Städte und Stadtstaaten Zwischen Mythos, Literatur und Propaganda 3110656760, 9783110656763

Hauptziel dieser interdisziplinären Analyse der Repräsentationen der Städte in griechischen und lateinischen Texten vom

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Städte und Stadtstaaten Zwischen Mythos, Literatur und Propaganda
 3110656760, 9783110656763

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Städte und Stadtstaaten zwischen Mythos, Literatur und Propaganda

Beiträge zur Altertumskunde

Herausgegeben von Susanne Daub, Michael Erler, Dorothee Gall, Ludwig Koenen und Clemens Zintzen

Band 383

Städte und Stadtstaaten zwischen Mythos, Literatur und Propaganda Herausgegeben von Paolo Cecconi und Christian Tornau

ISBN 978-3-11-065676-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065689-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065781-4 ISSN 1616-0452 Library of Congress Control Number: 2020931458 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Paolo Cecconi/Christian Tornau   Einleitung: Städte und Stadtstaaten zwischen Mythos, Literatur und Propaganda | 1  Angela Ganter   Καδμεία νίκη: Politicising the ‘Seven against Thebes’ in the 5th century B.C. | 11  Marion Meyer   Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 29  Vanessa Zetzmann   Von Argos nach Athen: Von Manipulation zu Polis-Rhetorik zwischen Aischylos’ Agamemnon und Eumeniden | 75  Paolo Cecconi   „Wer baute das siebentorige Theben?“  Breve riflessione sulle origini della colpa e della catastrofe| 107  Johannes Buhl   Σοφίσματα θεῶν. Götterdämmerung, Kontingenzerfahrung und Kulturpessimismus in Euripides’ „Phönikierinnen“ | 139  Maria Paola Castiglioni   La metamorfosi di Cadmo nelle Baccanti di Euripide e il punto di vista ateniese | 163  P.J. Finglass   Phaedra between Homer and Sophocles: the Stesichorean connexion | 181  Jochen Schultheiß   Plebs Argiva – Thebana iuventus – verendi Cecropidae. Die „kleinen Leute“ in Statius’ Thebais | 191  Stefano Rocchi   Triptolemos und Europa in Tarraco. Stadtdarstellung, Politik und mythische Züge in Florus’ Vergilius: orator an poeta? | 223 

VI | Inhalt

Markus Hafner   Der ‚Mythos Athen‘ im literarischen Diskursfeld fiktionaler Erzählprosa der Kaiserzeit. Lukian, Chariton und Heliodor | 249  Chiara Ombretta Tommasi   Da indovino tebano a profeta universale. Alcune metamorfosi di Tiresia in età tardoantica | 269  Thomas Gärtner   Ethopoiie, Struktur und Mythopoiie in den profanen Epyllien des Nordafrikaners Dracontius | 293  Die Autorinnen und Autoren | 337  Index auctorum et operum | 339 Index nominum et rerum | 345

Paolo Cecconi/Christian Tornau

Einleitung: Städte und Stadtstaaten zwischen Mythos, Literatur und Propaganda Inhalt dieses Bandes sind die im Rahmen des internationalen Workshops „Städte und Stadtstaaten zwischen Mythos, Literatur und Politik“ am 28.  29.10.2016 in Würzburg vorgestellten Beiträge. Untersucht wird die Repräsentation der „Stadt“ und ihrer Räume in Politik und Literatur anhand von griechischen und lateinischen Texten vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr. aus der Sicht von Philologie, Geschichte, Literaturwissenschaft und Archäologie. Das Hauptinteresse gilt dem Einfluss politischer und propagandistischer Faktoren auf die Entwicklung kanonischer Darstellungsformen von mit bestimmten Städten assoziierten Mythen in der griechischen Klassik und deren Rezeption und Transformation in der gewandelten historischen Situation der römischen Kaiserzeit und der Spätantike. Die Stadt spielte eine zentrale Rolle für die Entwicklung kultureller Identität in der antiken Welt. Die Städte sind der Ort nicht nur der politischen Auseinandersetzung und der Vollzüge des täglichen Lebens, sondern auch der Ort, wo die Gründungsmythen der klassischen griechischen Kultur entstanden und ihre kanonischen literarischen Formen erhielten.1 Troja, Theben, Argos und Athen sind Orientierungspunkte für die Entstehung einer auch religiösen gemeingriechischen Identität, weil vor allem Troja und Theben die Schauplätze der großen identitätsstiftenden Erzählungen sind, die ein enges Zusammenwirken von Göttern und Menschen zeigen und damit die religiöse Vorstellungswelt der Griechen repräsentieren und prägen. Die Außen- und Selbstwahrnehmung dieser Städte schon als rein physischer Orte ist von den dort spielenden Mythen stark beeinflusst. Der politische Diskurs greift diese Wahrnehmungen auf und gestaltet sie in bestimmten politischen Konstellationen zu propagandistischen Selbst- oder Feindbildern aus der Sicht der politischen Gegner. Gerade Theben und Argos eignen sich als Beispiele solcher Konstruktionen, insofern der Ruf Thebens spätestens seit dem 6. Jh. v. Chr. unauflöslich mit der Tragödie der Ödipus-Familie verbunden ist, so dass die Stadt paradigmatisch für Gottlosigkeit, Bürgerkrieg und Wahnsinn zu stehen scheint. Der Ruf von Argos – der zweiten „Anti-Stadt“ insbesondere der Athener Darstellungen – ist einerseits mit Adrastos, dem Alliierten des Ödipus-Sohnes Polyneikes, und andererseits mit dem tragischen Schicksal der Atridenfamilie verknüpft.

|| 1 Angeli Bernardini 2014. https://doi.org/10.1515/9783110656893-001

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Hauptquellen für eine Analyse der Mythen der erwähnten Städte und ihrer literarischen Gestaltungen sind die homerischen Epen und v.a. die attischen Tragödien;2 überdies haben die archäologischen Funde des 20. Jahrhunderts in Theben (Kongress Urbino 1997)3 – und die neueren Forschungen zur mythologischen Geschichte von Argos (Kongress Urbino 2002)4 die Voraussetzungen für neue Untersuchungen der betreffenden Mythen sowie ihrer Überlieferung und Rezeption geschaffen. In der attischen Tragödie sind Politik und Literatur schon wegen der Praxis der Aufführung während der die Stadt und ihr Selbstverständnis repräsentierenden religiösen Feste bekanntlich eng verzahnt. Fasst man – wie es mehrere der in diesem Band versammelten Beiträge tun – die poetischen und politischen Interpretationen der Thebaner und Argiver Mythen in der Gattung Tragödie ins Auge,5 so drängen sich Fragen aus dem Bereich der Wechselwirkung von Politischem und Literarischem geradezu auf: Welche Relevanz hat das Politische bei der Entscheidung für oder gegen bestimmte überlieferte Mythenversionen? Wie verhalten sich Fremd- und Selbstbild zueinander bei der Repräsentation eines Thebaner oder Argiver Mythos auf der athenischen Bühne vor einem gesamtgriechischen Publikum? In der athenischen Politik spielt der Mythos als Verkörperung der Hoffnung auf eine bessere Zukunft bzw. als Erinnerung an vergangene Glorie seit jeher eine wichtige Rolle. Mythendarstellungen erfüllen in diesem Sinne nicht nur innenpolitisch die Funktion der Selbstvergewisserung, sondern zeichnen in Fortführung und Ausweitung dieser Funktion auch ein bestimmtes Bild der Orte, wo die betreffenden Mythen stattfanden, in ihrer Relation zu Athen.6 Insofern sind – worauf besonders David Konstan hingewiesen hat – Mythen auf der Athener Bühne und auch sonst im hellenischen Raum7 jederzeit aktuell und bieten Einsicht in Identifikationssuchen und Identitätskonflikte politischer Gemeinschaften angesichts gegenwärtiger Krisen.8 Bekanntlich endet die „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg) in der Antike nicht zugleich mit der Athener klassischen Literatur, sondern findet ihre Fortsetzung in hellenistischer, römischer und spätantiker Zeit bei Autoren wie Apollonios von

|| 2 Radke 2003; Abel-Wilmanns 1977; Föllinger 2003; Gödde 2000; Markantonatos 2002. 3 Angeli Bernardini 2000. Zu den von V. Aravantinos ausgegrabenen 250 Tafeln an der Akropolis von Theben vgl. Aravantinos 2000; Aravantinos 2006. 4 Angeli Bernardini 2004. 5 Hierzu auch Markantonatos/Zimmermann 2011. 6 Davies 2014. 7 Vgl. dazu etwa den Beitrag von Angela Ganter in diesem Band. 8 Konstan 2013.

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Rhodos, Statius, Nonnos und Dracontius.9 Freilich geschieht dies unter veränderten Bedingungen. Gewiss bleibt es bei der kulturellen Bedeutsamkeit und Verbindlichkeit der tradierten Erzählungen, doch kommt als neuer Faktor die kanonische Geltung der homerischen und tragischen Mythenversionen hinzu, die als klassische, bisweilen sogar als überwältigende Tradition empfunden werden. Politische Aktualität kann unter diesen Umständen von einer römischen oder spätantiken literarischen Mythengestaltung wenigstens prima facie nicht erwartet werden. Andererseits sind die Fassungen der thebanischen und argivischen Mythen in Rom und in der Spätantike nicht bloße Übernahmen der klassischen Versionen, sondern rezipierende Stellungnahmen zu diesen in Affirmation oder Abgrenzung und können dementsprechend in einem veränderten politischkulturellen Kontext grundsätzlich auch andere, bisweilen überraschende Bedeutungsebenen entwickeln.10 Der Frage, wie sich eine ursprünglich politische Mythendeutung unter neuen politischen Bedingungen, eventuell sogar in einem „unpolitischen“, rein literarischen oder theologisch-philosophischen Raum fortsetzt, gehen die der Kaiserzeit und Spätantike gewidmeten Beiträge dieses Bandes nach. Neben der – durchaus auch politischen – Reinterpretation tradierter mythischer Stadtbilder (das Theben des Statius) steht dabei die Entwicklung neuer Bilder aus klassischen Bausteinen (das Athen der Attizisten und der Zweiten Sophistik) und die mythische Aufladung bis dahin literarisch wie politisch peripherer Orte (Tarraco). Die in diesem Band versammelten Studien eint also bei aller gewollten inhaltlichen und methodischen Vielfalt die gemeinsame Perspektive, dass die Mythen nicht als statische Zeugnisse einer Kultur interpretiert, sondern als Korpus dynamischer Formen und sozialer Leitbilder analysiert werden, die für den politischen und sozialen Alltag der Stadt modellhaft sind und ihrerseits in Relation zu diesem durch Anpassung oder Distanzierung eine eigene Dynamik entwickeln. Die erste, dem klassischen Griechenland und der besonderen Dynamik der Mythengestaltungen im klassischen Athen gewidmete Gruppe eröffnet Angela Ganter mit einer Untersuchung der Wandlungen des Theben-Mythos vom 8. bis zum 5. Jh. v. Chr. unter Berücksichtigung literarischer Zeugnisse ebenso wie archäologisch nachweisbarer Erinnerungsorte. Der interpretatorische Akzent liegt dabei auf dem Gebrauch von Mythen als Mittel der historisch-politischen Selbstvergewisserung („intentional history“). Während in der Frühzeit die Uneinnehmbarkeit der gewaltigen thebanischen Mauern im Vordergrund stand, wandte sich

|| 9 Spanoudakis 2014; Chuvin 1991. 10 Castiglioni 2010; Castiglioni 2012; Dill/Walde 2009. Zur Rolle des Stadtraums in der Spätantike siehe Fuhrer 2012.

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das Interesse in der Folgezeit den feindlichen Brüdern Eteokles und Polyneikes und damit dem Problem des innenpolitischen Konflikts (Stasis) zu und schließlich im 5. Jh. dem Motiv des den Angreifern verweigerten Begräbnisses und der Frage nach der Geltung ungeschriebener, universaler Gesetze in Kriegs- und Krisenzeiten. Die attische Tragödie entwarf dabei Theben als negatives Spiegelbild Athens, als eine Polis, die wegen ihrer physischen und geistigen Abschottung in die Katastrophe gerät; in der Folgezeit scheinen jedoch trotz des Einflusses der Tragiker alternative Mythenversionen aus thebanischer Sicht weiterbestanden zu haben. Marion Meyer verfolgt aus archäologischer Perspektive, wie in einer politisch und ökonomisch besonders dynamischen Phase Athens auch die mit der Stadtgöttin verbundenen Mythen in ständiger Bewegung sind. Der Mythos von der Geburt des Erechtheus/Erichthonios stellt zunächst die beiden für die Techne zuständigen Hauptgottheiten Hephaistos und Athena zusammen, verbindet sich im Zusammenhang mit der Phylenreform mit dem Motiv des Streits der Götter Athena und Poseidon um Attika und entwickelt sich in der Zeit nach den Perserkriegen zum Symbol der Athener Autochthonie, einem der Hauptargumente für den athenischen Hegemonialanspruch. Die Siegesthematik steht im Vordergrund bei den großen Athenadarstellungen des Phidias im 5. Jh.; eine Modifikation im Trojamythos akzentuiert Athena als Garantin des Athener Asyls. Neue Zwistmotive wie Kentauromachie und Amazonomachie greifen die aktuellen Fragen der Botmäßigkeit der Bündner und der erfolgreichen Abwehr der persischen Invasoren auf. Nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges bleiben Mythen, Kulte und Bilder weitgehend konstant – eine Spiegelung der abgeebbten politisch-ökonomischen Dynamik, oder haben wir es hier mit einem sich verselbständigenden Prozess der Kanonisierung zu tun, etwa wegen des klassischen Rangs der Bauwerke und Bilder des Parthenons oder auch der Tragödie des 5. Jh.? Die folgenden vier Beiträge wenden sich dem weiten Feld der Rolle Thebens und Argos’ in der attischen Tragödie zu. Vanessa Zetzmann setzt bei Aischylos’ Verlagerung des Herrschaftssitzes des Agamemnon und damit der blutigen Handlungen von Agamemnon und Choephoroi nach Argos an. Aischylos nahm damit wohl einen direkten politischen Anlass auf (das Bündnis von Athen und Argos und die Signalisierung der Überlegenheit Athens), nutzte es aber vor allem dazu, Athen als den Ort einer neuen, positiven Art der Kommunikation, genauer der Problemlösung auf sprachlichem Wege, zu inszenieren: Der von Aischylos doch wohl erfundene aitiologische Mythos der Eumeniden zeigt Athena sowohl als die Leiterin als auch die kompetente Akteurin in einem Gerichtsverfahren, einem Forum also, das Konflikte nicht mit Gewalt, sondern durch Rede und Gegenrede löst. Dies kontrastiert mit Argos, dem Ort des Leidens, der Furcht und des

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Einsatzes von Sprache zur Täuschung und Manipulation (Klytaimestra) oder geradezu zur verbalen Gewalt (Orest). Persuasive, ja manipulative Elemente finden sich freilich auch in den Gerichtsreden der Eumeniden – auch bei Athena selbst. Der Unterschied ist, dass solche Strategien in Athen potentiell erkennbar und vom Gegenredner zu entlarven und nach dem Prinzip der isegoria zu widerlegen sind. Wie die Erinyen zu Eumeniden werden, wird die trügerische sophistische Rhetorik durch den Import nach Athen zur demokratischen forensischen Rhetorik. Paolo Cecconi wendet sich der Adaptation des thebanischen Mythos in den euripideischen Phoinissen zu. Angesichts der den Hintergrund des Stücks bildenden Krise des Peloponnesischen Kriegs liegt eine Lektüre des Dramas als eines Diskurses um die Schuldfrage nahe: Wer trägt Schuld an der Krise und kriegerischen Zerstörung Thebens? Theben erscheint hier als eine nicht nur aufgrund seiner konfliktbeladenen Gründungsgeschichte, sondern auch hinsichtlich der Geschichtsdeutungen zerrissene Stadt, in der es Parteien pro Kadmos und contra Kadmos, pro Laios und contra Laios gibt. Der Kriegsgegner ist Argos, die zweite „Anti-Stadt“ der tragischen Tradition, aber für das Athener Publikum, das die Tragödie zwischen 412 und 409 – einige Jahre vor den Bakchai – gesehen hat, ist das kein Grund zur Beruhigung: Es deutet sich an, dass auch Athena wegen ihrer Mitwirkung an der Tötung der Aresschlange durch Kadmos ihren Anteil an der Katastrophe hat. Die Phoinissen sind auch Gegenstand des folgenden Beitrags von Johannes Buhl. Das Drama zeigt die Stadt in einer schweren Krise, auf die die handelnden Personen in je unterschiedlicher Weise reagieren; dabei zeigen sich tiefe ideologische Gräben zwischen den Generationen und innerhalb der Generationen, wenn etwa Eteokles sich auf den Standpunkt sophistisch inspirierten Machtdenkens stellt, während Polyneikes einer traditionellen Ethik verhaftet ist und Iokaste für den alten Götterglauben und den Gedanken eines natürlich oder göttlich garantierten Rechts steht. Unter Rückgriff auf von Christian Meier („Könnensbewusstsein“) und Sigmund Freud („Das Unbehagen in der Kultur“) entwickelte Begrifflichkeiten arbeitet Buhl als Kern der Thebaner Krise die Unfähigkeit heraus, mit menschlicher Kontingenz umzugehen. Maria Paola Castiglioni diagnostiziert in ihrer Euripides’ letzter Tragödie Bakchai gewidmeten Studie eine Manipulation des thebanischen Kadmos-Mythos in der abschließenden Prophetie des Dionysos. Dionysos’ Prophezeiung vom Exil des Kadmos, seiner Rückkehr nach Griechenland mit einem barbarischen Heer und seinem Angriff auf Delphi, seiner Bestrafung durch die Verwandlung in eine Schlange und der schlussendlichen Versetzung auf die Inseln der Seligen

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kontrastiert geradezu Punkt für Punkt mit der von Euripides 20 Jahre zuvor ebenfalls dramatisierten Geschichte von Erechtheus, die die athenische Autochthonie eindrucksvoll bestätigt und mit der Kultgemeinschaft von Athena und Poseidon auf der Akropolis versöhnlich geendet hatte. Das Theben der Bakchai ist dagegen durch das Ende der Spartoi-Dynastie (Pentheus) seiner Autochthonie und durch das Exil des Kadmos seines Gründungsheros beraubt. Euripides hätte Theben somit, wie öfter in der tragischen Tradition, zur Anti-Stadt des Leidens und der Zerstörung transformiert. Das kann im Jahr 405 politische Gründe haben und durch die schwierigen Beziehungen zwischen Athen und Theben im Peloponnesischen Krieg mitbedingt sein; doch kann die drastische Darstellung der totalen thebanischen Katastrophe zugleich eine indirekte Warnung des Dichters an seine Heimatstadt Athen sein. Hier zeigt sich die Tendenz einer Entwicklung Thebens zu einem allgemeinmenschlichen Symbol. Der Beitrag von P.J. Finglass schließt die Gruppe der dem klassischen Griechenland gewidmeten Studien ab und eröffnet eine weitere, über Athen hinaus bis nach Sizilien reichende Perspektive. Finglass beginnt mit der scheinbar rein philologischen Frage der Ergänzung einer Papyrus-Lücke, die jedoch weitreichende Konsequenzen für die Frage hat, welche (lokalen) Mythen zu welchem Zeitpunkt der griechischen Literatur- und Geistesgeschichte panhellenisches Interesse finden konnten. Man hat seit Wilamowitz immer wieder argumentiert, dass die Erwähnung Phaidras in der Nekyia der Odyssee eine Athener Interpolation aus dem späten 6. Jh. sei. Nun belegt jedoch der Papyrus eines hellenistischen Grammatikertextes, dass bereits Stesichoros im frühen 6. Jh. den Theseusmythos behandelt und neugestaltet hat. Stesichoros stammte aus Himera in Sizilien. Wie immer man sein Interesse an der Athener Lokalsage erklärt, der Fall belegt jedenfalls, dass athenische Elemente in der Odyssee nicht übereilt als Indizien für Interpolation oder Spätdatierung herangezogen werden dürfen. Der Athener Mythenkreis scheint früher Teil der panhellenischen Mythenwelt geworden zu sein als häufig angenommen. Die folgenden drei Beiträge untersuchen die Reinterpretation kanonischer Mythen unter den soziokulturellen Bedingungen der römischen Kaiserzeit. Wie Jochen Schultheiß am Beispiel des Theben-Epos des Statius zeigt, bleibt der Symbolcharakter des von den klassischen Athener Autoren gestalteten Thebens erhalten, erfährt aber eine Transformation durch den politischen Diskurs der frühen Kaiserzeit, an dem die Thebais partizipiert. Die Städte Argos, Theben und Athen werden zu Paradigmata guter oder schlechter Ausprägungen der Einzelherrschaft. Dabei beleuchtet die Thebais durchwegs die Situation und Perspektive der Bevölkerung, der „kleinen Leute“, deren Position von Unsicherheit gegenüber willkürlich agierenden Machthabern geprägt ist. Suizid in höchster

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politischer Bedrängnis wird mit dem Argument der Wahrung individueller Autonomie des Untergebenen gerechtfertigt. Als eine positiv zu wertende absolute Macht kann nur diejenige erscheinen, bei der die Entscheidungsgewalt des Herrschers an ein moralisches Prinzip wie die clementia gebunden ist, eine typische Herrschertugend, die in der Thebais der Athener Theseus repräsentiert. Mit Blick auf die furor-Thematik des Epos kann das Volk als Resonanzraum erscheinen, in dem die Raserei der Protagonisten widerhallt; es kann jedoch auch als Kontrastpunkt zur Perversion der Werte fungieren, als letzter Freiraum, in dem sich noch individuelle Tugenden und soziales Zusammenleben verwirklichen lassen. Stefano Rocchi zeigt, wie unter den Bedingungen der frühen und mittleren Kaiserzeit Orte eine mythologische Aufladung erfahren können, die in der klassischen Tradition keine Rolle gespielt haben. Er interpretiert das einzige Fragment der Schrift Vergilius orator an poeta des Florus im Horizont der antiken Dialogliteratur und fragt nach der sich daraus ergebenden Bedeutung des Schauplatzes Tarraco in Spanien. Florus’ Darstellung ist sorgfältig und zeugt von Ortskenntnis; so lässt sich der Tempel, in dem zu Beginn des Textes die Begegnung der Dialogpartner stattfindet, anhand textlicher Indizien mit dem Augustustempel auf dem Forum von Tarraco identifizieren. Eine knappe Domitiankritik und panegyrische Passagen über Trajan legen eine Datierung des Textes in die frühen Jahre Hadrians nahe, vermutlich nach seinem Aufenthalt in Tarraco 122/123. Daneben bewirkt die Einbeziehung mit Tarraco assoziierter mythischer Geschehnisse und Gestalten – besonders Triptolemos und Europa – sowie die ambivalente Stilisierung Tarracos als locus amoenus und als abgeschiedener Provinzort (in beiden Hinsichten kontrastierend mit der Metropole Rom) eine literarische Überhöhung und gleichsam Fiktionalisierung der Stadt. Markus Hafner untersucht den sich im 2.4. Jh. n. Chr. unter den soziokulturellen und literarhistorischen Bedingungen der Kaiserzeit (Attizismus, Philhellenismus) herausbildenden Athen-Diskurs – gleichsam einen neuen „Mythos Athen“ – anhand einschlägiger Passagen kaiserzeitlicher fiktionaler Literatur. Das Bild Athens als idealen Ortes von Weisheit und Philosophie manifestiert sich etwa in Lukians Nigrinos (einschließlich einer scherzhaften Synkrisis mit dem politischen Zentrum Rom). Im Roman des Chariton dominiert – schon wegen der syrakusanischen Herkunft der Protagonisten – eine athenkritische Perspektive, doch erscheint auch unter diesen Bedingungen Athen als exemplarischer Ort menschlichen Könnens, aber auch menschlichen Leids. Bei Heliodor schließlich ist Athen „rhetorischer und theatraler Ort par excellence“. Es ist bemerkenswert und für Literatur der Zweiten Sophistik nicht untypisch, dass die Autoren zwar neue, aktuelle Konstruktionen bieten, sie aber durchweg mit „Belegen“ aus der klassischen griechischen (Athener) Literatur untermauern.

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Den Abschluss bilden zwei Beiträge zur Spätantike, der großen Zeit der philosophischen Mythenallegorese, bisweilen aber auch einer erstaunlichen Experimentierfreude in der poetischen Mythengestaltung. Chiara Tommasi betrachtet mit dem Seher Teiresias eine Figur des thebanischen Sagenkreises, die in den verschiedensten antiken und nachantiken Epochen besonderes Interesse gefunden hat. Dabei treten in den Interpretationen die spezifisch thebanischen, lokalen Züge zugunsten universeller Gesichtspunkte zurück. Im flavischen Epos des Statius wird Teiresias zu einer unheimlichen Gestalt, einem Magier, der den namenlosen Weltenherrscher zu beschwören vermag. Diesen quasi-gnostischen Demiurgen sublimiert der Statius-Kommentator Lactantius Placidus im Sinne des für die Spätantike charakteristischen philosophischen Monotheismus zu dem einen Gott schlechthin. Die bekannte Sage von der Zweigeschlechtlichkeit des Teiresias erfährt bei Fulgentius eine zunächst naturphilosophische und dann eine christliche Allegorese, die etwa die Blindheit des Teiresias mit dem DamaskusErlebnis des Paulus in Verbindung bringt; derlei wirkt im Mittelalter etwa im Ovide moralisé weiter. Dagegen assoziiert die älteste christliche Aneignung des Mythos im Protreptikos des Klemens von Alexandria Teiresias mit dem Mysterienund Dionysoskult – also einem spezifisch thebanischen Element –, um ihn mit Christus als dem Inhaber der „wahren Mysterien“ und der echten Offenbarung kontrastieren zu können. In den spätantiken Epyllien des Dracontius im Africa des 5. Jh. spielen Theben, Argos und Athen im Grundsätzlichen die aus der attischen Tragödie bekannten Rollen, wie Thomas Gärtner herausarbeitet: Theben und Argos als Orte des Grauens, Athen als die Stadt der Mäßigung und Moral. Doch nimmt Dracontius bemerkenswerte Modifikationen vor, deren auffälligste sicher die – durch die Namensgleichheit der Könige („Kreon“) erleichterte – Einschreibung des MedeaMythos in den thebanischen Sagenkreis ist. Der Grund hierfür ist zu einen ein poetologisch-ästhetischer (ein alternatives und konsequenteres Ende für Statius’ Thebais), zum anderen ein inhaltlich-moralischer (Akzentuierung der Thematik von Ehe und Ehebruch). Bemerkenswert ist die Rolle Athens, das im Orest-Mythos natürlich seit Aischylos seine Rolle bei der Entsühnung des Muttermörders gespielt hat; doch erhalten Orest und Pylades jetzt über die Tradition hinausgehend eine Art Athener Genealogie: Sie haben in Athen studiert und sind hierdurch moralisch und charakterlich geprägte Athenaei iuvenes. Hier schlägt offensichtlich die kaiserzeitliche (griechische) Akzentuierung der Bildung im Idealbild Athens durch. Der dem vorliegenden Band zugrundeliegende Workshop wurde ermöglicht durch eine großzügige Bezuschussung der DFG, wofür an dieser Stelle Dank aus-

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gesprochen sei. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops, insbesondere Herrn Johannes Heinisch (München), danken wir für wertvolle Diskussionsbeiträge und Anregungen. Für die freundliche und kompetente Unterstützung der Logistik des Workshops bedanken wir uns bei Frau Simone Hasselmann. Für die Aufnahme des Bandes in die Beiträge zur Altertumskunde sei den Herausgeberinnen und Herausgebern, insbesondere Frau Prof. Dr. Susanne Daub, Herrn Prof. Dr. Michael Erler und Herrn Prof. Dr. Clemens Zintzen, herzlich gedankt. Bei der Redaktion der Beiträge und der Erstellung der Indizes hat sich Frau Lara Schanzenbacher Verdienste erworben. Frau Katja Schubert vom De Gruyter Verlag gilt unser Dank für die professionelle Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage.

Bibliographie Abel-Wilmanns, Barbara (1977), Der Erzählaufbau der Dionysiaka des Nonnos von Panopolis, Frankfurt am Main/Bern/Las Vegas. Angeli Bernardini, Paola (Hg.) (2000), Presenza e funzione della città di Tebe nella cultura greca. Atti del convegno internazionale, Urbino, 7  9 luglio 1997, Pisa. Angeli Bernardini, Paola (Hg.) (2004), La città di Argo: mito, storia, tradizioni poetiche. Atti del convegno internazionale, Urbino, 13 – 15 giugno 2002, Roma. Angeli Bernardini, Paola (Hg.) (2014), La città greca. Gli spazi condivisi. Convegno del Centro Internazionale di Studi sulla Grecità Antica, Urbino, 26  27 settembre 2012, Pisa/Roma. Aravantinos, Vassilis L. (2000), „Le scoperte archeologiche ed epigrafiche Micenee a Tebe: un bilancio riassuntivo di un quinquennio (1993-1997) di scavi“, in:Paola Angeli Bernardini (Hg.), Presenza e funzione della città di Tebe nella cultura greca. Atti del convegno internazionale, Urbino, 7  9 luglio 1997, Pisa, 27–59. Aravantinos, Vassilis L. et al. (2006), Thèbes. Fouilles de la Cadmée, 4 vols., Pisa/Roma. Castiglioni, Maria Paola (2010), Cadmos-serpent en Illyrie. Itinéraire d’un héros civilisateur, Pisa. Castiglioni, Maria Paola (2012), „Sulle tracce di Cadmo metallurgo in Tracia“, in: Federica Cordano/Giovanna Bagnasco Gianni/Teresa Alfieri Tonini (Hgg.), Culti e miti greci in aree periferiche, Trento, 205–225. Chuvin, Pierre (1991), Mythologie et géographie dionysiaques. Recherches sur l’œuvre de Nonnos de Panopolis, Adosa. Davies, Malcolm (2014), The Theban Epics (Hellenic Studies Series 69), Washington, DC. Dill, Ueli/Walde, Christine (Hgg.) (2009), Antike Mythen. Medien, Transformationen und Konstruktionen, Berlin/New York. Föllinger, Sabine (2003), Genosdependenzen. Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos, Göttingen. Fuhrer, Therese (Hg.) (2012), Rom und Mailand in der Spätantike. Repräsentationen städtischer Räume in Literatur, Architektur und Kunst, Berlin/Boston.

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Gödde, Susanne (2000), Das Drama der Hikesie. Ritual und Rhetorik in Aischylos’ Hiketiden, Münster. Konstan, David (2013), „Pindar’s Pythian 11 and Political Allegory“, in: Germán Santana Henríquez/Luis Miguel Pino Campos (Hgg.), Καλὸς καὶ ἀγαθὸς ἀνήρ· διδασκάλου παράδειγμα. Homenaje al Profesor Juan Antonio López Férez, Madrid, 421–426. Markantonatos, Andreas (2002), Tragic Narrative. A Narratological Study of Sophocles’ Oedipus at Colonus, Berlin/New York. Markantonatos, Andreas/Zimmermann, Bernhard (Hgg.) (2011), Crisis on Stage. Tragedy and Comedy in Late Fifth-Century Athens, Berlin/Boston. Radke, Gyburg (2003), Tragik und Metatragik. Euripides’ Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft, Berlin/New York. Spanoudakis, Konstantinos (2014), Nonnus of Panopolis in Context. Poetry and cultural milieu in Late Antiquity, Berlin/Boston.

Angela Ganter

Καδμεία νίκη: Politicising the ‘Seven against Thebes’ in the 5th century B.C. Abstract: How do polities define themselves by relying on their mythical past? And how do they shape their identity by establishing a border between themselves and others? The essay concentrates on the mythogenesis of the Seven against Thebes between the seventh and fifth centuries B.C. First, it presents a chronological survey of mythical motives in order to discuss changing contemporary concerns and changing intentional histories promoted by the polities affected here. The image of Thebes as a powerful Boiotian fortress prevailing in the eighth and seventh centuries B.C. changed towards the end of the sixth and in the fifth century to the image of a polity suffering from inner strife, to a polity disregarding essential rules of humankind. Second, the contribution provides a more or less synchronic view on different versions and usages of the myth by Thebans, Athenians, and Argives respectively. The myth was used for several, and often contradictory, political aims. In the end, it was most important to have taken part in the events of the Heroic Age. Though Thebes lost the final battle of the Epigoni, her pre-eminence in Greek collective memory was unbeaten.

1 Intentional History: An introduction Of Argos sing, goddess, the thirsty city from which the lords …1

This is the beginning of the epos Thebaïs, an epos singing about mythical deeds that were as famous as the ones expounded in the Iliad. Whereas the last broaches the issue of the Achaeans besieging Troy, the first picks out the advancing of an Argive alliance attacking Thebes as a central theme. Whereas the dispute between Agamemnon and Achilles nurtures the plot of the Homeric Iliad, the attack of the Seven against Thebes is caused by the severe strife of the Theban brothers Eteokles and Polyneikes. Pausanias qualifies the battle of the Seven as

|| 1 Ἄργος ἄειδε, θεά, πολυδίψιον, ἔνθεν ἄνακτες (Thebaïs, fr.1 PEG; transl. Davies 2015). || Author’s note: My sincere thanks go to the participants of the conference for commenting on my presentation as well as once more to Paul Ganter, who ameliorated the written version by his annotations. https://doi.org/10.1515/9783110656893-002

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the most remarkable campaign fought by Greeks against Greeks in the Heroic Age and deduces the dictum of the ‘Kadmeian victory’ (Καδμεία νίκη) from this very battle: a victory involving one’s own ruin.2 For in the long run, the victorious Thebans of this generation, who defeated the Seven, were superseded by their victorious sons, the Epigoni. Ancient historians do not doubt that mythical topics like this one have been politicised in Antiquity. In accordance with the input by Christian Meier at the latest, a political reading of the Attic tragedies became popular. In his foreword to Die politische Kunst der griechischen Tragödie, he articulates this programme against the background of his conviction that the political was primary in everyday life: Das Politische war für diese Bürgerschaft nicht weniger als das wichtigste Lebenselement (…). Bedeutete das denn aber nicht, daß man sich gerade auch in der alternativen Öffentlichkeit des Fests der Tragödie mit solchen Problemen befaßte und befassen mußte?3

Of course, this general conviction does not answer the question in which way or to which extent the tragedies were political, as he states himself: Ihre Werke müssen deswegen im Politischen nicht aufgegangen sein. Und sie müssen übrigens auch keineswegs zu den Fragen der Tagespolitik Stellung genommen haben, eher sollte man mit dem Gegenteil rechnen. Aber es spricht durchaus vieles dafür, daß sie eine politische Funktion hatten, die es zu untersuchen gilt.4

What is more, the political, thus the internal order of the Athenian polity, should not be equated with politicisation. Politicisation in the sense of using mythical topics for political aims in contrast to regarding myths as reflecting political orders, politicisation in the sense of cyphers for relationships of one social or political group to others, politicisation in this sense became a crucial research tool in discussions concentrating on phenomena that Hans Joachim Gehrke denominated ‘Intentional History’. He defines the concept as history that is relevant for the self-image and identity of a group, as ‘für die Identität einer Gruppe bedeutsame Geschichte im Selbstverständnis’,5 or: an amalgam out of myth and history.6

|| 2 Paus. 9.9.3. Cf. Hes. Op. 162–165 with West 1978 ad loc. and Burkert 1981, 33. 3 Meier 1988, 11. 4 Meier 1988, 11. 5 Gehrke 2001a, 10; cf. Gehrke 2001b, 298; for the appliance of the concept see Foxhall et al. 2010 and the dissertation by Osmers 2013, who leads the analysis of memorial cultures and intentional history to a new synthesis by adjusting it to methods of communicative analysis. 6 Gehrke 2001b, 298.

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How do polities define themselves by relying on their mythical past? And how do they shape their identity by establishing a border between themselves and others, by cultivating discourses of alterity? These are the questions of the present essay. I shall concentrate less on a single literary oeuvre than on the mythogenesis of the Seven against Thebes between the seventh and fifth centuries BC. Such an anamnesis of motifs elucidates change, gives a hint at changing contemporary concerns and thus at changing intentional histories promoted by the polities affected here. What is more, in the second part, the essay not only presents a chronological survey but also a more or less synchronic view on different versions and usages of the myth by Thebans, Athenians, and Argives respectively.

2 How the impregnable fortress lost its inviolability: A history of motifs 2.1 Seven-gated Thebes: Impregnability, prowess and venerability The combat of the Seven against Thebes is much more than a pale imitation of the battle for Troy. Though the famous Homeric epics finally put the campaign of the Seven into the second row, according to Pausanias, once the Thebaïs had been as well-known as the Iliad was in later times.7 In the Iliad, the deeds of the Seven already belong to the past because they were considered to have been done by the fathers’ generation of the Trojan heroes. Crucial is the aristeia of the hero Tydeus.8 What is more, Sthenelos, Kapaneus’ son, boasts of having taken Thebes accompanied by other sons of the Seven.9 Apparently, the war of the Epigoni was also a well-known part of the established mythical cycles of the time. The Odyssey mentions the betrayal by Eriphyle and the death of Amphiaraos in the surroundings of Thebes.10 Hesiod’s Erga allude to a conflict on the flocks of Oedipus, which is declared to have been one of the most eminent events of the Heroic Age apart

|| 7 Paus. 9.9.5; Burkert 2000, 21. 8 Tydeus and Polyneikes at Mykene: Hom. Il. 4.370–381; Tydeus’ embassy to Thebes: Hom. Il. 4.382–400; 5.800–808; 10.285–290; Tydeus’ grave at Thebes: Hom. Il. 14.114. 9 Hom. Il. 4.405–410. Sthenelos, Kapaneus’ son, is the leader of a contingent in the Catalogue of Ships together with Diomedes (Hom. Il. 2.564). 10 Hom. Od. 11.326–327; 15.244–248.

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from the sack of Troy; and the name of Polyneikes turns up in a Hesiodic fragment.11 The oldest sources thus focus on warfare as a frame for heroic deeds.

2.2 Fraternal strife and self-destruction: Staseis The surviving fragments of the Thebaïs speak of Adrastos’ flight, of Amphiaraos’ skills in warfare, and of Oedipus’ curses against two of his sons.12 Evidently, the Thebaïs concentrates also on another topic than warfare: the fraternal strife between Eteokles and Polyneikes leading to mutual self-destruction. Stesichorus seems to have considered this fraternal strife as being a crucial element of the myth as well.13 We might therefore deduce a shift of accent provoked by a change of perceptions of what was essential for the living conditions in archaic poleis. It was not the attack on, or the defense of, a fortified town protecting herself with huge walls against dangers from outside but inner strife that most occupied the people of the time. It was the conduct of self-involved aristocrats that led entire poleis into the struggle of staseis.14 Though the earliest sources mention the fraternal strife, they do not explain its reason.15 However, probate disputes are a good guess. Who was responsible for the outbreak of the quarrel? The answer to this question is of primary importance because it is linked to the question of war guilt. In this respect, the names of the heroes are very telling. Already by his name Polyneikes, the ‘MuchWrangling,’ was supposed to be the aggressor. From this perspective, he was in an inferior position to his brother Eteokles, the ‘True Glory.’ Thus, the war of the Seven was regarded to be an unjustified undertaking.16 In later versions, in contrast, several interpretations are present. In some of them the brothers reach an

|| 11 Hes. Op. 161–165; fr. 193 Merkelbach/West. 12 Adrastos’ flight: Thebaïs, fr. 7 PEG; Amphiaraos’ skills in warfare: Thebaïs, fr. 10 PEG; Oedipus’ curses against his sons: Thebaïs, fr. 2; 3 PEG. 13 Stesich. PLille 76 a, b, c = Stesich. 222b PMG Davies. Though Stesichorus’ autorship has been debated, most scholars do confirm it, e.g. Bollack et al. 1977, 11–12; Gantz 1993, 501, note 33; Zimmermann 1993, 71. Cf. Pind. O. 2.41–42. 14 Basic is Stein-Hölkeskamp 1989. Accordingly, Flaig 1998, 93–115 reads the parricide by Oedipus as a radicalized defense of reputation (‘Radikalisierung von Ehr-Wahrung’), as the utmost consequence of aristocratic high-handedness; cf. Gregory 1995, 146. 15 Gantz 1993, 502–506 with an overview on the relevant sources; Zimmermann 1993, 59. Cf. furthermore the portrayal of the deadly duel of the brothers on the chest of Kypselos from the 6th century B.C. (described by Paus. 5.19.6) with the comments by Krauskopf 1988, 29; 34. 16 Cf. Aeschl. Sept. 658. Hall 1997, 97 takes the names as a proof for the legend having stemmed from Thebes, whereas he supposes the story of the Epigoni having originated in Argos.

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agreement that Polyneikes gets part of the inheritance and resigns from the throne, or that they take the throne in turns, but Polyneikes violates the deal. In other variants Eteokles is the one who expulses his brother from Thebes, or who violates the agreement, thus he is someone aggressively interested in being the king himself.17 Like that, the different versions present answers to the question of war guilt that are either in favour of or hostile to Thebes. However, at the latest from the Thebaïs onwards, it is not only the character or the conduct of the brothers that is regarded to be responsible for the outbreak of the quarrel but also the curse of Oedipus menacing his sons, or, more generally spoken, the curse incriminating the house of Labdakos.18

2.3 The burial question: Breaking the norms of civilisation Aeschylus and Euripides were also mainly interested in the question of who was on the side of legal claims in the context of the attack on, or defense of, their native city.19 Yet, in the fifth century B.C. another motif became prominent that had not been in the focus of interest before: the burial question. By refusing her opponents the right to bury their fallen heroes on her territory, Thebes crossed the border of commonly accepted rules. Represented by Theseus, Athens, in contrast, excelled by making the fate of the humiliated offenders her own. Athens stylized herself as a protagonist of human rights, whereas her neighbour Thebes got the image of breaking the norms of civilisation. What is more, the hero graves of the fallen rulers on Attic ground secured their salutary effect on behalf of the Athenians.20

|| 17 A treaty being prepared or realised: Stesich. 222b PMG Davies; Hellan. FGrHist 4 F 98; Eur. Ph. 69–83. Reasons for the fraternal strife: in Hellan. FGrHist 4 F 98, Polyneikes breaks an agreement, in Soph. Ant. 198–202 he is a traitor of the fatherland; Eteocles casts out his brother or breaks a treaty in Pherec. FGrHist 3 F 96; Soph. O.C. 1291–1300; Eur. Ph. 74–83. In contrast to Aeschl. Sept. 672–675, where Eteocles is characterised as a responsible ruler, Eur. Ph. 69–83; 504–525 portrays him as being a domineering figure absolutely keen on ruling and breaking the treaty with his brother; Sophocles’ Oedipus Coloneus finally describes both of them from a negative angle; see the comments by Zimmermann 1993, 113; Pepe 2007. 18 Thebaïs, fr. 2; 3 PEG with the comments by Davies 2015, especially 62–63; for the wider context Kühr 2006, 159–166. 19 Pepe 2007, 63 rightly observes that we have to distinguish between a familial and a political concept of fault. Whereas Aeschylus stresses that both of the brothers are guilty towards each other (cf. Aeschl. Sept. 681; 718), from the political point of view there is not exculpation for Polyneikes, who attacks his native city (ibid. 66–67). 20 Sineux 2007, 92–97.

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2.4 Preliminary conclusions The changing prominence of the discussed aspects in myth mirrors the changing importance of the following cultural phenomena: First, there was the wall standing metonymically for a strong fortification that protected the city against the dangerous outside world. Then staseis as one of the endemic problems of the Archaic Age dominated the field. Finally, the focus shifted to questions of a polity’s inner constitution. These belong to a period of time when mainly Athens experienced her own constitution as manmade and changeable. The tale of the big war on Thebes as it is presented in the epics first and foremost is a tale of Thebes being impregnable, antique and powerful. Consequently, in the eighth and seventh centuries, the image of the powerful Boiotian fortress prevailed before the last years of the sixth and the fifth centuries brought a major shift along. Then, Athenian influence promoted a reading of the myth that supported a focus on the weakness of the Theban ruling house. Inhuman behaviour discredited the ruling family who committed incest, parricide and fratricide, a straight path to self-destruction.

3 Theban, Athenian, and Argive versions: Varieties of politicisation The story of the Seven against Thebes and its motifs are not to be told only chronologically with a view to the changing prominence of topics but also with a view to the political usage of the tale and the articulation of intentional history. Though there are more hints to follow,21 three poleis stand out: Thebes, Athens and Argos.

3.1 Seven-gated Thebes: Guaranteeing a glorious past The first glimpse of Thebes Pausanias describes are the walls Thebes was known for. Not the individual gates and the tales related to them were a place of remembrance in the first instance but the wall as a whole. The epitheton ‘seven-gated’

|| 21 Cf. the discussion in Kühr 2006, 148–149.

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itself was a place of remembrance, standing metonymically for a powerfully fortified and warlike town.22 According to Pausanias, the war of the Seven was the most distinguished one of the Heroic Age.23 Neither the attackers nor the defenders, not the heroes but the immense fortress played the leading part in this war. The epithet ‘seven-gated’ connotes all of that: an impregnable, antique and powerful town. What is more, the mythical number seven applies to the gates as well as to their attackers and defenders.24 But did the literally testified seven gates have an archaeological counterpart? Daniel Berman’s answer to this much debated question is convincing: The seven gates in Aeschylus’ Seven are a complex amalgam of allusions to materially existing gates in classical Thebes and allusions to sites that could be vaguely located, or were linked with mythical events or sanctuaries, but that were primarily sites of mythical importance not having material counterparts in the Theban reality of the fifth century B.C. Aeschylus merged contemporary and mythical topography to a powerful amalgam that persisted over a long period of time and was still part of the city’ s memorial culture when Pausanias visited Thebes and wrote his Periegesis. Though only three gates were used and can be localised archaeologically, seven gates were part of the Theban mythotopography.25 Especially the multiple connotations of the different gates and the related attackers or defenders, being much more than seven each or fourteen in total,26 demonstrate that the epithet ‘seven-gated’ stood metonymically for the powerful wall. The wall itself and as a whole was the decisive place of remembrance.

|| 22 ἑπταπύλοιος and ἑπτάπυλος: Hom. Il. 4.406; Od. 11.263; Hes. Op. 162; Sc. 49; Pind. P. 3.90; 8.39; 9.80; 11.11; N. 4.19; 9.18; I. 1.66; 8.15; Pherec. FGrHist 3 F 41; Aeschl. Sept. 165; Soph. Ant. 101; 119; ἑπτάστομος: Eur. Antiope TrGF V.1 F 223.82; ἐπτάπυργος: Eur. H.F. 28; Ph. 748; 1058; 1078; καλλίπυργος: Eur. Ph. 245. Cf. also the collection of passages by Unger 1839, 254. 23 Paus. 9.9.1. 24 Cf., with more details, Kühr 2006, 134–150. 25 For an overview on the discussion of the mythological and archaeological sites, see Berman 2002, 77–82; 92–96; Berman 2007, 87–115; Berman 2015, 77–91; Kühr 2006, 210–213. 26 Cf. for the gates Aeschl. Sept. 375–652; Eur. Ph. 1104–1140; Apollod. 3.6.6; Paus. 9.8.4; Stat. Theb. 8.353–357; Hyg. Fab. 69; Nonn. D. 5.67–84; for names of the attackers and defenders Aeschl. Sept. 375–652; Soph. Ant. 1311–1325; Eur. Ph. 1104–1138; Supp. 857–931; Diod. 4.65.4–5; Stat. Theb. 4.32–250; Apollod. 3.6.3; Hyg. Fab. 70; Paus. 2.20.5; 10.103–104 with the discussion in Gantz 1993, 514–517; Krauskopf 1994, 730–732; Berman 2002, 92–94; Kühr 2006, 136–137.

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3.2 Athens: Shaping Thebes as the inverted print of Athenian self-images With Aeschylus’ lost trilogy Nemea, Argeioi, Eleusinioi, the combat of the Seven and the brothers became a topic of Attic tragedies.27 The Eleusinioi were the first to broach the issue of the burial question: Theseus and Adrastos conclude an agreement with the Thebans to deliver the corpses of the fallen Argive heroes to the Athenians. Consequently, the soldiers are buried at Eleutherai, whereas the military leaders are interred at Eleusis.28 For Plutarch, this peaceful agreement is a Theban version of the myth. In contrast, the slightly different variant presented in Euripides’ Supplices that were performed 423 B.C. and present Theseus enforcing the delivery of the corpses seems to be an Attic interpretation.29 However, the probably most prominent tragedy treating the burial question is the Antigone by Sophocles dating back to 442 B.C. Antigone, Polyneikes’ sister, is the protagonist, who rebels against the proscription by the Theban king Kreon to bury the corpses of the fallen attackers and especially of Polyneikes, the traitor of his native city. In the end, the tragedy articulates a clear position: Not Kreon, but Antigone is right. Like that, the tragedy conveys the conviction that there is no reason to deny a burial to anybody. The right of being buried is classified as a basic human right. Accordingly, a refusal of doing so is deprecated as a barbarian act.30 As Antigone’s name is firstly mentioned by Pherecydes and her character is firstly shaped by Sophocles, we may conclude that she, who cared for the burial of her brother and later also of her father, became a prominent figure only in the period when the burial question was a major concern in contemporary tragedies.31

|| 27 Cf. Zimmermann 1993, 96. 28 Aeschl. Eleusinioi TrGF III F 53a. The content is known by the summary in Plut. Thes. 29.4–5; cf. Daumas 1992, 257; Zimmermann 1993, 85. In contrast to the Eleusinioi, which presented the story from an Argive perspective, the Seven against Thebes – being the last tragedy in the tetralogy Laius, Oedipus, Seven against Thebes, Sphinx, performed in 467 B.C. – focused on a Theban point of view; cf. Zimmermann 1993, 85; 96. 29 Eur. Suppl. 558–563; 585–597; 650–730; Plut. Thes. 29.4–5; see furthermore Hdt. 9.27; Lys. 2.7–10; Apollod. 3.7.1; Paus. 1.39.2. According to Daumas 1992, 257, Euripides surpasses Aeschylus because he presents the Thebans even more full of hatred than Aeschylus does. 30 Cf. Zeitlin 1990, 146–147; Zimmermann 1993, 295–296; 309–314. 31 Pherec. FGrHist 3 F 95; on the shaping of the Antigone story Zimmermann 1993; cf. the confirming remarks by Burnett 2014, 202. According to Bárány 1995, 15, the prohibition of burying Polyneikes might have been an invention by Sophocles.

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Pausanias mentions a memorial place said to have been the location from which Antigone dragged the corpse of her brother Polyneikes to the funeral pyre.32 Probably, this memorial place echoed the Sophoclean plot. It testifies to the establishment of a tradition promoting clear positions firstly towards divided loyalties, or the question of how to face a ruler, and secondly, at least implicitly, towards the relationship between Thebes and Athens. The Sophoclean Antigone discredits the Theban ruler Kreon. Theseus’ engagement in the burial question as presented in many other plays makes the point overtly evident: Thebes is depicted as the inverted print of Athenian self-images. According to Zeitlin, Thebes is, from an Athenian perspective, the paradigm of a closed system defending vehemently its psychological, social and political borders, in analogy to the walls that defined and enclosed the physical space of the polis. Consequently, autochthony and incest are amongst the principal schemes because Thebes was incapable of integrating the outside world, incapable of opening the polity and the self to different ways of living. The desire to rule autonomously corresponds with the desire for autonomous reproduction that ends with incest and patricide. Insofar Thebes is the incarnation of a tyrannical regime imploding due to its self-referentiality and seclusion.33 Plutarch’s interpretation that the peaceful agreement in the burial question was a Theban variant in contrast to the Attic one stressing the fact that Theseus had to enforce the delivery of the corpses is not to be taken for granted. The loca-

|| 32 Paus. 9.24.2. Schober 1934, 1447 is convinced that the Σῦρμα Ἀντιγόνης was an invention of later periods of time; cf. Symeonoglou 1985, 197–198. 33 Zeitlin 1990, 131; 144; 148–149. With a view to Euripides, Zeitlin’s position is once more confirmed by Perceau 2015. – According to Vidal-Naquet 1988, 119, the polis Thebes of the tragedies, especially the Oedipus Coloneus, is the paradigm of a divided city and product of neighbour hostilities between Athens and Thebes. For Zimmermann 1993, 192, Theseus incarnates the civilising forces of Athens in contrast to the inacceptable behaviour of the Theban ruler. Wathelet 1992, 454; 462, however, stresses that Thebes in the Septem by Aeschylus stands for a symbolic city representing an island of civilisation surrounded by barbarians, and thus ultimately stands for Athens. This interpretation is worth to be considered because the Aeschylean Seven against Thebes are much closer to the Archaic accentuation of the story as a tale of a big war on an insurmountable polis than the tragedies by Sophocles and especially Euripides ever might have been. In Aeschylus’ Septem, Thebes is not first and foremost the counterpart of Athens. Accordingly, the Theban ruler Eteocles is characterized as being led by reason. With Euripides, in contrast, the Theban rulers are tyrants in opposition to the Athenian ruler Theseus, himself the incarnation of civilised reasoning.

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tion of the hero graves outside Boiotia seems to have superseded an older tradition placing the burials in the surroundings of Thebes as the Iliad and Pindar do.34 Pausanias lists many of them. Among others he not only mentions the place where Polyneikes and Eteokles allegedly had killed each other, a place marked by a stony buckler on a pillar, but also their grave, where the Thebans, according to their own assertion, venerated them as heroes. When they did so, the smoke and the flame were dividing into two, a symbol for the enmity of the brothers surviving even their death: Adjoining are the tombs of the children of Oedipus. The ritual observed at them I have never seen, but I regard it as credible. For the Thebans say that among those called heroes to whom they offer sacrifice are the children of Oedipus. As the sacrifice is being offered, the flame, so they say, and the smoke from it divide themselves into two.35 (Paus. 9.18.3; transl. W.H.S. Jones)

At least a local Theban tradition wanted to have both brothers buried in Theban soil. Apparently Attic tragedy was not as dominant as to delete these versions; or the version of the burials on Theban ground arose in reaction to the anti-Theban variants concerning the burial question as presented in the tragedies discussed here. How old the tradition of the Athenian engagement in the burial question and the tradition of the graves at Eleusis were we cannot know. Certainly they became prominent by the dramatic presentation in the tragedies. The accumulation of the topic in Attic drama, the steadily growing prominence on Attic vasepaintings36 and the fact that older traditions placed the graves on Theban ground confirm the supposition that in the fifth century the mythical quarrel was turned into a new intentional history, that Athens used the topic on her own behalf.

|| 34 Tydeus’ grave at Thebes: Hom. Il. 14.114. Guillon 1948, 79–92, especially 89, reads the implementation of Theseus in one of the oldest Boiotian myths as a variety of the prejudice of the thumb Boiotian becoming current in the fifth century B.C. that mirrored Athenian views of their neighbours (cf. Pind. O. 6.89–90 with the discussion in Kühr 2006, 270–272). Krauskopf 1994, 731, by contrast, assumes that the Theseus motif originated in Attic local saga already telling the dispute on where to bury the fallen heroes and their graves at Eleusis. – Pind. O. 6.15; N. 9.22–24 mentions seven pyres, though they were not always combined with the Seven, but with the Niobids, as in Eur. Ph. 159; cf. Paus. 9.16.7; 17.2 with the discussion in Kühr 2006, 216, notes 85–87. 35 ἑξῆς δέ ἐστι τῶν Οἰδίποδος παίδων μνήματα· καὶ τὰ ἐπ᾽ αὐτοῖς δρώμενα οὐ θεασάμενος πιστὰ ὅμως ὑπείληφα εἶναι. φασὶ γὰρ καὶ ἄλλοις οἱ Θηβαῖοι τῶν καλουμένων ἡρώων καὶ τοῖς παισὶν ἐναγίζειν τοῖς Οἰδίποδος· τούτοις δὲ ἐναγιζόντων αὐτῶν τὴν φλόγα, ὡσαύτως δὲ καὶ τὸν ἀπ᾽ αὐτῆς καπνὸν διχῇ διίστασθαι. Cf. Schachter 1981–1994, vol. II, 192. 36 Krauskopf 1994, 745.

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Daumas assumes that the version of Theseus as mediator arose in the context of the alliance between Athens and Argos in 461/0 B.C., a major change of alliances initiating the First Peloponnesian War.37 The burial question definitely turned into a major concern after the battle of Delion in 424 B.C. when the victorious Boiotians forbade the Athenians to recover their fallen soldiers.38 It is certainly no coincidence that the Euripides wrote his Supplices in this period of time. Athens’ part in the myth of the Seven against Thebes turned into a political argument, not only in the fourth century B.C. when Theseus’ conduct was a common rhetorical exemplum,39 but already in the fifth century B.C. According to Herodotus, the Athenians demanded the right wing in the famous battle of Plataiai by arguing that Theseus had buried the military leaders of the Seven in Eleusis: Furthermore, when the Argives who had marched with Polynices against Thebes had there made an end of their lives and lay unburied, know that we sent our army against the Cadmeans and recovered the dead and buried them in Eleusis.40 (Hdt. 9.27.3; transl. A.D. Godley)

Probably Herodotus knew this kind of argument from contemporary contexts and extrapolated it to the early fifth century. No doubt, this commentary demonstrates that, and how, the myth of the Seven against Thebes was politicised during the fifth century B.C.

3.3 Argos: Participating is almost everything Structurally, the attack by the Seven and the one by the Epigoni resemble each other a lot. One might think therefore that the story of the Epigoni was a mere copy of their fathers’ war with a reverse result, an adjustment of the tale to Argivian interests resulting in the victory of the sons, a kind of compensation for the

|| 37 That Aeschylus’ Eleusinioi were performed in 460 B.C. is significant. According to Daumas 1992, 257, Kreon’s prohibition to bury Polyneikes, a motif already present in Aeschylus’ Septem (Aeschl. Sept. 1005–1025), was inspired by Sophocles’ Antigone and Euripides’ Supplices and thus inserted later into Aeschylus’ Seven; cf. also Gantz 1993, 520; Zimmermann 1993, 98–109. – On the alliance between Athens and Argos Thuc. 1.102.4; Badian 1993, 97; Welwei 1999, 96. 38 Thuc. 4.97–99. 39 Isocr. 4.54–58; 65; 12.169–174. 40 τοῦτο δὲ Ἀργείους τοὺς μετὰ Πολυνείκεος ἐπὶ Θήβας ἐλάσαντας, τελευτήσαντας τὸν αἰῶνα καὶ ἀτάφους κειμένους, στρατευσάμενοι ἐπὶ τοὺς Καδμείους ἀνελέσθαι τε τοὺς νεκροὺς φαμὲν καὶ θάψαι τῆς ἡμετέρης ἐν Ἐλευσῖνι.

