend verlaufen, um die Produktivität des Rezipierenden nicht zu hemmen. Daß geraucht (29) und »Tee und Schnaps« (31) gereicht wird, scheint diesem Vorhaben förderlich, berücksichtigt man, daß fast allen >besonderen< Erlebnissen Törleß' Nervenreize wie der Genuß von »Tabak« (55), Alkohol (31), das Einatmen »träger, schwerer Luft« (17; analog 68), die Wahrnehmung einer »angenehmen Kühle« oder der »klagenden Laute« (70) Basinis vorausgehen: »Instinktiv macht das soziale Leben von gewissen psychologischen Beziehungen der sinnlichen Erregung zu Farbeindrücken, zu Geruchserregungen, zum Alkohol, zu kinästhetischen Empfindungen und manchem ähnlichen zeitweilig Gebrauch«, so resümiert der als Begründer der experimentellen Psychologie (oder, zeitgenössisch: der Psychotechnik) gehandelte Hugo Münsterberg jüngste Forschungsergebnisse. Insbesondere »die psychophysischen Einflüsse des Alkohols, des Kaffeins, des Nikotins und so weiter, sind genau geprüft worden, und vieles von den Ergebnissen läßt sich mühelos ins Psychotechnische umsetzen«. 1 ' 4 Zur Klärung des in den >Verwirrungen des Zöglings Törleß< angelegten textuellen Darstellungspotentials liegt es nahe, die Schilderungen >besonderen< Erlebens einer genauen Analyse zu unterziehen. Beim Zurechtlegen »jener gewissen Erfahrungen« beginnt Törleß deren Aufzählung mit »dem Abend bei Bozena« (88); dieser gipfelt in der Berührung der beiden " 4 Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig 1914, S.618.

295

Körper: »Bozena vergrub zärtlich ihre Hand mit gespreizten Fingern in sein Haar [...] und [...] bog ihm den Kopf zurück« (36), Törleß wollte etwas sagen, sich zu einem derben Scherze aufraffen, er fühlte, daß jetzt alles davon abhänge, ein gleichgültiges, beziehungsloses Wort zu sagen, aber er brachte keinen Laut heraus. Er starrte mit einem versteinten Lächeln in das wüste Gesicht über dem seinen, in diese unbestimmten Augen, dann begann die Außenwelt klein zu werden ..., sich immer weiter zurückzuziehen .... Für einen Augenblick tauchte das Bild jenes Bauernburschen auf, der den Stein gehoben hatte, und schien ihn zu höhnen ..., dann war er ganz allein. (36)

Während der Beginn der zitierten Passage in Innensichtperspektive 115 und neutralem Erzählverhalten gegeben wird, nimmt der Erzähler im Verlauf des zweiten Satzes die Optik Törleß' ein und fährt somit personal erzählend fort. Die im Erfahrungshorizont Törleß' ablaufenden, unmittelbar hintereinander geschalteten Bildvorstellungen, ein Sich-Verkleinern, Sich-Zurückziehen der Außenwelt, das nur »einen Augenblick« in seinem Vorstellungshorizont währende »Bild jenes Bauernburschen [...], der den Stein gehoben hatte«, gemahnen am Dargestellten, nicht an der Darstellung Interessierte wie Lothar Huber - insbesondere durch die gewissermaßen als Schnitte lesbaren drei Punkte" 6 - auf geheimnisvolle Weise an »eine Filmszene«," 7 nimmt man dagegen die Darstellung in den Blick, an die (1916 erstmals von Münsterberg systematisch aufgelisteten) Möglichkeiten filmischer Präsentation: »suddenly there flashes upon the screen a picture of the past«," 8 ein Filmtrick, den Münsterberg als »objectivation of our memory function« identifiziert, in der der Zuschauer »recognizes the mental act of remembering«." 9 Keine an den Schnittstellen »schematisierter Ansichten« 120 aufbrechenden Leerstellen sind hier durch die drei Terminologisch folge ich Jürgen H . Petersen: Kategorien des Erzählens. Zur systematischen Deskription epischer Texte. In: Poetica 9 (1977), S. 1 6 7 - 1 9 5 . Zur »doppelten Zeitorientierung« des Erzählers in den >Verwirrungen des Zöglings Törleß< vgl. Ingrid Winter: Zeitperspektiven in Robert Musils >Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«. In: Modern Austrian Literature 13 (1980), S.47-68. 116 In der Erstausgabe (s. Anm. 1 1 0 ) stehen drei Punkte, die hier zitierte erweitert um die entsprechenden Satzschlußzeichen. " ' L o t h a r Huber: Robert Musils Törless und die Krise der Sprache. In: Sprachkunst 4 (1973), S.91-99, S.98. Huber beläßt es bei diesem Hinweis. 1,8 Hugo Münsterberg: The Photoplay: A Psychological Study. N e w York, London 1 9 1 6 [Nachdruck: The Film: A Psychological Study. Hrsg. v. Richard Griffith. N e w York 1970], S.40. Ebenda, S . 4 1 . 120 Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. v. Rainer Warning. 4. Aufl. München 1994, S.228-252, hier S.234, folgt Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. 3. Aufl. Tübingen 1965, S.270-293.

296

Punkte angezeigt. Keine hermeneutische Interpretationsleistung wird der Lektüre abverlangt, ebensowenig stehen sie - naturalistischen Schreibweisen ähnlich - in der Funktion von »Gedankenpunkten«121 lediglich für materialisierte Denkpausen Törleß', wie Stopp vorschlägt; vielmehr geben sie »auf expressive Weise«, »mit einer an den Film erinnernden Technik«, »den Rhythmus einer Gedankenbewegung wieder«122 und fungieren als Markierung der Wechsel zu neuen >Filmsequenzenphysisch< angelegte Lektüre wird hier vollzogen. Münsterberg zählt die exklusiven Innovationen filmischer Darstellung auf (nicht ohne Grund in Abgrenzung zu den Darstellungspotentialen des Bühnentheaters, das freilich keine Rückblende wie der Film leisten kann): »the act which in the ordinary theater would go on in our mind alone is here in the photoplay projected into the pictures themselves«.11* Nichts anderes als eine solche >Objektivierung der Gedächtnisfunktion< vollzieht hier der Text, mit dem gegenüber filmischer Darstellung einzigen Unterschied, daß im Falle textueller Darstellung das Erinnerte in einem anderen semiologischen Status präsentiert wird, der vor der >Objektivierung der Gedächtnisfunktion< dem Leser lediglich eine Trans121 122

Stopp (s. Anm. 15), S.238. Freij (s. Anm. 4), S. 5 5. In der menschlichen Wahrnehmungsweise angelegte Bedingungen filmischer Rhythmisierung werden von Freij nicht erfragt, ebensowenig die poetologischen Konsequenzen und die Motivation des suggestiven Verfahrens. Auf den filmischen Charakter weist ferner hin: Helmut Arntzen: Musil-Kommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriften außer dem Roman >Der Mann ohne Eigenschaften^ München 1980, S. 144: »In den >Bildern< wird ein Verfahren beachtet [...]. [Es] geht dahin, einen Lebensmoment zu isolieren, einzurahmen und zu fixieren, aber so daß der Moment selbst als Bewegung, als Ablauf verstanden wird, so daß der Text gleichzeitig literarisches Bild und literarischer (Kurz-)Film ist«.

123

»Das Besetzen von Vorenthaltenem« versteht die Rezeptionsästhetik als »Vorgang der Komplettierung« (Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1991, S. 158), wobei Motor dieses Vorgangs nicht nur die in der Appellstruktur des Textes angelegte Leserlenkung ist. Vielmehr liegt dem Modell ein ominöses Drängen, eine »elementare Aktivität« (Wolfgang Iser: Der Lesevorgang. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. v. Rainer Warning. 4. Aufl. München 1994, S. 253-276, hier S. 264) im Dunkel einer unausgesprochenen anthropologischen Setzung zugrunde: ein (durch literarische Texte aktiviertes und zugleich kanalisiertes) Drängen auf Sinnbildung. Isers Prämisse lautet dahin, daß »der Leser des Romans« »dessen Sinn konstituieren muß« (Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972, S. 8). »Das Verschwiegene bildet den Antrieb der Konstitutionsakte, zugleich aber ist dieser Produktivitätsreiz durch das Gesagte kontrolliert« (Iser: Der Lesevorgang, S.255). Hier aber ist die Leserlenkung einzig in den Arrangements des Textes zu verorten, bedarf keiner inneren Motivation des Verstehenwollens seitens des Lesers, sondern hat nur das Entfalten von Bildvorstellungen durch den Leser zur Voraussetzung.

124

Münsterberg (s. Anm. 118), S.41.

297

ponierung des Erinnerten in eine Bildvorstellung abverlangt, die im Film bereits gegeben ist. Wie »in the photoplay our imagination [...] on the screen« 12 ' projiziert ist, so ist hier die Erinnerungsfunktion als im Lesevorgang vorüberfliegende Bildvorstellung textuell objektiviert. Dieses »Kompositionsverfahren [...], das Bilder und Bildchen aufeinanderfolgen läßt«, aber nur als Zeugnis der »Scheinhaftigkeit der Realität« 126 zu lesen, klammert gerade Bedeutsamkeit und Wirkungspotential der Darstellung aus. Dem textuellen Arrangement obliegt nämlich die Kontrolle der Vorstellungen des Lesers, und zwar »not [...] by the physical necessity of outer events but by the psychological laws for the association of ideas«, 127 womit die Vorstellungswelt Törleß', das in seinem Erfahrungshorizont ablaufende Bilderspiel, vermittelt über zwei Vorstellungsakte (i. Törleß, 2. seine Vorstellungen) zu dem des Lesers wird. 128 Kein Erzähler mehr und keine Appellstruktur, sondern lediglich die Schrift fungiert als Medium, wobei ihre denotative Funktion nur sekundär ist (entsprechend sehen auch zwar plausible, aber eben auch beliebige Zuordnungen aus) 129 : sie ruft eine Bildvorstellung auf. Die Kurzschließung der Erfahrungshorizonte Törleß' und des Lesers aber vollzieht der Text ohne signifikative Kontamination allein im Zusammenspiel psychischer Funktionen und der filmischen Anordnung von Bedeutungseinheiten: »Keinesfalls ist zu sagen, was in diesem Augenblicke vorgeht« (45), heißt es wenig später anläßlich der Schilderung einer ähnlichen Erfahrung. Das im Leser sich Vollziehende hat einen anderen, >objektiveren< ontologischen Status als allein durch Zeichen repräsentierte oder durch Unbestimmtheitsstellen zwar angeregte, doch vom Leser hervorgebrachte Vorstellungen, denn die Verknüpfungsleistung wird nicht durch die produk-

116 117 118

Ebenda. Mattenklott (s. Anm. 6), S. 2 7 1 . Münsterberg (s. Anm. 118), S. 4 1 . Stopp (s. Anm. 15), S. 228, hat auf diesen Zusammenhang bereits aufmerksam gemacht, erklärt die »Unmittelbarkeit« dieser Passagen aber durch »erlebte Rede« und »sprachlichen Rhythmus«: »Der Erzähler verfolgt den Prozeß des Denkens und Fühlens von Törleß zwar aus großer Nähe, aber objektiv, und obwohl er in ihm nur selten völlig aufgeht, erreicht er in dem, was sich terminologisch als >erlebte Rede< [...] bezeichnen läßt, doch durchweg die für diese Form charakteristische Unmittelbarkeit. Man folgt dem sprachlichen Rhythmus der Törleßschen Vorstellungen, und während man ihm beim Denken zuschaut, hält man die zahlreichen Bilder für selbstverständlich«. Rossellit (s. Anm. 1), S. 87: »Das Bild [des Bauernburschen; V.M.] fungiert nicht als Spiegel, sondern wirkt auf Törleß wie das Gegenbild zu seiner Situation. In höhnender Deutlichkeit nämlich demonstriert es, was Törleß versagt ist: es zeigt die Möglichkeit, sich der Gewalt des Sinnlichen wiederum gewaltsam zu entziehen. Zugleich bezeugt es, daß auch solche Bilder für Törleß nichts Fernes, Zufälliges darstellen, denn allein weiß er sich erst, als auch dieses letzte Bild des Reigens vergangen ist«.

298

tive Lesetätigkeit des Rezipienten erbracht, sondern ist im Text als positives Faktum angelegt. Mit der hermeneutischen Komplettierung eines Textes, wie ihn die Wirkungsästhetik im Konzept der >Appellstruktur des TextesFilm< voneinander trennenden >SchnitteSchnitten< von »Menschen« über »Gesichter«, über »ein Gesicht«, über »ein Lächeln« und »einen Augenaufschlag« zu »einem Zittern der Haut« führen und, wie Musil >Die Verwirrungen des Zöglings Törleß< kommentierend an Paul Wiegler schreibt, »nicht begreiflich sondern fühlbar machen«.' 3 5 Das Verfahren, das hier Wirkung erzielt, vertraut sich nicht der hermeneutischen Tätigkeit des komplettierungswilligen und -fähigen Lesers an, sondern schränkt die Spielräume massiv ein, determiniert mithin den Lesevorgang. Katalin Neumer erkennt völlig zutreffend in »diesen Textstellen«, »Ausrufen, Fragen, unvollständigen Sätzen, N o minalisierungen, Parallelismen, Wiederholungen usw.«, »eine Möglichkeit der Mitteilung des Unaussprechbaren«, die »im gleichzeitigen Miterleben möglich« 1 3 6 ist, ohne aber deren Funktionsweise aufzudecken. »He133

134

'3!

136

Robert Musil: Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere. In: Militärwissenschaftliche und Technische Mitteilungen 80 (1922), S. 244-265, hier S. 248. Bereits zu Beginn seines Aufenthaltes in Stuttgart hätte Musil öffentliche Kinematographen-Vorführungen besuchen können. Vom 1. bis 15. Oktober stand auf dem Programm des Friedrichsbautheaters »die Original Bycicle-Renn-Compagnie vom Alhambra-Theater in London, sowie [...] der Kinematograph mit den Krönungs-Feierlichkeiten [Edwards VII. am 22. ι. 1901; V.M.] in London«; Schwäbische Kronik, des Schwäbischen Merkur zweite Abteilung, Mittwoch, 1 . 1 0 . 1902, S. 8. Robert Musil an Paul Wiegler, 2 1 . 1 2 . 1906 (B 1,24). Katalin Neumer: Die Verwirrungen im Labyrinth der Sprache. Ein Interpretationsversuch zu Musils >TörleßThe birth of a nation< ( 1 9 1 5 ) dargestellte E r m o r d u n g A b r a h a m L i n c o l n s u n d legt genau diese F u n k t i o n s w e i s e o f f e n : T h a t o n e n e r v o u s h a n d w h i c h f e v e r i s h l y grasps the d e a d l y w e a p o n can s u d d e n l y f o r the space of a breath o r t w o b e c o m e enlarged a n d be a l o n e v i s i b l e o n the screen, w h i l e e v e r y t h i n g else has really f a d e d i n t o d a r k n e s s . T h e act of attention w h i c h g o e s o n in o u r m i n d has r e m o d e l e d the s u r r o u n d i n g itself. T h e detail w h i c h is b e i n g w a t c h e d has s u d d e n l y b e c o m e the w h o l e c o n t e n t of the p e r f o r m a n c e , a n d e v e r y t h i n g w h i c h o u r m i n d w a n t s t o d i s r e g a r d has been s u d d e n l y b a n i s h e d f r o m o u r sight and has d i s a p p e a r e d . T h e events w i t h o u t h a v e b e c o m e o b e d i e n t t o the d e m a n d s of o u r c o n s c i o u s n e s s . I n the language of the p h o t o p l a y p r o d u c e r s it is a >close-up.< The close up has objectified

in our world

of

percep-

tion our mental

art with a means

which

far transcends

act of attention the power

and by it has furnished

of any theater

stage.117

D i e Darstellungsmöglichkeiten der Schrift scheinen dies (über den s c h o n genannten denotativen Zwischenschritt)138 z u erlauben, o b w o h l die W i e derholung des Ereignisses im Begrifflichen (im D e n k e n u n d

Schreiben)

f ü r T ö r l e ß gerade ausgeschlossen z u sein scheint - eine E r f a h r u n g , die sich geradezu leitmotivisch durch den gesamten Text zieht u n d eine Fülle den A s p e k t der S p r a c h s k e p s i s b e h a n d e l n d e r U n t e r s u c h u n g e n ' 3 5 gezeitigt hat. S y s t e m a t i s c h b e g r ü n d e n läßt sich dieser A s p e k t aus der i m T e x t reflektierten K o n s t e l l a t i o n >zweier WeltenEpisoden< unterlegt Törleß »etwas Geschlechtliches« (21), allen dreien gewinnt er Momente einer Tabuverletzung oder Normübertretung ab: »im Vorübergehen allzu hart ihre [der »Weiber«] Brüste« (17) zu streifen, wie es gelegentlich Praxis der anderen Zöglinge zu sein scheint, Beineberg »halb« ansehend, »halb in der Phantasie das Bild« ergänzend und sich dessen »Kleider vom Körper wegdenkend« (21) vorzustellen und schließlich mit diesem Bozena aufzusuchen. Alle drei Erlebnisse setzen (weitere) sexuell konnotierte und tabuierte, auf Versprachlichung drängende Assoziationen und Erinnerungen frei (17, 23-25, 32-33). Ganz folgerichtig, zumal diese vier Übertretungen (die Nachricht von Basinis Diebstählen eingeschlossen) an einem halben Tag (Spätnachmittag bis Nacht) komprimiert in Törleß' Erfahrungshorizont eingehen, macht er eine >Dopplung< der Welt in eine >Tag-< und eine >Nachtseite< (41-42) aus. Alle weiteren Erlebnisse sind episodenhaft um die begriffliche Einholungsarbeit der in flüchtigen Bildern sich präsentierenden, anderen, dunklen Seite oder der Dopplung selbst zentriert, womit der schon häufig vermerkte Experimentcharakter des erzählten Geschehens144 sich erklären läßt. Der Blick richtet sich entsprechend (zu Recht) auf die Herauspräparierung des experimentellen Gegenstandes und der daran geknüpften Erkenntnisinteressen, darf aber die poetologischen Rückwirkungen und Implikationen nicht außer acht lassen. Einer solchen Vernachlässigung der histoire-Dimension des Textes hat nicht zuletzt Musil als sein eigener begeisterter Leser Vorschub geleistet, in-

,4
Uber Robert Musil's Bücher< das »Gehirn dieses Dichters« den »Sechzehnjährigen« als »eine List«, als »verhältnismäßig einfaches und darum bildsames Material« 146 bezeichnen läßt. Zwar gibt es in der Sprache der Mathematik sehr wohl ein Zeichen für das Unendliche, doch ist dieses nicht >natürlichbesondere< Erleben gewährenden filmischen Präsentationsverfahrens:

' s ° Roger Willemsen: Dionysisches Sprechen. Zur Theorie einer Sprache der Erregung bei Musil und Nietzsche. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60 (1986), S. 1 0 4 - 1 3 5 : »dionysisches Sprechen [...] ist jenes, das sich nicht als Schein des Scheins setzt, sondern diesen selbst in sich ausprägt als die Liquidationsinstanz des Sprachcharakters« (S. 116), und zwar »in Mikrostrukturen«, die »die Erregungsstöße im sprachlichen Material« (S. 130) transportieren. Willemsen gewinnt die erkenntnistheoretischen und sprachskeptischen Positionen aus Nietzsche- und FoucaultLektüren und bezieht sie auf den >Mann ohne Eigenschaften^

305

Was ist in dir? Was vollzieht sich in dir? Zerspringt etwas in dir? Sag! Jäh wie ein Glas, das plötzlich in tausend Splitter geht, bevor sich noch ein Sprung gezeigt hat? Das Bild, das du dir von dir gemacht hast, verlöscht es nicht mit einem Hauche; springt nicht ein anderes an seine Stelle, wie die Bilder der Zauberlaternen aus dem Dunkel springen? Verstehst du mich denn gar nicht? Näher erklären kann ich's dir nicht; du mußt mir selbst sagen ...! (104; meine Hervorhebung) Eines der entscheidenden Protomedien der Kinematographie, die Laterna magica, projiziert beliebige gemalte Bilder auf eine Leinwand (oder auf Rauchwolken). Törleß greift auf das Medienparadigma zurück, um für seine Vorstellung, daß ein Bild, das Basini von sich gemacht haben soll, unmittelbar nach der Übertretung in ein anderes Bild umspringt, ein beschreibbar-empirisches Äquivalent zu finden. Interessanterweise rekurriert Törleß, und zwar >magisch< konnotiert, auf den Bereich der Medien. Doch »gar nichts Ubernatürliches« (83) liegt Projektion und Bilderwechsel der »Zauberlaternen« zugrunde, sondern, nimmt man statt der Perspektive der Bilderrezeption die ihrer Produktion ein, ein optischer und technischer Vorgang. Während Törleß auf ein Medium rekurriert, mit dem man lediglich einzelne, in der Regel unbewegliche Bilder präsentieren kann, greift der offenbar medienkundige Erzähler auf das Paradigma der Kinematographie (91) zurück, um für die Erfahrung jener >besonderen< Erlebnisse Törleß' ein Bild zu geben. Während in Törleß' Medienrede die >Erfahrung< der mutmaßlichen inneren Vorgänge Basinis auf einen Wechsel (metaphorisches Prinzip der Ersetzung) zweier starrer, jeweils nur in einem Zugleich präsentabler Bildvorstellungen festgelegt bleiben, erlaubt es der Rückgriff auf die Kinematographie, Bewegung, die Verkettung zu einem komplexeren Nacheinander (metonymisches Prinzip der Verkettung)' 51 in die Reflexion einzubeziehen, womit der Erklärungsvorsprung des Erzählers gegenüber Törleß 1 ' 2 dem Darstellungsvorsprung des Kinematographen gegenüber der Laterna magica entspräche. Die Engführung der >besonderen< Erlebnisse Törleß' mit der Kinematogra1.1

1.2

Metapher und Metonymie i.S. von Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik. In: Theorie der Metapher. Hrsg. v. Anselm Haverkamp. 2. Aufl. Darmstadt 1996, S. 1 6 3 - 1 7 4 . An Jakobsonu.a. anknüpfend, unterscheidet Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud. In: Jacques Lacan. Schriften II. Hrsg. v. Norbert Haas. Berlin, Weinheim 1991, S. 1 5 - 5 5 , hier S. 32, Metapher und Metonymie: »Ein Wort für ein anderes ist die Formel für die Metapher«, »Verknüpfung mit dem Rest der Kette« die der Metonymie. Er ist Törleß gegenüber auch zeitlich deutlich distanziert: »Törleß wurde später, nachdem er die Ereignisse seiner Jugend überwunden hatte, ein junger Mann von sehr feinem und empfindsamen Geiste« ( 1 1 1 ) ; »Törleß bereute auch nie in seinem späteren Leben das damals Geschehene« (112).

306

phie dient der reflexiven Einholung dessen, was »diese Gefühle« und »diese Eindrücke« ausmacht: Diese Eindrücke waren daher unbeständig, wechselnd, von einem Bewußtsein ihrer Zufälligkeit begleitet. Nie konnte Törleß sie festhalten, denn wie er genauer zusah, fühlte er, daß diese Repräsentanten an der Oberfläche in gar keinem Verhältnis zu der Wucht der dunklen, ungehobenen Masse standen, die zu vertreten sie vorgaben. Nie >sah< er Basini irgendwie in körperlicher Plastik und Lebendigkeit irgendeiner Pose, nie hatte er eine wirkliche Vision: immer nur die Illusion einer solchen, gewissermaßen nur die Vision seiner Visionen. Denn immer war es in ihm, als sei soeben ein Bild über die geheimnisvolle Fläche gehuscht, und nie gelang es ihm im Augenblicke des Vorganges selbst, diesen zu erhäschen. Daher war beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Kinematographien empfindet, wenn man neben der Illusion des Ganzen doch eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde, das man empfängt, hunderte von - für sich betrachtet ganz anderen - Bildern vorbeihuschen. (90-91; meine Hervorhebungen)

Törleß vermag in der Deutung des Erzählers keine Bilder zu liefern, die dem »Gefühl, daß etwas in ihm wie ein toller Kreisel aus der zusammengeschnürten Brust zum Kopfe hinaufwirbelte«, angemessen wären, die dieses Gefühl - »eigentlich war es ja immer nur ein und dasselbe Gefühl« - zu fixieren vermochten, da »er nur über die Bilder verfügte, welche davon in seine Sinne fielen« (90). Entsprechend stehen die sinnenfälligen »Repräsentanten an der Oberfläche in gar keinem Verhältnis zu der Wucht der dunklen, ungehobenen Masse [...], die zu vertreten sie vorgaben« (90). Angesprochen ist einmal mehr das Problematischwerden der Stellvertretung: Eindringlichkeit, Momentaneität, Dynamik und Plastizität des Erlebens kommen in den als Repräsentanten bezeichneten Bildvorstellungen nie zu präsentischer Schau, vielmehr legen sie das Aporetische der Repräsentation offen. In Törleß »wurden die Erniedrigungen lebendig, die Basini erlitten hatte«, doch die »Vergleiche, die er nachher erfand«, konnten das Erlebte ebensowenig »festhalten« wie die vom Erzähler gelieferten, hier zunächst der des »tollen Kreisels« (90), sodann der bereits zuvor bemühte des »tollen Wirbeins« (5 5,91). Um dieser enttäuschenden Erfahrung der Inadäquanz gegenüber der Eindringlichkeit der unmittelbaren Erlebnisse des »festhalten« wollenden Törleß' begrifflich beizukommen, greift der Erzähler zurück auf das Medium des Kinematographen. Im Unterschied zur Laterna magica, die unbewegliche (in seltenen Fällen langsam gegeneinander verschobene) transparente Einzelbilder auf eine helle Fläche (Leinwand oder Rauchwolken) wirft, präsentiert der Kinematograph eine Vielzahl projizierter Bilder, und zwar mit so hoher Frequenz - um 1900 sind es in der Regel fünfzehn bis zwanzig, heute vierund3°7

zwanzig Bilder in der Sekunde 1 ' 3 - , daß die Einzelbilder als Einzelbilder fast nicht mehr wahrnehmbar sind, mithin die (Re)Präsentationstechnik überdeckt wird und entsprechend das Zustandekommen der »Illusion« >Kunstgeheimnis< bleiben muß - dann gelingt es nicht, »im Augenblicke des Vorganges selbst, diesen zu erhäschen«. Damit ist die im menschlichen Sehen angelegte Voraussetzung für das Funktionieren des Kinematographien implizit angesprochen. Die Expositionszeit und die Zeit, die der Weitertransport des Filmstreifens in Anspruch nehmen, ist nämlich jeweils so gering, daß die exponierten Eindrücke im mentalen Wahrnehmungsprozeß des Zuschauers zu einem Bewegungsgesamt, der »Illusion« verschmolzen werden. Mit der Mechanik des Kinematographen liegt die hierfür entscheidende Frage: »Wie kommen die lebenden Bilder zustande?« 1 ' 4 technisch objektiviert, als »stählernes Herz«' 55 zutage. F. Paul Liesegang beantwortet sie von der Warte des Technikers aus: Bei der Wiedergabe der kinematographischen Aufnahme haben wir [...] auf dem Projektionsschirm in Wirklichkeit keine ununterbrochen fortgesetzte Szene, sondern nur eine große Reihe von Einzelbildern dieser Szene, die rasch nacheinander gezeigt werden. Der Film wird auch bei der Projektion sprungweise weiterbewegt; jedes Bild wird einzeln als Lichtbild auf den Schirm geworfen, steht einen geringen Bruchteil einer Sekunde still, um sofort dem nächsten Bilde Platz zu machen. 1 ' 6

Die Mindestexpositionsdauer eines einzelnen Bildes haben Psychophysiker und Psychologen an Tachistoskopen und Fallchronometern längst experimentell ermittelt. Und doch sehen wir nicht Hunderte oder Tausende von Einzelbildern jedes für sich, sondern nur ein einziges Bild: Die Bewegung der Szene, die in Wirklichkeit sprungweise vorrückt, erscheint uns ununterbrochen, in sich geschlossen, so wie wir sie in Natur wahrnehmen.

I!4

'!i

Isi

Vgl. F. Paul Liesegang: Handbuch der praktischen Kinematographie. Die verschiedenen Konstruktions-Formen des Kinematographen, die Darstellung der lebenden Lichtbilder sowie das kinematographische Aufnahme-Verfahren. 3. Aufl. Leipzig 1 9 1 2 , S.4. Die Erhöhung der Leuchtkraft der Projektorlampen ermöglicht es sogar durch das Flügelrad, Bild und Weiterhuschen in je zwei, drei oder mehr Einzelteile zu zerlegen, so daß das Flimmern unterdrückt wird. Ebenda, S. 1. Siegfried Zielinski: Zur Entstehung des Films für das Kino im Spannungsverhältnis von Technik und Kultur. In: Fischer Filmgeschichte. Bd. 1. Hrsg. v. Werner Faulstich u. Helmut Körte. Frankfurt a.M. 1994, S.48-69, hier S. 59. »In diesen feinmechanischen Elementen steckt auf der Maschinenseite das freilegbare Geheimnis für das Funktionieren der filmischen Bewegungsillusion« (S. 61), doch »die projizierten Images sind so, wie wir sie wahrnehmen, nicht wirklich da, sondern werden durch die Rhythmusmaschine Projektor als Illusion der Imagination zugeführt« (S. 62). Liesegang (s. Anm. 153), S.2; das folgende Zitat ebenda.