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defeat of their fathers. If this was a true supposition, this widening of the myth would have taken place in the eighth century B.C. because the Iliad already mentions the war of the Epigoni.41 However, the story of the sons never became eminently prominent in contrast to the famous events their fathers had been involved in. Nothing is known of the content of the epic Epigonoi or Aeschylus’ Epigonoi, and the Epigonoi by Sophocles seem to have focused on the matricide on Eriphyle, as did the epos Alkmaionis.42 The visual arts hardly provide us with representations of the myth, apart from the groups of the Epigoni. One of them was erected on the agora of Argos. Another was dedicated at Delphi in the fifth century, adjacent to the group of the Seven having been mounted there.43 Why did the polis Argos keep records of her defeat at the gates of Thebes especially there, in one of the most prominent Panhellenic sanctuaries? The important aspect was to have heroes like the Argive ones among one’s own ancestors, whether they had been defeated or not. Their courage counted, their glory weighed much more than the result of the battle.44

|| 41 However, Friedländer 1914, 328–329 assumes that both myths shaped each other mutually. 42 Epigoni, fr. 1–4 and Dubia 5–9 PEG. – On the Alkmaionis see Wilamowitz-Moellendorff 1884, 73, note 2, Bethe 1891, 156–157, and Friedländer 1914, 334–335, who think that the epos originated around 600 B.C. in a Corinthian context; cf. Kullmann 1960, 381–382. Gantz 1993, 522 stresses that hardly anything is known of its content; and Prinz 1979, 166–187 assumes that the Epigoni and the Alkmaionis were one and the same epos. – Also lost is the Eriphyle by Stesichorus (194 PMG Davies), cf. Asclepiades, FGrHist 12 F 29. 43 Group of the Seven and the Epigoni on the agora of Argos: Paus. 2.20.5. Apart from this group, at Argos existed a heroon of the fallen Seven against Thebes stemming from the sixth century B.C. that had preceded the statue group; see the discussion by Pariente 1992; cf. Krauskopf 1994, 734. – Group of the Seven and the Epigoni in Delphi: Paus. 10.10.3–4, who says that they were erected from the booty of the victory by the Argives and the allied Athenians on the Lacedaemonians at Oinoë; thus, they were erected in the middle of the fifth century B.C.; cf. Daumas 1992; Pariente 1992, 223–224; Gantz 1993, 516–517; Krauskopf 1994, 733–734. Finster-Hotz 1986, 806 is of the opinion that the statues of the Epigoni had been erected already in the first quarter of the fifth century B.C. Pariente 1992, 225, however, thinks that both statue groups were built up simultaneously after the victory at Oinoë, as Pausanias states; at this time, also the Archaic heroon was renovated. – At Argos, in addition, people knew memorial places like the house of Adrastos close to the temple of Dionysos, Eriphyle’s grave, a sanctuary of Amphiaraos, Asclepios and Baton, the helmsman of Amphiaraos’ wagon (Paus. 2.23.2). As eight out of the 25 hero monuments Pausanias mentions for Argos refer to the expedition of the Seven, Pariente 1992, 216–218 assumes that there existed a real cult of the Seven at Argos. 44 Krauskopf 1994, 745 argues in a similar way. Hall 1997, 97–98 convincingly stresses that the myth of the Seven had originated in Thebes but that it also promoted the glory of the polis Argos even though their heroes had been defeated. For on the one hand, the famous story accentuated

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3.4 Argive or Theban? The multilocal instrumentalisiation of Amphiaraos In the long run, Amphiaraos overtook Tydeus as the most famous attacker in the war of the Seven. There are many memorial places related to Amphiaraos, there are many sanctuaries related to him, and there are many Panhellenic myths the hero was involved in. Whether the Amphiareion of Oropos once belonged to Theban territory or not, and whether Thebes primarily had her own local sanctuary of the seer and oracular god or not,45 the Theban poet Pindar had no problems with praising Amphiaraos, who was part of the mythical attackers of his native city. On the contrary, Amphiaraos is a prominent figure in his odes.46 Apparently, many poleis claimed the hero for their own purpose. Like that, one story was spun out of an etymological interpretation referring to the Boiotian village Harma, meaning ‘wagon’ literally. The story goes that Amphiaraos’ wagon, or the wagon of Adrastos, split into two parts when approaching the Boiotian village. As the inhabitants had rescued the hero, the Argives granted them citizenship.47 This looks like a decisive Argivian position confronting Theban interests. According to another story the village Harma was named after Amphiaraos’ wagon that was said to have disappeared nearby in the ground. At least the Tanagrains told this story, Pausanias reports, whereas the Thebans preferred a different site of the hero’s disappearance.48 This site was a numinous place on the way from Potniai to Thebes. On the right hand side, there was a small enclosure with pillars. Here, at this place where neither birds nor any other kind of animal ever came to rest, the ground was believed to have opened in order to welcome Amphiaraos.49 And as an oracular god, who more and more turned into a healing god, Amphiaraos was of main importance for the Athenians because his sanctuary at Oropos lay

|| the central position Argos had on the Peloponnese; on the other hand, it implicated the victory of the Epigoni whose embellishment certainly was of Argivian provenance; cf. also Daumas 1992, 253–254; Dowden 1992, 68–69. 45 See the conclusions in Schachter 1981–1994, vol. I, 22–24; Kühr 2006, 233–234; Sineux 2007, 67–73; 79. 46 Pind. O. 6.13–17; P. 8.38–56; N. 9.13; 24; I. 7.33. Cf. the survey by Olivieri 2011, 69–87 on Amphiaraos in Pindar. We certainly have to keep in mind that Pindar not only had a Theban, but also a cosmopolitan background oriented towards the patrons of his odes. 47 Philochoros, FGrHist 328 F 113 = Strab. 9.2.11 (C404). 48 Paus. 9.19.4; cf. 1.34.2; Strab. 9.2.11 (C404). 49 Paus. 9.8.3; cf. 2.23.2. Cf. also the concise overview by Sineux 2007, 65–73 on the places where Amphiaraos was supposed to have vanished or died and where cults of the hero might be localised.

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on the disputed borderland between Boiotia and Attica and because the healing cult of the hero became utterly important in the aftermath of the pest of 411 B.C.50 To sum up, Amphiaraos paradigmatically represents a phenomenon to be observed in different mythical cycles of Panhellenic importance: the hero was used for diverse, often contradictory aims.51 How did that work? Participation in the Panhellenic koine of myths seems to have been the most important issue.52 How to assert specific positions and identities was something else.

4 Conclusion Regarding motif history, the myth of Thebes being impregnable turned into the myth of Thebes being vulnerable. The image of the antique and powerful Boiotian fortress prevailing in the eighth and seventh centuries B.C. changed towards the end of the sixth and in the fifth century, mainly due to Athenian readings of the tale: In the tragedies, Thebes is presented as a polity agonising due to inner strife, a polity disregarding essential rules of humankind. Regarding the politicisation of the myth by different poleis like Thebes, Athens and Argos, there is no doubt that the myth was used for several, and often contradictory, political aims. The burial question stands out most prominently. It developed into a current topic of Athenian tragedy and shaped Thebes as the inverted print of Athenian self-images. However, Argos presenting groups in Delphi not only of the Epigoni, but also of the Seven, and the usage of Amphiaraos in different local contexts point to a deeper level than the question of how the mythical tales were accentuated. The point most important for playing a decisive role in the concert of Greek powers was to have taken part in the important events of the Heroic Age. It was less important who had won a battle than who had participated in it. In the long run,

|| 50 On the Amphiareion of Oropos, the prominence of the hero at Athens and the borderland between Boiotia and Attica that was disputed since the battle of Delion in 424 B.C. and that was finally detached from Boiotia around 330 B.C., see Sineux 2007, 73–214, especially 97–117. 51 Cf. Terranova 2013, who also stresses the variability of the figure adapted to changing contemporary concerns. 52 Cf. Sineux 2007, 93, who stresses with a regard to the Euripidean Supplices (performed between 424 and 420, supposedly in 423 B.C.), which present Theseus as organising the burial of the fallen soldiers at Eleutherai whereas the leaders were buried at Eleusis: ‘La pièce dans son ensemble diffuse un fort sentiment anti-thébain et la plupart de ses commentateurs n’ont pas manqué de rattacher cette virulence à l’affrontement des Athéniens et des Thébains à Délion. Mais, en reformulant et en actualisant la narration mythique, les Suppliantes participent aussi à l’entreprise destinée à ménager à Athènes une place dans l’épopée de Thèbes et d’Argos.’

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all kinds of defamations towards Thebes as articulated in myth could not harm Thebes decisively, nor could the dictum of the Καδμεία νίκη downgrade the primary role Thebes played in mythical history. What really counted were the seven gates of seven-gated Thebes, her impressive wall, whose antique grandeur won the final battle in collective memory.

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Marion Meyer

Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative Abstract: The Athenians’ perception of their main goddess is indicative for their self-perception, their interests, hopes and expectations. It changed as the sociopolitical conditions changed. Analyses of subsequent versions of the charter myths of Athens (the birth myth about Athena’s earthborn foster child Erechtheus and the invasion myth, Erechtheus’ successful defense of Athens against invaders) and of Athena’s representation in these tales and in images suggest four phases. Before ca. 600 BCE, the Athenians’ concerns were those of households that depended on Athena for everything which did not happen naturally. In the early 6th century the Athenians’ perspective broadened, they raised their main festival to the level of Panhellenic events and presented their goddess among the Olympians: as the daughter of Zeus and as a parthenos. In the context of the Kleisthenic reforms king Erechtheus’ persona was reshaped, an innovation which was to be fully exploited after the Persian wars – at a time when Athena is highlighted as Nikephoros, the goddess bringing victory.

1 Einleitung Die Blütezeit Athens war sehr kurz. Der Ruhm der Stadt beruht im Wesentlichen auf dem, was im Verlauf der letzten beiden Generationen des 5. Jh. v. Chr. geschah und geschaffen wurde.1 Schriftliche und bildliche Zeugnisse geben Auskunft über das Selbstverständnis der Athener und die Begründungsstrategien für ihren Führungsanspruch in Politik und Kultur. Bei Feiern der Bürgergemeinschaft – insbesondere dem Hauptfest der Stadt, den Panathenäen, und der Bestattung von Gefallenen im Demosion Sema – demonstrierten und erlebten die

|| 1 Das betrifft die materielle Kultur, die Staatsform, das Drama, die Philosophie, die Geschichtsschreibung. Philosophie und Rhetorik erreichten ihre akme im 4. Jh. v. Chr. – Zur Hochklassik in Athen: Heilmeyer 2002; Stewart 2008. || Anmerkung: Dieser Beitrag erscheint hier in der Form, in der er im März 2017 abgeschlossen wurde. In der Zwischenzeit ist eine Monographie der Autorin zum Thema erschienen: Marion Meyer, Athena, Göttin von Athen. Kult und Mythos auf der Akropolis bis in klassische Zeit (Wiener Forschungen zur Archäologie 16), Wien 2017. https://doi.org/10.1515/9783110656893-003

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Athener, was es hieß, Athener zu sein.2 In ihrem Hauptheiligtum auf der Akropolis (Abb. 1) führten die beiden Kolossalstatuen der Stadtgöttin (die bronzene Athena Promachos im Freien und die goldene Athena im Parthenon) und die Flut der Bilder an den drei Athenatempeln (Parthenon, Erechtheion, Niketempel) den Athenern selbst und allen anderen Besuchern dauerhaft vor Augen, wie sehr die Stadt vom Wohlwollen der Stadtgöttin profitierte (und was die Athener taten, um dies zu honorieren).3

Abb. 1: Die Akropolis um 400 v. Chr. Modell Athen, Akropolismuseum (Foto: Marion Meyer)

Die Bilder blieben. Sie prägten jahrhundertelang die Vorstellung von Athen, Athena und den Athenern – und in gewisser Weise tun sie dies auch heute.4 Darüber gerät leicht in Vergessenheit, wie zeitgebunden die Ikonographie der Göttin und die Auswahl und Gestaltung der Bildthemen war. In den drei dieser Blütezeit vorausgehenden Jahrhunderten, in denen sich der Kult der Athena im Hauptheiligtum Athens verfolgen lässt, hatte sich das Selbstverständnis der Athener und

|| 2 Zu den Panathenäen s. u. – Zu den Leichenreden und dem Demosion Sema: Loraux 1981; Arrington 2015, bes. 108–123; Walter-Karydi 2015, 164–197. 3 Die beiden Friese des Erechtheions können hier nicht berücksichtigt werden, denn die dargestellten Mythen sind aufgrund der Werktechnik (einzeln am Reliefgrund angebrachte Figuren) und des Erhaltungszustands nicht zu identifizieren. Vgl. Greco 2010, 135 (M.C. Monaco). 4 Auf der Akropolis ist von der wechselvollen Geschichte der Stätte (fast) nichts mehr zu sehen, herausgeschält wurden die Bauten der 2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. – Der Parthenon kann in der Werbung, aber auch in der Illustrierung von zeitgeschichtlichen journalistischen Beiträgen für das antike und das moderne Griechenland stehen.

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mit ihm ihre Perspektive auf ihre Göttin und ihre Erwartungen an sie kontinuierlich gewandelt. Dieser dynamische Prozess kann anhand von Neuerungen und Modifikationen im Kult und in den aitiologischen Mythen sowie in den Bildern der Göttin und der Mythen verfolgt werden.5 Da Veränderungen im Umgang mit den Kultempfängern intrinsischer Teil eines Wandels auf breiterer Ebene sind, sollen die entscheidenden Etappen der Geschichte Athens hier kurz skizziert werden.

2 Athen im Wandel Die entscheidende Weichenstellung der Frühzeit war der Synoikismos, durch den ganz Attika zum Staat der Athener wurde, mit der Siedlung um die Akropolis als Zentrum und der Burg als Hauptheiligtum. Synoikismos ist in diesem Fall nicht als die Auflassung verstreuter Siedlungen zugunsten eines Zentralortes zu verstehen, sondern als politischer Zusammenschluss von Demen in einem Gebiet, das (zumindest seit dem mittleren 6. Jh. v. Chr.) etwa so groß war wie Luxemburg. Wann es zu diesem Synoikismos kam, ist umstritten.6 Thukydides schrieb die Gründung des Staates Theseus zu,7 dem Sohn des attischen Urkönigs Aigeus (wie auch des Meeresgottes Poseidon). Die Solonischen Reformen (594 v. Chr.) führten zu einem wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung, der sich u. a. in einer Neuorganisation des Hauptfestes der Stadt und einem Ausbau des Heiligtums niederschlug und dem zuvor eher randständigen Athen einen Platz im Kreis der politisch und kulturell führenden

|| 5 Weitere Zeugnisse sind die Tempelprojekte: Im Verlauf von drei Jahrhunderten (ca. 700 bis ca. 400 v. Chr.) wurden nicht weniger als acht Tempel für Athena im Heiligtum geplant, sechs von ihnen auch ausgeführt, s. dazu: Korres 1997, 218–243; Gruben 2001, 166–190 Abb. 132; Korres 2003, 5–16; 24–31 Abb. 3–13; 23–28; Korres 2008, 17–36. Dazu ausführlicher (und unter Einbeziehung der hier nicht berücksichtigten Kultinhaber Aglauros, Pandrosos und Kekrops) Meyer 2017, 147–443. 6 Der diskutierte Zeitrahmen reicht von der mykenischen Zeit bis zum Ende des 6. Jh. v. Chr. Der Prozess der Staatsbildung wird allmählich, eventuell in mehreren Phasen, verlaufen sein. Vgl. Hurwit 1999, 79–80; 87; Hansen/Nielsen 2004, 624–625; Papazarkadas 2011, 148–149; 231–236; Ruppenstein 2015, 494–495; 497 (Akropolis als Siedlungszentrum Attikas seit Beginn der submykenischen Zeit um 1100 v. Chr.). 7 Thuc. 2,15,1–2.

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Poleis der griechischen Welt sicherte.8 In dieser Zeit avancierte Athen zum Hauptproduzenten bemalter attischer Feinkeramik (unter Verdrängung des bisherigen Marktführers Korinth) und entwickelte sich zur bilderfreudigsten aller griechischen Poleis. Zwei Jahre nach der Vertreibung des letzten Tyrannen (510 v. Chr.) wurden die Bürger durch die Kleisthenischen Reformen von 508/7 v. Chr. in zehn nach topographisch-demographischen Gesichtspunkten kreierte Phylen eingeteilt und erhielten mit den eponymen Heroen dieser Phylen neue Identifikationsfiguren.9 Die Phylenreform war der Wegbereiter für Verfassungsänderungen mit immer stärker partizipatorischen Elementen.10 Die sich nun erstmals als Bürgergemeinschaft verstehenden Athener11 wurden vor große Herausforderungen gestellt. Nach dem unerwarteten Sieg bei Marathon (490 v. Chr.), wo sie allein mit den Verbündeten aus Plataiai die persischen Angreifer zurückgeschlagen hatten, folgten sie dem Aufruf des Themistokles und bauten ihre Flotte aus.12 Dies war die Grundlage für die politische Führungsrolle nach den Perserkriegen. Nach den kollektiven Siegen der Griechen in den Jahren 480 und 479 v. Chr. wurde Athen Hegemon des neugegründeten Delisch-Attischen Seebundes und blieb dies bis zur verheerenden Niederlage im Peloponnesischen Krieg (404 v. Chr.). In der Pentekontaëtie, der kurzen Zeit zwischen dem Rückzug der Perser und dem Beginn des Krieges, wurde eine demokratische Verfassung eingeführt, und auch in den Künsten und der Wissenschaft wurden neue Wege beschritten, die sich als zukunftsträchtig erweisen sollten.13 Das Selbstverständnis der Athener dieser Zeit kann man der programmatischen Leichenrede entnehmen, die Thukydides dem Perikles in den Mund legte (431 v. Chr.): Athen ist die Schule von Hellas.14 Die Superiorität wird begründet mit der Autochthonie der Athener, mit ihrer politischen Freiheit, die sich in ihrer Selbstbestimmung manifestiert, und

|| 8 Welwei 1998, 140–152. Zu Solon: Blok/Lardinois 2006; Franssen 2011, 368–371 mit Anm. 349 (zur umstrittenen Chronologie der Reformen). 9 Hdt. 5,66; 69; Aristot. Ath. 20,1; 21,1–6; Kron 1976, 13–31; Welwei 1999, 1–21. 10 Welwei 1999, 42–46; 91–95; Funke 2001, 1–20. Vgl. Hdt. 6,131 (Kleisthenes habe den Athenern die Demokratie gegeben). 11 Das erste nach 510 v. Chr. aufgestellte öffentliche Monument spricht vom Sieg der „Söhne der Athener“ (über die Böoter und Chalkidier, 506 v. Chr.): IG I³ 501A; Franssen 2011, 185–189; 201–202; 211. 12 Hdt. 7,144; Plut. Them. 4,1; Aristot. Ath. 22,7; Nep. Them. 2,1–4. Welwei 1999, 47–51. 13 Welwei 1999, 77–139; s. o. Anm. 1. 14 Paideusis von Hellas: Thuc. 2,41.

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 33

mit der (für die Zeitgenossen und für Spätere) sichtbaren kulturellen Blüte der Stadt.15 Seit dem frühen 4. Jh. v. Chr. nahmen sich die Athener die kulturellen Errungenschaften ihrer Vorfahren des 5. Jh. v. Chr. zum Ziel, Maßstab und Vorbild. Die Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides wurden wieder aufgeführt, Bildtypen des 5. Jh. v. Chr. aufgenommen: die Blütezeit der Stadt wurde zur „Klassik“ avant la lettre.16 Kult und Mythos bieten Formen und Foren der Äußerung kollektiver Identität und sind mithin aussagekräftige Indikatoren für Prozesse der Neuorientierung. Um Veränderungen der Sicht auf die Stadtgöttin Athena und aus diesen zu erschließende Veränderungen des Selbstverständnisses der Athener in der dynamischsten Phase ihrer Geschichte soll es im Folgenden gehen.

3 Kult und Mythos der Athena in der Frühzeit Seit wann Athena die Hauptgöttin von Athen (der Siedlung auf und in der näheren Umgebung der Akropolis) war – und ob die Göttin ihren Namen von der Stadt oder diese den ihren von dem der Göttin hatte – ist umstritten.17 Ein Kult für Athena ist durch Votive auf der Akropolis seit dem frühen 8. Jh. v. Chr.,18 ein erster Tempel (ein Megaron von ca. zehn Metern Länge) ebendort für die Zeit um 700 v. Chr. bezeugt.19 Der Tempel war der Sitz des aus Olivenholz geschnitzten agalma, das in der späteren Überlieferung als eines der ältesten griechischen Götterbilder galt. Dies wurde unterschiedlich ausgedrückt: Das agalma sei vom Himmel gefallen oder von einem der Urkönige Athens gestiftet worden,20 oder es sei

|| 15 Thuc. 2,34–46. 16 Wiederaufführung von Werken der Alten Tragödie (seit 386 v. Chr.): Seidensticker 2002, 526– 529. Zur Rezeption der Athena Parthenos s. u. Anm. 137. Demosth. 22,13; 22,76 rühmt die Propyläen und den Parthenon; vgl. Demosth. 3,25. 17 Zur Diskussion s. Scholl 2006, 75 mit Literatur. 18 Scholl 2006, 42; 46–74; 138–140; 142–143. In keiner anderen attischen Kultstätte wurde eine so große Zahl von bronzenen Dreifüßen gefunden, was für die – über die Siedlung bei der Akropolis hinausgehende – Bedeutung des Heiligtums spricht. 19 Korres 1997, 226 Abb. 2 Nr. 2; Korres 2003, 5; Korres 2008, 20–21. 20 Vom Himmel gefallen: Paus. 1,26,6. – Gestiftet von Erichthonios (nach der Verlängerung der attischen Königsliste, in der Erichthonios vor Erechtheus geführt wurde): Apollod. 3,14,6. – Von Kekrops: Eus. P.E. 10,9,22. – Von den Autochthonen: Plut. fr. 158 Sandbach. – Vgl. Athenag. Leg. 17,3–4: ein Werk des Daidalosschülers Endoios.

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das aus Troja mitgebrachte Palladion.21 Das Material des Kultbildes lässt darauf schließen, dass der Ölbaum auf der Akropolis, der erstmals von Herodot als Kultmal erwähnt wird, spätestens seit der Existenz dieses agalma als heiliger Baum der Athena (und als ihre Gabe an die Athener) angesehen wurde.22 Auf der Akropolis wurde nicht nur Athena verehrt.23 Als Hauptgöttin der Stadt war sie eng mit lokalen Kultempfängern verbunden, und diese Gemeinschaft wurde in mythischen Erzählungen begründet. Olympische Gottheiten wurden erst im Laufe der Zeit in diesen Kreis der identitätsstiftenden Kulte und Mythen aufgenommen. Der wichtigste Kultgenosse der Athena war Erechtheus, der Urkönig von Athen, der die Göttin in seinem Palast auf der Akropolis empfing, so wie Alkinoos auf der Phäakeninsel Odysseus gastlich aufnahm.24 Quellen, die sich auf die Frühzeit des Athenakultes in Athen beziehen, nennen die Göttin stets gemeinsam mit Erechtheus.25 Der Urmythos Athens erläutert ihr Verhältnis. Erechtheus wird von der Erde (Gaia) geboren, von Athena aber aufgezogen, und die Göttin richtet seinen Kult ein. In dieser Urfassung des Mythos, wie sie im Schiffskatalog der Ilias überliefert ist,26 sind Gaia und Athena komplementäre Größen: Gaia, die Erdmutter, ist für das Gebären und Wachsen zuständig – das, was von Natur aus geschieht. Athena, die Göttin der techne, ist für all das zuständig, was nicht von Natur aus geschieht: für die trophe des Neugeborenen, die Aufzucht als Erziehung. Athena ist verantwortlich für alle Kulturtechniken, darunter auch für die Kultivation des Ölbaums, der nur dann Nutzen bringt, wenn man mit ihm umzugehen versteht.

|| 21 So der Redner Lysias (spätes 5. Jh. v. Chr.), s. Lys. fr. 272a Carey = Sch. Aristid. Or. 1,354 (3,319–320 Dindorf). 22 Hdt. 8,54–55: Der Ölbaum war von Athena selbst „gesetzt“ worden (s. dazu u. Anm. 124); am Tag nach dem Persersturm trieb er sogleich wieder aus. – Der neuzeitlich angepflanzte Ölbaum steht an seinem alten Standort, im Pandroseion vor dem Erechtheion. 23 Eine Kultstätte für Zeus in der Nähe des höchsten Punktes des Burgbergs ist bereits für die Frühzeit anzunehmen. Vgl. Greco 2010, 122–123 Abb. 5; 52 (M.C. Monaco) Seit dem 6. Jh. v. Chr. gab es auch einen heiligen Bezirk für Artemis,vgl. Greco 2010, 92–93 Abb. 21 (F. Camia). 24 Hom. Od. 7,78–82. – Zu Erechtheus: Kron 1976, 32–83; Kron 1988, 923–951; Sourvinou-Inwood 2011, 51–89. 25 Außer Hom. Il. 2,546–551 (s. u.): Hdt. 5,82–84 (zu beziehen auf die 2. Hälfte des 7. Jh. v. Chr.): die Epidaurier schickten jährliche Opfer für Athena und Erechtheus. Vgl. Figueira 1993, 17–60; 78–81; Papazarkadas 2011, 280–281. 26 Hom. Il. 2,546–551: „das Volk des Erechtheus, des großherzigen, den einst Athene aufzog (θρέψε), die Tochter des Zeus – ihn gebar die nahrunggebende Erde –, und ihn einsetzte in Athen in ihrem fetten Tempel“ (V. 547–549; Übersetzung W. Schadewaldt).

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 35

Es sind in der Frühzeit mithin die Belange von Hausgemeinschaften, die das Denken über Athena prägten: die Aufzucht und Erziehung von Kindern, die Kultivierung des wichtigsten landwirtschaftlichen Produkts Attikas. Für die Kultgemeinschaft (wie sie aus dem Bau des ersten Tempels zu erschließen ist) standen diese elementaren, den Bedürfnissen der einzelnen Oikoi entsprechenden Interessen im Vordergrund. So ist die Göttin in attischen Bildern der Frühzeit nicht bewaffnet, obwohl doch auch den Athenern die kriegerische Erscheinung der Göttin aus den Epen vertraut war. Außerhalb Athens wird Athena geläufig in Rüstung dargestellt; der Palladiontypus (ruhig stehende Göttin, die Lanze in der erhobenen Rechten schwingend) kommt in der ersten Hälfte des 7. Jh. v. Chr. auf.27 In Athen ist aus der Zeit vor dem 2. Viertel des 6. Jh. v. Chr. nur eine einzige Statuette bekannt, die die Göttin in diesem Typus zeigt.28

4 Neuorientierung: Ein neues Fest, ein neuer Mythos, ein neuer Tempel, ein neues Bild – und eine neue Version des Urmythos Im frühen 6. Jh. v. Chr. – zu einer Zeit, als die Qualität attischer Töpfer und Vasenmaler den Athenern eine marktbeherrschende Position gesichert hatte und ein ungeheurer Boom von Bildern aus der Lebens- und Mythenwelt einsetzte – beschlossen die Athener, ihrer Göttin einen ersten monumentalen Tempel mit Säulenumgang zu bauen (Abb. 2)29 und das jährlich im Hochsommer veranstaltete Stadtfest neu zu gestalten. Seit 566 v. Chr. feierten sie es in jedem vierten Jahr als Große Panathenäen, mit sportlichen (und dann auch mit musischen) Agonen,

|| 27 Zum Palladiontypus zuletzt: Moustaka 2002, 17–29 Abb. 1; 2; 4–11. Außerhalb Athens wird die Göttin in narrativen Bildern vor dem 2. Viertel des 6. Jh. v. Chr. etwa genauso häufig gerüstet dargestellt wie ungerüstet, s. Marx 1988, 382–383 Anm. 803; 805. 28 D’Onofrio 2001, 292–318 Abb. 22. Weiteres Beispiel für eine bewaffnete Athena: Vasenfragment mit einem Schild und der Beischrift Athenaia: Marx 1988, 380 Abb. 153; Marx 1993, 228; 230; 232 Abb. 1. 29 Es ist umstritten, ob dieser durch die sog. H-Architektur und großformatige Giebelfiguren belegte Tempel ein Ur-Parthenon war (so, m. E. überzeugend, M. Korres, zuletzt: Korres 2003, 6– 8 Abb. 4; 7; Korres 2008, 18–22 mit Literatur; ihm folgend: Gruben 2001, 167–172 Abb. 132; 133) oder ob er ein Ersatz für den ältesten Athenatempel auf der Altarterrasse war. Zur Diskussion: Hurwit 1999, 106–116 mit Abb. 83a; 83b; Greco 2010, 58–59 Abb. 4 (M.C. Monaco); 96–101 Abb. 28–29 (R. Di Cesare).

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nach dem Vorbild panhellenischer Feste.30 Solche gab es in Olympia schon lange, in Delphi, Isthmia und Nemea waren sie rezent eingerichtet worden.31 Obwohl die Großen Panathenäen ein Fest nur für die Athener waren, boten sie ein Programm wie die panhellenischen Feste. Anders als bei diesen wurden aber als Siegespreise keine Kränze vergeben, sondern das kostbare attische Olivenöl und Preisamphoren, und nicht nur der Sieger wurde ausgezeichnet, sondern auch der Zweit- und Drittplatzierte.32 Kampfpreise von hohem materiellen Wert (und zwar für alle Teilnehmer, abgestuft nach ihrer Leistung) waren aus der Ilias als Usus der Heroenzeit bekannt.33 Dass die Athener sich einerseits an den überregionalen Veranstaltungen orientierten, andererseits aber homerische Praktiken aufleben ließen, ist bezeichnend für ihren Anspruch und ihr Selbstverständnis. Sie wollten nicht nur mit dem gleichen Aufwand feiern, wie man ihn anderswo erleben konnte (mit Agonen und einem Peripteraltempel), sie gerierten sich auch wie die homerischen Helden. Militärische Disziplinen gehörten von Anfang an zum Festprogramm der Großen Panathenäen.34 Der Waffentanz (die Pyrrhiche) wurde sogar – als einziger Agon – auch bei den jährlichen Panathenäen veranstaltet.35 Mit diesem Waffentanz ehrte der männliche Teil des Demos die Göttin durch die Aufführung einer ihrer Erfindungen. Sie war diejenige, die ihn als erste getanzt hatte.36 Ich sehe darin gleichsam ein Pendant zur Anfertigung des Peplos, mit der der weibliche Teil des Demos (Mädchen und Frauen) eine andere Erfindung der || 30 Shear 2001; Neils 2012, 199–215. Zum Fest vor 566 v. Chr.: Neils 2007, 41–51. 31 Die Zählung der Olympiaden beginnt mit dem Jahr 776 v. Chr. Als Beginn für die Wettkämpfe an den anderen Orten sind folgende Daten überliefert: Delphi 586 bzw. 582 v. Chr., Isthmia 581 v. Chr., Nemea 573 v. Chr. Vgl. Kyle 2007, 110–149. Zur Teilnahme von Athenern (in Olympia seit dem frühen 7. Jh. v. Chr. bezeugt) s. Kyle 1987, 20–21. 32 Bentz 1998, passim; Shear 2003, 87–105 (mit dem Hinweis, dass diese Praxis nur durch IG II² 2311, ca. 390 v. Chr., bezeugt ist); Kyle 2007, 153–160; Tiverios 2007, 1–19; Popkin 2012, 207–235. – Zur Debatte, ob die Preisamphoren das Öl enthielten, s. Eschbach 2007, 94–95; Themelis 2007, 26–32 (jeweils zweifelnd); dagegen: Johnston 2007, 101–104; Papazarkadas 2011, 266. 33 Hom. Il. 23,259–270; 510–513; 536–624; 653–669; 700–705; 736; 740–751; 805–810; 850–858 (Leichenspiele für Patroklos). Auf diese Parallele wies Neils 2007, 43; 51 hin. 34 Waffenlauf: Bentz 1998, 66–69; 124 Nr. 6.011 Taf. 7; Shear 2003, 107. – Apobatenrennen (wann dieser spezifisch attische Agon eingeführt wurde, ist nicht bekannt): Kyle 2007, 161–163; Schultz 2007, 59–72; Neils/Schultz 2012, 195–207. – Pyrrhiche: Da die frühesten Darstellungen aus der Zeit um 520/10 v. Chr. stammen, wurde sie schon aufgeführt, bevor sie – wie für das späte 5. Jh. v. Chr. belegt (Aristoph. Nub. 988–989; Lys. 21,1; 4) – zu einem Phylenwettbewerb wurde. IG II² 2311 Z. 72–74 (ca. 400–350 v. Chr.) bezeugt alle drei Altersklassen. Vgl. Shear 2001, 107– 119; 323–331; 348–349; 526; Shapiro 2004, 316–317 (M. Lesky); 331 Nr. 277. 35 Lys. 21,4; Kyle 1987, 36–37; Shear 2001, 30; 40; 323–324. 36 Dion. Hal. 7,72,7; Shear 2001, 30; 38–42 mit Anm. 33; 41; Shapiro 2004, 304–305; 316 Nr. 15; 16.

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 37

Göttin (die techne des Webens)37 würdigte – wenn auch der Peplos ein Weihgeschenk des gesamten Demos war.38

Abb. 2: Die Akropolis um 550 v. Chr. Rekonstruktion nach J.M. Hurwit (Hurwit 2004, 67 Abb. 60b, modifiziert von Andrea Sulzgruber, IKA Wien)

Für die Preisamphoren wurde ein neues Bild der Athena entworfen (und durch sie massenhaft verbreitet): das der Athena Promachos. Es zeigte die zum Angriff ausschreitende Göttin, die Lanze schwingend, mit erhobenem Schild (Abb. 3).39 Dieses Bild verweist auf einen narrativen Kontext, den der Gigantomachie – den Kampf der olympischen Götter gegen die Kinder der Gaia, die mit ihrem Umsturzversuch die Weltordnung gefährdeten.40 Kämpfe einzelner (männlicher) Figuren gegen Giganten waren bereits zuvor thematisiert worden.41 Die Gigantomachie

|| 37 Athena als Weberin: Hom. Il. 5,733–737; 8,384–386; 14,178–179. 38 Es ist umstritten, ob der Peplos jährlich (wie ich meine) oder nur alle vier Jahre an den Großen Panathenäen dargebracht wurde (so zuletzt: Wesenberg 2015, 103–115). Wer letzteres annimmt, muss die Peplosweihung als solche für eine erst 566 v. Chr. eingeführte Praxis halten. Zur Peplosweihung: Barber 1992, 103–117; Parker 2005, 264–269; Sourvinou-Inwood 2011, 266– 311. 39 Bentz 1998; Tiverios 2007, 1–19 Abb. 1; 2; 13; Popkin 2012, 207–235 Abb. 1–4. 40 Zur Ikonographie der Gigantomachie zuletzt: Muth 2008, 268–328; Hildebrandt 2014, 72–77; Neils u. a. 2015, 18–24. – Die frühesten Schriftzeugnisse sind Ibykos, Xenophanes und Pind. N. 1,67–72, s. Hildebrandt 2014, 72–73 mit Anm. 9; 10; 20. Ein Epos aus der Zeit Solons bleibt eine Vermutung. 41 Vian/Moore 1988, 197; 215; 251 Nr. 1; 97–101; Giuliani 2000, 283 Anm. 14.

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als Gemeinschaftsunternehmen der Olympier war aber ein neuer Mythos, gedichtet für die ersten Großen Panathenäen.42 Ein Bild dieses Kampfes wurde in jeden Peplos gewebt, der in einem Jahr der Großen Panathenäen dargebracht wurde.43

Abb. 3: Panathenäische Preisamphora, um 560 v. Chr. Athena Promachos. London BM 1842.728.834 (© The Trustees of the British Museum. All rights reserved)

|| 42 Hierin folge ich Giuliani 2000, 272–282 – nicht jedoch in seiner Interpretation dieser Neuerung als einer Warnung vor der Tyrannenherrschaft, denn ich sehe diesen Mythos im Zusammenhang mit den übrigen um diese Zeit festzustellenden Änderungen des Athenabildes in Athen. 43 Erstmals bezeugt durch den Komödiendichter Strattis (um 400 v. Chr.), fr. 73 Kassel/Austin = Sch. Eur. Hec. 467: „dass er aber κρόκινος ist und ὑακίνθινος und die Giganten hineingewebt sind, offenbart Strattis“. Für die Zeit seit 566 v. Chr. zu erschließen aus der Beobachtung, dass das Thema (mit markanten Übereinstimmungen) um 560 v. Chr. erstmals auf attischen Vasen auftaucht, von denen zehn auf der Akropolis gefunden wurden: Shapiro 1989, 38; Giuliani 2000, 267–269 Abb. 1; Muth 2008, 271–282; 761 Abb. 174–178; Pala 2012, 85–86; 98–102; 133; 196–199 Abb. 36; 44; 45; 97; 99–101. – Dieses Webbild wird man sich als Bildfries vorzustellen haben, vgl. figürlich verzierte Gewänder in attischen Vasenbildern des frühen 6. Jh. v. Chr.: Shapiro 1989, 37 Taf. 16a; 16b; 16d; 17c.

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 39

Abb. 4: Bauchamphora, um 530/20 v. Chr. Zeus, Herakles und Athena im Gigantenkampf. London BM 1839,1109.3 (© The Trustees of the British Museum. All rights reserved)

Das Bild der gerüsteten Athena etablierte sich damit auch in Athen als Standardikonographie, und man sah nun auch in Athen die Göttin in einem über die Polis hinausweisenden Kontext. In der Gigantomachie agierte die Göttin gemeinsam mit olympischen Gottheiten. Mit Zeus und Herakles ist sie die wichtigste Protagonistin des Kampfes. Die Bilder zeigen sie als Promachos, dem von Herakles gelenkten Gespann des Zeus vorauseilend (Abb. 4),44 oder dicht neben dem Göttervater kämpfend.45 In Athen hatte man die Göttin zuvor in einem lokalen Umfeld

|| 44 So auf fünf der frühesten Vasen (und dann auch auf späteren): BAPD 310147; 310328; 15673; 9922 (= 301942); 3363; Graef/Langlotz 1925, 69–71; 78–79; 173–174; 21–216; 222 Nr. 607; 648; 1632; 2134; 2211 Taf. 33–35; 43d–f; 84; 94; Pala 2012, 261; 263; 304; 323; 326 Abb. 36; 44; 45; 99–101; Torelli 2012, 381–383 Abb. 3a–c. 45 Zu den frühesten Darstellungen gehören BAPD 14590, s. Muth 2008, 280–281 Abb. 178 und BAPD 10047, s. Moore 1989, 33–40 Abb. 1–8.

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verortet und in Kult und Mythos mit lokalen Figuren (Erechtheus, aber auch Aglauros und Pandrosos) verbunden. Das änderte sich nun, und das neue Bild der Promachos und der neue Mythos der Gigantomachie sind nicht die einzigen Zeugnisse dafür. Das außerhalb von Athen schon im 7. Jh. v. Chr. dargestellte Thema der Geburt der Athena wird seit dem 2. Viertel des 6. Jh. v. Chr. auch in Athen in Vasenbildern dargestellt und als ein Geschehen präsentiert, das die Göttergemeinschaft betrifft, denn verschiedene Olympier wohnen diesem Ereignis bei.46 In den auf der Akropolis gefundenen Weihinschriften, die es seit dem frühen 6. Jh. v. Chr. gibt, wird Athena – wenn sie nicht einfach bei ihrem Rufnamen genannt oder als „die Göttin“ angerufen wird – als kore (Mädchen) bzw. als kore des Zeus angesprochen.47 Athena wird also im 6. Jh. v. Chr. nachweislich nicht mehr nur als die Göttin der Stadt gesehen, sondern in ihren aus den Epen bekannten panhellenischen Kontext, den der olympischen Götterfamilie, gestellt. Die Athenageburt erklärt das besondere Verhältnis der Göttin zu ihrem Vater (ist er doch ihr einziges – oder das einzige ihr bekannte – Elternteil),48 und sie erklärt auch, wieso die Göttin Jungfrau (Parthenos) ist. Sie kannte ihre Mutter nicht und ist nicht von einer Frau geboren. Dieser Aspekt der Göttin wird nunmehr auch im Urmythos der Erechtheusgeburt thematisiert. In der Urfassung dieses Mythos hatte Athena nicht deshalb als Ziehmutter fungiert, weil sie ein (durch ihre eigene Geburt bedingtes) asexuelles Wesen war, sondern weil sie als Göttin der techne und Gegenpol zu Gaia gesehen wurde. Eine neue Version präsentiert die Göttin nunmehr als Parthenos und als Olympierin. Der Mythos ist am ausführlichsten in einer kaiserzeitlichen Quelle, der dem Apollodor zugeschriebenen Bibliothek, überliefert. Mit Hephaistos, einem Olympier wie Athena, kommt eine neue Figur ins Spiel. Der Gott begehrt die Göttin. Da dieser Sexualität fremd ist, entzieht sie sich ihm, und als sich der Samen des Hephaistos auf ihr Gewand ergießt, wischt sie ihn auf die Erde, die dadurch befruchtet dann den Erechtheus gebiert. Athena nimmt das Neugeborene als ihr Kind an. Sie übergibt es drei Mädchen mit der Auflage, den Korb nicht zu öffnen. Eines oder zwei oder auch alle drei Mädchen (die Überlieferungen divergieren in diesem Punkt) können ihre Neugier nicht beherrschen; sie öffnen das Körbchen, sehen das Baby und neben ihm eine oder zwei Schlangen. Entsetzt fliehen sie, außer sich, und stürzen sich

|| 46 Shapiro 1989, 39–40; Pala 2012, 74; 92–97 Abb. 41–43. – Außerattische Darstellungen des 7. Jh. v. Chr.: Stark 2012, 107; 285–288 Taf. 15a–b. 47 Raubitschek 1949, 5–6 Nr. 1; 340–342 Nr. 318; 350–356 Nr. 326 und 327; 358; 402 Nr. 374; 403 Nr. 375 (Tritogeneia, die wahre Tochter ihres Vaters); Day 2010, 160; 165; 171–178. 48 Hes. Th. 886–900; 924–926 (Zeus verschlingt Metis, bevor diese Athena gebiert); Hom. h. 28,6–16 (ohne Erwähnung einer Mutter).

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 41

zu Tode.49 (Die Mädchentrias gehört m. E. bereits zur Urfassung des Mythos, denn die Göttin nimmt jeweils die Rolle des Vaters ein, dem es zufällt, ein Kind anzuerkennen – und nicht etwa die Rolle einer Amme, die von den für das Kind verantwortlichen Personen beauftragt wird, das Baby zu versorgen.) Mit der Integration des Hephaistos in den Urmythos ändern sich die Beziehungen aller Figuren zueinander. Das bisher vaterlose Kind bekommt einen Erzeuger, und die mutterlose Göttin wird erstmals als solche thematisiert. Gaia und Athena sind keine komplementären Figuren mehr. Gaia ist nicht mehr die Erzeugerin des Kindes. Sie wird auf die Rolle sterblicher Frauen reduziert: Sie gebiert, nachdem sie männlichen Samen empfangen hat. Athena ist in dieser jüngeren Version von Anfang bis Ende der Motor aller Handlungsschritte: Sie löst bei Hephaistos Lust aus, sie entzieht sich ihm, sie wischt den Samen des begehrenden, ergo zeugenden Gottes von sich weg auf die Erde, sie ist es, die Gaia befruchtet, sie nimmt das Kind nach der Geburt an. Die jüngere Version des Geburtsmythos wird zu einer Zeit formuliert worden sein, als der Kult des Hephaistos in Athen entweder eingeführt oder so relevant wurde, dass ein Bedürfnis bestand, die beiden für techne zuständigen Gottheiten in ein Verhältnis zueinander zu bringen und beide in einem Mythos zu verbinden – mithin im frühen 6. Jh. v. Chr., als das Handwerk in Athen nachweisbar aufblühte, insbesondere die Töpfertechnik, für die der Umgang mit dem Feuer so entscheidend war.50 Einen Terminus ante quem für die Einbeziehung des Hephaistos in den Geburtsmythos bietet der im mittleren 6. Jh. v. Chr. angefertigte Thron des Apollon in Amyklai, auf dem Pausanias zufolge unter anderem die vor dem begehrenden Hephaistos zurückweichende Athena dargestellt war.51 Hephaistos war aber sicher bereits im 2. Viertel des 6. Jhs. v. Chr. in Athen eine prominente Gottheit, denn zu dieser Zeit ist er in den frühesten Darstellungen der Gigantomachie und den frühesten attischen Bildern der Athenageburt präsent.52

|| 49 Apollod. 3,14,6–7. In dieser jüngsten Version (s. dazu unten) haben die Mädchen die Namen von zwei vor 500 v. Chr. als eigenständige Figuren verehrten Kultinhaberinnen bekommen: Aglauros und Pandrosos; das dritte hieß Herse. Aglauros wird immer als Schuldige genannt. Auch Pandrosos: Amelesagoras (FGrHist 330 F 1); Athenag. Leg. 1. Auch Herse: Paus. 1,18,2; 1,27,2; Apollod. 3,14,6. „Die“ Mädchen: Eur. Ion 27–274; Kallimachos, Hekale, fr. 260,27–29 Pfeiffer; Hyg. fab. 106; Hyg. astr. 2,13. 50 Zum Kult des Hephaistos in Athen s. Shapiro 1995, 1–14; Simon 1998, 187–191 (sie führt ihn auf die vorgriechischen Pelasger zurück). 51 Paus. 3,18,13; Kron 1976, 39; Faustoferri 1996, bes. 281–358 (zur Datierung). 52 In Gigantomachie: Pala 2012, 98–99 mit Anm. 59–63 (BAPD 310147; BAPD 9922 = BAPD 301942); Torelli 2012, 381–383 Abb. 3a–c. – In Athenageburt: Shapiro 1989, 39–40 Taf. 19d.

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42 | Marion Meyer

5 Mit der Phylenreform zu verbindende Neuerungen in Kult und Mythos Die einzige Neuerung im Bereich des Kultes, die als Teil der Kleisthenischen Reformen überliefert ist, ist die Installation von Heroen als Eponyme der neuen zehn Phylen. Diese Heroen waren schon zuvor Kultempfänger, und sie behielten ihre Kultstätten und ihr Kultpersonal. Unter den zehn zu Phylenheroen bestimmten waren auch die vier Urkönige Athens, die Kultstätten auf der Akropolis hatten: Erechtheus, Kekrops, Aigeus, Pandion.53 Im Kult und im Mythos sind in der Folgezeit Veränderungen für Erechtheus zu greifen, die m. E. auf Neuerungen im Zusammenhang mit der Phylenreform zurückzuführen sind. Aus zwei Beobachtungen schließe ich, dass die Abspaltung einer neuen Figur namens Erichthonios und die Gründung eines gemeinsamen Kultes für Erechtheus und Poseidon (mit einer neuen Version des zweiten Urmythos von Athen als aition) zur Zeit der Kleisthenischen Reformen erfolgte und in Zusammenhang mit der Bestimmung des Erechtheus zum Phylenheros zu sehen ist.

Abb. 5: Schale, um 430 v. Chr. Geburt des Erichthonios. Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin F 2537 (Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Johannes Laurentius)

|| 53 Grundlegend zu den Phylenheroen: Kron 1976.

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 43

Abb. 6: Kalpis, um 470/60 v. Chr. Geburt des Erichthonios. London BM 1837,6-9.54 (© The Trustees of the British Museum. All rights reserved)

Erstens: Es gibt eine dritte, jüngste Version des Geburtsmythos, die sich von der zweiten (mit Hephaistos) nur dadurch unterscheidet, dass das Neugeborene nicht Erechtheus, sondern Erichthonios heißt (und die zuvor anonyme Mädchentrias nun Namen hat). Diese dritte Version wird in Athen auch bildlich dargestellt, und zwar von Beginn bis Ende des 5. Jh. v. Chr. Es sind ca. ein Dutzend Darstellungen erhalten; auf zwei Vasen (der Zeit um 430 und um 400 v. Chr.) ist dem Neugeborenen der Name Erichthonios beigeschrieben (Abb. 5)54 (der in

|| 54 Kron 1976, 55–64; 249–251 E1–E11 Taf. 1–5; Neils 1983, 274–289 Abb. 2–10; 13–15 (mit weiteren Exemplaren in Cleveland 82.142 und Richmond 81.70); Parker 1987, 193–196; Kron 1988, 928– 931; 943–946 Nr. 1–4; 6–8; 9a; 11–12; Pala 2012, 102–109 Abb. 46–48 (mit Fragmenten, deren Bezug auf den Mythos unsicher ist); Räuchle 2015, 3–8 Abb. 1–2. Ferner: sog. melisches Relief (attisches Werk): Kron 1976, 39; 65–66; 251 E 20; Kron 1988, 931–932; 946 Nr. 23; Stilp 2006, 57– 60; 81–82; 171–173 Kat. 23 Taf. 11 (ca. 480 v. Chr.). – Mit Namensbeischrift: 1. Schale Berlin F 2537: BAPD 217211; Kron 1976, 56–60; 63–66; 79–80; 139; 250 E 5 Taf. 4,2; 5,2; Neils 1983, 275–277 Abb.

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Schriftquellen erstmals im 3. Viertel des 5. Jh. v. Chr. vorkommt).55 In diesen Bildern ist die Dreigruppe der Protagonisten (Gaia, Baby und Athena) hinsichtlich Komposition und Figurentypen bemerkenswert konstant wiedergegeben (während zusätzlich dargestellte Figuren in Zahl und Auswahl divergieren, s. Abb. 6). Athena kommt von rechts und beugt sich zu dem Kind herab, das Gaia ihr entgegenhält. Die Erdmutter taucht aus ihrem Element auf und ist nur zur Hälfte (oder ab dem Oberschenkel) dargestellt. Sie wirkt wie eine Stütze für das Kind. Überzeugend führte Uta Kron diese Dreierkomposition auf ein gemeinsames Vorbild zurück. Die als Halb- oder Dreiviertelfigur aus dem Boden auftauchende Gaia war anscheinend eine Erfindung für dieses Vorbild.56 Man wird ein großformatiges Bild im öffentlichen Raum annehmen dürfen, das die Kerngruppe mit Gaia, dem kleinen Erichthonios und Athena zeigte und seit dem frühen 5. Jh. v. Chr. als Anregung für die Vasenmaler diente. Während der relativ kurzen Laufzeit des Bildthemas kann sich bei dieser konstanten und kontinuierlich zu verfolgenden Komposition die Benennung der Hauptfigur nicht geändert haben. Wenn das Neugeborene in der 2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. Erichthonios hieß, ist dieser Name auch für die früheren Darstellungen und das gemeinsame Vorbild zu erschließen. Eine Textstelle in Euripides’ Tragödie Ion (aufgeführt ca. 418–410 v. Chr.)57 ist in diesem Zusammenhang relevant. Kreousa, die Tochter des Erechtheus, trifft in Delphi auf den Tempeldiener Ion, ihren Sohn mit Apollon. Die beiden kennen sich nicht, denn Kreousa hat ihr Kind nach der Geburt am Akropolisabhang ausgesetzt. Ion fragt die Besucherin nach ihrer Heimat Athen und erkundigt sich nach ihrer Familie: „Entspross der Vorfahr deines Vaters aus der Erde?“ Kreousa bestätigt: „Das war Erichthonios, doch die Herkunft nützt mir nichts.“ Darauf Ion: „Und nahm Athene ihn vom Boden auf?“ Er erhält als Antwort: „In jungfräuliche Arme; sie gebar ihn nicht.“ Ion fährt fort: „Und gibt ihn, wie ἐν γραφῆι (im Bild) dargestellt ...“, woraufhin Kreousa ihm ins Wort fällt: „Den Töchtern des Kekrops, die ihn hüten sollen.“58 Hier wird als Referenz für diesen Mythos expressis verbis Malerei angegeben. Sind Quellenangaben für mythische Erzählungen an sich schon selten, so sind Verweise auf bildliche Darstellungen als Zeugnisse

|| 5–6; Kron 1988, 929–930; 943 Nr. 7; Kaltsas/Shapiro 2008, 178–179 Kat. 75 mit Abb. – 2. unpublizierter Pyxisdeckel Athen A 8922: BAPD 44371. Parker 1987, 196 Anm. 40; Kron 1988, 930; 944 Nr. 9a; Kaltsas/Shapiro 2008, 180–181 Nr. 76 (Abb. ohne Deckel). 55 Kron 1976, 37 mit Anm. 125; Kron 1988, 925; Sourvinou-Inwood 2011, 62. – Differenzierung von Erechtheus und Erichthonios bei Euripides, Ion 10; 20–21; 24; 267–272; 277–282; 999–1001; 1060; 1106; 1573 und Hellanikos (FGrHist 4 F 39 und 323a F 2). 56 Kron 1976, 56; 63; 66–67; Kron 1988, 943; 945. 57 Zur Datierung: Stieber 2011, 282. 58 Eur. Ion 267–272. Übersetzung: U. Graw – Ch. Klöck – D. Müller – G. Tiecke.

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für Mythen noch seltener. Daher sehe ich in dieser Bemerkung ein zusätzliches Indiz dafür, dass diese jüngste Version des Geburtsmythos visuell bekannt gemacht und verbreitet wurde. Da die erhaltenen bildlichen Darstellungen der Erichthoniosgeburt im frühen 5. Jh. v. Chr. einsetzen, muss die Aufspaltung des Erechtheus zuvor, um 500 v. Chr., erfolgt sein.

Abb. 7: Ständer eines Marmorbeckens, um 460/50 v. Chr. Weihung an Poseidon Erechtheus. Athen, Akropolismuseum EM 6319 (Foto: Marion Meyer)

Zweitens: Seit dem mittleren 5. Jh. v. Chr. ist ein gemeinsamer Kult von Erechtheus und Poseidon auf der Akropolis epigraphisch nachgewiesen (Abb. 7).59 Poseidon hatte seit alters Kultstätten in Attika,60 auf der Akropolis hingegen gibt || 59 IG I³ 873 (einer der beiden Dedikanten, Epiteles, fiel im Jahre 447 v. Chr., s. IG I³ 1162 Z. 4–5). Raubitschek 1949, 412–413 Nr. 384; Kron 1976, 48–49; 53; Franssen 2011, 158; Sourvinou-Inwood 2011, 68. 60 Shapiro 1989, 101–111.

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es keine früheren Kultzeugnisse, und auch in späterer Zeit wird Poseidon als Kultempfänger auf der Akropolis ausschließlich zusammen mit Erechtheus genannt.61 Dieser wiederum ist in Quellen, die sich auf das frühere 6. Jh. v. Chr. oder die Zeit davor beziehen, stets mit Athena verbunden (s. o.). Für einen Phylenheros war, wie die neue Version des Geburtsmythos (mit Erichthonios) zeigt, eine exklusive Bindung an Athena offenbar nicht angemessen. Mit einem gemeinsamen Kult des Erechtheus und Poseidon konnte einerseits die herausragende Bedeutung des Erechtheus als Kultempfänger auf der Akropolis gewürdigt, andererseits dem Poseidon ein Platz im Poliskult gegeben werden – als dem Gott, der der Stammvater der Tyrannen gewesen war und nach deren Sturz von der Bürgerschaft vereinnahmt wurde. Poseidon galt als der göttliche Vater des Theseus, der im späten 6. Jh. v. Chr. zur Identifikationsfigur für die Athener geworden war.62 Die gemeinsame Verehrung von Erechtheus und Poseidon wurde mit einem Mythos begründet, der erst aus Quellen der 2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. bekannt ist. M. E. handelt es sich dabei um eine Neufassung eines zweiten Urmythos von Athen, des erfolgreichen Abwehrkampfs der Athener unter Führung des Erechtheus gegen die Eleusinier. Ich nenne ihn den Invasionsmythos. Die ausführlichste Schilderung ist die nur in Fragmenten erhaltene Tragödie des Euripides mit dem Titel Erechtheus, die um 420/15 v. Chr. aufgeführt wurde. Aus diesen Fragmenten ist folgende Handlung zu rekonstruieren: Der Thraker Eumolpos greift Athen an, um seinen Vater Poseidon als Stadtgottheit in Athen zu etablieren. Einem Orakelspruch zufolge muss eine der Königstöchter sterben, um die Stadt zu retten, und in einer großen Szene stellt Praxithea, die Frau des Königs Erechtheus, programmatisch die Liebe für das Vaterland über die Liebe zu ihrem Kind. Aufgrund eines Gelübdes gehen dann die Schwestern der Geopferten freiwillig in den Tod. Erechtheus tötet den Eumolpos und perpetuiert damit Athenas Position als Stadtgöttin, erzürnt aber Poseidon, der ihn dadurch tötet, dass er ihn mit seinem Dreizack in die Erde stößt. Daraufhin ordnet Athena die Gründung eines Kultes an: Für Erechtheus soll auf der Akropolis ein Bezirk mit steinerner Einfriedung gebaut werden, und er soll dort beim Rinderopfer als erhabener Poseidon mit Beinamen Erechtheus angerufen werden, weil der Gott ihn tötete.63 || 61 Beide hatten einen gemeinsamen Priester: IG II² 1146 Z. 2–3 (vor ca. 350 v. Chr.); IG II² 4071 und IG II² 5058 (2. Jh. v. Chr.); IG II² 3538 (neronisch); Plut. VOrat. 843B–C; E (zu Priestern aus der Familie des Staatsmanns Lykurg). 62 Stammvater der Tyrannen: Shapiro 1989, 101–111. – Vater des Theseus: Harrison 2000, 271– 274. Eines der frühesten Indizien ist das Innenbild einer Schale in Paris (BAPD 203217, ca. 500 v. Chr.); vgl. Shapiro 1994, 125 Abb. 2. 63 Collard/Cropp 2008, 362–401; Primavesi 2016, 92–111 (auch zur Datierung).

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Von Eleusiniern ist in Euripides’ Tragödie nur ganz am Ende die Rede, als der Gründer der eleusinischen Mysterien namens Eumolpos als Nachfahr des gleichnamigen getöteten Kriegers genannt wird.64 Zur Zeit des Peloponnesischen Krieges war es nicht opportun, an innerattischen Zwist zu erinnern. Dass der aufopfernde Kampf des Erechtheus gegen Invasoren aus Eleusis gefochten wurde, ist gut überliefert. Thukydides führt den Krieg der Eleusinier gegen Erechtheus als das – einzige! – Beispiel für bewaffnete Konflikte in Attika vor der Vereinigung durch Theseus an.65 Ein Krieg zwischen Athen und Eleusis kann nicht im 5. Jh. v. Chr. erfunden worden sein. Der Mythos muss in ein Zeitstratum zurückreichen, in dem eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen dem Herrscher auf der Akropolis und Eindringlingen aus dem attischen Land (bzw. konkret aus Eleusis) glaubhaft war (unabhängig von der Frage, ob eine solche Auseinandersetzung tatsächlich jemals stattgefunden hat).66 In der Urfassung handelte der Invasionsmythos von einer Auseinandersetzung zwischen Sterblichen, und es ging um einen Angriff auf Athen. In einer zweiten Version – eben der, die die Gründung des gemeinsamen Kultes von Erechtheus und Poseidon begründet –, wurde diese Auseinandersetzung mit einem Konflikt auf göttlicher Ebene parallelisiert, dem Streit von Poseidon und Athena um das attische Land (nicht die Stadt Athen!). Bei diesem Götterstreit handelt es sich um einen Wandermythos bzw. ein Mythenmotiv, das den Gott Poseidon als den Gott der Naturgewalten charakterisiert. Die Überlieferung ist spät, aber konsistent: Der Gott fordert etablierte Hauptgottheiten heraus – und unterliegt diesen stets. Sein Ziel, Athena aus Athen, Apollon aus Delphi, Hera aus Argos, Zeus aus Ägina, Helios aus Korinth und Dionysos aus

|| 64 Eur. Erechth. fr. 370,99–100; 102; vgl. fr. 360,46–49 (ed. Collard/Cropp 2008); Sourvinou-Inwood 2011, 111–112; Primavesi 2016, 106–111. 65 Thuc. 2,15,1–2. – Ferner weist der Name Eumolpos nach Eleusis. Dies war der Name des Vorfahren und Eponymos des genos, das den Hierophanten stellte. Die Überlieferung wird dadurch verunklärt, dass ein zweiter Eumolpos (Krieger und Thraker) konstruiert wurde; vgl. SourvinouInwood 2011, 111–123; 341–344. 66 Für einen historischen Kern zuletzt (mit überzeugender Begründung): Schipporeit 2013, 317– 318; 361–365.

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Naxos zu verdrängen, scheitert67 (und muss scheitern: die sozialen Gemeinschaften überdauern die Bedrohung durch Naturgewalten).68 Das Motiv des Götterstreits ist erstmals für das frühe 5. Jh. v. Chr. überliefert und setzt den Streit um Attika voraus.69 Die Kombination des Streitmotivs (Poseidons Herausforderung anderer Gottheiten) mit dem Angriff Sterblicher auf Athen setzt die Kultempfänger zueinander in Beziehung und stellt dieses Beziehungsgeflecht als ein hierarchisches dar. Athena siegt über Poseidon und bleibt auf ewig die Stadtgöttin der Athener (in ganz Attika). Die Götter sind den Sterblichen überlegen (Poseidon tötet Erechtheus), und die Athener den Invasoren (Erechtheus siegt über Eumolpos). Der unterlegene Gott (Poseidon) straft den siegreichen Sterblichen (Erechtheus), und beide werden im Kult versöhnt. Meiner Rekonstruktion zufolge wurde die Figur des Erechtheus aufgespalten, als der Urkönig zum Phylenheros bestimmt wurde. Erechtheus hörte nicht auf, der Erdgeborene zu sein, der Mythos von der Geburt des Ziehkindes der Athena wurde aber fortan für eine neue Figur namens Erichthonios erzählt. Dieser Erichthonios bekam keinen Kult, ihm wurden vielmehr Stiftungen und Erfindungen im Zusammenhang mit dem Athenakult zugeschrieben.70 Der einzige Mythos, der nach der Aufspaltung des Erechtheus weiterhin für eine Figur dieses Namens erzählt wurde, war der Invasionsmythos.

|| 67 Plut. QConv. 741A; Paus. 2,1,6; 2,15,5. Nur in Troizen geht der Konflikt (mit Athena) unentschieden aus: Paus. 2,30,6. Vgl. Parker 1987, 198–200; Simon 1998, 66–68; Mylonopoulos 2003, 409–410. 68 S. dazu Mylonopoulos 2003, 55 mit Anm. 47; 87–88; 409–411; Parker 2011, 90. 69 Simonides (gest. 468/65 v. Chr.) spricht vom Streit des Hephaistos und der Demeter um Sizilien, mit dem Ätna als Schiedsrichter (fr. 552 Page = Sch. Theocr. 1,65–66). Da der Ätna als Schiedsrichter wenig überzeugt (er gehört zu Hephaistos, Sizilien ist aber die Insel der Demeter), wird Simonides die Figur eines Schiedsrichters von der attischen Version übernommen haben (für die diverse Figuren in dieser Funktion überliefert sind). Simonides hatte lange in Athen gelebt, bevor er nach den Perserkriegen nach Sizilien ging; vgl. Robbins 2001, 573. 70 Einrichtung der Opfer und des Tempels: Eratosth. Cat. 13 (ed. Rehm 1899); Hyg. astr. 2,13. – Aufstellung des agalma: Apollod. 3,14,6. – Gründung der Panathenäen: Hellanikos (FGrHist 323a F 2); Androtion (FGrHist 324 F 2); Marm. Par. (FGrHist 239 A 10); Apollod. 3,14,6; Eratosth. Cat. 13; Sch. Plat. Parm. 127a; Sch. Aristid. Or. 1,362 (3,323 Dindorf). – Einführung der Thallophorie: Philochoros (FGrHist 328 F 9). – Erfindung des Viergespanns und Wagenrennens: Marm. Par. (FGrHist 239 A 10); Eratosth. Cat. 13; Plin. n.h. 7,202; Hyg. astr. 2,13; Aristid. Or. 37,14 (ed. Keil); Sch. Aristid. Or. 1,43 (3,62,5–6 Dindorf); Syncell. ecl. chron. p. 184 (ed. Mosshammer). – Gründung des Apobatenagons: Eratosth. Cat. 13.

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6 Aktualisierung dieser Neuerungen nach den Perserkriegen Nach den Perserkriegen bekamen diese eine Generation zuvor konstruierten personae eine Relevanz, die unvorhersehbar gewesen war. Erechtheus avancierte zum archetypischen Patrioten, der unter großen persönlichen Opfern sein Vaterland verteidigte.71 Erichthonios, als mythische Figur auf das erdgeborene Ziehkind der Athena festgelegt, konnte durch eben diese Doppelbindung an die Erde und an die Stadtgöttin die Autochthonie der Athener beglaubigen – ein neues, aktuelles Element ihrer Identitätskonstruktion. In seinen beiden ersten Versionen hatte der Geburtsmythos das Verhältnis von zwei Kultempfängern (Athena und Erechtheus) begründet; in seiner dritten Version stellte er das Verhältnis der Göttin zu den Athenern dar: Erichthonios war kein Kultempfänger, sondern der Prototyp des neugeborenen Atheners. So wird er vom 2. bis 4. Viertel des 5. Jh. v. Chr. in mehreren Bildern des Geburtsmythos dargestellt: mit einer quer über den Leib gehängten Amulettschnur (Abb. 5–6),72 wie sie attische Kleinkinder tragen (Abb. 8).73 Ein solches Amulettband wurde den Neugeborenen beim Namensgebungsfest am zehnten Tag nach ihrer Geburt gegeben, als zweiter Schritt ihrer Aufnahme in den Oikos, nach der Akzeptanz des Kindes durch den kyrios beim Ritus der Amphidromia.74 Die Parallele zwischen Erichthonios und attischen Babys wird von Euripides im Ion explizit angesprochen: Neugeborene mit Amuletten in Schlangenform zu schützen, sei ein „Brauch der Vorfahren“; das Baby ahme den Erichthonos nach, der von Athena einst zwei Schlangen erhielt.75 Erichthonios wurde also Teil eines Diskurses, der in der Pentekontaëtie, zur Zeit der wachsenden Spannungen mit Sparta, aufkam und in dem die Athener ihre

|| 71 So in Euripides’ Erechtheus, s. Anm. 63. 72 London BM E 182 und Leipzig T 654 (ca. 470/60 v. Chr.); Berlin F 2537 (ca. 440/30 v. Chr., s. Anm. 54), Cleveland CMA 82.142, Richmond 81.70 und Palermo 2365 (sp. 5. Jh. v. Chr.): BAPD 206695; 206765; 217211; 10161; 10158; 217525; Kron 1976, 59 E2, E3, E5, E7 Taf. 2,1; 4,1–2; Kron 1988, 929–931 Nr. 3; 4; 7; 8; 11; 12; Seifert 2011, 84–86. 73 Die frühesten Darstellungen stammen ebenfalls aus dem 2. Viertel des 5. Jh. v. Chr.: BAPD 213940; 9025010. Crelier 2008, 126; 264 L3 und L4 mit Abb.; Kaltsas/Shapiro 2008, 307 Nr. 136 mit Abb.; Seifert 2011, 126–130 Abb. 20; Räuchle 2015, 6–7 Abb. 4. Die meisten finden sich auf Choenkännchen sowie auf Lekythen des frühen 4. Jh. v. Chr., s. Castor 2006, 626 mit Anm. 17; Seifert 2011, 59–60; 125–135 Abb. 19; Brinkmann 2016, 176 Kat. 67. Selten auch bei Mädchen, s. Seifert 2011, 116 Abb. 17. 74 Seifert 2011, 125–135. 75 Eur. Ion 20–27; 1427–1432.

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Autochthonie als Distinktionsmerkmal propagierten. Mit der Behauptung, keine Migranten wie die Dorer zu sein, begründeten die Athener ihren Anspruch auf Überlegenheit.76

Abb. 8: Lekythos, um 470/60 v. Chr. Mutter mit Kleinkind. Athen NM 1304 (© Hellenic Ministry of Culture and Sports / Archaeological Receipts Fund)

Erechtheus und Erichthonios boten somit – mit ihren spezifischen Narrativen – Exempel für zentrale Werte der Athener: Vaterlandsliebe, Einsatz- und Opferbereitschaft, militärische Stärke und Überlegenheit bzw. Autochthonie und eusebeia. Erechtheus war und blieb jedoch primär als Figur des Kultes von Interesse. Bildliche Darstellungen zeigen ihn als Urkönig und Phylenheros, sehr selten als Krieger.77 Auch der Streit der Götter wurde nie ein populäres Bildthema, obwohl

|| 76 Zur Konzeption der Autochthonie: Rosivach 1987, 297–305; s.a. Cohen 2000, 91–93; Loraux 2000, 13–27; Blok 2009, 256–261. 271. – Da die Erdgeburt ein Konzept der Religion, die Autochthonie eines der Politik ist, ist es sinnvoll, beides zu trennen. 77 Als Urkönig wird er mit anderen Figuren der attischen Frühzeit dargestellt. Frühestes Beispiel: BAPD 206422 (ca. 480/70 v. Chr.), mit Beischriften: Erechtheus, seine Tochter Oreithyia (die von Boreas geraubt wird), ein anonymes Mädchen, der Urkönig Kekrops mit seinen Töchtern Aglauros, Pandrosos, Herse. – Als Phylenheros: s. Kron 1976 (im Marathonweihgeschenk in Delphi, im Phylenheroenmonument in Athen, am Parthenonfries, s. dazu u. Anm. 131). – Als Krieger: auf der Hydria Pella (s. nächste Anm.). Brinkmann 2016, 114–125 Abb. 75; 77 identifiziert hypothetisch den Krieger Riace A mit Erechtheus.

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 51

er im Westgiebel des Parthenon prominent zu sehen war (Abb. 9a–b).78 Erichthonios hingegen war nur Ziehkind der Athena und Stifter von Kulteinrichtungen und als solcher in Bildern präsent.79

Abb. 9 a–b: Westgiebel des Parthenon, um 435 v. Chr. Streit des Poseidon mit Athena um Attika. Zeichnung von 1674. Paris, Bibliothèque Nationale de France (© Paris, Bibliothèque Nationale de France)

|| 78 S. dazu u. mit Anm. 122–123. Ferner: Hydria Pella 80514 (das einzige Bild, das den Götterstreit und den Kampf des Erechtheus gegen Eumolpos kombiniert; ca. 400 v. Chr.): BAPD 17333; Drougou 2000, 147–216, bes. 165–172; 180–214 Taf. 30–39 Farbtaf. I–IV; Tiverios 2009, 159–163 Abb. 1–2; Marx 2011, 33–36 Taf. 5,1–3; Neils 2013, 595–613 Abb. 1–9; Isler-Kerényi 2015, 180–182 Abb. 96. – Reliefhydria St. Petersburg, Eremitage, P 1872.130 (ca. 350 v. Chr.): BAPD 6988; Marx 2011, 33–36 Taf. 6,1; 6,2; Isler-Kerényi 2015, 182–183 Abb. 97. 79 Früheste Darstellung: als Wagenlenker, mit Athena als Apobatin, auf BAPD 303320 (ca. 510 v. Chr.): Kron 1988, 936; 947–948 Nr. 50 mit Abb.; d’Ayala Valva 1996, 8 Taf. 1,2; Neils/Schultz 2012, 201–202 Abb. 8. – Zu Bildern seiner Geburt s. o. mit Anm. 54.

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7 Athena nach den Perserkriegen: Die Göttin als Bild und als Bildträger Das Bild der gerüsteten, einsatzbereiten Göttin war in Athen seit dem 2. Viertel des 6. Jh. v. Chr. geläufig. Nach den Perserkriegen, als Athen die Früchte des kollektiven Sieges erntete und aus dem Schutz vor den Persern ein lukratives Geschäftsmodell machte, kamen Darstellungen der Athena auf, die die Göttin als die Garantin des Sieges inszenierten. Eine Kultstätte für die siegbringende Athena hatte es auf der Akropolis bereits seit dem 6. Jh. v. Chr. gegeben. Nun aber wurde Athena als Siegesgöttin in einer das Heiligtum dominierenden Statue dargestellt, und die narrativen Bilder, die an ihr sowie in und an benachbarten Monumenten80 zu sehen waren, ließen keinen Zweifel daran, auf welcher Seite die Göttin stand.

Abb. 10: Athena Promachos, um 450 v. Chr. Rekonstruktion L. Schneider – Ch. Höcker (nach: Schneider/Höcker 2001, 156 Abb. 165)

|| 80 Auf der Bastion südlich des Aufgangs zur Akropolis gab es seit mindestens dem mittleren 6. Jh. v. Chr. ein Heiligtum für Athena Nike. Das archaische Kultbild zeigte die Göttin mit einem Helm in der einen und einem Granatapfel in der anderen Hand (Harpokration, s.v. Nike Athena). In den Bildern an und bei dem Tempel klassischer Zeit dominieren hingegen die Themen Kampf und Sieg. Hölscher 1997, 143–166; Greco 2010, 88–91 Abb. 17; 19 (M. C. Monaco).

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 53

Das erste große Monument, das nach dem Persersturm in der Ruinenlandschaft auf der Akropolis errichtet wurde, war eine ca. neun Meter hohe Bronzestatue der Athena. Diese sog. „eherne“ Athena, ein Werk des Phidias, wurde um 450 v. Chr. vor der Westmauer der Altarterrasse aufgestellt, gegenüber dem Eingang zur Akropolis (Abb. 10).81 Für Demosthenes war sie ein ἀριστεῖον für die Kriege gegen die Barbaren, für welches „die Griechen“ die Gelder gegeben hatten.82 Nach einer späten Quelle wird sie als Promachos bezeichnet.83 Abbildungen im Miniaturformat (auf Münzen der Kaiserzeit)84 zufolge war die Göttin aber nicht als Kämpferin dargestellt, sondern in ruhiger Haltung mit leichter Ponderation (wobei der übergegürtete Peplos mit seinen schweren vertikalen Faltenbahnen die Unterscheidung zwischen dem vom Faltenvorhang verdeckten Standbein und dem den Stoff in Bewegung bringenden Spielbein betont haben wird). Den Schild hielt sie nicht als Deckung neben sich, sondern hatte ihn auf dem Boden abgesetzt und fixierte ihn mit ihrer Linken. Die Lanze lehnte an ihrer Schulter. Pausanias zufolge waren die Lanzenspitze und der Helmbusch der Göttin für die vom Meer her nach Athen Kommenden sichtbar, sobald sie Sounion (an der Südspitze Attikas) passiert hatten.85 Auf der ausgestreckten rechten Hand aber hielt diese ruhig stehende Göttin – und das war ein Novum – eine Nike, zum Abflug bereit.86 Nike, der Sieg, war keine selbständig agierende Figur. Sie war als Abstraktum ein Teil der Wirkmacht von Zeus und Athena. Dies waren die siegbringenden Gottheiten – die Nikephoroi. Die Promachos ist das erste Artefakt, das diese Macht in ein Bild bringt und die Göttin mit dieser Potenz – als Nikephoros – visu-

|| 81 Quellen: Davison 2009, 280; 734; 738–740. – Rekonstruktionen: s. Anm. 86. – Zur Aufstellung: Stevens 1936, 442 mit Abb.; Hoepfner 1997, 155 Abb. 1; zuletzt: Monaco 2009, 275–276 Abb. 1–5; 7; Palagia 2013, 120–121; 124–126 Abb. 9–11; 14. 82 So: Demosth. 19,272 (343 v. Chr.); Overbeck Nr. 638; DNO 2014, Nr. 871; Davison 2009, 738– 739. – Dass sie in der Kaiserzeit als ein aus der Marathonbeute (welche es nicht gab) finanziertes Werk galt, ist Teil der Marathonlegende, s. Palagia 2013, 117–137. 83 Sch. Demosth. 22,13; Overbeck Nr. 642; DNO 2014, Nr. 876; Davison 2009, 280–281; 733–734; Monaco 2009, 276. Vgl. Ov. Pont. 4,1,31–32: aerea ... bellica Phidiaca stat dea facta manu; DNO 2014, Nr. 869. 84 Svoronos/Pick 1923–1926, Taf. 98 Nr. 19–46; Pick 1931, 64–74 Beil. 28,2 Taf. 1; Kroll 1993, 123; 145; 159 Kat. 280; 375 Taf. 19; 21; Lundgreen 1997, 192 Taf. 1a–c; von Mosch 1999, 71–72; 117 Abb. 85–87; Davison 2009, 287–293 Abb. 8,2–4; Palagia 2013, 121–123 Abb. 2. 85 Paus. 1,28,2; DNO 2014, Nr. 868. 86 Rekonstruktionen: Hurwit 1999, 24–25 Abb. 24; Hurwit 2004, 63 Abb. 56 (mit einer der Parthenos weitgehend entsprechenden Figur); überzeugender: Schneider/Höcker 2001, 156 Abb. 165.

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alisiert. Ihr Schöpfer Phidias galt der Nachwelt als der Bildhauer, dem es besonders gut gelang, die Wirkmacht der Gottheiten im Bild überzeugend darzustellen.87 Damit ist die Siegesthematik der Figur aber nicht erschöpft. Auf ihrem Schild war in Treibarbeit ein Mythenbild dargestellt – und auch gut zu sehen, denn der Schild stand ja aufrecht auf der Basis neben der Göttin. Es zeigte den Kampf der Lapithen gegen die Kentauren,88 einen der drei Mythen, die nach den Perserkriegen als Paradigmata für kollektive Abwehrkämpfe in verschiedenen Medien immer wieder thematisiert wurden (und auch auf der Akropolis noch verewigt werden würden, s. u.). Für die Promachos – ein Siegesmonument für die Perserkriege – wurde bezeichnenderweise nicht der Mythos gewählt, der rezent als mythisches Exempel für die Abwehr von Invasoren konstruiert worden war (die sog. attische Amazonomachie, s. u.), sondern eine traditionelle Erzählung, deren Kern die Bestrafung für Hybris ist. Hybris wurde üblicherweise von den Göttern geahndet. Die thessalische Kentauromachie hingegen präsentiert die Bekämpfung von Frevlern durch ein Kollektiv von Sterblichen. Eine besondere Note bekommt das Verhalten der Kentauren – ob ein Fehltritt des Eurytion als Gast des Peirithoos89 oder die Übergriffe der Kentauren als Gruppe bei der Hochzeit des Peirithoos90 – dadurch, dass es sich nicht (wie bei den Amazonen) um Feinde aus der Fremde, sondern um Nachbarn und Gäste handelt.91 Die Erinnerung an die Kentauromachie ist somit auch eine Ermahnung zur Wachsamkeit und Vorsicht gegenüber eben diesen – und eine Rechtfertigung von Strafaktionen bei nichtkonformem Verhalten. Die Aktualität dieser Thematik in dem Zeitraum, in dem die Promachos konzipiert und ausgeführt wurde, liegt auf der Hand. Die Athener waren bereits gegen Mitglieder des Seebundes vorgegangen (Naxos, Thasos) und

|| 87 Strocka 2004, 210 (Quellen). 88 Paus. 1,28,2. 89 So: Hom. Od. 21,295–303: Der Kentaurenkönig Eurytion wird von den Lapithen für einen Frevel bestraft, den er als Gast des Lapithenkönigs Peirithoos, vom Wein berauscht, begangen hat. 90 So: Hom. Il. 742–744: Bestrafung der Kentauren im Kontext der Hochzeit von Peirithoos und Hippodameia. In Bildern werden die Übergriffe auf die Hochzeitsgäste erst im 2. Viertel des 5. Jh. thematisiert, s. Leventi 2008, 45–47; Muth 2008, 500–514 Abb. 362–369; Kyrieleis 2012/13, 55; 94–108 Abb. 2a–b; 29. 91 Vgl. Osborne 1994, 56 zum Kentauren als „role model for the human community, perilously poised between turning into a herd of beasts and fragmenting into instinct-led and desire-dominated individuals“; s. auch Osborne 1994, 83–84; Kyrieleis 2012/13, 94–95.

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waren bereit, dies wieder zu tun; sie hatten eine offensive Politik in ihrer Nachbarschaft verfolgt (Karystos) und setzten diese in den späten 60er und den 50er Jahren fort.92 Die Promachos erweist sich damit als eine gegenwarts- und zukunftsorientierte Figur. Sie bot den Athenern Selbstsicherheit, aber keine Ruhe und Entspannung. Sie feierte errungene Siege, und sie versicherte den permanenten Einsatz gegen Frevler. Sie war ein Monument von hoher Symbolkraft, Beweis für den Sieg über die Barbaren – und damit Begründung für die Freiheit der Athener. Als solches war sie auch tatsächlich eine „Freiheitsstatue“.93 Sie erinnerte die Athener daran, dass Freiheit nicht nur errungen, sondern auch gesichert werden musste. Insofern konnte die gerüstete und siegbringende Athena, mit dem mahnenden Bild der Kentaurenbestrafung, durchaus auch als Drohung für diejenigen verstanden werden, die nicht den von Athen vorgegebenen Normen folgten.

Abb. 11: Modell der Athena Parthenos. Toronto, Royal Ontario Museum (© Royal Ontario Museum, Toronto)

|| 92 Thuc. 1,98,3–4 (Unterwerfung von Karystos und Naxos); Thuc. 1,100,2 (Thasos); s. Welwei 1999, 84–91. 93 Harrison 1996, 30; Hurwit 1999, 151; Hurwit 2004, 84.

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Die Athenastatue im Parthenon war ebenfalls ein Werk des Phidias, in Goldelfenbeintechnik gearbeitet und daher als „goldene“ Athena bezeichnet (oder als Parthenos, Abb. 11).94 Sie wurde etwa gleichzeitig mit dem Tempel begonnen (447 v. Chr.) und 438 v. Chr. (oder auch erst mit dem Bau selbst 432 v. Chr.) fertiggestellt.95 Mit ca. zwölf Metern Höhe war sie noch größer als die eherne Athena (Promachos), und sie war mit noch mehr Bildern ausgestattet. Sie ist wesentlich besser überliefert als die Promachos. Schriftliche Äußerungen sowie (stark verkleinerte) Nach- und Abbildungen können eine Vorstellung der Figur als Bild und als Bildträger vermitteln.

Abb. 12: Verkleinerte Nachbildung der Athena Parthenos, um 200 n. Chr. Athen NM 129 (Foto: Hans Rupprecht Goette)

|| 94 ἄγαλμα χρυσοῦν: in den Abrechnungsurkunden IG I³ 455 Z. 3; I³ 457 Z. 4–5. – „Goldenes agalma der Athena“: Philochoros, FGrHist 328 F 121. – „Parthenos“ erstmals belegt bei Paus. 5,11,10; 10,34,8; Him. 64,4. 95 IG I³ 453–460 (446/45?–440/39 v. Chr.); Davison 2009, 69; 77 Anm. 226; 1085–1097; Marginesu 2010, 31–33; 52; 59; 119–121; 126–128; 139–142 (Lit.). Für die Spätdatierung (432/31 v. Chr.), nach kritischer Quellensichtung: Schubert 2016.

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 57

Die Göttin ist wiederum in leichter Ponderation, mit abgesetztem Schild – und als Nikephoros wiedergegeben. Sie trägt einen Peplos mit brustbedeckender, schlangengesäumter Ägis und hält mit der Linken den Schild sowie die Lanze.96 Zwischen ihrem Spielbein und dem Schild ringelt sich die Burgschlange.97 Die mit ca. 1,80 m leicht überlebensgroße Nike auf ihrer ausgestreckten Rechten wird von einer Säule gestützt.98 Flugbereit und mit einem Kranz in den Händen wendet sich die Nike dem Betrachter zu und dreht sich leicht nach ihrer linken Seite, zu Athena hin (Abb. 12).99 Athena blickt geradeaus; lange Locken fallen auf die Ägis und den Rücken. Die Göttin trägt eine Halskette, Ohrringe und Schlangenreifen an den Ober- und Unterarmen. Ihr dreibuschiger attischer Helm ist mit Fabelwesen reich ausgestattet.100 Die Außenseite des Schildes, der einen Durchmesser von ca. fünf Metern hatte, trug eine Reliefdarstellung der attischen Amazonomachie.101 Dies war eine neue Version des Kampfes gegen die Amazonen, die nach den Perserkriegen aufgekommen war und die Begegnung mit den kriegerischen Frauen nicht (wie zuvor) als Aristie einzelner Heroen, sondern als Massenschlacht der Athener unter Führung des Theseus präsentierte.102 Die Kampfgruppen waren in der Weise um das zentrale Gorgoneion angeordnet, dass der Eindruck entstehen musste, die Amazonen stürmten gegen die von den Athenern verteidigte Akropolis an (ob nun Geländelinien angegeben waren oder nicht).103 In die Innenseite des Schildes || 96 Paus. 1,24,7; Ampel. 8,10; Davison 2009, 92; 1002–1003. 97 Paus. 1,24,7. Die Schlange ist nicht Erichthonios, wie Pausanias ebenda meinte, aber so wie dieser verortete sie die Göttin auf der Akropolis. S. Sourvinou-Inwood 2011, 54–55; Leipen 1971, 50; Lapatin 2001, 66–67; Davison 2009, 92–93. 98 Paus. 1,24,5; Arr. EpictD. 2,8,20. S. Leipen 1971, 36–40; Fehr 1979, 80–83; Leipen 1984, 178– 180; Davison 2009, 126; 131–140; 711. 99 Zur Drehung der Figur s. die Statuette Athen NM 129, die einzige rundplastische Nachbildung mit Nike (s. Abb. 12): Karanastassis 1987, 328–329; 336; 408–410 B I 12 Taf. 35,1; Nick 2002, 183; 186–187; 192–193; 240 A 15 Taf. 19,1–2; Hurwit 2004, 149 Abb. 108; Gaifman 2006, 261–264 Abb. 4.2; Davison 2009, 128; 170–171 Nr. 6 Abb. 6.2–5; 6.75; 6.86; Palagia 2013, 123 Abb. 6. – Zur Nike: Leipen 1971, 34–36; Weber 1993, 118–119; Harrison 1996, 51–52; Davison 2009, 126–140. 100 Leipen 1971, 30; 32–34; Davison 2009, 84–90; 222–223 Nr. 100 Abb. 6.22–23. 101 Plin. n.h. 36,18; Paus. 1,17,2. S. Davison 2009, 94–115. 102 Früheste Quellen: Aeschl. Eum. 685–690 (Areopag als Lager der Amazonen); Pindar war der Angriff der Amazonen auf Athen bekannt, s. Paus. 7,2,7. Hdt. 9,27 (die Athener verweisen vor der Schlacht bei Plataiai auf diese Aristie) kann den Mythos nicht bereits für 479 v. Chr. belegen. – Früheste Bilder: Gemälde im Theseion (Paus. 1,17,2) und in der Stoa Poikile: Meyer 2005, 288– 289 mit Anm. 61–62; Arrington 2015, 146–147. 103 Zur Rekonstruktion: Harrison 1981, 281–317 ill. 1; 3; 4; Strocka 1984, 188–196 Abb. 4; 5 (= Davison 2009, Abb. 6.39); Meyer 1987, 295–321 Abb. 7; Stephanidou-Tiveriou 1987, 839–857 Abb. 3; Höcker/Schneider 1993, 72–80 mit Abb.; Hurwit 1999, 187–188 Abb. 161 (Rek. Harrison); Harrison

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war eine Gigantomachie gemalt.104 Auf den Sohlen der Sandalen war die Kentauromachie zu sehen.105 Nur auf der Basis war ein friedliches Thema dargestellt: die genesis der Pandora (in Anwesenheit von zwanzig Gottheiten). Zwei Nachbildungen erlauben in Kombination mit der Erzählung Hesiods die Rekonstruktion einer von Helios und Selene gerahmten Szene mit der frontal dargestellten Pandora in der Mitte, umgeben von weiblichen Figuren.106 Dieser Mythos, der vielfältige Assoziationen aufrufen konnte,107 verband die beiden Gottheiten der techne, Athena und Hephaistos. Der übergegürtete Peplos und die Ponderation der Parthenos entsprachen der zur Entstehungszeit der Figur gängigen Typologie bzw. Stilstufe. Helm, Lanze, Schild und auch die brustbedeckende, schlangengesäumte Ägis gehörten seit dem 2. Viertel des 6. Jh. v. Chr. zur konventionellen Ausrüstung der Göttin. Alles andere war für eine Athenastatue klassischer Zeit überraschend. Offen getragene und auf die Brust fallende Haare erinnerten an Darstellungen von (sterblichen und unsterblichen) Parthenoi archaischer Zeit – und schlossen dieses neu geschaffene Bild an solche aus viel älterer Zeit an.108 In eine in Zeit und Raum ferne Welt wiesen die Fabeltiere auf dem Helm (Sphinx, Flügelpferde, Greifen).109 Der reiche, kunstvoll gefertigte Schmuck war eine für die Göttin der techne angemessene Gabe.110 Die Schlangenarmbänder – als abnehmbare Schmuckstücke – erinnerten an die Amulette in Schlangenform, die die Athener ihren Kleinkindern umhängten und damit die Göttin nachahmten, die ihrem neugeborenen Ziehkind zwei Schlangen beigegeben hatte (s. o.).

|| 1996, 43–48 mit Abb. 16–17; Di Cesare 2006, 147–151; Davison 2009, 95–96 (Rek. Meyer); Arrington 2015, 154–166 Abb. 4.14–19 (Rek. Harrison). 104 Plin. n.h. 36,18. Zur Erschließung der Maltechnik: Leipen 1971, 46; Harrison 1996, 48; Lapatin 2001, 66; Strocka 2004, 223 (gemalt, ziseliert, tauschiert?); Davison 2009, 108; 115–117 Abb. 6.76. 105 Plin. n.h. 36,18; Leipen 1971, 29–30; Davison 2009, 90–91. 106 Hes. Th. 570–584; Op. 57–76; Plin. n.h. 36,18–19; vgl. Paus. 1,24,7. – Nachbildungen: Davison 2009, 120–122; 161–163; 187–189 Nr. 36 Abb. 6.82; 6.83 (Basen der Athenastatue aus Pergamon Berlin P 24 und der Statuette Lenormant). 107 Zu Rekonstruktion und Interpretation: Leipen 1971, 24–27; Fehr 1980, 113–120; Fehr 1981, 70–72; Harrison 1996, 48–51; Hurwit 1999, 235–245; Palagia 2000, 53–57; 60–62; 74 Abb. 4.2; 4.5; Hurwit 2004, 151–153 Abb. 112; Lapatin 2005, 268–269 (Lit.); Barringer 2008, 92–96 Abb. 68; Davison 2009, 118–126; Platt 2011, 85; 111–114. 108 Vgl. Platt 2011, 89. 109 May 1984, 112; Fehr 2001–2002, 45–47 (Athena als Herrin der Zivilisation). 110 Fehr 1981, 72 (Schmuck als Medium von charis); Fehr 2001–2002, 47–53 (Thematisierung der „Weiblichkeit“ der Göttin).

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 59

Die Parthenos war – wie die wenig ältere Promachos – eine Nikephoros, im Unterschied zu dieser aber kein Weihgeschenk aus einem konkreten Anlass, sondern ein zeitloses Bild in einem Tempel. Bei ihr macht die Nike eine Aussage über eine generelle Eigenschaft der Göttin als solcher: ihre Fähigkeit, Siege zu verleihen. Da sie diese Eigenschaft nur mit ihrem Vater teilt, ist die Wiedergabe der Athena als Nikephoros auch ein Verweis auf die Göttin als Tochter des Zeus. Anders als die Promachos ist die Parthenos mit ihrem umfangreichen Bildprogramm eingespannt in ein Netz von weiteren Bildern, die außen am Parthenon zu sehen sind. Von ihren vier narrativen Bildern haben drei die paradigmatischen kollektiven Abwehrkämpfe zum Thema, die auch an den Ost-, Südund Westmetopen dargestellt waren. Sie sind im Innern der Cella wie auch außen am Bau wohlüberlegt platziert: die Gigantomachie, bei der Athena selbst Protagonistin war, ist auf der Eingangsseite des Tempels111 und an der der Göttin zugewandten Seite des Schildes zu sehen. Die Verteidigung Athens gegen die Amazonen ist auf der dem Areopag (dem Lagerplatz der Amazonen) gegenüber liegenden Westseite des Baus (s. u.) und auf der Außenseite des Schildes platziert. Die Abwehr des Übergriffs der Kentauren beim Hochzeitsfest, die bereits auf dem Schild der Promachos als Warnung vor normverletzendem Verhalten von Nachbarn und Gästen dargestellt war, ist am Bau auf der Seite angebracht, die in Richtung Ägäis weist.112 Bei der Parthenos schmückt sie die Sohlen der Sandalen – eine passende Positionierung für ein Bild, das die Bestrafung von Hybris veranschaulicht. Auf den Nordmetopen des Parthenon konnte man, dem Hauptweg der Akropolis zum Altar hin folgend, die Darstellung eines weiteren Krieges sehen: des Zuges gegen Troja. Erhalten sind nur wenige Platten, darunter solche mit Begebenheiten, die sich bei der Eroberung der Stadt zutrugen.113 Szenen der Ilioupersis waren seit dem frühen 6. Jh. v. Chr. Teil des gängigen attischen Bildrepertoires. Dazu gehörte die Wiederbegegnung von Helena und Menelaos, ihrem ersten Mann.

|| 111 Ostmetopen: Praschniker 1928, 142–223 Taf. 14–27; Berger 1986, 55–76 Taf. 37–72; Schwab 2005, 161; 167–173 Abb. 49–51; Schwab 2014, 19; 36–44 Kat. 1–16 mit Abb. (O 1 – O 14); Neils u. a. 2015, 18–24 Abb. 3.2; 3.5; 3.6. 112 Südmetopen: Berger 1986, 77–90. 94–98 Taf. 1; 73–112; Schwab 2005, 161–162; 166–168; 173–178 Abb. 48; 52–53; Arrington 2015, 141–146 Abb. 4.9. – S 10, S 12, S 22, S 25 und S 29 zeigen jeweils einen Kentauren, der eine Lapithin bedrängt. 113 Es sind 14 (von 32) Metopen erhalten (stark beschädigt): Praschniker 1928, 1–141 Taf. 1–13; Berger 1986, 11–53 Taf. 2–36; Schwab 2005, 166–167; 182–190 Abb. 56–57; 59; Schwab 2014, 4; 45–51 Kat. 17–28 mit Abb. – Mantis 1987, 181–184 Abb. 15 konnte eine 14. Metope („G“) partiell rekonstruieren.

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Abb. 13a–b: Parthenon, Nordmetopen 24+25, um 440 v. Chr. Helena flieht vor Menelaos zur Statuette der Athena. Athen, Akropolismuseum (Foto: Hans Rupprecht Goette)

Seit etwa 500 v. Chr. wurde diese Episode in einem Bildtypus präsentiert, der sowohl die prekäre Lage der Helena wie auch die Wut des Menelaos und den friedlichen Ausgang des Aufeinandertreffens in einem Bild visualisiert. Helena flieht vor dem heranstürmenden Krieger, der ihr mit gezücktem Schwert nachsetzt, das Schwert ist ihm aber soeben – bedingt durch die Wirkmacht der hinter Helena stehenden Aphrodite – entglitten.114 Die Szene kann dadurch dramatisiert werden, dass Helena zu einem Standbild des Apollon flieht115 – eine visuelle Parallelisierung zu der im epischen Zyklus und vielen attischen Bildern des 6. Jh. v. Chr. dargestellten Flucht der Kassandra zur Statue der Athena.116 Wenn Helena zu Apollon, dem Gott der Trojaner, eilt, dann wird sie damit einerseits als (noch) zu Troja gehörig dargestellt, andererseits mit Kassandra kontrastiert. Das Schicksal beider Frauen gleicht sich nur für einen kurzen Moment. Kassandra findet bei Athena keinen Schutz; sie wird von Aias vergewaltigt. Helena wird verschont durch Eingreifen trojafreundlicher Gottheiten (freilich der Aphrodite, nicht des Apollon). Am Parthenon ist die Szene auf zwei Metopen verteilt: Menelaos, gefolgt von einem Gefährten, eilt mit gezücktem Schwert nach rechts. Auf der dort anschließenden Metope steht Aphrodite mit einem kleinen Eros auf der Schulter, der gerade aufbricht, um den wütenden Krieger zu besänftigen. Rechts von ihr läuft Helena zu einem Götterbild. Dieses stellt aber nicht, wie auf den früheren

|| 114 Bilder der Ilioupersis: s. Mangold 2000. Helena und Menelaos: Mangold 2000, 80–102 Abb. 47–56; Meyer 2008, 168–171 Abb. 1–2. Frühestes Bild mit entglittenem Schwert: Mangold 2000, 92–93 Abb. 52. 115 Mangold 2000, 94–96 Abb. 53; Meyer 2008, 169 Anm. 12–13 (Beispiele) Abb. 2. 116 Mangold 2000, 34–62 Abb. 17–36.

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Athen, Athena und die Athener. Identifikationsfigur(en) und Narrative | 61

Vasenbildern, Apollon dar, sondern Athena, als unterlebensgroße, in der Art früharchaischer Frauenfiguren mit blockhaft geschlossenem Unterkörper wiedergegebene Statue auf einer kniehohen Basis (Abb. 13a–b).117 Helena flieht hier also zu einem altertümlich aussehenden Athenabild. Im Bildkontext ist dies die Stadtgöttin von Troja. Im lokalen und funktionalen Kontext des Bildträgers erinnert es aber an die Asylfunktion der Stadtgöttin von Athen. Die Stadtgöttin von Troja hatte die Trojanerin Kassandra nicht geschützt. Die Griechin Helena, die zu Athena flieht, kommt ungestraft davon (wenn es auch Aphrodite ist, die Menelaos umstimmt). Das Bild der Metope verspricht, dass Athena die Ihren vor Schaden bewahrt. Leider lässt der Erhaltungszustand der übrigen Nordmetopen nicht erkennen, ob und wie weitere traditionelle Bilder für den aktuellen Kontext verändert wurden.

Abb. 14: Parthenonfries, Mitte der Ostseite, um 440 v. Chr. Zeus mit Hera und Athena mit Hephaistos flankieren zwei Kultszenen (mit der Athenapriesterin und dem Archon Basileus). London, BM (Foto: Hans Rupprecht Goette)

Die einzelnen Bildkomplexe der Parthenonskulpturen sind tiefsinnig miteinander verschränkt. Auf der Ostseite – der prominentesten Seite des Baus, die zum Altar hin wies und sich zum größten Innenraum mit dem Kultbild öffnete – war die Göttin des Heiligtums dreimal zu sehen, jedes Mal als Teil der olympischen Götterfamilie, in der sie als die Tochter nur ihres Vaters Zeus118 einen besonders prominenten Platz einnimmt. Sie wurde an dieser Seite des Baus mithin unter der Perspektive präsentiert, die seit dem 2. Viertel des 6. Jh. gängig war, und in den Mythen, die seit der Panathenäenreform in Athen in Bildern thematisiert worden waren: der Gigantomachie (in den Metopen, wo sie von einer schwebenden Nike

|| 117 Nordmetopen 24–25: Berger 1986, 37–39 Taf. 18–23; Schwab 2005, 182–186 Abb. 56–57; Schwab 2014, 48–49 Kat. 22–23. Diese Szene wurde von einem zeitgenössischen Vasenmaler rezipiert, s. die Oinochoe im Vatikan 16535: BAPD 215554; Schwab 2005, 185–187 Abb. 58a–b; Meyer 2008, 169–170 Abb. 3. 118 Vgl. Aeschl. Eum. 736–738.

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begleitet wird)119 und der Athenageburt (im Giebel).120 Im Fries war Athena, in der Versammlung der zwölf olympischen Götter, rechts der Mittelszene platziert, als Pendant zu Zeus (der links der Mittelszene sitzt, s. Abb. 14).121 Zur Ostseite gehörte auch die von dort aus in der Ostcella sichtbare Kolossalstatue. Dass auf ihrer Basis die Erschaffung der Pandora und nicht die Geburt des Erichthonios dargestellt war – die ebenfalls beide Gottheiten der techne verband –, hat seinen Grund u. a. darin, dass die Sage der Pandora ebenfalls eine überregional verbreitete war, während Erechtheus und Erichthonios lokale Figuren waren. Auf der Westseite des Baus, die dem Eingang zum Heiligtum gegenüber lag, ist Athena nur einmal zu sehen: im Giebel (Abb. 9a–b), als die Hauptgöttin der Athener, mit vielen mythischen Vorfahren der Athener in den Zwickeln.122 Der Streit mit Poseidon123 ist, wie oben dargelegt, m. E. eine Mythenfassung, die erst zwei Generationen zuvor geschaffen bzw. in Athen rezipiert worden war. Die Giebelkomposition ist ihre früheste Darstellung. Herodot berichtet von zwei martyria, die die beiden Gottheiten bei ihrem Streit um das Land auf der Akropolis hinterließen und die er im Areal des späteren Erechtheion sah: den Ölbaum und das Salzwasser.124 Eben diese Kultmale, mit denen die Gottheiten ihre Präsenz auf der Akropolis bewiesen, waren – 30 Meter weiter südlich – auch im Bild zu sehen, im Parthenongiebel zwischen und neben den beiden Protagonisten (Abb. 9a–b).125 Der Zwist der Sterblichen – der Kern des Invasionsmythos – wurde in diesem Kontext nicht thematisiert. Er wurde durch einen noch aktuelleren Invasionsmythos ersetzt. Unterhalb des Westgiebels ist in den Metopen der Angriff der Amazonen dargestellt, der als Gemeinschaftsaktion der Athener abgewehrt werden

|| 119 O 4: Praschniker 1928, 154–157 Abb. 94–95; Taf. 17; Berger 1986, 60–61 Taf. 44; 45; 47,1; Schwab 2005, 169–170 Abb. 49. 120 Berger 1976, 122–123; 128–141 Taf. 30–32 (Rekonstruktion der fünf mittleren Figuren); Berger 1977, 124–126; 134–140 Abb. 6 Taf. 30–34 Falttaf. II; Palagia 1993, 7–39; 60 Abb. 1–2; 6; 7b; 12–21; 23–59; 61–70; Palagia 2005, 225–242 Abb. 76a–b; 78; 81–85; 87; 88; Williams 2013. 121 Berger/Gisler-Huwiler 1996, 156; 160 Taf. 133–135. 122 Berger 1977, 124–134 Abb. 3–5 Taf. 35–36 Falttaf. III; Simon 1980, 239–255 Abb. 1; Palagia 1993, 7–17; 40–59; 61 Abb. 3–5; 7a; 22; 71–86; 90–96; 98–120; Palagia 2005, 225–234; 242–253 Abb. 77; 80; 89; 90; Barringer 2008, 66–68 Abb. 46; 47. 123 Als Thema angegeben von Paus. 1,24,5: Die eris des Poseidon gegen Athena! 124 Hdt. 8,55. 125 Der Ölbaum (wohl aus Bronze, keine Reste erhalten) stand im Hintergrund und wurde von Poseidon teilweise überschnitten. Vgl. Palagia 2005, 246. Auf das Salzwasser des Gottes verweisen das (nur in der Zeichnung von 1674 überlieferte) Ketos unterhalb der Wagenlenkerin des Gottes (s. Abb. 9b) und die Reste eines Triton unter einem der Pferde, s. Palagia 1993, 11; 40–42; 47–49 Abb. 4.103.

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musste.126 An diesem Ort war die Parallele zu dem rezenten Abwehrkampf der Athener gegen die Perser besonders zwingend, denn auch die Amazonen versuchten, die Akropolis zu stürmen. Die Besucher, die die Westseite des Parthenon sahen, waren gerade am Areopag, dem Lagerplatz der Amazonen, vorbeigekommen. Dieser rezente Mythos hatte auch den Vorteil, keine Erinnerungen an innerattische Konflikte aufkommen zu lassen. Am meisten überrascht das Thema des Frieses: ein einziges Bild, auf allen vier Seiten in 160 Meter Länge umlaufend und zum Eingang der Ostcella führend, aber keine Darstellung eines einheitlichen Geschehens an einem einheitlichen Ort.127 Thema des Frieses ist vielmehr der Athener Demos beim Kult. Dass sich einzelne Figuren und Szenen auf die Panathenäen beziehen, ist kein hinreichender Grund, im gesamten Fries die Wiedergabe einer Panathenäenprozession zu sehen.128 Es ging vielmehr um die Präsentation eines breiten Spektrums an Kultteilnehmern (beider Geschlechter, verschiedener Altersgruppen) in einem breiten Spektrum von Funktionen und Aktivitäten (Teilnehmer an Prozession und Wettspielen, Festordner, Musikanten, Führer von Opfertieren, Träger und Trägerinnen von diversen Gefäßen und Geräten). Beim Auftritt des Demos in der Öffentlichkeit sind Männer, insbesondere junge Männer, wie üblich überrepräsentiert, und sie werden in der höchsten Statusgruppe dargestellt, als Hippeis (Reiter). Aus den Wettkämpfen wurde ein einzelner herausgegriffen – das Apobatenrennen, bei dem die Konkurrenten wie die homerischen Helden als Krieger mit dem Wagen fahren und von ihm abspringen.129 Zu Fuß sind nur die Vertreter der älteren Generation und die Frauen und Mädchen unterwegs. Letztere – die Vertreterinnen des Teils des Demos, der das Kultpersonal stellte und den Peplos webte – erscheinen an den Rändern der Ostseite, den Gottheiten und den (zwischen diesen und den Sterblichen vermittelnden) Phylenheroen am nächsten. In der Mitte des Ostfrieses sind zwei Kulthandlungen dargestellt, die von Vertretern der beiden Geschlechter und der beiden wichtigsten Generationen durchgeführt werden (mithin vom ganzen Volk): Zu sehen sind die Athenapriesterin (eine Erwachsene), zwei Arrephoren (junge Mädchen im Dienst der Göttin), der Archon

|| 126 Westmetopen: Praschniker 1954, 5–53 Abb. 1–28; Berger 1986, 99–107 Taf. 1; 113–139; Schwab 2005, 166; 178–183 Abb. 54; Arrington 2015, 133–141; 144; 147–153 Abb. 4; 6–8. 127 Zum Fries: Jenkins 1994; Berger/Gisler-Huwiler 1996; Neils 2001. 128 Zuletzt für die Interpretation als eine Prozession: Neils 2001, 49–70; Neils 2005b, 215–218; s. jedoch Neils/Schultz 2012, 205. 129 Berger/Gisler-Huwiler 1996, 71–86; 124–131 Taf. 52–65; 104–109 Falttaf. II; III,1; Harrison 1984, 230–231; 233; Jenkins 1994, 30; 65–68; 88–95; Neils 2001, 138–141 Abb. 100; 103 Falttaf. Unter ihnen ist auch Erichthonios, der Erfinder des Agons, s. u. Anm. 132.

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Basileus (der Beamte, der als der Vertreter des Demos den Peplos als Weihgeschenk darbrachte) und ein ihm assistierender Knabe.130 Der Parthenonfries thematisiert Kult, nicht Mythos. Daher erscheinen auch Erechtheus und Erichthonios in Rollen, die auf ihre Funktion im Kult abheben: Erechtheus unter den zehn Phylenheroen im Ostfries,131 Erichthonios als der Stifter des Apobatenagons im Nordfries.132 Wie man den in der Hochklassik im Verlauf von nur zwei Jahrzehnten entstandenen Bildern ansehen kann, war sich diese Generation der Athener der Tatsache bewusst, dass ihr Erfolg, die gepriesene Freiheit und die Blüte der geistigen und materiellen Kultur auf militärischer Stärke beruhten. Es war ihr ein Anliegen, Mittel und Erfindungsreichtum aufzuwenden, um ihrer Göttin zu danken und ihr fortdauerndes Wohlwollen zu beschwören. Das aktuelle Wohlergehen durch Aufwand und durch Zurschaustellung des Wertekanons und kollektiver eusebeia zu demonstrieren, dürfte den Athenern als probates Mittel erschienen sein, es zu perpetuieren. Mit dem Peloponnesischen Krieg endete 404 v. Chr. die „imperiale“ Periode Athens, deren Selbstverständnis die Leichenrede des Perikles so prägnant zum Ausdruck gebracht hatte. Es endete auch die Dynamik, mit der seit der Frühzeit immer wieder neue Konstruktionen der Kultempfänger und Konstellationen des Kultes vorgenommen worden waren – insofern, als nun die in der 2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. etablierten Identifikationsfiguren und Narrative bewahrt, zitiert, zum Vorbild genommen wurden. Der als letzter errichtete Tempel, das in der Neuzeit so genannte Erechtheion133, veranschaulichte die Kultgemeinschaft von Athena (Ostcella) und Erechtheus, der zusammen mit Poseidon verehrt wurde (Westcella), bis zum Ende der Antike.134 Erechtheus wurde im 4. Jh. v. Chr. als leuchtendes Beispiel für

|| 130 Für die fünf Figuren und ihre Aktionen wurden diverse Interpretationen vorgeschlagen, s. Berger/Gisler-Huwiler 1996, 157–160; 171–174 (Übersicht) Taf. 134; Jenkins 1994, 35–40; 45 (Lit.); Wesenberg 1995, 151–168; 176–178 Abb. 1; 3–5; 7; 9; Neils 2001, 67–70; 166–171 Abb. 53–54; 127– 128; Wesenberg 2014, 65–81. 131 Er ist der Phylenheros, der am weitesten im Norden steht (Figur 46), folglich nahe bei seinen Kultstätten (im späteren Erechtheion): Kron 1976, 202–214 Taf. 31; Berger/Gisler-Huwiler 1996, 165; 175 Taf. 128; 137. 132 Figur 62 (nach Zählung Jenkins 1994): Jenkins 1994, 92; Berger/Gisler-Huwiler 1996, 81–82 Taf. 60; d’Ayala Valva 1996, 5–13 Taf. 1,1. 133 Diese Bezeichnung ist zweimal antik überliefert, jedoch jeweils für die Westcella des Tempels: Paus. 1,26,5; Ps.-Plut. VOrat. 843E. 134 S. dazu Goette 2001, 25–29 Abb. 6; 10; Greco 2010, 132–137 Abb. 58; 59; 61 (M.C. Monaco); Meyer 2014, 212–239 Abb. 7–19.

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aufopfernden Patriotismus genannt.135 Autochthonie blieb im 4. Jh. v. Chr. ein Thema (und viel bemühtes Distinktionsmerkmal),136 Bilder der Erichthoniosgeburt wurden allerdings keine mehr angefertigt. Athena wurde weiterhin von privater und öffentlicher Seite angerufen, gefeiert und in vielen Bildern und Medien dargestellt. Der Bildentwurf der Parthenos aber erwies sich als prägend für die Vorstellung von der visuellen Erscheinung der Stadtgöttin, wie Darstellungen der Athena in diesem Typus auf Urkundenreliefs und Weihreliefs und die Adaptionen für spätere Darstellungen der Athena zeigen.137

8 Zusammenfassung Der Umgang der Athener mit ihrer Hauptgöttin ist äußerst aufschlussreich für ihr jeweiliges Selbstverständnis. Auch in der Frühzeit riefen sie im Kriegs- oder Krisenfall gewiss die Burggöttin an, deren martialische Qualitäten sicher nicht erst seit den Erzählungen Homers bekannt waren. An diesem Aspekt der Göttin waren sie aber offenbar weniger interessiert als andere Athenaverehrer. Im Normalfall sahen sie in Athena die Göttin der techne, der Kultur, Kultivation, Zivilisation. Von Athena erhofften sie all das, was die Natur allein nicht bot. Das Athenabild der Frühzeit lässt auf eine Gemeinschaft schließen, in der die elementaren Bedürfnisse einzelner Oikoi im Vordergrund standen. Die in der 1. Hälfte des 6. Jh. v. Chr. im Verlauf von mehreren Jahrzehnten vorgenommenen Maßnahmen – Bau eines (zusätzlichen) Tempels, Panathenäenreform, neuer Mythos mit Athena als Protagonistin, neue Version des Geburtsmythos, neue Ikonographie für die Göttin – setzen kollektive Strukturen und einen dezidierten Gestaltungswillen mit zielgerichteter Planung voraus. In einer Zeit des Handelaufschwungs schauen die Athener über die Grenzen ihrer Polis hinaus und platzieren ihre Göttin und sich selbst in überregionalen Kontexten – die Göttin im Kreise der Olympier, sich selbst wie eine panhellenische Festgemeinde.

|| 135 Lycurg. 98–101. 136 Isocr. 10,68; 12,80; Plat. Menex. 245d; Loraux 2000, 56–57. 137 Zur Rezeption der Parthenos: Lapatin 1996, 5–15; Karanastassis 1987, 323–326; 333–334; 393–400; Nick 2002, 176–205; Gaifman 2006, 258–279. – Auf Reliefs: Vikela 2005, 125–127 Taf. 19,2; 19,3; 20,1; Gaifman 2006, 267–271 Abb. 4.4; Davison 2009, 156; 202–204 Nr. 57–60 Abb. 6.31; 6.88; Platt 2011, 87–90 Abb. 2.4. – Aelius Aristides träumte von der Göttin im „σχῆμα der (Athena) des Phidias in Athen“; Aristid. Or. 48,41 (ed. Keil); Platt 2011, 88–89; 262–263.

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Mit den Kleisthenischen Reformen und der Neuorganisation der Bürgerschaft gehen auch Reformen des Kultes einher. Erechtheus, der wichtigste Kultgenosse der Athena, wird Phylenheros und bekommt einen gemeinsamen Kult mit Poseidon, dem göttlichen Vater des neuen „Nationalheros“ Theseus. Nach den Perserkriegen können die neuen Versionen des Invasionsmythos (mit Erechtheus als Protagonist) und des Geburtsmythos (mit Erichthonios) für die dann aktuellen Diskurse über Landesverteidigung und Suprematie aufgrund von Autochthonie instrumentalisiert werden. In der Generation, die als Zeit der Hochklassik gelten wird, entstehen zwei monumentale Statuen, die die Stadtgöttin in ambivalenter Weise präsentieren: Größe und Kostbarkeit des Materials wie Kunstfertigkeit der Ausführung zeugen von der Macht der Göttin wie auch dem Vermögen (in mehrfacher Hinsicht) der Kultausübenden. Das Interesse an der Macht der Göttin fokussiert auf ihre Hilfe im Kampf. Sie greift nicht selbst ein, sondern steht ruhig da und bringt den Sieg. Die kriegerischen Narrative, die sie als Bildträgerin jeweils bietet, exemplifizieren Kämpfe als notwendigen Einsatz gegen Frevler, Umstürzler und Invasoren. Beide Statuen, die Promachos und die Parthenos, sind Vergewisserung (für die Athener) und Drohung (für Abtrünnige und Gegner) zugleich. Sie fassen gleichsam das Selbstverständnis der Athener als Führer des Delisch-Attischen Seebundes in Bilder. Das Haus der Parthenos, der Parthenon, thematisiert in den Bildern seiner reichen Bauplastik Mythos und Kult, überregionale Perspektiven und lokale Bindung. Kein griechischer Tempel teilt über seinen Kultempfänger so viel mit wie der Parthenon über Athena – und sagt damit so viel über die Ausübenden des Kultes. Auf der Ostseite erscheint Athena dreimal im Kreise der olympischen Götterfamilie, in Mythenbildern, die mittlerweile als traditionell gelten konnten (Athenageburt, Gigantomachie). An der Westfassade werden Geschehnisse gezeigt, die auf der Akropolis selbst stattfanden (und in rezenten, erst zwei bzw. eine Generation zuvor entstandenen Mythen erzählt werden): Der Götterstreit im Giebel feiert Athena als Stadtgöttin, im Kreise der Vorfahren der Athener. Die Metopen schildern den erbitterten Abwehrkampf der Athener mit Theseus gegen die Amazonen. Der Fries bereichert den Bauschmuck mit einem exzeptionellen, für das Selbstverständnis der Auftraggeber bezeichnenden Thema: Er zeigt den Athener Demos beim Kult.

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Vanessa Zetzmann

Von Argos nach Athen: Von Manipulation zu Polis-Rhetorik zwischen Aischylos’ Agamemnon und Eumeniden Abstract: This paper explores how the portrayal of Argos and Athens in Aeschylus’ Oresteia is closely linked with and reinforced by differing concepts of rhetoric in each place. Whilst in Argos characters deceive each other and all honest communication must fail, Athens stands for a fair and discursive way of communicating, as the play’s description of Argos and Athens shows. It is noteworthy that Athenian persuasion and Argive manipulation work similarly on a linguistic level, whilst semantically, Athenian rhetoric uses terms positively coined in the contemporary audience’s perception and therefore makes Orestes’ trial convincing. To question the view of this trial as a criticism of Athenian oratorical practice, arguments will be presented that in the Eumenides, Athenian rhetoric is a field of discourse in favour of the strongest and most apt performance, not only the strongest argument. One possible interpretation of this fact is the Athenian view that Argos needed Athens in the Argive alliance, not vice versa.

1 Einleitung: Warum Argos? Es war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine bewusste poetische Entscheidung des Aischylos, in der Orestie Agamemnons Palast nach Argos zu verlegen1 und dessen Sohn Orest erst in Athen Erlösung von seinem Fluch erfahren zu lassen.2 Oft wurde zudem darauf hingewiesen, wie Aischylos’ Orestie in der historischen Gegenwart Athens verankert war:3 Im Konkurrenzkampf Spartas und Athens um die Hegemonie im Hellenenbund4 trug Spartas Zurückweisung athenischer Hilfs-

|| 1 Abweichend von z.B. Homers Ilias. 2 Mit weiteren Belegen s. Grethlein 2003, 203–204, Anm. 11. 3 Sommerstein 1989, 25–31, Braun 1998, 102–104, Pelling 2000, 168–176. 4 Dreher 2012, 76. https://doi.org/10.1515/9783110656893-004

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truppen 462/1 v. Chr. bei der Belagerung Ithomes zur Verschlechterung der ohnehin schon problematischen Beziehung bei.5 Das im gleichen Jahr von den Athenern geschlossene Bündnis mit Argos, einem Erzfeind Spartas, kam dann einer Kriegserklärung gleich, auch wenn diese zunächst ohne Konsequenzen blieb.6 Aischylos’ Orestie, 458 v. Chr. aufgeführt, lenkt also nicht zuletzt durch die Verlegung des Atridenmythos nach Argos, der in Athen zu seinem dramatischen Abschluss gelangt, die Aufmerksamkeit auf dieses politische Klima. Während in der Orestie eine Vielzahl von Motiven durch die Trilogie hinweg verfolgbar ist,7 soll hier im Speziellen die angedeutete Entwicklung zwischen τάλαινα Πειθώ im Agamemnon und γλῶσσα ἀγαθή8 in den Eumeniden sowie ihre Verknüpfung mit der Darstellung der Orte Argos und Athen im Mittelpunkt stehen.9 Diese Entwicklung von täuschender oder manipulativer Rhetorik zu einer positiv besetzten Rhetorik10 kann v.a. an expliziten Äußerungen z.B. des Chores11 festgemacht werden. In diesem Beitrag sollen zunächst Aussagen über die Orte Argos und Athen untersucht werden (Abschnitt 2). In Form von stückimmanentem Szeneriedesign unterstreichen diese die Wirkung von Äußerungen über Rhetorik und deren expliziter Vorführung und prägen die Sicht des Publikums auf diese Orte maßgeblich. Jedoch muss auch nach der praktischen dramatischen Darstellung, die eng mit dem Ort des dramatischen Geschehens zusammenhängt, gefragt werden: || 5 M. Braun begründet diese Zurückweisung mit der Angst der Spartaner vor der von Ephialtes ausgehenden antispartanischen Stimmung in Athen nach seiner Entmachtung des Areopags, s. Braun 1998, 78–79; so schon Macleod 1982, 126, vorsichtiger Dreher 2012, 90, mit antiken Quellenangaben Sommerstein 1989, 26 Anm. 88. 6 Dreher 2012, 94; Sommerstein 1989, 26. 7 S. u.a. grundlegend Owen 1952, Goheen 1955, Lebeck 1971, Rabinowitz 1981, für eine Entwicklung einer gesellschaftlichen Erinnerungskultur durch Rede im Verlauf der Trilogie s. Scodel 2007, seit Neuestem mit Augenmerk auf Machtstrukturen und deren Ausdruck auf lexikalisch-semantischer Ebene Chesi 2014, gegen die Entwicklung vom Vendettakonzept zum Rechtsprinzip der Polis als Hauptthema s. Grethlein 2003, 234. 8 Aeschl. Ag. 385–386; Eum. 988. 9 Für eine skizzenartige Andeutung dieser Entwicklung s. Buxton 1982, 105–114. Kane 1986 beobachtet diese Entwicklung auch in Ansätzen, nimmt diese aber zum Anlass für eine politikphilosophische Reflexion der Rolle von πειθώ in der Polis – in der Antike und allgemein. Lebeck 1971, 2 fasst diese zusammen als „movement from enigmatic utterance to clear statement“. 10 S. z.B. Lebeck 1971, 133: „The guileful persuasion with which Clytemnestra induces Agamemnon to enter the palace, with which Orestes induces Clytemnestra to let him enter, becomes the good persuasion of Athena, gentling the Furies’ wrath and convincing them to enter their new sanctuary.” 11 Ag. 385–386; Choeph. 726; Eum. 885; 970; 988.

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Was ist der fundamentale Unterschied in der Art zu reden im Agamemnon und in den Eumeniden, also zwischen Argos und Athen? Während die Definition von τάλαινα Πειθώ im Agamemnon, wie in Abschnitt 3 gezeigt werden wird,12 wenig Schwierigkeiten darstellt – sie meint unaufrichtige, täuschende Manipulation durch Worte –, erweist sich die genaue Bestimmung der γλῶσσα ἀγαθή als problematisch: Denn die Grenzen zwischen Manipulation und rhetorischer Persuasion, die ja auch in gewissem Sinne mit Worten manipuliert,13 verwischen leicht.14 So wurde die Rhetorik des Gerichtsverfahrens in den Eumeniden von modernen Interpreten als problematisch angesehen, da z.B. auch schwache Argumente gewinnen und Argumentationen wie Manipulation wirken.15 Auffällig ist nämlich, dass die Charaktere in den Rheseis an beiden Orten in ihrer Rede hohe Selbstreflexivität und ein hohes Bewusstsein für Redesituation und Rezipienten zeigen:16 Dies geschieht u.a. durch Rahmen („frames“),17 wie etwa Ruth Scodel18 bereits für Euripides gezeigt hat: Diese sozio-rhetorischen Rahmungen von Sprache sind explizite Marker in der Sprache, die dem stückimmanenten und externen Zuschauer anzeigen, welche Art von Rede stattfindet.19 Aischylos lässt also seine Figuren metapragmatische Rahmungen verwenden, um ihre Rede zu rahmen und thematisch zu verorten.20 Strukturell hat also die

|| 12 Hesk 2000, 171 Anm. 92. 13 Vgl. Aristot. Rh. 1402a24: καὶ τὸ τὸν ἥττω δὲ λόγον κρείττω ποιεῖν. 14 Hesk 2000, 4–6 und 170: „In drama peithō is sometimes characterised by frankness and is opposed to dolos or apatē. At other moments peithō slips out of this position and becomes virtually synonymous with trickery or deceit.“ Vgl. jedoch für Euripides Scodel 1999, 135–136: „Lying, one might note, is quite distinct from verbal performance as a social practice, even though there are affiliations between persuasive performance and deceit, and the same mythological character, Odysseus, is the traditional master of both. Intrigue and verbal performance have different frames. Indeed, although the arguments used in a verbal perfomance may seem recherché or manipulative, […] Euripidean characters are always completely sincere about their basic positions during verbal performance.“ 15 Vgl. etwa Winnington-Ingram 1983, 120–131, Sommerstein 1989, 206–208, Pelling 2000, 174. 16 Scodel 1999, 130 Anm. 11 definiert diese Ausdrücke eher als performance, die v.a. an das externe Publikum gerichtet sei: „the assumption of responsibility to an audience for a display of communicative competence“. Für bewusste performance in der Orestie, s. Scodel 2007, 119. 17 Zur Wichtigkeit des Textrahmens vgl. van Dijk 1980, 169 „[Textrahmen sind] bestimmte Organisationsformen für das konventionell festgelegte Wissen [Hervorhebung im Original], das wir von der ‚Welt‘ besitzen […].“ Zum Begriff der Situativik und seinem Einfluss auf Rhetorik s. Knape 2012, 123. 18 Scodel 1999, 137. 19 Etwa im Agamemnon: πεύσηι 266, λέγω 269; 279; 315, ἐξ ἐμοῦ κλύεις 348. 20 Metapragmatisch sind diejenigen Ausdrücke von Charakteren, die sich auf die Metaebene des Dialogs beziehen und daher hohe kommunikative Kompetenz suggerieren. Vgl. Verschueren

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Rhetorik in der Orestie durchweg den gleichen Anschein: Redner sind sich ihres Auftrittes bewusst und passen sich ihrem Publikum an.21 Im vierten Abschnitt wird die Frage behandelt, worin genau jene γλῶσσα ἀγαθή besteht: Zunächst muss bei allen Gemeinsamkeiten ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden Rhetorikkonzepten festgestellt werden, nämlich das Kriterium der Wahrheit und die Frage, wie viel dem Zuschauer davon bewusst ist. Das äußere Kommunikationssystem fungiert daher als Referenzrahmen.22 Denn im Agamemnon weiß der Zuschauer durch seine Kenntnis des Mythos genau, dass Klytaimestra täuscht; in den Eumeniden dagegen findet die Rhetorik im Rahmen eines Gerichtsverfahrens statt, das ein Dilemma behandelt: Ist Gatten- oder Muttermord schlimmer? Hier gibt es keine objektive Wahrheit, denn Aischylos’ Version des Mythos konstruiert erst den Präzedenzfall dieses tragischen Diskurses. Als zu prüfende Hypothese soll hier gelten, dass der generelle Eindruck von Persuasion und Rhetorik an den Orten Argos und Athen durch gezielte Zuschauerlenkung in Bezug auf ihr Wahrheitsbewusstsein und durch Ambiguität bzw. Neuakzentuierung bestimmter Ausdrücke verändert wird. Dies kann besonders an den Stichomythien festgemacht werden, da in diesen der Umgang mit Wahrheit, dem Mehrwissen der Zuschauer und der allgemeinen Haltung zu Persuasion exemplifiziert wird. Somit wird Athen zu einem Ort der institutionalisierten, polisbezogenen Rhetorik, die ohne Vortäuschung falscher Tatsachen diskursiv und deliberativ wirkt: Redner benutzen, wie in der Realität eines Gerichtsverfahrens oder einer Versammlung, stärkere oder schwächere23 Argumente; in Argos dagegen wird durch täuschende, unheilvolle Persuasion der Aspekt der bösartig manipulativen Rhetorik betont. Dort kann kein aufrichtiger Diskurs stattfinden. Dieser Kontrast wird || 2004, 53: „[…] metalanguage is an important topic for linguistic research because it reflects metapragmatic awareness, a crucial force behind the meaning-generating capacity of language in use. The reflexive awareness in question is no less than the single most important prerequisite for communication as we know it. It is […] people’s ability to identify with others and thus to work collaboratively towards common goals.“ 21 S. Riedweg 2000, 17. Vgl. etwa Kleons Kritik bei Thuc. 3,38,4-5: τὰ μὲν μέλλοντα ἔργα ἀπὸ τῶν εὖ εἰπόντων σκοποῦντες ὡς δυνατὰ γίγνεσθαι, τὰ δὲ πεπραγμένα ἤδη, οὐ τὸ δρασθὲν πιστότερον ὄψει λαβόντες ἢ τὸ ἀκουσθέν, ἀπὸ τῶν λόγῳ καλῶς ἐπιτιμησάντων· καὶ μετὰ καινότητος μὲν λόγου ἀπατᾶσθαι ἄριστοι […]. 22 Im Gegensatz zum inneren Kommunikationssystem, d.h. den stückimmanenten Gesprächspartnern: Pfister 2001, 20–21. 23 Vgl. Pelling 2005, 91–92, der auf z.B. die zwar objektiv als schwach anzusehenden Argumente der Amme an Phaedra in Eur. Hipp. hinweist, die aber durch gute Darstellung erfolgreich sind.