308

Jedesmal nun, wenn der Filmstreifen um ein Bild weitergezogen wird, tritt die Verschlußblende in Tätigkeit und macht den Projektionsschirm dunkel; denn das Weiterhuschen des Filmbandes muß ja unserem Auge verborgen bleiben. Nach jedem Bilde gibt es also eine kurze dunkle Pause. Aber unser Auge, wenn es sich auch täuschen läßt und statt der sprungweise sich folgenden Einzelbilder ein einziges Bild mit ununterbrochener Bewegung zu sehen glaubt, merkt doch, daß etwas nicht in Ordnung ist, daß etwas dabei anders ist als beim Schauen in der Natur: es nimmt den Wechsel zwischen Hell und Dunkel wahr, es sagt uns: >das Bild flimmert« 157

- ein Manko, das die Erhöhung der Bildtaktfrequenz und die gleichzeitige Perfektionierung der Zusammenarbeit von Flügelrad/Umlaufblende und Malteserkreuz 1 ' 8 beseitigen werden. Die eingangs gestellte Frage nach dem Zustandekommen der »lebenden Bilder« aber hat Liesegang nicht beantwortet. Während Liesegang und seine Fachkollegen auf dem Wege technischer Perfektionierung (Erhöhung der Bildfrequenzen, Einführung von Malteserkreuz und Flügelradblende) um Ausschaltung illusionsstörender Elemente - Unschärfe, Flimmern, Vibrieren, Geräusche 1 ' 9 - ringen, insistiert der Erzähler der >Verwirrungen< gerade auf dem Gewahrwerden des »Vorbeihuschens« (91) der Bilder, auf Irritation der Illusionierung, um das von Törleß beklagte Defizit bei der reflexiven Verarbeitung seiner b e sondere^ Erlebnisse in der Sprache des kinematographischen Mediums zu veranschaulichen. Dieses Defizit besteht darin, daß Törleß lediglich die Illusion einer Vision, »gewissermaßen nur die Vision seiner Visionen« (91), eines in seinem Erfahrungshorizont als ereignishaft sich präsentierenden Erlebens erreicht. Es folgt keine, wie die Konjunktion »denn« erwarten läßt, kausale Begründung des visionären Erlebens nur zweiten Grades, sondern eine Wiederholung der Problemkonstellation zwischen festzuhaltender innerer Erfahrung - »Denn immer war es in ihm, als sei soeben ein Bild über die geheimnisvolle Fläche gehuscht« - und vergeblichem Versuch, »im Augenblicke des Vorganges selbst, diesen zu erhäschen«. U m Törleß' »rastlose Unruhe« zu vermitteln, die sich beim Versuch einstellt, den »Vorgang« des Vorbeihuschens einzufangen, rekurriert der Erzähler auf die dem medieninteressierten Leser zu Beginn des neuen ' ! 7 Ebenda, S. 5; meine Hervorhebung. Das beobachtete Flimmern verschwindet mit dem Fortschritt der Aufnahme- und Projektionstechnik freilich. Vgl. hierzu auch: R. Stigler: Uber das Flimmern der Kinematographien. In: Archiv für die gesammte Physiologie des Menschen und der Thiere 123 (1908), S. 224-232. '' 8 Vgl. hierzu Karl Marbe: Theorie der kinematographischen Projektionen. Leipzig 1910, S. 74-80; Rudolf Thun: Die Entwicklung der Kinotechnik. In: Deutsches Museum. A b handlungen und Berichte 8 (1936), Heft 5, S. 109-138. Vgl. Liesegang (s. Anm. 153), S. 39-47, 76-77, 293-309.

309

Jahrhunderts vertraute, im Modus des >als ob< präsentierte Konstellation, die Begegnung mit einer kinematographischen Vorstellung. Als systematischer Kern dieser mehrfach entfalteten Problemkonstellation erweist sich das Moment der Irritation im Vorgang der Illusionierung. Die >besondere< Wahrnehmung Törleß' verläuft der Einschätzung des Erzählers zufolge gewissermaßen transzendental, 160 im steten, die Illusionierung aufschiebenden Bewußtsein der >Wahrnehmungunmittelbaren< Bildeindrücken kommt nicht zustande: »Mit dieser mechanischen Unvollkommenheit [der Projektion um 1900] enthüllt sich die Apparatur dem Auge, stellt aus, was gewöhnlich verborgen bleibt, die materielle Grundlage der Illusion«. 1 6 ' »Wo aber in« Törleß »diese illusionierende - und doch stets um ein unmeßbar Kleines zu wenig illusionierende - Kraft eigentlich zu suchen sei, wußte er nicht« (91) - sowenig wie Liesegang und der Erzähler. Die anschließende Erklärung des Erzählers entbindet nur ein weiteres psychologisches, keineswegs aber »auf ein irdisches Maß zurechtgerücktes«' 6 2 Rätsel, das der >Begabungpositiven Nachbildes^ das einen perzipierten Bildeindruck für den Bruchteil einer Sekunde festhält und den abgedunkelten Weitertransport des Filmstrei-

160

O b er den »Augenblick des Vorganges« oder den »Vorgang« selbst »erhäschen« will, bleibt offen. ' 6 ' Hoffmann (s. Anm. 6), S. 209. l6 ' Herwig (s. Anm. 4), S. 75. Als menschlichem Zugriff entzogene Kategorie ist die Intuition nicht im Bereich des >Irdischen< anzusiedeln. l6) Münsterberg (s. Anm. 118), S. 24; das folgende Zitat ebenda.

310

fens gerade zu überdecken vermag. Die Erklärung der Bewegungswahrnehmung aber mündet in ein konstruktivistisches Credo: The perception of movement is an independent experience which cannot be reduced to a simple seeing of different positions [...]. The experience of movement is here evidently produced by the spectator's mind and not excited from without [...]. The movement is [...] not really seen from without, but is superadded, by the action of the mind, to motionless pictures.'64 Münsterberg greift damit die zwischen Karl Marbe, Paul Linke und dem Gestalttheoretiker Max Wertheimer ausgetragene Debatte 16 ' um den ontologischen Gehalt des >wahrgenommenen< Bewegungseindrucks auf. Erst Wertheimer wird die Kinematographie als mechanisches Korrelat des Bewegungssehens bestimmen, denn erst »der Kinematograph [erzielt] Bewegung (ähnlich wie das ältere Stroboskop, bei dem sich die Verhältnisse durch die Rotation der Objektstreifen komplizieren«.' 66 Der Kinematograph nämlich präsentiert im Unterschied zu stroboskopisch zerhackten wirklichen Bewegungen in rascher Folge unbewegte Einzelbilder, die zu einem Bewegungseindruck erst montiert werden, womit Bewegung erst im Bewußtsein des Betrachters entsteht. Indem Musils Erzähler die Wahrnehmung Törleß' mit einer durch eine kinematographische Vorführung evozierten engführt, verleiht er der Analogiebildung die notwendige Stringenz, um die Erlebnisse »in ihm lebendig« (90; meine Hervorhebung) werden zu lassen. Indem aber zugleich die Illusionierung als durch die noch unvollkommene Projektionstechnik irritiert bestimmt wird, bleibt der Spielraum gewahrt, der die Technik als solche preisgibt und die Reflexion auf die eigene mentale Leistung der Bewegungsproduktion einleitet. 164

Ebenda, S.26, 27, 29. > Zu dieser Auseinandersetzung vorzüglich: Hoffmann (s. Anm. 144), S. 140-156. Karl Marbe: Die stroboskopischen Erscheinungen. In: Philosophische Studien 14 (1898), S. 376-401, entwirft eine dominant physiologische Nachbildtheorie des Bewegungssehens. Paul Linke: Die stroboskopischen Täuschungen und das Problem des Sehens von Bewegungen. In: Psychologische Studien 3 (1907), S. 393—545, ersetzt den Vorschlag Mar bes durch ein »weitgehend psychologisches auf Identifizierung und erlebter Einheitlichkeit der Wahrnehmungen beruhendes Modell« (Hoffmann, S. 148). »Für Linke steht es außer Frage, daß Bewegungssehen etwas anderes als eine Folge von Phasenempfindungen sein könnte« (Hoffmann, S. 150). Max Wertheimer: Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 61 (1912), S. 1 6 1 - 2 6 5 , bricht mit der Vorstellung, »eine Theorie des Bewegungssehens [...] von der Reizgrundlage her« (Hoffmann, S. 149) formulieren zu müssen. Wertheimer zeigt, »daß die Zergliederung von Bewegung in eine Abfolge von momenthaften Empfindungen und die Empfindung von Bewegung zwei ganz verschiedene Dinge sind« ( H o f f mann, S. 150).

l6

M

Wertheimer (s. Anm. 165), S. 163.

311

Zurückübersetzt in die vom Erzähler gelieferte, auf das Feld der Medientechnik verschobene Erklärung der Törleß irritierenden »rastlosen Unruhe« - Törleß stehe ebenso unruhig vor Vorgängen in seinem Inneren (»in ihm«) wie »man [...] vor einem Kinematographen« (91) (und, so wird zu zeigen sein, wie der Leser vor dem Text) - , hieße das, mit dem Kinematographen eine medientechnische Entsprechung für das, was der Erzähler als »Intuition großer Künstler« bezeichnet, mithin den Inspirationsquell »in ihm« (91) gefunden zu haben. Der >Würde< dieser Deutung entspricht die Selbstinterpretation Törleß', der sich vorkam »wie ein Auserwählter [...], wie ein Heiliger, der himmlische Gesichte hat« (92). Genauer besehen, legt die Verlagerung der Erklärungsversuche auf das Feld der kinematographischen Technik aber mitnichten den Kern der »doch stets um ein unmeßbar Kleines zu wenig illusionierenden Kraft« (91) frei - sie bleibt vielmehr im Dunkel, weil sie nicht in der Mechanik des Projektionsgeräts, sondern, wie Münsterberg weiß, in der Funktionsweise und den Bedingungen menschlichen Bewegungssehens angelegt ist. Die Verschiebung der Erklärung auf das Feld der Kinematographie leuchtet nicht die Funktionsweise der >besonderen< Wahrnehmung Törleß', sondern nur die Produktionsbedingungen der wahrgenommenen Bildfolgen aus und verlegt den Grund der »Unruhe [...], wie man sie vor einem Kinematographen empfindet« (91), vom Vorgang des Sehens ins Wahrgenommene selbst. Die Funktionsweise des Bewegungssehens avanciert zwar zur Chiffre für das >besondere< Erleben Törleß', bleibt aber gerade durch das Ausweichen auf das Feld der Medientechnik ungeklärt. Zieht man, wie Christoph Hoffmann vorschlägt, diskursive Techniken der Stumpfschen Experimentalpsychologie um 1900 zu Rate, lassen sich der »Extrasinn« Törleß' als Effekt strapaziöser Versuchspraktiken und Törleß selbst als zu »Fehlleistungen« 167 neigende, im Netz des Apparate- und Mediendiskurses zu verortende Versuchsperson beschreiben. Die Törleß vom Erzähler unterlegte »Intuition großer Künstler« (92) wäre in dieser Deutung als Effekt einer Auslieferung des Individuums an die in der Medien- und Apparate-Entwicklung angelegte Transformation von Wahrnehmungsmustern zu lesen. Auf Musils Roman bezogen, wäre dieser der von Apparate- und Medienwirklichkeiten hervorgebrachten künstlerischen »Intuition« der Versuchsperson Musil entsprungen, mithin »Autor und Werk als Effekte von Medien und Maschinen«168 entlarvt. Die von Hoffmann entfaltete Argumentation erklärt 167 168

Hoffmann (s. Anm. 144), S. 74. Ebenda, S. 12. Für >Die Amsel< und den >Mann ohne Eigenschaften schlägt Hoffmann, S. 185-284, eine solche Lektüre vor, nicht aber für >Die Verwirrungen des Zöglings Törleßneuen Medien< wie der - wohlgemerkt nicht von Törleß, sondern vom Erzähler eingeführte' 70 - »Kinematograph« (91), dessen technische Affinität zu in der Experimentalpsychologie zum Einsatz gebrachten Apparaten wie dem Rotationstachistoskop' 7 ' Hoffmann ins Feld führt. Was also, außer der Einführung einer gestaltpsychologisch-konstruktivistischen Auffassung menschlicher Bewegungswahrnehmung und ihrer gleichzeitigen Zurücknahme durch die Ostentation der technisch-materiellen Grundlage, leistet die Verschiebung der Erklärung auf das Feld der kinematographischen Technik? Münsterbergs psychologisch fundierte Filmtheorie führt im Rahmen der Erläuterung der in den Erklärungen des Erzählers gerade ausgesparten Grundlagen und Funktionsweisen des Bewegungssehens auf die Spur eines interessanten Zusammenhangs, nämlich zwischen Bewegungssehen und Lesephänomenen: We are familiar w i t h the illusions in w h i c h w e believe that w e see something w h i c h o n l y o u r imagination supplies. If an u n f a m i l i a r printed w o r d is exposed to o u r e y e f o r the twentieth part of a second, w e readily substitute a familiar w o r d w i t h similar letters. E v e r y b o d y k n o w s h o w difficult it is to read p r o o f s . We o v e r l o o k the misprints, that is, w e replace the w r o n g letters w h i c h are actually in o u r field of vision b y imaginary right letters w h i c h c o r r e s p o n d to o u r expectations.' 7 2

Dieser Zusammenhang zwischen Kinematographie und Lesetechnik liegt ebenfalls - allerdings nicht explizit als Zusammenhang markiert - in der zitierten Passage der >Verwirrungen< vor, kommentiert doch die auf den Kinematographen rekurrierende Erzählerreflexion Törleß' Versuche, »die ganze Reihe jener gewissen Erfahrungen« zu »notieren« (88) und (wenig später) »einige Male« lesend darin fortzufahren (93). Münsterberg 169

170

171 172

So umreißt Hoffmann (s. Anm. 144), S. 8, die »Aufgabe, die diese Arbeit sich gestellt hat«: nämlich »eine >Archäologie des Wissens< zu schreiben, das in Musils Texte und ihre Poetik eingegangen ist und ihnen vorausgegangen ist«. »Daher war beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Kinematographen empfindet« (91; meine Hervorhebung). Vgl. Hoffmann (s. Anm. 144), S. 154. Münsterberg (s. Anm. 118), S.28.

3J3

führt im Lesevorgang unwillkürliche mechanische Komplettierungsprozesse eng mit ebenso unwillkürlichen mechanischen Komplettierungsprozessen, die mehrere Einzelwahrnehmungen zu einem Bewegungsablauf verknüpfen: »Are we not also familiar with the experience of supplying by our fancy the associative image of a movement when only the starting point and the end point are given«?' 73 Dem an kinematographischen Vorführungen sich vollziehenden Bewegungssehen liegen entsprechend dieser Analogiebildung durch Münsterberg die gleichen Bedingungen zugrunde wie der Lektüre von Texten, nämlich die unbewußt sich vollziehende Vervollständigung im menschlichen Sehen nur fragmentarisch wahrgenommener visueller Einzeldaten - in Einzelbilder zerlegte Momentaufnahmen einer Bewegung oder in nur wenigen Aufmerksamkeitssprüngen bruchstückhaft perzipierte Buchstaben und Buchstabengruppen während der Lektüre eines Textes. Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß im Falle der Bewegungswahrnehmung die Fragmentierung (überwiegend) durch das vor den Augen des Betrachters sich bewegende Objekt, im Falle des Lesens durch die in Sakkaden sich vollziehenden Augenbewegungen erfolgt: Während die Transporttechnik des Vorführapparates den Filmstreifen ruckweise der Projektoroptik zuführt, diese mit Projektionsmaterial versorgt, schweift das lesende Auge ruckweise über die Zeilen und Seiten eines geschriebenen oder gedruckten Textes.' 74 Die Illusionierung der Filmvorführung verdankt sich der projektionstechnisch optimierten Bewegung des Filmstreifens, diejenige der lesetechnisch optimierten Lektüre der Bewegung der Augen. Je ungestörter die Vorführung - und analog: je ungestörter die Lektüre - , desto vollkommener die Illusionierung. Der Rekurs des Erzählers auf den Kinematographen führt somit zurück auf das im Text zwischen zwei Lektüreprogrammen - dem »förmlich in einer Gier« (13) sich artikulierenden kursorischen und dem durch die »Reclamausgabe jenes Bandes« erzwungenen statarisch-materiellen - angelegte Spannungsfeld, zwischen dessen Polen der systematische Ort der Wirkung des Kinematographen angesiedelt ist: Zwar gelingt dem Kinematographen die Illusionierung, doch vermag er nicht zugleich den Eindruck seiner Illusionierungstechnik aus dem Bewußtsein des Zuschauers zu tilgen. Ein analoges Lektüreprogramm visiert dann das Zusammenspiel von Lesetechnik und Typographie an, das zwar eine Illusionierung erreicht, zugleich aber das Wissen um die Faktur der Illusion nicht zum '73 Ebenda. Vgl. Kapitel VII.2.

3X4

Verschwinden zu bringen vermag. Während eine am Paradigma der »Zauberlaterne« orientierte Lektüre die Ostentation ihrer Faktur nicht als technisch bedingt inszenieren kann, lassen die mechanischen Defizite des Kinematographen die »vage Wahrnehmung« zu, »daß hinter dem Bilde, das man empfängt, hunderte von - für sich betrachtet ganz anderen - Bildern vorbeihuschen« (91). Sowenig der Rekurs des Erzählers auf die Kinematographie eine bündige Beschreibung dessen abzugeben vermochte, was sich in Törleß ereignet, so sehr übernimmt er als Reflexionsfigur poetologische Funktion, ließ sich doch in der filmischen Textorganisation der in erlebter Rede geschilderten Passagen - freilich lektürevermittelt - Törleß' >besonderes< Erleben für den Leser »festhalten«. Hierfür ungeeignet wäre freilich die nur unbewegte Einzelbilder projizierende »Zauberlaterne«,175 die Törleß nicht zufällig als Erklärungsmuster bemüht (104),176 gemahnt doch die Inszenierung der Befragung Basinis an jene mit einer Laterna magica veranstaltete Lichtspielpraxis des Sizilianers aus dem >GeisterseherRealität< des erzählten Geschehens. Die Mehrdeutigkeit des Lichtspiels ist aufgehoben: »die Laterne war umgekippt, und ihr Licht flöß verständnislos und träge zu Törleß' Füßen über den Boden hin...« (69). Erst als »die Lampe wieder auf ihren Platz« (71) gestellt ist, kommt es zum »Wiedererscheinen Basinis« (71): »Wieder schnitten die Strahlen einen Kreis in das Dunkel, wie einen leeren Rahmen« (72), in dem sich so•7! Vgl. Kapitel I I . 1 - 3 ; IV.ι und IV.3. 176 Auf die Affinität zu Vorführungen mit Laternae magicae hat bereits Hoffmann (s. Anm.é), S. 199-201, sowie Hoffmann (s. Anm. 144), S.77-80, aufmerksam gemacht. Hoffmann legt aber fest: »Jener Raum auf dem Dach [...] ist tatsächlich nichts anderes als eine Laterna magica. Beinebergs Blendlaterne nimmt im Setting den Platz des Projektors ein, und gerade so, als würde der Vorführer den Bildstreifen in der Laterna magica vor den Kerzenstrahl schieben, taucht plötzlich Basinis Gesicht auf und verwandelt sich umgeben von einem Hof aus Licht in ein >BildnisProjektionszauberZauberkraft< neuerlich entfalten wird, und zwar »in dem Schlafsaale [...] der Zöglinge«: »Einer der leinenen Vorhänge hatte sich nur bis zur halben Höhe herunterrollen lassen; darunter leuchtete« - wie die Laterne Beinebergs in das Dunkel des Dachbodens - »die helle Nacht herein und zeichnete« - nun keinen Kegel, sondern »ein fahles, unbewegliches Viereck auf den Fußboden. Die Schnur hatte sich oben gespießt oder war ausgesprungen und hing in häßlichen Windungen herunter, während ihr Schatten auf dem Boden wie ein Wurm durch das helle Viereck kroch« (84). »Beineberg fiel ihm ein«, bevor er einen »Traum« (85) träumt. Ein erneuter Blick auf das Licht- und Schattenspiel evoziert »in seiner Haut, rings um den ganzen Körper herum, [...] ein Gefühl, das plötzlich zu einem Erinnerungsbilde wurde« (86). Erst als Törleß im Anschluß an die mit Beineberg und Reiting an Basini vorgenommenen und gescheiterten Hypnoseversuche »fühlte«, »ein Abschluß« sei erreicht, »Etwas« sei »vorbei« (122), vermögen neuerliche >Lichtspiele< in der Kammer ihre >Zauberkraft< nicht mehr zur Entfaltung zu bringen. Assoziationen bleiben nun aus, und Törleß zieht ein pragmatisches Fazit aus seinen Erlebnissen und ihrer Untersuchung - »Alles geschieht: Das ist die ganze Weisheit«. Auch fallen »ihm auf einmal wieder Gleichnisse ein [...], die sich jenem verloren gegangenen Empfindungskreise näherten« (125). Der zuvor auf dem Dachboden so wirksame Projektionszauber bleibt wirkungslos: »Gerade an der Stelle, w o dieser [Basini; V.M.] stand, fiel von einer Dachluke her ein breiter Balken Mondlicht ein. Die bläulich überhauchte Haut mit den wunden Malen sah darin aus wie die eines Aussätzigen« und gemahnt in der Wahl der Bildlichkeit erneut an Würmer: »Sein Körper war von Striemen überzogen« (124). Eine metonymische Logik strukturiert die erzählerische Präsentation der am Untersuchungsgegenstand Basini vorgenommenen Experimente. Ausgangspunkt der >Versuchsreihe< ist die Übertretung Basinis, denn »da war nun etwas zum ersten Male wie ein Stein in die unbestimmte Einsamkeit seiner Träumereien gefallen [...]. Gestern war Basini noch genau so wie er selbst gewesen; eine Falltüre hatte sich geöffnet, und Basini war gestürzt« (46). Die »unruhigen, sich windenden Bewegungen« (21) des kleiderlos »vor das Auge« Törleß' imaginierten Beineberg und die 316

im »keilförmig durch die Fenster des Erdgeschosses« fallenden »Lichtschein« sich abzeichnende »hölzerne Treppe [...] in engen Windungen« bei Bozena kehrt wieder im Lichtstrahl der Blendlaterne als blutroter, sich über das Gesicht Basinis windender »Wurm« - nun aber durch das Erlebnis mit Bozena zu »etwas Geschlechtlichem« (21) verschoben und durch die Engführung von epiphanischer Unendlichkeitserfahrung (62-66) und »Würmern« (66) erkenntnistheoretisch aufgeladen. Der »blutrote Wurm« im Gesicht Basinis wird neuerlich verschoben zum Schatten im Spiel des in den Schlafsaal fallenden Mondlichts. Die Lichtspiele münden, vom letzten abgesehen, jeweils in Varianten des >besonderen< Erlebens Törleß', bei Bozena und auf dem Dachboden des Konvikts in sexuelle Erfahrungen - Törleß befindet sich »in einem Zustande geschlechtlicher Erregung« (70) - , im Schlafsaal in einen Traum und in ein Erinnerungsbild. >Medienzauber< zeigt hier sich selbst als literarisches Verfahren an: Träume und Erinnerungsbilder werden im Assoziationsverfahren zu längeren, als textuell objektivierte Wahrnehmungsinszenierungen sich präsentierenden Bildsequenzen zusammengeschnitten. Die dieses Verfahren kennzeichnende, Törleß nicht bewußte metonymische Logik rekurriert nicht zufällig auf den »Wurm«, um dessen Bildspielraum die Verschiebungen zentriert sind. Sein Körperbau folgt nämlich den Prinzipien der Kombination und Kontiguität (die für Roman Jakobson entscheidenden Momente der Metonymie). Er ist »in [...] Segmente gegliedert«; diese »Körperringe sind einander fast gleich und jeder folgende stellt mehr oder weniger die Wiederholung des vorhergehenden dar«,'77 so daß wie bei der Metonymie und wie bei einzelnen Sequenzen eines Filmstreifens »die Bestandteile«,178 die einzelnen »Einheiten zu einer höheren Einheit«'79 sich fügen: dem Wurm,l8° dem filmischen Geschehen einer Sequenz oder der Bedeutungskonstitution eines Satzes oder Textes. Als fleischgewordene Metonymie repräsentiert der Wurm in den ersten Verwendungszusammenhängen (explizit: Blut, Schatten; implizit: Beinebergs Körper, Treppe) das Assoziationsverfahren der Bildvorstellungen und avanciert zur Metapher der Törleß' Verwirrungen strukturierenden metonymisch verketteten Bildre177

>RingelwurmWurmVerwirrungen des Zöglings Törleß< gerade erst in den Labors der Psychologen und Psychophysiker erforscht werden, sucht Törleß im Bereich des Irrationalen, in der Hypnose-Mystik Beinebergs nämlich, nach Erklärungen: »Aber sagst du nicht selbst, daß es mit den Augen eine eigene Bewandtnis hat? Aus ihnen wirkt - denk doch nur an deine hypnotischen Lieblingsideen - mitunter 181

182 183 184

Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Roman Jakobson. Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1 9 2 1 - 1 9 7 1 . Hrsg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M. 1979, S. 8 3 - 1 2 1 , hier S.94. Ebenda. Vgl. hierzu Lacan (s. Anm. 151). Die Engführung von Metonymie und Kinematographie nimmt Jakobson (s. Anm. 151), S. 170, selbst vor. 318

eine Kraft« (71). Durchaus zutreffend (unterlegt man Jakobsons Poetizitätsbegriff) kommentiert Beineberg Törleß' Versuche, sein Verwirrungen stiftendes Erleben auf die mystische »Kraft« visueller Wahrnehmung zurückzuführen, als »Poetisch werden« (71). Erst die vom medienkundigen Erzähler vorgeschlagene Verschaltung von Kinematographie und Sehen vermag Licht ins mystifizierte Dunkel der vermeintlich »mit einem Sinne mehr« (71) erfolgenden Wahrnehmungen zu bringen, ist doch der Kinematograph dasjenige Medienparadigma, dessen in literarischen Text übersetztes Darstellungspotential jenes >besondere< Erleben auf der Ebene der Rezeption zu inszenieren, (vermittelt) zur Präsenz zu bringen vermochte mikrostrukturell in der impliziten Lesetechnik und makrostrukturell in der impliziten Filmschnittechnik (die durch den Text im Leserbewußtsein evozierten Einzelbilder werden von diesem erst zu einer Bewegungsvorstellung montiert). Als vom Text nahegelegtes Lektüreprogramm erweist sich ein Oszillieren zwischen den beiden Lektüreparadigmen - dem statarischen, am metaphorischen Prinzip der Zauberlaterne orientierten, das in Törleß' Kant-Lektüre erprobt wird, und dem kursorischen, am metonymischen Prinzip des Kinematographen ausgerichteten, das von Beineberg entworfen wird. Sowenig die Kant-Lektüre die einzelnen Schriftzeichen in Törleß' Integrationshorizont zu einem stimmig-sinnvollen Gesamt fügt, sowenig vermag die »Zauberlaterne« Einzelbilder zu einem dynamisch-lebendigen Bilderreigen zu verknüpfen. »Offenbarungen, Wirkliches« dagegen kann annäherungsweise erst eine an Beinebergs Lektüreprogramm orientierte Kinematographie inszenieren. Eine solche Illusionierungstechnik verfolgt der Text, indem er den Leser zum Manipulativ seiner Textbewegungen macht, desillusionierend verfährt er, indem er nicht nur im Materiellen - das Wissen um den Buchstabencharakter geht nie ganz verloren - , sondern auch durch eine Fülle von Reflexionen auf das Problemfeld Medien, Lesen, Schreiben aufmerksam macht. 18 ' Bezieht man nun die medientechnisch unterlegte Beschreibung des b e sonderen Sehens< auf die Ebene der Rezeption, so verhandelt der Text in der Sprache seiner Medienparadigmen das Zusammenspiel zwischen dem Leser und seiner eigenen diskursiven Funktionsweise. Was der Leser an den filmtechnisch montierten, Törleß' >Sehen< beschreibenden Stellen >siehtVerwirrungen< zur reinen Entzifferung nach dem Exempel der Kant-Lektüre; die >luftig< gedruckten frühen Ausgaben 1 ® 7 beugen solchen Erlebnissen im Unterschied zur heute erhältlichen vor.

186

l8?

Münsterberg (s. Anm. 114), S. 245, der nur sechs Jahre nach dem Erscheinen der »Verwirrungen des Zöglings Törleß« bereits eine Tendenz ausmacht. Musil fertigte ausführliche Exzerpte aus Münsterbergs >Grundzügen der Psychotechnik< an (vgl. Τ 1,519-523). Die 1906 erschienene Ausgabe umfaßt 3 1 6 Seiten, 1 9 1 1 und 1 9 1 5 sind es 318, 1931 nur noch 225, 1957 132, 1959 142 und 1978 134; s. Anm. i n .

320

VII. Fensterblick, Bildbetrachtung, Lektüre

ι. Wahrnehmungsreflexion und inszenierte Verstehensaporien in Kafkas >Proceß< Bekanntlich ist es Max Brod zu verdanken, daß Kafkas Nachlaß, dem auch >Der Proceß< zuzurechnen ist, nicht dem von Kafka auf einem »mit Tinte geschriebenen Zettel« und auf einem »mit Bleistift geschriebenen, vergilbten, offenbar älteren Blatt« 1 hinterlassenen Wunsch entsprechend verbrannt, sondern geordnet und nach und nach veröffentlich wurde. 1925 gibt Brod den - stützt man sich auf Tagebuch-Eintragungen und Briefe Kafkas sowie auf Erinnerungen Brods - von August 1914 bis Januar 1915 entstandenen >Prozeßfertigen< Romantext hinterlassen, sondern eine editionsphilologische (textkritische sowie entstehungsgeschichtliche) und hermeneutische Herausforderung. »Das Manuskript des Romans >Der Prozeß< habe ich im Juni 1920 an mich genommen und gleich damals geordnet«, schreibt Brod 1925 im »Nachwort zur ersten Ausgabe«. Ihm lag ein in insgesamt sechzehn Konvolute unterteiltes »großes Papierbündel« 3 vor, dessen Publikation eine Fülle von Entscheidungen und Setzungen nötig machte; das von Brod zur Kennzeichnung seiner Eingriffe gewählte Partizip »geordnet« trägt diesen Vorgängen Rechnung. Die »Deck- und Einschlagblätter der Konvolute« waren jeweils mit einem »P« versehen und enthielten Bruchstücke eines vermeintlichen Ganzen, die aufgrund unterschiedlicher Aufbewahrungsweisen und aufgrund ihrer >Unabgeschlossenheit< von Brod in »zehn vollendete und sechs unvollendete Kapitel«, 4 von Malcolm Pasley ' Max Brod: Nachwort zur ersten Ausgabe [1925]. In: Franz Kafka. Der Prozeß. Roman. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt a.M. 1979, S. 223-229, hier S. 224-225. 1 Brod korrigiert >Der Process* zu >Der ProzeßDer ProceßDer Process< im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe. In: Franz Kafka-Hefte 1 (1997), S. 3-25, hier S. 1 1 .

321

in »Kapitel« und »Fragmente« (PA 124) eingeteilt worden sind. »Bezüglich der Anordnung der Kapitel war« Brod als mutmaßlich erster Leser (nach Kafka freilich) teils »auf [s]ein Gefühl angewiesen«,5 teils »führte« er »die Ordnung« »nach dem sachlichen Zusammenhang durch«,6 teils »konnte sich [s]ein Gefühl bei der Ordnung der Papiere auf Erinnerungen stützen«, da Kafka Brod »einen großen Teil des Romans vorgelesen hatte«.7 Logik der und Erinnerung an die Handlungsentwicklung bestimmen im Zusammenspiel die Anordnung der von Kafka separierten Einzelteile und erlauben, so hat es den Anschein, ihre Verknüpfung zu einem geschlossenen Ganzen: »Die vollendeten Kapitel, mit dem abgerundeten Schlußkapitel zusammengenommen, lassen jedenfalls den Sinn wie die Gestalt des Werkes mit einleuchtendster Klarheit hervortreten«8 - eine Auffassung, die sich bis in jüngere akademische Auseinandersetzungen mit dem >Proceß< fortgepflanzt zu haben scheint. Ganz im Geiste Brods erklärt etwa Hartmut Binder die »genaue Kenntnis des ursprünglichen Textarrangements« als »unerläßlich« »für jede ernsthafte Werkdeutung«.9 Diesem Dogma hat sich nicht nur Binder, sondern ein Großteil der Regale füllenden Kafka-Forschung verschrieben: Noch 1992 sieht sich Beda Allemann veranlaßt zu bemängeln, daß man sich mit dem »müßigen Unterfangen« befasse, »die angeblich >richtige< >KapitelProcesshäretische< Überlegung, steht doch selbst für die außerordentlich behutsame Edition von Roland Reuß" (1997) die Entschiedenheit Kafkas in dieser Hinsicht so sehr außer Frage, daß es keiner Argumente oder Belege mehr bedarf: »Selbstverständlich hatte Kafka bis zuletzt die Absicht, einen Roman zu

5

Brod (s. Anm. 1), S.228. Max Brod: Nachwort zur dritten Ausgabe [1946]. In: Franz Kafka. Der Proceß. Roman. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt a.M. 1979, S. 2 3 0 - 2 3 i , hier S. 230. Ähnlich verfährt Pasley, für den sich die Reihenfolge der abgeschlossenen >Kapitel< »aus dem Ablauf der Romanhandlung« (PA 126) ergibt, in den sich einige der sechs unvollendeten >Kapitel< nahezu bruchlos integrieren ließen (vgl. PA 128-129). 7 Brod (s. Anm. 1), S.228. 8 Ebenda. 9 Hartmut Binder: Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. München 1976, S. 160. 10 Beda Allemann: Noch einmal: Kafkas >ProcessDer Processi Hrsg. v. Hans Dieter Zimmermann. Würzburg 1992, S. 109-120, hier S. 1 1 2 . 6

11

Franz Kafka: Der Process. Faksimile-Edition hrsg. v. Roland Reuß. Basel, Frankfurt a.M. τ

997·

322

schreiben, bei dem die einzelnen größeren Einheiten ihren Ort im Gefüge eines Ganzen haben sollten«. 12 Der Romantitel - >Der Proceß< - mag von Kafka zwar intendiert gewesen und durch das »P« ebenso wie durch Erwähnungen dieses Titels in den Tagebüchern' 3 oder durch die Versicherung Brods, Kafka habe »dem Roman im Gespräch stets den Titel >Der Prozeß< gegeben«, 14 auch angezeigt sein, ist aber durch die »Schrift« (298) nicht verbürgt. Verbürgt sind zwar die Titel der einzelnen, zu Konvoluten zusammengefaßten Teile, doch zieren sie nur deren Deck- und Einschlagblätter. Titel und Uberschriften der einzelnen >Kapitel< und >Fragmente< könnten also von Kafka »abschließend« (303) so ausgewählt worden sein, ebenso könnte aber gelten, was die Erzählinstanz Josef K. konzediert: »sein Endurteil war es nicht« (303). Dennoch hat Brod dem >ProceßKapiteln< unterschieden,' 6 hat »Zeichensetzung, Schreibart und syntaktische Konstruktion dem allgemeinen deutschen Gebrauch«' 7 angeglichen, dem Roman einen Titel verliehen, die Konvolutbeschriftungen als >KapitelFragmenten< hat Brod »mit einer Umstellung von vier Zeilen« das >Kapitel< »Kaufmann Block. Kündigung des Advokaten« in die Reihe der abgeschlossenen >Kapitel< aufgenommen. Brod (s. Anm. 1), S. 229. 17 Max Brod: Nachwort zur zweiten Ausgabe [1935]. In: Franz Kafka. Der Proceß. Roman. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt a.M. 1979, S. 229-230, hier S. 230. ,8 Brod (s. Anm. 1), S. 229: »der drei andern« (241) —> »der beiden anderen« (Franz Kafka. Der Prozeß. Roman. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt a.M. 1979, S. 192); »hatte es elf geschlagen« (219) »hatte es zehn geschlagen« (Franz Kafka. Der Prozeß. Roman. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt a.M. 1979, S. 174). ' ' J o c h e n Hörisch: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1998.

13

323

ebenso Zeugnis ablegen wie editionsphilologische, angefangen bei den Nachworten Brods. Brod gibt gewissermaßen den Archetyp des sistierenden >ProceßDer Türhüter hat also den Mann getäuschtDer Proceß< in einem Horizont hermeneutischer Auseinandersetzung mit fiktionalen und nicht-fiktionalen, literarischen und nicht-literarischen Texten und Zeichensystemen Reden und Auskünften (273-277 u.ö.), Bildern (141-142; 195-197), Briefen (120-122; 194-198), Photographien (144), Heftchen (63-64; 76-77), Telephongesprächen (49-50; 278), einem »Wörterbuch« und einem »Album der städtischen Sehenswürdigkeiten« (273), administrativen Strukturen (205-218), Erzählungen (158-160; 292-295) und diversen »Zeichen« und »Abzeichen« (53; 67; 71; 89; 223) - , und zwar auf allen denkbaren Ebenen und in einer produktions- wie rezeptionsästhetischen Dimension: Zunächst auf einer ersten empirischen Ebene, auf der Kafka als erster Au(c)tor ebenso wie als erster Leser (angezeigt etwa durch wiederholt geäußerte Unzufriedenheit mit dem Geschriebenen23 oder durch Streichun20

Brod (s. Anm. 1), S. 228; meine Hervorhebungen. " Ludo Verbeeck: Rumpelkammer und Steinbruch. Zur narrativen Logik in Kafkas >ProceßDer Processi Hrsg. v. Hans Dieter Zimmermann. Würzburg 1992, S. 1 4 3 - 1 5 5 , hier S. 143. Auf die Affinitäten zwischen empirischen/impliziten Lesern und Josef K. macht aufmerksam: Todd Kontje: The reader as Josef Κ. In: Germanic Review 54 (1979), S. 62-66. 22 Darauf ist mit Blick auf den >ProceßUneigentlichkeit< in Kafkas kleiner Prosa. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S.477-510. Systematisch verfolgt diesen Aspekt am Gesamtwerk Rosmarie Zeller: Advokatenkniffe. Die Thematisierung von Textproduktion und Interpretation im Werk Kafkas. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 106 ( 1987), S. 5 5 8-5 76, die fünf Formen reflexiven Bezugs unterscheidet: sich selbst bezichtigende Fiktionalität (S. 5 5 9), Thematisierung von Textproduktion (S. 5 61 ), von Textkomposition (S. 565), Thematisierung der Sprache, des Codes der Texte (S. 567), schließlich die Thematisierung der Rezeption der Texte (S. 570). Aus ihrer Systematik ausgeschlossen bleibt allerdings der Aspekt der Thematisierung der im Lesen und Sehen bereits angelegten Bedingungen von Wahrnehmung generell und von Text im besonderen. 23

Tagebücher, 1 5 . 1 0 . 1914: »V23 Nachts, fast nichts tel gelesen und schlecht gefunden. Zweierlei mißlungen« (S. 680) - Pasley schlägt vor: »Man könnte diese Eintragung so deuten, daß Kafka sich fertige >Kapitel< des Romans kritisch angeschaut und anschließend vergeblich zwei neue Ansätze versucht hat« (PA 76). Zur Unzufriedenheit Kafkas vgl. Pasley (PA 73-79)· 3M

gen) um einen Integrations- oder Deutungshorizont des Geschehens ringt und einerseits vermeiden möchte, daß ihm das Schreiben zerfließt, andererseits aber - dies legen diverse Streichungen nahe - ohne selbst den einen Deutungsfluchtpunkt schon mitzuliefern.24 Er beginnt deshalb entgegen seiner Schreibgewohnheit gleich im Anschluß an das in den Editionen Brods und Pasleys erste >Kapitel< »Verhaftung« (7-30) mit der Niederschrift des >Kapitels< »Ende« (305-312), 2 ' auf das das Geschehen um Josef K. ausgerichtet werden sollte (PA 122). Auf einer zweiten empirischen Ebene »ordnet« und »verändert« Brod »die Geschichte« und bewegt sich als ordnender Leser und Herausgeber des Geordneten wie Kafka zugleich in beiden Dimensionen, in der rezeptions- und in der produktionsästhetischen. Auf einer dritten Ebene wird der empirische Leser mit dem durch die Editoren Brod oder Pasley (und ihre Kritiker)26 vermittelten >ProceßProzeß< konfrontiert und ringt um Integration in einen Verstehenshorizont, produziert damit in der Lektüre zugleich ein Sinnganzes. Diese Verschaltung produktiver und rezeptiver Aspekte der Begegnung mit dem Roman wiederholt sich nun in der fiktiven Welt des Romans - ebenfalls auf allen systematisch denkbaren, ebenfalls nie allein rezeptiven, sondern stets zugleich auch produktiven Ebenen: Auf einer ersten ist es Josef K., der um Verstehen seines »Processes« ringt, der »Klarheit über seine Lage zu bekommen« (11), ein Herrschaftswissen zu erwerben sucht, mittels dessen er sich als Subjekt seines >Processes< behaupten, diesen verwalten und lenken könnte. Zugleich sind seine Lektüren dessen, was auf den 24

Mit Blick auf eine von Kafka gestrichene Stelle fragt z.B. Klaus Hermsdorf: Franz Kafkas >Der ProzeßProzeß< um so gewisser getilgt sind, je eher sie der Interpretation einen Stützpunkt geben könnten. Offenbar«, so mutmaßt er, »gehört also die Verunsicherung des Lesers durch Verrätselung zur Wirkungsabsicht des Autors«. Dies schließen überzeugend: Binder (s. Anm.9), S. 178, Pasley, PA i n , und Reuß (s. Anm.4), S. 10.

16

Herman Uyttersprot: Zur Struktur von Kafkas >Der ProzeßDer Prozeß< und >AmerikaProzeßDer ProzeßProzeßProceß< schließen lassen könnte, als produktiv und festlegend gezeigt, während das angebotene Zeichenmaterial zur Komplettierung zwar einlädt, Vereindeutigungen aber gerade von sich weist. Auf einer weiteren, höherfiktionalen Ebene wiederholt sich diese Konstellation: 27 Einer der Binnentexte, der vielleicht prominenteste, die »den einleitenden Schriften zum Gesetz« (292) entnommene »Geschichte« (295), stellt einen »Mann vom Lande« (292) vor, der »um Eintritt in das Gesetz [bittet]« (292), auf dessen Anwesenheit und Wesen er zum einen aufgrund eines »Glanzes, der unverlöschlich aus der Tür des Gesetzes bricht« (294), zum anderen aufgrund der Rede des Türhüters zu schließen beginnt. Auch er ist in einer Doppelcodierung gezeigt: rezeptiv, >lesendBekenntnisse< der Freilegung des Archetyps der sistierenden >ProceßDer ProzeßDer Prozess«: Das Janusgesicht einer Dichtung. In: Was bleibt von Kafka? Positionsbestimmung. Kafka Symposion Wien 1983. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien 1985, S.63-78, hier S. 77: »Und damit bleibt der nagende Zweifel, der ja auch die Hauptfigur selbst bis zum Schluß nicht losläßt«; Jacques Derrida: Préjuges. »Vor dem Gesetz«. Wien 1992, S. 89 u.ö., spricht von der »mise en abyme«, die der >Proceß< inszeniert.

28

Brod (s. Anm. 1), S. 229. Kafka hatte die Quarthefte in einzelne Blätter aufgelöst, Pasley konnte ihre ursprüngliche Reihenfolge aber plausibel und nahezu vollständig rekonstruieren (PA 73/83). Ralf R. Nicolai: »Titorelli«: Modell für eine Kafka-Deutung? In: Was bleibt von Kafka? Positionsbestimmung. Kafka Symposion Wien 1983. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien 1985, S. 79-91, hier S. 88.

19

326

Kafkas parallelisiert, der als »his own analyst«30 zur Feder gegriffen habe. Zum anderen stellt der Blick auf Brods Handhabung des Vorgefundenen ein Bewußtsein her von der nur >eingeschläfertenProceßder Geschichte< an die Verantwortung Kafkas, wie sie z.B. Maché vorschlägt, jede Plausibilität einbüßt. Das Wissen um diese von Brod nur gewaltsam überdeckte Prozessualität und Dynamik schließt eine in der Dimension der histoire nach möglichen Ausgangspunkten Ausschau haltende Herangehensweise kategorisch aus, da die eine verläßlich zu bestimmende, so und nicht anders aufgebaute Geschichte, von der aus ein gesicherter Deutungsfluchtpunkt sich einnehmen ließe, nur um den Preis der Ausschaltung möglicher anderer Geschichten und Fluchtpunkte zu gewinnen ist. Das bedeutete, wie Brod die vom Geistlichen ins Spiel gebrachte »Achtung vor der Schrift« (295) aufzugeben, die als Garantin der Offenheit und Dynamik der »Geschichte« (295) des Mannes vom Lande fungiert. Folgt man dagegen der Aufmerksamkeitslenkung des Geistlichen, muß sich das Augenmerk ausschließlich auf »die Meinungen« richten, die über die »Geschichte« »bestehn« (298). Plausible »Meinungen«, plausible Lektüren mithin, legen aufgrund ihrer Koexistenz Zeugnis ab von einer Sinnpluralisierung, die die »unveränderliche« Schrift entbindet - die »Meinungen sind« dann entzifferbar »als Ausdruck der Verzweiflung darüber« (298), daß der eine Sinn gerade vorenthalten wird. »Richtiges Auffassen einer Sache« heißt in diesem Sinne, zu erfragen, wie diese Sinndissemination und das im Sistieren-Wollen des einen Sinnes sich artikulierende »Mißverstehn der gleichen Sache« (297) durch das Textgeschehen der »Geschichte« in Gang gesetzt werden. »Mißverstehn« prägt die Schlüsse und Deutungen des Mannes vom Lande, der die Anwesenheit und die Reden des Türhüters als »nicht erwartete« »Schwierigkeiten« interpretiert (293), die ihn am »Eintritt in das Gesetz« (292) hindern könnten. Dieser einen Deutung schließt sich Josef K. umgehend und, so der Geistliche, »übereilt« an, weil sie den Mann vom Lande unmißverständlich zum Opfer einer Irreführung erklärt - »>Der Türhüter hat also den Mann getäuschtVieldeutigkeitFolie d'interprétation< auf Schritt und Tritt den Worten die Grenze des Verstehens auf, indem sie ein ständiges Unterlaufen von Interpretation organisieren«.

32

33

Hartmut Binder: Kafka in neuer Sicht. Mimik, Gestik und Personengefüge als Darstellungsform des Autobiographischen. Stuttgart 1976, S. 187. 34 Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen. Frankfurt a.M. 1 9 5 1 , S.93. " Gestreift wird das Problemfeld visueller Wahrnehmung im >Proceß< von Untersuchungen, die am >Fenstergucker< Josef K. interessiert sind, wie z.B. Kurt J. Fickert: The window metaphor in Kafka's >TrialProceßDer Proceß< ein mit der in personalem Erzählverhalten 37 geschilderten »Verhaftung«38 Josef K.s. K.s Erwachen folgen nach Klärung und Deutung verlangende, von K. von Beginn an als ungewöhnlich wahrgenommene Geschehnisse: Sein Frühstück bleibt »diesmal« (7) aus, und er sieht »von seinem Kopfkissen aus die alte Frau die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete« (7). Die Aufmerksamkeit K.s richtet sich weniger auf den Umstand, beobachtet zu werden - das scheint nicht das Uberraschende am Verhalten der Nachbarin zu sein - , als auf die Tatsache, daß dies mit einer an der Beobachterin »ganz ungewöhnlichen Neugierde« geschieht. Die im folgenden in der als »Pension« (37) geführten Wohnung »seiner Zimmervermieterin« (7), um genau zu sein: im Zimmer K.s (7), im »Nebenzimmer« (18), im »Vorzimmer« (16), im Zimmer Fräulein Bürstners (19), in der »Küche« (34) und schließlich auf der Treppe sich abspielende »Verhaftung«, in die insgesamt neun mehrmals die Zimmer wechselnde Personen involviert sind - »Josef K.« (7), die ausbleibende »Köchin« (7) »Anna« (8), die beiden Wächter »Franz« (9) und »Willem« (15), »Frau Grubach« (13), »drei junge Leute« (20), nämlich die Bank-Beamten »Rabensteiner«, »Kullich« und »Kaminer« (27), und schließlich der »Aufseher« (20) - , wird von zunächst einer (7-9), später von zwei ( 1 5 - 1 7 ) , schließlich sogar von drei (20-24) Personen aus mindestens drei Fenstern des gegenüberliegenden Hauses beobachtet. Deren Voyeurismus ist wiederum Gegenstand der Beobachtung K.s. Ein komplexes Interaktions-, Handlungs- und Wahrnehmungsgefüge - von Brod und Pasley »Verhaftung« überschrieben - ist angelegt und 37

)8

Friedrich Beißner: Der Erzähler Franz Kafka. Stuttgart 1952, S. 28, hat dieses Erzählen »einsinnig« genannt und in die Kafka-Forschung eingeführt: »Kafka erzählt, was anscheinend bisher nicht bemerkt worden ist, stets einsinnig, nicht nur in der Ich-Form, sondern auch in der dritten Person«. Terminologisch folge ich jedoch Jürgen H . Petersen: Kategorien des Erzählens. Zur systematischen Deskription epischer Texte. In: Poetica 9 (1977), S. 1 6 7 - 1 9 5 . Ich setze die »Verhaftung« K.s in Anführungszeichen, um bewußt zu halten, daß das Geschilderte weder dem juridischen Fach- (vgl. Ewald Löwe: Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich. Nebst dem Gerichtsverfassungsgesetz und den das Strafverfahren betreffenden Bestimmungen der übrigen Reichsgesetze. Mit Kommentar von Ewald Löwe. I i . Aufl. Berlin 1904, S.387-409) noch dem konventionellen Sprachgebrauch von »Verhaftung« entspricht. Auf diesen Umstand macht K. selbst aufmerksam: »>Wie kann ich denn in die Bank gehn, da ich verhaftet bin?< >Ach soSie haben mich mißverstanden, Sie sind verhaftet, gewiß, aber das soll Sie nicht hindern Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein.< >Dann ist das Verhaftetsein nicht sehr schlimmIch meinte es niemals andersNormalität< der »Verhaftung«: »Sie sind zwar verhaftet, aber nicht so wie ein Dieb verhaftet wird« (33).

330

erzählerisch an den Wahrnehmungshorizont der Perspektivfigur Josef K. gebunden, der zum einen stets nur eine begrenzte Anzahl von Personen und Räumen übersehen kann - erst später erfährt man von Geschehnissen außerhalb des Wahrnehmungsbereichs von Josef K., etwa daß Frau Grubach »ein wenig hinter der Tür gehorcht [...] und daß [ihr] [...] auch die Wächter einiges erzählt haben« (33) - , zum anderen zwischen wirklichkeitsadäquater und -irrealisierender Wahrnehmung oszilliert. 39 Die >Bedeutung< der »Verhaftung« erschließt sich dem Rezipienten folglich über das >Medium< des verhafteten Josef K., dessen Wissensstand von der Erzählinstanz - vom strittigen ersten Satz abgesehen 40 konsequent - nicht transzendiert wird. Nichts anderes besagt Friedrich Beißners Diktum, »Kafka v e r w a n d e l e ] [...] den Leser in die Hauptgestalt«. 4 1 A m Ende des >Kapitels< kann aus der einsichtig gewordenen, immanent logischen und konsistenten Anordnung der Räume, aus der Rede der beteiligten Personen, von der K. Kenntnis erlangt, und aus jenen Handlungen, die K. wahrgenommen hat, auf die Existenz eines potentiell sinnhaften Gesamtgeschehens geschlossen werden. Was sich K. aber bietet, sind lediglich Fragmente, an seinen Wahrnehmungshorizont gebundene Teilsequenzen dieses Gesamtgeschehens, deren Verknüpfung zu einem Sinnganzen plausibel möglich ist. Ungewiß bleibt aber, ob sich das Konstrukt kongruent zum entzogenen Geschehen verhält, von dessen Gesamtheit keine der am Geschehen beteiligten Figuren Kenntnis besitzt, ja besitzen kann, auch nicht der Leser. Jedem der Beteiligten, den Personen des erzählten Geschehens, der Erzählinstanz oder dem impliziten/empirischen Leser, liegen nur durch den jeweiligen Betrachterstandort bedingt unterschiedlich « Vgl. z.B. Born (s. Anm. 27), S. 63-64. Strittig bleibt die Zuordnung des ersten Satzes - »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet« (7) - zu den Kategorien des Erzählens, da nicht aufgeklärt wird, ob sich das enthaltene, der folgenden Szene vorweggenommene Wissen in den Wissenshorizont der Perspektivfigur J o sef K. integrieren läßt. Vgl. hierzu: Colin Russ: K a f k a s art of exposition in the first chapter of >Der ProzeßProzeßZauberbergNun k o m m e n sie doch, bitte. Sehn Sie< - sie zeigte auf die T ü r des H a u p t m a n n s . ( 4 7 48)

Das »Fragment« »B.s Freundin« (315-326) gibt weitere, allerdings nicht zwingende Aufschlüsse über die Wohnung: Unklar bleibt, ob das »Eßzimmer« (321) sich an das Zimmer von Fräulein Bürstner anschließt, ebenfalls mit Blick auf das Nachbarhaus, in dem die drei Beobachter zu sehen waren, oder ob es in eine andere Richtung weist. Ebensowenig läßt sich bestimmen, wo genau die Küche und der zu ihr führende Gang (325) liegen. Die im Zusammenspiel von Komplettierung forderndem >Text< und Komplettierung bewerkstelligender >Rezeption< zutageliegende Struktur ist nicht nur in der an K.s Perspektive gebundenen Partialwahrnehmung des komplexen Verhaftungsgeschehens angelegt, sondern wiederholt sich in der wechselseitigen Beobachtung K.s durch die gegenüber Wohnenden und der gegenüber Wohnenden durch K., nun aber modellhaft isoliert durch die architektonischen Rahmenbediungen der Wahrnehmung. Beide Geschehen, das der »Verhaftung« in der Wohnung der Frau Grubach ebenso wie das Beobachten im Nachbarhaus, verteilen sich jeweils auf mehrere - mindestens drei - Räume, in denen es jeweils mindestens ein Fenster gibt. Beider - K.s und der Nachbarn - Wahrnehmung ist aufgrund des »medialen Charakters des Fensters« 50 doppelt vermittelt und doppelt Gotthardt Frühsorge: Fenster: Augenblicke der Aufklärung über Leben und Arbeit. Zur Funktionsgeschichte eines literarischen Motivs. In: Euphorion 77 (1983), S. 346-358, hier S. 348. Günter Neuhardt: Das Fenster als Symbol. Versuch einer Systematik der Aspekte. In: Symbolon 4 ( 1978), S. 77-91, befragt das Motiv des Fensterblicks auf seinen symbolischen Gehalt hin. Zum Fensterblick vgl. ferner Helmut Jochems: Der Blick aus dem Fenster: Sprach- und Literaturdidaktisches zu einem Erzählmotiv. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 20 (1987), S. 1 4 1 - 1 5 4 . Eine vorzügliche Materialsammlung liefert J. A. Schmoll, genannt Eisenwerth: Fensterbilder. Motivketten in der europäischen Malerei. In: Beiträge zur Motivkunde des 19. Jahrhunderts. München 1970, S. 1 3 - 1 6 5 . 335

vorstrukturiert; zweimal wird gerahmt, ausgeschnitten. Was sich hinter dem Mauerwerk als verdecktes, durch den durch das Fenster vorgegebenen Ausschnitt als nicht mehr erkennbares Geschehen ereignet, bleibt dem beobachtenden K. ebenso verborgen wie umgekehrt den Bewohnern des Nachbarhauses das durch die Mauern der Grubachschen Wohnung verdeckte. Strukturell sind die in den Fenstern erhaschten EreignisBruchstücke als »schematisierte Ansichten«, die ausgeblendeten Ereignisse hinter dem jeweiligen »Stück leerer Häusermauer«51 (119) als »Leerstellen« zu bestimmen, womit ein hermeneutisches, die Grundlagen des Verstehens und Deutens thematisierendes Problem zur Debatte steht. Es ist der Lektüre literarischer Texte strukturell verwandt, wie die von Gottfried Boehm vorgenommene Engführung visueller Wahrnehmungsweisen - »einer, die wiedererkennt, die Sachverhalte feststellt, und einer anderen, welche die dynamischen und offenen Zwischenräume (innerhalb des Gesamten) realisiert«52 - mit der von Roman Ingarden beschriebenen Lektüreweise nahelegt: das verbindende Element erkennt Boehm darin, »daß das Auge nicht perzipiert, sondern [...] selbst hervorbringt«.5 3 Strukturell reinszenieren die Fensterblicke während des »Verhaftungs«-Geschehens die Doppelfunktion des Sehens, wahrgenommene Einzeldaten produktiv zu einem Gesamt zu verknüpfen. Daß das Spiel mit Fensterblicken für den Aspekt der Bedeutungskonstitution und Interpretation von nur bruchstückhaft wahrgenommenem Geschehen wesentlich ist, hat Alfred Hitchcock für den Thriller >Rear Window< (1954) genutzt. Ich beziehe mich auf eine Sequenz aus diesem Film - ebenfalls eine Verhaftungsszene (Abb. 59-65) - , um zu veranschaulichen, unter welchen Bedingungen die »Verhaftung« nur wahrgenommen werden kann: Ohne Gewißheit zu erlangen, kann beispielsweise aus der in den Fenstern jeweils sichtbaren Möblierung auf unterschiedlich genutzte Räume, einen Stockwerkflur sowie auf eine Wohnungstür zwischen dem linken (Stockwerkflur) und dem mittleren Raum (Küche) geschlossen werden, aus der Beobachterhaltung der Nachbarn im linken Fenster, läßt sich schließen, daß die Tür offen steht (Abb. 61). Ohne frei' 1 Meine Hervorhebung; auf das Mauerwerk, das sich dem aus dem Fenster Blickenden präsentiert, wird an anderer Stelle aufmerksam gemacht: »K. [...] sah durch das Fenster [seines Büros] auf die gegenüberliegende Straßenseite, von der von seinem Sitz aus nur ein kleiner dreieckiger Ausschnitt zu sehen war, ein Stück leerer Häusermauer zwischen zwei Geschäftsauslagen« (119). >2 Gottfried Boehm: Sehen. Hermeneutische Reflexionen. In: Kritik des Sehens. Hrsg. v. Ralf Konersmann. Leipzig 1997, S. 272-298, hier S. 292; unter Bezug auf: Max Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. München 1988. 53 Boehm (s. Anm. 5 2), S. 293.