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widergespiegelt in der Darstellung der Orte Argos und Athen, wie der folgende Abschnitt zeigen soll.

2 Die Stadt als Schauplatz: Die Orte Argos und Athen in der Orestie Bereits die erste Szene des Agamemnon, in welcher der Wächter sich über seinen Wachdienst, das Warten auf ein Leuchtfeuersignal und die Umstände in der Stadt im Allgemeinen beklagt, lässt ein unheilvolles Bild im Kopf der Zuschauer entstehen.24 Allerdings lokalisiert der Wächter den Handlungsort zunächst nur grob als „im Haus der Atriden“ (3). Charakterisiert wird der Ort des Geschehens jedoch hier schon sehr konkret: Der Wächter bittet die Götter um Linderung seiner Mühen, nämlich die Bewachung des Hauses (1), gibt zu, dass er Angst hat (φόβος 14), schlaflos ist (ebd.) und über das schlimme Schicksal des Hauses trauert.25 Hierbei fällt der häufige Gebrauch des unmittelbaren Demonstrativpronomens ὅδε26 auf, welches immer wieder deiktisch auf den unmittelbaren Ort verweist, sowie der ständige Hinweis auf die Verknüpfung der unglücklichen Lage mit dem konkreten, aber zunächst nicht genauer lokalisierten Haus.27 Als schließlich der tatsächliche Ort des Geschehens zum ersten Mal genannt wird (erst in Vers 24),28 ist die Charakterisierung für den Zuschauer bereits abgeschlossen: Argos verheißt nichts Gutes. Auch in weiteren Partien des Stückes wird durch Andeutungen eine negative Stimmung evoziert: etwa durch die Prophezeiung des Kalchas, die die Atriden mit Raubvögeln vergleicht (104–257), durch die Sorge des Chores, also der Polisbewohner, um Agamemnon (460) sowie durch ihre undefinierbare Furcht.29 Dieses Motiv wird in den Choephoren weitergeführt: In der Parodos (Choeph. 23–83) trauern die alten Dienerinnen an Agamemnons Grab und berichten von ihrem unheilvollem Traum; wieder wird das Haus an sich negativ beschrieben.30 Elektras Verzweiflung im heimischen Palast manifestiert sich in der Problematik, || 24 Saïd 2008, 300. 25 κλαίω τότ᾽ οἴκου τοῦδε συμφορὰν στένων (18). 26 Ag. 1; 17; 18; 24. 27 οἶκος 18; 35; 37; στέγη 3; δόμος 27. 28 Sehr wahrscheinlich ist anzunehmen, dass auch der antike Zuschauer sich hier erst bewusst wurde, wo der Mythos angesiedelt ist. 29 τὸ δύσφρον 547; θανεῖν πολλὴ χάρις 550; δεῖμα 976. 30 πάνοιζυς ἑστία 49; κατασκαφαὶ δόμων 50.

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dass ihr Bruder Orest abwesend (θυραῖος 115) ist, und sie daher Hermes anruft, Orestes in den Palast (ἐν δόμοις 131) zu schicken. Später beschreibt der Chorführer Klytaimestras Wahrnehmung des Ortes als ähnlich traumatisierend: Sie hatte Albträume (524–525) und das Haus musste ihretwegen nachts erleuchtet bleiben (536–537).31 Zuletzt spricht der Chor der Dienerinnen Orestes zu, dass er die gesamte Stadt Argos befreit habe: ἠλευθέρωσας πᾶσαν Ἀργείων πόλιν (1046). Athen hingegen hat als Aufführungsort und Heimat der Zuschauer den grundsätzlichen Vorteil der Selbstidentifikation; zusätzlich wird es im Laufe der Eumeniden durchweg positiv besetzt.32 Sowohl in Delphi, dem ersten Schauplatz der Eumeniden, als auch in Athen ist die göttliche Komponente eng mit dem Ort und seiner Atmosphäre verknüpft: Als die Priesterin in Delphi beschreibt, wie Apollon den Kultplatz erhielt, betont sie die ursprüngliche Macht der Ur-Prophetin Γαῖα und ihrer Nachkommen (Eum. 2–33) und schildert dabei die Übernahme durch Apollo als οὐδὲ πρὸς βίαν τινός (5).33 Das athenische Volk wird auch von ihr als zivilisiert und als von göttlichem Ursprung gelobt, da die ‚Kinder des Hephaistos‘ ihr Land gezähmt haben (13–14).34 Apoll charakterisiert Athen als Ort, an dem Orests Leid beendet werden kann (Eum. 79–83). Außerdem preist Athene in ihrer Ankündigung der Gerichtsabstimmung das inhärente Pflichtbewusstsein der Athener (690–691). Zuletzt kommt Athen noch eine positive Bewertung von außen zu, indem Orest als Nichtathener mehrmals die ewige, wohlwollende Verbundenheit zwischen Argos und Athen beteuert (289–291; 770–777).35 Somit ergibt sich also ein deutlicher Unterschied in der stückimmanenten Charakterisierung der Orte Argos und Athen. Dieser Umstand betont die Art, wie die Charaktere miteinander kommunizieren, nämlich die Transformation von τάλαινα Πειθώ zu γλῶσσα ἀγαθή.36

|| 31 Rabinowitz 1981, 178. 32 Saïd 2008, 299. 33 Hierbei wird geschickt Apollos Kampf mit Delphyne oder Python ausgelassen, vgl. Rabinowitz 1981, 182. 34 Zur Panegyrik Athens in den Eumeniden sowie den Elementen aus ἐπιτάφιοι λόγοι und panegyrischer Chorlyrik, s. Grethlein 2003, 228–232. Zur militärischen Stärke Athens s. Saïd 2008, 301; 303. 35 Apoll unterstützt ihn hierin in Eum. 667–673. 36 Aeschl. Ag. 385–386; Eum. 988.

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3 Täuschende und manipulative Rhetorik in Argos Die Motive und Begrifflichkeiten der Täuschung ziehen sich wie ein roter Faden durch den ersten Teil der Orestie.37 Eine sprachliche Analyse zeigt im Agamemnon sehr deutlich, dass hier Charaktere Rhetorik vor allem anwenden, um andere zu täuschen und bösartig zu manipulieren. Stückimmanent sind die getäuschten Charaktere kurz skeptisch, doch scheitern sie im Endeffekt an der Konkretisierung ihres Verdachtes.38 Auf Zuschauerebene wirken diese Interaktionen von vornherein diskrepant und wegen der Verwendung von negativen Anspielungen auf vorher Dargestelltes tragisch-ironisch. Betrachten wir exemplarisch die erste Stichomythie: In der ersten Episode verkündet Klytaimestra unter Zweifeln des Chores das Ende des Trojanischen Krieges und die Rückkehr des Agamemnon. Hier wird der Zuschauer durch sein Mehr-Wissen auf die fehlende Aufrichtigkeit ihrer Rhetorik aufmerksam gemacht. Κλ. εὐάγγελος μέν, ὥσπερ ἡ παροιμία, ἕως γένοιτο μητρὸς εὐφρόνης πάρα. πεύσῃ δὲ χάρμα μεῖζον ἐλπίδος κλύειν· Πριάμου γὰρ ᾑρήκασιν Ἀργεῖοι πόλιν. Χο.πῶς φῄς; πέφευγε τοὔπος ἐξ ἀπιστίας. Κλ. Τροίαν Ἀχαιῶν οὖσαν· ἦ τορῶς λέγω; Χο. χαρά μ’ ὑφέρπει δάκρυον ἐκκαλουμένη. Κλ. εὖ γὰρ φρονοῦντος ὄμμα σοῦ κατηγορεῖ. Χο.τί γὰρ τὸ πιστόν; ἔστι τῶνδέ σοι τέκμαρ; Κλ. ἔστιν· τί δ' οὐχί; μὴ δολώσαντος θεοῦ. Χο.πότερα δ’ ὀνείρων φάσματ’ εὐπειθῆ σέβεις; Κλ. οὐ δόξαν ἂν λάκοιμι βριζούσης φρενός. Χο.ἀλλ' ἦ σ’ ἐπίανέν τις ἄπτερος φάτις; Κλ. παιδὸς νέας ὣς κάρτ’ ἐμωμήσω φρένας. Χο.ποίου χρόνου δὲ καὶ πεπόρθηται πόλις; Κλ. τῆς νῦν τεκούσης φῶς τόδ’ εὐφρόνης λέγω. Χο.καὶ τίς τόδ’ ἐξίκοιτ’ ἂν ἀγγέλων τάχος; Κλ. Ἥφαιστος Ἴδης λαμπρὸν ἐκπέμπων σέλας. [...]

265

270

275

280 (Aeschl. Ag. 264–281)

Obwohl Klytaimestra wie ein Redner ihr formelles Auftreten durch metapragmatische Elemente, die ihre Rede strukturieren (πεύσηι 266; λέγω 269; 279; 315; ἐξ || 37 Conacher 1987, 16–17, Buxton 1982, 105–114. 38 Vgl. hierzu Wians 2009, 181, der den Agamemnon ansieht als „play about knowledge. More precisely, it is a play about the human failure to know“.

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ἐμοῦ κλύεις 348),39 unterstreicht, lügt sie nicht einfach, sondern akzentuiert eigentlich positiv besetzte Wörter und Begriffe um und macht negative Anspielungen, die nur der Zuschauer verstehen kann (s. Unterstreichungen im Textbeispiel).40 Eine Neuakzentuierung erfährt etwa εὐαγγέλοισιν ἐλπίσιν aus der Parodos (262). Wird es zunächst vom Chor als Ausdruck einer positiven Erwartungshaltung in Bezug auf die Nachricht aus Troja benutzt, schillert der Begriff aus Sicht des Zuschauers hier bereits vielsagend: Da die Männer aus Argos die Nachricht von Agamemnons Rückkehr als Zeichen für die Wiederbesetzung des Thrones (260) und damit als frohe Kunde ansehen, ist sie für Klytaimestra ebenfalls εὐάγγελος – sie ermöglicht endlich die Erfüllung des Racheplans. Dies wird verstärkt, indem Klytaimestra am Beginn ihrer Rede den Begriff εὐάγγελος wieder aufgreift; nun wirkt er aber offen deplatziert, da der Zuschauer bereits weiß, dass Klytaimestra kein εὐάγγελος sein wird.41 Auf gleiche Weise funktioniert die Umdeutung der Begriffe εὐφρόνης (265; 279) und χάρμα (266). Ein weiterer Marker der unaufrichtigen Rhetorik für den Zuschauer ist das Spiel mit den Begriffen der Beweisgültigkeit (s. Hervorhebungen im Textbeispiel): Mit der deutlichen Gegenüberstellung zwischen ehrlicher, beweisgestützter Überzeugung (τέκμαρ 272)42 und trügerischer Überredung (φάσματ᾽ εὐπιθῆ 274)43 wird der Zuschauer aufgrund seines Mehr-Wissens auf das Problem der Aufrichtigkeit von Rhetorik aufmerksam gemacht – vor allem im Hinblick auf den drohenden Mord an Agamemnon.44 Diese Sensibilisierung des Zuschauers zeigt, dass πειθώ und ihre Auswirkungen eine große Rolle im Stück spielen werden – immerhin manipuliert Klytaimestra bereits den Chor, der zunächst starke Skepsis zeigt,45 aber am Versuch scheitert, dieser gezielten Ausdruck zu verleihen. Diesem Misstrauen muss Klytaimestra mit Glaubwürdigkeit46 begegnen, vor allem in || 39 Zu ihrer performance s. Pelling 2005, 95–99. Zu dieser Strukturierung als „rhetorical framing“ bei Euripides s. Scodel 1999, 137–138. 40 Vgl. Pelling 2005, 93. Für den falschen Gebrauch von δίκη vgl. Goldhill 1986, 21–23. 41 Betont wird dies durch die prominente Stellung von εὐάγγελος μέν am Versanfang: In 264 erhält es durch eine auffällige Intonation eine besondere gravitas, indem die für den iambischen Trimeter typische Zäsur nach der zweiten anceps hier genau an der Phrasengrenze sitzt. 42 Für die Bedeutung von τέκμαρ als Beweis handfester, logischer Art s. LSJ, Art. τέκμαρ; τεκμήριον. Für den Gebrauch in forensischer Rhetorik z.B. bei Antiphon s. Hesk 2000, 285. 43 Buxton 1982, 110–114. 44 S. Goldhill 1986, 9. Vgl. auch Pelling 2005, 95: „uncanny closeness of what she [sc. Klytaimestra] says to the truth“. 45 Die Argiver fragen immer wieder nach einem τέκμαρ (268; 272; 274). 46 Für weitere Ausführungen zum Thema des menschlichen Wissens im Agamemnon und zum jeweiligen Wahrheitskriterium, nämlich Autopsie, s. Wians 2009, 183.

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Bezug auf ihre späteren Pläne. Sie schiebt die Zweifel an der Quellenauthentizität elegant beiseite, indem sie in einer langen Rhesis-Partie die Leuchtfeuer als Beweis anführt und deren Route ausführlich beschreibt (281–316)47 – auch wenn sie diese Fakten gar nicht wissen kann.48 Sie schließt mit dem Hinweis τέκμαρ τοιοῦτον σύμβολόν τέ σοι λέγω (315) und verstärkt damit metapragmatisch die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage. Auf einer primären Ebene erreicht sie damit freilich, Antwort auf die Fragen des Chores geben zu können,49 doch hat sie damit gleichzeitig dem Publikum ein σύμβολον für ihre spätere Verhaltensweise, nämlich den Gattenmord, geliefert:50 Sie muss sich bereits jetzt rechtfertigen und tut dies in einer ausschweifenden Rede, die eine mentale Landkarte der Ägäis zeichnet.51 Bemerkenswert an dieser Szene ist, dass Aischylos die Dialogpartner sich prinzipiell missverstehen lässt: Will der Chor eigentlich ein τέκμαρ, so bietet Klytaimestra lediglich etwas Ausgedachtes – ein φάσμα (vgl. 274). Denn ihre Rede ist vielleicht wahrscheinlich, aber sicher kein auf Autopsie begründeter Zeugenbericht. Diesem Umstand kann sie anscheinend abhelfen, indem sie wiederholt explizit darauf hinweist, dass ihre Rede ein τέκμαρ sei bzw. dass sie ein τέκμαρ in ihre Rede einflicht (273; 315; 332). Schon Fraenkel bemerkt, dass Klytaimestra nicht mehr wisse als die anderen, aber „in her powerful way“52 dem Chor eine neue Realität vorgaukle.53 Klytaimestras folgende Partie manipuliert ihre Zuhörer allerdings noch weiter, indem sie ihre Argumentation nun auch auf eine sehr emotionale Ebene

|| 47 Zu Problematiken und Anspielungen in der Leuchtfeuerrede s. Quincey 1963. 48 S.a. Conacher 1987, 16–17, Pelling 2005, 96. Zur Route und deren Realitätsgehalt s. Denniston/Page 1957, 94–95. Zu einer ekphrasis als Überzeugungs- und Beglaubigungsmittel in den Progymnasmata der zweiten Sophistik s. Webb 2009. 49 So auch Fraenkel 1950, 169. 50 Zu beachten ist zudem, dass der Chor diese Bemerkung gar nicht aufnimmt, vgl. Fraenkel 1950, 181. 51 Die Frage, ob der Weg der Leuchtfeuer tatsächlich so stattgefunden haben kann, ist als zweitrangig zu bewerten (s. ausführlich zu dieser Frage Denniston/Page 1957, 94–95 sowie Fraenkel 1950, 153–166). Wichtig ist, dass beschriebene Route stückimmanent als objektive Wahrheit fungiert und auch so angenommen wird. S. Goldhill 1984, 38–38. 52 Fraenkel 1950, 184. 53 S.a. Pelling 2005, 96.

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hebt.54 Ähnlich plastisch – und fiktiv – wie oben, begibt sie sich geistig ins verwüstete Troja55 und berichtet von Geschrei (βοήν 321), das einerseits aus Klagelauten der Besiegten und andererseits aus der verzweifelten Lauten der hungernden Griechen besteht (326–333).56 Obwohl also der Chorführer bereits am Anfang der Szene eine Unstimmigkeit ahnte und durch mehrmaliges Nachfragen seine Zweifel andeutete, aber nicht festmachen konnte, gelingt es Klytaimestra, ihn zu besänftigen:57 Nun macht er ihr das Zugeständnis, dass sie πιστὰ τεκμήρια (352) geliefert habe und εὐφρόνως (351) rede.58 Diese Bestätigung der Beweisgültigkeit mit Klytaimestras exakten Worten zeigt, dass die Persuasion funktioniert hat. Für den Zuschauer wirkt sie allerdings deplatziert und schlichtweg ironisch,59 da er um ihren manipulativen Charakter weiß.60 Die Konfrontation zwischen dem Argiverkönig und seiner Frau Klytaimestra im dritten Epeisodion (810–974), als sie ihn zu überzeugen versucht, auf die Gewänder61 zu steigen und ins Haus zu gehen, steht sicherlich im Zentrum der dramatischen Handlung des Agamemnon. Ähnlich wie in der Interaktion zwischen Klytaimestra und dem Chor im ersten Epeisodion scheitert Klytaimestra zunächst, da ihr Gegenüber Skepsis zeigt: Agamemnon weigert sich als erste Reaktion auf ihren Überredungsversuch, ihre Täuschung wird gerade dadurch herausgearbeitet, dass sie erst zu scheitern scheint. Agamemnons Auftritt ist von einer Rede begleitet.62 Der erste Teil (810–829) charakterisiert Agamemnon in zweierlei Hinsicht: Einerseits betont er – an erster

|| 54 Zum emotiven Effekt der ekphraseis s. Webb 2009. 55 „She delivers an extended description of how Troy was sacked, which as has often worried critics, she could not possibly have known.“ (Goldhill 1986, 10). 56 Für weitere Anspielungen auf den folgenden unheilvollen Plot s. Ag. 347–350. 57 Leider gehen weder Fraenkel 1950 noch Raeburn/Thomas 2011 auf diese Diskrepanz in der Überzeugung des Chores näher oder erklärend ein. 58 Zur Problematik der Antwort, s. Fraenkel 1950, 182. 59 „The final praise of her proofs (tekmaria) and her gravity serves to reinforce the irony“ (Wians 2009, 189). 60 Diese besänftigte Haltung des Chores wird jedoch für den Zuschauer wieder konterkariert, wenn er im 1. Stasimon (355–502) unter dem Denkmantel der Helena-Geschichte mit der Parole βιᾶται δ᾽ ἁ τάλαινα Πειθώ (385) indirekt Zweifel an Klytaimestras Botschaft formuliert. Bemerkenswert ist, dass der Chor schließlich dem Herold (503–537) ohne jede Skepsis Glauben schenkt. Für Autopsie als Beglaubigungstopos s. Wians 2009, 183. 61 Vgl. unten Anm. 74. 62 Die sorgfältig strukturierte Form seiner Rede deutet auf eine bewusste rhetorische Selbstdarstellung des Redners hin: 1. φροίμιον an die Götter (810 πρῶτον μὲν – 829 θεοῖς μὲν ... τόδε); 2.

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Stelle – die unterstützende Rolle der Götter im Trojanischen Krieg, wofür ihnen höchster Dank gebühre;63 andererseits gebärdet er sich als stolzer Sieger, der negativ über die Besiegten spricht.64 Hierbei konzentriert er sich besonders auf die angebliche Rechtmäßigkeit65 und die Unwiderruflichkeit66 der trojanischen Niederlage sowie auf die Tatsache, dass die Götter μεταίτιοι gewesen seien am Triumph über Troja. Indem er den Göttern eine große Rolle im Leben der Polis zuschreibt, muss er wohl im Rahmen eines religiösen Festes Sympathie bei den Zuschauern erzeugt haben. Als Agamemnon das gefallene Troja εὔσημος nennt, erinnert uns dies stark an den zweideutigen Gebrauch von εὐάγγελος durch Klytaimestra (262; 264). Auf der äußeren Rezipientenebene sind diese Assoziationen bereits abrufbar und daher konstituierend für den tragisch-dramatischen Effekt: Agamemnon gebraucht unbewusst bereits negativ besetztes Vokabular und redet so trotz seiner Aufrichtigkeit schon über seinen eigenen Untergang. Der zweite Teil seiner Rede (830–850) wird als Antwort auf und Wiederaufgreifen des vorangehenden Chorliedes stilisiert: Kurz bevor er zu sprechen begann, machte der Chor eine ominöse Bemerkung darüber, dass der ἀγαθὸς προβατογνώμων in der Lage sei, Freund von Feind zu unterscheiden (795) und auch, welche von den Bürgern in seiner Abwesenheit δίκαιοι bzw. ἄκαιροι waren (807–808). Das Motiv der Unfähigkeit der Charaktere, Anspielungen richtig zu erkennen und der daraus resultierenden Sensibilisierung des Zuschauers setzt sich hier fort: Agamemnon macht eine moralisierende Aussage über Freund und Feind, indem er dem Chor zustimmt, dass nur wenige Männer das Konzept aufrichtiger Freundschaft ἄνευ φθόνων verstünden (833). Agamemnon hat also die Warnung des Chores missverstanden: Während sie einen ungehorsamen Mitbürger vermuteten, geht Agamemnon auf den möglichen φθόνος eines Gleichgestellten ein – dies haben die Argiver aber nie erwähnt.67 Weiterhin erscheint Agamemnons

|| Antwortrede an den Chorführer (830 τὰ δ᾽ἐς τὸ σὸν φρόνημα – 850); 3. Aufbruch in den Palast (851 νῦν δ᾽– 854). 63 Aeschl. Ag. 810; 813–817; 821; 829. 64 Aeschl. Ag. 812; 828; 824. 65 Besonders ausgedrückt durch die häufige Verwendung von Wörtern wie δίκη, δίκαιος und dem Gerichtsgleichnis in 813–817. S.a. Raeburn/Thomas 2011, 152. Für Gerichtsvokabular in der Tragödie als dichterischer Beitrag zur Entwicklung einer δίκη der Polis s.a. Vernant/VidalNaquet 2006, 26. 66 Aeschl. Ag. 824–826. 67 S. hierzu ausführlich und mit Hinweis auf die doppeldeutige Bedeutung des Verbes σαίνειν, das sowohl für Klytaimestra als auch für Hunde verwendet wird, Harriott 1982, bes. 10.

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Situation umso mitleiderregender, wenn Aischylos ihn sagen lässt, dass er Bescheid wisse: εἰδὼς ... εὖ γὰρ ἐξεπίσταμαι (838).68 Direkt im Anschluss fokussiert Agamemnon wieder mehr auf seine Bürger, vor welchen er immerhin redet, indem er auf Politisches zu sprechen kommt: τὸ μὲν καλῶς ἔχον (846) solle langwährend gemacht werden, und zwar πρὸς πόλιν τε καὶ θεοὺς (844). Hierin wird manifest, wie Agamemnon sich als positiver, eben nicht tyrannischer Herrscher stilisiert, der sowohl die Götter als auch den Willen der Bürger achtet.69 Am Anfang von Klytaimestras erster Rede (855–913) fällt auf, dass auch sie zunächst die Bürger als Referenzpunkt benutzt, nicht Agamemnon. Die Anrede der Bürger wird als zentral dargestellt, hinzu kommt die eindeutig politisch-rhetorisch anmutende Einleitung der Rede durch Klytaimestra (855–858: ἄνδρες πολῖται ... οὐκ αἰσχυνοῦμαι τοὺς φιλάνορας τρόπους λέξαι πρὸς ὑμᾶς). Während die Anrede der Form nach symbouleutisch gestaltet ist, erscheint der tatsächliche Inhalt der Verse 855–858 eher wie einer Verteidigungsrede zugehörig. Zunächst ist ihre Rede namentlich geprägt von offenkundigen Beweisen der Liebe, Aufrichtigkeit und des Respekts gegenüber Agamemnon. Sie betont die bedrückende Situation einer alleinstehenden Frau (861–865) und konkret die unzähligen Gerüchte über Agamemnons Tod (866–873). Hierbei fällt auf, wie sehr Klytaimestra geschlechterspezifische Klischees bedient und den Geschlechtsunterschied zwischen ihr und ihrem Mann akzentuiert (861 γυναῖκα ... ἄρσενος ... ἐρῆμον; 867; 896–901). Dies dient der Exemplifizierung ihrer Liebe zu Agamemnon (856: φιλάνορας τρόπους), wird sie doch vor allem am Anfang des Stückes als eher männlich charakterisiert.70

|| 68 Im Folgenden zeigt sich, dass er den Hinweis zwar verstanden hat, aber diese Erkenntnis nicht richtig anwenden kann, denn er bringt 839–840 seine Kameraden vor Troja mit Unaufrichtigkeit und Missgunst in Verbindung. Weiterhin kommt den Begrifflichkeiten εἴδωλον und δοκεῖν (839–840) ein hoher evokativer Effekt zu, da sie uns an die Auseinandersetzung des Chores mit Klytaimestra in der ersten Episode erinnern; allen voran an die φάσματα, die der Chor Agamemnons Frau unterstellte (274). 69 Er schlägt öffentliche Versammlungen vor (κοινοὺς ἀγῶνας βουλευσάμεθα 845–846, vgl. etwa Pelasgos im mythischen Argos der Hiketiden), die im Gegensatz zu Argos später in der Trilogie in Athen stattfinden werden. Diese Darstellung der Sorge um die Polis wird verstärkt, indem Agamemnon verspricht, das πῆμ[α] ... νόσου (850) im Staat auszumerzen – besonders assoziativ ist auch die Wortwahl κέαντες ἢ τέμοντες (849). All dies lässt den Rezipienten sofort an Agamemnons Tod denken. 70 Dies scheint eng damit zusammenzuhängen, dass sie potentiell entlarvt werden könnte, wenn sie sich für eine Frau ungebührlich, eben männlich, verhält. S. hierzu auch Rutherford 2012, 300–301.

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Dies erregt einerseits Mitleid, doch wirken diese Tugendbeweise auf den Zuschauer schon problematisch, da ihre Rede durchwebt ist von Anspielungen auf vorherige Passagen im Stück und auf den dem Zuschauer bekannten Mythos. Hier wird ein klares Missverständnis der Charaktere offenbar: Was Agamemnon vorher noch in Antwort auf die Bedenken des Chores äußerte (dies stellte allerdings auch schon ein Missverständnis dar, da er den Grund der Warnung nicht erkannt hat), missversteht Klytaimestra nun als möglichen Angriff auf sich selbst – sie rechtfertigt sich. Die ambigen Anspielungen für den mehrwissenden Zuschauer beginnen bereits in 856 mit φιλάνορας τρόπους, die natürlich keine sind. Ein weiteres zweideutiges Element stellt δύσφορον (859) dar: Auf der primären Ebene meint Klytaimestra, dass Agamemnons Abwesenheit für sie unerträglich gewesen sei, doch assoziiert der Rezipient sofort die unglückbringende Wirkung Klytaimestras auf Agamemnon in der Zukunft – durch ihre Stilisierung als passives Opfer71 scheint also für den Zuschauer ihre wahre Identität als aktive Täterin durch.72 So wird für den Zuschauer eine geschickt formulierte Mitleidsbekundung schnell zur düsteren Vorschau auf den Verlauf des Stückes.73 Als schließlich die verhängnisvolle Aufforderung folgt, auf die ausgebreiteten Gewänder74 zu steigen (905–909), müssen wir annehmen, dass Agamemnon Klytaimestra als bereits so sympathieerregend wahrgenommen hat, dass er an der eigentlichen Aufforderung nichts Falsches erkennt. Denn einerseits hat er oben bereits sein eindeutiges Vorhaben, in den Palast zu gehen, formuliert und andererseits drückt Klytaimestra ihr Anliegen geschickt aus: Sie nähert sich noch

|| 71 Sie erreicht diese Art der Mitleidserregung vor allem durch die wiederholte Betonung ihrer weiblichen Schwachheit im Vergleich zu Agamemnons männlicher Stärke: Sie bezeichnet ihn u.a. als σταθμῶν κύνα, σωτῆρα, στῦλον sowie als πηγαῖον ῥέος für den Durstigen und als γῆν φανεῖσαν ναυτίλοις (896–901). 72 Dies wird unterstützt durch die auffällig lange Partie über Agamemnons ‚hypothetischen‘ Tod (865–876), wobei sich Klytaimestra auch als leidende und besorgte Ehefrau charakterisiert. Zu den Mutmaßungen über Agamemnons Tod z.T. im Indikativ vgl. Raeburn/Thomas 2011, 158, Pelling 2005, 95. 73 Vgl. auch Klytaimestras πῆμα (865) vs. Agamemnons πήματα προστρέψαι (850). Vgl. Käppel 1998, 151 für Ag. 886 als „Signal“ fürs Publikum. 74 Warum keine Teppiche gemeint sein können und inwiefern das Betreten von wertvollen Gewändern gewissermaßen ein Verbrechen gegen den eigenen οἶκος ist, erklären Denniston/Page 1957, 148.

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weiter seiner Wortwahl an, indem sie in 913 auch auf die Götter zu sprechen kommt.75 Allgemein lässt sich Agamemnons Antwortrede als eine sehr negativ aufgeladene Äußerung charakterisieren. 917 bemerkt Agamemnon, dass dieses Lob nicht unbedingt von Klytaimestra als Frau kommen solle; 919–920 befiehlt er ihr, ihn nicht zu behandeln, als wäre er eine Frau (also zu emotional), und auch nicht, als wäre er ein Barbar (also mit Hybris und verweichlichter Maßlosigkeit).76 Dies zeigt, dass Agamemnon Klytaimestras Falschheit missinterpretiert hat – nämlich nicht als täuschend, sondern unangemessen aufgrund ihrer gottlosen Forderung77 und ihres ungebührlichen Verhaltens als Frau.78 Die folgende Stichomythie,79 in der Klytaimestra Agamemnon doch überreden kann, auf die Gewänder zu steigen, führt besonders eindrücklich vor, wie manipulativ und unaufrichtig Kommunikation im Agamemnon funktioniert. Während der Grund für Agamemnons Nachgeben oft diskutiert wurde,80 wird die Funktionsweise der Figurenkommunikation klar, wenn man genau die Aussagen der Charaktere betrachtet: Agamemnon fürchtet den Neid der Menschen (dies wird erst durch die Stichomythie klar) und der Götter, weswegen Klytaimestra es ihm stückweise als unerheblich darstellt, sich von potentieller Missgunst durch Mitmenschen einschüchtern zu lassen.81 Αγ. Λήδας γένεθλον, δωμάτων ἐμῶν φύλαξ,

914

|| 75 Dies ist besonders, da sie vorher – im Gegensatz zum Chor – die Götter nie erwähnte, Agamemnon ihnen aber einen ganzen Abschnitt seiner Rede widmete. Nun prophezeit sie, dass alles mit φροντίς sowie σὺν θεοῖς (913) geschehe. 76 Vgl. auch die Häufigkeit der Verneinungen in Agamemnons Rede: 918; 919; 921; 924; 925; 927. Diese Verneinungen beziehen sich auch nicht auf Klytaimestra selbst und ihre Aufrichtigkeit, sondern stets auf ihre Art des Willkommenheißens und auf ihre fehlende Ehrfurcht vor den Göttern. 77 Dies zeigen auch die Verse 922, 925 sowie 927–928, in denen Agamemnon immer wieder die Götter erwähnt, im Gegensatz zu Klytaimestra, die die Götter vor 913 nie erwähnt und Δίκη (911) nur einmal aufgreift, und zwar als Macht, die Agamemnon πόρος / ἐς δῶμ᾽ ἄελπτον (910–911) gewähre – also seinen Tod. 78 Vgl. dagegen Agamemnons häufige Wiederholung des Personalpronomens in der ersten Person und dessen prominente Stellung als Ausdruck seiner Selbstdarstellung als Herrscher (914; 915; 918; 925; 930), s. Raeburn/Thomas 2011, 164. 79 Zur Stichomythie im Allgemeinen, s. Jens 1955, Seidensticker 1971. Mit Fokus auf Pragmatik und Narratologie s. Schuren 2015; im Besonderen zu Aischylos s. Ireland 1974. 80 So etwa Fraenkels Frage „Why does Agamemnon yield?“ (Fraenkel 1950, 441–442), weiter diskutiert bei Denniston/Page 1957, 151–152, Neitzel 1977, Buxton 1982, 104–114, Court 1994, 203–204. 81 Easterling 1973, 9–12.

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ἀπουσίᾳ μὲν εἶπας εἰκότως ἐμῇ· […] καὶ τἄλλα μὴ γυναικὸς ἐν τρόποις ἐμὲ ἅβρυνε, μηδὲ βαρβάρου φωτὸς δίκην χαμαιπετὲς βόαμα προσχάνῃς ἐμοί, […] λέγω κατ’ ἄνδρα, μὴ θεόν, σέβειν ἐμέ. […] Αγ.εἰ πάντα δ’ ὣς πράσσοιμ’ ἄν, εὐθαρσὴς ἐγώ. Κλ. καὶ μὴν τόδ' εἰπὲ μὴ παρὰ γνώμην ἐμοί. Αγ.γνώμην μὲν ἴσθι μὴ διαφθεροῦντ’ ἐμέ. Κλ. ηὔξω θεοῖς δείσας ἂν ὧδ’ ἔρδειν τάδε; Αγ. εἴπερ τις, εἰδώς γ’ εὖ τόδ’ ἐξεῖπον τέλος. Κλ. τί δ’ ἂν δοκεῖ σοι Πρίαμος, εἰ τάδ' ἤνυσεν; Αγ. ἐν ποικίλοις ἂν κάρτα μοι βῆναι δοκεῖ. Κλ. μή νυν τὸν ἀνθρώπειον αἰδεσθῇς ψόγον. Αγ. φήμη γε μέντοι δημόθρους μέγα σθένει. Κλ. ὁ δ’ ἀφθόνητός γ’ οὐκ ἐπίζηλος πέλει. Αγ. οὔτοι γυναικός ἐστιν ἱμείρειν μάχης. Κλ. τοῖς δ’ ὀλβίοις γε καὶ τὸ νικᾶσθαι πρέπει. Αγ.ἦ καὶ σὺ νίκην τήνδε δήριος τίεις; Κλ. πιθοῦ· κρατεῖς μέντοι παρεὶς ἑκὼν ἐμοί. Αγ. ἀλλ' εἰ δοκεῖ σοι ταῦθ’, ὑπαί τις ἀρβύλας λύοι τάχος, πρόδουλον ἔμβασιν ποδός.

918 919 920 925 930

935

940

945 (Aeschl. Ag. 914–945)

Diese Manipulation wird plausibilisiert, indem sich die Gesprächspartner auf sprachstruktureller Ebene synchronisieren: Klytaimestra imitiert Agamemnons Wortstellung und drängt ihm dann ihre Satzstruktur auf (s. Unterstreichungen im Textbeispiel).82 Somit vermittelt sie Agamemnon, ihn zu verstehen und mit ihm zu sympathisieren, worauf er in 932 eingeht.83 In 933 versucht Klytaimestra schließlich einen Fall zu konstruieren, in welchem Agamemnon tatsächlich ohne Bedenken auf die Gewänder steigen würde: Sie reagiert auf seine vorausgehende Rede und fragt, ob er sich in einem Moment der Furcht84 nicht von den Göttern gewünscht hätte, lieber dies zu tun als die damalige Situation in Aulis zu erleben. Damit lässt sie sich auf eine Ebene mit Agamemnon ein und nähert sich thematisch an seine Rede an.85 In 935 bringt Klytaimestra Priamos ins Spiel und fragt Agamemnon, was jener getan hätte. In der Tat

|| 82 Seit Neuestem bietet Emde Boas 2017 eine Konversationsanalyse dieser Zeilen. 83 Zur Synchronisation um Sympathie willen s. Ireland 1974, 513. 84 Hiermit ist wohl Iphigenies Opferung in Aulis gemeint, s. Conacher 1987, 37. 85 Vgl. die fehlenden Götteranrufe in Klytaimestras Reden zuvor.

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können wir in 934 und 936 beobachten, dass Agamemnon bereits ein Stück von seiner Position abrückt und erneut ihre Sprachstruktur aufgreift, d.h. ihren Irrealis aus 933 und 935. Er sagt εἰδώς γ᾽εὖ: ‚wenn jemand wirklich gut Bescheid weiß und es als Pflicht darstellt, [sc. dann würde ich es tun]‘86, beendet also Klytaimestras Satz aus 935 ohne Partikel und führt ihn logisch fort:87 ἂν κάρτα μοι βῆναι δοκεῖ (936). Damit sind die Charaktere nun auf gedanklicher und sprachlicher Ebene synchronisiert. Nachdem Klytaimestra hiermit das erste Problem, nämlich das ihrer Gottlosigkeit, aus dem Weg geräumt hat, widmet sie sich in 937 dem zweiten, vielleicht größeren Problem: Sie veranlasst Agamemnon dazu, sich nicht durch menschliche Angelegenheiten von dem abhalten zu lassen, was er tun kann. Dieser Aufforderung entgegnet Agamemnon allerdings noch nicht nach Klytaimestras Willen, denn er hegt noch Zweifel: φήμη ... μέγα σθένει (938).88 Ireland89 betont die zunächst noch fehlende Verwendung von Partikeln durch Agamemnon, im Gegensatz zu Klytaimestra, die sich um rezipientenbezogene Vermittlung ihrer Fragen durch drängende logische Partikeln bemüht (931– 936); hier (937) beobachtet er, dass Agamemnon an dieser Stelle zum ersten Mal den Dialog anführt und macht dies vor allem an γε μέντοι fest. In der Tat können wir ab 939 einen anderen Gebrauch der Partikel bei Klytaimestra feststellen, da sie nun vor allem auf Agamemnon reagieren muss. Sie antwortet auf Agamemnons Einwand mit einem adversativen δέ, um eine gegensätzliche Meinung einzuführen, und spiegelt Agamemnons Verwendung des γε (s. Hervorhebungen im Textbeispiel).90 Dies ist offensichtlich unüblich und unschicklich, denn in 940 quittiert Agamemnon es mit einem Kommentar, der sie in die Schranken ihrer Geschlechterrolle weist: Eine Frau solle keinen Streit suchen (οὔτοι γυναικός ἐστιν ἱμείρειν

|| 86 Denniston & Page vermuten, dass hiermit ein Priester oder ein Orakel gemeint sei. Dies ist wohl anzunehmen, zumal es mit dem Hinweis θεοῖς (933) korreliert, s. Denniston/Page 1957, 152. 87 Zur parataktischen Weiterführung der Stichomythie s. Ireland 1974. 88 Seine Ablehnung wird besonders deutlich durch den intensiven Gebrauch von γε μέντοι. Dies signalisiert zumeist die Einführung einer Ablehnung in einem Dialog, die vehement wirkt, s. Denniston/Dover 1954, 412, zur Verwendung von γε in Ausdrücken des Zorns und im scharfen Kontrast zum vorher Gesagten, s. Drummen 2016, Bd. III.5 §51–52. 89 Ireland 1974, 515. 90 Auch mit Seidensticker 1971, 188 ist auf die pragmatische Färbung der Stichomythie durch Partikel von 937 an hinzuweisen.

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μάχης).91 Sein Argument ad hominem zeigt schon an, dass er persuasiv erschöpft ist. Klytaimestra trifft allerdings Agamemnon mit ihrer Aussage, dass die Erfolgreichen es nicht nötig haben, in allem zu gewinnen (941), in seinem Stolz. Der erneute Gebrauch der Partikel δ᾽ – γε kennzeichnet eine scharfe Erwiderung. In 942 wird mit Agamemnons Erkenntnis, dass Klytaimestra sich hier sehr hartnäckig gibt, sein Nachgeben bereits festgestellt; im folgenden Vers (943) muss Klytaimestra zum Triumph nur noch πιθοῦ sagen.92 Seine Antwort bestätigt, was der Zuschauer bereits am Anfang der Stichomythie vermutet hat, und mehr: Agamemnon gibt nicht nur nach, sondern imitiert mit ἀλλ᾽ εἰ δοκεῖ σοι auch Klytaimestras Wortstellung (ἐμοί 943). Dies lässt sich als klarer Sieg ihrerseits werten: Sie hat ihm sogar die Wortstellung und Struktur ihrer Formulierung aufgedrängt.93 Er sagt später von sich selbst: ἀκόυειν σοῦ κατέστραμμαι τάδε (956), was bestätigend auf die rhetorische Fertigkeit Klytaimestras verweist. Sowohl Klytaimestras πιθοῦ (943) als auch Agamemnons κατέστραμμαι (956) dienen als explizite Marker, um die Zuschauer auf das Ergebnis der Manipulation und Persuasion hinzuweisen.94 Durch Agamemnons Aufrichtigkeit kann das Verhör genau zu Klytaimestras gewünschtem Ergebnis führen.95 Auch in den Choephoren, dem zweiten Stück, das in Argos spielt, findet sich unaufrichtige und misslingende Kommunikation. Zunächst ist die aussagekräftige Tatsache von Bedeutung, dass Orest sich bei seiner Rückkehr nach Argos

|| 91 Die Partikel τοι hat eine stark persuasive Wirkung gegenüber den Gesprächspartner nach Denniston/Dover 1954, 537–539, vgl. Drummen 2016, Bd. III.4 §58: „an appeal to the addressee, who is strongly encouraged to take note of, and believe, the statement being uttered“. 92 Ungeachtet der crux stellt sich doch auch das sicher erhaltene ἐμοί am Ende von 943 als strukturelles persuasives Merkmal dar, das wiederum Agamemnons Wortwahl aus z.B. 919 imitiert. 93 Vgl. Ἀλλά (944) am Beginn von Agamemnons nachgiebiger Antwort, um die Zwanghaftigkeit der Zustimmung zu bezeichnen. S. Denniston/Dover 1954, 17, vgl. Drummen 2016, Bd. III.4 §53: „If a speaker cannot or does not want to provide an answer to a question, grant a request, or otherwise utter a preferred response to a certain first pair part, the response tends to be formally marked. Dispreferred responses are less straightforward in form in English conversation […]. Speakers of dispreferred responses tend to start speaking after a pause, use turn-initial discourse markers, be indirect in their formulation, and give accounts for why they do not answer, grant, accept, or obey“, s. insbesondere Drummen 2009. 94 Diese Manipulation misslingt Klytaimestra mit Kassandra (1035–1071), als Klytaimestra scheitert, da diese nur schweigt und nicht auf Klytaimestra eingeht, s. Pelling 2005, 98. 95 S. Käppel 1998, 156 für die Stichomythie als Verhör Agamemnons durch Klytaimestra.

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(Choeph. 653–782) zusammen mit Pylades als Reisender ausgibt und einen anderen Dialekt annehmen muss, um nicht erkannt zu werden (564–565).96 Sprache dient also als Erkennungszeichen, das zum Zweck der Täuschung kaschiert werden muss, auch wenn dies nicht auf der Bühne ausgespielt wird.97 Als Orest von Klytaimestra aufgenommen wird, wird wieder mit dem Begriff des τέκμαρ aus dem Agamemnon gespielt, indem Orestes ans Ende seiner Begrüßungsrede die Gnome εἶπε θαρσήσας ἀνὴρ / πρὸς ἄνδρα κἀσήμηνεν ἐμφανὲς τέκμαρ setzt (667– 668). Auch hier wird τέκμαρ negativ und trügerisch verwendet. Der falschen und ambigen Ansprache des Orestes begegnet Klytaimestra ihrerseits mit der Lüge, dass ihr Haus gastfreundlich und von Gerechten bewohnt sei (668–673). Hier wird dem Zuschauer praktisch vorgeführt, wie zwei Charaktere aneinander vorbeireden und unaufrichtig kommunizieren, was der Chor in einem Zwischenlied explizit konstatiert, wenn er die Πειθὼ δολίαν (726) anruft. Diese Art der Πειθώ wird im dritten Epeisodion (838–934) leicht verändert weitergeführt, da Klytaimestra nun zwar Orestes erkannt hat, aber in einer Stichomythie (908–930) versucht, ihn von ihrem Wohlwollen als Mutter zu überzeugen und somit davon abzuhalten, sie zu töten. Jedoch scheitert Klytaimestra in diesem Bestreben und kann somit ihre trügerische Manipulation aus dem Agamemnon nicht weiterführen.98 Auf sprachlicher und argumentativer Ebene wird dies so dargestellt: Wie in ihrer Rede an Agamemnon zuvor bemüht sich Klytaimestra in der Stichomythie, Orest ihre gute Mutterschaft99 in Erinnerung zu rufen.100 Orest geht zwar auf Klytaimestras Begriffe ein, prägt sie aber negativ um, um ihre schlechten Absichten als Mutter aufzuzeigen und sie zu beschuldigen.101 Dies ist auch auf syntaktischer Ebene abgebildet, da Orest die Aussagen seiner Mutter mit parataktischen, gegen ihre Aussagen gerichteten Konstruktionen anreichert, als Einziger konnektive Partikeln verwendet und somit rhetorische Überlegenheit

|| 96 Zu dieser Täuschung aus Angst vor Aegisth in Euripides’ Elektra s. Hesk 2000, 112–113. 97 Zum Attischen auch bei nicht-attischen tragischen Charakteren s. Sommerstein 2008, 285 Anm. 119. 98 Zu der Tatsache, dass Orests Entscheidung bereits vor der Stichomythie feststeht, vgl. Käppel 1998, 226–228. 99 Zur „Familiensprache“ in der Orestie allgemein s. Chesi 2014. 100 Aeschl. Choeph. 910; 912; 914; 918; 920; 922; 924; 928. Zu Klytaimestra als schlechter Mutter aus Orestes’ Sicht, s. Chesi 2014, 99–110. 101 Aeschl. Choeph. 909; 911; 913; Seidensticker 1971, 190.

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anzeigt (908–913).102 Auf sprachlicher Ebene wird durch den geschickten Gebrauch von Konnektoren und parataktischen Zusätzen gespiegelt, wie ein Charakter die Argumentation durch in seinem Sinne erklärende Beifügungen dominiert und wie Klytaimestras Täuschung scheitert. Tάλαινα Πειθώ und Πειθώ δολία zeichnen sich also durch zwei Dinge aus: 1) die ambige und dadurch negative Konnotation des semantischen Feldes in den Persuasionsszenen, v.a. bedingt durch das Mehr-Wissen des Zuschauers und 2) durch die Überlegenheit eines Charakters, der durch Umdeutung der Begriffe und Dominanz über die Satzstruktur die Stichomythie anführt. Dies trägt zum tragischen Effekt bei und stilisiert Argos als einen Ort, an dem keine aufrichtige Kommunikation möglich ist.

4 Polis-Rhetorik in Athen Die Eumeniden beginnen in Delphi vor Apollos Heiligtum. Dort findet die erste rhetorische Auseinandersetzung zwischen Apoll und den Erinyen statt (179–253). Bereits hier wird die Notwendigkeit des Gerichtsverfahrens in Athen inszeniert,103 denn die Erinyen und Apoll stellen ihre entgegengesetzten Programme104 dar und können keine Einigung erzielen, auch wenn Apoll erfolgreich die Erinyen seines Tempels verweist. Hierbei wird die Aufmerksamkeit durch explizite Sprechakte105

|| 102 914–917 werden keine konnektiven Partikel verwendet, da sich die Charaktere gegenseitig beschuldigen (Ireland 1974, 518–519). Während Klytaimestra meint, Orest als Zeichen ihrer Fürsorge nach Phokis weggeschickt zu haben, wirft er ihr seinen ‚Verkauf‘ vor (915). Ab 918 versucht Klytaimestra durch semantisches Aufgreifen von Begriffen – wohlgemerkt aber nicht durch parataktische Zusätze – Orest zu widerlegen, doch kapituliert sie in 922 konstatierend mit κτενεῖν ἔοικας […]. Hierauf antwortet Orest mit einer Zurückweisung der Schuld (923) und reagiert auf ihre weiteren Äußerungen mit begründenden Partikeln (925. 927). Orest hat somit auch das letzte Wort (930), in welchem er Klytaimestras Schicksal mit ihren Verbrechen begründet. 103 S.a. 81–82. S. Grethlein 2003, 236 für die Wichtigkeit der „Polisgerichtsbarkeit“. 104 Vgl. Apolls Betonung der göttlichen Gesetze gegen den Gattenmord und Athenes mächtige Stellung in diesem Fall (213-224) sowie seine Charakterisierung der Erinyen als verunreinigt und verabscheuungswürdig (179-197); dagegen vgl. die Beschuldigung Apollos durch die Erinyen als allein schuldig am Muttermord (200) und ihre Betonung ihrer göttlichen Würde (227, vgl. 155177). Vgl. Grethlein 2003, 208-210. 105 Aeschl. Eum. κελεύω 179, ἐλαύνομεν 210, οὔ τι μὴ λίπω ποτέ 225, δίκας/μέτειμι τόνδε φῶντα 230–231.

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und sprachstrukturierende Elemente, also Metapragmatik,106 stark auf die Rhetorizität107 der Charaktere gelenkt. Hinzu kommt, dass anders als in den ersten beiden Tragödien die Satzstruktur des Gesprächspartners nicht im eigenen Sinne weitergeführt wird, sondern der Gesprächspartner die Möglichkeit bekommt, zu antworten (201–212). Denn obwohl die Charaktere sich hier um rhetorische Selbstdarstellung bemühen, sind die Verhältnisse zwischen den Gesprächspartnern ganz anders als in den Beispielen im Agamemnon und den Choephoren: Beide sind göttlicher Herkunft, und keiner der beiden hat einen Wissensvorsprung, der bei der Persuasion einen Vorteil bringen würde. In dieser Szene geht es um den Austausch von Ansichten und Argumenten, nicht um wahr oder falsch108 oder das Vorspiegeln einer Tatsache um der eigenen manipulativen Agenda willen. Insofern kann auch das Publikum hier kein Mehr-Wissen anwenden, denn es wird ein Dilemma vorgeführt: Zwei Parteien, die sich partout nicht einigen können. Dadurch wird das Publikum mit der Richterrolle konfrontiert109 und mit Informationen für den späteren Konflikt vor Gericht versorgt110 (bes. 201–212). Obwohl Rhetorik hier also nun aufrichtig wird, kann sie aufgrund fehlender Rahmenbedingungen den Konflikt noch nicht lösen. Diese Bedingungen werden in Athen gegeben sein, denn in Orests HikesieRede (235–298), die geprägt ist von einem aufrichtigen und unterwürfigen Bericht seines Sühneweges (279–285), finden sich Hinweise auf die positive Sicht auf Rhetorik in Athen.111 Offensichtlich geht es Orest darum, als Nicht-Athener und Asylsuchender seine angemessene Rhetorik zu betonen; dies ist besonders wichtig, da er aus einer Stadt kommt, in der Sprache entweder zweideutig oder wirkungslos war.112 Er wird somit nach dem zweiten Teil seiner Hikesie in Athen als Supplikant aufgenommen.

|| 106 Aeschl. Eum. ἀκούετε 190, ἀντάκουσον 198, τοσοῦτο μῆκος ἔκτεινον λόγου 201; Michelini 1974. Zu dieser Methode bei Euripides s. Scodel 1999, 138–139. 107 Zu diesen Ausdrücken als performance-Markern vgl. Scodel 1999. 108 „Interestingly enough, it is not a dispute over the ‘facts’“ (Kane 1986, 105). 109 Bakewell 2013, 152. 110 Winnington-Ingram 1983, 119. 111 διδαχθείς … ἐπίσταμαι / … λέγειν ὅπου δίκη / σιγᾶν θ᾽ ὁμοίως (276–278). 112 Zugleich weist seine Rede Metapragmatik der Hikesie und strukturierten Rede auf, die den offiziellen Rahmen der Hikesie begründet (ἥκω 236, πρόσειμι δῶμα καὶ βρέτας τὸ σόν 242, ἀναμένω τέλος δίκης 243, πολὺς δέ μοι γένοιτ᾽ ἂν ἐξ ἀρχῆς λόγος 284, καλῶ ἀφ᾽ ἁγνοῦ στόματος εὐφημῶς 287, s. Scodel 1999, 138. Außerdem erfüllt sie z.B. den Topos der möglichen Aufenthaltsorte des Gottes. S. Sommerstein 1989, 133, vgl. auch Grethlein 2003, 212.

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In Athenes Ankunftsrede wird das Konzept der γλῶσσα ἀγαθή vorweggenommen und Athene als „mediatrix“113 stilisiert: Sie richtet sich ausdrücklich gleichermaßen an beide Gäste (408) und betont, dass es Unrecht sei, andere grundlos zu verleumden (414–415). Auch praktisch hält sie diese Klarheit ein, indem sie ihre einzelnen Gedanken säuberlich mit δέ114 trennt, Unterscheidungen durch μὲν – δέ (407) bzw. οὔτοι – οὔτοι (411–412) trifft und die Gleichheit der Gesprächspartner durch τε … τε (408–409) heraushebt. In der Stichomythie, in der sie den Erinyen einige Fragen zu ihrem Hintergrund und dem Anlass ihrer Anwesenheit stellt (415–435), werden jedoch ihre entgegengesetzten Ansätze deutlich. Die Erinyen strukturieren ihre allererste Vorstellung als Kinder der Göttin Νύξ (416–417) zwar klar mit rhetorischen Floskeln115, welche Athene aber mit Skepsis116 und mit weiteren Nachfragen quittiert: Die Betonung ihrer Abstammung von der Göttin Νύξ muss in Athen deplatziert wirken. Als die Erinyen Orests mögliches Motiv für den Muttermord mit einer Rückfrage kritisieren (427), wehrt Athene diesen Beeinflussungsversuch ab mit der Aussage, dass sie erst die halbe Wahrheit kenne (428) und dass ein unrechtmäßiges Argument nicht durch Schwüre gewinnen könne (432). Es findet also eindeutig eine Zuschauerlenkung statt, indem Athene eine neue Art der Kommunikation einführt und bereits hier Verstöße gegen die prozessualen Konventionen tadelt. Nun wollen die Erinyen, dass Athene richtet (433), und sie wendet sich an Orest mit der Aufforderung, ἐν μέρει (436) und εὐμαθές τι (442) zu sprechen.117 Orest passt sich diesem Maßstab der Aufrichtigkeit an, indem er seine Tat nicht leugnet, seine Rede ebenfalls strukturiert, einen Beglaubigungstopos einfügt und die Kürze seiner Antwort betont.118 Auch er bittet Athene um einen Richterspruch (468).

|| 113 Kane 1986, 107. 114 Aeschl. Eum. 406; 407; 410; 413. 115 τιμάς γε ... πεύσῃ τάχα (419); πεύσῃ τὰ πάντα συντόμως (415), zum Topos der konzisen Rede vgl. u.a. Aeschl. Ag. 629; Soph. Ant. 446; Eur. I.A. 1249; Isocr. 4,64; 106; 10,30; Aristot. Rh. 1407b11–13. 116 Aeschl. Eum. μάθοιμ᾽ ἄν εἰ λέγοι τις ἐμφανῆ λόγον (420); Hierdurch wird dem Zuschauer wieder der τέκμαρ-Diskurs aus dem Agamemnon in Erinnerung gerufen. 117 Zu diesen Maßstäben s. Lys. 1,5; Demosth. 37,3, zitiert bei Rossi 1999, 205. 118 οὐκ ἀρνήσομαι 463; πρῶτον 443, μέν – δέ 453–454, δέ 447; 455; 468; τεκμήριον ... σοι λέξω μέγα 447; πεύσῃ τάχα 454. Zum brevitas-Topos, s. Plat. Prot. 329b; 335a–c; Gorg. 449bc; sowie vgl. συντομία bei Zenon (SVF II 302; 310). Vgl. auch Quint. inst. 4,2,31 für Berichte über συντομία als Redetugend bei Isokrates.

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Neben der eindeutig positiveren Charakterisierung des Orest119 scheint dieser sich besser an die Gepflogenheiten des neuen Ortes anpassen zu können. Er kann bereits eine Verbindung mit Athene aufweisen und braucht nicht erst eine Einweisung in das Konzept der gleichberechtigten Anhörung wie die Erinyen; hinzu kommt, dass er bereits wie vor Gericht eine Rhesispartie bietet und sich explizit an den Standard der Klarheit (420; 442; 447) hält.120 Trotz dieser Charakterisierungen, die sich vor allem an das Publikum richten, bleibt der Grundkonflikt der Meinungen ein Dilemma, für welches Athene einen Prozess einberuft121 und weitere Beweise122 fordert. Das Gerichtsverfahren (566–575)123 instruiert Athene unter dem Hinweis auf den Nutzen für die gesamte Polis124 (πόλιν τε πᾶσαν 572).125 Es folgt eine „Inquisitions-Stichomythie“,126 in der die Erinyen in ihrer Darstellung erneut auf rhetorische Standards zurückkommen, wenn sie eine konzise Rede versprechen (585) und eine genaue und aufrichtige Antwort von Orest verlangen (586).127 Tatsächlich fragen sie in der Stichomythie zunächst nach den Fakten (587–595), kommen aber bald auf die Essenz des Prozesses zu sprechen: Zählt Blutsverwandtschaft mehr als der Ehebund (599–608)? Diese letzte Frage drängt Orest in Verlegenheit und er muss auf Apoll verweisen (609–613). Hierin wird wiederum der veränderte Charakter der Kommunikation deutlich: Trotz unterschiedlicher Meinung und agonaler Ausgangssituation128 wird in

|| 119 Etwa durch die Anrede mit ἄνασσ᾽ Ἀθάνα (442), die Schilderung seines Reinigungsweges (461–469), Athenes Verbindung mit Agamemnon vor Troja (455ff.), die Darstellung seiner Tat als Reaktion (ἀντικτόνοις 464) sowie Apolls Mitschuld (ἐπαίτιος 465). 120 Vgl. Eum. 276–279. 121 αἱροῦμαι … δικαστάς (482a–483), κρίνασα ... ἥξω (488). 122 μαρτύριά τε καὶ τεκμήρια (485). 123 Hier folge ich mit Sommerstein 1989, 189–190 Wieselers Attribution der Verse 574–575 an Athene, da die erste Äußerung der Erinyen in 585 eindeutig vermittelt, dass sie sich in diesem Rahmen noch nicht geäußert haben. 124 Vgl. Sommerstein 1989, 186. 125 Sie bestimmt eine feste Struktur für den Ablauf und fordert von dem ersten Sprecher, dem Verfolger, Vollständigkeit der Informationen (ὁ γὰρ διώκων πρότερος … ὀρθός …διδάσκαλος 583f.). Vgl. Rossi 1999, 203 und 206 mit Hinweis auf diesen Topos bei Lysias und Demosthenes. Für eine kurze Skizze der Kritik an der positiven Darstellung und Legitimität des Gerichtsverfahrens s. Grethlein 2003, 232ff., für Literatur zur Wichtigkeit des Geschlechtes der Ermordeten s. Chesi 2014, 161, Lebeck 1971, 137 mit fragwürdiger Interpretation des Gerichtsverfahrens als Parodie. 126 Seidensticker 1971, 192. 127 Vgl. Athene an Orest 436. 128 Grethlein 2003, 238.