336

Abb. 59

Abb. 60

Abb. 61 337

Abb. 62

Abb. 63

Abb. 64

338

A b b . 65

lieh letzte Gewißheit zu haben, schließt Jefferies, infolge einer Verletzung vorübergehend an den Rollstuhl gefesselter Photoreporter, aus einer Fülle von Einzelbeobachtungen auf ein Gesamt, und zwar, daß der ihm gegenüber wohnende Thorwald seine Ehefrau ermordet haben muß. Für die Freilegung der Bedingungen von Wahrnehmung und Beobachtung ist entscheidend, daß der Zuschauer im Unterschied zum >Proceß< mit dem Helden fast ausnahmslos die Position des Voyeurs teilt: Während Jefferies und der an dessen Perspektive, gleichsam an den >Rollstuhl< des Kinosessels gefesselte implizite/empirische Filmzuschauer genau einen, festen Beobachterstandpunkt einnehmen (können), 54 stehen K. und den Nachbarn jeweils mindestens drei Beobachterstandpunkte zur Verfügung, womit nicht nur das Mauerwerk zwischen den Fenstern der jeweils gegenüberliegenden Wohnung, sondern auch diejenige Wegstrecke von einem Fenster im ersten zu einem anderen Fenster im zweiten oder dritten Raum Leerstellen erzeugt, die es neuerlich aufzufüllen gilt. Arbeitet man die Bewegungen und Verlagerungen der Beobachtungsstandpunkte der am Geschehen der »Verhaftung« aktiv oder beobachtend Beteiligten heraus, ergeben sich für die Nachbarn mindestens drei, für Josef K. bis zum Verlassen der Wohnung im ganzen acht Raumwechsel: Von seinem Zimmer über das »Nebenzimmer, in das K. langsamer eintrat als er wollte [...]« (8), ging [er] eilig zwischen den Wächtern durch in sein Zimmer« 54

Streng genommen sind es auch drei, da das Panoramafenster in Jefferies W o h n u n g dreigeteilt ist. D a s durch die Fensterholme Ausgesparte kann aber aufgrund seiner G e r i n g f ü g i g keit vernachlässigt werden, insbesondere dann, w e n n der Beobachterstandpunkt unmittelbar am Fenster liegt. D i e Parallelisierung von Rollstuhl und Kinosessel entnehme ich: J o h a n n N . Schmidt: D a s Fenster z u m H o f . In: Filmklassiker. B d . 2. H r s g . v. T h o m a s Koebner. Stuttgart 1995, S. 2 0 5 - 2 0 9 , hier S. 208.

339

(i2); »als er wieder in das Nebenzimmer zurückkam« (12) »ging [er] in sein Zimmer zurück« (16), »eilte sofort ins Nebenzimmer« (18), »die zwei Wächter [...] jagten ihn [...] wieder in sein Zimmer zurück« (18). »Als er vollständig angezogen war, mußte er knapp vor Willem durch das leere Nebenzimmer in das folgende Zimmer gehn« (19). An Komplexität gewinnt das für die Nachbarn zu Beobachtende durch Zimmerwechsel der anderen an der »Verhaftung« beteiligten Personen. 5 ' Von der »Gesellschaft beim Fenster« »drüben« (24) läßt sich sagen, daß zunächst der Beobachterstandpunkt der »alten Frau« K.s Zimmer »gegenüber« (7) liegt. »Durch das offene Fenster« des Nebenzimmers »erblickte man wieder die alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auch weiterhin alles zu sehn« (9). Vom »Nebenzimmer« (12) aus »sah er [drüben] die alte Frau die einen noch viel ältern Greis zum Fenster gezerrt hatte« (15). Zurück in »seinem Zimmer« vermutet K., daß »die beiden Alten von drüben [...] wohl jetzt auf dem Marsch zum gegenüberliegenden Fenster waren« (17). Schließlich macht er im dem Fenster des Zimmers von Fräulein Bürstner »gegenüberliegenden Fenster [...] wieder die zwei Alten« aus, »doch hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn hinter ihnen sie weit überragend stand ein Mann mit einem auf der Brust offenen Hemd, der seinen rötlich Spitzbart mit den Fingern drückte und drehte« (20) - ein Detail, das auf die rege, das gesamte Verhaftungsgeschehen begleitende Aufmerksamkeit des Beobachters Josef K. schließen läßt und die Reziprozität im Verhältnis von Beobachten und Beobachtet-Werden verdeutlicht - geradezu spiegelbildlich sind Beobachtung und Gegenstand der Beobachtung auf beiden Seiten der Straße einander zugeordnet - , gilt doch K.s erster Blick am Morgen seiner »Verhaftung« der alten Frau, »die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete« (7). Wie die »alte Frau« selbst gibt auch K. sich als am Geschehen im Nachbarhaus interessierter Beobachter zu erkennen. Die Wahrnehmung des jeweils anderen Beobachters bringt dabei bei den nachbarlichen Beobachtern wie bei K. gleichermaßen ein Bewußtsein des Beobachtet-Werdens zum Vorschein. Das von K. nur in Ausschnitten, teils durch Mauerwerk verdeckte, teils ohne seine Aufmerksamkeit sich abspielende Geschehen im Nachbarhaus erlangt dabei eine Komplexität, die derjenigen der »Verhaftung« in nichts nachsteht: Drüben war noch die Gesellschaft beim Fenster und schien nur dadurch, daß K. ans Fenster getreten war, in der Ruhe des Zuschauens ein wenig gestört. Die Al" Franz (9), Frau Grubach (13), alle außer K. (27-28)

340

ten wollten sich erheben, aber der Mann hinter ihnen beruhigte sie. >Dort sind auch solche Zuschauers rief K. ganz laut dem Aufseher zu und zeigte mit dem Zeigefinger hinaus. >Weg von dortZudringliche, rücksichtslose Leute!< sagte K., als er sich wieder ins Zimmer zurückwendete. (24)

Die Dopplung der Betrachtungsrichtung - K. beobachtet, soweit die Konzentration auf seine »Verhaftung« es zuläßt, die, wie er zu sehen glaubt, ihn beobachtenden Nachbarn - gibt bei gleichzeitiger Bindung des personalen Erzählens an die Perspektivfigur Josef K. als zugleich Beobachtender und Beobachteter den Blick frei auf die Beobachtung, das zu Beobachtende und auf die Bedingungen dieser durch die Vermittlung der Fenster segmentierten visuellen Wahrnehmung. Die Nachbarn zeigen sich an den Vorgängen um Josef K. interessiert; ihre Aufmerksamkeit folgt, ablesbar am mehrmaligen, an den Bewegungen K.s in der Grubachschen Wohnung ausgerichteten Wechseln des Betrachterstandorts, dem in unmittelbarer Umgebung K.s sich vollziehenden Geschehen. Dem Rezipienten ist genau dasjenige vollständig einsichtig gemacht, was die Nachbarn, während sie K. beobachten, erfahren zu wollen scheinen, was ihnen aufgrund der Vermittlung durch mindestens sechs Fenster zweier Häuser aber nur in Teilstücken vorliegen kann (in der Perspektive der auf Komplettierung der Teilstück->Signifikanten< angewiesenen Nachbarn steht der Rezipient auf der Seite des >Signifikats< des Verhaftungsgeschehens, von dem ihm aber wiederum nur das auch Josef K. Einsichtige zugänglich ist). Für die in die entgegengesetzte Richtung verlaufende Beobachtung, deren Subjekt Josef K. ist, gelten dieselben, in der Architektur der beiden einander gegenüberliegenden Häuser angelegten wahrnehmungstechnischen Vorgaben doppelter Vermittlung (den Rezipienten sind nur die Wahrnehmungsfragmente als >Signifikanten< zugänglich). Indem das Schluß- und Komplettierungsverfahren Josef K.s einsichtig gemacht wird, gelingt es, auf diese Bedingungen genauer zu reflektieren: K. muß »nach« des Nachbarn »Mundbewegungen« auf dessen »auf die Entfernung hin unverständliche« Rede »schließen« (24) und, als er seine Nachbarn nicht erblickt, mutmaßen, daß »die beiden Alten von drüben [...] wohl jetzt auf dem Marsch zum gegenüberliegenden Fenster waren« (17; meine Hervorhebung). Was sich den Beobachtern von gegenüber zeigt, kann nur unter denselben Beobachtungsbedingungen, die auch für K. gelten, zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Womit aber die »Leerstellen« zu füllen 341

sind, kann zwar »wohl« (17) - und durchaus plausibel - , aber eben nicht mit letzter Gewißheit gesagt werden. Bezieht man nun die Editionsgeschichte des Textes in diese Überlegungen mit ein, so ist die Arbeit insbesondere Brods neuerlich derjenigen Josef K.s vergleichbar. »Wohl« mögen »die beiden Alten von drüben [...] auf dem Marsch zum gegenüberliegenden Fenster« (17) sein - nichts widerspricht dieser Deutung, das Interesse der Alten, das K. auf sich gerichtet sieht, forciert eine solche Lesart sogar. Doch ebenso wäre es möglich, daß das Interesse der Beobachter gar nicht ausschließlich K. gilt und sie bereits auf dem Weg zu jenem dem Fenster des von Fräulein Bürstner bewohnten Zimmers »gegenüberliegenden Fenster« (20) waren, an dem K. sie wenig später entdeckt. Brod konnte einige >Kapitel< und >Fragmente< nicht bruchlos in den konstruierten Handlungsverlauf integrieren, stellte deshalb in der Erstausgabe von 1925 »vier Zeilen« um oder glaubte, in den nicht eindeutig zuzuordnenden oder >unvollendeten< Teilen »nichts für den Gang der Handlung Wesentliches«'6 enthalten zu sehen, und nahm sie nicht in die Ausgabe auf. Dem Leser Brod boten sich wie den Beobachtern im >Kapitel< »Verhaftung« lediglich Elemente eines nur durch konstruktives Eingreifen vermeintlich zu gewinnenden Sinnganzen. Wie die Beobachter - K. und die drei gegenüber sich Aufhaltenden - auf die Chronologie der Geschehnisse als Orientierungsgröße zurückgreifen können, so auch Brod. Die »Kapitel« und »Fragmente« des, sei es von Brod, sei es von Pasley, edierten >Proceßzwischen< diesen >ZeitfensternKapitel< »Verhaftung«. Weitere zwanzig Mal 63 lassen sich explizite und implizite Fensterblicke nachweisen, ja Josef K. gilt - wie Kafka selbst64 - als »a passionate window-watcher« (und doch steht eine »investigation of the window motif« 6 ' noch immer aus). Mehrmals sind Fensterblicke als wechselseitiges Beobachten angelegt, etwa vor dem »dunklen Haus« (129) des Advokaten Huld: »Im Guckfenster der Tür erschienen zwei große schwarze Augen, sahen ein Weilchen die zwei Gäste«, K. und seinen Onkel, »an und verschwanden; die Tür öffnete sich aber nicht. Der Onkel und K. bestätigten einander die Tatsache, die zwei Augen gesehen zu haben«, und jener schließt - übrigens falsch - partes pro toto auf »>ein neues Stubenmädchen, das sich vor Fremden fürchtet< [...] und klopfte nochmals. Wieder erschienen die Augen, man konnte sie jetzt fast für traurig halten, vielleicht war das aber auch nur eine Täuschung« (129). Die Augen gehören der »Pflegerin« ( 1 3 1 ) Leni, die der Onkel und K. erst, nachdem »die Tür wirklich geöffnet worden« war, als ein »junges Mädchen identifizieren können - K. erkannte die dunklen Augen wieder« (130). Die Struktur aber bleibt nicht an den Fensterblick gebunden: Das »elende kleine Zimmer« (193) und »Atelier« (193) des Malers Titoreih, dessen »Fußboden, Wände und Zimmerdecke [...] aus Holz« (193), aus zusammengesetzten Balken bestanden, setzt eine ähnliche Konstellation ins Werk: »Zwischen den Balken sah man schmale Ritzen« (193), »vielleicht«, heißt es wenig später, »konnte man auch durch die Ritzen ins Zimmer hineinsehn« (198; meine Hervorhebung), eine Vermutung, die sich bald bestätigt: »Kaum hatte er den Rock ausgezogen, rief eines der Mädchen: >Er hat schon den Rock ausgezogen< und man hörte wie sie alle zu den Ritzen drängten, um das Schauspiel selbst zu sehen« (210). Nicht nur begrifflich knüpft die Erzählung dieser Erfahrung an das >Kapitel< »Verhaftung« (Brod/Pasley) a n - v o n einer »Komödie« (12), von einer »Schaustellung« (15) und von »Zuschauern« (24) ist die Rede - , sondern auch strukturell. Angelegt ist die personal erzählte Erfahrung des Wahrgenom63 64 65

Vgl. 37-38, 52,53, 88, 1 1 4 - 1 1 6 , 1 1 9 , 124, 129, 149, 176, 194, 226, 305, 3 1 2 , 3 1 7 , 323, 352. Zur Vorliebe Kafkas, aus Fenstern zu blicken, vgl. Binder (s. Anm. 33), S. 559-562. Michael Braun: Rooms with a view? - Kafkas >FensterblickeSchloßKapitels< angelegte, in den übrigen >Kapiteln< und >Fragmenten< mehrmals variiert wiederkehrende induktive Schlußverfahren - von wahrgenommenen Teilaspekten auf ein entzogenes, vermeintlich sinnhaftes Ganzes - wird im >Kapitel< »Im Dom« (270-304) befragt auf die nun nicht mehr in äußeren, durch die Architektur vorgegebenen, sondern im menschlichen Sehen selbst angelegten Bedingungen und Funktionsweisen visueller Wahrnehmung. Von Beginn an steht das >Kapitel< im Spannungsfeld von »Verstehen« (277) und »Mißverstehn« (297): Zunächst ist es die Rede des »italienischen Geschäftsfreundes«, die K. »nur bruchstückweise verstand«, so »daß ihm die Möglichkeit sich mit dem Italiener zu verständigen, zum größten Teil genommen war« (274), ja er den »Sinn« einzelner 66

Franz Kafka: Das Schloß. Roman in der Fassung der Handschrift. Hrsg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1990, S.480. 345

Wörter »erst nach einem Weilchen erriet« (273); beschlossen wird es von der Exegese der Türhüter-»Geschichte« (295), die der Geistliche »den einleitenden Schriften zum Gesetz« entnimmt und in bewußter Dopplung von Sehen (in der »tiefen Nacht« des Doms) und Verstehen (seines Prozesses) einführt: »Siehst Du denn nicht zwei Schritte weit?« (290). Die für das verstehende Erschließen der sichtbaren Welt grundlegenden, nun nicht mehr in äußeren Vorgaben objektiv verankerten und im Paradigma des Fensters explizierten, sondern subjektiven Bedingungen und Funktionsweisen visueller Wahrnehmung kommen anläßlich der Betrachtung eines »Altarbildes« im dunklen Dom zum Vorschein: Als sich K. zufällig umdrehte, sah er nicht weit hinter sich eine hohe starke an einer Säule befestigte Kerze [...] brennen. So schön das war, zur Beleuchtung der Altarbilder, die meistens in der Finsternis der Seitenaltäre hiengen, war das gänzlich unzureichend, es vermehrte vielmehr die Finsternis. Es war vom Italiener ebenso vernünftig als unhöflich gehandelt, daß er nicht gekommen war, es wäre nichts zu sehn gewesen, man hätte sich damit begnügen müssen mit K.'s elektrischer Taschenlampe einige Bilder zollweise abzusuchen. U m zu versuchen, was man davon erwarten könnte, gieng K. zu einer nahen kleinen Seitenkapelle, stieg paar Stufen bis zu einer niedrigen Marmorbrüstung und über sie vorgebeugt beleuchtete er mit der Lampe das Altarbild [...]. Das erste was K. sah und zum Teil erriet, war ein großer gepanzerter Ritter, der am äußersten Rande des Bildes dargestellt war. Er stützte sich auf sein Schwert, das er in den kahlen Boden vor sich - nur einige Grashalme kamen hie und da hervor - gestoßen hatte. Er schien aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, der sich vor ihm abspielte [...]. K., der schon lange keine Bilder mehr gesehen hatte, betrachtete den Ritter längere Zeit, trotzdem er immerfort mit den Augen zwinkern mußte, da er das grüne Licht der Lampe nicht vertrug. Als er dann das Licht über den übrigen Teil des Bildes streichen ließ, fand er eine Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung, es war übrigens ein neueres Bild. (280-281)

Fragt man nicht nach der Bedeutung des auf dem Altarbild Dargestellten und nicht nach möglichen Bezügen zum Romangeschehen wie z.B. Gesine Frey, für die K. »mit seiner elektrischen Taschenlampe die Wahrheit seiner Situation anleuchtet« und »am Ende seines Lebensprozesses den Todesritter in unüberwindlicher Größe« 67 sieht, sondern nach der Wahrnehmung K.s, so steht die Szene in einem dezidiert hermeneutischen Horizont. Der Wahrnehmungsapparat vermag nämlich nie synchron das Gesamt des Bildes zu erfassen, sondern stets nur Einzelteile, die zu einem Gesamteindruck montiert werden können. Das >zollweise AbsuchenAbtasten< und >Einscannen< des Altarbildes »im Dom« mittels der Ta67

Gesine Frey: Der Raum und die Figuren in Franz Kafkas Roman >Der ProzeßHandbuch der physiologischen Optik< schreibt. N u r in einem sehr kleinen Bereich »p« (Abb. 6 6 - 6 7 ) , s o Helmholtz weiter, »pflegt das optische Bild auf der Netzhaut seine volle Schärfe zu haben [...]. Wir sehen deshalb im Gesichtsfelde in der Regel nur den einen Punkt deutlich, welchen wir fixiren, alle übrigen undeutlich«.68 N u r in der fovea centralis findet daher [...] sowohl das deutlichstes wie auch das >schärfste< Sehen statt. Von ihr aus nimmt die Sehschärfe nach allen Seiten schnell, und besonders zuerst, in beträchtlichem Maße ab. Bei jedem Versuch, [...] scharf und deutlich zu sehen, stellen wir deshalb die Augen unwillkürlich so ein, daß das Bild des zu beobachtenden Gegenstandes auf dieser >Stelle des deutlichsten Sehens< entworfen wird. Ist der Gegenstand so groß, daß der enge Raum der Centraigrube jenes Bild nicht aufzunehmen vermag, so lassen wir den Blick an dem Gegenstand herumwandern, bis alle Teile, die wir scharf und deutlich sehen wollen, durch immer erneute Einstellung auf die Centraigrube >fixirt< sind. 69 Während der unaufhörlichen, raschen Bewegungen des Auges hierhin und dorthin erkennen wir nichts: es sind die Eindrücke, die wir während der relativen Stillstände, der Fixierungen, erhalten, die von Bedeutung für das Sehen sind, und diese sukzessiven Momentbilder sind es, die wir dann zu Vorstellungen (oder, wenn man so will, Anschauungen) verbinden.70

Hans Jonas irrt, wenn er das Sehen als »Sinn des Gleichzeitigen« »par excellence«71 adelt. »Daß« das Auge »ein gleichzeitiges Mannigfaches als solches anschaut«, während »alle anderen Sinne [...] ihre wahrgenommenen >Einheiten des Mannigfaltigen< aus einer zeitlichen Abfolge von Sensationen«72 konstruieren, ist schon Lessings >Laokoonabgetasteten< Bildpunkte des wahrgenommenen Objekts und die Verweildauer des Blicks auf den Fixationspunkten; Blicke sind notierbar geworden. Daß man in den 1980er Jahren die Modellvorstellung der

π Öhrwall (s. Anm. 69), S.68. Hubert Grashey: Ueber Aphasie und ihre Beziehung zur Wahrnehmung. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 16 (1885), S.654—688, hier S.675. 79 [Alfred] Goldscheider, Franz Robert Müller: Zur Physiologie und Pathologie des Lesens. In: Zeitschrift für klinische Medicin 23 (1893), S. 1 3 1 - 1 6 7 , hier S. 1 3 1 . 80 Rainer Röhler: Sehen und Erkennen. Psychophysik des Gesichtssinnes. Berlin, Heidelberg, N e w York 1995, S.48-49. 81 Vgl. Franz Anton Hamburger: Stellungs- und Bewegungsanomalien des Augenpaares. In: Der Augenarzt. Bd. 5. Hrsg. v. Wolfgang Münchow. 2. Aufl. Leipzig 1978, S. 509-863, hier S. 550. 78

349

sogenannten »Lichtkegel-Metapher« 82 entwickeln wird, um die Regeln visueller Aufmerksamkeitslenkung zu veranschaulichen, verleiht der strukturellen Engführung weiter an Plausibilität. Der Lichtkegel der Taschenlampe schweift oder springt nämlich, gefolgt vom Blick K.s, vom teils gesehenen, teils erratenen »großen gepanzerten Ritter [...] am äußersten Rand des Bildes« über dessen »Schwert«, über den von nur »einigen Grashalmen« abgesehen »kahlen Boden«, in den er das Schwert »gestoßen hatte«, zur Augenpartie des Ritters - »er schien aufmerksam einen Vorgang zu beobachten«. »K. [...] betrachtete den Ritter längere Zeit [...]. Als er dann das Licht über den übrigen Teil des Bildes streichen ließ, fand er eine Grablegung Christi« (281). Rund fünfundreißig Jahre vor der Entstehung des >ProceßProceßflüssiges< Lesen optimalen »freien Raum zwischen den Buchstaben und zwischen den Zeilen und vieles ähnliche«9^ anbieten zu können, vor allem, um rascher Ermüdung beim Lesen entgegenzuwirken. 97 »Andere psychologische Experimentalarbeiten haben sich mit der Form der Buchstaben beschäftigt und mit Recht darauf hingewiesen, wie sehr das Lesen durch die Ähnlichkeit vieler Buchstaben erschwert wird«. 98 Für die Augenbewegungen sind generell »durch [...] Bewegung, durch [...] Kontrast [...] oder durch [...] interessante Gestalt« 99 im Gesichtsfeld sich abzeichnende Fixationspunkte am betrachteten Objekt verantwortlich, auf denen der Blick der Versuchspersonen genau wie der Lichtkegel der Taschenlampe Josef K.s für einige Sekundenbruchteile ruht: »das ewige Licht«, das »Schwert«, auf das der Ritter gestützt ist, der »kahle Boden«, »Grashalme [...] hie und da«, der Lesen. In: Zeitschrift für experimentelle Pädagogik, psychologische und pathologische Kinderforschung mit Berücksichtigung der Sozialpädagogik und Schulhygiene 9 (1909), S. 169-224; Klara Grim: Uber die Genauigkeit der Wahrnehmung und Ausführung von Augenbewegungen. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie des Sehens 45 (1910), S. 9-26; Eugen Marx, Wilhelm Trendelenburg: Über die Genauigkeit der Einstellung des Auges beim Fixieren. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie des Sehens 45 (1911), S. 87; Ohrwall (s. Anm. 69); Raymond Dodge: The Psychology of Reading. In: Monroes Encyclopedia of Education 5(1913), S. 1 1 5 - 1 1 8 ; G. M. Hippie: The Eye and the Printed Page: 1. The Eye Movements in Reading. In: Education 33 (1913), S. 552-558; Alex Schackwitz: Apparat zur Aufzeichnung der Augenbewegungen beim zusammenhängenden Lesen (Nystagmograph). In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 63 (1913), S.442-453; Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig 1914, S.247-251; Ohm (s. Anm. 89). »4 Yarbus (s. Anm. 88), S. 172-189. 95 Vgl. Taylor (s. Anm.92), S. 505; Javal (s. Anm. 83); Erdmann/Dodge (s. Anm.69), S. 1 8 96

Münsterberg (s. Anm.93), S. 248. Vgl. Kapitel VI.i. 98 Münsterberg (s. Anm. 93), S. 250; analog Harold Griffing, Shepherd Ivory Franz: On the conditions of fatigue in reading. In: The Psychological Review 3 (1896), S. 513-530, hier S- 5 2 3· " David H. Hubel: Auge und Gehirn. Neurobiologie des Sehens. Heidelberg 1989, S. 89. Für Niels Galley, Otto-Joachim Grüsser: Augenbewegungen und Lesen. In: Lesen und Leben. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert u.a. Frankfurt a.M. 1975, S. 65—75, hi e r S. 65, sind Interessen des Betrachters, »die Konturen, die Konturunterbrechungen und Konturüberschneidungen des Reizmusters«, aber auch die »>Bedeutung< eines Reizmusters« bestimmend. 354

Blick des Ritters, schließlich die »Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung« (281). Ist der vom Lichtkegel über das Altarbild beschriebene Weg aber tatsächlich »in ziemlich willkürlicher Ordnung« 100 der Schweifbewegungen entstanden? Er wäre, wenn nicht gar kontingent, so doch vorwiegend von den Neigungen des Betrachters bestimmt und widerspräche der von Paul Klee eingeklagten Gesetzmäßigkeit bei der Betrachtung von Bildern, wonach »dem gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge des Beschauers [...] im Kunstwerk Wege eingerichtet« 101 sind. Klees Engführung zufolge wäre die Aufmerksamkeitsverteilung vom betrachteten Objekt maßgeblich beeinflußt und die für die Blickführung verantwortlichen Bildlektüredeterminanten den auf einer Wiese verstreuten, besonders schmackhaften, Weidetiere anziehenden Kräutern gleichzusetzen und entsprechend in denjenigen Passagen eines Bildes zu suchen, die dem »Auge des Beschauers« besonders attraktiv erscheinen. Daß die Wahrnehmung der sichtbaren Welt zwar, wie Klee vorschlägt, vom wahrgenommenen Objekt vorstrukturiert wird, dieses mithin in den aufmerksamkeitslenkenden Bildpunkten ein rezeptionsdeterminierendes Potential birgt, zugleich aber auch Willkür, Gewohnheit, Neigung und Interesse des Betrachtenden anvertraut ist, legen drei Versuchsreihen des Physiologen Alfred L. Yarbus offen: Eine »reproduction from I.E. Repin's picture >An unexpected visitor Yarbus (s. Anm. 88), S. 173. 101

355

Abb. 70

356

und Schweifhäufigkeiten entlang der Bildachsen zu erkennen (bzw. konstituieren diese) - , doch zeigen sich noch immer signifikante Unterschiede, noch immer liegen sieben verschiedene >Lektüren< vor (Abb. 71). Eine dritte Versuchsreihe zeigt erneut sieben, wiederum dreiminütige »records of eye movements by the same subject«,' 04 nun aber mit dem entscheidenden Unterschied, daß der Betrachter nur bei der ersten Aufzeichnung ohne Instruktionen wahrnahm, während den weiteren Aufzeichnungen folgende Vorgaben zugrundelagen: 2) estimate the material circumstances of the f a m i l y in the picture; 3) give the ages of the people; 4) surmise w h a t the f a m i l y had been doing b e f o r e the arrival of the u n e x p e c t e d visitorthe unexpected visitor« had been a w a y f r o m the f a m i l y 1 0 ' ( A b b . 72)

Wer nach dem Wohlstand der Familie fragt, untersucht Kleidung und Inventar, wer sich für das Alter der dargestellten Personen interessiert, Gesichter und Körperhaltung. Verschiedene >Leser< des Gemäldes kommen ebenso zu ganz unterschiedlichen Bildeindrücken wie ein und derselbe >Leser< bei mehrmaligem »Bilderlesen«. Die deutlichsten Abweichungen ergeben sich allerdings, wenn die Bildwahrnehmung bestimmten Vorgaben folgt - rezeptionsästhetisch gesprochen: wenn die Lektüre durch je spezifische psychisch-emotionale, kulturelle und historische Dispositionen je spezifische Einlösungen des zur Komplettierung auffordernden Zeichen- oder Textgefüges zeitigt, wenn »sich Interpreten für die eine oder andere Richtung entschieden« haben, und zwar bereits »vor einer inhaltlichen Auffüllung der >Leerstellen< des Romans«, 106 des Gemäldes oder - primärrezeptiv - der Natur, wie die >Lebenserinnerungen< Ludwig Richters nahelegen: Richters Schilderung der »Erfahrung, daß ein Jeder die Natur anders ansieht oder vielmehr anders reproducirt«, 107 eignet sich nämlich nicht allein, den Hort individueller Gestaltung in der malerischen Kunstproduktion gegenüber photographischen Darstellungsmöglichkeiten zu profilieren, 108 sondern zeigt einen Klärungsbedarf an: Es gilt herauszufinden, weshalb Richter die »vier vor« sich »liegenden Bilder [...] so abweichend voneinander fand«, obwohl er und drei ihn begleitende Maler

'Sie 1,2

Anagrammatisch allerdings nicht stringent, da ein >r< als Rest bleibt.