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einer klassischen Stichomythie129 ein Austausch von Fakten und Weltbildern inszeniert, in dem es nicht darum geht, den Gesprächspartner täuschend zu beeinflussen, sondern Informationen einzuholen und somit den anderen Anwesenden, also den Richtern und auch dem Publikum, ein Vehikel zur Urteilsfindung an die Hand zu geben. Dass dabei auf möglichst gute Selbstdarstellung geachtet wird, muss kein Kritikpunkt für das zeitgenössische Publikum sein.130 Im Gegensatz zur Täuschung im Agamemnon bleibt Orest aufrichtig und leugnet seinen Mord nicht (611); jedoch braucht er Apoll, um seine Sicht der Dinge darzulegen. Dieser passt sich in seinem rhetorischen Auftritt explizit an den strukturellen Rahmen131 an, indem er den Anfang seiner Rede markiert und Athen schmeichelt. Er betont ausdrücklich die Aufrichtigkeit seiner Aussage und benutzt Zeus als Beglaubigungstopos für seine Handlung (618; 620–621). 132 Nachdem die Erinyen in einer im realen Prozess unmöglichen Unterbrechung133 nachgefragt haben, ob Zeus tatsächlich die Missachtung der Mutter verursacht habe (622–624), schließt Apollo Gründe an, warum Klytaimestras Tat schlimmer war als Orests: Agamemnon kam als männlicher König durch die Hand einer Frau zu Tode (625–639).134 Dieser Argumentation gibt er einen faktischen Anstrich, indem er zweimal γάρ benutzt (631; 625) und Agamemnon mit homerischen Beiwörtern (παντοσέμνου, στρατηλάτου νεῶν 637) schmückt. Seine Darstellung135 begründet er mit dem Aufrütteln der Richter (639–640) – ein sehr deutliches Zeichen für rhetorische Einflussnahme. Darauf antworten die Erinyen mit der Kritik, dass Zeus also den Vater höher schätze, obwohl er doch selbst seinen Vater überwältigt hat, und halten ihre Widerlegung explizit für die Richter fest (640–643). Dies veranlasst Apoll, die Erinyen zu beleidigen (644) und Zeus’

|| 129 In Formulierung und Begrifflichkeit greift der Antwortende die Frage auf: κατέκτονας / ἔκτεινα (587–588); παλαισμάτων / οὐ κειμένῳ (589–590); λόγον / εἰπεῖν … / … λέγω (590–592). Vgl. Seidensticker 1971, 189. 130 Rossi 1999, 207 bes. Anm. 47 mit Hinweis auf die ἠθοποιία. 131 Vgl. Rossi 1999, 204 für Apollos Beherrschung des juristischen Vokabulars, was von den Erinyen kaum gesagt werden kann λέξω πρὸς ὑμᾶς 614; τόνδ᾽ Ἀθηναίας μέγαν / θέσμον (614– 615). 132 μάντις δ᾽ ὢν οὐ ψεύσομαι (615). 133 S. Rossi 1999, 204 für die wichtige Beobachtung, dass die Erinyen Apollo effektiv dreimal unterbrechen (622–624; 640–643; 652–656). Mit Sommerstein 1989, 197 bemerkt sie die Unmöglichkeit einer solchen Unterbrechung vor einem realen Gericht. 134 Vgl. Sommerstein 1989, 200. 135 Nach Pages Text in 638, nämlich Weils τὴν δ᾽ αὖ τοιαύτην, wäre Klytaimestra gemeint; ταύτην als auf die Rede an sich bezogen verteidigt mit guten Gründen Sommerstein 1989, 202.

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Tat kleinzureden: Zeus habe seinen Vater lediglich gefesselt (πέδας 645).136 Doch ist das Argument der Erinyen nicht schwach.137 Nach einer dramatischen Darstellung von Agamemnons Tod138 durch Apoll fällt modernen Interpreten freilich auf, dass seine Strategie manipulativ wirkt, zumal er Zeus’ Allmacht deutlich betont (649–651).139 Doch diese Technik war ein normales Vorgehen in offiziellem Rahmen und Struktur des Gerichtsverfahrens (welche die Erinyen durch ihre Unterbrechung missachten):140 Denn beiden Parteien wird generell die Möglichkeit gegeben, zu sprechen und ihre Sicht der Dinge zu vermitteln. Es ist dabei zu erwarten, dass jede Seite ihre Argumentation möglichst gut und wirkungsvoll gestalten möchte.141 Auf die spöttische Anmerkung der Erinyen, dass Orest ohne Sühne nirgends hingehen könne (652–656), antwortet Apollo mit dem weithin als schwach angenommenen Argument, dass die Mutter nicht wichtig, nämlich nur das Gefäß der männlichen Gene sei,142 und nimmt Athene als Beweis hierfür.143 Dies unterstreicht er mit einer deutlichen Strukturierung seiner Rede und der Beteuerung von Aufrichtigkeit.144 Er betont seine Außenwirkung durch die positive Darstellung Athens und das Versprechen ewiger Treue Orests.145 Zudem wurde Apollos Bevorzugung des väterlichen Blutes seit Anfang der Eumeniden146 vorbereitet, indem er die Rolle des Lebensspenders mit dem Vater verbindet, was sowohl für Athene als Stimmberechtigte als auch – zunächst – dem Publikum die Idee des Vaters als Stammhalter überzeugend klingen lässt.147 Der Erfolg dieses Argu-

|| 136 Vgl. Hom. Il. 14,203–204. S.a. Sommerstein 1989, 204. 137 Sommerstein 1989, 203. 138 οὔτις ἔστ᾽ ἀνάστασις 648; αἷμ᾽ ἀνασπάσῃ κόνις 647. 139 S. Grethlein 2003, 240. S.a. Pelling 2005, 19, bes. Anm. 74. 140 S. Carey/Reid 1985, 10 mit relevanten Parallelstellen aus Lysias und Demosthenes. 141 S.a. Rossi 1999, 207 für die negative Zeichnung des Kontrahenten als Topos. 142 Vgl. Grethlein 2003, 242, Sommerstein 1989, 206–210, der vermutet, dass das Argument nicht unbedingt als überzeugend vom Publikum angesehen werden musste, aber doch auf die Existenz einer solchen Theorie des Anaxagoras (s. Aristot. G.A. 763b31–33) hinweist; Pelling 2000, 174. 143 Pelling 2000, 175 Anm. 48. 144 καὶ τοῦτο λέξω, καὶ μάθ᾽ ὡς ὀρθῶς ἐρῶ (657), τεκμήριον δὲ τοῦδέ σοι δείξω λόγου (662) – ein Zeichen seiner performance im institutionalisierten Rahmen. S. Rossi 1999, 206. Vgl. Scodel 1999, 138. 145 τὸ σὸν πόλισμα καὶ στρατόν τεύξω μέγαν (668); πιστὸς ἐς τὸ πᾶν χρόνου (670); s. Carey/Reid 1985, 10. 146 89 an Orest; 579–580; 665 an Athene. 147 S. hierzu überzeugend und ausführlich auch zur Mutterlosigkeit der Athene Chesi 2014, 162–168.

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ments muss zudem innerhalb des Stückes selbst nicht unplausibel wirken,148 auch wenn das Argument an sich in der Lebenswirklichkeit umstritten war:149 Aischylos führt uns einen Verteidiger vor, der eine Technik sehr gut beherrscht, nämlich die der Anpassung an den Rezipienten. Das Mutterschaftsargument ist deshalb gut, weil es Athene überzeugt und eingebettet ist in eine konkrete Argumentation, die sich um einiges besser in den Athener Kontext einfügt als die blutige Darstellung der Erinyen. Hierauf drängt Athene zur Abstimmung (675).150 In Athenes konstitutiver Rede für den Areopag mit Bitte um eine faire Abstimmung (681–710)151 sind für unsere Untersuchung der Rhetorik zwei Aspekte wichtig: Athene betont die Unbestechlichkeit der Richter (704) sowie die Beteiligung der Bürger (708) und führt die angemessene Art zu reden durch explizite Strukturierung vor.152 Während der Abstimmung der Richter (711–733) wird eine Stichomythie mit jeweils zweizeiligen Antworten zwischen Apoll und den Erinyen geboten. Auch wenn die ersten Richter bereits abstimmen,153 so ist diese Stichomythie doch ein weiteres Mittel zur Charakterisierung der Redner im inneren Kommunikationssystem und zur Plausibilisierung des Richterspruches im äußeren Kommunikationssystem. Die Erinyen beginnen die Auseinandersetzung mit einer Androhung unangenehmer Konsequenzen (709–710), die Apollo mit dem Hinweis auf die Legitimität des Zeus und damit seiner eigenen Orakel kontert (713–714). Dies wird sowohl in der fiktiven als auch in der realen Athener Gegenwart sympathischer scheinen als die Drohung der Erinyen.154 Hinzu kommt, dass beide Seiten schwache Argumente155 bringen oder die Argumentationsschwäche des Gegners nicht

|| 148 Carey/Reid 1985, 11. 149 Bernhardt 2015, 330. 150 Interessanterweise bietet Apollo uns hier einen Hinweis auf seine bewusste Rede durch selbstreflexive Metapragmatik, indem er sagt ἡμῖν μὲν ἤδη πᾶν τετόξευται βέλος (674); die Erinyen hingegen sagen lediglich ἠκούσαθ᾽ ὧν ἠκούσατ᾽ (679). 151 Zur Rede an sich s. Sommerstein 1989, 216–218, der nach Besprechung aller möglichen Interpretationen von Athenes Warnung eine offene Interpretation bevorzugt, s. Braun 1998, für eine Interpretation der νομοφυλακία Solons als Zusatz. 152 καθίσταμαι 706, ταύτην μὲν ἐξέτειν᾽ (707). 153 Sommerstein 1989, 221. 154 Diese prophezeien etwa auch die Entehrung der apollinischen Orakel (μαντεῖα δ᾽οὔκεθ᾽ ἁγνὰ 716), was in Athen mindestens problematisch sein dürfte. S.a. 719–720. Bernhardt 2015, 330 Anm. 65 sieht 713–714 als Drohung; folgt man dieser Interpretation, so stellt sich die Drohung der Erinyen immer noch schädlicher für die Polis dar als Apolls Bestehen auf der Macht der Orakel. 155 Rynearson 2013, 9.

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erkennen.156 Daher kann der Schlüssel zu Apolls letztendlichem Erfolg einerseits in dem auf Athene bezogenen Argument der Vaterschaft und andererseits in der Sympathielenkung im inneren und äußeren Kommunikationssystem begründet werden. Apollos deutliche Verneinung des Erfolges der Erinyen (729) und seine kontrastive, siegessichere Aussage ἄτιμος εἶ σύ· νικήσω δ᾽ ἐγώ (722) erzeugt beim Rezipienten eine favorisierende Erwartungshaltung: Während die Erinyen drohen und sich so negativ darstellen, konzentriert sich Apollo auf seinen Sieg und auf dessen Außenwirkung; dadurch wird dieser plausibilisiert. Betrachten wir nun das Ergebnis der Abstimmung: Zunächst verkündet Athene ihre Stimme157 für Orest, mit der Begründung, dass sie keine Mutter habe und Männer höher achte (734–740).158 Athene kommentiert auch später den Ausgang des Prozesses mit ἀλλ᾽ ἐκ Διὸς γὰρ λαμπρὰ μαρτύρια παρῆν (797): Das von Apollo gewählte Argument war entscheidend. Dabei liegt es in der Hand der Richter und des Publikums, trotz Apollos angepasster und gelungener Rede diese Schwächen zu analysieren; im äußeren Kommunikationssystem kann dies zusätzlich zu einer Reflexion über die Schwierigkeiten, Implikationen und Gefahren solcher rhetorischer Auseinandersetzungen führen.159 An diesem Punkt des Dramas findet also trotz gleicher Sprachstruktur und Methode (vgl. die selbstreflexiven und selbstverortenden Aspekte im Agamemnon) weniger manipulative oder unaufrichtige Kommunikation statt als diskursive, dem agonalen Rahmen angepasste Rhetorik. Ihr Erfolg entscheidet sich anscheinend nicht über die Stärke oder Schwäche von Argumenten, sondern über die angemessene performance des Redners am Ort seines Auftrittes. Mit der Abstimmung ist der Konflikt mit den Erinyen jedoch noch nicht abgeschlossen, denn sie drohen weiterhin (782–783). Hier wird nun die letzte Entwicklung der πειθώ zu einer polisbezogenen, positiven Rhetorik vorgeführt: Denn Athene kommt nicht umhin, die Erinyen zu beruhigen und zur Eingliederung in die Polis zu überreden.160 Dies geschieht einerseits mit Argumenten, indem sie ihnen einen festen Platz in der Stadt und neue Funktionen als Fruchtbarkeitsgöttinnen anbietet (831–836), ohne dass sie dabei ihre gefährliche161

|| 156 Vgl. etwa die Ixion-Geschichte 717f. S. Pind. O. 2,21–48; S. Sommerstein 1989, 160; 227. Für die Übertreibung der Erinyen in 723–724 vgl. Scheer 1996. 157 Bakewell 2013, 159, der den Stimmstein als Requisite als materielle Repräsentation der ‚neuen‘ Ordnung sieht. 158 S. Sommerstein 1989, 229–230 mit der These, dass der Wert des Mannes für den οἶκος Athene besonders überzeugt. 159 Hierfür vgl. auch Grethlein 2003, 253, Winnington-Ingram 1983, 168–169. 160 oὐ γὰρ νενίκησθ᾽ … / … οὐκ ἀτιμίαι σέθεν (795–796). 161 949–955. Vgl. Grethlein 2003, 253.

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Komponente verlieren. Gegen die negative Sicht der Erinyen (778–792; 808–822), die v.a. auch die δόλοι der Götter als Grund ihres Scheiterns vorbringen, führt Athene positiv besetztes Vokabular an.162 Diese Wortwahl lässt die Überzeugung der Athene auch auf Zuschauerebene plausibel wirken. Auch mit expliziten Aufforderungen zur Einwilligung wird Athenes persuasiver Erfolg betont.163 Ihre Angebote verstärkt sie mit Selbstaussagen über ihre persönliche Rolle in der Akkommodation der Erinyen, oft mit performativen Sprechakten.164 Sie führt also die Merkmale der selbstreflexiven und selbstperformativen Rhetorik fort, die bereits in der Gerichtsverhandlung eine Rolle gespielt haben, die hier aber positiv besetzte Persuasion unterstreichen. Betrachten wir nun die Stichomythie der Szene, die zum endgültigen Erfolg führt: Αθ.ἀλλ᾽ εἰ μὲν ἁγνόν ἐστί σοι Πειθοῦς σέβας, γλώσσης ἐμῆς μείλιγμα καὶ θελκτήριον – σὺ δ᾽ οὖν μένοις ἄν· […] Χο.ἄνασσ᾽ Ἀθάνα, τίνα με φῂς ἔχειν ἕδραν; Αθ. πάσης ἀπήμον᾽ οἰζύος· δέχου δὲ σύ. Χο.καὶ δὴ δέδεγμαι· τίς δέ μοι τιμὴ μένει; Αθ. ὡς μή τιν᾽ οἶκον εὐθενεῖν ἄνευ σέθεν. Χο. σὺ τοῦτο πράξεις, ὥστε με σθένειν τόσον; Αθ. τῷ γὰρ σέβοντι συμφορὰς ὀρθώσομεν. Χο.καί μοι πρόπαντος ἐγγύην θήσῃ χρόνου; Αθ.ἔξεστι γάρ μοι μὴ λέγειν ἃ μὴ τελῶ. Χο. θέλξειν μ᾽ ἔοικας καὶ μεθίσταμαι κότου. Αθ. τοιγὰρ κατὰ χθόν᾽ οὖσ᾽ ἐπικτήσῃ φίλους. Χο. τί οὖν μ᾽ ἄνωγας τῇδ᾽ ἐφυμνῆσαι χθονί; Αθ. ὁποῖα νίκης μὴ κακῆς ἐπίσκοπα, […] Χο.δέξομαι Παλλάδος ξυνοικίαν […].

885

892

895

900

916 (Aeschl. Eum. 885–916)

|| 162 ἰσόψηφος (795), οὐκ ἀτιμίᾳ (796), λιπαροθρόνοισιν (806), τιμαλφουμένας (807); σεμνότιμος καὶ ξυνοικήτωρ (833), τἀκροθίνια / θύη (834–835), ἐραστήσεσθε (852), τιμίαν (854), εὐκλείας ἔρως (865), εὖ δρῶσαν (868); bereits in 830 wird jedoch klar, dass die Erinyen scheitern werden: Mit γλώσσης ματαίας μὴ ᾽κβάλῃς ἔπη χθονὶ lehnt Athene eindeutig die Flüche der Erinyen ab. 163 ἐμοὶ πίθεσθε (794); σύ δ᾽ εὐπιθὴς γ᾽ἐμοὶ / γλώσσης ματαίας μὴ ᾽κβάληις ἔπη χθονί (829–830); εἰ ἁγνόν ἐστί σοι Πειθοῦς σέβας / γλώσσης ἐμῆς μείλιγμα καὶ θελκτήριον (885–886). Hier sehen wir bereits, wie das πειθώ-Motiv zu einem Abschluss kommt, vgl. Rynearson 2013, 2. Vgl. die Häufung von μή in Athenes Reden 794; 801 2x; 824; 830; 831; 859; 861. 164 ἐγώ γὰρ ὑμῖν πανδίκως ὑπίσχομαι (804); ὀργὰς ξυνοίσω σοι (848); προυννέπω τάδε (852), ἐνοικίου ὄρνιθος οὐ λέγω μάχην (866); τοιαῦθ’ ἑλέσθαι σοι πάρεστιν ἐξ ἐμοῦ (867); οὔτοι καμοῦμαί σοι λέγουσα τἀγαθά (881).

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Während die Erinyen mehrmals betonen, dass sie durch die δόλοι der Götter unterliegen (846; 880), greift Athene diesen Einwand auf, wertet ihn aber unbemerkt positiv um, indem sie ihre Strategie eine positive Art der πειθώ nennt (s. 885–886,165 Hervorhebungen im Textbeispiel). Danach beginnen die Erinyen, Athene respektvoll anzusprechen (ἄνασσ᾽ Ἀθάνα 892)166 und stellen ihr Fragen, die Athene mit Privilegien, also positiven Begriffen beantwortet (s. Unterstreichungen im Textbeispiel). Als Athene sie daraufhin auffordert, anzunehmen (893), bemerken die Erinyen nach einer hypothetischen Zustimmung (894–895) den Erfolg von Athenes Argumentation (900)167 und willigen schließlich ein (916; s. Hervorhebungen im Textbeispiel). Athenes Überzeugung wird zusätzlich unterstrichen, indem die Erinyen in die Position der Fragenden gedrängt werden: Durch die Neugierde auf Athenes Versprechungen ist Athene ihnen überlegen und kann auf ihre Nachfragen mit einem Mehrwissen antworten (verstärkt durch Athenes γάρ, s. gepunktete Unterstreichungen im Textbeispiel). Erneut wird also eine unausgewogene Kommunikationssituation vorgeführt. Während dies sicherlich Persuasion ist, kann jedoch nicht von einer bösartigen Manipulation gesprochen werden – denn Athene wählt dieses Mittel genau, um Gewalt zu vermeiden.168 Ihre positive Wortwahl, die erotisches und rituelles Vokabular verwendet,169 unterstreicht dies und zeigt die Umdeutung zu einer positiven Rhetorik, die positive Auswirkungen auf die Polis hat. Nach einem Wortwechsel über die glückliche Zukunft der Erinyen in der Stadt (927–967) fasst Athene die Ereignisse zusammen in einer Rhesis, die in unserem Zusammenhang als zentral und als motivischer Abschluss betrachtet werden kann: στέργω δ’ ὄμματα Πειθοῦς ὅτι μοι γλῶσσαν καὶ στόμ’ ἐπώπα πρὸς τάσδ’ ἀγρίως ἀπανηναμένας.

970

|| 165 Rynearson 2013, 11–22 betont hier ausdrücklich die erotische Komponente der Überzeugung und macht dies v.a. an den Begriffen μείλιγμα καὶ θελκτήριον (886) fest. 166 So hatte sie vorher nur Orest angesprochen (235; 443). 167 Jedoch scheint mir in diesem Kontext der genuin erotische Aspekt weniger wichtig als derjenige, dass – wie Rynearson 2013 ebenfalls anführt – diese Begriffe durch die Trilogie hinweg als Synonyme für Götteropfer verwendet werden (s. Sommerstein 1989, 255). Eine erotische Färbung schwingt wohl sicherlich mit: Für die Möglichkeit einer bereits übertragenen, rhetorischen Verwendung würden aber z.B. Hom. Il. 15,322 τοῖσι δὲ θυμὸν ἐν στήθεσσιν ἔθελξε; Aeschl. Pr. 173–174 καί μ᾽ οὔτι μελιγλώσσοις πειθοῦς ἐπαοιδαῖσιν θέλξει sprechen. 168 Rynearson 2013, 2. 169 Rynearson 2013.

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ἀλλ’ ἐκράτησε Ζεὺς ἀγοραῖος, νικᾶι δ’ ἀγαθῶν ἔρις ἡμετέρα διὰ παντός 975 (Aeschl. Eum. 970–975)

Mit ἆρα φρονοῦσιν γλώσσης ἀγαθῆς ὁδὸν εὑρίσκειν (988–989) wird offiziell und explizit die positive Rolle der πειθώ in der Polis festgestellt; da Ζεὺς ἀγοραῖος (973) gesiegt hat, wird die feste strukturelle Verankerung der Rhetorik und damit auch der Konfliktlösung im öffentlichen Kontext der Polis betont.170 Athen erfährt somit nicht zuletzt durch die positive Rhetorik seiner Stadtgöttin eine sympathische und identitätsbestätigende Charakterisierung.

5 Schluss und Ausblick Die positiv dargestellte, diskursive Art der Rhetorik und Konfliktlösung konnte erst im öffentlichen Rahmen der Hikesie und der Gerichtsverhandlung in Athen beobachtet werden. Die Sprache der Charaktere hat sich dort – wie in Argos – durch verstärkende, explizite Aussagen über das eigene Sprechen und über dessen Erfolg ausgezeichnet. Ein neues Element in der Darstellung von Kommunikation war jedoch der diskursive Rahmen, in dem angemessene, an den Kontext angepasste Argumente zu gewinnen schienen. Denn im Gerichtskontext wurde nie gelogen, sondern im Rahmen der öffentlichen Rhetorik der – im inneren Kommunikationssystem – überzeugendste Aspekt eines wahren Argumentes gewählt, während in der finalen Szene sogar positive, wohlwollende Argumente für den Verbleib der Erinyen in Athen im Dienste der Polis bemüht wurden. Dies zeigt, dass die γλῶσσα ἀγαθή im Athen der Eumeniden demokratische171 und dadurch eben auch agonale sowie argumentativ schwach scheinende Züge trägt.172 Diese müssen nicht zwingend ein Problem darstellen,173 sondern sind durchaus Realität in einer Polis, deren Meinungsfindung mündlich stattfand.174 Durch den Kontrast zur negativ besetzten Rhetorik in Argos gewinnt somit tatsächlich die γλῶσσα ἀγαθή in Athen und Aischylos’ positives Athenbild in den Eumeniden an Kontur. Insofern kann die negative Darstellung von Argos als

|| 170 Grethlein 2003, 236 mit Anm. 126. 171 Rynearson 2013, 8 für die Reziprozität von Athenes Persuasion. 172 „It represents the triumph not of guile or violence, but of the good kind of πειθώ, a ‘persuasion’ that is rooted in oaths and rules, evidence and arguments“ (Bakewell 2013, 159). 173 Vgl. etwa Goldhill 1986, 46–46. 174 Kane 1986, 109.

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athenischer Blickwinkel auf das argivische Bündnis gesehen werden: Aufgrund von Athens Überlegenheit in Kommunikation, Konfliktlösung und Atmosphäre ist Argos auf Athen angewiesen, nicht etwa umgekehrt. Trotzdem besteht die Problematik des rhetorischen Erfolgs schwacher Argumente weiterhin. Näher zu untersuchen bleibt, ob sich der Erfolg von Rhetorik in der Tragödie häufiger – trotz lebensweltlich schwach scheinender Argumente – durch die passende, sich auf den unmittelbaren Rezipienten bezogene performance erklären lässt, oder anders gefragt: Ist scheiternde Rhetorik immer argumentativ schwach und benutzt erfolgreiche Rhetorik immer die besten Argumente?

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Paolo Cecconi

„Wer baute das siebentorige Theben?“ Breve riflessione sulle origini della colpa e della catastrofe Abstract: Thebes’ historical myths tell of its foundation in Boeotia by some immigrants from the East lead by a certain Cadmus, who mixed themselves with the native inhabitants of Boeotia. Such union of different people created the paradigm of a history of chaos and civil disorders, which has found numerous uses and adaptations in the works of ancient authors especially during the devastating crisis of the Peloponnesian War. The present study analyses the adaptations of the Theban saga in the Phoenician Women of Euripides, with the aim of evidencing his peculiar interpretation of the myth and of the reasons of the Theban crisis.

1 Introduzione Nelle sue „Fragen eines lesenden Arbeiters“ Bertolt Brecht chiede polemicamente „Wer baute das siebentorige Theben?“, cioè „chi costruì Tebe dalle sette porte?“ Sebbene Brecht risponda che Tebe sia stata costruita da semplici uomini della cui sorte a pochi interessa,1 cercare di dare un’altra risposta alla sua domanda attraverso il mito e con l’ulteriore scopo di ricercare le origini e le cause scatenanti

|| 1 „Wer baute das siebentorige Theben? | In den Büchern stehen die Namen von Königen. | Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? | Und das mehrmals zerstörte Babylon, | Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern | Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?“ Cit. Bertolt Brecht. || Nota dell’autore: Questo contributo deriva da un testo inizialmente presentato in tedesco con il titolo “Wer baute das siebentorige Theben? Ursache der Schuld und der Krise” nel Workshop Internazionale “Städte und Stadtstaaten zwischen Mythos Literatur und Politik” da me organizzato assieme al Prof. Christian Tornau a Würzburg il 28/29 Ottobre 2016. Ringrazio il mio mentore Christian Tornau per il suo appoggio e i suoi consigli e per la precisa revisione del presente contributo. https://doi.org/10.1515/9783110656893-005

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della crisi tebana è una difficile ma interessante questione che affonda nella relazione degli antichi con il loro passato.2 Le ragioni di questa difficoltà possono essere così riassunte: 1. lo stato frammentario delle fonti testuali dell’epos tebano;3 2. la storia della doppia fondazione di una città, oppure di due diverse fondazioni di due città, o infine delle fondazioni di due città diverse sullo stesso sito;4 3. le innovazioni delle fonti testuali più recenti (quali, per esempio, le tragedie) rispetto alle versioni più antiche del mito;5 4. la predilezione degli autori antichi per una precisa fonte mitica a scapito di un’altra che, a volte, sfocia nella creazione di un racconto nuovo;6 5. l’ampio arco temporale di più di mille anni coperto dalle fonti testuali della saga tebana da Omero a Nonno di Panopoli. Accanto a Troia, Tebe rappresenta il luogo di uno dei miti costituivi dell’identità culturale greca.7 Per questo motivo un’analisi della sua storia mitica richiede un’attenta selezione delle sue “presenze nella letteratura“, altrimenti è forse più semplice solo dell’analisi della presenza letteraria della città di Gerusalemme dalla Bibbia fino a David Grossman e Amos Oz. Questo contributo ha lo scopo di presentare alcune particolari caratteristiche della presenza di Tebe nelle Fenicie di Euripide. Le ragioni della scelta di questa tragedia risiedono nella sua particolare unicità tra le tragedie e, soprattutto, nei

|| 2 Sulla lunga storia dell’epiteto “dalle sette porte” E. Cingano nel 2000 ha evidenziato come questo sia rappresentativo dello stretto collegamento tra la città e la spedizione dei Sette, la quale a sua volta deriva da un rituale vicino-orientale molto più antico legato al mito del dio accadico della guerra Erra e dei suoi sette feroci aiutanti distruttori di città. Cfr. Cingano 2000, 141–147. 3 Per le più complete e recenti presentazione e discussione dei frammenti del ciclo epico tebano si vedano: Cingano 2015a e Cingano 2015b. 4 Questa doppia fondazione ha chiare evidenze non solo mitologiche ma anche e soprattutto archeologiche. Cfr. Müller 2013, 227–228; Berman 2004, 1–10. 5 La trasmissione dei miti tebani presenta così tanti cambiamenti e modifiche, soprattutto a opera degli autori ateniesi, che il nucleo originario della saga è assai difficilmente riconoscibile nelle opere successive. Cingano 2015a, 219–220. 6 Si segnalano le pagine di O. Olivieri, la quale, nel contesto di un’analisi della poetica di Pindaro, ha illustrato con chiarezza come le fonti antiche prediligano una precisa versione del mito di fondazione tebano: per esempio Omero cita Anfione e Zeto come fondatori mentre Pindaro rivela una forte preferenza per Cadmo. Cfr. Olivieri 2011, 24–27. 7 Bernardini 2000, 9–11; Cingano 2000, 127–128.

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suoi rapporti con la precedente tradizione epica;8 le Fenicie hanno infatti come oggetto l’intera saga tebana da Cadmo fino alla crisi dei Sette, ma bisogna anche considerare che: 1. l’epos tebano non è un semplice epos e, soprattutto, non è un epos unitario; la presenza di differenti versioni della narrazione mitica rende infatti possibile parlare di diversi epos.9 2. In quale misura e quanto Euripide abbia adattato e “innovato” la tradizione mitica è una domanda ancora aperta. Per poter meglio trattare la matrice mitica, lo sviluppo drammatico delle Fenicie vede sulla scena la presenza contemporanea di più piani narrativi e temporali;10 quindi il mio contributo si propone di analizzare l’uso drammatico e la funzione di questi per la narrazione degli sviluppi storici di Tebe. Infatti le Fenicie hanno la caratteristica di essere il dramma che usa la maggior quantità di materiale mitico rispetto agli altri e che armonizza in modo magistrale il forte contrasto di orizzonti e prospettive tra l’epos, ampio e omnicomprensivo, e la forte concentrazione della tragedia su singoli eventi specifici e sulle vicende di determinati personaggi, tutti collocati in un arco di tempo molto limitato.11 Al fine di favorire una migliore comprensione dei differenti piani del tempo mitico della saga tebana, il breve riassunto fattone da Pausania (9.5.2–14) offre un agevole colpo d’occhio all’insieme delle vicende epiche che si ritrovano nelle Fenicie.12 Il fenicio Cadmo, alla ricerca di sua sorella Europa, rapita da Zeus per la sua bellezza, si rivolse all’Oracolo di Apollo in cerca di aiuto; tuttavia questi lo esortò a dimenticare la sorella e a cercare una nuova patria impartendogli precise istruzioni: Cadmo deve seguire una vacca e fondare la sua città lì dove l’animale si stenderà nell’erba in cerca di riposo. Appena lasciato l’antro dell’oracolo, Cadmo vide la vacca e la seguì e, appena questa si stese per riposarsi, mandò i suoi seguaci a una fonte lì vicino per cercare dell’acqua in modo da officiare un sacrificio

|| 8 Hose 2008, 174–184. 9 Nel 2008 M. Hose ha evidenziato che il tratto dominante delle Fenicie è la loro forte rielaborazione della saga tebana, cioè il loro essere un ciclo epico in un’unica opera unitaria, e ha sottolineato la necessità di esaminare in modo approfondito la ricezione, il ricordo e l’innovazione della tradizione epica in Euripide grazie alle nuove fonti (anche archeologiche: Aravantinos 2006) a disposizione. Cfr. Hose 2008, 174–175. 10 Lamari 2010, 5–19. 11 Michelini 2009, 169–170. 12 Per una più approfondita discussione della testimonianza di Pausania si vedano: Berman 2015, 145–149; Cecconi 2018a, 6.

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per le divinità; tuttavia la fonte era abitata da un serpente, discendente da Ares, che uccise i seguaci di Cadmo e si avventò contro di lui. Cadmo si difese e, dietro suggerimento di Atena, uccise a sua volta il serpente o con una spada o con una pietra, a seconda delle tradizioni mitiche, e ne seppellì i denti nella terra. Da questi sorse una schiera di uomini armati che, istigati dal lancio di una pietra da parte di Cadmo, iniziarono a uccidersi l’un l’altro fino a che non ne rimasero in vita cinque. Questi uomini sono i cosiddetti “Sparti”, i seminati. I cinque superstiti stipularono la pace e con loro Cadmo costruì la sua città dandole il nome di Cadmea. Successivamente Cadmo sposò Armonia, figlia di Ares e Afrodite, e generò con lei quattro figlie (Autonoe, Ino, Semele, Agave) e un figlio (Polidoro). Cadmo abdicò e cedette il trono al nipote Penteo, figlio di Agave e dello Sparto Echione, a causa della giovane età di Polidoro. Penteo venne però ucciso da sua madre come punizione per aver cercato di ostacolare i riti di Dioniso. Dopo questi fatti Cadmo lasciò la città e Polidoro venne incoronato re, sposò Nitteide, figlia di Nitteo, e generò Labdaco. Dato che questi al momento della prematura morte del padre era troppo giovane per succedergli al trono, Nitteo ottenne la reggenza e dichiarò guerra a Epopeo di Sicione, reo di avergli rapito la figlia Antiope. Durante il suo rapimento, Antiope venne sedotta da Zeus e generò i due gemelli Anfione e Zeto che vennero abbandonati sui monti. Nel corso della guerra morirono sia Nitteo che Epopeo. Labdaco, non appena fu pronto per ascendere al trono, prese il governo della città nelle sue mani, ma non governò a lungo; infatti morì o nel corso di una guerra contro l’Attica, o ucciso da Dioniso per averne sminuito il culto. Dopo la morte di Labdaco, Lico, fratello di Nitteo, ottenne la reggenza nell’attesa che Laio, legittimo erede, fosse abbastanza grande da ascendere al trono. Lico e la sua sposa, Dirce, agirono anche come tutori della nipote Antiope e la maltrattarono finché Zeus non la liberò e la fece fuggire sui monti. Lì Antiope incontrò i suoi due figli, i quali, riconosciutala, marciarono alla volta della Cadmea uccidendo Lico e Dirce ed esiliando il giovane Laio. Successivamente Anfione e Zeto costruirono le mura attorno alla città appena conquistata e la rinominarono Tebe in onore della moglie di Zeto.13 Alla loro morte senza eredi, Laio poté tornare nuovamente a Tebe; fino a quel momento era stato in esilio da Pelope, al cui figlio Crisippo insegnava a guidare i carri. Colto da irrefrenabile passione per Crisippo, Laio lo rapì e ne abusò. Pelope maledisse Laio profetizzandogli la morte per mano del suo diretto figlio quando ne avrebbe generato uno. Una volta arri-

|| 13 F. Vian riporta come gli scolii alle Fenicie dicano che Tebe abbia preso questo nome da Tebe d’Egitto dal momento che Cadmo era egiziano. Oltretutto, sempre secondo Vian, Cadmo sarebbe il solo fondatore della città e Anfione e Zeto solo suoi aiutanti. Cfr. Vian 1963, 32–33.

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vato a Tebe, Laio sposò Giocasta e, quando lei rimase incinta, memore della maledizione di Pelope, interrogò l’oracolo di Apollo a Delfi. Il dio confermò la maledizione e per questo motivo Laio ordinò che suo figlio fosse abbandonato sul monte Citerone. Tuttavia la pietà di alcuni pastori salvò il bambino e lo portò a Corinto per affidarlo alle cure del re Polibo e di sua moglie, privi di discendenti. A Corinto il bambino, che ricevette il nome di Edipo, apprese la storia dell’oracolo che lo riguardava e, per amore di quelli che credeva essere i suoi veri genitori, abbandonò la città. Dalle parti di Tebe Edipo incrociò Laio e, dopo un alterco, lo uccise. A Tebe, rimasta senza re, Creonte, discendente da Penteo e fratello di Giocasta, prese la reggenza mentre la città era sotto la minaccia della Sfinge. Edipo fu il solo in grado di uccidere questa creatura e, per questo motivo, ottenne in premio il trono di Tebe e la mano di Giocasta, con la quale generò quattro figli (Eteocle, Polinice, Ismene e Antigone). Tuttavia la verità su Edipo venne alla luce: questi si accecò per la vergogna e Giocasta si uccise. Eteocle e Polinice ascesero assieme al trono alternandosi al potere; tuttavia Eteocle non mantenne i patti e allontanò il fratello, il quale trovò riparo ad Argo, dove arruolò un’armata per marciare alla volta della sua città natale. Nel corso dello scontro i due fratelli si uccisero a vicenda; Creonte ottenne nuovamente la reggenza e proibì la sepoltura di Polinice considerandolo un traditore. Questa decisione suscitò le proteste di Antigone, la quale violò i divieti dello zio per amore del fratello e, per questo motivo, venne murata viva in una grotta nonostante fosse stata promessa in sposa a Emone, figlio di Creonte. Emone per il dolore si uccise con la spada del padre, lasciandolo privo di discendenti. I temi principali della saga tebana desumibili da questo riassunto sono: 1. La doppia fondazione di Tebe evidenziata dalla contrapposizione tra Cadmo da un lato e Anfione e Zeto dall’altro. 2. L’incredibile propensione dei tebani al conflitto. 3. Le cause scatenanti di questi conflitti. Per trovare una risposta alla domanda di Brecht è utile partire dal primo punto e quindi presentare più dettagliatamente le due tesi contrapposte relative all’identità del fondatore di Tebe attraverso una breve analisi delle fonti testuali per fornire un aiuto a una migliore contestualizzazione delle Fenicie.

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2 Anfione e Zeto fondatori di Tebe A) Omero, Odissea 11.260–26514 Tὴν δὲ μέτ’ Ἀντιόπην ἴδον, Ἀσωποῖο θύγατρα, ἣ δὴ καὶ Διὸς εὔχετ’ ἐν ἀγκοίνῃσιν ἰαῦσαι, καί ῥ’ ἔτεκεν δύο παῖδ’, Ἀμφίονά τε Ζῆθόν τε, οἳ πρῶτοι Θήβης ἕδος ἔκτισαν ἑπταπύλοιο πύργωσάν τ’, ἐπεὶ οὐ μὲν ἀπύργωτόν γ’ ἐδύναντο ναιέμεν εὐρύχορον Θήβην, κρατερώ περ ἐόντε.

Odisseo racconta ai Feaci il suo incontro con l’anima di Antiope negli Inferi e la presenta menzionando le principali figure maschili della sua vita come figlia, sposa e madre. In quanto figlia Antiope è menzionata tramite suo padre, Asopo fiume della Beozia e tratto caratterizzante del paesaggio beotico;15 in quanto sposa è menzionata tramite la sua relazione con Zeus; in quanto madre è infine ricordata tramite Anfione e Zeto, i suoi due gemelli generati con Zeus.16 Odisseo presenta qui Tebe mediante l’attributo „dalle sette porte“; tuttavia altre quattro parole costituiscono il nucleo della questione: πρῶτοι Θήβης ἕδος ἔκτισαν. Il verbo κτίζω allude in modo chiaro alla fondazione di una città (si vedano Hdt. 1.16; 167; 168; Thuc. 6.4). Questo significato viene rafforzato attraverso l’attributo πρῶτοι e soprattutto attraverso il sostantivo ἕδος, che indica il luogo inabitato dove deve sorgere una città.17 Dopo la rievocazione della fondazione della città, Omero menziona la costruzione delle sue torri, che servivano come torri di osservazione con una funzione difensiva della città e della sua regione, dal momento che entrambe senza torri (ἀπύργωτόν) e con la sola difesa delle forze dei due gemelli non potevano essere abitate con sicurezza. In questa sua descrizione Omero usa un verbo che significa costruire torri e non mura: πυργόω invece di τειχίζω. Dal momento che l’epos

|| 14 Per una analisi più dettagliata del mito di Anfione e Zeto si veda: Hurst 2000, 65–69. 15 La diretta discendenza di Anfione e Zeto dal fiume Asopo collega strettamente la loro città con la regione circostante ed è un simbolo di forte autoctonia. Cfr. Olivieri 2007, 24. A causa di questo legame A. Kühr ha suggerito che Anfione e Zeto costituiscano la versione più antica del mito di fondazione. Cfr. Kühr 2006, 132. 16 Hurst 2000, 65–66. 17 LSJ s.v. κτίζω A.2.

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omerico è incentrato su una battaglia ai piedi delle mura di una città (Troia), l’assenza di una menzione della costruzione delle mura di una città, il cui assedio è una prefigurazione della guerra di Troia,18 è alquanto bizzarra.19 B) Eumelo di Corinto apud Paus. 9.5.820 ὁ δὲ τὰ ἔπη τὰ ἐς Εὐρώπην ποιήσας φησὶν Ἀμφίονα χρήσασθαι λύρᾳ πρῶτον Ἑρμοῦ διδάξαντος· πεποίηκε δὲ καὶ λίθων καὶ θηρίων, ὅτι καὶ ταῦτα ᾄδων ἦγε.

Secondo la menzione di Pausania, Eumelo racconta che Anfione fu il primo a suonare la cetra grazie agli insegnamenti di Hermes. Attraverso la musica Anfione poté costringere le pietre a seguire i suoi ordini. Il testo di Pausania è purtroppo poco chiaro, tuttavia nelle sezioni precedenti il geografo osserva critico che Omero non disse che Anfione costruì le mura di Tebe con l’ausilio della musica (9.5.7: ὅτι δὲ Ἀμφίων ᾖδε καὶ τὸ τεῖχος ἐξειργάζετο πρὸς τὴν λύραν, οὐδένα ἐποιήσατο λόγον ἐν τοῖς ἔπεσι). C) Esiodo, fr. 182 Merkelbach/West Περὶ Ζήθου καὶ Ἀμφίονος ἱστοροῦσιν ἄλλοι τε καὶ Ἡσίοδος, ὅτι κιθάραι τὸ τεῖχος τῆς Θήβες ἐτείχισαν.

Esiodo ricorda che Anfione e Zeto costruirono le mura di Tebe tramite la musica. D) Euripide Antiope fr. 48.86–97 Kambitsis ὑμεῖς δ’, [ἐπε]ιδὰν ὅσιος ἦι Κάδμου πόλις, χωρεῖτε, [παῖδε]ς, ἄστυ δ’ Ἰσμηνὸν πάρα ἑπτάσ[τομ]ον πύλαισιν ἐξαρτύετε. σὺ μεν.[....]ντο πνεῦμα πολεμίων λαβὼν Ζήθωι [τάδ' εἶ]πον· δεύτερον δ’ Ἀμφίονα λύραν ἄ[νωγ]α διὰ χερῶν ὡπλισμένον μέλπειν θεοὺ[ς ὠι]δαῖσιν· ἕψονται δέ σοι πέτραι τ’ [ἐ]ρυμναὶ μουσικῆι κηλούμεναι δένδρη τε μητρὸς ἐκλιπόνθ’ ἑδώλια, ὥστ’ εὐμ[ά]ρειαν τεκτόνων θήσει χερί.

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|| 18 Bermann 2015, 41–45. 19 Una recente e nuova analisi della fondazione da parte di Anfione e Zeto si trova in Biga 2018. 20 Per un’approfondita e aggiornata discussione della figura e della poetica di Eumelo si veda: Debiasi 2015.

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Ermes comunica a entrambi i fratelli, che la città di Cadmo è sacra per gli dei; i due gemelli devono recarsi lì per costruire una città fortificata da un muro con sette porte. Ermes incoraggia Anfione a suonare la cetra e a cantare le lodi degli dei, in modo tale che le pietre necessarie alla costruzione possano muoversi da sole verso il cantiere delle mura. L’aggettivo ὅσιος è ricco di significati e conferma la sacralità della costruzione e la necessità di un piano divino dietro all’edificazione della città. La menzione euripidea di una città di Cadmo non passa inosservata per due motivi: 1. Cadmo è menzionato in un contesto a lui se non ostile, di certo non favorevole; 2. l’uso del sostantivo πόλις che definisce chiaramente una comunità di cittadini organizzata e identificabile. I due gemelli devono invece limitarsi a costruire la ἄστυ, cioè gli alloggi per la popolazione cittadina.21 Secondo questo testo, Tebe avrebbe quindi avuto una doppia fondazione: da un lato Cadmo scelse il luogo e creò/generò le famiglie della futura aristocrazia guerriera cittadina (gli Sparti); dall’altro Anfione e Zeto costruirono le mura con una precisa e forte funzione difensiva e come simbolo della definizione della città come corpus unitario politico e urbano.22 In questo contesto, immaginare una divisione tra acropoli e città potrebbe rappresentare la soluzione del problema della doppia fondazione se questa non fosse la soluzione più semplice, forse troppo semplice.23

3 Cadmo fondatore di Tebe Le argomentazioni al riguardo sono più complesse e in alcuni casi anche più oscure rispetto a quelle in favore dei due gemelli.

|| 21 Secondo il dizionario Liddell-Scott-Jones la ἄστυ è “the town in the material sense, opp. πόλις (the civic body), Il. 17.144,” o “the lower town, opp. acropolis, Hdt. 1.176, al.”. Per uno studio recente sull’Antiope e sulle relazioni familiari tra i suoi personaggi si veda: Lamari 2011. 22 Nel 2006 A. Kühr cercò un punto di mediazione identificando in Cadmo non il fondatore di Tebe ma il progenitore del suo ethnos, che ricevette il nome di Cadmei. Cfr. Kühr 2006, 112. 23 Nonostante la testimonianza di Omero, la versione favorevole ad Anfione e Zeto è rimasta minoritaria rispetto alla versione favorevole a Cadmo. Si veda al riguardo: Vian 1963, 71. Per un’analisi aggiornata della topografia tebana si veda: Berman 2015, 8-11. Per un’analisi ragionata del testo omerico con la misteriosa Hypotebe del catalogo delle navi dell’Iliade 2.494–510 si veda: Cingano 2000, 128-132. Per il ruolo civilizzatore di Cadmo si veda: Peri 2018, 1–4.

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A) Ferecide, FGrHist 3 F 22 (fine VI/inizio V s. aC)24 ἐπεὶ δὲ Κάδμος κατῳκίσθη ἐν Θήβῃσιν, Ἄρης διδοῖ αὐτῷ καὶ Ἀθηναίη τοῦ ὄφιος τοὺς ἡμίσεις ὀδόντας, τοὺς δὲ ἡμίσεις Αἰήτῃ. Καὶ ὁ Κάδμος αὐτίκα σπείρει αὐτοὺς εἰς τὴν ἄρουραν Ἄρεως κελεύσαντος, καὶ αὐτῷ ἀναφύονται πολλοὶ ἄνδρες ὡπλισμένοι κτλ.

L’autore narra la storia dei denti del drago e della nascita degli Sparti. L’uso del verbo κατοικίζω è abbastanza significativo, dal momento che significa: “settle, establish, κ. τινὰς ες Μέμφιν Hdt. 2.154 […]; κ. πόλιν εἰς τόπον place it .., Pl. R. 370e […]; Pass., to be settled, ἐν Αἰγύπτῳ Hdt.2.154 […]; Med., establish oneself, settle, Th. 2.102; ἐν Τροιζῆνι, εἰς Αἴγιναν, Isoc.19.23, 24”.25 In questo caso il verbo sottolinea l’insediamento di Cadmo nella nuova regione. B) Ferecide, FGrHist 3 F 89 Μετὰ δὲ τὴν θητείαν Ἀθηνᾶ αὐτῷ τὴν βασιλείαν κατεσκεύασε, Ζεὺς δὲ ἔδωκεν αὐτῷ γυναῖκα Ἁρμονίαν, Ἀφροδίτης καὶ Ἄρεος θυγατέρα.

Accanto alla menzione delle nozze tra Cadmo e Armonia l’autore racconta che questi ricevette la legittimazione politica da Atena (αὐτῷ τὴν βασιλείαν κατεσκεύασε). In questo modo l’autore crea un interessante collegamento ideologico tra la dea e la città di Tebe e sottolinea il suo ruolo attivo nella fondazione della città e nella generazione della sua classe aristocratica.26 C) Ellanico, FGrHist 4 F 51 (s. V) apud Apollod. 3.4.1–3 Ὁ δὲ θεὸς εἶπεν αὐτῷ, περὶ μὲν Εὐρώπης μὴ πολυπραγμονεῖν, κρῆσθαι δὲ καθοδηγῷ βοί, καὶ πόλιν ἐκεῖ κτίζειν, ἔνθα ἂν αὐτὴ εἰς τὰ δεξιὰ πέσῃ καμοῦσα.

Brevissima menzione della fondazione cittadina e suo collegamento con il mito di Europa e quindi, indirettamente, con Cadmo. D) Pausania 9.5.1–2 (e gli scolii alle Fenicie) Κάδμου δὲ καὶ τῆς Φοινίκων στρατιᾶς ἐπελθούσης μάχῃ νικηθέντες οἱ μὲν Ὕαντες ἐς τὴν νύκτα τὴν ἐπερχομένην ἐκδιδράσκουσι, τοὺς δὲ Ἄονας ὁ Κάδμος γενομένους ἱκέτας καταμεῖναι καὶ ἀναμιχθῆναι τοῖς Φοίνιξιν εἴασε. τοῖς μὲν οὖν Ἄοσι κατὰ κώμας ἔτι ἦσαν αἱ οἰκήσεις· Κάδμος δὲ τὴν πόλιν τὴν καλουμένην ἔτι καὶ ἐς ἡμᾶς Καδμείαν ᾤκισεν.

|| 24 Per uno studio su Ferecide si veda: Dräger 1995. 25 LSJ s.v. κατοικίζω A. 26 Giannini 2000, 166–170.

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αὐξηθείσης δὲ ὕστερον τῆς πόλεως, οὕτω τὴν Καδμείαν ἀκρόπολιν συνέβη τῶν κάτω γενέσθαι Θηβῶν.

Stando alla tradizione riportata e tramandata da Pausania, Cadmo fondò la città poi chiamata Cadmea (nome rimasto a identificare l’Acropoli). Questa breve presentazione delle numerose varianti mitologiche (e narrative) della saga tebana dimostra la loro centralità nell’immaginario collettivo dei Greci.27 Purtroppo, nonostante questa centralità, non abbiamo assistito a una codificazione/stabilizzazione della saga come è stato invece possibile per il ciclo troiano nei due poemi omerici. Oltretutto la frammentarietà delle fonti iniziali della saga è il più grande ostacolo alla loro comprensione e comporta l’uso di fonti più recenti quali, per esempio, le tragedie attiche; tra queste ultime le Fenicie è la più interessante, dal momento che vi troviamo uno spaccato quasi completo della saga tebana. Infatti tema e oggetto delle Fenicie sono le ultime fasi della storia della dinastia dei Labdacidi durante la guerra contro Argo. Lo sviluppo della tragedia offre allo spettatore (e al lettore) un’interessante e nuova interpretazione dell’intera saga.

4 Le Fenicie Una breve presentazione della struttura drammatica e scenica delle Fenicie illustra e definisce lo spazio della ricerca delle cause mitologiche della crisi in corso sulla scena.28 Prologo (1–201): Giocasta illustra la storia di Tebe da Cadmo fino al presente (1– 87); Teichoscopia: Antigone e il pedagogo completano la descrizione di Giocasta presentando l’armata argiva (88–201). Parodo (202–260): il Coro si presenta, ricorda il suo luogo di origine (la Fenicia) e indica la meta del suo viaggio attraverso la Grecia (Delfi). Primo Episodio (261–637): dialogo tra Polinice e il Coro con presentazione positiva di Polinice (261–300); incontro tra Polinice e Giocasta (301–445); agone

|| 27 Cingano 2000, 127; Cecconi 2018a, 1 e 7. 28 Per un’approfondita descrizione dei singoli momenti della tragedia, si veda: Hose 2008, 174– 185. L’analisi di M. Hose è stata ripresa nel 2010 da A.A. Lamari la quale, tuttavia, ha esaminato le caratteristiche di “tempo”, “spazio” e “intertestualità” nelle Fenicie secondo le moderne categorie dello strutturalismo e ha considerato il dramma euripideo come un “megatext” con molteplici livelli narrativi senza però tenere conto né della sua natura scenica né del suo rapporto con il ciclo epico precedente. Cfr. Lamari 2010, 17.

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tra Eteocle e Polinice e presentazione dei loro punti di vista sulla vicenda bellica (446–637). Primo Stasimo (638–689): nuova presentazione della storia mitologica tebana con riferimenti alle vicende di Cadmo, Ares e Io. Secondo Episodio (690–783): Creonte ed Eteocle; strategia difensiva di Eteocle e sua sortita contro il nemico. Secondo Stasimo (784–833): di nuovo una presentazione della storia mitologica tebana con riferimenti alle vicende di Dioniso, Ares, Edipo e della Sfinge. Terzo Episodio (834–1018): Tiresia, Creonte e Meneceo: nuova spiegazione del destino ultimo di Tebe. Terzo Stasino (1019–1066): evocazione storico-mitica da Cadmo ed Edipo alla morte/sacrificio di Meneceo e alla conseguente salvezza della città. Il Coro biasima Atena a causa del suo ruolo di assistente e consigliera durante l’uccisione del drago. Quarto Episodio (1067–1283): assalto degli argivi, vittoria dei tebani e preparativi del duello dei due fratelli. Quarto Stasimo (1284–1307): canto funebre per i figli di Edipo. Quinto Episodio (1308–1479): Creonte e il Coro, il duello fratricida e il suicidio di Giocasta. Quinto Stasimo (1480–1582): dialogo tra Antigone ed Edipo; destino di entrambi e fato di Edipo. Esodo (1582–1766): problema della sepoltura di Polinice e futuro matrimonio tra Antigone e Emone. Al fine di poter dare una risposta il più possibile completa alla domanda di Bertolt Brecht, verranno qui esaminati passi selezionati delle Fenicie nei quali viene narrato e riletto il passato mitico della città quali il prologo, la parodo e i primi due stasimi.29

|| 29 Il testo citato è quello dell’edizione di D.J. Mastronarde del 1994, che è una revisione della sua edizione critica del 1988, giudicata da J. Diggle “the most elaborate, ambitious, and the best edition of a Euripidean play to appear in the Teubner series” (Diggle 1994, 353). Il commento di Mastronarde analizza il testo da un punto di vista metrico, verbale e grammaticale e contiene alcuni brevi excursus analitici su alcuni temi specifici (per esempio la Teichoscopia con la presentazione dell’armata argiva da parte di Antigone e del pedagogo; Mastronarde 1994, 167–173). Per una comprensione generale dello stile dei drammi di Euripide e sulle loro relazioni con la tradizione poetica greca attraverso un’analisi degli strumenti retorici e delle strategie narrative, si segnala Mastronarde 2010. Per il testo critico si vedano: Mastronarde 1994; Mastronarde 1988.

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4.1 Prologo {Ὦ τὴν ἐν ἄστροις οὐρανοῦ τέμνων ὁδὸν καὶ χρυσοκολλήτοισιν ἐμβεβὼς δίφροις} Ἥλιε, θοαῖς ἵπποισιν εἱλίσσων φλόγα, ὡς δυστυχῆ Θήβαισι τῇ τόθ’ ἡμέρᾳ ἀκτῖν’ ἐφῆκας, Κάδμος ἡνίκ' ἦλθε γῆν τήνδ’, ἐκλιπὼν Φοίνισσαν ἐναλίαν χθόνα· ὃς παῖδα γήμας Κύπριδος Ἁρμονίαν ποτὲ Πολύδωρον ἐξέφυσε, τοῦ δὲ Λάβδακον φῦναι λέγουσιν, ἐκ δὲ τοῦδε Λάιον. ἐγὼ δὲ παῖς μὲν κλῄζομαι Μενοικέως, {Κρέων τ’ ἀδελφὸς μητρὸς ἐκ μιᾶς ἔφυ,} καλοῦσι δ’ Ἰοκάστην με· τοῦτο γὰρ πατὴρ ἔθετο. γαμεῖ δὲ Λάιός μ’· ἐπεὶ δ' ἄπαις ἦν χρόνια λέκτρα τἄμ’ ἔχων ἐν δώμασιν, ἐλθὼν ἐρωτᾷ Φοῖβον ἐξαιτεῖ θ’ ἅμα παίδων ἐς οἴκους ἀρσένων κοινωνίαν. ὃ δ’ εἶπεν· Ὦ Θήβαισιν εὐίπποις ἄναξ, μὴ σπεῖρε τέκνων ἄλοκα δαιμόνων βίᾳ· εἰ γὰρ τεκνώσεις παῖδ’, ἀποκτενεῖ σ’ ὁ φύς, καὶ πᾶς σὸς οἶκος βήσεται δι’ αἵματος.

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20 (Eur. Ph. 1–20)

La presenza di Giocasta sulla scena e i suoi tentativi di fermare la guerra e la conseguente possibile distruzione della sua città sono una significativa innovazione di Euripide non solo rispetto alla versione narrata da Sofocle nell’Edipo Re, ma anche rispetto alla saga epica.30 Infatti „when Oedipus’ parricide and incest were unveiled his mother committed suicide leaving the way open to Oedipus’ second marriage with Euriganea (Cyclus epicus, fr. 2 PEG), who bore four children by him.“31 Giocasta utilizza il prologo (vv.1-87) come spazio del ricordo e della presentazione (secondo il suo punto di vista) delle cause scatenanti la guerra contro Argo. Dopo un’invocazione al Sole,32 Giocasta menziona come causa prima di

|| 30 Amiech 2004, 234–235. 31 Cingano 2015a, 216. 32 Per una meravigliosa parodia di questi versi nelle Donne all’assemblea di Aristofane di veda: Amiech 2004, 237. L’invocazione al sole riflette la tendenza dei Greci a condividere i propri sentimenti più intimi con elementi della natura (Medea 56–58). Nella tragedia è inoltre tipico iniziare un discorso con il motivo della infelicità (Agamennone, Trachinie, Oreste), anche la Medea inizia con un discorso sull’origine di tutti i mali, nella fattispecie sul pino che avrebbe fornito il legno per la nave di Giasone. Cfr. Mastronarde 1994, 142.

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tutti i mali presenti l’arrivo del fenicio Cadmo (Κάδμος ἡνίκ' ἦλθε γῆν) e traccia una genealogia per mostrare come la sventura fosse presente sin dai tempi più antichi della vicenda tebana.33 La genealogia occupa lo spazio di tre versi (vv.7-9 ὃς παῖδα γήμας Κύπριδος Ἁρμονίαν ποτὲ | Πολύδωρον ἐξέφυσε, τοῦ δὲ Λάβδακον | φῦναι λέγουσιν, ἐκ δὲ τοῦδε Λάιον) e prende le mosse dalle nozze tra Cadmo e Armonia. In pochi versi (vv.1–17) Giocasta colma lo spazio narrativo tra le origini di Tebe e il presente scenico introducendo diverse generazioni di regnanti tebani da Cadmo a Laio;34 in questo modo lo spettatore viene informato sugli eventi che hanno preceduto la situazione in corso.35 Tuttavia l’excursus storico di Giocasta presenta alcune significative omissioni: 1. Non viene menzionato Penteo. 2. Non viene menzionata la nascita di Dioniso. 3. Non vengono menzionati in questa fase Anfione e Zeto, quindi neanche Lico e Dirce. 4. Non c’è alcun accenno alla morte di Labdaco. 5. Non viene menzionata la fondazione di Tebe a opera di Cadmo (sebbene ex silentio questa sia implicita e nota e costituisca, come vedremo più avanti, una della due colpe scatenanti la crisi tebana, è strano non vederla citata in questo momento, dato che da questa vicenda ha origine la stirpe degli Sparti, dalla quale discende a sua volta la stessa Giocasta). Nel suo essere artefice e portatore della sventura Cadmo è il perno della vicenda mitica tebana e il punto di contatto tra il Coro e gli altri personaggi; su un piano geografico più ampio, Cadmo assicura al dramma il collegamento tra Tebe e la Fenicia.36 Tuttavia Cadmo, o meglio il suo arrivo nella terra di Beozia, non è il solo artefice della sventura. Nei vv. 13–16 Giocasta menziona una seconda causa della

|| 33 Mastronarde 1994, 143. Già nel V secolo Erodoto (2.49.3) menziona Cadmo come fenicio e menziona anche Tiro come la sua patria. Secondo A. Kühr fu a partire dal V secolo che Cadmo divenne il “fenicio” al fine di creare una koine mitologica tra la madrepatria greca e le colonie nella Ionia. Per maggiori informazioni si veda: Kühr 2006, 105–106. Bisogna comunque sempre tenere a mente la forte insistenza di Pindaro su Cadmo come fondatore di Tebe. Cfr. Olivieri 2011, 40; Hurst 2018. 34 Questa genealogia si ritrova anche in Erodoto (5.59), Sofocle (Edipo re 267) e in Esiodo (Teogonia 978). Cfr. Mastronarde 1994, 143. 35 Mueller-Goldingen 1985, 37–40. 36 Amiech 2004, 239.