362

sind auf ganz falschem Wegs sagte K., wütend und fast unfähig es zu verbergen« - sie zuvor bereits gestellt hatte: Ich will Fräulein Biirstner gewiß nicht verleumden, sie ist ein gutes liebes M ä d chen, freundlich, ordentlich, pünktlich, arbeitsam, ich schätze das alles sehr, aber eines ist wahr, sie sollte stolzer, zurückhaltender sein. Ich habe sie in diesem Monat schon zweimal in entlegenen Straßen immer mit einem andern Herrn gesehn [...]. Es ist übrigens das einzige, das sie mir verdächtig macht. (36)

Zum Vorschein kommt eine dem Blickverlauf K.s inhärente Sexualisierung der Aufmerksamkeitsverteilung, die auch die meisten weiteren Begegnungen K.s mit Frauen strukturiert. Gesteuert wird sie im Zusammenspiel von Nachfrage und Angebot, von inneren und äußeren Determinanten: durch Vorlieben K.s ebenso wie durch visuelle Reize (vorwiegend Bewegungen) der wahrgenommenen >Objekte< - etwa der Hand Fräulein Bürstners, deren Bahnen über ihren Körper K.s Blicke akribisch folgen. Besonders deutlich wird der Einfluß visueller Reize auf die Aufmerksamkeit anläßlich der Begegnung K.s mit der Frau des Gerichtsdieners: »>Es sind schöne Strümpfe, sehen Sie< - sie streckte die Beine, zog die Röcke bis zum Knie hinauf und sah auch selbst die Strümpfe an« (82). Nach der Inspizierung der Strümpfe und somit auch der durch diese bekleideten Beine der Frau des Gerichtsdieners fand er »trotz alles Nachdenkens keinen haltbaren Grund dafür, warum er der Verlockung nicht nachgeben sollte« (83). Sein an der »Verlockung« offenbar entzündetes Begehren setzt eine Struktur der Verdinglichung ins Werk, in der die Frau zum begehrten Körper wird, »weil sie K. gehörte, weil diese Frau am Fenster, dieser üppige gelenkige warme Körper [...] durchaus nur K. gehörte« (83) und ihm als Instrument der »Rache an dem Untersuchungsrichter« (83) nützlich sein soll. Nicht anders gerät ihm »der schöne Wuchs ihres«, nun Lenis, »Körpers« (263-264) zum Objekt der Begierde. K.s visuell initiierte Verdinglichungspraxis ist strukturell von derjenigen des Untersuchungsrichters kaum zu unterscheiden, der mit »unanständigen« Bildern (76) illustrierte Bücher zu lesen scheint. Uber »>die Plagen, welche Grete von ihrem Manne Hans zu erleiden hattelegitimiertDer ProzeßDer Processi Hrsg. v. Hans Dieter Zimmermann. Würzburg 1992, S. 185-199, hier S. 196; nur einmal hebt ein Mädchen das »Röckchen« (190). Zit. mit Kremer (s. Anm. 114), S. 196. " 6 Kremer (s. Anm. 114), S. 198. 364

Die Wahrnehmungsbedingungen, die jeden Deutungsversuch der für K. sichtbaren und für den Leser als sichtbar vorgestellten Welt vorstrukturieren, sind mehrfach bestimmt: zunächst architektonisch als äußere, objektive Wirklichkeitssegmentierung, sodann wahrnehmungsphysiologisch als innere, objektive Partialisierung und schließlich wahrnehmungspsychologisch als innere, subjektive Selektion. Für Deutungsversuche stellt sich damit eine immense Herausforderung, die am Beispiel einer weiteren Bildbetrachtung durch K. an Kontur gewinnt: Aus der Verlegenheit heraus, »dem Maler irgendwie antworten« (194) zu müssen auf die Frage »Wollen Sie Bilder kaufen oder sich selbst malen lassen?«, schweift K.s »Blick auf die Staffelei« (195), auf der ein unvollendetes »Bild«, »offenbar das Porträt eines Richters« (195), steht Es war übrigens dem Bild im Arbeitszimmer des Advokaten auffallend ähnlich. Es handelte sich hier zwar um einen ganz anderen Richter, einen dicken Mann mit schwarzem buschigen Vollbart, der seitlich weit die Wangen hinaufreichte, auch war jenes Bild ein Ölbild, dieses aber mit Pastellfarben schwach und undeutlich angesetzt. Aber alles übrige war ähnlich, denn auch hier wollte sich der Richter von seinem Thronsessel, dessen Seitenlehnen er festhielt, drohend erheben. (195)

Die ersten durch die Erzählinstanz vermittelten Beobachtungen K.s mahnen bereits zur Vorsicht - es sind der früheren Bildexegese verwandte, unter ähnlichen Bedingungen gezogene Schlüsse. Das Bild Titorellis ist »schwach und undeutlich angesetzt«, dasjenige im Vorzimmer (141) Hulds betrachtet er im Dunkeln; in beiden Fällen zieht er Schlüsse, die das Dargestellte zwar zuläßt, aber nicht zweifelsfrei deckt: Da er sich an das Dunkel im Zimmer schon gewöhnt hatte, konnte er verschiedene Einzelheiten der Einrichtung unterscheiden. Besonders fiel ihm ein großes Bild auf, das rechts von der Tür hieng, er beugte sich vor, um es besser zu sehn. Es stellte einen Mann im Richtertalar dar; er saß auf einem hohen Thronsessel, dessen Vergoldung vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das Ungewöhnliche war, daß der Richter nicht in Ruhe und Würde dort saß, sondern den linken Arm fest an Rücken- und Seitenlehne drückte, den rechten Arm aber völlig frei hatte und nur mit der Hand die Seitenlehne umfaßte, als wolle er im nächsten Augenblick mit einer heftigen und vielleicht empörten Wendung aufspringen um etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil zu verkünden. Der Angeklagte war wohl zu Füßen der Treppe zu denken, deren oberste mit einem gelben Teppich bedeckte Stufen noch auf dem Bilde zu sehen waren. »Vielleicht ist das mein Richter«, sagte Κ. ( 1 4 1 - 1 4 2 )

- eine durch das Ausblenden des vom Richter ins Auge Gefaßten durchaus naheliegende, ja vom jeweiligen Betrachter geradezu eingeforderte Lesart, insbesondere dann, wenn gegen ihn wie gegen Josef K. ein >Proceß< geführt wird. Und doch ist sie wiederum spekulativ: »der Angeklagte war

365

wohl zu Füßen der Treppe zu denken« (meine Hervorhebung). Im Unterschied zum Gemälde im Vorzimmer Hulds ist dasjenige, an dem Titorelli während des Gesprächs mit K. zu arbeiten beginnt (195) und das »K. mehr an[zog] als er wollte« (197), noch nicht fertiggestellt. Eine auf dem Bild dargestellte »große Figur« (195) gewinnt K.s Interesse. Vor seinen Augen und vor denjenigen des Lesers akzentuiert Titorelli das Bild um, zunächst strichelt er »ein wenig an den Rändern der Figur« (195; meine Hervorhebung), zuletzt arbeitet er »tief hinabgebeugt« und »deutlich seinen Gast« (197) vernachlässigend. Die »große Figur die in der Mitte über der Rükkenlehne des Thronsessels stand konnte« K. »sich nicht erklären und fragte den Maler nach ihr« (195). Auch die vor den Augen K.s vorgenommenen Veränderungen vermögen es nicht, die Figur »für K. deutlicher zu machen. >Es ist die Gerechtigkeit, sagte der Maler« (195), um seine Zuordnung sofort wieder zu verschieben: »es ist eigentlich die Gerechtigkeit und die Siegesgöttin in einem« (196). Nach den ergänzenden malerischen Eingriffen des Malers aber »erinnerte« sie K. »kaum mehr an die Göttin der Gerechtigkeit, aber auch nicht an die des Sieges, sie sah jetzt vielmehr vollkommen wie die Göttin der Jagd aus« (197). Eine erstaunliche Lesart, bedenkt man, daß die Veränderungen des Malers am Bild marginal bleiben oder gar nicht an der zu erklärenden Figur oder an ihren Attributen - und vor allem daran lassen sich Göttinnen in bildlicher Darstellung unterscheiden - vorgenommen werden, und bedenkt man ferner, daß K. zunächst mit Blick auf die Attribute der »im Lauf« dargestellten Figur: »die Binde um die Augen«, »die Wage«, »an den Fersen Flügel« (196), gesagt hatte, er »erkenne« (195) in ihr die »Göttin der Gerechtigkeit«. Das Potpourri göttlicher Requisiten führt auch auf die >Spuren< des »an den Fersen Flügel« tragenden »Schutzgottes der Hermeneuten«"7 - und ausgerechnet den Implikationen dieses von K. selbst ausgemachten Attributs geht er nicht nach, könnten diese doch eine Erklärung für das eigenartige Vexieren des Bildes zwischen der »Gerechtigkeit« (195), der »Siegesgöttin« (196) und der »Göttin der Jagd« (197) liefern: »Unseriöser ist unter« den Göttern des Olymp nämlich »keiner als ausgerechnet der Gott, dessen Aufgabe es ist, gesicherte Informationsvermittlung und verständigen Umgang miteinander zu gewährleisten: Hermes«,"8 der »einigen Aufwand [betreibt], um die Spuren seines Tuns«, z.B. eines Viehdieb1,7

Hörisch (s. Anm. 19), S. 13. Zur vielseitigen Verwendung des vorzugsweise Hermes zugeordneten Flügelattributs im antiken Kontext vgl. >Flügek In: Percy Preston: Metzler Lexikon antiker Bildmotive. Stuttgart, Weimar 1997, S. 54-56. " 8 Hörisch (s. Anm. 19), S. 13. Auf die Affinität zu Hermes weist Kremer (s. Anm. 1 1 3 ) , S. 109, hin.

366

stahls, »gründlich zu verwischen«. 119 Seine geflügelten Fersen ermöglichen den spurlosen Rückzug - und ausgerechnet ihre Spur durchläuft das Bild und gibt ein Indiz dafür ab, daß die Spuren im Bild nicht Klartext bieten, sondern - ganz im Gegenteil - allen Anlaß zu Zweifeln geben. Um seinen Viehdiebstahl zu vertuschen, besohlt Hermes die Hufe der entwendeten Kühe: Denn nicht vergaß des listigen Kniffs er: macht' entgegengesetzt die vorderen Hufe zu hintern, aber die hintern zu vordem, die Köpfe gekehrt, w o er selbst ging. 120

»Anderntags«, so Jochen Hörisch weiter, »ist die Herde spurenreich und doch spurenlos verschwunden«. 121 Nicht anders bietet sich Josef K. das Vexierspiel der göttlichen Spuren auf dem »Porträt eines Richters« dar: diejenige, mit deren Hilfe die »große Figur [...] in der Mitte über der Rükkenlehne des Thronsessels« (195) möglicherweise zu identifizieren wäre, ist eben nur eine unter vielen. Für den »Fanatiker der unzweideutigen Aussage« 122 eine freilich irritierende Ausgangslage. Er verlangt nach Festlegung auf eine empirischer Uberprüfung standhaltende Referenz: »>Wie heißt dieser Richter?Leerstellen< und das inszenierte Spiel mit ihrer hermeneutischen Komplettierung (wie bereits angedeutet) den Romantext auch in editionsphilologischer und diskursiver Hinsicht. Die im >Kapitel< »Verhaftung« anhand der Verschaltung von Fensterblicken freigelegte, zur Verknüpfung von Teilwahrnehmungen zu einem sinnhaften Ganzen auffordernde und in Variationen in fast allen >Kapiteln< wiederkehrende Struktur fundiert somit Schreibweise, Bedeutungskomposition und -dekomposition in ihren Mikro- ebenso wie in ihren Makroaspekten und legt die Vermutung nahe, daß die in den Fensterblicken und in der Taschenlampenszene als im menschlichen Sehen verankert gezeigte Struktur auch den Gesamtplan des Romans bestimmt. Nur eine Einebnung von Wider119 120 111

Hörisch (s. Anm. 19), S. 15. Homerische Hymnen, zit. nach Hörisch (s. Anm. 19), S. 15. Hörisch (s. Anm. 19), S. 15. Verbeeck (s. Anm. 21), S. 143.

367

Sprüchen und Ungereimtheiten kann die Montage der Geschehensbausteine, wie sie die >Kapitel< und >Fragmente< liefern, zu einer kohärenten, in sich stimmigen Geschichte ermöglichen. Daß der Text allerdings Plausibilitätsspielräume für mehrere, einander gerade ausschließende Lektüren bereithält, verdeutlicht neuerlich ein Blick auf »die Meinungen, die darüber bestehn«, etwa die insbesondere um die von Uyttersprot vorgeschlagene Neuordnung zentrierte Debatte um die >richtige< Folge der C a pitelo 2 3 U m die jeweils favorisierte Chronologie nicht zu gefährden 124 (d.h. der Verifikation standhalten zu können), muß Uyttersprot »eine Unüberlegtheit des Autors oder einen Schreibfehler« 12 ' unterstellen, Binder dagegen das winterliche Wetter in den kalendarischen Herbst fallen lassen - beide halten an der Vorstellung eines widerspruchsfrei konzipierten, linear sich fortspinnenden Geschehens fest und interpretieren die »Variabilität und Unentschiedenheit möglicher Kapitelfolgen« 126 als »Defizienz«. 1 2 7 Die Akribie und strenge Kausallogik, mit der Binder zeitlichen, räumlichen, biographischen und anderen Bezügen und Bezugssystemen nachgeht, deckt lediglich die Reibungspunkte des Romans auf, legt jene Architektur offen, die das Nebeneinander mehrerer Lesarten inszeniert: »Wäre der Eingangsteil des Romans, und damit sein Schlußkapitel, jahreszeitlich derart früh einzuordnen, könnten auf der Flußinsel noch keine sich aufhäufenden, zusammengedrängten >Laubmassen< die dort befindlichen Kieswege vor K.s Blick verbergen«. 128 Mit solchem Maß (hier dem einer in sich konsistenten Psychologie eines logisch funktionierendem Josef K.) gemessen, ist es freilich »schwer vorstellbar, daß K. nach der Ernüchterung und Betroffenheit, die ihn im Dom ergreift, noch zu solchen Gedankenspielereien«, wie sie der Geistliche anstellt, »Lust gehabt haben sollte«. 129 Nimmt man indes nicht Homogenität und Linearität zum Maßstab editionsphilologischer Fragestellungen, sondern bezieht die vom Roman selbst angebotenen Modelle des Sehens, Lesens und Verstehens in die editionsphilologischen Überlegungen mit ein, so lassen sich Inkonsistentes und Widersprüchliches als inszeniertes Spiel mit dem Le123

S. Anm. 26; ferner Ronald Gray: The structure of Kafka's works. A reply to Professor Uyttersprot. In: German Life & Letters 13 (1959-1960), S. 1 - 1 7 ; Hans S. Reiss: Eine Neuordnung der Werke Kafkas? In: Akzente 2 (1955), S. 5 53-5 5 5; E.M.Butler: The element of time in Goethe's >Werther< and Kafka's >ProzessKapitel< »Verhaftung« angelegte Konstellation beobachteten Beobachtens etwa legt den Zwang offen, vereinzelt vorliegende Bedeutungseinheiten - das jeweils erspähte Segment - zu einem möglicherweise den entscheidenden Sinn gerade verfehlenden Ganzen zu verknüpfen, und läßt zugleich Spielraum für mehrere, einander möglicherweise gerade ausschließende Lesarten. Uber einen solchen auf editionsphilologische Fragen beziehbaren reflexiven Gehalt verfügt auch die »Exegese der Legende«,' 30 die vor den Gefahren des Mißverstehens bei der Veränderung der Schrift warnt (295), oder der Versuch K.s, die ihm »nur bruchstückweise« (274) verständliche Rede des Italieners (273) ebenso wie das im Lichtkegel der Taschenlampe nicht erschließbare Gesamt des Altarbildes zu >erraten< (280-281). Strukturell aktualisiert ist mit dem Interpretationsproblem, vor dem Josef K. und mit ihm die Leser des >ProceßProbebohrungen< angewiesen - und muß sich seines Konstruktcharakters bewußt bleiben.

130

Von Kafka so genannt; Tagebücher, 1 3 . 1 2 . 1914.

369

V I I I . Sehen schreiben - Schreiben sehen

ι. Medialität und Konstruktivität visueller Wahrnehmung »Es ist bekannt, daß Goethe kein Freund von Brillen ist«.1 Mit diesen Worten leitet Johann Peter Eckermann die am »Montag, den 5. April 1830« geführten >Gespräche< mit Johann Wolfgang von Goethe ein: »Es mag eine Wunderlichkeit von mir sein«, soll Goethe Eckermann »bei wiederholten Anlässen« anvertraut haben, aber ich kann es einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der Brille auf der Nase zu mir hereintritt, kommt sogleich eine Verstimmung über mich, der ich nicht Herr werden kann [...]. Ich empfinde dieses noch stärker, nachdem ich seit Jahren es habe drucken lassen, wie fatal mir die Brillen sind [...]. Es kommt mir immer vor, als sollte ich den Fremden zum Gegenstand genauer Untersuchung dienen, und als wollten sie durch ihre gewaffneten Blicke in mein geheimstes Innere dringen und jedes Fältchen meines alten Gesichtes erspähen. Während sie aber so meine Bekanntschaft zu machen suchen, stören sie alle billige Gleichheit zwischen uns, indem sie mich hindern, zu meiner Entschädigung auch die ihrige zu machen. Denn was habe ich von einem Menschen, dem ich bei seinen mündlichen Äußerungen nicht ins Auge sehen kann und dessen Seelenspiegel durch ein paar Gläser, die mich blenden, verschleiert ist.2

Von Brillenträgern inspiziert, erfährt sich Goethe der Kälte des Gesichtssinns ostentativ ausgeliefert, als »Gegenstand«, als Objekt mithin, und mehr noch: das >Subjekt< der medialen Inspektion entzieht sich Goethes leicht kurzsichtigem 3 prüfendem Blick, denn die blendende Brille »verschleiert« den »Seelenspiegel« des Gegenübers. Aus der Sicht des Goethe gegenübertretenden Brillenträgers gesprochen gewährt die Sehhilfe Einblick noch in die kleinsten, Goethes Gesicht zierenden »Fältchen« und schützt blendend vor neugierigen Blicken und damit vor Entdeckung der verräterischen Physiognomie forschender Augen. Goethes Unbehagen kommt nicht von ungefähr, sondern gründet im strukturellen Gehalt die1

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 19. Hrsg. v. Heinz Schlaffer. München 1986, S. 670; das folgende Zitat ebenda. * Ebenda, S. 670-671. 1 Vgl. R. Greeff: Goethe und die Brillen. In: Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde und für augenärztliche Fortbildung 82 (1929), S. 389-396, hier S. 393-394.

371

Abb. 73 ser hierarchischen Anordnung, in der er sich nicht auf der >falschenWitness for the prosecution< (1958): Auf derjenigen Seite des Schreibtischs, auf der sich Goethe gerne wüßte, fängt der Strafverteidiger Sir Wilfrid mit seinem Monokel das Licht der Sonne ein, um sein Gegenüber, seinen potentiellen Mandanten Leonard Vole, zu blenden und aus seiner Reaktion auf seine Glaubwürdigkeit zu schließen (Abb. 73-74). 4

Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1976, S. 256. 5 Ebenda, S. 258. 6 Ebenda, S. 257.

372

Abb. 74 In die R e i h e der gegen die B e w a f f n u n g des B l i c k s vorgebrachten Pläd o y e r s , die G o e t h e nicht nur einmal hat »drucken lassen«, 7 gehört auch eine Passage aus dem ersten B u c h der >WanderjahreLeben und Werk< ermutigen läßt - nicht nur als I n d i z seiner A v e r s i o n gegen Sehhilfen gelten kann, sondern diese auch genauer zu konturieren gestattet: Nach einigen Stunden ließ der Astronom seinen Gast die Treppen zur Sternwarte sich hinaufwinden, und zuletzt auf die völlig freie Fläche eines runden hohen Turmes heraustreten. Die heiterste Nacht, von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden, welcher zum erstenmale das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken glaubte. Denn im gemeinen Leben abgerechnet die ungünstige Witterung die uns den Glanzraum des Äthers verbirgt, hindern uns zu Hause bald Dächer und Giebel, auswärts bald Wälder und Felsen, am meisten aber überall die inneren Beunruhigungen des Gemüts, die uns alle Umsicht mehr als Nebel und Mißwetter zu verdüstern sich hin und herbewegen. 8 (350-351) 7

8

Mutmaßlicher Bezugspunkt: Johann Wolfgang Goethe: Feindseliger Blick. In: Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 1 3 , 1 . Hrsg. v. Gisela Henckmann u. Irmela Schneider. München 1992, S. 178. Hier und im folgenden zitiere ich fortlaufend im Text, wobei folgende Ausgabe zugrunde liegt: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden

373

Im Sinne aufklärerischer Beobachtungspraxis nahezu ideale Bedingungen, ja die exponierte »Lieblingsstellung des Aufklärers« 9 findet Wilhelm Meister auf der »völlig freien Fläche eines runden hohen Turmes« vor: »die heiterste Nacht« gibt einen gänzlich unverstellten Blick auf den Sternenhimmel frei. Allein an der Begrenzung des Gesichtsfeldes, an der strukturierenden Rahmung des Wahrgenommenen leidet das Beobachtungsszenario Mangel, so sehr, daß Wilhelm sich vom Universum >umgeben< erfährt. Folgerichtig führen die anschließenden Reflexionen des Erzählers auf die Spuren des Erhabenen: »Ergriffen und erstaunt hielt er sich beide Augen zu. Das Ungeheure hört auf erhaben zu sein, es überreicht unsere Fassungskraft, es droht uns zu vernichten« (351). Der Größe, Ausdehnung und Unverstelltheit des nächtlichen Sternenhimmels nämlich (nahezu) unmittelbar ausgeliefert, »von allen Sternen leuchtend und funkelnd« umgeben zu sein, versetzt den Betrachter in einen gefährlichen Sog der Entgrenzung, insbesondere da (sieht man vom außerhalb seines Gesichtsfeldes liegenden festen Boden unter seinen Füßen ab) von menschlicher Hand gefertigte oder der irdischen Natur zugehörige Anhaltspunkte und Orientierungsgrößen, »Dächer und Giebel, [...] Wälder und Felsen« etwa, im Beobachtungsszenario fehlen. Ein drohender Selbstverlust »Was bin ich denn gegen das All? sprach er zu seinem Geiste: wie kann ich ihm gegenüber, wie kann ich in seiner Mitte stehen?« (351) - wird aber »nach einem kurzen Überdenken« geradezu >klassisch< aufgefangen von der Weckung »der Vorstellung des moralischen Gesetzes und der Anlage zur Moralität in uns« (KdU 122):'° Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte die nach vielen Seiten hingezogen werden in seinem Innersten, Tiefsten versammelt, wenn er sich fragt: darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein herrlich Bewegtes, um einen reinen Mittelpunkt kreisend hervortut? (351)

9

10

( 18 29). In: Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 17. Hrsg. v. Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann u. Johannes John. München 1991, S. 239-714. August Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus. Jena 1934. Nachdruck, Darmstadt 1968, S. 12. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. Karl Vorländer. 7. Aufl. Hamburg 1990, S. 1 1 7 . Im folgenden zitiere ich fortlaufend im Text (Sigle »KdU«) nach der Paginierung Vorländers.

374

Erst als es Wilhelm gelingt, sich »in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung« als vernünftiges Wesen" zu »denken«, »droht« der Anblick nicht mehr länger »uns zu vernichten« - Wilhelm beginnt, souverän ein astrologisches Koordinatennetz über das Unstrukturierte zu legen, die Sterne zu identifizieren und ihre mythologische Besetzung abzurufen: »Bei diesen Worten und Gedanken wendete er sich umher zu sehen, da fiel ihm Jupiter in die Augen, das Glücksgestirn, so herrlich leuchtend als je; er nahm das Omen als günstig auf und verharrte freudig in diesem Anschauen eine Zeit lang« (352), bis er vom Angebot professioneller, nun astronomischer Betreuung eingeholt wird: Hierauf sogleich berief ihn der Astronom herabzukommen und ließ ihn eben dieses Gestirn durch ein vollkommenes Fernrohr, in bedeutender Größe, begleitet von seinen Monden, als ein himmlisches Wunder anschauen. Als unser Freund lange darin versunken geblieben, wendete er sich um und sprach zu dem Sternenfreunde: >Ich weiß nicht, ob ich Ihnen danken soll, daß Sie mir dieses Gestirn so über alles Maß näher gerückt. Als ich es vorhin sah, stand es im Verhältnis zu den übrigen unzähligen des Himmels und zu mir selbst; jetzt aber tritt es in meiner Einbildungskraft unverhältnismäßig hervor und ich weiß nicht, ob ich die übrigen Scharen gleicherweise heranzuführen wünschen sollte. Sie werden mich einengen, mich beängstigen^ (352)

Durch das im »Fernrohr« des Astronomen nun »in bedeutender Größe« Erspähte - Anspielungshorizont ist hier freilich die von Galileo Galilei für sich in Anspruch genommene Entdeckung der Jupitermonde im Januar 1610' 2 - gerät die soeben errungene Selbstbehauptung Wilhelms neuerlich ins Wanken, droht die Distanzierung des unendlich Großen durch den Rekurs auf die eigene Moralität wieder aufgehoben zu werden: Wilhelm vermag sich zu den »Scharen« ihn potentiell einengender und beängstigender Himmelskörper nicht mehr in ein Verhältnis zu setzen, das ihn als »Gegenüber« dieser Macht, als Mittelpunkt eines moralischen Universums gelten lassen könnte. Die Irritation dieses (in Galileis Abhandlung musterhaft vorgeführten) >Ins-Verhältnis-setzen-Könnens< der Sterne zueinander (in der Ordnung einer Sternkarte oder eines Horoskops etwa) und zu sich selbst macht er zum Kernpunkt der anschließenden Funda11

Für das Sich-der-Vernunft-Innewerden macht Kant zwei Bedingungen geltend: Entweder darf die Bedrohung nur im Modus des >als ob< wahrgenommen werden, wenn sich die Betrachter »in Sicherheit befinden« ( K d U 107), oder der Bedrohte muß über »eine bei weitem größere Kultur nicht bloß der ästhetischen Urteilskraft, sondern auch der Erkennsnisvermögen« ( K d U i n ) verfügen.

12

Vgl. Galileo Galilei: Sidereus Nuncius. In: Galileo Galilei: Sidereus Nuncius; Nachricht von neuen Sternen; Dialog über die Weltsysteme; Vermessung der Hölle Dantes; Marginalien zu Tasso. Hrsg. v. Hans Blumenberg. Frankfurt a.M. 1965, S. 74-129, hier S. 1 0 8 129.

375

mentalkritik an allen »Mitteln, wodurch wir unsern Sinnen zu Hülfe kommen« - innere und äußere Welt geraten, so Wilhelm, in ein Ungleichgewicht: Ich begreife recht gut, daß es euch Himmelskundigen die größte Freude gewähren muß, das ungeheure Weltall nach und nach so heranzuziehen wie ich hier den Planeten sah und sehe. Aber erlauben Sie mir es auszusprechen: ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hülfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner innern Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, inneres Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen abzugleichen. So oft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selbst nicht; ich sehe mehr als ich sehen sollte, die schärfer gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Innern und ich lege die Gläser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder jenes beschaffen sein möchte, befriedigt ist. (352.—3 53)

Erst am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, als Wilhelm weder die Erfahrung, dem »All« ausgeliefert zu sein, noch diejenige medialer Entstellung macht, sondern am »Fenster« stehend nach draußen blickt, vermag er, angesichts »der dem Aufgang der Sonne voreilenden Venus« (353), »äußeren Sinn« und »innere Urteilsfähigkeit« (352), den »bestirnten Himmel über« sich und »das moralische Gesetz« 13 in sich, neuerlich ins rechte »Gleichgewicht« zu setzen und den Ausblick nach kurzem Staunen »enthusiastisch« zu würdigen: »>welche Herrlichkeit! welch ein Wunder!< Andere Worte des Entzückens folgten« (3 5 3). Als von Wilhelm bevorzugte Wahrnehmungspraxis entpuppt sich ein Sehen, das auf mediale Intervention weitgehend zu verzichten scheint und seltsamerweise trotz vermeintlich unmittelbarer Auslieferung an das dem Auge sich Darbietende die Selbstgewißheit des Schauenden nicht zu irritieren vermag. Der drohende Selbstverlust wird aber von einer sehr unauffällig gehaltenen Vermittlungsinstanz - dem Fenster nämlich - aufgefangen: Erst am »Fenster« stehend weiß sich der Betrachter »in Sicherheit« 14 (KdU 107) 15

14

Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. v. Karl Vorländer. 7. Aufl. Hamburg 1990, S. 186. Auf diesen Bezug macht bereits der Kommentar zu den >Wanderjahren< (Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 17. Hrsg. v. Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann u. Johannes John. München 1991, S . 9 5 7 - 1 2 1 7 , hier S. 1127), aufmerksam. Als Voraussetzung für das Zustandekommen des Erhabenen bestimmt Kant, »daß wir uns sicher sehen müssen, um dieses begeisternde Wohlgefallen zu empfinden; mithin, weil es mit der Gefahr nicht Ernst ist« ( K d U 108). »Der Mensch, der sich« dagegen »wirklich fürchtet [...], befindet sich gar nicht in der Gemütsverfassung, um die göttliche Größe zu bewundern« ( K d U 107).

376

und vermag den am Rande seines Sehfelds nur schemenhaft gegenwärtigen Rahmen als Demarkationslinie zwischen sich und der nun neuerlich distanzierten und damit entmächtigten Entstrukturierungsdrohung 1 ' zu interpretieren, ja bei gehörigem Abstand zum rahmenden Fenster den Himmel gar als >Bild< zu betrachten. Die beiden ersten Versuche, »an den Wundern des gestirnten Himmels vollkommen Teil« (350) zu haben, führen nicht zum erhofften Erfolg: Als Wilhelm »das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit« erblickt (350), muß er sich zunächst »ergriffen und erstaunt [...] beide Augen« (351) zuhalten und vermag sich seiner selbst erst in einer »erhabenen« Selbstbesinnung wieder zu versichern; als er sodann genau wie Galilei 16 »durch ein vollkommenes Fernrohr«, optisch und entdeckungsgeschichtlich vermittelt also, »Jupiter [...], begleitet von seinen Monden anschauen« darf, droht ihn der Anblick zu »beängstigen« (352) und läßt ihn, ein Plädoyer gegen optische Medien haltend, zum Anti-Galilei werden. Erst im dritten Anlauf, als er schließlich »zum Fenster« eilt, um »die dem Aufgang der Sonne voreilende Venus« »zu schauen und zu begrüßen«, stellt sich der erhoffte Erfolg ein, gerät ihm »der Anblick« zum »Wunder« (353). Zum Vorschein bringen die drei Versuche visueller Sternenbegegnung die populäre Unterscheidung zweier Wahrnehmungsweisen: zwischen unvermittelt-normalem Sehen auf der einen und forciertem, mediengestütztem Sehen auf der anderen Seite. Zum Vorschein kommt aber auch - und das ist entscheidend - das überaus Fragwürdige dieser Differenzierung. Die erste, gänzlich unvermittelte Begegnung zwischen dem Sternenhimmel in seiner unendlichen Ausdehnung und Wilhelm nötigt Bewußt inszeniert wird diese Entsrukturierungsdrohung in den seit Beginn des 19. Jahrhunderts Europa erobernden Panoramen. Laut Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Überschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt a.M. 1990, S. 166, simuliert »das Hineinziehen des Betrachters in das panoramatische Bild« nämlich zum einen »eine der Erhabenheitserfahrung ähnliche Auslieferung an den dargestellten Naturraum und bestätigt« zum anderen den Betrachter »zugleich in der Omnipotenz seines Blicks«. Zu weiteren systematischen Gehalten des Panoramas vgl. S. 1 5 9 - 1 7 2 , zu historischen vgl. Heinz Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert. München 1970, S. 25-24, Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt a.M. 1980 und den Ausstellungskatalog Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a.M., Basel 1993. 16

»Als ich also um die erste Stunde der auf den 7. Januar des laufenden Jahres 1 6 1 0 folgenden Nacht die Gestirne des Himmels durch das Fernrohr betrachtete, geriet mir der Jupiter ins Bild, und da ich mir ein vorzügliches Instrument gebastelt hatte, erkannte ich (was vorher wegen der Schwäche des anderen Gerätes nie gelungen war), daß bei ihm« zunächst »drei«, später vier »Sternchen standen«; Galilei (s. Anm. 12), S. 109.