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crisi attuale: il desiderio di Laio di avere figli nonostante gli fosse stato “sconsigliato” da Apollo.37 È interessante notare come l’oracolo dei vv.17-20 sia in discorso diretto e non si trovi in questa forma nelle altre fonti a noi note.38 Ai vv. 21– 45 Giocasta ricorda la morte di Laio da parte di Edipo, avvenuta secondo quanto previsto dall’oracolo, e ai vv. 45–46 (ὡς δ' ἐπεζάρει | Σφὶγξ ἁρπαγαῖσι πόλιν) menziona la Sfinge. Quindi la genealogia tracciata da Giocasta assegnerebbe anche a Laio l’origine dei mali.39 Sebbene la storia dell’origine della Sfinge non venga menzionata (punizione per il crimine di Laio contro Crisippo?), Giocasta dice che questa compare dopo la morte di Laio (v.46: ἐμός τ' οὐκ ἦν πόσις). La natura punitiva della Sfinge trova una parziale e tacita conferma nella menzione di Era al v. 24, che ricorda la leggenda della sua ira contro Laio a causa della sua “profanazione” dei riti matrimoniali per il rapimento e il conseguente stupro di Crisippo.40 La presenza della Sfinge sarebbe quindi legata a questo crimine e, nel contesto della tragedia qui esaminata, serve a giustificare la presenza di Edipo a Tebe e il suo successivo matrimonio con Giocasta come premio per la soluzione dell’enigma della creatura mitologica (vv. 47–49: Κρέων ἀδελφὸς τἀμὰ κηρύσσει λέχη, | ὅστις σοφῆς αἴνιγμα παρθένου μάθοι, | τούτῳ ξυνάψειν λέκτρα). È interessante osservare come la Sfinge abbia una certa parvenza di sacralità legata alla menzione della sua verginità (v.48: παρθένου).41 In questo contesto anche Laio ha quindi un ruolo di primo piano nella propagazione e nella diffusione “genealogica” dei mali tramite il suo matrimonio con Giocasta.42 Dal v.53 il prologo prosegue con il ricordo della nascita dei quattro figli della nuova coppia (vv. 54–58). In questi versi Euripide segnala come Edipo dia il nome a Ismene mentre Giocasta lo dia ad Antigone; questa scelta può essere metrica come anche drammatica, data la grande vicinanza di Antigone alla famiglia confrontata con l’assenza emotiva di Ismene. Il forte accostamento tra Giocasta e Antigone sottolineerebbe infatti il loro ruolo di motori e figure connettive e trainanti dell’intera vicenda tragica e mitica a partire dalla scoperta della verità sul matrimonio incestuoso tra Giocasta e suo figlio fino all’autoaccecamento di questi e alla sua successiva maledizione dei suoi figli/fratelli (narrate da Giocasta ai vv.

|| 37 Al v. 24, la menzione di Era ricorda la leggenda della sua ira contro Laio per via del suo amore omosessuale nei confronti di Crisippo. Amiech 2004, 244. 38 Amiech 2004, 242. 39 Vedere Edipo Re vv.267–268 per una genealogia analoga. Cfr. Amiech 2004, 240. 40 Amiech 2004, 244. 41 Astuzia e verginità sono caratteristiche della Sfinge anche in Sofocle (Edipo Re 1199). La verginità eterna si configura quindi come caratteristica sia del potere che del timore suscitato dalla Sfinge (Eumenidi 69–70; Aiace 835). Cfr. Mastronarde 1994, 157. 42 Amiech 2004, 240.

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59–68) e al duello tra questi ultimi, che porterà alla mancata sepoltura di Polinice e alla condanna di Antigone.43 Giocasta prosegue infine con la narrazione dell’accordo tra i due fratelli, poi violato da Eteocle, dell’esilio di Polinice ad Argo e del suo conseguente arruolamento di un’armata che nel presente scenico si trova ad assediare la città di Tebe (menzionata con il suo attributo “dalle sette porte”). Nei primi quasi novanta versi Giocasta introduce lo spettatore nella storia di Tebe dalle sue origini fino alle presenti sventure cercando di trovarvi un filo conduttore a partire da un’analisi dell’origine di queste ultime; tuttavia la regina omette fin troppi dettagli significativi e lascia aperte domande che troveranno solo in parte risposta nel resto del dramma. Nel corso della sua narrazione Giocasta crea una straordinaria contrapposizione geografica: la Beozia riceve la crisi e i disastri che provengono dalla Fenicia; per Giocasta è assolutamente irrilevante che senza il fenicio Cadmo Tebe non ci sarebbe mai stata. La menzione dell’origine fenicia di Cadmo e del suo ruolo come fondatore di Tebe contiene inoltre altri significati di non secondaria importanza: 1. Cadmo rappresenta per il Coro delle fanciulle fenicie il collegamento naturale tra Tebe e la loro patria lontana; il Coro sottolinea più volte la comune matrice etnica con Tebe e questo gli permette di avere “diritto di parola” nelle vicende attuali.44 2. Menzionare e sottolineare l’origine straniera di Cadmo compromette la presunzione di autoctonia dei Tebani? Sebbene gli Sparti (progenitori di Giocasta), nati dalla unione dei denti del drago con la terra, costituiscano il marchio del legame tra l’aristocrazia tebana e la regione, il ruolo attivo di Cadmo nella loro nascita non può essere trascurato.45

|| 43 Lamari 2007, 17; Mueller-Goldingen 1985, 45–46. 44 Per lo stesso Pindaro Cadmo rappresenta il modello dell’uomo perfetto (Ditirambo 2 fr. 70b). Cfr. Giannini 2000, 166. Anche nella ceramica Cadmo viene raffigurato sempre con attributi positivi e celebrativi (in particolar modo per le sue nozze con Armonia). Cfr. Krauskopf 2000, 294. 45 Gli Sparti sono strettamente collegati con la terra, dalla quale nascono e che bagnano con il loro sangue; essi rappresentano quindi l’autoctonia dell’aristocrazia tebana. Cfr. Vian 1963, 162– 164. Con il concetto di autoctonia si indica la credenza comune tra i popoli antichi di essere ognuno il primo gruppo di umani ad abitare la propria regione sin dall’alba dei tempi. Oltre a essere una precisa dichiarazione di intenti sul passato, questa credenza serve anche a supportare precisi interessi politici nel presente. Cfr. Castiglioni 2010, 191–198. Infatti, nel momento in cui un popolo, come quello tebano attraverso i miti o quello ateniese nel discorso di Pericle in Tucidide, si auto-presenta come “autoctono”, mira a mostrare implicitamente la purezza e l’immutabilità di una parte della popolazione attraverso i secoli. In questo modo gli “immutati” possono

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3.

Esaminando la questione dal punto di vita della “etnicità”, Anfione e Zeto sono “quasi” al 100% tebani dal momento che tra i loro avi compare il fiume beotico Asopo. Il “quasi” è legato alla loro discendenza diretta da Zeus, fattore più nobilitante che discriminante.46

Proseguendo con l’analisi del prologo, balza subito agli occhi del lettore un particolare di non secondaria importanza: la mancata menzione tra le vicende iniziali della storia di Tebe del rito di fondazione della città e della conseguente nascita degli Sparti, antenati anche della stessa Giocasta come già evidenziato. Tuttavia Giocasta pone la propria stirpe in netta contrapposizione con la stirpe di Cadmo (v.10: ἐγὼ δὲ). Al v.12 Giocasta si presenta con il suo nome (Ἰοκάστην). Secondo la tradizione epica la madre e prima moglie di Edipo era nota come Epicasta mentre la sua seconda moglie e madre dei suoi figli era nota come Euriganea (Cyclus epicus, fr. 2 PEG); secondo E. Cingano „the strange silence on the children of Oedipus and Epicaste in Od. 11.271–80 may imply that Homer was in agreement with the version of the Oedipodea, that Oedipus begot them by Euryganeia“.47 La presenza mitica di una seconda moglie aveva la funzione di proteggere la stirpe di Edipo dalla macchia dell’incesto, che avrebbe reso assai difficile a un monarca “impuro” poter regnare su Tebe.48 La regina menziona qui anche suo padre Meneceo (figlio di Oclaso e nipote di Penteo e quindi discendente di Echione, uno degli Sparti) e suo fratello Creonte.49 Una possibile spiegazione della suddetta contrapposizione posta in atto da Giocasta potrebbe vedere collegate sia la sua presa di distanza da Cadmo che la sua “dimenticanza” del ruolo di quest’ultimo come fondatore della città con la particolare natura della sua famiglia, la quale, grazie allo stretto legame con il drago tramite gli Sparti,

|| definire la loro identità e difendere i propri interessi contro coloro che vengono definiti come i “nuovi arrivati”. Cfr. Blok 2009, 251–258. 46 Olivieri 2007, 24. 47 Cingano 2015a, 222. 48 Mastronarde 1994, 145. 49 In Eracle 8 Meneceo è padre di Creonte e nonno di Megara, moglie di Eracle. La parentela Creonte-Megara è presente anche in Odissea 11.269. Euripide tiene ben distinte le due saghe mitiche (quella dei Labdacidi e quella di Eracle) che sembrano comunque procedere in modo abbastanza autonomo e trovano il (solo?) punto di contatto nella figura di Creonte. Cfr. Mastronarde 1994, 144; Vian 1963, 183. Per quanto riguarda la menzione di Creonte al v. 11 si segnala che questo verso è stato considerato spurio dal momento che non si avverte la necessità di evidenziare qui una parentela che viene poi menzionata al v.47 come se lì ne fosse la prima menzione. Tuttavia questo argomento non è forte dal momento che ripetizioni sono presenti in altri prologhi (Fenicie v.12 e v.35; Andromaca v.4 e v.6; Elena v.9 e v.13). Per una discussione più approfondita: Mastronarde 1994, 144–145.

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diviene un simbolo vivente dell’autoctonia tebana. In quest’ottica la stirpe di Giocasta, in quanto generata dalla unione tra il drago di Ares e la Terra, rappresenterebbe l’essenza di Tebe prima ancora della sua fondazione effettiva. È puramente ridondante, ma comunque necessario, ricordare che nella stirpe dei Labdacidi Giocata è non solo un simbolo della regalità, ma anche della legittimazione del potere regale dello straniero Edipo durante la fase di interregno tra questi e suo padre. Lo stesso Edipo smette di essere tollerato come re di Tebe nello stesso momento in cui viene riconosciuto come erede del defunto re.50 Giocasta è quindi il simbolo vivente della terra tebana che viene profanata dall’arrivo di Cadmo e che solo tramite un preciso rituale estremamente cruento può essere purificata e salvata. Nel nostro caso l’atto di profanazione (ma anche di civilizzazione) di un suolo inabitato (dagli uomini ma non dagli dei) è l’uccisione del serpente da parte di Cadmo, che viola in questo modo lo spazio e i confini del divino.51 Per questo motivo le divinità del suolo che viene occupato hanno diritto a un’indennità per la loro perdita (generalmente un sacrificio umano).52 Tramite il “personaggio Giocasta” Euripide offre un’interessante lettura delle relazioni mitologiche tra Tebe e la Fenicia. Come in un confronto dialettico tra due opposte fazioni, in questa fase Giocasta presenta la sua tesi che vede Cadmo come colpevole principale della crisi in corso. Tramite i legami genealogici Giocasta collega Laio a Cadmo e l’empietà commessa da Laio si riallaccia a quella di Cadmo e ne diviene una mera prosecuzione.

4.2 Parodo In questa interessante sezione il Coro non solo si presenta e cerca una sua contestualizzazione nella storia mitica tebana, ma ribatte alle tesi di Giocasta presentando Cadmo in una luce diversa. Nei primi versi (202–213) il Coro menziona il suo luogo di origine (la Fenicia e, in particolar modo, Tiro) e la sua destinazione (Delfi); le fanciulle del Coro sono infatti un dono sacro per il tempio di Apollo.53 Probabilmente, vista la loro nobile destinazione, sono state scelte tra le più belle figlie dei cittadini di Tiro e la loro

|| 50 Per uno studio delle legittimazione di Edipo si veda: Manuwald 2012. 51 Vian 1963, 94-97. Si segnala che la funzione civilizzatrice di Cadmo non si esaurisce a Tebe ma si manifesta chiaramente anche in altre regioni quali la Tracia e l’Illiria. Castiglioni 2012, 205210; Castiglioni 2010, 192–193. 52 De Cremoux 2012, 299–305; Vian 1963, 171–172. 53 Il v. 202 (Τύριον οἶδμα λιποῦσ’ ἔβαν) ricorda e rievoca le Fenicie di Frinico. Cfr. Mastronarde 1994, 215; Mueller-Goldingen 1985, 65.

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libertà di movimento, soprattutto a Tebe in un contesto di guerra, conferma l’inviolabilità e la sacralità del loro status. La loro preghiera per i figli che verranno (1060–1061) sembra evidenziare che il loro servizio a Delfi sia a tempo determinato.54 Tra le ultime tragedie di Euripide si evidenzia un gruppo di testi il cui coro è composto da servitrici (Ifigenia in Tauride, Ione, Elena) o da straniere (Baccanti, Ifigenia in Aulide), o da entrambi (nel caso delle Fenicie sebbene, come sopra evidenziato, si tratti qui di servitrici di nobile rango e a tempo).55 Il Coro presenta il suo arrivo nella terra di Cadmo e, in modo estremamente curioso, alle torri di Laio e ribadisce la comune parentela tra Tebe e Tiro in quanto legate entrambe alla stirpe di Agenore, figlio di Poseidone e Libia (e padre di Cadmo).56 Per meglio evidenziare questa parentela e trasporla nel presente, il Coro riprende e modifica la genealogia proposta da Giocasta tracciando la linea Agenore-Cadmo-Laio (vv.214–219 : πόλεος ἐκπροκριθεῖσ' ἐμᾶς | καλλιστεύματα Λοξίᾳ | Καδμείων ἔμολον γᾶν, | κλεινῶν Ἀγηνοριδᾶν | ὁμογενεῖς ἐπὶ Λαΐου | πεμφθεῖσ' ἐνθάδε πύργους).57 In questo modo il Coro cerca di porsi sullo stesso piano di Giocasta ma come portatore di una tesi contraria a quella difesa dalla regina.58 Successivamente il Coro menziona due divinità che costituiscono il contesto religioso del suo viaggio verso Delfi e del luogo della sua sosta: Dioniso e Apollo. Dioniso è il dio tebano per eccellenza, legato per parte di madre alla stessa stirpe

|| 54 Mastronarde 1994, 208–209. 55 M. Hose colloca le Fenicie nel secondo gruppo, dato che le donne del Coro sono consacrate ad Apollo e quindi, pur se sacre, al momento dello svolgimento scenico sono delle schiave (pur se a tempo). Cfr. Hose 1991, 410. Al v. 301 Giocasta caratterizza come straniero il grido delle donne del Coro (Φοίνισσαν βοὰν), ma questa è un’informazione puramente convenzionale data dall’autore per ricordare al pubblico che il Coro è fatto di donne straniere. Cfr. Mastronarde 1994, 237. 56 I Fenici sono discendenti di Agenore. Qui non viene specificata in modo chiaro la relazione tra Agenore e Cadmo mentre in Baccanti 171 Cadmo e Agenore sono padre e figlio come nelle fonti più tarde; invece secondo Phrixos Cadmo è figlio di Fenicie come anche nelle fonti più antiche: secondo Omero, Esiodo e Bacchilide, Cadmo ed Europa sono figli di Fenicie. Cfr. Amiech 2004, 289; Mastronarde 1994, 219; Mueller-Goldingen 1985, 66. 57 L’interessante menzione di Laio per caratterizzare Tebe ha chiare ragioni metriche per la necessità di avere una parola di tre sillabe al termine di un gliconeo (cosa impossibile menzionando Zeto o Anfione). Cfr. Mastronarde 1994, 211. La presenza delle “torri” invece che delle “mura” o delle ben più note “porte” potrebbe anche essere un richiamo a Odissea 11.260–265. 58 I Fenici sono discendenti di Agenore, progenitore di Cadmo. Cfr. Amiech 2004, 289; Mastronarde 1994, 219; Mueller-Goldingen 1985, 66.

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di Cadmo, e il secondo dio più importante nel santuario di Delfi dopo Apollo;59 Apollo dal canto suo è il patrono di Delfi, il destinatario delle fanciulle fenicie e l’oracolo che viene interrogato da Cadmo e da Laio. La menzione delle due divinità delfiche, tramite la menzione delle danze notturne con le fiaccole in onore di Dioniso e della caverna del serpente Pitone ucciso da Apollo, ha lo scopo di presentare le affinità tra Delfi e Tebe (226–232):60 1. a Tebe Dioniso è strettamente collegato al fuoco, dal momento che venne al mondo attraverso le fiamme del fulmine di Zeus che uccisero sua madre Semele; 2. Tebe è legata, come già evidenziato, sin dalle sue origini al tema dell’uccisione di un serpente. Pitone ucciso da Apollo è un chiaro richiamo al drago di Ares ucciso da Cadmo. In questo contesto l’origine fenicia del Coro rende possibile un interessante gioco di sovrapposizioni culturali: 1. Il Coro proviene dalla stessa regione di Cadmo ma arriva in Grecia per una via del tutto opposta a quella dell’eroe: – Cadmo viaggia dalla Fenicia a Tebe attraverso la Tracia e Delfi;61 – il Coro viaggia dalla Fenicia a Delfi attraverso il Peloponneso e Tebe.62 2. Il Coro si sente autorizzato a esprimere la sua opinione sulle vicende in corso dal momento che vede in Tebe una “figlia” della sua città di provenienza. 3. Grazie alla menzione delle fiaccole notturne di Dioniso e dell’uccisione del Drago, il Coro vuole mostrare e dimostrare che Delfi e Tebe hanno avuto vicende simili nel loro passato.

|| 59 Mastronarde 1994, 220. 60 La menzione del serpente Pitone sconfitto da Apollo crea un parallelo mitologico con il serpente di Ares, sconfitto da Cadmo. Ovviamente però gli esiti sono diversi dal momento che l’azione di Cadmo porta alla catastrofe per Tebe: Mastronarde 1994, 221; Amiech 2004, 293. Il Coro cerca un legame e un’equiparazione della sacralità di Tebe e di Delfi: entrambe le città sono infatti legate a un dio; entrambe sono sorte dopo l’uccisione di un serpente. Cfr. Mueller-Goldingen 1985, 67. 61 Per maggiori dettagli sul ruolo di Cadmo in Tracia si veda: Castiglioni 2012. 62 La presenza del Coro a Tebe durante il viaggio da Tiro a Delfi, che prevede la circumnavigazione del Peloponneso e l’arrivo a Tebe da ovest, era plausibile ammettendo una navigazione sfruttando i venti Etesii. Oltretutto il cammino del Coro rievoca il cammino in direzione opposta di Io. Mastronarde 1994, 208–209.

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Il messaggio del Coro mira quindi a dimostrare che non è negativo l’atto in sé (uccisione del drago) quanto il modo e il contesto nel quale questo avviene. Infatti il Coro prosegue illustrando le cause scatenanti della crisi tebana: l’uccisione del drago di Ares è stata resa possibile soprattutto grazie all’aiuto e al consiglio di Atena. Sembra quindi che il Coro voglia menzionare anche Atena (e per traslato anche Atene) tra i fattori scatenanti la guerra e i mali presenti. Per meglio descrivere la totalità dei mali il Coro nomina anche Io (v.248); questa menzione apre tuttavia alcune questioni di non secondaria importanza: il collegamento tra Tebe e Io contiene infatti un implicito (ma non troppo) collegamento tra Tebe e Argo, dato che Io è sia figlia del fiume Inaco, il fiume che bagna l’Argolide, sia progenitrice di Cadmo (vd. Ps.-Apollodoro 2.1.3). Questo collegamento permette di vedere la guerra in corso sotto un punto di vista totalmente diverso: la guerra non è più la contrapposizione tra due città e due fratelli, ma la contrapposizione tra due discendenti di una stessa progenitrice, Io. La proiezione dei legami genealogici nel passato messa in atto dal Coro per mostrare l’intensità del legame Tebe – Tiro sin dai tempi di Agenore, se applicata al caso Tebe – Argo mediante la figura di Io, colloca l’assurdità dello scontro fratricida tra Eteocle e Polinice sul piano cosmico di un assurdo scontro totale.63 Questo tema non viene però approfondito dal Coro, forse per non assumere un punto di vista più emotivamente vicino ad Argo.

4.3 Primo Stasimo Nel corso delle tre sezioni di questo stasimo il Coro mette in atto un climax tematico. Ai vv.649–654 (Βρόμιον ἔνθα τέκετο μά-|τηρ Διὸς γάμοισι, |κισσὸς ὃν περιστεφὴς | ἕλικος εὐθὺς ἔτι βρέφος | χλοηφόροισιν ἔρνεσιν | κατασκίοισιν ὀλβίσας ἐνώτισεν) il Coro menziona l’arrivo di Cadmo in Beozia, il sacrifico della vacca, la definizione e la stabilizzazione di una vita organizzata e, infine, la nascita di Dioniso, che, per il suo messaggio di pace e di stretto contatto con la natura, rappresenta il segno di una nuova filosofia di vita.64 La nascita di Dioniso

|| 63 La presenza di Io al verso 248 è stata discussa da Chantraine, il quale ha proposto una forma abbreviata per Iole, che tuttavia non ha valenza mitica. Mastronarde 1994, 224. Si segnala come C. Amiech non dica nulla su un possibile collegamento tra Tebe e Argo attraverso la figura di Io. Cfr. Amiech 2004, 294–295. 64 La ripetizione dell’arrivo di Cadmo in Beozia serve a rafforzare il suo legame con il Coro in quanto entrambi vengono dalla Fenicia ed entrambi sono figure “itineranti” nel contesto mitico e scenico-narrativo del dramma. Cfr. Mueller-Goldingen 1985, 116. La nascita di Bacco è uno degli

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può quindi portare pace alla Beozia e, secondo una prospettiva del Coro, è uno dei più noti e significativi episodi della storia tebana, dato che è un segno sia della fertilità del suolo tebano, sia delle strette relazioni tra Tebe e Zeus (vv.649– 656).65 La seconda sezione di questo stasimo descrive la crisi e la catastrofe che si celano dietro il ritratto idilliaco appena concluso (vv. 657–658). In contrapposizione alla figura di Dioniso compare il drago, descritto come sanguigno e violento ma allo stesso tempo come “protettore” (vv. 657–658 ἔνθα φόνιος ἦν δράκων | Ἄρεος ὠμόφρων φύλαξ); infatti nel mito draghi e serpenti sono spesso protettori di proprietà e/o di luoghi sacri degli dei. Anche Pausania conferma che questo drago era posto a sorveglianza della fonte di Dirce (Paus. 9.10.5) configurandone chiaramente la morte come crimine ed empietà e non come un gesto eroico. Il drago e i suoi “figli” (gli Sparti) rivelano le stesse virtù guerriere e lo stesso potenziale violento di Ares; a loro volta gli Sparti, per la loro innata violenza fratricida, sono una prefigurazione dello scontro mortale tra i due figli di Edipo.66 Il Coro spiega anche che Cadmo uccise il drago (e agì quindi contro Ares) dietro consiglio di Atena colpendolo con una pietra (vv.662–663 ὃν ἐπὶ χέρνιβας μολὼν | Κάδμος ὄλεσε μαρμάρῳ).67 La pietra è un elemento terrigeno e il suo impiego dimostra che la serpe, nata dalla terra, può essere uccisa solo da altre cose nate dalla terra; infatti anche gli Sparti, nati dalla terra, si uccidono tra di loro (dopo il lancio di una pietra da parte di Cadmo).68 La morte del drago è un’empietà ma è necessaria affinché il posto dove sorgerà Tebe sia reso sicuro per la sua costru-

|| eventi più gloriosi di Tebe dal punto di vista della Fenicia in quanto è fonte di fama e orgoglio per Tebe e simboleggia le strette relazioni della famiglia reale con Zeus. In questo quadro idilliaco e idealizzato la morte di Semele non viene menzionata in quanto evento potenzialmente interpretabile come negativo. Cfr. Mastronarde 1994, 338; Amiech 2004, 387. 65 Queste relazioni sono presenti anche attraverso le figure di Anfione e Zeto; tuttavia il Coro si concentra qui sulla figura di Cadmo. 66 La natura guerriera di Ares si trasmette al serpente e da questi agli Sparti tramite la semina dei suoi denti (e quindi un’unione tra il Serpente e la terra, unione che potrebbe configurarsi come incestuosa se consideriamo la terra come madre del serpente). Nel mito il serpente custodisce qualcosa che è per gli dei prezioso o proibito ai mortali, per questo motivo e per la sua menzione come “custode” D. Mastronarde interpreta la sua morte come un crimine. Mastronarde 1994, 340. Ovviamente la morte del serpente crea un contrasto tematico con la nascita di Dioniso. Amiech 2004, 388–389. 67 Amiech 2004, 330. 68 Mastronarde 1994, 340.

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zione. Ciononostante Ares cerca la sua vendetta e gli Argivi e la loro armata ne sono solo una delle forme.69 Il Coro richiama alla memoria gli episodi della storia della fondazione di Tebe, avvenuta per volere e con l’aiuto degli dei, nella speranza che si trovi il modo per salvare nuovamente la città.70 Nella conclusione dello stasimo il Coro allarga il suo orizzonte narrativo e menziona Io e suo figlio Epafo, entrambi avi di Agenore (vv.676–689). Il Coro chiama in causa anche gli dei più antichi e gli avi comuni perché offrano difesa e protezione a Tebe e invoca la fine della violenza.71 Il Coro in questo stasimo non sembra molto interessato alla precedente contrapposizione dialettica tra Eteocle e Polinice nel loro agone,72 tuttavia questo non significa che non sia del tutto estraneo alla contrapposizione tra i due fratelli. Già nei vv.497–498, in occasione del primo confronto tra i due fratelli, il Coro, pur prendendo le distanze e ribadendo anche la propria estraneità geografica alla Grecia (ἐμοὶ μέν, εἰ καὶ μὴ καθ’ Ἑλλήνων χθόνα | τεθράμμεθ’, ἀλλ' οὖν ξυνετά μοι δοκεῖς λέγειν), esprime un giudizio sui valori ellenici e sulla vicenda in corso apparendo favorevole a Polinice e cercando quindi di guidare in quella direzione le simpatie dello spettatore. Euripide usa di frequente lo stereotipo del non greco che non è in grado di capire i valori greci (Medea 1330–1331; 1339–1340; Ecuba 328–331) e, anche in questo caso, il Coro delle donne straniere accetta la superiorità dei greci, ma ribadisce la validità del buon senso se si vuole stare al mondo.73 Lo scopo del Coro è in ogni caso il non compromettere la propria neutralità.74 Riassumendo, il primo stasimo sottolinea il forte stupore del Coro per il contrasto marcato tra la famosa e nota storia di Tebe e la profonda crisi in corso. Il Coro richiama nuovamente alla memoria le comuni origini e cerca un modo per presentare le imprese di Cadmo sotto una nuova luce; per questo scopo, ma non solo, il Coro richiama alla memoria anche alcuni episodi della fondazione di Tebe con lo scopo di trovare soluzioni alla crisi bellica attualmente in corso.

|| 69 Per un’approfondita descrizione del passato di Tebe e dei suoi collegamenti con il presente si veda: Amiech 2004, 383–384. 70 Mueller-Goldingen 1985, 118–119. 71 Amiech 2004, 391–393; Hose 1991, 150–151. 72 Mueller-Goldingen 1985, 116. Per un’analisi più approfondita dell’agone tra Eteocle e Polinice si consigliano i seguenti studi, i quali ne hanno assai chiaramente esaminato lo sviluppo retorico e argomentativo, la bipolarizzazione dialettica tra “offeso” e “aggressore” e l’utilizzo del concetto di Dike nella sua duplice funzione di vendetta/punizione contro giustizia/legalità. Papadodima 2011, 31–35; Mastronarde 2010, 213–214; Dubischar 2001, 53–65 e 358–363. 73 Amiech 2004, 347; Mastronarde 1994, 287–288. 74 Hose 2008, 179.

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4.4 Secondo stasimo Nella strofe il Coro sottolinea il ruolo di Ares in occasione della guerra e della possibile espugnazione di Tebe e, come contraltare di questo quadro funesto, menziona anche alcune caratteristiche dei culti di Dioniso intesi come segno di pace (vv.784–786).75 La contrapposizione tra Ares (nume tutelare della fonte della regione dove sorge Tebe) e Dioniso (nume di Tebe) rende chiara la contrapposizione tra violenza e pace. Secondo il Coro Ares è responsabile della guerra; questa affermazione permette inoltre di contestualizzare al meglio la profezia di Tiresia che vede nell’ira di Ares per la morte del serpente la causa della guerra. Quest’affermazione entra tuttavia in contrasto con quanto detto sempre dal Coro ai vv. 797bis–805 sul ruolo della nascita di Edipo come causa della guerra in risposta alle accuse mosse da Giocasta contro Cadmo. In quest’ottica il Coro menziona la sfinge e la natura punitiva della sua presenza per i tebani. Questa natura è alquanto ambivalente: se da un lato la presenza della sfinge è di per sé una punizione per i tebani, dall’altro la sua morte per mano di Edipo è una punizione ancora peggiore sia per i tebani, che per la famiglia reale, dal momento che è la ragione del matrimonio tra questi e Giocasta.76 Successivamente il Coro prosegue con la menzione degli eventi più famosi della saga tebana: la nascita degli Sparti per opera di Cadmo è un evento straordinario la cui fama è giunta sino in Fenicia (vv.818–821); di seguito vengono menzionati il matrimonio tra Cadmo e Armonia (vv.822–823)77 e Anfione e la sua cetra in relazione alla costruzione delle mura cittadine (vv.823–827).78 Tuttavia in questo contesto Anfione non è menzionato esplicitamente per il suo ruolo di costruttore delle mura, ma in quanto musicista che mosse le pietre grazie alle note del

|| 75 Ares è immune all’influsso di Dioniso e si contrappone ai suoi riti: invece di unirsi alle delizie della musica bacchica preferisce il rumore delle armi e la guerra. Cfr. Mastronarde 1994, 377; Mueller-Goldingen 1985, 132. Ares viene qui confrontato con Dioniso, che incorpora il concetto di pace. Cfr. Hose 1991, 162–163. È presente una contrapposizione tra gli Sparti e gli Argivi. In modo bizzarro gli Sparti diventano seguaci di Dioniso (sono cittadini di Tebe) quando invece sono in realtà legati ad Ares (sono figli del suo serpente). 76 Sempre nel contesto delle diverse punizioni, nell’Olimpica 2.38 Pindaro menziona un’Erinni di Laio che punisce Edipo per il suo parricidio causando la morte dei suoi figli e privando quindi di valore il mito della maledizione dei due figli da parte di Edipo stesso, sul quale si fondano la Tebaide e la spedizione argiva contro Tebe. Cfr. Cingano 2000, 151. 77 Vale la pena sottolineare che Ares è presente nel contesto tebano anche tramite sua figlia Armonia, la quale però, come dice il nome, è il contrario di ciò che il padre rappresenta. 78 Anfione non è stato evocato in precedenza come fondatore di Tebe e qui viene nominato come autore di un evento fuori del comune (muovere le pietre con la musica). Cfr. Mastronarde 1994, 388.

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suo strumento. Questa precisazione serve a chiarire che in questi versi il Coro mira a presentare Tebe come luogo degli eventi straordinari. Il Coro, per via della sua estraneità al contesto quotidiano tebano, è il personaggio più indicato per tracciare un simile ritratto della città: le donne infatti conoscono Tebe solo grazie agli eventi straordinari della sua storia cittadina e sono quindi comprensibilmente alquanto sorprese quando vedono Tebe e scoprono che la città si presenta come luogo della crisi invece che come luogo delle meraviglie. Il secondo stasimo si conclude con una composizione ad anello nella quale compaiono nuovamente Ares e il contrasto tra la situazione attuale e i capitoli più famosi della storia tebana. Il Coro presenta sotto una luce positiva anche eventi eccezionali che possono compromettere la fama di Cadmo, dal momento che questa e, per traslato, quella della sua città non devono presentare macchie (ovviamente il Coro è di parte a causa del suo legame con Cadmo). Il Coro usa il suo ruolo di “spettatore emotivamente coinvolto” al fine di creare una carrellata di eventi storici, tra i quali cerca e propone legami e interpretazioni inedite per presentare al pubblico Cadmo in una luce migliore e più nuova (vv.830–832).79 Gli sforzi del Coro sono commoventi ma, purtroppo, vani; nonostante una così nota fama e così numerosi eventi straordinari Tebe si trova in un momento critico della sua lunga storia, scossa dalle fondamenta a causa di una guerra civile e fratricida per i legami familiari non solo tra Eteocle e Polinice, ma anche tra Tebe e Argo (nella persona di Io).

4.5 Altri stasimi Ai fini di questo articolo un’analisi approfondita dei successivi stasimi non è necessaria in quanto in essi il Coro si limita a sottolineare ancora una volta il ruolo di Atena in occasione della morte del drago (terzo stasimo vv.1019–1066) e si lamenta per la morte di Eteocle e Polinice (quarto stasimo vv.1284–1307). Ai vv.1043–1066, dopo la rievocazione della sfinge, il Coro ricorda l’oracolo di Apollo su Edipo e il suo incesto e accusa Atena di aver scatenato la guerra avendo aiutato Cadmo a uccidere il serpente.80

|| 79 Il Coro delle Fenicie non ha la funzione di attore del dramma, ma quella di osservatore del fatto; tuttavia la sua provenienza dalla stessa patria dei fondatori di Tebe fa sì che la sua visione dei fatti non sia del tutto distaccata ma emotivamente partecipe del dramma. Un coro di tebane avrebbe mostrato un livello troppo elevato di coinvolgimento emotivo nella vicenda. Cfr. Hose 1990, 144–147; Hose 1991, 411. 80 Mueller-Goldingen 1985, 163–169.

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4.6 Altri episodi È interessante invece soffermarci un momento sul personaggio di Tiresia, che rappresenta una diversa versione della memoria storica tebana. Lo stesso Tiresia ha forti legami etnici e di sangue con la terra di Tebe in quanto figlio di Evereo, a sua volta figlio di Udeo, uno degli Sparti (Apollod. 2.6.7). In due diversi momenti (vv. 867–871 e vv. 930–959) Tiresia evidenzia la stratificazione delle ire divine contro Tebe.81 Nel primo momento Tiresia evidenzia e ricorda la colpa di Laio di aver generato un figlio che poi avrebbe sposato la madre.82 Nel corso di questa esposizione Tiresia usa un linguaggio tipico della medicina al fine di mostrare come la terra tebana sia stata contaminata e contagiata dal gesto di Cadmo (v. 867: νοσεῖ γὰρ ἥδε γῆ πάλαι).83 Nel secondo momento Tiresia spiega che la rovina di Tebe richiede l’espiazione di una colpa più antica di quella di Laio e si riferisce quindi chiaramente alla morte del drago causata da Cadmo. Solo il sacrificio di Meneceo, figlio di Creonte e quindi discendente degli Sparti, potrà vendicare la morte del drago di Ares e quindi placare l’ira di quest’ultimo. La morte di Meneceo nel luogo dove il drago fu ucciso permette di ristabilire l’equilibrio rotto dall’azione di Cadmo.84 Tiresia attua un’interessante separazione tra la colpa di Laio e quella di Cadmo: se la famiglia reale è dannata, la città può invece essere salvata (da un membro della stessa famiglia reale).85 Questa stessa visione sarà ripresa nuovamente da Edipo ai vv.1597–1614, il quale collega la morte dei suoi figli al crimine di suo padre Laio e al volere degli dei.86 Indicando in Meneceo la salvezza della città, Tiresia sottolinea come la colpa di Laio produca la sventura delle stirpe, quella di Cadmo invece la sventura della città e, attraverso il gesto eroico di Meneceo, sarà quindi possibile salvare la città ma non la stirpe (infatti Eteocle e Polinice sono condannati alla morte).87 Il gesto di Meneceo, oltre a placare l’ira di Ares, ristabilisce quindi la sacralità della terra tebana.88 Un’interessante seconda interpretazione vede nel sacrificio di Meneceo l’espiazione della colpa degli Sparti, i quali

|| 81 Mastronarde 1994, 391. 82 Amiech 2004, 440–441; Mueller-Goldingen 1985, 143–144. 83 Amiech 2004, 441. 84 De Cremoux 2012, 300–306; Hose 1991, 111–113. 85 Mastronarde 1994, 392. 86 Mueller-Goldingen 1985, 231–236. 87 Amiech 2004, 454–455; Mueller-Goldingen 1985, 149–150. 88 Amiech 2004, 455; Mastronarde 1994, 416.

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hanno mancato ai loro doveri verso Ares alleandosi con Cadmo invece di ucciderlo per vendicare la morte del serpente.89 Interessante è notare come ai vv.1060–1066 il Coro chieda ad Atena di avere più giovani come Meneceo, con una richiesta che ha un chiaro sapore politico e programmatico.90

5 Conclusioni Euripide rivela un’innovativa strategia narrativa nelle sue rappresentazione e narrazione della storia tebana. Al fine di chiarire chi sia effettivamente colpevole della crisi tebana, Euripide sfrutta le ambivalenze della storia di questa città per presentare la sua tesi: 1. in primo luogo la fondazione da parte di Anfione e Zeto è di fatto quasi del tutto ignorata. Nel contesto della Teicoscopia (vv. 88–201), Antigone e il pedagogo citano i protagonisti della seconda fondazione di Tebe solo per caratterizzare meglio la topografia dell’azione scenica. – Ai vv. 114–116 (ἆρα πύλαι κλῄθροις χαλκόδετά τ’ ἔμβολα | λαϊνέοισ Ἀμφίονος ὀργάνοις | τείχεος ἥρμοσται;) Antigone parla delle porte di Tebe come di un’opera di Anfione, ma non dice come questi le abbia costruite.91 Al v.131 il pedagogo nomina la fonte di Dirce, moglie di Lico, per meglio definire lo spazio della scena: τὸν δ' ἐξαμείβοντ’ οὐχ ὁρᾷς Δίρκης ὕδωρ;92 – Al v. 145 Antigone cita il monumento di Zeto (μνῆμα τὸ Ζήθου) per caratterizzare meglio la topografia del suo discorso.93 – Ai vv. 159–160 il servo evoca le tombe dei figli di Niobe per lo stesso motivo: ἐκεῖνος ἑπτὰ παρθένων τάφου πέλας | Νιόβης.94 Queste menzioni da parte dei discendenti di Cadmo sono sorprendenti perché, pur se prive di connotazione drammatica, rivelano l’esistenza di una seconda storia, ma ne ignorano, o meglio ne trascurano, la forte valenza mitica.

|| 89 Vian 1963, 159. 90 Hose 1991, 112. 91 Per un commento sulla struttura delle porte si veda: Mastronarde 1994, 184–185. Sul ruolo di Anfione e Zeto nella costruzione delle mura di Tebe, si veda: Hurst 2000. 92 La fonte di Dirce è il luogo dove viveva il serpente di Ares e dove si uccide Meneceo. Qui è semplicemente usata per definire la topografia della scena. Mastronarde 1994, 190. 93 Mastronarde 1994, 193. 94 Per maggiori dettagli si veda: Mastronarde 1996, 195.

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2.

Euripide esamina attentamente la stirpe di Cadmo e trova due possibili interpretazioni: contro Cadmo e in favore di Cadmo. – Contro Cadmo si pronuncia Giocasta in quanto discendente di un personaggio interamente autoctono quale il drago di Ares (prospettiva regionale). – In favore di Cadmo si pronuncia il Coro delle dame fenicie, in quanto originarie della sua stessa regione (prospettiva internazionale). Entrambe le posizioni hanno i loro argomenti; tuttavia è possibile arrivare a una sintesi comune solo quando il Coro viene attivamente coinvolto nell’ambiente tebano e trova nuovi elementi per una interessante tesi di una colpa generale.

Per meglio presentare la tesi è bene ripartire dalla domanda di Bertolt Brecht: Chi costruì Tebe dalle sette porte? Stando a una interpretazione letterale delle Fenicie, la risposta più immediata potrebbe essere: non è chiaro, forse Cadmo. Cadmo è dunque colpevole della crisi in corso? Stando a quanto affermato da Giocasta, sì; secondo il Coro, no. Allora chi ha ragione, Giocasta o il Coro? Trovare una risposta chiara non è del tutto semplice. Esaminando il prologo, si evince che secondo Giocasta la crisi ha due aspetti o, meglio, che si può parlare di due crisi: da un lato una crisi della città, dall’altro una crisi della famiglia reale. Entrambe le crisi trovano la loro causa nell’arrivo di Cadmo in Beozia. Quindi il colpevole è Cadmo! Sì e no. Sì perché uccise il drago di Ares contaminando in questo modo la terra tebana, dalla quale anche Giocasta ha origine. No perché Laio ha messo in atto le cause scatenanti la crisi contro Argo, avendo generato un figlio (assieme a Giocasta) contro i voleri e le indicazioni di Apollo. Secondo questa chiave di lettura, per il Coro il solo Laio è colpevole, dal momento che Cadmo è l’avo ideale e idealizzato vittima di un consiglio nefasto da parte degli dei (il Coro sottolinea il ruolo dei consigli di Atena in occasione dell’uccisione del Drago, al fine di limitare la percezione di colpevolezza di Cadmo). Tutto estremamente interessante, ma chi è colpevole? Quali sono le cause che hanno scatenato la crisi? Euripide presenta entrambe le tesi (contro Cadmo e in suo favore) al fine di mostrare che le cause della crisi di Tebe sono costituite da un concorso di azioni sia di uomini che di divinità, tra le quali compare Atena. Questa presa di posizione toglie ad Atena (e quindi per traslato anche ad Atene) la sua presunzione di innocenza e sottolinea sia l’universalità della guerra, dalla quale nessuno può dirsi innocente, sia l’importanza del gesto eroico di Meneceo, figlio di Creonte e discendente degli Sparti, per la salvezza della patria (ma non della famiglia che è condannata all’annientamento). Tramite Meneceo Euripide vuole dimostrare

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che solo le giovani generazioni possono offrire una soluzione al conflitto, anche se a caro prezzo.95

Questo messaggio è in primo luogo significativo e di grande impatto in un momento critico per la democrazia ateniese: quando le Fenicie vanno in scena (tra il 412 e il 409 a seconda delle differenti cronologie)96 sono visibili o i primi segnali di una guerra civile (nel caso di una data alta) o di una prossima sconfitta dopo una guerra civile (nel caso di una data bassa).97 Questa considerazione ha una forte valenza filologico-testuale legata alla problematica conclusione delle Fenicie: al v. 1763 Edipo afferma che il male viene dagli dei e sembra confermare le conclusioni precedentemente tracciate. Tuttavia l’intero blocco dei vv.1737–1766 è stato considerato spurio.98 Se accettassimo questa considerazione e sacrificassimo quindi una lunga e bella sezione della tragedia, potremmo trovare forse una possibile risposta alla domanda di Brecht: al v.1736 la tragedia finirebbe con il ricordo della Sfinge, una punizione per la colpa di Laio, che diventerebbe quindi il colpevole della crisi attuale che porta alla fine della sua discendenza diretta. Tuttavia è opportuno fare una breve precisazione: assegnare ogni responsabilità a Laio è riduttivo. Se Laio è colpevole di aver violato un ordine divino, Cadmo è colpevole di aver portato la civilizzazione e di aver seguito non solo ordini divini, ma anche leggi non scritte della tradizione agraria; infatti, dopo aver purificato il suolo della nuova città dalla presenza di un mostro

|| 95 Questo utilizzo politico dei miti non è nuovo, dato che nel V secolo aC il dibattito politico attinge ai miti delle città greche e li modifica a fini propagandistici per creare il ritratto del nemico o dell’alleato a seconda dei casi. Per esempio i conflitti tra Atene e Tebe si riflettono nei miti, dove Atene, modello e paradigma di uno stato ordinato e “illuminato”, si contrappone al caos e alla tirannide tebane al fine di rimarcare la propria superiorità morale. Cfr. Pepe 2000, 203–218; Hose 1995, 104. Un altro esempio è dato dai miti di Ione e di Cresfonte, riadattati da Euripide in chiave anti-spartana. Cfr. Bremmer 1997, 10–15. Riassumendo, i miti nel mondo antico hanno giocato un ruolo di primo piano nel discorso politico e venivano usati per costruire una realtà “ideale” da contrapporre alla realtà “reale” quando questa non era eccessivamente positiva o edificante. Cfr. Kyriakou 2011, 1–13. 96 Hose 2008, 36; Mueller-Goldingen 1985, 10. 97 Per un migliore colpo d’occhio sulle differenti cronologie delle Fenicie si vedano: Hose 2008, 36; Mueller-Goldingen 1985, 10. Nel 2011 B. Zimmermann e A. Markantonatos hanno pubblicato una miscellanea di studi che offre nuovi punti di vista sul teatro attico del V secolo e sul suo rapporto con le contemporanee vicende politiche, quando le avvisaglie dell’imminente crisi dell’Impero Ateniese verso la fine della Guerra del Peloponneso marcano le prime crepe nel tessuto politico e sociale ateniese. Cfr. Markantonatos/Zimmermann 2011, v–xi. Non è inutile ricordare il ruolo e la funzione della tragedia greca come autorappresentazione della città e delle sue ansie in momenti di crisi. Cfr. Gehrke 2013, 75; Hose 2011, 17. 98 Mastronarde 1994, 642–643.

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e aver seminato gli Sparti, Cadmo, sempre secondo i precetti divini, li istiga alla lotta in modo che la loro morte rappresenti l’offerta dei primi frutti del raccolto della nuova regione secondo la tradizione.99 In quest’ottica quindi anche la morte del drago è necessaria a preparare il rito di ringraziamento per la terra per il suolo che lei ha concesso per la fondazione della città.100 Questo rito ha tuttavia scatenato una crisi e, se Laio è colpevole di empietà, Cadmo è colpevole in quanto troppo pio. Pur partendo da intenzioni diverse le colpe conducono alla crisi e, come già detto, entrambe vedono il ruolo attivo delle divinità; per questo motivo, oltre a suggerire una colpevolezza condivisa e distinta di Cadmo e di Laio e delle divinità, questo articolo propone anche di considerare autentici gli ultimi trenta versi delle Fenicie, perché chiariscono e concludono l’analisi mitica di Euripide di una colpa collettiva e della impotenza umana dinanzi ai disegni divini.

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|| 99 Vian 1963, 173. 100 Vian 1963, 175.

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„Wer baute das siebentorige Theben?“ | 137

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Johannes Buhl

Σοφίσματα θεῶν Götterdämmerung, Kontingenzerfahrung und Kulturpessimismus in Euripides’ „Phönikierinnen“ Abstract: Euripides’ play Phoenissae describes Thebes in a perilous crisis. In the present article, I analyse how the characters of the play react to this situation. While some of them show confidence in the traditional Gods, other figures act like politicians of the 5th century BC yearning for power. Thus, Euripides thwarts the idea of self-sacrifice for the community, especially by his way of describing the suicide of Menoiceus. Drawing both on Sigmund Freud’s article Das Unbehagen in der Kultur and on Christian Meier’s concept of Greek ‘Könnensbewusstsein’, I seek to show that the problem underlying Theban society is the inability to acknowledge human contingency.

1 Einleitung Euripides’ wohl zwischen 411 und 409 entstandene1 Tragödie „Die Phönikierinnen“ stellt Theben in einer Situation existenzieller Bedrohung dar: Wie bereits in Aischylos’ „Sieben gegen Theben“ steht der Angriff des Polyneikes, „eine mörderische Schlacht“,2 unmittelbar bevor, und im Fall der Niederlage droht Versklavung (z.B. Eur. Ph. 189; 192), ja der vollständige Untergang des Hauses des Ödipus (z.B. ebd. 379), ein für Athen in einer heiklen Situation des Peloponnesischen Krieges durch und durch relevantes Thema. Die „Phönikierinnen“ stehen in einer Reihe attischer Tragödien, deren Schauplatz Theben ist. Mit diesen hatten die Tragödiendichter die fremde Polis als literarischen Topos gleichsam neu erschaffen,3 um auf ihrem Boden zeitgenössische Fragestellungen auch der heimischen Polis gefahrlos verhandeln zu können:

|| 1 Vgl. Mastronarde 1994, 11–14. 2 Eur. Ph. 252: φοινίου μάχας. Alle Übersetzungen stammen vom Autor. 3 Zeitlin 1986, 101. https://doi.org/10.1515/9783110656893-006

140 | Johannes Buhl

Anhand der fremden, häufig auf eine andere Stadt projizierten Konflikte durchlebten die Zuschauer die widersprüchlichen Prozesse, die der eigenen gesellschaftlichen Organisationsform zugrundelagen, noch einmal.4

Dabei prallen in den „Phönikierinnen“ zwei Welten aufeinander: Zum einen bildet der thebanische Sagenkreis, die Gründung der Polis durch Kadmos mit der Tötung der Schlange und der Aussaat der Sparten, die Tragödie des Ödipus und die Ereignisse um Dionysos, also mythische Ereignisse der Vergangenheit, die Grundlage der aktuellen Krise. Besonders der Chor ruft diesen Zusammenhang immer wieder in Erinnerung, aber auch in den Figurenreden kommt die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit zum Vorschein. Zum anderen erinnert die im Drama geschilderte Kriegssituation, obwohl auch diese Teil des ThebenMythos ist, an die unmittelbar vom Publikum erlebte Gegenwart, zudem agieren die Kontrahenten der aktuellen Auseinandersetzung, insbesondere Eteokles, wie zeitgenössische Politiker. Der Riss zwischen beiden Sphären geht mitten durch die im Drama beschriebene Gesellschaft, ja zum Teil scheidet er ein und dieselbe Person gleichsam in zwei unterschiedlich agierende Individuen, wie im Folgenden ausführlicher gezeigt werden soll. Dazu sollen zunächst die Handlungsmuster und, modern gesprochen, Selbstkonzepte einzelner Charaktere untersucht und sowohl in Diskurse der Entstehungszeit des Dramas als auch in moderne Kategorien eingeordnet werden. Der Untersuchung des Selbstopfers des Menoikeus als entscheidender Innovation des Euripides soll dabei besondere Aufmerksamkeit zukommen. Abschließend soll eine mögliche Deutung dessen gegeben werden, woran die fiktive thebanische Gesellschaft krankt. Christian Meiers Darstellung des griechischen „Könnensbewusstseins“5 und Sigmund Freuds Studie „Das Unbehagen an der Kultur“6 sollen dabei zu einem Verständnis der Figuren und ihres Handelns beitragen.

2 Iokaste und die Götter Die Charaktere der „Phönikierinnen“ lassen sich grob zwei verschiedenen Generationen zuweisen: Einer älteren Generation gehören Iokaste, Kreon und Tei-

|| 4 Ette 2014, 160–161. 5 Meier 1978. 6 Freud 1930.

Σοφίσματα θεῶν | 141

resias an, einer jüngeren Eteokles, Polyneikes, Antigone und Menoikeus. Der damit umrissene Generationenkonflikt wird ausdrücklich thematisiert, wenn es nach einer anmaßenden Rede des Eteokles (Ph. 499–525) heißt: Mein Kind, nicht alles am Alter ist schlecht, Eteokles, sondern die Erfahrung kann etwas Klügeres als die jungen Leute sagen.7 (Eur. Ph. 528–530)

Die Sprecherin dieses Satzes ist Iokaste. Da sie als erste Figur das Drama eröffnet, kommt ihr eine gewichtige Rolle zu; nicht selten gebührt diese Position den namensgebenden Personen der Euripideischen Tragödie, so etwa in der „Helena“ oder der „Iphigenie bei den Tauriern“. Zum Vergleich: In den inhaltsgleichen „Sieben gegen Theben“ des Aischylos tritt Iokaste überhaupt nicht als Figur auf, die Stärkung ihrer Rolle ist wohl eine bewusste Innovation des Euripides,8 so dass man ihr besondere Aufmerksamkeit zuwenden sollte. Iokaste muss in entscheidenden Situationen das Ruder übernehmen und staatsmännisch – gegen ein tradiertes Geschlechtermodell – auftreten, da Ödipus in seiner Gefangenschaft ausfällt9 und ihre beiden Söhne sich so in ihren Streit verstrickt haben, dass sie ihrer Fürsorgepflicht für die Polis nicht nachkommen können. So initiiert sie ein Vermittlungsgespräch zwischen Polyneikes und Eteokles (Ph. 81–82), das sie auch zu moderieren versucht (446–637), und eilt später zum Zweikampf der beiden Kontrahenten in der Absicht, ihn in letzter Minute zu verhindern (1264–1282). Gerade in ihrer Rhesis an ihre beiden Söhne (528–585) im ersten Epeisodion fällt ihre politische Kompetenz auf; dabei zeigt sich auch, welches Weltbild ihrem Argumentieren und Handeln zu Grunde liegt. Dieses ist von einem grundsätzlichen Vertrauen in eine gerechte Ordnung der Welt geprägt. So vergleicht sie den ursprünglichen Plan, nach dem beide Brüder sich in ihrer Herrschaft über die Stadt im Jahresturnus (477: ἐνιαυτοῦ κύκλον) abwechseln sollten, mit dem Wechsel von Tag und Nacht:

|| 7 ὦ τέκνον, οὐχ ἅπαντα τῶι γήραι κακά, | Ἐτεόκλεες, πρόσεστιν· ἀλλʾ ἡμπειρία | ἔχει τι λέξαι τῶν νέων σοφώτερον. 8 Vgl. Mastronarde 1994, 25. 9 Eur. Ph. 64 berichtet, dass Eteokles und Polyneikes Ödipus in seinem eigenen Haus weggesperrt haben.

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Das lichtlose Auge der Nacht10 und der Sonne Licht gehen ihren jährlichen Kreis, und keines von beiden erleidet eine Niederlage und empfindet deshalb Neid.11 (Eur. Ph. 543–545)

Den Wechsel von Tag und Nacht als sichtbares Kennzeichen einer globalen Ordnung zu erachten, in mythischen Begriffen eine Herrschaft der Dike anzunehmen, ist traditionelles Allgemeingut. Für Heraklit (DK 22 B 94) würden die Erinnyen, die „Helferinnen der Dike“12, eingreifen, sollte die Sonne ihre Befugnisse überschreiten; auch für Parmenides (DK 28 B 1,11) ist das „Tor der Bahnen von Nacht und Tag“13 dieser Göttin unterstellt. Iokastes derartiges Weltbild kann, solange es gesellschaftlicher Konsens ist, die widerstrebenden Kräfte im Staat koordinieren und zwischen ihnen vermitteln, wie es beispielsweise auch Solon in seinen und mittels seiner Elegien anstrebte.14 Insbesondere Iokastes Warnung, die Götter könnten den Menschen ihren Reichtum jederzeit wieder wegnehmen,15 erinnert an den alten Gesetzgeber.16 Allerdings kann sie Eteokles mit ihrer anachronistischen Argumentation nicht überzeugen. Durch seinen Subjektivismus, der leugnet, dass es unter den Menschen einen Konsens darüber gibt, was Begriffe wie καλός oder σοφός bedeuten,17 verurteilt er jede Kommunikation zum Scheitern. Auch mit seinem Anspruch auf das Recht des Stärkeren (509–510) erweist sich Eteokles als Vertreter

|| 10 So Mastronarde 304: „‘the lightless eye of night’, that is, night with its darkness that neither sees nor helps men see“, gemeint ist also nicht der Mond. 11 νυκτός τʾ ἀφεγγὲς βλέφαρον ἡλίου τε φῶς | ἴσον βαδίζει τὸν ἐνιαύσιον κύκλον, | κοὐδέτερον αὐτῶν φθόνον ἔχει νικώμενον. Zur Übersetzung vgl. Mastronarde 1994, 305. 12 Δίκης ἐπίκουροι, zit. nach Mansfeld/Primavesi 2012, 272. 13 πύλαι Νυκτός τε καὶ Ἤματος […] κελεύθων, zit. nach Mansfeld/Primavesi 2012, 318. 14 Vgl. z.B. Sol. 4 West; 13 West. 15 Eur. Ph. 555–559: οὔτοι τὰ χρήματʾ ἴδια κέκτηνται βροτοί, | τὰ τῶν θεῶν δʾ ἔχοντες ἐπιμελούμεθα· | ὅταν δὲ χρήιζωσʾ αὔτʾ ἀφαιροῦνται πάλιν. | ὁ δʾ ὄλβος οὐ βέβαιος ἀλλʾ ἐφήμερος („Eigenen Besitz haben die Sterblichen nicht, was den Göttern gehört, besitzen wir, und darum kümmern wir uns; wenn sie es wünschen, nehmen sie es uns wieder weg. Wohlstand ist nicht beständig, sondern kurzlebig“). Diggle 1994 athetiert diese Verse, allerdings ist der Befund nicht eindeutig, die Verse sind durchaus haltbar, vgl. Mastronarde 1994, 311–312. 16 Vgl. z.B. Sol. 13,7–8 West: χρήματα δʾ ἱμείρω μὲν ἔχειν, ἀδίκως δὲ πεπᾶσθαι | οὐκ ἐθέλω· πάντως ὕστερον ἦλθε δίκη („Reichtum zu haben ersehne ich zwar, aber ich will ihn nicht zu Unrecht erworben besitzen: Denn später kommt sicher die Vergeltung“). 17 Vgl. Eur. Ph. 499–502: εἰ πᾶσι ταὐτὸν καλὸν ἔφυ σοφόν θʾ ἅμα, | οὐκ ἦν ἂν ἀμφίλεκτος ἀνθρώποις ἔρις· | νῦν δʾ οὔθʾ ὅμοιον οὐδὲν οὔτʾ ἴσον βροτοῖς, | πλὴν ὀνόμασι· τὸ δʾ ἔργον οὐκ ἔστιν τόδε („Wenn für Alle dasselbe gut und zugleich weise wäre, gäbe es unter den Menschen keinen Streit. Nun aber ist den Sterblichen nichts ähnlich oder gleich, abgesehen davon, dass

Σοφίσματα θεῶν | 143

sophistischer Positionen. Wenn er die Alleinherrschaft dann als „größte der Göttinnen“ (506: τὴν θεῶν μεγίστην […] τυραννίδα) bezeichnet, führt er den Verlust der Kommunikationsbasis unmittelbar vor Augen: Was für Iokaste Garant von Recht und Ordnung war, wird für Eteokles zum Antrieb, sich gegen Recht und Ordnung zu erheben. Die Auseinandersetzung zwischen Iokaste und Eteokles spiegelt einen durch und durch realen gesellschaftlichen Prozess des 5. Jahrhunderts wieder. Tradierte Maßstäbe moralischer Orientierung waren ins Wanken geraten, ein neuer gesellschaftlicher Konsens noch nicht gefunden. So legen Texte, die nicht lange nach den „Phönikierinnen“ entstanden sind, Zeugnis vom Ringen um eine konsensfähige Definition tradierter Wertbegriffe ab. Platons „Apologie“ etwa beweist, dass σοφὸς ἀνήρ zum Schimpfwort verkommen konnte,18 sein Dialog „Laches“, in dem zwei Väter über die richtige Erziehung ihrer Söhne diskutieren, […] gibt […] den Blick frei auf den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse, der im Laufe des 5.Jh.s vorgegangen war, und auf die Konsequenzen, die sich aus diesem Wandel ergeben hatten. In früheren Generationen hatten im wesentlichen die in der Gesellschaft und in den Familien gepflegten Traditionen ausgereicht, um den Heranwachsenden die notwendigen Maßstäbe und Kenntnisse zu vermitteln und sie auf ein Leben als Bürger ihrer Heimatgemeinde vorzubereiten. Inzwischen konnte eine Ausbildung dieser Art den Anforderungen nicht mehr genügen.19

Wie in den „Phönikierinnen“ legt auch das erste Buch von Platons „Politeia“ den Generationenkonflikt offen: Nicht zufällig trifft Sokrates seinen ersten Gesprächspartner Kephalos nach dem Abschluss eines Opfers an (Plat. Rp. 1,328c), so dass dieser als Mitglied der alten, auf das Wirken der Götter vertrauenden Generation gelten kann. Kephalos’ Vorstellungen von der Rolle des Reichtums und der Gerechtigkeit für ein glückliches Leben sind einer rationalen Auseinandersetzung nicht gewachsen, woraufhin er sich wieder in seine kultischen Verpflichtungen flüchtet (Plat. Rp. 1,331d): Eine Diskussion über Begriffe braucht er nicht, sie ist ihm zuwider. Dass Kephalos’ Sohn Polemarchos ebenso wenig wie sein Vater auf die Anfragen des Sokrates antworten kann, zeigt aber auch, dass der Riss nicht nur Generationen trennt, sondern auch Menschen, die derselben Generation angehören.

|| sie dieselben Worte benutzen. Was sich aber in Wirklichkeit dahinter verbirgt, ist nicht dasselbe“). 18 Plat. Ap. 18b7. 19 Heitsch 2004, 37.

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Dieser Sachverhalt spiegelt sich in den „Phönikierinnen“ an den beiden Brüdern wider. Bereits bei seinem Eintritt in den geschützten Raum Thebens wird die Position des Polyneikes klar. Denn obwohl ihm der Zugang in die verschlossene Stadt allzu leicht fällt und er deshalb eine Falle vermutet (Eur. Ph. 261–264), sieht er in den nahen Altären und der Anwesenheit von Bürgern Garanten für seine Unversehrtheit und traut sich daher, sein Schwert in die Scheide zurückzustecken.20 Er vertraut also auf göttlichen Schutz, zumindest darauf, dass die Bürger in ihrer Furcht vor den Göttern seine Sicherheit garantieren. Er hofft, dass „ein Gott Richter und Friedensstifter im Angesicht der Übel“ (467–468: κριτὴς δέ τις | θεῶν γένοιτο καὶ διαλλακτὴς κακῶν) wird, und distanziert sich ausdrücklich von sophistisch-rhetorischen Tricks (472: φαρμάκων […] σοφῶν), derer seine Rede, „der schlichte Bericht der Wahrheit“ (469: ἁπλοῦς ὁ μῦθος τῆς ἀληθείας) im Gegensatz zur ungerechten Rede (471: ἄδικος λόγος) nicht bedürfe. Im Gegensatz zu seinem Bruder ist Polyneikes einer traditionellen Ethik verhaftet; da er sich außerdem zunächst vereinbarungsgemäß an die Abmachung der Brüder bezüglich des turnusmäßigen Herrschaftswechsels gehalten hat und erst auf Grund der Vertragsverletzung seines Bruders zu militärischen Mitteln gegriffen hat, verwundert es nicht, dass die Sympathie des Chores bzw. der Chorführerin auf seiner Seite liegt (497–498), während diese sich von der Position des Eteokles distanziert (526–527). Iokaste hingegen ergreift nicht für Polyneikes Partei. Trotz seiner moralischen Überlegenheit wirft sie ihm vor, unklug (570: ἀσύνετος) gehandelt zu haben: Im Fall eines Sieges wäre er Herrscher über eine zerstörte Polis, im Falle einer Niederlage müsste er, „nachdem er Tausende Tote zurückgelassen hätte“ (579: μυρίους λιπὼν νεκρούς), geschlagen zu seinem Schwiegervater zurückkehren und die dortigen Demütigungen ertragen. Was beide Söhne aus Iokastes Sicht also bei aller Verschiedenheit vereint, ist ihre ἀμαθία (584: ἀμαθία δυοῖν). Beide haben Aktionen in Gang gesetzt, deren mögliche Konsequenzen sie nicht bedacht haben. Damit haftet ihnen, selbst dem aggressiv gezeichneten Eteokles, eine kindliche Naivität an, mit der sie zur erfahrenen Mutter in diametralem Gegensatz stehen, während diese trotz ihres kindlich-naiven Glaubens an höhere Mächte zu erstaunlich strategischem und staatsmännischem Denken in der Lage ist. Besonders bei Polyneikes ist dies tragisch, hatte er doch als Schicksal des Verbannten bedauert, „den Unverstand der Herrschenden tragen zu müssen“ (393: τὰς τῶν κρατούντων ἀμαθίας φέρειν χρεών).

|| 20 274–275: ἀλλʾ ἐγγὺς ἀλκή (βώμιοι γὰρ ἐσχάραι | πέλας πάρεισι) κοὐκ ἔρημα δώματα („Aber Schutz ist nahe: Denn die Feuer der Altäre sind in der Nähe, und die Häuser sind nicht verlassen“).

Σοφίσματα θεῶν | 145

Doch auch Eteokles verfügt prinzipiell über die Möglichkeit bedachten Handelns. So berät er sich zu Beginn des zweiten Epeisodions (690–783) ausdrücklich mit Kreon über die beste Kampfstrategie: Ich will mich mit ihm über Fragen, die die Familie und die gemeinsamen Interessen des Landes betreffen, beraten, bevor ich in die Schlacht ziehe und in die Schlachtreihe trete.21 (Eur. Ph. 692–694)

Von Kreon kann er jene Wohlberatenheit (721; 746: εὐβουλία) annehmen, die ihm und seinem Bruder in ihrem Agon und mehr noch im Zweikampf (1359–1422) völlig abhandenkommt. In letzterem verlieren beide ihre menschliche Beherrschung so sehr, dass ihr animalischer Aggressionstrieb ungehemmt zum Vorschein kommen kann: Wie Eber wetzten sie ihre wilden Zähne und stürzten sich aufeinander, die Wangen triefend von Schaum.22 (Eur. Ph. 1380–1381)

Dass Iokastes Vertrauen auf transzendente Mächte als Garanten irdischer Ordnung und die Erfahrung von Unglück und Leid zu einer kognitiven Dissonanz23 führen müssen, liegt auf der Hand. Das theodizeeartige Ringen um eine Klärung der Ursachen für all das, was ihr und ihrer Familie zugestoßen ist, ist Leitmotiv von Iokastes erstem Auftritt im Prolog. Dort holt sie, nicht untypisch für Euripideische Prologe,24 weit aus und umreißt die Unglück bringenden Ereignisse von der Ankunft des Kadmos an der Stelle des späteren Theben bis zu ihrer Gegenwart. Dabei nimmt sie von Anfang an eine anklagende Haltung ein, wenn sie nach der Anrufung des Helios fortfährt: „Wie unglücklich für Theben hast du an dem Tag deinen Strahl geschickt, als Kadmos in dieses Land kam […]“ (4–6),25 beinahe, als wolle sie Helios für die Tat des Kadmos, also Drachentötung und Aussaat der Sparten beschuldigen. || 21 […] ὡς οἰκεῖα καὶ κοινὰ χθονὸς | θέλω πρὸς αὐτὸν συμβαλεῖν βολεύματα, | πρὶν ἐς μάχην τε καὶ δορὸς τάξιν μολεῖν. 22 κάπροι δʾ ὅπως θήγοντες ἀγρίαν γένυν | ξυνῆψαν, ἀφρῶι διάβροχοι γενειάδας. 23 Der Begriff entstammt der modernen Sozialpsychologie: „Kognitive Dissonanz ist ein Konfliktzustand, den eine Person erlebt, nachdem sie eine Entscheidung getroffen hat, eine Handlung vorgenommen hat oder in Kontakt mit Informationen gekommen ist, die im Widerspruch zu ihren Überzeugungen, Gefühlen und Werten stehen“ (Zimbardo/Gerrig 2004, 780). 24 Vgl. z.B. die Prologe der „Helena“ (Eur. Hel. 1–87) oder der „Iphigenie bei den Tauriern“ (Eur. I.T. 1–66), bei denen auch jeweils eine zentrale weibliche Figur die Vorgeschichte präsentiert. 25 ὡς δυστυχῆ Θήβαισι τῆι τόθʾ ἡμέραι | ἀκτῖνʾ ἐφῆκας, Κάδμος ἡνίκʾ ἦλθε γῆν | τήνδʾ.

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Sich selbst empfindet Iokaste als völlig unschuldig. So sucht sie bei Laios die Verantwortung für die Zeugung des Ödipus gegen den Rat des Orakels;26 dass dieser in einen Rausch (21: βακχείαν) verfallen war, als er Iokaste schwängerte, bezieht den Gott Dionysos andeutungsweise in die Schuldfrage mit ein, was ihre eigene Unschuld noch mehr unterstreicht. Auch bezüglich ihrer sexuellen Vereinigung mit Ödipus betont sie: Er [sc. Ödipus] heiratet seine Mutter, ohne etwas zu wissen, der Duldende, so wie auch die Mutter nichts weiß, als sie sich mit ihrem Kind vereinigt.27 (Eur. Ph. 53–54)

Die gegenwärtige Situation muss sie damit als etwas von außen geradezu hinterlistig an sie Herangetragenes empfinden, als „Schicksal […], das vieler Tricks (σοφίσματα) bedurfte“.28 Dieses hier benutzte Nomen muss nicht negativ besetzt sein, beinhaltet aber immer eine gewisse Art von planender Schlauheit, die die Menschen beim Erreichen ihrer Ziele voranbringt. Pejorativ kann es eine ganze Reihe von Finten, sei es auf der Bühne, in der Rede oder der Politik kennzeichnen,29 und in Iokastes Wahrnehmung scheinen transzendente Mächte sich solcher Finten bedient zu haben, um die so unwahrscheinlichen Konstellationen herzustellen, die zum Frevel des Ödipus und so zum aktuellen Leid geführt haben.

|| 26 21–22: ὃ δʾ ἡδονῆι ʾνδοὺς ἔς τε βακχείαν πεσὼν | ἔσπειρεν ἡμῖν παῖδα („Der aber gab sich dem Vergnügen hin, verfiel in einen Rausch und säte in uns ein Kind“). 27 γαμεῖ δὲ τὴν τεκοῦσαν οὐκ εἰδὼς τάλας | οὐδʾ ἡ τεκοῦσα παιδὶ συγκοιμωμένη. 28 64–65: κλήιθροις ἔκρυψαν πατέρʾ, ἵνʾ ἀμνήμων τύχη | γένοιτο πολλῶν δεομένη σοφισμάτων („Sie verbargen den Vater hinter verschlossenen Türen, damit das Schicksal, das so vieler Tricks bedurfte, vergessen werde“). Iokastes Aussage steht im Kontext der Reaktion ihrer Söhne auf die Selbstblendung des Ödipus, weswegen die σοφίσματα in der Regel als Mittel zum Verbergen des Vaters interpretiert werden, so z.B. Mastronarde 1994, 162: „ʿrequiring many clever shifts to be forgottenʾ; ʿto be forgottenʾ is understood from the context“. Dem lässt sich allerdings ein Fragment des Euripides entgegensetzen, in dem die Götter ausdrücklich als die Urheber derartiger Tricks zum Schaden der Menschen diffamiert werden: πολλαῖσι μορφαῖς οἱ θεοὶ σοφισμάτων | σφάλλουσιν ἡμᾶς κρείσσονες πεφυκότες (Eur. fr. 972 Kannicht: „Mit vielen Formen von Tricks täuschen uns die Götter, da sie stärker sind“). Zur Übersetzung von κλήιθροις vgl. Mastronarde 1994, 162. 29 Vgl. LSJ s.v. σόφισμα. Im situativen Kontext muss mit τύχη die Selbstblendung des Ödipus gemeint sein, denn ihn sperrten die beiden Söhne ein, damit sein Schicksal vergessen werde (vgl. Anm. 28); auch Teiresias bezeichnet die Selbstblendung des Ödipus als θεῶν σόφισμα (871), wobei in beiden Fällen sicherlich die ganze Vorgeschichte, die zur Blendung des Ödipus geführt hat, mit eingeschlossen ist.

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Iokaste betrachtet sich in ihrer Schilderung also als Spielball eben jener Mächte, die sie in ihrem Gespräch mit den Söhnen als Garanten einer gerechten Weltordnung erachtet, 30 mehr noch: Sie traut ihnen die Finten eben jener Sophisten zu, auf deren Lehren bauend Eteokles seinen Bruder um die Herrschaft gebracht und die aktuelle Krise heraufbeschworen hat. Obwohl sie ihren eröffnenden Monolog mit einer Anrufung des Helios (1–3) und Zeus (84–87) rahmt, spricht doch aus den abschließenden Worten der Zweifel: Du darfst nicht zulassen, wenn du weise bist, dass ein und derselbe Mensch immer im Unglück lebt.31 (Eur. Ph. 86–87)

Wie bereits in der Analyse der Rede des Eteokles gezeigt wurde, lässt sich dort kein gesellschaftlich allgemein akzeptierter Konsens über die Bedeutung von Begriffen wie σοφός finden. Ohne es zu ahnen, bringt Iokaste daher das zentrale Problem auf den Punkt: Was für Zeus, wenn er denn agieren kann, weise ist, muss nicht dasselbe sein, wie das, was für Iokaste weise ist; noch zugespitzter formuliert oktroyiert Iokaste Zeus ihre perspektivisch beschränkte Vorstellung von Weisheit auf. Untersucht man über den eigentlichen Inhalt von Iokastes Monolog hinaus ihre Wortwahl genauer, fällt auf, dass sie oft Begriffe verwendet, die eine zweite Ebene unterhalb der erzählten Ereignisse bilden. So heißen beispielsweise bekanntermaßen die Ureinwohner Thebens, die aus den von Kadmos gesäten Schlangenzähnen erwachsen sind, Sparten, abgeleitet vom griechischen σπείρω. In ähnlicher Wortwahl warnt das Orakel von Delphi in Iokastes Bericht Laios: μὴ σπεῖρε τέκνων ἄλοκα („Besähe nicht fortwährend die Saatfurche für die Kinder“, 18). Das Verb σπείρω findet sich bereits bei Aischylos als Begriff für die Zeugung von Kindern, wenn der Chor in dessen „Sieben gegen Theben“ die Zeugung der Kinder des Ödipus mit den Worten ματρὸς ἁγνὰν | σπείρας ἄρουραν („indem er den heiligen Acker der Mutter besäte“, Aeschl. Sept. 753–754) umschreibt. Eine Anspielung auf die ursprüngliche Aussaat der Sparten ist zumindest vorstellbar. Während das bei Aischylos verwendete Substantiv ἄρουρα noch des Öfteren im Sinn von „Mutterschoß“ gebraucht wird,32 bietet der Euripideische Text mit ἄλοξ eine weitaus entlegenere Metapher; interessanterweise findet sich das Wort

|| 30 Es sei denn, man will annehmen, dass sie vor den Söhnen rhetorisch taktiert, was ich aber für unwahrscheinlich halte. 31 χρῆν δʾ, εἰ σοφὸς πέφυκας, οὐκ ἐᾶν βροτῶν | τὸν αὐτὸν αἰεὶ δυστυχῆ καθεστάναι. 32 LSJ s.v. ἄρουρα.

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in derselben Bedeutung in Sophokles’ „König Ödipus“,33 auch dort bezogen auf die Schwängerung der Iokaste, so dass in beiden Fällen eine Verbindung zu den Sparten, die aus in Ackerfurchen gesäten Zähnen erwachsen waren, naheliegt. In Iokastes Darstellung scheint also die Zeugung des Ödipus auf eine gewisse Weise mit der ursprünglichen Aussaat der Sparten verbunden zu sein bzw. diese wiederholt zu haben. Iokaste erwähnt ferner die namensgebende Durchtrennung der Fußsehnen des Ödipus durch Laios (Eur. Ph. 26). Wenig später berichtet sie, wie jenem Fußkranken die Pferde des Laios bei der unerkannten Begegnung der beiden „mit ihren Hufen die Fußsehnen verletzten“.34 Auch hier wird das ursprüngliche Trauma wiederholt; dass die Pferdehufe zudem als so scharf dargestellt werden, dass sie Ödipus eine regelrechte Schnittverletzung zufügen können, mag zudem Assoziationen an die Klauen der Sphinx hervorrufen, die im weiteren Verlauf des Dramas (808) mit demselben Wort bezeichnet werden. Zu dieser Verletzung war es nach Iokastes Auskunft nur gekommen, weil sich Ödipus der Aufforderung des Laios, aus dem Weg zu treten, widersetzte und stattdessen schweigend weiterging (41). Das Verb, mit dem sie seine Bewegung schildert, lautet εἷρπ(ε). Allein die etymologische Verwandtschaft zu Wörtern wie ἑρπετόν, das kriechende Tier, oder dem lateinischen serpere bzw. serpens lässt Assoziationen an die von Kadmos getötete Schlange wach werden. Üblicherweise bezeichnet der Begriff einen schleppenden oder kriechenden Gang.35 Bereits in den „Sieben gegen Theben“ benutzt ihn Eteokles in seinem Appell an die Landsleute. Diese sollten

|| 33 Soph. O.T. 1211–1212. Ich interpretiere πατρῳ- | αί […] ἄλοκες als die vom Vater besäten Furchen. 34 Eur. Ph. 41–42: πῶλοι δέ νιν | χηλαῖς τένοντας ἐξεφοίνισσον ποδῶν. 35 Das Verb bezeichnet in Hom. Od. 12,395 das Kriechen der Häute der frevelhaft geschlachteten Rinder des Helios, die als Schreckenszeichen beginnen, sich zu bewegen; in Eur. Cycl. 423 wird das Gehen des angetrunkenen Kyklopen geschildert, in Soph. Ph. 207 der schleppende Gang des kranken Philoktet unter schweren Schmerzen. Obwohl LSJ (s.v. εἵρπω, 2.) die Bedeutung „simply, go, come“ nennt, lassen auch die dort angeführten Belegstellen in der Regel an besondere Arten der Fortbewegung denken, etwa in Aeschl. Pr. 810 das Gehen der Kuh Io oder in Soph. O.C. 1643 die Aufforderung des Ödipus an seine Töchter zu gehen, während sich diese nicht losreißen können, was hier mit dem Oxymoron ἕρπεθʾ ὡς τάχιστα anschaulich vorgestellt wird.

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[…] der Stadt beistehen und den Altären der heimischen Götter […] und der Mutter Erde, der liebsten Amme: Denn diese barg die kriechenden Kinder auf ihrem wohlwollenden Boden, nahm die ganze Mühe der Aufzucht auf sich und ernährte die schildtragenden Siedler.36 (Aeschl. Sept. 14–19)

Dass der Mythos der Sparten hier der Kampfparänese dient, liegt auf der Hand. Die kriechenden Kinder vergegenwärtigen die sich schlangenhaft aus der Erde windenden Sparten, die damit ihrerseits wieder die getötete Schlange aufleben lassen. Indem Iokaste dasselbe Verb benutzt, um den Gang des Ödipus zu schildern, betont sie abermals eine Verkettung der mythischen Vorgeschichten. Sicherlich könnte man all diese Begriffe, die als Ankerpunkte für vielfältige Assoziationen und Anspielungen dienen können, lediglich einem gedrechselten, metaphernreichen Stil des Euripides zuschreiben; die Anspielung auf die Mythen der Vergangenheit könnte einfach ein Spiel mit Worten und Begriffen sein. Ich halte es allerdings für wahrscheinlicher, dass der Zuschauer eine Verbindung der verschiedenen Mythen wahrnehmen soll, vor allem auch des Kadmos-Mythos, der an der Textoberfläche eher im Hintergrund steht. Womöglich soll Iokastes Monolog andeuten, dass sie selbst Zusammenhänge spürt, die sie nicht bewusst artikulieren kann. Wolfram Ette hat das Phänomen, dass tragische Figuren offenbar mehr wissen, als sie selbst zu wissen glauben, an Sophokles’ „König Ödipus“ herausgearbeitet, wo dieser die Mehrzahl der Räuber, von der Kreon gesprochen hatte, „unbewusst“ durch ihre Einzahl [ersetzt]; ohne es zu wissen, erinnert er den Totschlag, an dem er selbst beteiligt war, und die Reminiszenz lagert sich mächtig über das von Kreon Berichtete.37

Ein ähnlicher Sachverhalt könnte hier bei Iokaste zu finden sein. Man kann dabei an Sigmund Freuds Beschreibung des psychischen Apparats und den Begriff der Fehlleistung denken: Scheinbare sprachliche Fehler oder Ungenauigkeiten eines Menschen offenbaren, was seiner bewussten Wahrnehmung oder Erinnerung verborgen ist. Wie im Traum ist hinter der eigentlichen Erzählung – beim Traum entspricht dies in Freudscher Terminologie dem „manifesten Trauminhalt“ – ein „latenter Traumgedanke“ oder in diesem Fall Redegedanke verborgen.38 Dass verborgene Motive nicht nur im Traum, sondern auch im wachen Zustand, wie

|| 36 πόληι τʾ ἀρήγειν καὶ θεῶν ἐγχωρίων | βωμοῖσι, […] | […] Γῆι τε μητρί, φιλτάτηι τροφῶι· | ἣ γὰρ νέους ἕρποντας εὐμενεῖ πέδωι, | ἅπαντα πανδοκοῦσα παιδείας ὄτλον, | ἐθρέψατʾ οἰκιστῆρας ἀσπιδηφόρους. 37 Ette 2014, 152 mit Verweis auf Soph. O.T. 122–125. 38 Freud 1940, 88.

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hier bei Iokaste, ihren Weg ins Bewusstsein finden und dort codiert artikuliert werden, ist Teil des psychoanalytischen Prozesses. Bei diesem soll ein Patient nicht nur erzählen, „was er weiß und was er vor anderen verbirgt, sondern er soll […] auch erzählen, was er nicht weiß“,39 d.h. was seinem Bewusstsein entzogen ist. Zum Charakter einer Rede, die Unbewusstes aufdeckt, passt auch eine offensichtliche Unlogik in Iokastes Ausführungen: Nachdem sie von Laios längere Zeit kein Kind empfangen konnte (Eur. Ph. 13–16), sucht dieser Rat beim Orakel von Delphi. Dieses fordert ihn auf, nicht mehr weiter zu versuchen, seine Frau zu schwängern (ebd. 18); erst nach dem Ausspruch dieses Verbots gelingt die Zeugung des Ödipus im Rausch (ebd. 21–22). Eine derartige Un- oder zumindest verzerrte Logik wäre im Traum, dem „Reich der Unlogik“,40 unproblematisch; das Sprechen eines Menschen im analytischen Prozess aber gleicht für Freud dem Traum.41 Freilich gewinnt der Begriff σόφισμα dann eine neue Bedeutung: In der Weise, in der Iokastes bewusstes Denken die Ereignisse, die zu ihrer gegenwärtigen Situation geführt haben, rekonstruiert, erscheint ihr deren Verkettung als so gesucht und problematisch, dass sie als σοφίσματα bezeichnet werden müssen; dies sagt aber mehr über Iokastes psychische Verfassung aus als über die Realität. Zusammengefasst heißt das: Iokaste will die Realität, die sie vorfindet, nicht akzeptieren; sie muss viel psychische Energie aufbringen, um in göttlich veranlassten Verstrickungen die Ursachen für ihre Probleme zu finden. Nur so kann sie ihr Leiden ertragen. Zu diesem Verhalten Iokastes passt ein weiterer Charakterzug, der in ihrer Monodie in den Versen 301–354 zum Vorschein kommt. Das Unglück, das eigentlich ihrem Sohn zugestoßen ist, bezieht sie auf sich selbst und erachtet es als „unverzeihlich“ (341: ἄλαστα) für sich und die Familie, dass er in der Ferne geheiratet, Kinder gezeugt und sich Menschen anderer Herkunft angeschlossen hat und sie nicht seine Hochzeitsfackel entzünden konnte. Die Empfindung ihres eigenen Leides ist so stark, dass sie die Realität, nämlich das Schicksal ihres verbannten Sohnes, nicht mehr wirklich wahrnehmen kann. Sie thematisiert es zwar (398–406), doch ist es nicht der Aspekt, der sie innerlich am meisten bewegt, was durch den Unterschied zwischen Monodie – die sicherlich in gesungener Form

|| 39 Freud 1940, 99. 40 Freud 1940, 91. 41 Anders formuliert: „Der Traum ist also eine Psychose […] zwar von kurzer Dauer […]“ (Freud 1940, 97).

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noch emotionaler empfunden wurde als es einem heutigen Rezipienten möglich ist – und Sprechvers deutlich wird. Vielleicht kann man sogar ein Übergreifen von Iokastes seelischen Leiden auf ihren Körper annehmen, wenn sie im Verlauf der Tragödie sagt: „Ich schleppe meinen alten Fuß in zitterndem Schritt“ (303–305: γηραιῶι | ποδὶ τρομερὰν | ἕλκω ποδὸς βάσιν). Dass eine alte Frau hinkt, ist sicher nicht ungewöhnlich und muss nicht mit einer Übertragung der Fußverletzung des Ödipus auf sich selbst begründet werden; doch das Widersehen mit ihrem lang ersehnten Sohn Polyneikes gibt ihr wenig später die alte Bewegungsfreiheit zurück (312–317), was eine psychosomatische Begründung ihres schleppenden Ganges durchaus plausibel macht. Es zeigt sich also, dass die Anwendung psychoanalytischer oder psychologischer Theorien das Verhalten der Iokaste in den Situationen, in denen sie nicht politisch agiert, also gewissermaßen privat auftritt, erklären kann. Hier kann und soll es allerdings nicht darum gehen, diese Theorien dem Euripideischen Text von außen überzustülpen oder mittels ihrer Anwendung verborgene Tiefenschichten zu dechiffrieren; davor warnt ihr Urheber selbst: Aber man müßte sehr vorsichtig sein, nicht zu vergessen, daß es […] nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Begriffen gefährlich ist, sie aus der Sphäre zu reißen, in der sie entstanden und entwickelt worden sind.42 (Freud 1930, 504)

Vielmehr denke ich, dass sorgfältige Beobachter menschlichen Verhaltens, wie es Euripides und Sigmund Freud waren, ähnliche Merkmale an ihren Mitmenschen wahrnehmen und literarisch oder wissenschaftlich verarbeiten konnten, auch wenn sie ein zeitlicher Abstand von mehr als zweitausend Jahren trennt. Was konkret Iokastes Leid verursacht haben mag, ist dabei zweitrangig, entscheidend ist, dass sie in ihrem Verarbeitungsprozess nicht bereit ist, die Realität als Realität zu akzeptieren, dass sie „[…] wie der Paranoiker […] eine ih[r] unleidliche Seite der Welt durch eine Wunschbildung korrigiert und diesen Wahn in die Realität einträgt“.43 Als Form eines gesellschaftlich akzeptierten Wahns im Sinn einer Nichtanerkennung der Realität bezeichnet Freud Religionen:

|| 42 Man muss nicht unbedingt die klassische Psychoanalyse bemühen; auch die moderne Sozialpsychologie konnte ähnliche Vorgänge beobachten: „Dissonanz besitzt motivierende Kraft – sie treibt Sie an, etwas gegen das unangenehme Gefühl zu unternehmen […]. In einem klassischen Experiment zur Dissonanz erzählten Studierende anderen Studierenden eine Lüge und begannen, an ihre Lüge zu glauben, wenn sie eine kleine statt der erwarteten großen Belohnung für das Lügen erhielten“ (Zimbardo/Gerrig 2004, 780). 43 Freud 1930, 440.

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Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat. Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen. (Freud 1930, 440)

Freud schießt mit seiner pauschalen Verurteilung von Religionen sicher über das Ziel hinaus. Doch verbindet ihn mit der Euripideischen Darstellung Iokastes die Beobachtung, dass infantiles Vertrauen auf den Ratschluss höherer Mächte für einen bestimmten Typus von Menschen Leiden zwar erträglicher machen kann, dass diese Ausflucht aber, wenn sie zu sehr mit der Wirklichkeit in Konflikt gerät, in sich zusammenzufallen droht, so wie sich Iokaste tatsächlich im Augenblick der schlimmsten Katastrophe, des Todes ihrer beiden Söhne, selbst tötet (Eur. Ph. 1455–1459). Das Changieren der Iokaste zwischen einem, um Freuds Diktum nochmals aufzugreifen, „psychischen Infantilismus“ und einem staatsmännischem Pragmatismus mag erstaunen. Sieht man Iokastes Empfinden von Leid allerdings tatsächlich als eine Form dessen, was man in moderner Terminologie Neurose nennen könnte, ist das durchaus denkbar, ja aus therapeutischer Sicht sogar wünschenswert: … das für unsere [d.h. therapeutische] Zwecke ideale Verhalten wäre, wenn er [sc. der Patient] sich außerhalb der Behandlung möglichst normal benähme und seine abnormen Reaktionen nur in der Übertragung äußerte. (Freud 1940, 103)

Iokaste agiert also vor dem Publikum wie eine Patientin im analytischen Prozess, in der Interaktion mit anderen Figuren der Tragödie unterbindet sie das Auftreten von Gedanken aus ihrem Unbewussten.

3 Das Selbstopfer des Menoikeus Pointiert lassen sich die bisherigen Überlegungen wie folgt zusammenfassen: Sowohl Iokaste als auch ihre beiden Söhne sind Leidende; letztere können ihre Aggressionen nicht im Zaum halten, erstere zeigt Züge einer Neurose, in der unverarbeitete Traumata aus ihrem Unbewussten ihren Weg nach außen suchen, was sich letzten Endes ebenfalls in einer Aggression, nun gegen sich selbst gerichtet, nämlich ihrem Selbstmord entlädt. Die Untersuchung einer wohl entscheidenden

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Neuerung44 des Euripides gegenüber seinen stofflichen Vorlagen, das Selbstopfer des Menoikeus, soll im Folgenden helfen, dieses Phänomen besser zu verstehen. In Gang gesetzt wird die Menoikeus-Handlung durch das Eintreffen des Sehers Teiresias im dritten Epeisodion (Eur. Ph. 834–1018), der „eine einzige weitere Möglichkeit zur Rettung“ (890: μίʾ ἔστιν ἄλλη μηχανὴ σωτερίας; vgl. 893: φάρμακον σωτηρίας) verkündet. Erst nach einigem Zögern (894–912) gibt er preis, worin dieses Rettungsmittel besteht: in der Opferung, genauer gesagt Schlachtung (913: σφάξαι) seines Sohnes Menoikeus als Ausgleich für die einstige Tötung des Drachens: Er [sc. Menoikeus] muss in der Höhle, wo der von der Erde geborene Drache der Wächter über die Quellen der Dirke war, geschlachtet und sein Blut als Spende der Erde wegen Kadmos gegeben werden, auf Grund des alten Grolls des Ares, der den Tod des aus der Erde geborenen Drachen rächen will.45 (Eur. Ph. 931–935)

Entgegen der Weisung seines Vaters (962–985) opfert sich Menoikeus selbst, wobei er auf die Sparten (1007–1008) und die Drachentötung (1010–1011) Bezug nimmt; indem er die beiden mythischen Ereignisse in der umgekehrten Reihenfolge ihres Geschehens nennt, unterstreicht er den Eindruck eines Zurückgehens in die Vergangenheit. Teiresias und Menoikeus empfinden wie Iokaste eine Verbindung zwischen mythischer Vergangenheit und gegenwärtiger Krise, Menoikeus vergegenwärtigt die Tötung des Drachens in so vollkommener Form, dass er selbst stirbt. Gerade weil die Selbstopferung eines jungen Mannes ein so seltenes Thema der griechischen Mythologie ist und bei Euripides im Gegensatz zu mehreren weiblichen Selbstopfern nur in diesem einen Fall beschrieben wird,46 stellt sich die Frage nach dem Sinn dieses Opfers, sowohl innerhalb der Dramenhandlung als auch auf der Ebene des Autors. Jan Bremmer weist darauf hin, dass es sich im Rahmen der griechischen Opferpraxis um ein sphagion, die Schlachtung mit Konzentration auf das Vergießen von Blut, handeln muss, die der üblichen thysia mit ihrer Konzentration auf das Fleisch des Opfertieres gegenüber steht.47 Üblicherweise wurden derartige Schlachtungen von Widdern oder, vor allem in Sparta,

|| 44 So Mastronarde 1994, 28–29. 45 δεῖ τόνδε θαλάμαις, οὗ δράκων ὁ γηγενής | ἐγένετο Δίρκης ναμάτων ἐπίσκοπος, | σφαγέντα φόνιον αἷμα γῆι δοῦναι χοὰς | Κάδμου, παλαιῶν Ἄρεος ἐκ μηνιμάτων, | ὃς γηγενεῖ δράκοντι τιμωρεῖ φόνον. Text nach Mastronarde 1994, 415. 46 Bremmer 2014, 193. 47 Bremmer 2014, 197.

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weiblichen Ziegen vor Beginn einer Schlacht durchgeführt;48 so haben sie auch ihren literarischen Niederschlag in den „Phönikierinnen“ gefunden, wo Antigone in der Teichoskopie bei Amphiaraos die sphagia erblickt (174). Tatsächlich wurde im Jahr 410 auf einem Fries am Tempel der Athena Nike eine Skulptur der Nike wohl bei der Durchführung eben jenes Opfers angebracht, worauf unter anderem auch das männliche Geschlecht des Opfertieres, eines Rindes oder Ochsen, hinweist.49 Bremmer nimmt die Abbildung als mögliches Vorbild für Euripides an, da sogar die genaue Lokalisation, nämlich die Durchführung von sphagia von einem erhöhten Punkt aus, mit dem Selbstopfer des Menoikeus50 übereinstimmt. Jameson decodiert die politisch-religiöse Aussage des Bildprogramms folgendermaßen: The message is blunt, even brutal: Victory and Athena guarantee the success of the Athenian people, committed to battle. Nike, under Athena’s eyes, ensures by the violent act of killing that the Athenians will win.51

So wie die Nike am Tempelfries durch die Schlachtung eines Rindes bzw. Ochsen die Konvention überbietet, könnte Menoikeus diese Überbietung durch die Darbringung eines Menschen – und zwar seiner selbst – abermals überboten haben. Sollten die Thebaner also einfach ihr Opfer vor der Schlacht vergessen haben, und sollte dieses nun in edlerer Form nachgeholt werden? Wenn dem innerhalb der Handlungslogik so wäre, müsste man dann schließen, dass Euripides inmitten des Peloponnesischen Krieges einen Appell an seine Landsleute geschickt und sie zum ggf. tödlichen Kampfeinsatz aufgerufen hätte? Das Selbstopfer wäre dann „probably an extra-dramatic reference to the tensions caused by compulsory military service and the bad military situation“,52 wie Bremmer mit Bezug auf die Verse 993–996 und 1003–1005 vermutet, wo Menoikeus sich gegen den Anschein von Feigheit wehren will. Doch bleibt dann immer noch die Frage, worin der von Teiresias und Menoikeus betonte Zusammenhang des aktuell notwendigen Opfers mit der einstigen Tötung des Drachens, die ja auf Veranlassung Athenes geschah53 und unabdingbare Voraussetzung für die thebanische Zivilisation war, besteht und warum letztere eines Ausgleichs bedarf. Muss man menschliche Kultur als eine Untat an der

|| 48 Jameson 2014, 137–138. 49 Jameson 2014, 133. 50 1091: πύργων ἐπʾ ἄκρων („oben auf der Turmspitze“). 51 Jameson 2014, 138. 52 Bremmer 2014, 196. 53 So ausdrücklich der Chor (1062–1063).

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ursprünglichen Natur erachten und bedarf sie daher grundsätzlich eines Ausgleichs? In beiden aufgezeigten Fällen, der Deutung des Menoikeus-Opfers als sphagia vor der Schlacht und als Gegenleistung für die Entstehung menschlicher Zivilisation, müsste das Opfer den Handlungsfortgang zum Positiven wenden. Tatsächlich vermittelt dieser zunächst einen solchen Eindruck. Im Botenbericht zu Beginn des vierten Epeisodions (Eur. Ph. 1067–1199) erfährt der Zuschauer, Zeus habe im Augenblick höchster Bedrängnis mit einem Blitz eingegriffen (1181) und in der Folge einen Sieg der Angreifer verhindert, das Opfer scheint also seinen Erfolg bewiesen zu haben. Doch weicht die Freude über den Sieg schnell neuen schlimmen Nachrichten, die das Publikum nach dem Augenblick des Aufatmens noch mehr erschüttern: Nach längerem, die Spannung noch mehr steigerndem Hinauszögern (1209–1218) gibt der Bote zu, dass sich Iokastes Söhne zum Zweikampf entschlossen haben. Ein letztes Mal zeigt Iokaste ihre Einsatzbereitschaft, wenn es darum geht, als Vermittlerin aufzutreten: Mit ihrer Tochter Antigone läuft sie zum Kampfplatz; abermals überwindet sie ihr Fußleiden,54 die Stichomythie zwischen den beiden Frauen unterstreicht die Eile (1272–1278). Doch wird der Zuschauer im fünften Epeisodion (1308–1479) erfahren, dass sie zu spät kommen: Die beiden Söhne haben sich gegenseitig getötet. In ihrer Trauer nimmt sich Iokaste das Leben (1455–1459), und der danach wieder aufflammende Kampf kostet unzählige Männer das Leben, wenn auch die Thebaner den Sieg davontragen (1460–1479). Brachte also das Selbstopfer des Menoikeus den gewünschten Erfolg? Obwohl sich der Sieg der Thebaner nicht leugnen lässt und durch den Blitz des Zeus als göttlich gewollt und initiiert scheint, kann keine rechte Triumphstimmung aufkommen. Der Begriff φάρμακον, mit dem Teiresias das Opfer des Menoikeus bezeichnet hatte, offenbart seine Ambivalenz: Die Bedeutung „Heilmittel“ hebt die rettende Funktion hervor; in dieser Verwendung wurde das Wort übrigens später gerne für den sich opfernden Christus verwendet.55 In einem Bericht des Herodot über eine Betrügerei des Dareios hingegen werden σόφισμα, φάρμακον und μηχανάω synonym gebraucht;56 legt man diese Bedeutung zu Grunde, findet sich womöglich eine Andeutung, dass Menoikeus denselben Tricks transzendenter Akteure zum Opfer gefallen ist, die Theben und die Familie des Ödipus nach

|| 54 1430: προθμίαι ποδός („mit ungeduldigem Fuß“). Allerdings scheiden Diggle und Mastronarde 1994, 547 den Vers aus. 55 Bremmer 2014, 135. 56 Hdt. 3,85.

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Iokastes Meinung ohnehin schon in so großes Unglück gestürzt haben.57 Der besprochene Tempelfries zeigt neben dem Opfer auch, sozusagen im Zeitraffer, Schlacht und Trophäen.58 Anstelle von Trophäen sieht der Zuschauer der „Phönikierinnen“ drei Leichen (1481–1484). Deutlicher kann man meines Erachtens die Siegesbotschaft des Frieses nicht brechen.

4 Verdrängung und „Könnensbewusstsein“ Wie bereits mehrfach angedeutet, zieht sich der Mythos von der Tötung des Drachens, die schließlich im Selbstopfer des Menoikeus ihren Ausgleich findet, durch die ganze Tragödie. Bereits die ersten Verse des Dramas rufen durch den Verweis auf „jenen Tag, an dem Kadmos in dieses [sc. thebanische] Land kam“,59 ganz subtil ohne explizite Nennung den blutigen Gründungsakt ins Gedächtnis. Wenn sich der Chor in der Parodos als Gruppe von Phönikierinnen bezeichnet (204), womit er den einstigen Weg des Kadmos wiederholt, und wenn er kurz darauf von der „hochheiligen Höhle des Drachen“ (232: ζάθεά τʾ ἄντρα δράκοντος) singt, hat dies denselben Effekt. Doch erst im ersten Stasimon (638–689), nach dem Redeagon, der die Unversöhnbarkeit der Brüder deutlich gemacht hat, wird die Geschichte ausdrücklich erzählt. Wie der drohende Krieg ständig präsent ist und sich doch erst im Lauf des Dramas manifestiert, so ist auch der blutige Gründungsmythos stets präsent und wird zunehmend aufgedeckt; dabei behält er seine Ambivalenz, wenn der Chor das Geschlecht der Sparten als „wunderschönen Gegenstand des Vorwurfs“ (821: κάλλιστον ὄνειδος) besingt. Der Gegensatz von Verbergen und Aufdecken spielt auch bei einer anderen Person eine zentrale Rolle: Schon im Prolog erfährt der Zuschauer, dass Ödipus von seinen Söhnen weggesperrt wurde, um die Erinnerung an ihn auszulöschen, ihn der damnatio memoriae zu unterwerfen.60 So wie sich die Stadt gegen Eindringlinge von außen mit verschlossenen Türen schützt,61 schützt sie sich gegen

|| 57 Man könnte beim Begriff φάρμακον freilich auch an φαρμακός denken, einen menschlichen Sündenbock, der einmal im Jahr und in Krisenzeiten rituell aus der Stadt getrieben wurde. Da dieser aber in der armen Bevölkerung gesucht wurde und in der Regel hässlich sein sollte, scheidet Menoikeus wohl als solcher aus; vgl. Bremmer 2012. 58 Jameson 2014, 138. 59 Vgl. Anm. 25. 60 Vgl. Anm. 28. 61 114–117: ἆρα πύλαι κλήιθροις χαλκόδετά τʾ ἔμβολα | λαινέοισιν Ἀμφίονος ὀργάνοις | τείχεος ἥρμοσται; | θάρσει· τά γʾ ἔνδον ἀσφαλῶς ἔχει πόλις („Sind die Tore mit verschlossenen Türen

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den entstellten Ödipus, das Unheimliche aus der eigenen Mitte; und so wie die Türen Polyneikes nicht abhalten können, in die Stadt einzudringen (261–262), werden sie wohl auch nicht ausreichen, um Ödipus dauerhaft wegzusperren, der ja tatsächlich im letzten Fünftel des Dramas erscheint. Hier zeigt sich Euripides wieder als scharfsinniger Beobachter menschlichen Verhaltens, wenn er den Prozess beschreibt, den Freud später Verdrängung nennen sollte: Menschliche Triebe werden scheinbar unterdrückt, doch werden sie dadurch nur umso stärker und haben schließlich sogar das Potential, sich gegen die eigene Person zu richten.62 Ödipus, wofür auch immer er in psychoanalytischer Betrachtung stehen mag, wird verdrängt, was bedeutet, dass der Versuch unternommen wird, ihn aktiv zu vergessen. Umso mehr ist er präsent und kann eine destruktive Kraft entfalten, mythisch formuliert „verflucht er die Söhne mit entsetzlichsten Flüchen, mit geschärften Stahl dieses Haus [sc. das des Ödipus] zu zerstören“,63 und spricht damit den Fluch aus, der letztlich zum Brudermord führen sollte. Worin aber besteht der Konflikt, der durch Ödipus versinnbildlicht und deshalb verdrängt werden soll? Wie bereits angedeutet, möchte ich hier nicht die klassische Deutung Sigmund Freuds wiederholen, obwohl sicher auch diese ihre Berechtigung hat. Ich halte einen anderen Aspekt für die Ausgestaltung des Stoffes in den „Phönikierinnen“ zentraler. In den letzten Versen des Dramas nämlich, direkt vor dem Abschluss des Chores, charakterisiert sich Ödipus folgendermaßen: Bürger eines ruhmreichen Vaterlandes, seht: Dieser Ödipus, der ich die berühmten Rätsel löste und der größte Mann war, der ich als einziger die Macht der vom Blut befleckten Sphinx bezwang, werde nun ehrlos und beklagenswert aus dem Land vertrieben.64 (Eur. Ph. 1758–1761)

Ein wenig zuvor beschrieb er die Tötung der Sphinx noch eindrucksvoller als das Ereignis, durch das er „zur siegreichen, himmlischen Muse“ (1728–1729: μοῦσαν

|| befestigt und die ehernen Riegel mit dem steinernen Werk der Mauer Amphions verbunden? – Nur Mut: Die Stadt bewahrt ihr Inneres sicher“). Sowohl in 114 als auch in 64 ist κλήιθροις zu lesen. 62 Vgl. zusammenfassend Ette 2014, 156–157. 63 67–68: ἀρὰς ἀρᾶται παισὶν ἀνοσιωτάτας, | θηκτῶι σιδήρωι δῶμα διαλαχεῖν τόδε. 64 ὦ πάτρας κλεινῆς πολῖται· λεύσσετʾ, Οἰδίπους ὅδε, | ὃς τὰ κλείνʾ αἰνίγματʾ ἔγνων καὶ μέγιστος ἦν ἀνήρ, | ὃς μόνος Σφιγγὸς κατέσχον τῆς μιαιφόνου κράτη, | νῦν ἄτιμος αὐτὸς οἰκτρὸς ἐξελαύνομαι χθονός.

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ὃς ἐπὶ καλ- | λίνικον οὐράνιον ἔβαν) emporstieg, woraufhin Antigone die Ambivalenz der Besiegung der Sphinx klar vor Augen führt: „Von der Sphinx bringst du nur Schande“ (1732: Σφιγγὸς ἀναφέρεις ὄνειδος). Bereits im Prolog schien jener Widerspruch auf, dass der wissende Ödipus, der die Rätsel der Sphinx durchschaute (50: μαθών), unwissend die eigene Mutter heiratete (53: οὐκ εἰδώς). Vielleicht ist es die Erkenntnis, dass alles Wissen des Ödipus diesen nicht vor Fehlern und Leid bewahrt hat, die die Menschen Thebens so eifrig zu verdrängen versuchen. An dieser Stelle nun treffen sich psychoanalytische und historische Betrachtung der „Phönikierinnen“. Der common sense des fünften vorchristlichen Jahrhunderts dürfte in den naturwissenschaftlichen und technischen Neuerungen seiner Zeit eine antike Form dessen gesehen haben, was die Moderne als „Fortschrittsdenken“ bezeichnet.65 Christian Meier nennt sie bei Betonung aller Unterschiede66 „Könnensbewusstsein“: „Durch τέχνη wird der Mensch, wie man meint, Herr über die Dinge.“67 Zum Könnensbewusstsein gehören übrigens auch „neue Möglichkeiten der Selbstbehauptung, des Betrugs [,] der militärischen Technik und der außenpolitischen Berechnung“,68 durch und durch Dinge, die sich werkimmanent insbesondere an Eteokles beobachten ließen. Wenn aber zu den […] neuerschlossenen Möglichkeiten […] die Behauptung [gehört], daß es einen Zufall nicht gebe – das sei vielmehr nur eine Ausrede von Leuten, die nicht richtig geplant hätten – oder daß man jedenfalls bei guter Planung den Zufall so kalkulieren könne, daß er sich im Endeffekt neutralisieren lasse,69

muss man sich fragen, ob dieses Könnensbewusstsein nicht in Anbetracht einer manchmal nicht zu ändernden Realität kollabieren musste, wie es ja dann auch mit der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg geschah.70 Die Charaktere der „Phönikierinnen“ handeln zu einem großen Teil in jenem vom Christian Meier beschriebenen Könnensbewusstsein, nicht nur Eteokles, dessen sophistisches und aggressiv machtstrebendes Verhalten bereits aufgezeigt wurde. Iokaste und Menoikeus wollen ebenfalls durch ihr Verhalten Herr über die Realität werden, Iokaste erhebt sich soweit über die Götter, ihnen ihren

|| 65 Meier 1978, 281. 66 Meier 1978, 292–294. 67 Meier 1978, 295. 68 Meier 1978, 298. 69 Meier 1978, 282. 70 Meier 1978, 301.

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eigenen Weisheitsbegriff aufzudrängen, Menoikeus erfindet, ganz dem Innovationsdrang des Könnensbewusstseins entsprechend,71 gleichsam ein neues, noch nie dagewesenes Opfer, um seine Polis zu retten, sprich um durch sein Handeln das drohende Unglück abzuwenden. Sie alle ahnen, dass ihr Können nur beschränkt ist, dass sie Zufälle, die es nun einmal gibt, akzeptieren müssen, und wollen es doch nicht wahrhaben. Mehr noch: Da ihrem Könnensbewusstsein ein ethisches Fundament fehlt,72 brechen ihre verborgenen Triebe, um wieder die psychoanalytische Terminologie zu verwenden, ungehindert an die Oberfläche und werden schließlich so stark, dass sie zur Destruktion der handelnden Personen führen. In seiner 1930 entstandenen Studie „Das Unbehagen in der Kultur“ stellt Freud fest: Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. (Freud 1930, 432)

Genau dies mussten die Bewohner Thebens in den „Phönikierinnen“ erleben: Vielfältige Formen von Unglück suchen den Menschen heim. Bei allem Können lässt sich manches daran nicht ändern – die Kinderlosigkeit, an der Iokaste und Ödipus zunächst leiden, der körperliche Verfall, über den Iokaste klagt, Seuchen, die sich vielleicht hinter der Schilderung der Sphinx (1018–1042) verbergen, aber auch Leid, das menschliche Aggression über die Mitmenschen bringt. Letzteres birgt vielleicht den größten Konflikt, den das menschliche Bewusstsein ausstehen muss, in sich: Alles das Leben verbessernde Können hält den Menschen nicht davon ab, seine eigene Existenz durch seine ihm innewohnende Aggressivität zu gefährden. In der eben genannten Studie zeigt Freud genau diesen Aspekt als Grundproblem des „Unbehagens“, das der Mensch verspürt, auf: Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell

|| 71 Meier 1978, 276–283. 72 Meier 1978, 284.

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zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. (Freud 1930, 470–471)

Zivilisation heißt letztendlich, Triebe um eines höheren Gutes willen zu unterdrücken. Kultur bleibt ambivalent, der Mensch wird nie vollkommen Herr über seine und die ihn umgebende Natur werden. Jeder Versuch, diese Wahrheit zu verdrängen, wird sich gegen den Menschen richten und ihn in noch größeres Unglück stürzen. Ödipus hat seine Lektion gelernt: „Zwänge, die von den Göttern kommen, muss man, wenn man sterblich ist, ertragen“ (1763: τὰς γὰρ ἐκ θεῶν ἀνάγκας θνητὸν ὄντα δεῖ φέρειν), wobei offen bleiben muss, ob die Götter wirklich als transzendente Akteure, als Wirken des blinden Zufalls oder der menschlichen Psyche interpretiert werden müssen. Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang die Gestalt der Antigone. Auch sie erlebt eine „Enthüllung“, wie sie Ödipus zuteil geworden ist. Anfangs erscheint sie noch als neugieriges Mädchen, das mit ihrem Erzieher aus der Ferne einen Blick auf die feindlichen Truppen werfen (103–201), sich aber dennoch in der Sicherheit ihrer Stadt geborgen fühlen will (114–115), naiv auf die Götter vertraut (151–153) und gar keine Kategorien von Recht und Unrecht bedenken will (154–155); von ihrer Mutter zur Versöhnung der Söhne aus „Tanz und Mädchenspiel“ (1265: οὐκ ἐν χορείαις ουδὲ παρθενεύμασι) herausgerissen und „aus dem Mädchenzimmer“ (1275: παρθενῶνας) herbeigeholt „scheut [sie] die Menschenmenge“ (1276: αἰδούμεθʾ ὄχλον) und weiß nicht, was sie tun soll (1277: δράσω δὲ δὴ τί; 1278: τί δρῶσα). Doch nach dem tragischen Tod ihrer Mutter und ihrer Brüder scheut sie sich nicht mehr vor einer öffentlichen Totenklage (1485–1538), bei der auch eine optische Enthüllung ihres Gesichtes und ihrer Haare (1485: οὐ προκαλυτομένα) stattgefunden hat. Sie lässt sich von Kreon nicht in den Zustand ihres Kindseins zurückzwingen (1635–1638) und streitet offen mit ihm (1643–1682); durch ihre Verweigerung der Hochzeit mit Haimon (1672–1682) und der Teilnahme am religiösen Ritual (1753–1756) schließt sie sich aus der verderblichen Gesellschaft Thebens aus und zieht mit ihrem Vater fort. Die „Phönikierinnen“ stellen in ihrer Gänze die Geschichte der Enthüllung eines verdrängten Wissens dar, des Wissens um die Grenzen menschlichen Könnens und menschlicher Autonomie, kurz gesagt um menschliche Kontingenz. Diese Enthüllung zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Tragödie. Personen, die zuvor in ihrer Gefangenschaft oder ihrem Kindheitsstatus verborgen waren, stehen am Ende auf der Bühne, Personen, die präsent waren, sind tot, vielleicht, so mag man über die Inszenierung spekulieren, verhüllt in Leichentücher.

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Die Zukunft der Überlebenden liegt in Athen. Wie anfangs angedeutet, konnte Theben als Ort literarischer Fiktion dazu dienen, für die eigene Polis relevante Themen ungefährlich zu verhandeln. Dass das Unheil, das literarisch unter der Zivilisation Thebens verborgen liegt, in der Realität auch unter der athenischen Gesellschaft lauert, ist im Lauf der Untersuchung deutlich geworden. Vielleicht ist es eine Tragik der Rezeption, dass gerade das Selbstopfer des Menoikeus auf dem Weg über das zweite Buch der Makkabäer, ein hellenistischjüdisches Buch des 2. vorchristlichen Jahrhunderts,73 ein Bild des Märtyrers, der nicht nur seine Gesellschaft, sondern sogar die Welt retten kann, mitgeprägt hat, ein Bild, das in unserer Zeit gewaltige Aggressionen freisetzt, unter denen die Welt zu leiden hat.

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|| 73 Bremmer 2014, 197.

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Maria Paola Castiglioni

La metamorfosi di Cadmo nelle Baccanti di Euripide e il punto di vista ateniese Abstract: According to the final verses of Euripides’ Bacchae (1330–1339 and 1352–1362), which was presented in Athens in 405 BC, Cadmus, the founder of Thebes, after the death of his grandson Pentheus, received a prophecy from Dionysus: he will leave Thebes with his spouse Harmonia and, metamorphosed into serpents, both will reach a Barbarian country and lead a violent army, which will sack many Greek cities. But their attempt at plundering the sanctuary of Apollo in Delphi will be stopped, and Cadmus and Harmonia will then be transported to the land of the blessed. This myth, probably partly already known to the Athenian public, seems to have been manipulated by Euripides in the context of an antiTheban propaganda. In Euripides’ drama Cadmus’s metamorphosis appears as a punishment. Nevertheless, the comparison with Euripides’ Erechtheus, the cult of Erechtheus in Athens ˗ where the hero is represented as a snake ˗, and the analysis of Theban self-representation give some keys for understanding the meaning of this drama in its historical context.

1 Introduzione Atene, città produttrice di tragedie, venne raramente scelta come sfondo all’intreccio drammatico e ai conflitti rappresentati sulla scena.1 I poeti tragici preferirono infatti attingere ai miti di altre città e, in particolare, di Tebe.2 La carica tragica dei miti tebani fece della città beotica, insieme ad altri miti peloponnesiaci come la saga degli Atridi, l’oggetto privilegiato delle trame tragiche messe in

|| 1 Come fa notare Pepe 2007, 32–33, fanno eccezione i casi in cui Atene, presentata come al di sopra delle parti, si offre come risolutrice del conflitto (vd. Eumenidi ed Edipo a Colono) o in cui le vicende messe in scena appartengono a un passato remoto, precedente l’azione civilizzatrice di Teseo (vd. Eretteo). In altri casi, i miti ateniesi vengono ambientati altrove, come nel caso dell’Ippolito, la cui azione si svolge a Trezene nonostante il mito faccia parte della saga di Teseo. 2 Vd. Perceau 2015, 209–220. || Nota dell’autore: Desidero esprimere la mia più sincera gratitudine a Paolo Cecconi e a Christian Tornau per avermi invitata al workshop di Würzburg e al revisore anonimo della prima versione di questo testo per i preziosi suggerimenti. https://doi.org/10.1515/9783110656893-007

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scena nei decenni compresi tra la fine delle guerre persiane e la fase conclusiva della guerra del Peloponneso, cioè nel periodo in cui Atene consolidò la propria costituzione democratica, sostituita a due riprese da due brevi parentesi oligarchiche, e impose la sua talassocrazia nell’ambito della lega delio-attica scontrandosi poi apertamente con Sparta e i suoi alleati e uscendone sconfitta. In tale contesto, la rappresentazione tragica, inquadrata nella cornice religiosa delle feste dionisiache, risentì fortemente del clima politico e sociale in cui fu prodotta. La contraddizione tragica proposta sulla scena non era mero esercizio poetico; infatti essa offriva anche l’occasione di affrontare tematiche attuali e di sottoporre al pubblico dibattiti su temi che, trasposti in uno spazio e in un tempo mitici, toccavano direttamente le tensioni e le preoccupazioni dei cittadini ateniesi.3 Tra i drammi ambientati a Tebe, le Baccanti euripidee mettono in scena la questione del rapporto tra ordine pubblico e rituali entusiastici, tra potere politico e potere divino. Lo scontro tra Penteo e Dioniso e la definitiva vittoria del dio producono in questo dramma un dolore irrimediabile e senza riscatto: la punizione che Dioniso infligge alla città che ne rifiuta il culto e la vendetta che le scaglia contro sono talmente crudeli da distruggere radicalmente l’intera famiglia dalla quale il dio stesso, per parte materna, proviene. La tragedia si conclude infatti con la disgregazione della stirpe regnante: l’antagonista assoluto di Dioniso, suo cugino, Penteo, a cui il vecchio Cadmo aveva ceduto il trono, l’unico erede maschio della discendenza cadmea,4 colui che più di tutti si oppone all’introduzione dei riti dionisiaci, viene ferocemente ucciso dalla madre Agave e dalle zie, Ino e Autonoe, in preda al furore bacchico, e il suo corpo viene straziato e dilaniato in un feroce sparagmos. Presentato come uno ξένος proveniente dalla Licia, Dioniso sconvolge così il κόσμος che un altro straniero, Cadmo,5 aveva garantito a Tebe due generazioni prima grazie all’uccisione del mostro guardiano della fonte di Ares e alle successive nozze con Armonia. Di fronte al trionfo del disordine, del vuoto e della distruzione, dell’irrazionalità e dell’abbandono alle forze incontrollate e selvagge, l’eroe civilizzatore Cadmo, nell’epilogo della tragedia, sceglie la via dell’esilio

|| 3 Su tali questioni, in particolare in relazione ai temi giuridici, vd. Pepe 2007. 4 A eccezione di Dioniso, la cui esistenza viene però negata dalla famiglia, che non riconosce l’unione di Semele con Zeus, ritenendola un’astuzia per mascherare una relazione illegittima. 5 Vd. Eur. Bac. 170–172; 1025, in cui Cadmo è definito “vecchio Sidonio”. Alludono all’origine fenicia di Cadmo anche le Fenicie (5–6), messe in scena pochi anni prima delle Baccanti, nel 409 o 408 a.C. Vd. Medda 2006, 77. Nelle Fenicie Euripide precisa che la stirpe dei Labdacidi discendeva da Polidoro, figlio di Cadmo (Eur. Ph. 8; vd. anche Hes. Th. 978; Hdt. 5.79), di cui però non viene fatta menzione nelle Baccanti, in cui Cadmo precisa di essere privo di figli maschi, ἄτεκνος (1305).

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(Eur. Bac. 1313). La sua punizione sarà inoltre aggravata dalla sua metamorfosi in serpente, come rivela qualche verso dopo Dioniso stesso, stavolta sotto forma di deus ex machina. La profezia dionisiaca precisa che, sotto forma di rettili, Cadmo e Armonia saranno alla guida di un immenso esercito di barbari che saccheggerà il santuario di Delfi. Costretto a una triste ritirata dopo tale empia impresa, Cadmo sarà trasportato nell’isola dei Beati da Ares. Gli elementi di questo vaticinio dionisiaco (esilio, metamorfosi, saccheggio del santuario delfico, apoteosi nell’isola dei Beati), enunciati nel modo enigmatico e nebuloso che caratterizza i contenuti profetici, danno l’impressione che Euripide abbia combinato leggende più antiche di diversa provenienza, manipolandole e risemantizzandole per confezionare una sua propria versione sincretistica, non priva di probabili elementi di invenzione euripidea.6 Sconosciuti nella tradizione pre-euripidea giunta fino a noi,7 i temi dell’esilio e della metamorfosi godettero invece di ampia fortuna nella letteratura più recente.8 Se nei versi euripidei non viene precisata in alcun modo l’identità del popolo barbaro comandato da Cadmo-serpente,9 nella tradizione più recente Cadmo viene invece presentato come il capo militare e il sovrano degli Illiri o di una delle sue tribù, quella degli Enchelei, e il padre dell’eroe eponimo Illirio. Non è escluso che la destinazione illirica di Cadmo e Armonia fosse un tema tradizionale già noto anche al pubblico ateniese della fine del V sec. a.C., al punto che Euripide non ritenne opportuno indicare la meta dell’esilio. È tuttavia possibile che il contenuto della profezia fosse un’invenzione euripidea e che, con l’allusione all’invasione barbarica, Euripide intendesse fare allusione, più che alle popolazioni

|| 6 Cfr. Kirk 1979, 135, ma anche Dodds 1960, 235 e Di Benedetto 1971, 480. 7 Il primo riferimento noto alla metamorfosi di Cadmo in serpente sarebbe avvenuto in una tragedia perduta di Euripide, intitolata Kadmos. La data della rappresentazione del dramma è ignota, ma fu senz’altro antecedente alla messa in scena delle Baccanti che fanno parte dell’ultima trilogia composta da Euripide prima della sua morte. Un frammento attribuito a Euripide da Ermogene riporta i versi di un personaggio che si rivolge alla prole, forse alla figlia Agave, come nelle Baccanti, mentre viene trasformato in serpente (Euripide, Kadmos?, fr. 2 Jouan/Van Looy). 8 Nic. Th. 607–609; Diod. S. 19.53.3–5; Hor. ars 185–187; Ov. met. 3.95–100; 4.563–603; Sen. Herc. f. 392–394; Hyg. fab. 6; Lucan. 3.189; Stat. Theb. 2.289–291; 3.288–291; 4.553–555; schol. Stat. Theb. 3.290; Apollod. 3.5.4; Luc. Salt. 41; Dion. P. 390–397; Hermog. Id. 2.10.38, p. 391 Rabe; Paus. 9.5.3; Philostr. Im. 1.17; Avien. ora 537–550; Nonn. D. 4.416–420; 5.121; 125; 44.107–118; 46.364–367; Prisciano, Periegesi, 381–389; Steph. Byz. s.vv. Illyria, Bouthoe; Et. Magn. s.v. Bouthoe; Et. Gen. s.v. Bouthoe; Primo Mitografo del Vaticano, 2.48. 9 Non è da escludere che delle precisioni fossero contenute nella lacuna presente all’inizio del discorso di Dioniso.