377

diesen nämlich, seinen visuellen Sinneskanal z u schließen, u m der d r o h e n den >Absorption< durch den ihn u m g e b e n d e n unendlichen H i m m e l s r a u m zu entgehen. E r s t die anschließende reflexive E i n h o l u n g und sprachliche Verarbeitung der unvermittelten H i m m e l s b e g e g n u n g - »Was bin ich denn gegen das A l l ? sprach er zu seinem Geiste« - v e r m ö g e n das mit Vernichtung d r o h e n d e » U n g e h e u r e « (3 51 ) in die E r f a h r u n g des E r h a b e n e n u m z u biegen, ganz nach dem z u v o r v o n J a r n o gegebenen M o d e l l : »>Es ist nichts natürlicher«, sagte er, >als daß uns v o r einem großen A n b l i c k schwindelt, v o r dem w i r uns unerwartet befinden, u m zugleich unsere Kleinheit u n d unsere G r ö ß e z u fühlen. A b e r es ist ja überhaupt kein echter G e n u ß als da, w o man erst schwindeln muß.SchwindelFreilich gibt es kein Endes sagte er sich, >es geht immer weiter, fortwährend weiter, ins Unendliche.* Er hielt die Augen auf den Himmel gerichtet und sagte sich dies vor, als gälte es die Kraft einer Beschwörungsformel zu erproben. Aber erfolglos; die Worte sagten nichts, oder vielmehr sie sagten etwas ganz anderes [...]. Endlich Schloß er die Augen, weil ihn dieser Anblick so sehr quälte.21 Temporaler Vermittlung verdankt auch das erhabene Erlebnis des Sprecher-Ichs aus Brockes' >Firmament< seine verbale Präsentabilität; wie sonst sollte es der Sprecher zur Sprache bringen können, da sein »Geist« sich »ob der unendlichen; unmäßig-tiefen Hole« des Himmels, wie man annehmen darf: nur vorübergehend, »ent-Miz-te«? 22 In der >Kritik der Urteilskraft* wird das vermeintlich a-mediale Sehen als Wahrnehmungsbedingung des Erhabenen formuliert, wie im Falle Wilhelm Meisters, Törleß' und des Brockes'schen Sprecher-Ichs topisch im Paradigma des Himmelsblicks: Wenn man also den Anblick des bestirnten Himmels erhaben nennt, so muß man der Beurteilung desselben nicht Begriffe von Welten, durch vernünftige Wesen bewohnt, und nun die hellen Punkte, womit wir den Raum über uns erfüllt sehen, als ihre Sonnen in sehr zweckmäßig für sie gestellten Kreisen bewegt, zum Grunde legen, sondern bloß, wie man ihn sieht, als ein weites Gewölbe, das alles befaßt [...]. Ebenso den Anblick des Ozeans nicht so, wie wir ihn mit allerlei Kenntnissen (die aber nicht in der unmittelbaren Anschauung enthalten sind) bereichert ihn denken; etwa als ein weites Reich von Wasserge20

21 22

Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. In: Robert Musil. Gesammelte Werke. Bd. 2. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek 1978, S. 7 - 1 4 0 , hier S.62. Ebenda, S. 62-63. B . H . Brockes: Das Firmament. In: Herrn B . H . Brockes, Irdisches Vergnügen in G O T T , bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Erster Theil, nebst einem Anhang etlicher übersetzten Fabeln Des Herrn de la Motte. 6. Aufl. Hamburg 1737, S. 3; meine Hervorhebung. Vgl. Kapitel II.2. 380

schöpfen, als den großen Wasserschatz für Ausdünstungen, welche die Luft mit Wolken zum Behuf der Länder beschwängern, oder auch als ein Element, das zwar Weltteile voneinander trennt, gleichwohl aber die größte Gemeinschaft unter ihnen möglich macht; denn das gibt lauter teleologische Urteile; sondern man muß den Ozean bloß, wie die Dichter es tun, nach dem, was der Augenschein zeigt [...], erhaben finden können. (KdU 1 1 7 - 1 1 8 ) .

»Wie die Dichter«, bar jeder begrifflichen oder teleologischen Intervention, »bloß, wie man ihn sieht, als ein weites Gewölbe, das alles befaßt«, schaut Wilhelm den nächtlichen Himmel nur im Falle des ersten, ihn ganz umgebenden und noch nicht reflexiv eingeholten Sternenblicks - zunächst »ergriffen und erstaunt« und sodann die Augen verschließend. Kennzeichen eines solchen »bloßen« Sehens, einer »pure ocular vision«, 23 ist somit die konsequente begriffliche (und das heißt auch: reflexive) Abstinenz im Vorgang der Wahrnehmung dessen, »mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist« (KdU 94). Genau diese Abstinenz aber wird zur (nur interpretativ möglichen) Erreichung des Erhabenen preisgegeben, denn auf die (bloß) ursächlich sinnliche, im Scheitern des Zusammenspiels von Einbildungskraft und Vernunft erreichte Erfahrung der »Unlust« (KdU 102) gilt es »noch einmal zu reflektieren«, 24 um zu einer - nun aber freilich vermittelten - Erfahrung »negativer Lust« zu gelangen, »einer Lust [...], welche nur indirecte entspringt« (KdU 88). Die Vorstellung einer »material vision [...] entirely devoid of teleological interference«25 erweist sich derart als utopisches Korrelat eines empirischen, von begrifflicher oder reflexiver Einmischung nur graduell unterschiedlich betroffenen Sehens, dessen Vermitteltheit sich entweder als vom Subjekt erbrachte, innere (Reflexion, Versprachlichung, Klassifikation, Verdinglichung, Selektion) oder als von einem Medium erbrachte, materialisierte, äußere (Brille, Teleskop, Fenster etc.)2é bezeugt. Zur Debatte stehen in >Wilhelm Meisters Wanderjahren< somit strukturell identische, nur nach dem Grad ihrer medialen Kontamination (und dem Bewußtsein davon) unterscheidbare Modelle visueller Wahrnehmung, als deren utopische >Richtschnur< das lediglich reflexiv, nicht aber authentisch einholbare Konzept gänzlich unvermittelten Sehens fungiert. li

Paul de Man: Phenomenality and Materiality in Kant. In: Hermeneutics. Questions and Prospects. Hrsg. v. Gary Shapiro u. Alan Sica. Amherst 1984, S. 1 2 1 - 1 4 4 , hier S. 136. 24 Wolfgang Bartuschat: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1972, S. 130. Zu den von der >Kritik der Urteilskraft^ parat gehaltenen zwei Erklärungen für das Zustandekommen der »negativen Lust« vgl. Kapitel II.2. 2 ' De Man (s. Anm. 23), S. 1 3 5 - 1 3 6 . 16 Zur Unterscheidung objektiver und subjektiver innerer und medialer äußerer Determinanten des Sehens vgl. Kapitel V I I . i und VII.2. 381

Innere und äußere Vermittlung des (nur vor seiner reflexiven Einholung, etwa durch Sprache) »bloß, wie man ihn sieht«, als durch nichts getrübter »Augenschein« Wahrgenommenen treten in dieser Akzentuierung strukturell in ein Spiegelverhältnis. Indem Funktion und Effekte optischer Medien - Teleskope, Mikroskope, Lupen, Brillen, aber auch Apparate wie die Camera obscura, die Laterna magica oder der Kinematograph - thematisiert werden, steht auch die Medialität nur vermeintlich unvermittelter Wahrnehmung (sei es vorgestellter Figuren, sei es der Erzählinstanz) zur Debatte, etwa indem eine »in der Form von einem Perspective« »vors Auge« gehaltene Hand wie das »Mittel« der Dichtung (so im Falle von Brockes' >Bewährtem Mittel für die AugenZeugenstand< berufenen literarischen Texten. Texte, Schriftzeugnisse überhaupt, gehören dem Diskurs über visuelle Wahrnehmung nämlich nicht nur insofern an, als Schrift in erster Linie visuell wahrgenommen wird, sondern auch insofern, als Sinnkonstitution, Information etc. ganz wesentlich über Erzeugung von Bildlichkeit bewerkstelligt wird, und zwar durchaus nicht beliebig, sondern organisiert von den jeweiligen typographischen und semantischen Steuerungselementen der Texte. Lektüre ist, so gesehen, strukturell eng verwandt mit der visuellen Wahrnehmung - mit dem entscheidenden Unter27

28

19

Eckhard Lobsien: Bildlichkeit, Imagination, Wissen: Zur Phänomenologie der Vorstellungsbildung in literarischen Texten. In: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Hrsg. v. Volker Bohn. Frankfurt a.M. 1990, S. 8 9 - 1 1 4 , hier S.90. Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. 2. Aufl. Bd. 3. Hrsg. v. Richard Samuel, Joachim Mähl u. Gerhard Schulz. Stuttgart, Darmstadt 1968, S. 377. Friedrich Schlegel: Fragmente. In: Athenaeum 1,2 (1798), S. 3 - 1 4 6 , hier S.45. 382

schied aber, über den Vorgang der Produktion von Vorstellungen, von Bildlichkeit mithin, vermittelt zu sein. Diese Vermittlungsleistung läßt sich in eine ökonomische Gleichung überführen, derzufolge die von Texten in Gang gesetzte Erzeugung literarischer Bildlichkeit, als »quasiwahrnehmungsmäßige

Gegenstandserfassung,

ein Texteffekt ist, der

durch gezielte Strategien einer Rücknahme jener Selbstpräsentationstendenzen der Sprache erzeugt wird«; 3 0 der Grad der Selbstverleugnung der textuellen Materialität verhält sich in dieser Logik proportional zu seiner Illusionierungsintensität. Damit aber lassen sich Lektüre und (nicht nur) visuelle Wahrnehmung erst im Zusammenspiel zweier Funktionen beschreiben: zum einen erfolgen sie rezeptiv, indem nämlich die wahrgenommenen Teilaspekte der Welt und der Schrift aufgenommen und erst dann der produktiven neuronalen und mentalen Informationsverarbeitung zugeführt werden: Wenn wir ein Objekt genauer betrachten wollen, >richten wir den Blick darauf«, d.h. wir bringen durch Kopf- und Körperbewegungen, hauptsächlich aber durch Augenbewegungen das optische Bild dieses Objektes in den Bereich der fovea. Durch schnelle Blickbewegungen können wir die Umgebung abtasten und erkunden. Die höheren Zentren des Gehirns setzen die einzelnen dabei entstehenden Bildelemente zu einem Gesamtbild zusammen, das aber keinesfalls mit einer Photographie verglichen werden darf. Es enthält zahlreiche Elemente einer Interpretation der Umgebung. Es ist am ehesten als eine interne, neuronale Repräsentation der Umwelt anzusprechen,3' für die (so oder so ähnlich) schon einmal Dagewesenes als Bausteindepot zur Verfügung steht. Selbst der von Rainer Röhler bemühte Terminus »Gesamtbild« ist - insbesondere in informationstheoretischer Perspektive - noch irreführend, denn die Verknüpfung einzelner Sinnesdaten muß in ihrer D y n a m i k und Prozessualität, vor allem aber nicht als >Bilder< produzierend, sondern als seiegierend und filternd aufgefaßt werden: Das Kameramodell geht am Wesentlichen des Sehvorganges vorbei, weil der Gesichtssinn weit mehr auf die Heraushebung von Nachrichten aus der Verdekkung von Störsignalen als auf getreue Abbildung der Umwelt eingerichtet ist. Man kennzeichnet daher die Funktion des Auges [...] besser durch die Angabe seiner Filtereigenschaften.32 30

Lobsien (s. Anm. 27), S.97. ' Rainer Röhler: Sehen und Erkennen. Psychophysik des Gesichtssinnes. Berlin, Heidelberg, N e w York 1995, S.48-49. 32 Bereits physiologisch (Fovea centralis) und wahrnehmungspsychologisch (seiegierende Filterfunktion im Sehen) liegt das Utopische unmittelbarer Wahrnehmung zutage. Vgl. Günter Baumgartner u.a.: Sehen. Sinnesphysiologie III. München, Wien, Baltimore 1978, S. 149. 3

383

Auch die Projektionsmedien Camera obscura und Laterna magica erhalten in solcher Akzentuierung ein weit komplexeres ästhetisches Funktionalisierungsprofil als das etwa von Friedrich A. Kittler (ohnehin nur) für »romantische Romane« vorgeschlagene: »Erst« diesen nämlich sei »es gelungen, Laterna magica eines Autors für die Camera obscura seiner Leser zu sein«. 33 In der Logik dieser simplifizierenden Engführung stellt sich die Funktion >Autor< als ausschließlich im >magisch< besetzten Innern poietisch-produzierend und das Produkt nach außen projizierend dar, die Funktion >Leser< dagegen ist ausschließlich als das poietische Produkt in sein Inneres aufnehmend, passiv-erleidend mithin, konzipiert. Literarische Produktion und literarische Rezeption aber in der Metapher jeweils nur eines optischen Medienparadigmas zu fassen, heißt ausklammern zu müssen, was Autoren als Leser wie Camerae obscurae in ihre Texte aufnehmen und was Leser als Autoren wie Laternae magicae in die Texte >projizierenAkt des Lesens^ 6 - »Sehn ist hier ganz activ«, notiert, wiederum hellsichtig die K o m plexität menschlicher Wahrnehmung beschreibend, Novalis, »durchaus bildende Thätigkeit [...]. Fast jeder Mensch ist in geringen Grad schon Künstler - Er sieht in der That heraus und nicht herein«. 37 Uber produktive Kompetenzen im Sehen verfügt demnach »fast jeder Mensch« in zumindest »geringem Grad«, während der nach Abzug dieses nur anteilig, in 35

Friedrich A . Kittler: Die Laterna magica der Literatur: Schillers und Hoffmanns Medienstrategien. In: Athenäum 4 (1994), S. 219-237, hier S. 229. 34 Vgl. hierzu Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990, S. 51-57; Christoph Wulf: Das gefährdete Auge. Ein Kaleidoskop der Geschichte des Sehens. In: Das Schwinden der Sinne. Hrsg. v. Dietmar Kamper u. Christoph Wulf. Frankfurt a.M. 1984, S. 21-45, hier S. 26-27. 3 ' In diesem Sinne argumentiert etwa Harro Segeberg: Rahmen und Schnitt. Zur Mediengeschichte des Sehens seit der Aufklärung. In: Wirkendes Wort 43 (1993), S. 286-301, hier S. 290-291, der »realistische Schreibweisen« »von Guckkasten und Camera obscura vorbereitet« sieht. 36

37

Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 3. Aufl. München l99°Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. 2. Aufl. Bd. 2. Hrsg. v. Richard Samuel, Joachim Mähl u. Gerhard Schulz. Stuttgart, Darmstadt 1965, S. 574.

384

»geringem Grad« produktiven Sehens verbleibende Teil der visuellen Wahrnehmung als >Herein-Sehen< des >Nicht-Künstlers< fungiert. Auf den Vorgang der Produktion und Lektüre literarischer Texte bezogen, sind im >hereinsehenden< Paradigma der Camera obscura die jeweiligen rezeptiven Aspekte von Autor- und Leserschaft akzentuiert, im ersten Fall im unumgänglichen Angewiesensein auf literarische Vorbilder, im zweiten in der rezeptiven Dimension der Lektüre, der Entzifferungsarbeit am textuellen Material. Ihre besondere Eignung zur metaphorischen Ersetzung produktiver und rezeptiver Vorgänge verdanken Laterna magica und Camera obscura dem Umstand, daß ihr »Betriebsgeheimnis« 38 im >Dunkel< und in der >Magie< des jeweiligen Gehäuses vor neugierigen Blicken verschlossen ist. Zwar ist Eingeweihten in der Welt der Empirie die in den Gesetzen der Optik verankerte Funktionsweise der Geräte durchaus vertraut, doch ist entscheidend, daß die Integration der über die Struktur einer >black box< verfügenden Projektionsmedien in literarische Texte aus der Verantwortung entläßt, über die begrifflicher Einholung sich widersetzenden produktiven und rezeptiven Gehalte von Lektüre- und Schreibvorgängen Rechenschaft ablegen zu müssen, um so mehr, wenn die Leser die den Apparaten »zugrunde liegenden Prinzipien nicht durchschauen«. 3 9 Vor allem die poietischen Aspekte literarischer Produktion wie Rezeption werden auf diese Weise >magisch< konnotiert: U m dem geheimnisvollen Zustandekommen der »himmlischen Gesichte« in seinem Innern sprachlich beizukommen, greift Törleß, der, wie der Erzähler kommentiert, von der »Intuition großer Künstler« 40 nichts wußte, auf das Paradigma der »Zauberlaternen« zurück, deren »Bilder« genau wie diejenigen seiner Vorstellungswelt nun nicht »aus dem Dunkel« seines Innern, sondern des Laternengehäuses »springen«. 41 Für die produktiven Aspekte von Lektüre gibt der Erzähler ebenfalls eine das Geheimnis wieder nur (nun in das Ominöse der »Fantasie«) verschiebende Erklärung ab: So wie Törleß Beineberg »nur halb ansah und halb in der Phantasie das Bild ergänzte«, 42 funktioniert auch eine Lektüre, die es zu bewerkstelligen vermag, daß man »schon beim Aufschlagen der Bücher wie durch eine heimliche Pforte in die Mitte aus-

38

Kittler (s. Anm. 33), S.229. » Ulrike Hick: Geschichte der optischen Medien. München 1999, S.44. 40 Musil (s. Anm. 20), S.92. Das Wissen um diese »Intuition« brächte Törleß nicht weiter, denn auch hier wird der >magische< Bereich nicht erklärt, sondern lediglich in die Transzendenz einer Inspirationsquelle verschoben. 41 Ebenda, S. 104. 42 Ebenda, S. 2 1 .

385

erlesener Erkenntnisse treten« 43 kann. Die produktiven und rezeptiven Aspekte des Schreibens wie des Lesens bleiben im Gehäuse der Apparaturen verwahrt und gleichen Lesen und Schreiben im Zusammenspiel von >Auflesen< (Camera obscura) und >Auswerfen< (Laterna magica) strukturell einander an, lassen sie zu zwei Funktionen eines einzigen Mechanismus werden, wie ein Abschnitt aus Joseph von Eichendorffs Erzählung >Viel Lärmen um Nichts< zeigt: Buchproduktion wird dort nämlich - stellt man den von den Kommentatoren bemühten Anspielungshorizont der industriellen Massenfertigung von Büchern mit der Schnellpresse zurück als Buchrezeption akzentuiert, als Zerlegen und Einstampfen schon existierender Bücher entworfen, die in der >black box< einer »ungeheuren Maschine« auf dem Wege einer geheimen Kombinatorik zu neuen, anderen Büchern montiert und wieder >ausgespuckt< werden, so daß ein »bewunderungswürdiger Umlauf von [...] Gedanken« entbunden wird - die Apparatur selbst wird als Lese- wie als Schreib-«Maschine« entzifferbar: Aurora war ganz verblüfft [...], als eine, wie es schien, mit Dampf getriebene ungeheure Maschine durch die Eleganz ihres Baues ihre besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie näherte sich neugierig, und bemerkte, wie hier von der einen Seite unablässig ganze Stöße von dicken, in Schweinsleder gebundenen Folianten in den Beutelkasten geworfen wurden [...]. Eine große Menge zierlich gekleideter Herren, weiße Küchenschürzen vorgebunden und die feinen Hemdeärmel aufgestreift, eilten auf und ab, das Schroten, Mahlen und Ausbeuteln zu besorgen [...]. Darauf führte er [der junge Mann] die Gräfin in das andere Ende der Maschine und es dauerte nicht lange, so spuckte ein bronzener Delphin die verarbeiteten Folianten als ein zierliches >Vielliebchen< in Taschenformat und in Maroquin gebunden zu ihren Füßen aus. 44

Wie die Integration rahmender oder lichtbrechender Medien (Fenster, Tele- und Mikroskope, Brillen etc.) in literarische Texte nicht nur die Rezeptions- und Produktionsbedingungen von Dichtung, sondern auch Funktionsweisen und Regeln visueller Wahrnehmung generell in den Blick bringen, so auch Laterna magica und Camera obscura - mit dem entscheidenden Unterschied aber, daß nun nicht das Verborgene der Medien-Apparaturen als Metapher für den >geheimnisvollen< Vorgang der Lektüre oder der von der »Intuition großer Künstler« getragenen Textproduktionen fungiert, sondern gerade die Funktionsweise im Inneren der Geräte auf den Bau des menschlichen Auges und die Funktionsweise des Sehens bezogen werden. Deutlich wird dies vor allem in der spätestens seit Leo43 44

Ebenda, S. 19. Joseph von Eichendorff: Viel Lärmen um Nichts. Novelle. In: Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Bd. 3. Hrsg. v. Brigitte Schillbach u. Hartwig Schultz. Frankfurt a.M. 1993, S. 9-82, hier S. 27-28; Kommentar S. 647-648.

386

nardo da Vinci immer wieder aktualisierten Engführung der Camera obscura mit Bau und Optik des menschlichen Auges, 45 in der die Camera obscura als »Entäußerung der technisch gewordenen Sinnesfunktion« 46 rangiert - eine Engführung, die das wissenschaftliche Bild vom ausschließlich oder zumindest dominant rezeptiven Sehvorgang bis weit ins 19. Jahrhundert hinein geprägt hat. Noch Hermann von Helmholtz zählt die Analogiebildung von Auge und visuellem Wahrnehmungsvorgang auf der einen, Camera obscura und Photographie auf der anderen Seite zu den »neueren Fortschritten in der Theorie des Sehens«: »Als optisches Instrument betrachtet ist das Auge eine Camera obscura [...]. Was im Auge geschieht, ist genau dasselbe« wie im Falle photographischer Aufnahmeverfahren, »nur daß an die Stelle der Glaslinsen Hornhaut und Krystallinse, an Stelle des Papierschirms oder der photographischen Platte die Netzhaut tritt«.47 Dabei bringt die im Zuge ihrer enormen Popularisierung seit den 1840er und 50er Jahren immerhin zum Massenmedium geratene Photographie die Differenzen zwischen der selektiven wie konstruktiven D y namik visueller Wahrnehmung und der ausschließlich perzeptiven Statik photographischer Aufzeichnungsverfahren zum Vorschein.48 Auch 1885 scheint diese Differenz noch nicht die ihr gebührende Anerkennung gefunden zu haben, denn für den »Professor der Augenheilkunde an der Universität Breslau« Hugo Magnus steht unverrückbar fest, daß das Auge [...] für die moderne Wissenschaft ausschließlich nur ein réceptives und kein produktives Organ [ist,] die Netzhaut [...] nur die einzige und ausschließliche Bestimmung [hat], die auf sie auffallenden Lichtstrahlen der Aussenwelt aufzufangen und der Sehnerv [...] diesen der Netzhaut einverleibten Eindruck wie ein Telegraphendraht dem Gehirn zu[leitet]

und daß 45

46

47

48

Vgl. Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. Hrsg. v. André Chastel. München 1990, S. 224-226, der eine funktionale Affinität zwischen der Art und Weise, »wie die Gegenstände ihre Bilder oder Abbilder ins Auge schicken«, und »der dunklen Kammer« ausmacht. Der Geschichte dieser Engführung widmet sich eingehend Hick (s. Anm. 39), S. 27-80; zur Vor- und Frühgeschichte der Camera obscura vgl. Hans H. Hiebel u.a.: Große Medienchronik. München 1999, S. 291. Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. Frankfurt a.M. 1995, S. 104. Hermann von Helmholtz: Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens. Berlin [1868], S.5, 10. Auf die Differenzen zwischen der planen Abbildung in der Camera obscura und der gewölbten im Auge machen aus physiologischer Sicht Ewald Hering: Beiträge zur Physiologie. Leipzig 1 8 6 1 - 1 8 6 4 , S . 9 - I 9 , und aus kunstwissenschaftlicher Sicht Fritz Stark: Das Netzhautbild. Verfahren zur Herstellung des wahren Sehbildes nach dem Grundprinzip des menschlichen Sehens angewandt auf die zeichnerische Konstruktion der Perspektive. Neuss a.R. 1928, aufmerksam.

387

all' die g l ä n z e n d e u n d p o e t i s c h e S c h i l d e r u n g , mit w e l c h e r v o r n e h m l i c h die nat u r p h y l o s o p h i s c h e n Schriftsteller unseres J a h r h u n d e r t s die geistige A u s s t r a h l u n g des A u g e s geprießen h a b e n , all' die herrlichen u n d e r g r e i f e n d e W o r t e , mit w e l c h e n der D i c h t e r m u n d das Seelische des A u g e s z u besingen nicht m ü d e w i r d , [...] v o r d e m F o r u m d e r h e u t i g e n A u g e n h e i l k u n d e nichts w i e inhaltloser Schall, nichts w i e leeres P h r a s e n g e k l i n g e l 4 9

sei. Magnus bittet sich denn auch aus, daß es in poetischen Texten mit der Darstellung von Sehvorgängen und der Physiognomie des Auges seine Richtigkeit haben möge: »Der Dichter wird dieser von uns soeben erörterten Thatsache ganz besonders eingedenk sein«.50 Gerade die beharrliche Besetzung des Sehvorgangs mit produktiven, der >Phantasie< zugeordneten Qualitäten durch »die naturphylosophischen Schriftsteller unseres Jahrhunderts«, aber auch durch >romantische< wie Friedrich Schlegel oder Novalis und vermeintlich >realistische< wie Wilhelm Raabe (dessen Chronist Johannes Wachholder seine bilderreich-produktive Erinnerungsarbeit im Modell der »Laterna magica«'1 zu fassen versucht) hat sich entgegen der Polemik Magnus' als zutreffend erwiesen (ironischerweise operiert Magnus selbst mit der Wendung vom »geistigen Blick«).52 Maßgeblichen Anteil an der wissenschaftlichen Fundierung der von poetischen und »naturphylosophischen« Texten transportierten Modellvorstellung eines Sehens, das auch als »projektive Leistung des Gehirns«53 verstanden wird, hat die mit der »Verselbständigung der Psychologie« zur »empirisch-experimentellen Einzelwissenschaft«54 und mit ihrer wissenschaftlich-disziplinären Ausdifferenzierung seit Beginn der 1880er Jahre betriebene intensive Vermessung des Sehens in den Labors der Psychologen, Physiologen und Psychophysiker.55 Ausgangspunkt dieses Prozesses ist ein von der Psychologie artikuliertes »tiefgreifendes Interesse« am Sehen: »Gerade im Laufe der letzten Jahre«, resümiert Helmholtz 1867, ist »die Lehre von den Gesichtswahrnehmungen [...] sehr vielfältig bearbeitet worden«.56 Als wirkungsmächtiger Beleg dieser Entwicklung kann H u g o Magnus: Die Sprache der Augen. Wiesbaden 1885, Titelblatt; S.9, 10. Ebenda, S. 28. ' 1 Vgl. Wilhelm Raabe: Die C h r o n i k der Sperlingsgasse. In: Wilhelm Raabe. Sämtliche Werke. Bd. ι . Hrsg. v. Karl H o p p e u. Max Carstenn. Göttingen 1965, S . 7 - 1 7 1 , hier S. 18—19. >J Magnus (s. A n m . 49), S. 29. 53 G o t t f r i e d Boehm: Sehen. H e r m e n e u t i s c h e Reflexionen. In: Kritik des Sehens. H r s g . v. Ralf K o n e r s m a n n . Leipzig 1997, S. 272-298, hier S. 284. 54 Ernst G e o r g Wehner: Geschichte der allgemeinen Psychologie. In: Geschichte der Psychologie. Eine E i n f ü h r u n g . H r s g . v. Ernst G e o r g Wehner. D a r m s t a d t 1990, S. 1—51, hier S.5, 39" Laut Wehner (s. A n m . 54), S.9, wird das erste experimentalpsychologische L a b o r 1879 von Wilhelm W u n d t eröffnet. *6 H e r m a n n von H e l m h o l t z : H a n d b u c h der physiologischen O p t i k . Leipzig 1867, S.V.

49

388

William James' protokonstruktivistisches Credo angesprochen werden, demzufolge »nur ein Teil von dem, was wir wahrnehmen, von dem Objekt vor uns durch unsere Sinne uns geliefert wird, während ein anderer Teil (und wohl der größere) immer aus unserem Innern hinzugefügt wird«. 57 In struktureller Korrespondenz zu dieser alle Formen sinnlicher Wahrnehmung einschließenden Regel präsentiert sich die mikro- wie makrostrukturelle Organisation des >Proceßeinzelligen< Bedeutungsgenerierung in den Fensterblicken oder im Lichtkegel der Taschenlampe Josef K.s bis hin zur editionsphilologischen Problemlage des nur in Bruchstücken verfügbaren >RomansProceß< lediglich als Reflex auf von den am Wahrnehmungsvorgang interessierten Wissenschaften ergründete Zusammenhänge. Brächte man dagegen die Wahrnehmungsreflexion »im Dom«' 8 mit der in den 1980er Jahren erfolgten Einführung der »Lichtkegel-Metapher«" in die Wahrnehmungspsychologie zur Veranschaulichung der Funktionsweise visueller Aufmerksamkeitsverteilung und -lenkung und der sinnlichen Grundlage von Verständnisprozessen in Verbindung, so geriete die Wahrnehmungsreflexion im >Proceß< in ein anderes, nämlich durchaus visionäres Licht. Nicht nur im Falle Kafkas stellen sich solche von literarischen Texten ausagierte >Visionen< oder >Phantasien< gegenüber dem die visuelle Wahrnehmung erschließenden Wissensund Entwicklungsstand in wahrnehmungs-, medizin-, psychologie- und technologiegeschichtlicher Perspektive als visionäre Leistungen dar: Während Lessings Minna von Barnhelm im 1767 entstandenen gleichnamigen »Lustspiel in fünf Aufzügen« (um ein weiteres Beispiel zu nennen) bloß im Bereich uneigentlicher Rede sich »den Anblick« eines »ganzen

57

William James: Psychologie. Leipzig 1909, S. 330; im Original ist das ganze Zitat hervorgehoben. 18 Franz Kafka: Der Proceß. Roman in der Fassung der Handschrift. Hrsg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1990, S. 270. " Werner X . Schneider: Visuelle Aufmerksamkeit, Handlungssteuerung und die Lichtkegel-Metapher - Untersuchungen zur Wirkung räumlicher Hinweisreize in einem Interferenz-Versuch, Bielefeld 1991. 389

Herzens verschaffen« 60 kann (und glaubt, damit Gewißheit über die Unbedingtheit der Liebe Teilheims erlangt zu haben), sieht Thomas Manns Hans Castorp rund 150 Jahre später »Joachims ehrliebendes Herz« 61 schlagen, nun aber positiv im streng wissenschaftlichen Sinne, nämlich »vergrößert auf dem Fluoreszenzschirme« 62 einer der von Röntgen um 1895 entwickelten X-Strahlen-Apparaturen. Während De la Roche 63 nur wenige Jahre, bevor Lessings >Minna von Barnhelm< entsteht, ein präzises Photographie-Desiderat in den utopischen Bereich einer >entlegenen< »Insul« versetzt - »Aber was der Spiegel nicht kann, das kann die Leinwand vermittelst ihres zähen und klebrichten Ueberzugs, und sie behält also die Bilder« 64 - , datiert die technische Realisation der Vorstellung, mittels einer Camera obscura erzeugte Abbildungen dauerhaft sistieren zu können, erst auf die 1830er, die beginnende literarische >Verwertung< der Photographie auf die 1840er Jahre (Kapitel IV.2). Ganz ähnlich läßt sich Lessings >LaokoonEntgleisungen< der 65

66

67

68

70

Vgl. H u g o Münsterberg: The Photoplay: A Psychological Study. N e w York, London 1 9 1 6 [Nachdruck: The Film: A Psychological Study. Hrsg. v. Richard Griffith. N e w York 1970], S.41. Georg Büchner: Leonce und Lena. Ein Lustspiel. In: Georg Büchner. Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Bd. 1. Hrsg. v. Henri Poschmann. Frankfurt a.M. 1992, S . 9 1 - 1 4 1 , hier S. 1 0 2 - 1 0 3 . Anonymus: Photographisches Bild im Auge eines Todten. In: Photographisches Journal 8 (1857), S. 87-88, hier S.87. >SwedenborgLiteratur und MedienUrsprungs< ausgerichtete und auf Linearität und Kontinuität von Entwicklungen setzende Auffassung hätte (wie aus diskursanalytischer Sicht zu Recht zu bedenken gegeben wird) literarische Artikulationen im Zusammenspiel mit technischer >Innovation< und wissenschaftlicher Erschließung und damit auch in der Entwicklungsgeschichte visueller Wahrnehmung und ihrer Begleitung durch Technik, Medizin, Typographie u.ä. allerdings als »reine Vision« zu klassifizieren, »die man anschließend in die Materialität des Raumes übertragen müßte«, oder (weniger folgenreich) als »nackte Gebärde, deren stumme und unendlich leere Bedeutungen durch spätere Interpretationen freigesetzt werden müßten«. Faßt man dieses Zusammenspiel indes, ohne nach >Ursprung< und >Fluchtpunkt< zu fragen, als »diskursive Praxis« auf, erscheinen literarische Texte als »von der Positivität eines Wissens völlig durchlaufen - unabhängig sowohl von wissenschaftlichen Erkenntnissen als auch von philosophischen Themen«. 76

2. Wahrnehmungsdiskurs und literarische Texte Die Bestimmung der Interaktion von literarischen Texten und visueller Wahrnehmung als »diskursive Praxis«, in der sich eine Vielzahl von »Aussagen« (énoncés) 77 zu einer »diskursiven Formation« 78 gruppieren (lassen), entläßt - so hat es zunächst den Anschein - aus der Verantwortung, möglichen Regeln dieser Interaktion nachzuspüren, um sie gegebenenfalls in eine Systematik überführen zu können, weil die potentielle Unterscheidbarkeit der Bereiche >Wahrnehmung< und >Literatur< für diskursanalytische Erkenntnisinteressen irrelevant ist. Literarische und nichtliterarische »énoncés« werden vielmehr gleichbehandelt, unter funktionalen Aspekten im Terminus der »diskursiven Formation« verschmolzen, be76 77 78

Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1981, S. 276-277. Ebenda, S. 1 1 5 u.ö. Ebenda, S.48 u.ö.

393

stimmt als »eine Menge von Aussagen [énoncés], die einem gleichen Formationssystem zugehören«. Genau darin können sie mit dem »Terminus Diskurs« 7 9 belegt werden, denn im Mittelpunkt diskursanalytischen oder -archäologischen Fragens stehen vornehmlich die für die Konstitution eines Diskurses in Anschlag zu bringenden Regeln, nicht aber die für die Verknüpfung einzelner Wissensformationen wie >Wahrnehmung< und >Literatur< (die bestenfalls als »Konstrukt diskursiver Praktiken« 8 0 von Interesse wären) bedeutsamen Gesetzmäßigkeiten und Strukturen. Im Einzugsbereich antihermeneutisch ausgerichteter, diskursanalytischer oder -archäologischer Untersuchungen stellt sich die Frage nach dieser Unterscheidung nicht; von der Warte ihres Erkenntnisinteresses aus sind die Leistungsgrenzen oder gar das Unplausible dieser Unterscheidung entsprechend auch nicht ans Licht zu bringen. Notwendig im Dunkeln muß einem solchen Zugriff auch bleiben, welche Effekte und Konsequenzen sich für literarische Texte und die von ihnen ästhetisch ausagierten Problemstellungen und Anliegen aus ihrer interaktiven Partizipation am Wahrnehmungsdiskurs ergeben, und umgekehrt, welche Weichenstellungen literarische Texte als ästhetische im Wahrnehmungsdiskurs vornehmen können. Will man aber nach genau diesen - ganz gleich, in welche Richtung verlaufenden - Interaktionseffekten fragen, muß aus heuristischen Gründen an der Vorstellung festgehalten werden, die Bereiche >Sehen< und >Literatur< seien trennscharf auseinander zu halten. Nicht von den methodischen Prämissen (der Diskursanalyse), sondern von den einzelnen Befunden her lassen sich mit hermeneutischem Blick - in einfluß- oder wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive etwa - in einem ersten Schritt osmotische Austauschprozesse zwischen den beiden Bereichen kenntlich machen. In einem zweiten Schritt gilt es, die Plausibilität strikter Grenzziehungsversuche einer genauen Prüfung zu unterziehen. Zu Zweifeln an einer solchen geben bereits grundlegende Interaktionsformen Anlaß: Literarische Texte, die Bewegungen, die sie vollziehen, die Figuren und Erzählinstanzen, die sie vorstellen, führen zum einen bestimmte Wahrnehmungsformen vor, besprechen sie und machen sie zum Gegenstand der Reflexion. Zum anderen nehmen literarische Texte im erlauchten Kreis der von Milos Vec beschriebenen medialen, »zu einer visuellen Massenkultur« sich summierenden »modernen Sehschulen« sehr wohl einen Platz ein »neben [...] Ki79 Ebenda, S. 156. 80 Horst Turk, Friedrich A. Kittler: Einleitung. In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hrsg. v. Horst Turk u. Friedrich A . Kittler. Frankfurt a.M. 1977, S.9-43, hier S.41.

394

no, [...] Malerei, Photographie, Fernsehen und Video« 81 (Kapitel I), denn sie gehören vorrangig der sichtbaren Welt an, und zwar in zweierlei Hinsicht: indem sie (wie den Überlegungen zur Typographie und Myopie im Kapitel VI.i zu entnehmen ist: mehr oder weniger gut) gesehen werden und indem sie >sehen< machen; die Lektüre literarischer Texte (von Schrift generell) erfolgt (zumindest in den meisten Fällen) über den visuellen Sinneskanal, optisch-materiell getragen von der typographischen Präsentation eines Buches oder Textes, und setzt eine in erster Linie quasi-visuelle Vorstellungsproduktion, die Erfahrung literarischer »Bildlichkeit« beim Leser in Gang. Neben diesen grundlegenden außerpoetischen Verknüpfungszentren lassen sich von einer wissenschaftsgeschichtlichen Warte aus poietische und mimetische Momente des Zusammenspiels unterscheiden, deren diskursgeschichtlicher Ort erst unter einem vom Sehen und von literarischen Texten her geleisteten Doppelblick zum Vorschein kommt, der auch die spezifisch ästhetische Kapazität literarischer Texte zu berücksichtigen vermag. Hält man nämlich zu heuristischen Zwecken wenigstens vorläufig und gewissermaßen experimentell an der Trennung der Bereiche >Wahrnehmung< und >Literatur< fest, fungieren literarische Texte sowohl als Reflexe wahrnehmungsgeschichtlicher Konstellationen und Transformationen wie als deren Movens. Anders herum, nicht von den Texten, sondern von der Wahrnehmung her gefragt, läßt sich diese (freilich wenig überraschend) als Movens von und als Reflex auf Literatur beschreiben. Erst Lektüren, die unter analytischer Einbeziehung von Kategorien (z.B. der des >TextesWahrnehmung< und >LiteraturSehen< her oder von den Texten, vom >Schreiben< her - , und die Vektorierung der jeweiligen Schreib- oder Sehvorgänge als poietisch oder als mimetisch. Begrifflich einholen lassen sich die Erscheinungsformen des Zusammenspiels unter den Termini des >Sehen-Schreibens< und des >Schreiben-SehensSehen-Schreibens< - vom Schreiben her gefragt lassen sich zum einen diejenigen Varianten des Zusammenspiels von >Wahrnehmung< und >Literatur< fassen, die literarische Texte gegenüber dem Bereich des >Sehens< als mimetisch bestimmen, (zunächst) als abbil81

Milos Vec: Knick in der Optik. Für Augenmenschen: Sehtechniken in der Massenkultur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1 2 . 1 . 1999, S. N 5 .

395

dend und dem >Sehen< entsprechend nach- und untergeordnet. Dieser Variante lassen sich alle Formen stofflich-motivischer Adaption von Mustern und Konzepten visueller Wahrnehmung in literarische Texte zuordnen, aber auch Formen der Integration von Wahrnehmungspraktiken, die Veränderungen in der Dimension des discours literarischer Texte bewirken. Als diskursive Spuren des >Sehens< lesbar sind etwa die Wahrnehmungsgewohnheiten Josef K.s: das auf Fräulein Bürstner gerichtete Sexual-Visier (Kapitel VII.2), die Ausleuchtung des Altarbildes im finsteren Dom (Kapitel VII.2) oder auch die Beobachtung der K. beobachtenden Nachbarn während der »Verhaftung« (Kapitel VII. 1 ) sowie die diesen Betrachtungsweisen zugrundeliegenden Regeln visueller Aufmerksamkeitslenkung, der Selektions- und Interpretationspraxis. Unter einem analytisch-reflexiven Blick stellt sich der >Proceß< in weiten Teilen als mimetisches Protokoll des >Sehens< dar, doch schreibt sich diese Einschreibung der Wahrnehmung in die Textur des >ProceßSehen-Schreibens< von der Doppelgesichtigkeit mimetischer Verfahren82 her: μιμεΐσθαι meint zum einen nämlich nachahmen, widerspiegeln oder abbilden (wiederholen), zum anderen aber auch, etwas (im jeweiligen Rezeptionsbewußtsein) präsentisch zur Darstellung zu bringen (wiederholen). Uberläßt das Auge des Beschauers sich weitgehend den in den Schreibweisen vorgeschriebenen Wegen, so stehen nicht mehr nur im >SchreibenSehens< zur Debatte. Vielmehr treten umgekehrt diese Formen des >Sehens< als vom Text im Rezeptionshorizont des Lesers re-inszeniert in den Vordergrund. In seiner mimetischen Funktion ebenso gedoppelt - abbildend sowohl wie zur >Präsenz< bringend - ist das >Sehen< als Wahrneh81

Diese Ambivalenz arbeitet mit Blick auf die platonisch-aristotelische Mimesis-Lehre Hermann Koller: Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck. Bern 1954, S. 1 1 9 , heraus.

396

mungsspur und als Wahrnehmungsinszenierung in den Gedichten von Brockes angelegt, läßt sich doch die schriftlich präsentierte Landschaftswahrnehmung - sei es im Blick des Sprecher-Ichs aus den Fenstern des >Thürmchens zu Ritzebüttel< (Kapitel II.2), sei es im Blick durch die zum »Perspective« gefaltete Hand (Kapitel II.2) - in seiner nachahmend-imitativen Funktion bestimmen als protokollarische Notation einer aufklärerisch seiegierenden und strukturierenden Wahrnehmungspraxis, in seiner >präsentischen< Vektorierung als im Wahrnehmungshorizont des Lesers re-inszenierte visuelle Entfaltung der vom jeweiligen Sprecher-Ich visuell erkundeten (und darin erst als solche generierten) Landschaften. Diskursive Brisanz erlangt diese Doppelgesichtigkeit des Mimetischen insbesondere dann, wenn sie die von den Texten jeweils anvisierten Vorhaben untergräbt, wie am Beispiel von Moritz' Fibel-Projekt (Kapitel II.2) besonders deutlich wird: Wenn nämlich die ersten, mit Moritz' >Neuem A . B . C . BuchSehensSehen< vom >SchreibenA.B.C. Buch< lesende Kind wird nicht (nur) als Subjekt in seiner ganz eigenen, selbstbewußten Individualität aus der Lesetaufe gehoben, sondern den gleichmacherischen Bewegungen und Bahnen eines Textes ausgeliefert, unter denen es strukturell zum Objekt gerät. Solcher Doppelgesichtigkeit eines mimetisch bestimmten >Sehen-Schreibens< unterliegen selbst die (nur auf den ersten Blick) mit ausschließlich abbildend-mimetischem Impetus versehenen Wahrnehmungsinszenierungen im >GeisterseherChronik der Sperlingsgasse< und in der >TotenmesseSehen< des Lesers in Auswahl, Perspektivierung und Interpretation genau in den Bahnen der Optik der Erzählinstanz: wenn etwa das

83

Karl Philipp Moritz: Neues A . B . C . Buch, welches zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder enthält mit Kupfern. 2. Aufl. Berlin 1794.

397

Anliegen des Grafen von O * * , möglichst wahrheitsgetreu »von einem gewissen politischen Vorfalle« 84 zu unterrichten, den Leser überaus eng an den Wahrnehmungs-, Wissens- und Deutungshorizont des Grafen und seiner Informanten bindet (Kapitel II.4), wenn die >Chronik der Sperlingsgasse< nicht nur dem Chronisten sich in einzelnen Fensterblicken erschließt, sondern selbst zum erzählten Fensterblick gerahmt wird (Kapitel IV. 1), oder wenn die vom Paratext-Sprecher der >Totenmesse< angekündigte psychologische Untersuchung den >aufgelesenen< Certain unter eine narrative Lupe nimmt (Kapitel V.i), die den analytischen Blick auf den »cent fois grandeur naturelle« 8 ' erscheinenden Untersuchungsgegenstand »Certain« nicht nur des Paratext-Sprechers, sondern auch des Lesers medial kanalisiert. Ausschlaggebend für die jeweilige Gewichtung in der funktionalen Ausrichtung des zwischen abbildend-mimetischem und darstellend-mimetischem Impetus changierenden >Sehen-Schreibens< ist zum einen die Schwerpunktsetzung im Zusammenspiel illusionserzeugender Selbstverleugnung und illusionsirritierender Selbstbezichtigung des Textes, zum anderen die Fähigkeit oder Ermächtigung des Lesers zur emanzipatorischen Selbstbehauptung in der Lektüre. Liegt der Schwerpunkt auf der Spielart eines mimetisch-abbildenden >Sehen-SchreibensSubjekt< des Schreibens, der literarische Text dagegen als Effekt eines Einschreibevorgangs dar, liegt er umgekehrt auf der Seite vorgeschriebenen >SehensSehen< als Präsenz-Effekt des >Schreibens< und der literarische Text als >Subjekt< eines >Sehen< im Hier und Jetzt der Lektüre zur Entfaltung bringenden >SchreibensSchreiben< des >ProceßSehens< zugleich aber auch in einer poietischen Dimension kenntlich, wenn man etwa Josef K.s selektive, mittels der elektrischen Taschenlampe vorgenommene Betrachtung des »Altarbildes« »im Dom« 86 von der Warte wahrnehmungspsychologischer Entwicklungen der 1980er Jahre aus in Augenschein nimmt - eine Betrachtungsweise ex post, die allerdings Gefahr läuft, literarische Texte teleologisch als Äußerungen im Zusammenspiel mit visueller Wahr84

Friedrich von Schiller: Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von O " . In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 16. 'Hrsg. v. Hans Heinrich Borcherdt. Weimar 1954. S . 4 5 - 1 5 9 , hier S.45.

85

Vgl. Stanislaw Przybyszewski: Totenmesse. In: Stanislaw Przybyszewski. Studienausgabe. Werke, Aufzeichnungen und ausgewählte Briefe in acht Bänden und einem Kommentarband. Bd. ι. Hrsg. v. Michael M. Schardt u. Hartmut Vollmer. Paderborn 1990, S. 7 - 4 1 , hier S. 9. Kafka (s. Anm. 58), S.281, 270.

86

398

nehmung, als kontinuierlich-lineare und zielgerichtete Entwicklung, als (gar bewußtes) >Vorschreiben< des >Sehens< zu begreifen. Und doch bringen solche poietischen Formen des >Sehen-Schreibens< Leerstellen hervor, produzieren Vakua, konstituieren das Bewußtsein von Mängeln visueller Wahrnehmung, die es zu beseitigen, oder von Grenzen, die es zu transzendieren gilt. Insofern sie auf diese Weise am >Defizienzbewußtsein< einer »diskursiven Praxis« arbeiten, sind sie dieser selbst zuzuordnen. Dieser poietischen Erscheinungsform des >Sehen-Schreibens< lassen sich - freilich bloß retrospektiv - all jene Motive und Strukturen zuordnen, die Wahrnehmungs- und Mediendesiderate in den Diskurs über das Sehen einspeisen: De la Roches utopische, Achim von Arnims und E.T. A. Hoffmanns wunderbare Einschreibvorgänge können mit der Herausbildung photographischer Verfahren in Verbindung gebracht werden, Leonce' Rede vom im Auge behaltenen »Eindruck« 87 läßt sich der Entdeckungsgeschichte der Optographie zuordnen, das Motiv des zunächst nur metaphorisch gebrauchten Anblicks des Herzens läßt sich zu röntgentechnischen, endoskopischen oder ähnlichen visuellen Diagnose-Verfahren in Beziehung setzen, Lessings >Laokoon< kann als poietisches >Schreiben< eines Filmdesiderats ebenso begriffen werden, wie die dem in Schillers >Geisterseher< waltenden Armenier zugeschriebene oder zumindest als solche in Erwägung gezogene Fähigkeit des >Fernsehens< nicht nur (im historischen Deutungshorizont) als Magie, sondern (im rückblickend-systematischen Deutungshorizont) als Protoformation optischer Télégraphié oder moderner Fernseh-Live-Ubertragungstechnik lesbar wird. Als Figurationen des >Schreiben-Sehens< - vom Sehen her gefragt - lassen sich dagegen zum einen diejenigen Varianten des Zusammenspiels von >Sehen< und >Literatur< begreifen, die >Schreiben< sichtbar machen, Schreibprozesse, Kompositionsvorgänge und Strukturen decouvrieren und darin als ostentative Freilegung diskursiver Textstrategien, als Visualisierung der poetischen Faktur, wirksam werden. Auch in diesem Fall ist Kafkas >Proceß< zu nennen, dem nicht nur Wahrnehmungspraktiken und -regeln je nach Sichtweise mimetisch eingeschrieben sind oder von ihm ins Werk gesetzt werden, sondern der das Augenmerk des Lesers auch auf die Regeln und Funktionsweisen seiner selbst richtet, en abyme die Inszenierung des Zusammenspiels von rezeptiver Teilwahrnehmung und konstruktiver Montage zu einem Gesamt ins Bild, um präzise zu sein: in eine Reihe von Bildern, setzt, legt doch das Sehen Josef K.s, sei es im Kegel der Taschenlampe, in der Anordnung der Fenster oder in der Begegnung mit 87

Büchner (s. Anm.66), S. 103.

399

Fräulein Bürstner dem Leser nicht allein K.s Wahrnehmungsgewohnheiten und -Vorlieben und die diesen zugrundeliegenden Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten offen, sondern auch die das >ProceßSchreibensSehen-Schreibens< als mimetisch-imitative Spur oder präsentische Inszenierung des >Sehens< begreifen, sondern auch - nun in der Figuration des >Schreiben-Sehens< - (zunächst) als Sichtbarmachen des >SchreibensChronik der Sperlingsgasse< insgesamt - offen. Ins Bild gesetzt und damit >sichtbar< gemacht wird nämlich, wie vor seinem Auge vorbeiziehende Bilder zu vor dem Auge des Lesers vorbeigezogenen vertextet werden (Kapitel IV.3). Ebenso lassen sich die Rekurse auf »Zauberlaternen« und »Kinematographen« in Musils >Verwirrungen des Zöglings Törleß< (Kapitel VI.3) als Spiegelung und damit auch als Sichtbarmachung derjenigen Schreibweise etwa lesen, die die Passagen des Törleß irritierenden besonderen Erlebens< auch zum besonderen Erleben< des Lesers geraten läßt: wenn z.B. mehrere Close-ups in kurzen >Schnitten< von »Menschen« über »Gesichter«, über »ein Gesicht«, über »ein Lächeln« und »einen Augenaufschlag« zu einem »Zittern der Haut« herangezoomt werden und dieses Verfahren nicht allein als Effekt seit Ende des 19. Jahrhunderts virulenter filmischer Wahrnehmungsformen (mimetisch-imitatives >Sehen-SchreibenSchreiben< wird (Kapitel VI.2). In Büchners >Leonce und Lena< schließlich bringt Valerios Rede - »daß ich mich in Ihren Augen spiegeln muß« 8? - das von den Figuren inszenierte und mit der Funktion der Bedeutungsgenerierung aufgeladene Blickwechselspiel und die nur g8

Dieser (und nur dieser) Erscheinungsform des >Sehen-Schreibens< spürt mit der Frage, »wie stark Musil von filmästhetischen Vorstellungen [...] geprägt worden ist«, z.B. Arno Rußegger: Kinema mundi. Studien zur Theorie des »Bildes« bei Robert Musil. Köln, Wien 1996, S. 204, nach. Büchner (s. Anm.66), S. 125.

400

flüchtig in der poetischen Liebes-Rede der Figuren und damit auch im >Schreiben< des Stückes aufblitzende Chance für eine emphatische Liebe in der entfremdenden Wirklichkeit der Zeichen, der Stellvertretungen und des Uneigentlichen zum Vorschein (Kapitel III.2); das von Valerio, aber auch in der Begegnung zwischen Rosetta und Leonce ins Spiel gebrachte Motiv wechselseitiger Spiegelung wird selbst als Spiegelung und damit als reflexive Veranschaulichung des von Leonce und Lena gemeinsam er-redeten Blickwechsels lesbar, in dessen entstrukturierenden Sog der Leser oder Zuschauer hineingezogen wird. In den Bereich des Außerästhetischen greift diese mimetisch-abbildende Erscheinungsform des Zusammenspiels aus, wenn empirisches oder literarisches >Schreiben< nicht - ästhetisch - als Spiegelung oder Reflexionsfigur des >SchreibensSehen-SchreibenSehen< zum Subjekt eines >Schreibens< wird, lassen sich dieser Erscheinungsform des >Schreiben-Sehens< Verfahren und Funktionsweise der Photographie zuordnen, die Talbot treffend als >Pencil of natureSchreibens< der Natur. >Sehen< ist in diesem Fall (wie schon zuvor das >SchreibenSehen-Schreibens< eignet der mimetischen Variante des >Schreiben-Sehens< allerdings keine im zwiegesichtigen Modell der Mimesis verbürgte funktionale Dopplung. Mimetisch-imitative Sichtbarmachungen poetischer Schreibverfahren verfügen lediglich über eine abbildend-imitative Vektorierung: Indem nämlich Schreib- und Kompositionsprozesse im Rezeptionshorizont imitativ wiederholt und dem >Sehen< zugeordnet werden, sind sie einem Bereich zugeteilt, der im Unterschied zum >Schreiben< nicht über ein Spannungsfeld von Abwesenheit und (scheinbarer) Anwesenheit der Referenten und/oder der Signifikate in der Schrift (>SchreibenSehen< erzeugt in der Regel nur die Vorstellung von Anwesenheit des Gesehenen, mimetisch bestimmtes >Schreiben< dagegen beides: die Vorstellung von Anwesenheit und die von Abwesenheit des Ge- oder Beschriebenen. Poietisch bestimmen läßt sich >Sehen< dagegen mit Blick auf die produktiven und konstruktivistischen Momente visueller Wahrnehmung. InsoH. Fox Talbot: The pencil of nature. London 1844-1846. Nachdruck, New York 1969.

401

fern >SchreibenSchreiben-SehenSehen< passivisch als Sichtbarmachung faßt und im Paradigma der Camera obscura zu beschreiben ist, ist >Sehen< hier Agens des Zusammenspiels, als >Heraussehen< im Paradigma der Laterna magica gefaßt. Motivisch, in der Dimension der histoire, ist die poietische Variante des >Schreiben-Sehens< in der Rede der Figuren oder Erzählinstanzen präsent: Zu denken wäre hier an den Marchese Civitella, dessen »Phantasie« die anfänglich durch den »Tubus« 92 im Garten beobachtete empirische »Begebenheit im Traum fortgesetzt« 93 und den Garten »mit so reizenden Gestalten bevölkert hatte«, 94 daß ihm »zu einem Roman die Anlage gemacht« 95 schien, dessen Realsubstrat, die »Wahrheit«, es »im Traum« 96 weiterzuschreiben galt (Kapitel II.3). Zu denken ist aber auch an die »Visionen« des Certain, die sein »Gehirn spontan, vielleicht in ein paar Sekunden der Ohnmacht produziert hatte« 97 (Kapitel V.i). In der Dimension des discours bedient die poietische Erscheinungsform des >Schreiben-Sehens< die Vorstellung dichterischer Imagination, eines >SehensSchreiben< macht. Als Zeugnisse dieser Erscheinungsform des Zusammenspiels wären demnach literarische Texte als ganze anzusprechen, die ebensowenig wie das Erlebnis Civitellas zu erkennen geben, wo genau in der jeweiligen »Erzählung« 98 die »Phantasie« wirksam geworden sein mag. Im Bereich der Empirie läßt sich der mechanische Vorgang des Lesens als Sonderfall des grundsätzlich über konstruktive Aspekte verfügenden Sehens der Erscheinungsform poietischen >Schreiben-Sehens< als >SehenschreibtSehen51

Novalis (s. Anm. 37), S. 574; die folgenden Zitate ebenda. « ¡ Schiller (s. Anm. 84), S. 143. « Ebenda, S.145. »« Ebenda, S. 146. " Ebenda, S. 142. »6 Ebenda, S. 145. 97 Przybyszewski (s. Anm.85), S. 29. ?8 Schiller (s. Anm. 84), S. 144.

402

SchreibenSehen-Schreiben< wie als >Schreiben-Sehen< zu fassende Erscheinungsformen des Zusammenspiels von literarischen Texten und visueller Wahrnehmung treten, wie an Kafkas >Proceß< deutlich geworden ist, nicht isoliert auf, sondern sind, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, stets zugleich wirksam. Isolieren lassen sie sich nur in einer experimentellen Anordnung, wenn nämlich in nur einer Perspektive gefragt wird. Und dennoch ist die gewissermaßen präparatorische Herausarbeitung der einzelnen Varianten dieses Zusammenspiels nicht müßig, nicht nur weil sie - wie das Beispiel der Moritzschen FibelLektüre zeigt - diskursive Effekte (bei Moritz eine Aporie) ans Licht bringt, sondern auch weil erst auf diese Weise die strukturellen Gehalte dieses Zusammenspiels bestimmt werden konnten. Gerade die Kopräsenz der verschiedenen Varianten des >Sehen-Schreibens< und des >SchreibenSehens< verbirgt den nicht nur einseitig-informativen, sondern wechselseitig-kommunikativen Modus der Interaktion von literarischen Texten und visueller Wahrnehmung. Wenn nämlich, wie im Falle poietischen oder darstellend-mimetischen >Sehen-SchreibensSchreiben< >Sehen< strukturiert und inszeniert, wird es als Agens und darin als (wenn auch >nur< über einen diskursiv-strukturellen Zwischenschritt vermitteltes) 100 >Subjekt< des >Sehens< lesbar. Umgekehrt wird >Sehen< in der poietischen Dimension des >Schreiben-Sehens< als (auch hier wiederum >nur< vermitteltes) >Subjekt< des >Schreibens< entzifferbar. Wenn demnach zum einen Texte >sehen< und >Sehen< machen, zum anderen visuelle Wahrnehmung >schreibt< und >Schreiben< macht, und im ersten Fall nicht mehr nur Leser, sondern auch Texte als schauend, im zweiten Fall nicht mehr nur Autoren, sondern auch Vorgänge visueller Wahrnehmung oder Strukturen der sichtbaren Welt als >schreibend< kenntlich werden, ist eine Grenzverwischung ins Werk gesetzt, die für das vermeintlich so unproblematisch sich darstellende Verhältnis von >Schreiben< und >Sehen< nicht folgenlos bleibt. Da Strukturen der visuellen Wahrnehmung als Impulsgeber des >Schreibens< und Strukturen der Schrift als Impulsgeber des >Sehens< fungieren, sind >Sehen< und >Schreiben< aus der Domäne menschlicher Verfügungsgewalt, aus den Wahrnehmungs- und Verschriftlichungspraktiken gelöst " Vgl. Münsterberg (s. A n m . 6 5 ) , S.28. Empirisch-ontologisch betrachtet besteht natürlich eine fundamentale D i f f e r e n z z w i schen dem als visuelle Welterschließung verstandenen Sehen des Menschen und dem strukturellen >Sehen< literarischer Texte.

100

403

und den strukturellen Gehalten und Bewegungen des jeweiligen (nur vermeintlichen) Opponenten, >Sehen< dem >Schreiben< und >Schreiben< dem >SehenSehens< korrespondiert das »zum Auge Werden des Kunstwerks«. 101 Das in der Hand der mit Büchners Lena in Verbindung gebrachten »heiligen Odilia« 102 liegende aufgeschlagene und mit zwei Augen versehene Buch (Abb. 75) erscheint in solcher Betrachtung als Bild, als visuelle Metapher des >Sehen-Schreibens< und >Schreiben-SehensSehen< (Augen) und >Schreiben< (Buch) sind untrennbar zum am häufigsten anzutreffenden Attribut der Heiligen verschmolzen. Zusammengeklappt zu einem Spiegelbuch, zu zwei einander gegenüberliegenden und damit zu »einer endlosen Reihe« sich vervielfältigenden »Spiegeln« 103 spiegeln sich die linke Textseite (>SchreibenSehenSehenSchreibenSchreibenSehenSehenSchreibenSehen< und >Schreiben< strukturell in einen Blickwechsel treten. >Sehen< und >Schreiben< sind infolge der unabschließbaren wechselseitigen Spiegelung dieses eine »unendliche Verdopplung« 104 in Gang setzenden hermetischen Systems als einander jeweils enthaltend zu denken und genau darin in den Modus der UnUnterscheidbarkeit überführt. Wird das Buch dagegen nicht zu einer Denkfigur zusammengeklappt, die nur unter der Voraussetzung systemischer Ausschließung des reflektierenden Subjekts funktioniert, sondern einem Leser oder Betrachter konfrontiert, wie es (nicht nur) im Falle der (im Mariendom zu Freising piazierten) Heiligen Ottilia geschieht, so gelangt der Betrachter oder Leser dem ersten Anschein nach als seiner selbst gewisses Subjekt ins Spiel. Leser und Betrachter verfügen aber wie das Attribut der Heiligen Ottilia ebenfalls über Augenpaare, die mit dem Augenpaar des aufgeschlagenen Buches in einen strukturellen Blickwechsel treten können - eine Zuord101

102 103

104

Hartmut Böhme: Sinne und Blick - Variationen zur mythopoetischen Geschichte des Subjekts. In: Konkursbuch 13 (1984), 8.27-62, hier S.61. Büchner (s. Anm.66), S. 1 1 3 . Friedrich Schlegel: Fragmente. In: Athenaeum 1,2 (1798), S. 3 - 1 4 6 , hier S. 29. Vgl. Kapitel III.2. Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a.M. 1987, S. 62, erörtert die Figur unendlicher Verdopplung u.a. mit Bezug auf Walter Benjamins Deutung des 116. Athenäums-Fragments (s. Anm. 103).

404

A b b . 75

nung, die die demonstrative Ausrichtung des Attributs auf den Betrachter oder Leser forciert: nicht Ottilia selbst, sondern wer immer ihr entgegentritt, blickt in das Buch und in die Augen. Im Auge des Lesers und Betrachters (>SehenSchreibenSehenSchreibenSehenSehenSelbsts< vergewissert. Pointiert gesagt, werden literarische Texte (>SchreibenBilderbuchBlindeBöser BlickDer Prozesse D a s Janusgesicht einer Dichtung. In: Was bleibt v o n K a f k a ? Positionsbestimmung. K a f k a S y m p o s i o n Wien 1983. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien 1985, S. 63-78. B o r o w s k i , L u d w i g Ernst: Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant's. Von Kant selbst genau revidiert und berichtigt. Königsberg 1804. Brand, Jürgen: Strukturelle Symmetrien in Raabes >Die C h r o n i k der SperlingsgasseFensterblickeBrilleProzessCertainChronikChronikClair-obscurLeonce und LenaChronik der SperlingsgasseDingTrialFlügek In: Percy Preston: Metzler Lexikon antiker Bildmotive. Stuttgart, Weimar 1997, S-54-5 6 · Fohrmann, Jürgen, Harro Müller: Einleitung: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Jürgen Fohrmann u. Harro Müller. Frankfurt a.M. 1988, S.9-22. Follenius, Emanuel Friedrich Wilhelm Ernst: Friedrich von Schillers Geisterseher. Aus den Papieren des Grafen von O Zweiter Theil. Von X " Y " " Z", Dritter Theil. Von X " Y"*"Z*. 3. Aufl. Leipzig 1840. Fontane, Theodor: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: Deutsche Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit 1 (1853), S . 3 5 3 - 3 7 7 . Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1981. - Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1976. - Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. 10. Aufl. Frankfurt a.M. 1993.

414

Frank, Manfred: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a.M. 1984. [Frankenstein, Carl von]: Das Geheimnis der Daguerrotype, oder die Kunst: Lichtbilder durch die Camera obscura zu erzeugen. Mit einer Anweisung zur Bereitung des photogenischen Papiers nach Talbot und Daguerre. Leipzig 1839. Freij, Lars W.: >TürlosigkeitTörless< in Mikroanalysen mit Ausblicken auf andere Texte des Dichters. Stockholm 1972. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Leipzig, Wien 1900. Frey, Gesine: Der Raum und die Figuren in Franz Kafkas Roman >Der ProzeßVerwirrungen des Zöglings Törleß< von Robert Musil. Ein Beitrag zur angewandten Textlinguistik. Bonn 1976. Fries, Marilyn Sibley: The Changing Consciousness of Reality. The Image of Berlin in Selected German Novels from Raabe to Döblin. Bonn 1980. Frühsorge, Gotthardt: Fenster: Augenblicke der Aufklärung über Leben und Arbeit. Zur Funktionsgeschichte eines literarischen Motivs. In: Euphorion 77 (1983), S. 346-358. Fues, Wolfram Malte: Die Entdeckung der Langeweile. Georg Büchners Komödie »Leonce und LenaGeisterseherGeistersehereiJuniperus communism In: Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen. Mit Unterstützung der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin bearb. v. Heinrich Marzell. 2. Aufl. Bd.2. Leipzig 1972, Sp. 1072-1093. Käuser, Andreas: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1989. Kafka, Franz. Das Schloß. Roman in der Fassung der Handschrift. Hrsg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1990. - Der Process. Faksimile-Edition hrsg. v. Roland Reuß. Basel, Frankfurt a.M. 1997. - Der Proceß. Roman in der Fassung der Handschrift. Hrsg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1990. - Der Prozeß. Roman. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt a.M. 1979. - Der Verschollene. Roman in der Fassung der Handschrift. Hrsg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt a.M. 1983. - Tagebücher in der Fassung der Handschrift. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller u. Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1990. Kaiser-El-Safti, Margret: Robert Musil und die Psychologie seiner Zeit. In: Robert Musil. Dichter, Essayist, Wissenschaftler. Hrsg. v. Hans-Georg Pott. München 1993, S. 1 2 6 - 1 7 0 . Kant, Immanuel. Briefwechsel. 2. Aufl. Hamburg 1972. - Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 4 (1786), S. 481-494. - Der Streit der Facultäten in drey Abschnitten. Königsberg 1798. - Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. v. Karl Kehrbach. Leipzig 1878. - Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. v. Karl Vorländer. 7. Aufl. Hamburg 1990. - Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. Karl Vorländer. 7. Aufl. Hamburg 1990. - Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Riga 1766.

419

Kehrbach, Karl: Vorrede des Herausgebers. In: Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. v. Karl Kehrbach. Leipzig 1878. Keil, Gundolf: Einleitung. In: Angelika Schedel, Gundolf Keil: Der Blick in den Menschen. Wilhelm Conrad Röntgen und seine Zeit. München, Wien, Baltimore 1995, S. 1 - 1 1 . Kemper, Hans-Georg: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Frühaufklärung. Bd. ι. Tübingen 1981. Kennedy, Alan: The psychology of reading. London, N e w York 1984. Kenosian, David: Puzzles of the body. The Labyrinth in Kafka's >ProzeßZauberbergDer Prozeß«. In: German Quarterly 36(1963), S. 3 1 - 3 8 . Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Gotthold Ephraim Lessing. Werke. Bd. 2. Hrsg. v. Gerd Hillen. München 1 9 7 1 , S. 127-204. - Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Gotthold Ephraim Lessing. Werke. Bd. 6. Hrsg. v. Albert v. Schirnding. München 1974, S. 7 - 1 8 7 . - Minna von Barnhelm, oder Das Soldatenglück. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Verfertigt im Jahre 1763. In: Lessing, Werke. Bd. 1. Hrsg. v. Herbert G . Göpfert u.a. München 1970, S. 605-704. Lethen, Helmut: Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E.T.A. Hoffmann. In: Robert Musils »Kakanien«-Subjekt und Geschichte. Hrsg. v.Josef Strutz. München 1987, S. 195-229. Letzte Worte. Ein Lebens- und Weisheitsbüchlein. Gesammelt und dargeboten von Fr. Laubscher. Stuttgart 1952. >LichtLoseNebelbilderDer Prozeß*. In: Sprache und Literatur. Festschrift für Arval L. Straedbeck zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Gerhard P. Knapp u. Wolff Α. von Schmidt. Bern, Frankfurt a.M. 1981, S. 173-182. Rußegger, Arno: Kinema mundi. Studien zur Theorie des »Bildes« bei Robert Musil. Köln, Wien 1996. Sachs, Hanns: Schillers Geisterseher. In: Imago 4 (1915/1916), S.69-95, S-Ι45 _ Ι 79· De Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. 2. Aufl. Berlin 1967· Schackwitz, Alex: Apparat zur Aufzeichnung der Augenbewegungen beim zusammenhängenden Lesen (Nystagmograph). In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 63 (1913), S.442-453. Schäfer, Horst: Das Raumproblem im Drama des Sturm und Drang. Emsdetten 1938. Schiller, Friedrich: Der Abschied. Ein Fragment aus dem zweiten Bande des Geistersehers. In: Thalia 2,8 (1789), S. 84-96. - Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von O In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 16. Hrsg. v. Hans Heinrich Borcherdt. Weimar 1954, S.45-159. - Der Spaziergang. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2,1. Hrsg. v. Norbert Oellers. Weimar 1983,8.308-314. - Philosophie der Physiologie. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Hrsg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 10-29. - Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Hrsg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 413-503. - Sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. 15 Bde. Hrsg. v. Karl Goedeke u.a. Stuttgart 1867-1876. Schlegel, Friedrich: Fragmente. In: Athenaeum 1,2 (1798), S. 3-146.

427

Schmidt, Johann Ν.: Das Fenster zum Hof. In: Filmklassiker. Bd. 2. Hrsg. v. Thomas Koebner. Stuttgart 1995, S. 205-209. Schmitz-Emans, Monika: Zwischen wahrem und falschem Zauber. Magie und Illusionistik als metapoetische Gleichnisse. Eine Interpretation zu Schillers >GeisterseherLeonce und LenaSchürfarbeitenSchwindek In: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. (Conversations-Lexikon.) 8. Aufl. Bd. 10. Leipzig 1836, S.65-66. Segeberg, Harro: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des ersten Weltkriegs. Darmstadt 1997. - Rahmen und Schnitt. Zur Mediengeschichte des Sehens seit der Aufklärung. In: Wirkendes Wort 43 (1993), S. 286-301. >SehenTodesengel Sp. 557. Todorov, Tzvetan: Les catégories du récit littéraire. In: Communications 8 (1966), S. 125151· Törnqvist, Nils: Zur Terminologie der Bienenzucht. In: Studia Neophilologica 17(1944/45), S. 97-206. Tormin, Ludwig: Magische Strahlen. Die Gewinnung photographischer Lichtbilder lediglich durch odisch-magnetische Ausstrahlung des menschlichen Körpers. Düsseldorf 1896. Treder, Uta: Wundermann oder Scharlatan? Die Figur Cagliostros bei Schiller und Goethe. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 79 (1987), S- 3 o - 43· Turk, Horst, Friedrich A. Kittler: Einleitung. In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hrsg. v. Horst Turk u. Friedrich A. Kittler. Frankfurt a.M. 1977, S. 9-43. Ueding, Gert: Die Wahrheit lebt in der Täuschung fort. Historische Aspekte der Vor-ScheinAsthetik. In: Literatur ist Utopie. Hrsg. v. Gert Ueding. Frankfurt a.M. 1978, S. 81-102. Unger, Johann Friedrich: Probe einer neuen Art deutscher Lettern (1793). Nachdruck in: Typographie und Bibliophilie. Aufsätze und Vorträge über die Kunst des Buchdrucks aus zwei Jahrhunderten. Hrsg. v. Richard von Sichowsky u. Hermann Tiemann. Hamburg 1971, S. 24-29. Utz, Peter: Das Auge und das O h r im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990. Uyttersprot, Herman: Eine neue Ordnung der Werke Kafkas? Zur Struktur von >Der Prozeß< und >AmerikaDer ProzeßProceßDer Processi Hrsg. v. Hans Dieter Zimmermann. Würzburg 1992, S. 1 4 3 - 1 5 5. Vita di Torquato Tasso Scritta Da Gio. Battista Manso Napolitano. Venedig 1 6 2 1 . Vita sanctae Odiliae virginis. In: M. Chrétien Pfister: La vie de sainte Odile. In: Analecta Bollandiana 13 (1894), S. 5-32. Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im R o man des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 1987. Voss, E. Theodor: Arkadien in Büchners >Leonce und LenaLeonce und LenaDie Verwirrungen des Zöglings Törleß«. In: Modern Austrian Literature 13 (1980), S.47-68. Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Uberblick. München 1991. Wolzogen, Hans von: Von der Sperlingsgasse bis zum Krähenfelde. In: Bayreuther Blätter 4 (1881), S.357-364. Wulf, Christoph: Das gefährdete Auge. Ein Kaleidoskop der Geschichte des Sehens. In: Das Schwinden der Sinne. Hrsg. v. Dietmar Kamper u. Christoph Wulf. Frankfurt a.M. 1984, S. 2 1 - 4 5 . Wundt, Wilhelm: Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. Leipzig, Heidelberg 1862. - Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig 1874. >WurmGeschichte seiner Entdeckung der Röntgenstrahlen und >Röntgens Einstellung zur Renaissance der klassischen Physika Zürich, Leipzig, Stuttgart 1935. Zeitler, Julius: Tachistoskopische Untersuchungen über das Lesen. In: Philosophische Studien 16 (1900), S. 380-463. Zelle, Carsten: Das Erhabene in der deutschen Frühaufklärung. Zum Einfluß der englischen Physikotheologie auf Barthold Heinrich Brockes' >Irdisches Vergnügen in GottChronik der Sperlingsgasse 5 8 , 380, 397 Brod, Max 3 2 1 - 3 2 7 , 330, 342, 344, 345 Buddemeier, Heinz 181 Büchner, Georg 14, 99, 1 0 1 , i n , 1 1 8 , 138, *45> 2 I 5> 237> 39x> 4 00 > 4°4 Büchner, Ludwig 245 Busch, Bernd 5, 6, 163, 193 Buswell, G u y Thomas 362 Cagliostro 26, 68 Calvin, Johannes 103 Carus, Carl Gustav 1 7 1 Chamisso, Adelbert von 101 Chodowiecki, Daniel Nikolaus 19, 100, 148 1

Chopin, Frédéric 2 1 3 , 2 1 6 Claudius, Matthias 1 4 8 , 1 5 0 , 1 5 1 Cohn, Hermann 275, 282, 284, 285, 288, 289 Daguerre, Jacques Louis Mandé 1 6 2 - 1 6 4 , 170, 1 7 1 Darwin, Charles 261 Dauthendey, Max 172, 173 D e la Mettrie, Julien O f f r a y 102 D e la Roche, Charles François Tiphaigne lé 7 , 169, 39°, 392> 399 Dedner, Burghard 102, 140 Dehmel, Richard 2 1 3 , 2 2 8 Deinet, Klaus 91 Delabarre, E . B . 350 Deila Porta, Giovanni Battista 237 Descartes, René 15, 56, 102 Dietrich, Christian W. Ernst 63 Dodge, Raymond 270, 272, 274, 275, 277, 35° Donders, Frans Cornelius 275 Dürer, Albrecht 159

Eckermann, Johann Peter 371 Eder, Josef Maria 163 Edison, Thomas Alva 248 Eichendorff, Joseph von 1 0 1 , 1 4 5 , 3 8 6 Endeil, August 348 Erdmann, Benno 270, 272, 274, 275, 277 Eysenbarth, Johann Andreas 61, 63, 64 Fechner, Gustav Theodor 245 Fehse, Wilhelm 149, 201 Fichte, Johann Gottlieb 102 Förster, Friedrich Wilhelm 275 Fohrmann, Jürgen 10 Fontane, Theodor 207-209 Foucault, Michel 9 Frankenstein, Carl von 162 Freij, Lars W. 265 Freud, Sigmund 6, 224-226 Frey, Gesine 346 Fries, Marilyn Sibley 147 Funk, Christlieb Benedict 25, 28-30, 77 Gabales, Comte de 26 Galilei, Galileo 375

Erfaßt sind alle im Haupttext aufgeführten Personen.

433

Gassner, Johann Joseph 26 Gaudin, M . A . 173 Gennep, Arnold van 253 Gernsheim, Helmut 1 6 4 , 1 6 5 Geßner, Salomon 270 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 270 Goethe, Johann Wolfgang 9 , 4 6 , 5 4 , 1 0 1 , 216, 238, 240, 280, 3 7 1 - 3 7 3 , 405 Goldscheider, Alfred 274 Gombrich, Ernst H. 348 Goodspeed, Arthur W. 243 Granger, James 198 Grashey, Hubert 273 Grimm, Jacob und Wilhelm 106, 201 Grimm, Reinhold 102 Gryphius, Andreas 1 3 3 , 1 3 4 Gutenberg, Johannes 16 Hansen, Volkmar 189 Hansson, Ola 2 1 3 , 2 1 5 , 2 3 0 Hartlaub, Gustav Friedrich 95 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 102 Heine, Heinrich 1 0 1 , 188, 189 Heister, Lorenz 60, 63 Heidt, U w e 192 Helmholtz, Hermann von 64, 275, 276, 347. 387, 388 Hering, Ewald 275 Herz, Marcus 378 Hiebel, Hans H. 392 Hitchcock, Alfred 336 Hörisch, Jochen 1 1 , 3 6 7 Hoffbauer, Johann Christoph 270 Hoffmann, Christoph 3 1 2 , 3 1 3 Hoffmann, E.T.A. 9, 1 0 1 , 145, 169, 287, 399 Holberg, Ludwig 101 Homer 101 Horn, Wilhelm 234,235 Huber, Lothar 296 Hufeland, Christoph Wilhelm 285 Humboldt, Alexander von 1 7 1 Ingarden, Roman 336 Isenring, Johann Baptist 172, 1 8 5 - 1 8 7 Iser, Wolfgang 299 Jakobson, Roman 3 1 7 - 3 1 9 James, William 360,389 Janouch, Gustav 360 Jauß, Hans Robert 10 Javal, Émile 2 8 2 , 2 8 4 , 3 5 0

434

Jean Paul 1 0 1 , 1 4 5 , 1 8 1 Jonas, Hans 347 Kafka, Franz 14, 3 2 1 - 3 2 5 , 327, 329, 344, 360,389,399 Kant, Immanuel 24-26, 47-54, 67, 102, 152, 279, 282, 285, 286, 289, 291, 294, 319,320,392 Kehrbach, Karl 279 Kepler, Johannes 15, 16, 231 Ketelsen, U w e - K . 33, 39 Kircher, Athanasius 166 Kittler, Friedrich A. 9,299,384 Kitzbichler, Martina 126 Klee, Paul 355 Klein, Johann Wilhelm 100 Kleist, Ewald von 270 Klencke, Hermann 194,208,209 Klim, Georg 2 1 2 , 2 4 0 Klothmann, Thomas 241 Koll, Rolf-Dieter 191 Kolloff, Eduard 1 7 1 Kortum, Georg Theodor 5 8-60 Kremer, Detlef 364 Krüger, Hermann Anders 198 Krünitz, Johann Georg 2 9 , 1 2 8 Kühne, Wilhelm 2 3 1 , 232, 236, 238-241 Lacan, Jacques 6, 7, 318 Landolt, Edmund 272 Langen, August 1 7 , 3 5 Lenz, Jakob Michael Reinhold 101 Leonardo da Vinci 55, 107, 237, 386, 387 Lessing, Gotthold Ephraim 158, 347, 389, 390, 399 Liebermann, Max 251 Liesegang, F. Paul 308, 309 Lincoln Abraham 301 Lindberg, David C . 15, 16 Linke, Paul 3 1 1 Linné, Carl von 142 Locke, John 14 London, Jack 13 Ludwig, Otto 207, 209 Maché, Britta 326, 327 Maclntyre, John 258 Maeterlinck, Maurice 252 Magnus, H u g o 387, 388, 391 Mann, Thomas 390 Manso, Giovan Battista 70, 7 1 , 74, 75, 80 Manthey, Jürgen 6

Marbe, Karl 3 1 1 McKeen Catell, James 275 Messmer, Oskar 275 Meyer, Herman 147 Meyrink, Gustav 289 Molyneux, William 14 Morgenroth, Matthias 102 Moritz, Karl Philipp 36, 4 1 , 42, 46, 397, 403 Müller, Franz Robert 274 Müller, Harro 10 Müller, Johannes 2 7 1 , 3 5 0 Müller, Karl Wilhelm 240 Münsterberg, H u g o 295-297, 299, 301, 310, 3 1 3 , 314, 390 Munch, Edvard 2 5 0 , 2 5 2 Muratori, Ludovico Antonio 70, 74 Musil, Robert 14, 265-268, 276, 277, 291, 3°°> 3°3> 304. 3 I O ~ 3 I 2 > 4 ° ° Musset, Alfred de 101 Netto, Friedrich August Wilhelm 162 Neumann, Thomas 164 Neumer, Katalin 300 Newton, Isaac 16, 40 Niemirowski, Wiencyslaw 254 Niépce, Joseph Nicéphore 162-164 Nietzsche, Friedrich 2 1 3 Novalis 382, 384, 402 Ohm,Johannes 351 Orschansky, J. 350 Ovid 1 1 6 Pasley, Malcolm 3 2 1 , 323, 325, 330, 342, 344. 345 Pekar, Thomas 6, 7 Penzel, Johann Georg 77 Philadelphia, Jakob 26 Platen, August von ι ο ί Plumpe, Gerhard 165, 170, 182, 185 Pollack 2 3 3 - 2 3 5 , 2 5 5 Poschmann, Henri 101 Prechtl, Johann Joseph 182 Przybyszewski, Stanislaw 14, 2 1 1 , 2 1 3 , 224, 228, 232, 234, 242, 250-252, 260262 Pückler-Muskau, Hermann Ludwig Heinrich Fürst von 188 Raabe, Wilhelm 14, 147, 149, 162, 170, 187, 188, 201, 207, 209, 215, 388 Reade, Joseph Bancroft 163

Reichenbach, Karl Freiherr von 244, 245, 248 Rembrandt, Harmensz van Rijn 6 1 , 6 2 Repin, I.E. 355 Reuß, Roland 322, 342 Richerz, Georg Hermann 74 Richter, Karl 21 Richter, Ludwig 1 8 3 , 1 8 4 , 3 5 7 Rilke, Rainer Maria 9 Röhler, Rainer 383 Röntgen, Wilhelm Conrad 242, 245, 249, 390 Rops, Félicien 221 Roth, Marie-Louise 266 Russ, Colin 332 Saint-Germain, Comte de 26 Sandforth 2 3 3 - 2 3 5 , 2 5 5 Sartre, Jean-Paul 299 Saussure, Ferdinand de 302 Scheiner, Christoph 56, 238 Schiller, Friedrich 14, 19, 2 1 , 3 1 , 46, 77, 85, 9 1 . 95. 97. 98> !45> 2 7°> *8o, 290, 399 Schlegel, Friedrich 1 0 1 , 1 1 0 , i n , 388 Schleiermacher, Friedrich 1 1 Schmitz-Emans, Monika 6 8 , 8 1 , 9 9 Schrenck-Notzing, Albert Freiherr von 244 Schrepfer (gen. Schröpfer), Johann Georg 26 Schroeter, Johann Hieronymus 5 5 Schulze, Johann Heinrich 1 6 3 , 1 6 7 Schwender, Jakob 274 Shakespeare, William 1 0 1 , 2 8 1 Siebold, Karl Kaspar von 60 Simmel, Georg 108 Snellen, Hermann 277 Soennecken, Friedrich 283, 284 St. Odile / Heilige Odilia / St. Ottilia 1 1 9 , 1 2 8 - 1 3 1 , 404, 405 Staiger, Emil 1 1 Stenger, Erich 1 6 3 , 2 3 3 - 2 3 5 Stephani, Heinrich 42 Stieler, Kaspar 19 Stopp, Elisabeth 297 Stumpf, Carl 276, 3 1 2 , 3 1 3 Swedenborg, Emanuel 24, 25, 391 Szokalsky, Viktor Felix 288 Talbot, William Henry Fox 163, 164, 183, 401 Tasso, Torquato 70-72, 74, 75, 80

435

Thiersch, Friedrich 183 Thoenert, Medardus 77 Tieck, Ludwig 101 Treder, Uta 91 Unger, Johann Friedrich 269 Utz, Peter 2, 14, 17, 59 Uyttersprot, Herman 343, 368 Vec, Milos 1 , 3 9 4 Voges, Michael 30, 85 Volkmann, Volkmar von 275 Voss, E. Theodor 1 1 5 Voß, Johann Heinrich 101 Wallberg, Johann 73 Wertheimer, Max 3 1 1

436

Westphal, Carl 59, 287, 288 Wetzel, Heinz 1 1 8 Weygandt, Wilhelm 224 Wiegler, Paul 300 Wieland, Christoph Martin 70 Wilder, Billy 372 Wolzogen, Hans von 201 Wundt, Wilhelm 225,226 Yarbus, Alfred L. 3 5 5 , 3 6 2 Zahn, Johann 95 Zehnder, Ludwig 249 Zeitler, Julius 275 Zimmermann, Lutz 147

3. Abbildungsverzeichnis ι . Daniel Nikolaus Chodowiecki: Aufklärung. In: Darstellungen und Dichtungen von Dan. Chodowiecki. 1 7 2 6 - 1 8 0 1 . O . O . 1991, S. 98; 2. Medardus Thoenert, Erklärungskupfer zu Christlieb Benedict Funk: Natürliche Magie oder Erklärung verschiedner Wahrsager- und Natürlicher Zauberkünste. Berlin, Stettin 1783, Tafel V; 3. Erklärungskupfer zu >Laternedunkle Kammern In: Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. Frankfurt a.M. 1995, S. 1 1 0 ; 13. Johann Georg Penzel, Titelkupfer zu: Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von O " . Von Friedrich Schiller. 2. Aufl. Photographie: Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart; 14. wie Abb. 2; 15. Leonardo da Vinci, Achteckiger Theaterspiegel, Skizze 1488. In: Jurgis Baltrusaitis: Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien. 2. Aufl. Gießen 1996, S. 304; 16. »S. Ottilia«, Mariendom, Freising; 17. Spiegelbuch. In: Athanasius Kircher: Ars magna lucis et umbrae, In X . Libros digesta. 2. Aufl. Amsterdam 1 6 7 1 , S. 776. Photographie: Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart; 18. »Die Blumenuhr«. In: Bertuch's Bilderbuch enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Blumen, Früchten, Mineralien, Trachten und allerhand andern unterrichtenden Gegenständen aus dem Reiche der Natur, der Künste und Wissenschaften; alle nach den besten Originalen gewählt, gestochen, und mit einer kurzen wissenschaftlichen, und populären Erklärung begleitet. Bd. 12. Weimar 1830, Tafel C C C L X X V , N o . 81; 19. Tragbare Camera obscura. In: Johann Zahn: Oculus artificialis teledioptricus sive telescopium, ex Abditis rerum Naturalium & Artificialium principiis protractum novâ methodo, eàque solida explicatum ac comprimís ë triplici fundamento physico seu naturali, mathematico dioptrico Et mechanico, seu practico stabilitum. 2. Aufl. Nürnberg 1702, S. 178; 20. Tragbare Camera obscura. In: Athanasius Kircher: Ars magna lucis et umbrae, In X . Libros digesta. 2. Aufl. Amsterdam 1 6 7 1 , S. 709. Photographie: Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart; 2 1 . - 3 2 . Michelangelo Antonioni: Blow-Up. 1966; 33. »Fig. 148 giebt eine starke Vergrößerung vom Menschenflohe und seiner Larve«. In: Hermann Klencke: Mikroskopische Bilder. Naturansichten aus dem kleinsten Räume. Ein Gemälde des Mikrokosmos in seinen Gestalten und Gesetzen. In Briefen an Ge-

437

bildete. Leipzig 1853, S. 340-341; 34. Bildsequenz einer Bergbesteigung; Streifen für eine Laterna magica; 35. Verschachtelung der Fiktionalitätsebenen in der »Totenmesse«; 36. Félicien Rops: A un dîner d'athées, 1886; 37. »Ein scharfbegrenztes Optogramm« auf der »Netzhaut eines 3 ijährigen gesunden Mannes«. In: W. Kühne: Beobachtungen zur Anatomie und Physiologie der Retina. In: Untersuchungen aus dem physiologischen Institute der Universität Heidelberg 4,(1881-1882), S. 280-283, hier S. 280; 38. »Photographie einer Froschnetzhaut«. In: >Sehpurpur (Sehrot)