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illiriche, alla minaccia persiana,10 più viva nell’immaginario collettivo, nella memoria e nei timori ateniesi, soprattutto negli anni in cui fu composta la tragedia, nella fase finale della guerra del Peloponneso quando Ciro il Giovane intervenne a sostegno dei nemici di Atene.11 Euripide scrisse le Baccanti durante il suo soggiorno alla corte del re macedone Archelao, che lo ospitò dal 408. Qui il poeta morì nell’inverno 407/406. Il dramma fu perciò presentato postumo ad Atene dal figlio (o nipote) omonimo di Euripide insieme all’Ifigenia in Aulide e all’Alcmeone,12 probabilmente in occasione delle Dionisie urbane del 405, che si svolsero pochi mesi prima della disfatta ateniese di Egospotami.13 Come è stato fatto notare, l’allontanamento di Euripide da Atene fu per il poeta, sempre impegnato attraverso la sua drammaturgia sui grandi temi di politica estera e interna di Atene e più generalmente del mondo greco,14 l’occasione non solo di sostenere e promuovere i progetti del sovrano macedone (in particolare attraverso il Temeno, i Temenidi e l’Archelao), ma anche di trasmettere a distanza dei moniti e delle riflessioni ai suoi concittadini, senza i toni fiduciosi nei confronti dell’ideologia democratica che caratterizzarono invece i suoi drammi precedenti.15 Quale messaggio Euripide volle dunque trasmettere ai suoi concittadini e in che modo gli spettatori ateniesi poterono recepire l’epilogo così pessimista della tragedia?

|| 10 Vd. Kühr 2006, 117 e Vian 1963, 125. 11 Erodoto (9.43) fa riferimento all’esistenza di una profezia che annunciava la morte per il popolo che avesse osato saccheggiare il santuario delfico, precisando che essa riguardava non i Persiani, come Mardonio aveva fatto credere ai suoi soldati prima della battaglia di Platea, ma gli Illiri e l’esercito degli Enchelei. La profezia di un attacco encheleo a Delfi circolava quindi molto tempo prima della tragedia euripidea ed è probabile che proprio da essa Euripide si sia ispirato per la profezia dionisiaca. Non è allora escluso che il tragediografo ateniese avesse sfruttato la confusione tra Enchelei e Persiani per alludere in modo più efficace alle paure e ai rischi legati alla congiuntura a lui contemporanea. Sull’appoggio del re persiano al blocco spartano vd. Plut. Alc. 35. 12 Di questa tragedia non rimangono che pochi frammenti: vd. Jouan/Van Looy 1998, 81–112. 13 Schol. Aristoph. Ran. 67. Cf. Goossens 1962, Roux 1970 e Susanetti 2010, 37. 14 Musti 1989, 447. 15 Cfr. in particolare Musti 1989, 447–448 e Beltrametti 2007, 43–44.

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2 Il tema dell’autoctonia I temi sottesi alle Baccanti sono numerosi e complessi e sarebbe impossibile soffermarsi su ciascuno di essi. Il dramma tocca in primis la questione dell’empietà, giustificando la punizione non soltanto per chi, come Penteo, incarnazione del tyrannos tragico, oppone un rifiuto rigido e irremovibile all’introduzione dei culti dionisiaci, ma anche per chi, come il vecchio re Cadmo, propone una pietà opportunistica e di facciata considerando la religione come un dato strumentale al mantenimento dell’armonia cittadina e all’esaltazione della famiglia regnante.16 La tragedia è anche dramma del camuffamento e della metamorfosi: del dio in uomo, dei vecchi Cadmo e Tiresia in giovani dissennati, del re in menade e infine di Cadmo e Armonia in serpenti. La tragedia è inoltre dominata dal tema dell’intrusione dall’esterno, in particolare dell’elemento orientale: “straniero effemminato” (v. 353), lidio, è il personaggio dietro cui si cela Dioniso, come del resto sono allogene anche le baccanti, le “donne barbare” (v. 604) del coro. Straniero, sidonio, è il fondatore di Tebe, Cadmo. Di Penteo, al contrario, non viene tanto ricordata l’ascendenza materna, cadmea, quanto piuttosto la natura autoctona del padre Echione, uno degli Sparti, enfatizzata a più riprese.17 Lo scontro tra Dioniso e Penteo si configura quindi anche nei termini di un duello che oppone da un lato il sovrano discendente da un γηγενής, “nato dalla terra”, e dall’altro il dio che reclama che venga riscattata la memoria di sua madre, Semele, figlia di Cadmo, e quindi alloctona. La tragedia si risolve così con la disgregazione del potere politico e del clan a cui anche Dioniso, di fatto, appartiene. Dioniso, che lamenta la sua esclusione dalla sua stessa famiglia, che ne nega in qualche modo l’esistenza, impone di fatto la sua presenza a Tebe, ma in un ambito esclusivamente religioso. La contrapposizione tra i due cugini non riguarda infatti affari dinastici, non tocca cioè la questione dell’eliminazione di Dioniso dalla linea di trasmissione del potere, come nel caso dello scontro fratricida tra Eteocle e Polinice, anch’esso ambientato a Tebe, ma si definisce nell’ambito dell’opposizione all’introduzione di un nuovo culto al quale il re di Tebe non riconosce alcuna legittimità. La colpa di Penteo è

|| 16 Cadmo esorta infatti Penteo ad ammettere la natura divina di Dioniso anche se falsa, a dire un’utile bugia: κεἰ μὴ γὰρ ἔστιν ὁ θεὸς οὗτος, ὡς σὺ φῄς,/παρὰ σοὶ λεγέσθω: καὶ καταψεύδου καλῶς/ὡς ἔστι, Σεμέλη θ᾽ ἵνα δοκῇ θεὸν τεκεῖν,/ἡμῖν τε τιμὴ παντὶ τῷ γένει προσῇ (Eur. Bac. 332– 336: “Dioniso non è un dio, come sostieni tu? Fa lo stesso, tu dichiara che è un dio: è una bugia utile! La gente crederà che Semele ha messo al mondo un dio e sarà un grande onore per tutta la nostra stirpe”; trad. Susanetti 2010). 17 Eur. Bac. 213; 263–265; 538–541; 995–996; 1015–1016; 1115; 1274.

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quindi essenzialmente quella di empietà,18 ma la sua morte comporta una conseguenza politica, poichè priva definitivamente Tebe di una sovranità autoctona, quella di Penteo, discendente di uno degli Sparti, e, attraverso l’esilio di Cadmo, anche del privilegio del futuro possesso delle spoglie del fondatore e, di conseguenza, del culto dell’eroe fondatore. Il registro dell’autoctonia e del culto dell’eroe fondatore doveva certamente essere familiare agli Ateniesi, che vantavano anch’essi la discendenza da un γηγενής, Erittonio-Eretteo, celebrata dallo stesso Euripide nell’Eretteo, tragedia perduta.19 Il confronto delle Baccanti con questo dramma fornisce a questo proposito una chiave di lettura utile per la comprensione dell’episodio finale delle Baccanti. Nell’Eretteo veniva messa in scena la guerra combattuta dal re ateniese Eretteo, nato dalle viscere della terra fecondata dal seme di Efesto, contro il re tracio Eumolpo, figlio di Poseidone. Per assicurarsi la vittoria contro Eumolpo, Eretteo è costretto a immolare una delle proprie figlie, con l’accordo della moglie Prassitea; questo sacrificio è però seguito dal suicidio delle altre due figlie. Eretteo, pur vincendo su Eumolpo, incorre poi nella vendetta di Poseidone che, con un colpo del suo tridente, lo sprofonda nel suolo dal quale è nato. Prassitea, già prostrata dal sacrificio delle figlie, alla notizia della morte del marito, non sa più a chi rivolgere il proprio lamento: l’estinzione della famiglia reale si accompagna alla sconfitta militare sancita da Poseidone. Solo l’intervento di Atena permette di risollevare la situazione: la dea dispone infatti che le tre figlie di Prassitea ed Eretteo siano trasferite nell’etere, trasformate in costellazioni e divinizzate con l’epiclesi di Hyakinthides, godendo di onori eroici; Eretteo, precisa inoltre Atena, sarà invece onorato in un santuario situato al centro della città, segnalato da un recinto in pietra. Qui il suo ricordo sarà onorato con sacrifici di buoi offerti dai cittadini e verrà celebrato sotto il nome di Poseidone, di cui Eretteo diviene pertanto il paredro eroico.20 La risoluzione definitiva del conflitto vede quindi l’insediamento di Poseidone al centro di Atene, non più in funzione di distruttore, ma di protettore, e l’istituzione simultanea di un culto dedicato al re autoctono.21 La celebrazione del culto di Eretteo nel dramma euripideo, messo in scena tra il 423 e il 422 al termine della prima fase della guerra del Peloponneso, è stata da molti messa in relazione con l’inizio della ricostruzione sull’Acropoli del tempio di Atena Poliàs, meglio noto con il nome di Eretteo, santuario che ospitava,

|| 18 Cfr. anche Stella 2007, 172. 19 Per i frammenti dell’Eretteo, vd. Jouan/Van Looy, 2000, 100–9 e Collard/Cropp/Lee 1995. 20 Eur., Eretteo, fr. 22 Jouan/Van Looy. 21 Vd. Calame 2011, 229–233, con bibliografia.

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oltre al culto della dea poliade, anche le reliquie della storia leggendaria di Atena, tra cui, appunto, la tomba dello stesso Eretteo.22 Il dramma euripideo avrebbe quindi fornito una sorta di mito eziologico sul culto di Poseidone-Eretteo, mettendo in luce, con l’inclusione di Poseidone nei culti ateniesi sull’Acropoli, cioè nel luogo che la tradizione considerava come la residenza dei primi re di Atene, la composizione finale di contrasti violenti e la natura doppiamente autoctona di Eretteo, che nasce dalla terra ateniese e in essa trova la morte.23 Dal punto di vista strutturale, lo scioglimento della tragedia si oppone diametralmente a quello delle Baccanti. In quest’ultimo dramma, la famiglia reale estinta non gode di nessun onore cultuale, tranne verosimilmente che per Semele. Il culto di Dioniso viene imposto senza l’associazione a eroi locali; l’eroe fondatore Cadmo viene allontanato e, lungi dall’esercitare un ruolo protettivo sulla comunità da lui fondata, condurrà contro la Grecia un esercito barbaro ed empio. Infine Penteo, il discendente dell’autoctono Echione, viene ucciso per volere divino senza possibilità di riscatto. La metamorfosi di Cadmo in serpente viene inoltre presentata nel dramma euripideo come una punizione. Eppure lo stesso Erittonio-Eretteo viene descritto dalla tradizione, almeno dall’inizio del V secolo a.C., come ofiomorfo e sotto questo aspetto raffigurato, tra l’altro, nella celebre statua criselefantina della Parthenos, opera di Fidia, intorno al 438 a.C.24 Anche al predecessore di Eretteo, il re Cecrope, viene riconosciuta, oltre alla natura autoctona, un’apparenza ibrida, a metà tra quella umana e quella serpentina (rispettivamente nella parte superiore e inferiore del corpo).25 L’ofiomorfismo sembra quindi essere strettamente legato, almeno nel mito attico, ai tempi primordiali e connesso a delle figure di re autoctoni e civilizzatori, entrambi venerati sull’acropoli accanto alla divinità poliade.26 Infine, la presenza di un serpente in un sekos dell’acropoli stessa, una sorta di

|| 22 Calame 2011, 233; Hurwit, 1999, 200–209 e 316; Luce 2005, 143–164 e Pirenne-Delforge 2010, 147–163, che contesta l’identificazione dell’Eretteo con il tempio di Atena Polias. 23 Sul mito della morte di Eretteo e del culto condiviso con Poseidone, vd. in particolare Darthou 2005, 69–83. 24 Cfr. Castiglioni 2011, 33–35. 25 Sulla figura di Cecrope, vd. Gourmelen 2004. 26 Anche il Cecropion era situato sull’acropoli e faceva parte del complesso dell’Eretteo. Vd. Luce 2005, 144.

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oikouros ophis cittadino, lascia supporre che a questo animale, una sorta di ipostasi dello stesso Erittonio-Eretteo, venisse riconosciuto un ruolo protettore e apotropaico.27 Nel mito della fondazione tebana, Cadmo deve invece combattere contro un serpente ostile, protettore della fonte di Ares.28 Il rettile sembra quindi, in questo episodio, rivestire un ruolo di antagonista, congiunto tuttavia intimamente con una funzione di tutela da intrusioni esterne. Il mito fondatore di Tebe si conclude però con una risoluzione armonica del conflitto tra Cadmo e il serpente: dalla terra seminata con i denti del serpente per mano di Cadmo e su suggerimento di Atena, nascono gli Sparti, cinque dei quali sopravvivono ai combattimenti che questi guerrieri spuntati dal suolo armati di tutto punto ingaggiano l’uno contro l’altro.29 In questi cinque sopravvissuti gli aristocratici tebani riconoscevano i propri antenati, proclamandosi quindi, al pari degli Ateniesi, “nati dalla terra”.30

|| 27 Esichio, s.v. oikouros ophis e Fozio, Lexicon, s.v. oikouros ophis (Naber II, p. 6). Anche Hdt. 8.41 menziona la presenza, in un santuario dell’acropoli, di un grande serpente che fa da guardiano all’acropoli nutrito mensilmente con delle focacce al miele, specificando che la focaccia offerta al serpente rimase eccezionalmente intatta alla vigilia della battaglia di Salamina. Plutarco (Them. 10) riporta lo stesso aneddoto, riferendo che il serpente era stato fatto sparire dal suo sekos. 28 Sul mito degli Sparti, vd. in particolare Apollod. 3.4.1 e il commento di Scarpi 1996, 545 che sottolinea come i cinque Sparti sopravvissuti divengono per opera di Cadmo dei «cittadini», nell’ambito di una più vasta azione di ordinamento civico e culturale. Vd. anche Pherec. FGrHist 3 F 22; Paus. 9.5.3; 9.10.1; Ov. met. 3.127–128. Cfr. anche Vian 1963. 29 Le principali fonti sul mito della fondazione tebana di Cadmo sono: Hellan. FGrHist 4 F 51, Eur. Ph. 638–675 e Apollod. 3.4.1–2. Vd. anche Eur. Ph. 930–941; Conon, FGrHist 26 F 1(37); Nonn. D. 4.286–306 e 349–463; 5.1–34 e 88–189; Pherec. FGrHist 3 F 22a; Pind. P. 3.86–96; schol. Ap. R. 1179b (Wendel); schol. Eur. Ph. 674 e 1068 (Valckenaer); schol. Lyc. Alex. 1206; schol. Pind. I. 8.13 (Drachmann); Hyg. fab. 178; Ov. met. 3.6–136. Cfr. Gantz 2004, 823–834. 30 Contrariamente al caso ateniese, dove la discendenza autoctona è prerogativa di tutti i cittadini e quindi in questo senso democratica, a Tebe sono solo le famiglie oligarchiche della città che possono vantare questa peculiarità e si proclamano discendenti degli Sparti. Occorre inoltre tener conto che la città di Tebe disponeva di un secondo mito fondatore, probabilmente più antico di quello di Cadmo, che riconosceva il ruolo di eroi fondatori, e in particolare di costruttori delle mura, ad Anfione e Zeto, figli di Zeus e di Antiope. La mitopoiesi delle due versioni corrisponde a due diversi momenti della storia di Tebe e dipende in entrambi i casi dalla contingenza storica e politica che li generò. Su tale questione, vd. Berman 2004, 1–22; Kühr 2006, 87–132 e, da ultimo, Mackowiak 2010, 563–589, con bibliografia. Il mito viene ripreso da Euripide nell’Antiope, tragedia conservatasi in pochi frammenti e databile dopo il 412. Vd. Biga 2015 e Jouan/Van Looy 1998, 213–269.

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Riferendosi a essi, il tebano Pindaro non esita a definirli “razza santa”31 riflettendo in questo la percezione positiva che i Tebani avevano di questo episodio della loro tradizione sulle origini.32 In un certo senso, gli Sparti del mito tebano assicurano la trasmissione del loro carattere “genetico” di autoctoni ai loro discendenti, cioè ai detentori del potere di Tebe, retta da un regime oligarchico, mentre invece, nella democratica Atene, il carattere autoctono è condiviso da tutti i cittadini.

3 Eroi fondatori ateniesi e tebani Una comunità politica si identifica nondimeno anche intorno al culto del suo fondatore, generalmente presso il luogo della sua sepoltura. Le fonti letterarie non conservano tuttavia nessuna traccia dell’esistenza di un heroon di Cadmo.33 Due indizi consentono però di ipotizzare che il culto dell’eroe fondatore tebano fosse ben ancorato nel cuore di Tebe, sulla Cadmea, corrispettivo dell’Acropoli ateniese. Il testo euripideo allude al soggiorno eterno di Cadmo nell’Isola dei Beati. Si tratta di fatto del solo elemento della profezia dionisiaca presente in una fonte anteriore a noi nota. Pindaro, infatti, nella seconda Olimpica, composta in occasione della vittoria alla corsa dei carri di Terone di Agrigento, nel 476 a.C.,34 segnala la presenza di Cadmo nell’isola dei Beati, accanto a Peleo, Achille e Memnone. Questo stesso toponimo viene utilizzato da Licofrone per alludere a Tebe nei versi in cui viene fatto riferimento alla localizzazione della tomba di Ettore,35 che anche Pausania, che per la mitistoria di Tebe si basa in gran parte su informazioni di matrice locale,36 situa nella città beotica.37 Come spiega A. Hurst, l’identificazione di Tebe con l’Isola dei Beati nasce verosimilmente dall’assimila-

|| 31 Pindaro, Inni, fr. 29.2 Snell/Maehler. Sulla “selettività” di Pindaro, che non fa riferimento agli episodi meno gloriosi delle saghe tebane, cfr. Giannini 2000, 163–178. 32 Sulla questione dell’orgoglio tebano a proposito del mito della cofondazione tebana di Cadmo e degli Sparti, cfr. Castiglioni 2011, 44–46. 33 Va ovviamente segnalata la presenza, a Tebe, del mnema di Anfione e Zeto, i fondatori alternativi di Tebe, a nord della Cadmea e non lontano dall’agorà (Paus. 9.17.4), ma, nel caso dei gemelli figli di Antiope e Zeus, siamo nell’ambito di una tradizione alternativa. 34 Pind. O. 2.67–88. 35 Lyc. Alex. 1189–1213 e schol. Lyc. 1194a, 1204b e 1208a. 36 Moggi/Osanna 2010, 239. 37 Paus. 9.18.5.

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zione di questo luogo leggendario con i Campi elisi, la cui etimologia rinvia all’aggettivo ἐνηλύσιος, «colpito dal fulmine».38 L’identificazione con Tebe si giustificherebbe allora sulla base del fatto che l’acropoli della città conservava i resti del thalamos di Semele, in cui essa fu fulminata da Zeus.39 La genesi della tradizione della localizzazione tebana dell’Isola dei Beati, riportata dal solo Licofrone e dai suoi scoliasti, rimane sconosciuta, ma, come dimostra ancora Hurst, non è improbabile che l’erudito poeta abbia attinto direttamente a tradizioni tebane risalenti a epoca arcaica.40 Pausania aggiunge che insieme al fulmine che uccise Semele cadde dal cielo anche un pezzo di legno (ξύλον), una sorta di xoanon,41 che Polidoro, il figlio e successore di Cadmo (assente nelle Baccanti), avrebbe adornato con del bronzo e chiamato Dioniso Cadmio. Vicino alla stanza di Semele, trasformata, come si deduce da Euripide, in un sekos o un abaton, erano posti una statua in bronzo di Dioniso e un altare.42 L’esistenza di un santuario di Dionysos Kadmeios contiguo al luogo di culto di Semele è inoltre confermata da un decreto anfizionico di Delfi databile poco prima del 166.43 I parallelismi con il caso ateniese sono notevoli: come Erittonio-Eretteo, anche Cadmo sarebbe stato venerato in connessione con un dio, Dioniso, nel luogo stesso della sua reggia, la Cadmea, il cui spazio si configura, come nel caso dell’Acropoli ateniese, quale luogo della memoria delle origini di Tebe e del culto delle reliquie della reggia del suo eroe fondatore.44 Non è quindi escluso che possa essere esistito a Tebe un culto eroico in onore di Cadmo, definito del resto da Pindaro “simile agli dei”45 e che fosse anch’egli rappresentato sotto forma di serpente, animale ctonio che esercita, quale oikouros ophis, una funzione protettrice sulla comunità. In questo caso, la sua metamorfosi si configurerebbe come un aspetto della sua eroizzazione e non come un castigo divino. Il serpente viene

|| 38 Hurst 2012, 60–66, sulla base di un’intuizione di Burckert 1961. 39 Paus. 9.12.3–4 e Eur. Bac. 6–9. 40 Hurst, 2012 e Hurst 1985. Vd. anche Federico 2008. 41 L’episodio richiama quello del palladion, xoanon anch’esso caduto dal cielo e collegato a una morte accidentale, sul quale vd. Létoublon 2014, 61–84. 42 Paus. 9.12.4. Vd. commento in Moggi/Osanna 2010, 287–288, con bibliografia. 43 Robert 1977, 195–210, in particolare p. 197, n.1, rinvia a una dedica per una vittoria musicale, databile al 270–260 a.C., in onore delle Muse eliconie e di Dionisio Cadmeio. 44 Sulla Cadmea e sull’identità tra agorà e la «casa di Cadmo», cioè il palazzo miceneo, vd. Dakouri-Hild 2005, 81–107 e, più in generale, Boardman 2004, 35–70. Non è escluso che l’epiteto Kadmeios sia da intendersi in senso topografico, come riferimento al luogo di culto dionisiaco situato presso la Cadmea, come avviene in altri casi: vd. Kühr 2006, 223. 45 Pind. P. 3.88.

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infatti spesso associato, nella mentalità greca, allo status e al culto eroico.46 L’ofiomorfismo è inoltre collegato, come nel caso ateniese di Cecrope e di Eretteo, ai tempi primordiali ai quali anche Cadmo e gli Sparti appartengono. Del resto, anche il nome dello Sparto padre di Penteo, Echione deriva da ἔχις, «vipera», rinviando perciò in modo trasparente al mondo dei rettili. Una tradizione riportata dallo scoliaste delle Fenicie, che cita Dercillo, precisa inoltre che Cadmo avrebbe avuto in sposa Armonia solo dopo averne ucciso il padre, chiamato Drakon, «serpente», e figlio di Ares.47 Si tratterebbe in questo caso di una versione razionalizzante dell’episodio dell’uccisione del serpente guardiano della fonte di Ares che mette in evidenza, ancora una volta, il profondo legame tra le origini di Tebe e l’ofiomorfismo. Possiamo supporre che Tebe e Atene avessero formulato ricostruzioni mitologiche dei loro rispettivi passati ancestrali e di rappresentazione dei loro eroi patrii molto simili, secondo modelli certo noti anche per altre regioni o città greche, ma dotati di una portata ideologica meno forte che nell’Atene classica.48 Alla luce di questi dati la metamorfosi e l’esilio cadmeo, così come sono presentati in Euripide, inducono allora a ipotizzare una manipolazione del mito da parte del tragediografo. Infatti, mentre Eretteo subisce una morte autoctona, che lo lega doppiamente al suolo attico, sua culla e sua tomba, Tebe, nella tragedia euripidea, attraverso l’esilio di Cadmo-serpente, l’allontanamento definitivo del corpo dell’eroe dalla città, sarebbe stata privata della presenza e quindi della tutela dell’eroe fondatore. A ciò si aggiunge anche, con la morte di Penteo, l’estinzione della discendenza dagli autoctoni Sparti. L’epilogo della tragedia, che ignora l’esistenza di Polidoro figlio di Cadmo, toglie di fatto a Tebe ogni legame con il passato, lasciando ai soli Ateniesi il privilegio dell’autoctonia, e priva inoltre gli abitanti della città beotica del sostegno del loro eroe fondatore e civilizzatore. Come è noto, l’autoctonia ateniese divenne motivo di orgoglio e di vanto per gli abitanti dell’Attica almeno a partire dalla metà del V secolo, allorché il decreto pericleo sulla cittadinanza sancì l’obbligo di discendere da genitori ateniesi per

|| 46 Vd. Castiglioni 2011, 27–29. 47 Derc. FGrHist 305 F 6 = schol. Eur. Ph. 7. 48 Miti di origini autoctone o di antenati γηγενεῖς sono noti anche per l’Arcadia, con Pelasgo (Paus. 5.1.1), Egina (Paus. 2.29.2), Sparta (Paus. 3.1.1), la Beozia, con Ogigo (Paus. 9.5.1), Sicione, con Agialeo (Paus. 2.5.6), Fliunte, con Aras (Paus. 2.12.3). Sulle somiglianze tra autoctonia ateniese e autoctonia tebana, vd. Gourmelen 2004, 381–400.

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poter esercitare la sovranità politica.49 Al fine di legittimare la purezza del loro γένος, gli Ateniesi si servirono di una serie di argomenti ideologici che conobbero una sistematizzazione definitiva nel corso del IV secolo, grazie ad Aristotele e a Isocrate in particolare, ma di cui si colgono tracce esplicite già nel secolo precedente, in particolare con la costruzione o la risemantizzazione di un passato mitologico che enfatizzasse l’omogeneità e il carattere incontaminato del sangue degli Ateniesi, insieme al loro legame atavico con la terra attica.50 La valorizzazione della nascita di Eretteo da Gè e della discendenza diretta degli Ateniesi da questo re mitico ne costituisce l’aspetto principale. Tale processo condusse parallelamente al disprezzo per le origini alloctone delle altre comunità civiche. Di Tebe in particolare venne sottolineata la contaminazione con Cadmo, presentato come un βάρβαρος di origine fenicia.51 Come fece notare Vian, la “semitizzazione” di Cadmo si manifesta nella tradizione solo tra il 650 e il 550 a.C. e viene affermata con insistenza in particolare nella tragedia euripidea.52 Parallelamente, l’autoctonia derivante dagli Sparti viene ignorata o degradata, presentata come il risultato di un duplice omicidio, quello perpetrato prima da Cadmo e quelli commessi poi dagli Sparti stessi, che si uccidono a vicenda subito dopo la nascita. Le origini di Tebe, quindi, nell’ottica ostile illustrata da Atene, sarebbero caratterizzate da un’autoctonia contaminata dal sangue e da un legame genealogico con il mondo fenicio, cioè, nel contesto del V secolo a.C., con l’impero persiano, di cui le città fenicie sin dal regno di Dario facevano parte, fornendo un apporto considerevole alla flotta del Gran Re.53

|| 49 Il tema dell’autoctonia ateniese è stato ampiamente trattato e la bibliografia a esso relativa è davvero abbondante. Segnaliamo soltanto alcuni degli studi più significativi: Loraux 1981; Loraux 1996; Detienne 2000; Detienne 2001, 105–110; Detienne 2003; Detienne 2005, 113–144; Detienne 2008, 5–14; Bearzot 2007, 7–28; Poddighe 2012, 3–15. Cfr. anche, per una presentazione sintetica che tiene conto in particolare dei contributi di Marcel Detienne e di Nicole Loraux: Létoublon/Alaux 2005, 217–229. 50 Tali questioni sono argomentate in modo convincente in Poddighe 2012, 3–15. Cfr. anche Castiglioni 2011, 36–44. 51 Cfr., per la retorica contro le città contaminate da sangue straniero e sull’elogio della purezza ateniese: Plat. Menex. 245 c–d e Isocr. Or. 12.79. Sulla svalorizzazione dell’autoctonia tebana, vd. in particolare Mackowiak 2016. 52 La leggenda della fondazione tebana di Cadmo era probabilmente già nota nel VII–VI sec. a.C., se non già nell’VIII secolo, ma l’accento posto sulle sue origini semitiche è più recente: Vian 1963, 54–69. Cfr. anche Prandi 1986 e Mackowiak 2016, 167. 53 Cfr. Castiglioni 2011, 40–44, in particolare sul valore dell’ossimoro «splendida infamia» dei vv. 818–822 delle Fenicie euripidee. Cfr. anche Platone (Soph. 247c; Rp. 3.414c e Leg. 2.663e), che fa riferimento in termini piuttosto spregiativi alla «favola sidonia».

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4 Conclusione La svalorizzazione ateniese di Tebe è di fatto un processo ben identificabile nel teatro tragico, dai Sette contro Tebe (467 a.C.) fino alle Baccanti.54 Tebe diviene in ben otto tragedie conservate per intero55 lo sfondo di crimini atroci e di azioni orribili, al punto da essere stata definita da una parte della critica come l’anticittà per eccellenza, la città della stasis, lo specchio rovesciato di Atene, fissata nel paradigma della città malvagia e divisa,56 il luogo dei vizi cui viene contrapposto il modello ideale di Atene, luogo di virtù.57 Tale polarizzazione è stata sfumata da contributi più recenti, che hanno invitato a evitare generalizzazioni troppo categoriche.58 Di fatto tuttavia, l’episodio della metamorfosi e dell’allontanamento di Cadmo dalla Cadmea si delinea come speculare e nettamente antitetico alla vicenda di Eretteo. In entrambi i casi, sembra essere in gioco il rapporto con gli dei: nel caso di Atene, il conflitto tragico si risolve con una protezione divina rinforzata per la comunità cittadina, nel caso di Tebe, con la vendetta distruttrice di Dioniso. Nelle due famiglie regnanti, specchio delle due città, la concordia e l’armonia della casa di Eretteo si contrappongono alla stasis della dinastia cadmea. Sembra dunque che Euripide abbia voluto caricare di valenze politiche antitebane la sua tragedia. Tale manipolazione del dato mitico si giustifica certamente dal punto di vista della contingenza politica, date le difficili relazioni politiche e militari tra Tebe e Atene, soprattutto dopo l’ostracismo di Temistocle e

|| 54 Vd., per le Fenicie di Euripide, Mackowiak 2016, 172–175. 55 Aeschl. Sept.; Soph. O.T.; O.C.; Ant.; Eur. Ph.; Suppl. (in cui alla localizzazione tebana si aggiungono quelle argiva e ateniese); Bac.; H.F. 56 Zeitlin 1990, 130–167; Zeitlin 1993, 147–182; Vidal-Naquet 1986, 175–211. I tragici ateniesi attinsero alle vicende dell’epos tebano, risalente a epoca arcaica ma purtroppo giunto a noi in mondo molto frammentario. I tre poemi del ciclo epico tebano (Edipodia, Tebaide e Epigoni, a cui si potrebbe affiancare anche l’Alcmeonide) narravano le vicende di Edipo, dei suoi figli Eteocle e Polinice e dei figli di costoro, Laodamante e Tersandro. Si tratta quindi di generazioni posteriori alla cronologia della saga cadmea, trattata quest’ultima, almeno in parte, nell’Europia di Eumelo di Corinto e di Stesicoro. Cfr. Gantz 2004, 825. Sul ciclo tebano: cfr. Davies 2014 e sull’Europia, Debiasi 2015, 158–163. Vd. anche Cingano 2000, 127–171. 57 Vd. Pepe 2000, 203–218, in particolare 215, che sottolinea come Tebe sia presentata quale città irrispettosa delle leggi divine, della norme panelleniche e colpevole di hybris, in gran parte per colpa di Creonte, a cui viene contrapposto Teseo, padre della democrazia. 58 Vd. in particolare Angeli Bernardini 2000, 221–222 e Cerri 2000, 259–263, che fa notare come Tebe sia anche «la città dei giusti».

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nel corso della guerra del Peloponneso.59 Tuttavia, le parole conclusive del coro, che sottolineano l’imprevedibilità dell’azione divina, suonano anche come un monito ad Atene stessa, indebolita, in quegli anni, dalla guerra e dalla discordia civica. Osservata a distanza, dalla corte macedone, a vent’anni di distanza dalla composizione dell’Eretteo, anche Atene poteva apparire a Euripide minacciata dagli spettri, dalle tensioni e dalle contraddizioni che, nella risemantizzazione ateniese del mito tebano, avevano prostrato la città beotica. In tale contesto, anche Atene rischiava di perdere la protezione del suo oikouros ophis, divenendo vulnerabile a ingerenze provenienti dall’esterno.

Bibliografia Angeli Bernardini, Paola (2000), “Tebe nell’Eracle di Euripide”, in: Paola Angeli Bernardini (ed.), Presenza e funzione della città di Tebe nella cultura greca. Atti del Convegno internazionale (Urbino 7–9 luglio 1997), Pisa/Roma, 219–232. Bearzot, Cinzia (2007), “Autoctonia, rifiuto della mescolanza, civilizzazione: da Isocrate a Megastene”, in: Tommaso Gnoli, Federicomaria Muccioli (ed.), Incontri tra culture nell’oriente ellenistico e romano, Milano, 7–28. Beltrametti, Anna (2007), “La visita del giovane dio. Dalla drammaturgia di Dürrenmatt alla politica di Archelao”, in: Anna Beltrametti (ed.), Studi e materiali per le Baccanti di Euripide. Storia Memorie Spettacoli, Pavia, 13–64. Berman, Daniel W. (2004), “The Double Foundation of Boiotian Thebes”, in: Transactions of the American Philological Association 134, 1–22. Biga, Anna Miriam (2015), L’Antiope di Euripide, Trento. Boardman, John (2004), Archeologia della nostalgia. Come i Greci reinventarono il loro passato, Milano [trad. it. di: The Archaeology of Nostalgia, How the Greeks re-created Their Mythical Past, London 2002]. Burkert, Walter (1961), “Elysion”, in: Glotta 39, 208–213. Calame, Claude (2011), “Un’autoctonia tragica per la guerra del Peloponneso. Eziologia ed eroizzazione nell’Eretteo di Euripide”, in: Anna Beltrametti (ed.), La storia sulla scena. Quello che gli storici antichi non hanno raccontato, Roma, 221–240.

|| 59 Cfr. Delebecque 1951, che ricorda che i Tebani erano stati accusati di collusione con i Persiani. Ricordiamo poi che, poco tempo dopo la rappresentazione delle Baccanti, quando Atene dovrà capitolare davanti alla coalizione spartana, saranno proprio i Tebani, insieme ai Corinzi, a suggerire di radere al suolo la città (Xen. Hel. 2.2.19–20; Plut. Lys. 15.3–4). Dei riferimenti ai difficili rapporti tra Tebe e Atene sono stati del resto individuati anche nell’Edipo a Colono, composto da Sofocle probabilmente poco prima di morire, nel 407–406, e rappresentato postumo nel 401. Anche le Supplici di Euripide, risalenti agli anni tra il 424 e il 420 riflettono l’ostilità per Tebe all’indomani della sconfitta ateniese di Delion. Cfr. Di Benedetto 1971, 156–159.

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P.J. Finglass

Phaedra between Homer and Sophocles: the Stesichorean connexion Abstract: This chapter gathers all the evidence for Phaedra from between the Odyssey and Sophocles, evidence largely neglected in modern scholarship. It goes on to investigate the consequences of some of that neglected evidence (namely Stesichorus) for the idea that the references to Athenian myth in the Odyssey imply an Athenian context for the early transmission, or even composition, of that poem, and argues that Athenian myth was becoming part of panhellenic mythology at an earlier stage than has traditionally been believed.

Φαίδρην τε Πρόκριν τε ἴδον καλήν τ’ Ἀριάδνην, κούρην Μίνωος ὀλοόφρονος, ἥν ποτε Θησεὺς ἐκ Κρήτης ἐς γουνὸν Ἀθηνάων ἱεράων ἦγε μέν, οὐδ’ ἀπόνητο· πάρος δέ μιν Ἄρτεμις ἔκτα Δίῃ ἐν ἀμφιρύτῃ Διονύσου μαρτυρίῃσι. And I saw Phaedra, Procris, and fair Ariadne, baleful-minded Minos’ daughter, whom Theseus was bringing from Crete to the hill of sacred Athens, but he took no enjoyment from her. Before he could, Artemis slew her on Dia, surrounded by the sea, thanks to the witness of Dionysus. (Hom. Od. 11.321–325)

With reference to this passage from the Odyssey’s ‘Catalogue of Women’, Stephanie Larson in a recent article remarks that ‘the Odyssey provides our sole attestation of Phaedra before Sophocles’.1 In fact there are at least four possible attestations of Phaedra between the Odyssey and Sophocles. In what follows, I set out all the post-Odyssean, pre-Sophoclean evidence for Phaedra. It will become clear that Larson is not alone in overlooking it; standard encyclopedias (with a single exception, discussed below) make the same omission. I would have overlooked

|| 1 Larson 2014, 417; Larson 2000, 202. Phaedra appears in Sophocles in her eponymous tragedy. For a commentary on the fragments of Sophocles’ Phaedra see Talboy/Sommerstein 2006, with a bibliographical supplement at Sommerstein/Talboy 2012, 265–266. || Author’s note: I am grateful to Dr Adrian Kelly and Professor Christos Tsagalis for helpful comments. https://doi.org/10.1515/9783110656893-008

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it too, had I not by chance recently edited one of the poets from the relevant period who happens to mention Phaedra.2 Collecting disparate pieces of neglected evidence is a task worth undertaking in its own right, as a necessary prelude to interpretation and analysis. But having done that, I will examine how some of this evidence sheds light upon the early transmission of the Odyssey. First, and most obviously, Sophocles’ Phaedra may have a tragic predecessor. Euripides also wrote two Hippolytus plays; the play that we have in full (Hippolytus Stephanêphoros, from 428) is likely to be the later. It is often conjectured that Euripides’ other Hippolytus play, Hippolytus Kalyptomenos, was earlier not only than Hippolytus Stephanêphoros, but also than Sophocles’ Phaedra; according to this view, Euripides returned to this myth only when Sophocles had produced a treatment of it.3 This is not certain; some scholars would make Sophocles’ Phaedra the last of the three.4 But Larson’s implied view, that Sophocles’ Phaedra was the first of the three, is not certain either; for what it is worth, I have not found another scholar who takes this view. That does not mean that the view is necessarily wrong; but it does mean that one cannot simply assume that it is right without stating that an alternative is possible. A second attestation of Phaedra can be found in a painting of Odysseus’ visit to the Underworld by Polygnotus in the Cnidian Lesche at Delphi, as described by Pausanias.5 In this work Phaedra is seated on a swing, grasping a rope in either hand, and thereby (according to Pausanias) alluding to the manner of her death (that is, hanging); Ariadne is seated on a rock nearby, looking at her sister. If Pausanias is right to infer a reference to Phaedra’s suicide, then the painting probably provides pre-tragic evidence for the myth of Hippolytus and Phaedra – unless we are to suppose that the artist knew of a myth in which Phaedra committed suicide for a quite different reason. Near Phaedra and Ariadne is Procris;6 hence the three women, all with Athenian associations, mentioned in the Odyssey passage above, are found in close proximity in Polygnotus’ painting, which, we may infer, was influenced by that epic. The date of the Lesche is not certain, but likely to be between 475 and 460;7 according to Kebric, it dates to after the battle of Eurymedon in approximately 469, and this painting and Polygnotus’ Iliu Persis || 2 Finglass 2014b; for an account of this edition see Finglass/Kelly 2015a, 11–12; P.J. Finglass, “Editing Stesichorus”, in a volume to be edited by M. Alexandrou, C. Carey, and G.B. D’Alessio. 3 So e.g. Barrett 1964, 12; Talboy/Sommerstein 2006, 287–289. 4 Thus Casanova 2007, 6–7. 5 Paus. 10.29.3 = Linant de Bellefonds 1994, §17. Larson writes ‘our sole attestation’, not ‘our sole literary attestation’, so it is legitimate to mention the painting in this connexion. 6 Paus. 10.29.6. 7 Scott 2010, 325; cf. 94.

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from the same building ‘reflect a solid pro-Cimonian, pro-Thesean sentiment which was not accidental,’8 as demonstrated by the presence of figures related to Theseus on the two works.9 Whatever the exact date of the painting, it is certain that this depiction of Phaedra antedates Sophocles and postdates Homer. Turning back to literary texts for the third attestation, an epic Theseis depicted Theseus’ wedding to Phaedra, which was interrupted by the Amazon Antiope.10 There almost certainly was such an epic composed in the sixth century,11 and if this fragment comes from that poem, that provides a further text predating Sophocles’ Phaedra and thus a further attestation for Phaedra within the relevant timeframe. We cannot be quite certain of this, since Aristotle refers to there having been many poems of this title;12 we happen to know of one, by Nicostratus, that does not predate the fourth century,13 and the fragment mentioning Phaedra might come from such a later work. But there is at the very least a reasonable possibility that we have here an additional piece of evidence for Phaedra after the Odyssey and before Sophocles. The fourth and final piece of evidence for pre-Sophoclean treatments of Phaedra requires the most careful sifting. An anonymous work of scholarship written between c. 150 BC and AD 10014 contains the following discussion of Stesichorus’ mythological innovations: οὕ– τωϲ δὴ ἐκ[α]ινοποίηϲε τ[ὰϲ ἱϲτορ[ί]αϲ [ὥ]ϲτε Δημοφῶντ[α μὲν τ[ὸ]ν Θηϲέωϲ ἐν τ[ῶ]ι νό– ϲτωι με[τὰ] τῶν Θε.[ ̣ ̣ ̣]δων̣ [ ἀπενεχ[θῆναι λέγ]ειν ε̣[ἰ]ϲ̣ [Αἴ– γυπτον, [γενέϲθα]ι δὲ Θη[ϲεῖ Δημοφῶ[ντα μ]ὲν ἐξ Ἰό[πηϲ

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|| 8 Kebric 1983, 13 and 37. 9 Polygnotus’ Iliu Persis includes depictions of Aethra, Demophon, and Acamas; his painting of the Underworld includes Theseus and Pirithous (Paus. 10.25.7–8, 10.26.2, 10.29.9). 10 Theseis fr. 1 Bernabé = West. 11 Thus Bernabé 1996, 136; Cingano 2007, 93; Fowler 2000/2013, II 470 n. 67. According to M. West 2003, 24–45, ‘Theseus’ emergence as a sort of Attic Heracles […] appears on artistic evidence to have occurred only around 525 BC. It probably reflects the circulation of an epic Theseis at this time, perhaps the work from which our citations come.’ 12 Aristot. Poet. 1451a19–21: πάντες ἐοίκασιν ἁμαρτάνειν ὅσοι τῶν ποιητῶν Ἡρακληίδα Θησηίδα καὶ τὰ τοιαῦτα ποιήματα πεποιήκασιν. 13 Diogenes Laertius (2.59) refers to Nicostratus, author of the Theseis, as the brother of an Athenian called Xenophon, who wrote a life of Epaminondas and of Pelopidas. 14 For the date see: Finglass 2014a, 81.

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τῆϲ Ἰφικ[λέουϲ, Ἀ]κάμαν[τα δὲ ἐκ] Φ̣α̣[ίδραϲ,] ἐκ̣ δ̣ὲ τ̣ῆϲ Ἀμ[α– ζόνοϲ Ἱππο]λ̣ύ̣τη[ϲ] .ε̣λη.[ ] περὶ τ̣[ο]ύτων̣ [ ]τηϲ [Ἑ]λένηϲ[ ]ε Ἀγαμέμ[ν– ].ον τον.[ Ἀ]μφίλοχον [

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So innovative was he in his treatment of mythology that he said that Demophon, son of Theseus, on his voyage home with the sons of The—, was brought to Egypt,and that Demophon was born to Theseus from Iope daughter of Iphicles, and Acamas was born from Phaedra, and from the Amazon Hippolyte … concerning these … of Helen … Agamemnon … Amphilochus … (Stesichorus fr. 90.15–30 Finglass)

The key phrase for our purposes is Ἀ]κάμαν[τα δὲ | ἐκ] Φ̣α̣[ίδραϲ. In the first publication of this papyrus, Page puts  Ἀ]κάμαν[τα δέ  in his text, but for the following phrase writes simply ]..[, leaving ἐκ] Φ̣α̣[ίδραϲ in the apparatus and noting ‘sed etiam alia possis’.15 In the full editio princeps of the whole papyrus that followed a year later, Page remarks of this supplement that it is ‘possible, but a less conventional name may well have stood in this context’,16 and Barrett repeats Page’s judgment in his edition of Euripides’ Hippolytus the year after that.17 The revision of Page’s edition by Davies nearly thirty years later made no change to Page’s original edition, apart from adding a typographical error.18 Campbell’s Loeb, however, which appeared in the same year, puts ἐκ] Φ̣α̣[ίδραϲ in the text.19 In an analysis of the papyrus published a few years subsequently, Walker implicitly agrees with Page, writing that ‘the papyrus that gives us this information breaks off at this point, so we have to guess that Phaedra was the mother of Acamas’.20 We can do better than guess. As Page notes, the first of the dotted letters can only be be phi or psi; we cannot narrow down the range of possibilities for the second dotted letter quite so dramatically, but the traces are consistent with alpha.21 Since ἐκ at the start of the line is certain (cf. ἐξ … ἐκ̣ … in 22–24, each time

|| 15 Page 1962, 106 (= fr. 193). 16 Page 1963, 37. 17 Barrett 1964, 437. 18 Davies 1991, 180 (= fr. 193); in the apparatus he writes ἐκ instead of ἐκ]. 19 Campbell 1991, 96 (= fr. 193). 20 Walker 1995, 24. 21 Page 1963, 37.

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introducing the mother of one of Theseus’ children), it is also certain that the name of Acamas’ mother began with phi or psi, and that (in the genitive) it consisted of roughly seven letters. We have to ask ourselves what name associated with Theseus might fit these conditions, and when we do, the only answer is Phaedra.22 It is theoretically possible that the name was not Phaedra, but some other name unknown to us beginning with phi or psi, which just happened to fill the necessary space as well as hers does. But the overwhelming weight of probability is against this. If we do not print Phaedra’s name here, we are enforcing a far higher standard of proof than we customarily do elsewhere in scholarship; applied consistently, such a hypersceptical approach would have implications far beyond the printing of papyrus supplements. In my edition, therefore, the relevant part of which is printed above, I follow Campbell, against Page (and Davies), in promoting ἐκ] Φ̣α̣[ίδραϲ from the apparatus to the text. Phaedra therefore appeared in Stesichorus – probably in his Palinode(s), if I am correct in arguing that this poem is the one under discussion at this point in the papyrus.23 As mentioned above, Larson is not the only scholar to have missed some or all of this evidence. So the account of literary sources for Phaedra found in the Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (which naturally includes a description of the Polygnotus painting as part of its catalogue) jumps from the Odyssey to tragedy, without mentioning Stesichorus or the Theseis.24 The sole English commentary on Euripides’ Hippolytus to be published after Barrett’s informs its readers that ‘the only mention of Phaedra before the fifth century occurs in the Nekuia of Homer’s Odyssey’.25 A major mythological handbook, cited by Larson, states explicitly that ‘Before the tragedies of Sophocles and Euripides [Phaedra] surfaces only once, in a single line of the Nekuia’, missing the Theseis, Stesichorus, and Polygnotus.26 A monograph on Theseus in the fifth century mentions the Odyssey, Theseis, and Polygnotus, but again not Stesichorus.27 An article in an edited volume dedicated to Phaedra cites the Odyssey and Theseis, but not Stesichorus, as pre-tragic literary references to Phaedra;28 an article in a second

|| 22 For this line of reasoning cf. Finglass 2014c, 66: ‘Once we accept that these traces constitute a speaker designation, we must ask which name associated with this branch of mythology could fit. Ino matches the traces admirably; no other relevant name would suit.’ 23 Finglass 2013, 43. 24 Linant de Bellefonds 1994, 356. 25 Halleran 1995, 22. 26 Gantz 1996, 295. 27 Mills 1997, 189–190. 28 Casanova 2007, 5.

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such volume, published a year later, refers only to the Odyssey.29 That standard modern work of reference, Brill’s New Pauly, mentions the Odyssey, Theseis, and Polygnotus, but omits Stesichorus.30 The one work that does provide its readers with the relevant information is the original Pauly-Wissowa – a salutary reminder that, when it comes to works of reference, newest is not necessarily best. The Pauly-Wissowa article on Phaedra, published just before the start of the war, refers to the Odyssey, Theseis, and Polygnotus – that is, to all the information then available.31 The article on Theseus, which appeared thirty-five years later, and thus after the publication of the Stesichorus papyrus, duly adds Stesichorus to the mix, citing the relevant part of the papyrus in translation, and adding a question mark after Phaedra’s name to indicate that her name has to be restored.32 But it is evident from the citations in the previous paragraph that this article unfortunately no longer has much purchase in the scholarly world. Hopefully future work on Phaedra will now be able to take advantage of the data gathered by Herter more than forty years ago. Let us now examine one way in which consideration by scholars of some of this early evidence for Phaedra could generate interesting results. In common with other scholars, Larson sees the reference to Phaedra and the other Athenian heroines as evidence for the standardisation of the Odyssey’s text at Athens in the middle of the sixth century.33 Yet we now see that Phaedra is present in the poetry of Stesichorus, a poet from Himera in Sicily, active for some of the period between 610 and 540,34 who knew a poem either equivalent to our Odyssey or something very close to it.35 Stesichorus refers to Theseus’ sons Demophon and Acamas, too,

|| 29 Bañuls/Crespo 2008, 15. 30 Waldner 2007; so also the German original, Waldner 2001. 31 Wotke 1938, 1548. 32 Herter 1973, 1211. His previous article on Phaedra, Herter 1971, does not discuss the pre-tragic evidence. For his concern for the early history of a myth cf. Herter 1975, 119 ‘Wenn man eine antike Tragödie in ihrer Eigenart recht beurteilen will, tut man gut, sie nicht nur für sich zu nehmen, so wie sie zum Kunstwerk geworden ist, sondern sie auch mit ihren Quellen zu vergleichen, etwaigen früheren Bearbeitungen des gleichen Stoffs und nicht zum wenigsten diesem Stoffe selber, dem Mythos’ (from a chapter, pp. 119–56, entitled ‘Hippolytos und Phaidra’). 33 Larson 2014, 426–427; Larson 2000, 220–222, citing S. West 1988, 36–38. 34 Finglass 2014a, 1–6. 35 Cf. the close interaction of Stesich. fr. 170 Finglass with Hom. Od. 15.170–84; as Peek 1958, 173 asked, ‘Wer hätte geahnt, daß die Abhängigkeit auch im Stofflichen so weit gehen könnte?’ (‘who would have suspected that the dependence [sc. of Stesichorus on Homer] could have gone so far in terms of subject matter too [sc. in addition to his imitation of individual words and

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as well as other members of Theseus’ family. We cannot be sure how prominent these figures were in his poetry. But the detail preserved in the fragment quoted above, that Demophon travelled to Egypt, suggests that this character, at least, received no mere glancing mention; this information is indeed presented by the author of the papyrus text as a remarkable mythological innovation, something worth commenting on, rather than something passed over quickly by the poet. Moreover, even if we ignore the point just made and assume that the references in Stesichorus were brief, they would still be significant. As Larson notes, the brevity of the Odyssey’s references to Phaedra, Procris, and Ariadne, compared to the accounts of other heroines in the catalogue, ‘may suggest that the audience was extremely familiar with these mythologies and even that large numbers of Athenians comprised the intended audience’.36 As a result, consideration of possible Athenian influence on, or contexts for, the Odyssey cannot proceed without considering the same question for Stesichorus. In this latter case, at least, we can be certain that the poet in question was not himself from Athens. The presence of Theseus’ family in at least one his poems might be evidence that Stesichorus travelled to Athens to perform;37 the Athens that produced a poet like Solon could well have attracted a poet like Stesichorus. Or it might suggest that what we think of as Athenian mythological traditions were becoming part of the panhellenic forest of myth sooner than we might otherwise have thought. These two options are not necessarily opposed, since the coming of poets to and from Athens is likely to have stimulated and consolidated the incorporation of what had been specifically Athenian traditions into broader poetic repertoires. The travelling poet Stesichorus seems to have preferred mythological traditions broadly familiar across the Greek world (even if his handling of those traditions was often startlingly innovative); contrast Ibycus, another sixth-century western poet, who in his poetry made use of (for example) Sicyonian mythology that was unlikely to be familiar outside a Sicyonian context.38 So when we identify (what

|| phrases, which was already evident from the quoted fragments]?’; translation from Finglass/Kelly 2015a, 4). 36 Larson 2014, 418; Larson 2000, 203. I do not necessarily agree with her inference about Athenians in the audience, however, as the following paragraphs should indicate. 37 See Finglass 2013, 47–48; Bowie 2015, 120–124. Later in the sixth century Anacreon of Teos and Simonides of Ceos were invited to Athens by Hipparchus ([Plat.] Hippar. 228c: ἐπ’ Ἀνακρέοντα τὸν Τήιον πεντηκόντορον στείλας ἐκόμισεν εἰς τὴν πόλιν, Σιμωνίδην δὲ τὸν Κεῖον ἀεὶ περὶ αὑτὸν εἶχεν, μεγάλοις μισθοῖς καὶ δώροις πείθων· ταῦτα δ’ ἐποίει βουλόμενος παιδεύειν τοὺς πολίτας). 38 See Finglass 2014a, 23–29, with references.

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we think of as) Athenian myth in Stesichorus, and indeed in the Odyssey, we should not assume that only Athenian audiences would have found it of interest. As Carey points out, ‘Much localised myth (and most myth is localised) has panhellenic appeal. One did not have to be Theban or Epirote to enjoy the Thebaid or the story of the Calydonian boar hunt.’39 Moreover, there now seems to be no good reason to delete the relevant lines from the Odyssey as being an Athenian interpolation from the mid-sixth century,40 or to claim that this passage, together with other evidence, supports an Attic origin for the whole poem.41 The presumed justification for either of these hypotheses, that Athenian heroines were unlikely to have been known to the Odyssey poet unless that poet was himself Athenian, seems weak when we see in Stesichorus a poet born many miles from Athens happily including Athenian mythology into his poetry perhaps only a generation after the composition of that epic.42 Stesichorus may indeed have been influenced by the presence of Athenian mythology in the Odyssey, which would mean that such myth would have had to form part of that poem no later than the early sixth century. Be that as it may, anyone seeking to tell the story of the Odyssey’s transmission, and in particular the Athenian slant that it is so often given, can no longer avoid simultaneously investigating Stesichorus’ relationship to Athenian myth as well. Our understanding of the place of Athens within the poetic and mythological contexts of the sixth century will always be woefully insufficient, especially when we consider the mass of material that has survived from the fifth. So it is all the more crucial to hunt down and make full, creative use of every last scrap of information that we do possess. Editors of fragments, too, should not be pusillanimous in printing supplements that are beyond reasonable doubt. For timidity can be as damaging as boldness to the progress of scholarship; and a decision over

|| 39 Carey 2015, 52. 40 Proposed by Wilamowitz 1884, 149–150, the deletion was supported by Barrett 1964, 9 (the passage ‘must be’ an Attic interpolation, ‘presumably sixth-century’); contra Fowler 2000/2013, II 470 n. 67. For Athenian interpolation in Homer see Finglass 2006, 187 n. 3. 41 Thus M. West 2014, 89. 42 We might also wonder about lines such as Od. 11.631 (Θησέα Πειρίθοόν τε, θεῶν ἐρικυδέα τέκνα), which were doubted in antiquity (in this case by Hereas of Megara, FGrHist 486 F 1), perhaps by scholars who had forgotten that Theseus’ family was known to Stesichorus. References to Theseus and his family in the Iliad, such as 3.143–144 (on which see Davies/Finglass 2014, 440 on Stesich. fr. 110 Finglass), are not so easily defended by pointing to Stesichorus, since the Iliad is likely to be much earlier than Stesichorus.

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two dotted letters can have major consequences for the history not just of a particular myth, but also of the early transmission and reception of Greek epic poetry.

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Plebs Argiva – Thebana iuventus – verendi Cecropidae Die „kleinen Leute“ in Statius’ Thebais Abstract: In Statiusʼ Thebaid, Argos, Thebes, and Athens figure as symbolic places. While Argos represents the reign of a good-natured, patriarchal king, Thebes becomes the place of tyranny. Athens serves as the symbol of an ideal monocratic power. Statius recognizably removes Athens both from its literary representations delivered by Greek tragedy and from its identification with contemporary Rome occasionally evoked, though, by the interpretatio Romana of certain political institutions. I argue that the effect of a symbolic semanticization of the three towns is achieved in the first place by the interplay of major characters with minor ones, of the political leaders with the common people. Statius sketches this interplay both as a relation of identity and of contrast. On the one hand, concordant behaviour of the socially distinct protagonists and the ordinary people serves to present furor not only as an individual, but also as a mass phenomenon. On the other hand, the opinions of minor characters offer an assessment of the behaviour of the monomaniacal protagonists from a contrasting point of view. The condition of the people is marked by insecurity and mistrust towards the power of the monocrat. By acting with clementia, Theseus overcomes the fears and doubts of the people expressed throughout the work as well as immediately before his appearance and, thus, dissolves this tension overarching the Thebaid. At the end of the poem, he manages to put an end to the sequence of killing. However, the final emotional judgment remains with the people, the Argive women grieving for their dead husbands. The political solution of a warlike conflict does not yet mean that people come to terms with it emotionally.

1 Einleitung Two thousand years ago the proudest boast was ‘Civis Romanus sum’. Today, in the world of freedom, the proudest boast is ‘Ich bin ein Berliner’ […] All free men, wherever they may

https://doi.org/10.1515/9783110656893-009

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live, are citizens of Berlin, and, therefore, as a free man, I take pride in the words ‘Ich bin ein Berliner!’1

Der berühmte Satz aus der Rede des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy vom 26. Juni 1963 vor dem Schöneberger Rathaus verdankt seine einschlagende Wirkung sicherlich der anschaulichen Überschneidung, in der eine konkrete und eine sinnbildliche Zugehörigkeit zur Bevölkerung einer Stadt zusammengeführt werden. Die Zuhörer sind Berliner im eigentlichen Sinne als Bewohner der Stadt. Der Präsident definiert sein Konzept von Bürgerschaft jedoch über die Freiheit, so dass eine Identität erzeugt wird, an der auch er als Amerikaner teilhaben kann, und so eine Gemeinschaft zwischen ihm und der Zuhörerschaft entsteht. Eine Verknüpfung mit vergleichbaren Abstraktionen von Stadt und Stadtbürgerschaft in der Antike braucht der Altertumswissenschaftler bei diesem Beispiel nicht erst noch herzustellen, der 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika leitet selbst sein symbolisches Konzept von Bürgerschaft aus dem römischen Sprachgebrauch ab. Das die beiden Bürgerschaften verbindende Charakteristikum ist die Freiheit. Die sinnbildlichen Bedeutungszuschreibungen an Städte, die in der Antike begegnen, sind so vielfältig wie diese selbst: Quid ergo Athenis et Hierosolymis? – „Was hat also Athen mit Jerusalem zu tun?“2 – Bei dieser Gegenüberstellung denkt der christliche Autor Tertullian nicht mehr an die eigentlichen Städte, vielmehr steht die eine als Symbol für die pagane Bildung und Philosophie, die andere für das Christentum. Die Städte erfahren in dieser Abstrahierung eine semantische Verdichtung zu Sinnbildern bestimmter geistiger Ideen. Auch Städte, die die Örtlichkeiten in den Handlungen literarischer Texte bilden, können mit unterschiedlichem Bedeutungspotential aufgeladen werden. Eine solche symbolische Kodierung kann darauf abzielen, dass eine Stadt etwa für eine bestimmte politische Ordnung steht. In dem folgenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, mit welchen literarischen Mitteln eine solche semantische Prägung überhaupt erreicht werden kann.3 Hierbei soll gezeigt werden, dass sich das erkennbare Interesse für die „kleinen Leute“, das in Statiusʼ Thebais festzustellen ist, unmittelbar im Dienste einer derartigen symbolischen

|| 1 Zitiert nach Theodore C. Sorensen (Hg.), Let the word go forth: the speeches, statements, and writings of John F. Kennedy, New York 1988. 2 Tert. praescr. 7,9. 3 Der Frage, wie das Bild einer Stadt in einem literarischen Text erzeugt wird, gehen Fuhrer/Mundt/Stenger 2015, 1 nach. Diesen künstlerisch-kreativen Prozess bezeichnen sie als „cityscaping“. Die symbolische Verdichtung, eine der Formen eines solchen Cityscapings, kann treffend mit dem bildhaften Ausdruck der „Destillation“ beschrieben werden (vgl. ebd. 5).

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Verdichtung hin zu einer politischen Aussage steht. Als Teil des Staatswesens, als Untergebene, die mit Machthabern interagieren, dienen sie in besonderem Maße dazu, die mythologische Handlung und ihre Örtlichkeiten um die Dimension des Politischen zu erweitern. In dem folgenden Beitrag soll zunächst (2) der Begriff der „kleinen Leute“ näher bestimmet werden. Daraufhin wird auf (3) die Städte Argos, Theben und Athen als politische Symbolorte in der Thebais einzugehen sein. Sodann soll das Verhältnis, das zwischen den Protagonisten und der Bevölkerung gezeichnet wird, näher aufgezeigt werden. Hierbei werden zwei unterschiedliche Formen von Beziehungen sichtbar: Zum einen werden (4) Konvergenzen zwischen den kleinen und den großen Figuren, zwischen Volk und Machthabern erkennbar, wodurch etwa die Thematik der Affekte nicht nur als ein psychologisches Phänomen des Individuums, sondern auch der Massen thematisiert werden kann. Dann geht der Blick über auf (5) die Divergenzen zwischen diesen beiden Gruppen, durch die eine Beleuchtung der Protagonisten aus der Perspektive der Untertanen erzielt wird. Als weiterer zentraler Aspekt des Verhältnisses zwischen Anführern und Untergebenen soll (6) das Spannungsverhältnis zwischen den Entscheidungen der Staatslenker und der Ungewissheit der Untertanen aufgezeigt werden. Hierbei soll nachgewiesen werden, wie am Ende des Gedichtes das Wirken des Theseus, das die fortgesetzte Abfolge von Gewalt und Verbrechen zu einem Ende bringt, durch das unverzügliche Handeln im Sinne der clementia gerade die Befürchtungen und Unsicherheiten der kleinen Leute überwindet. Ein kurzer Exkurs zu Senecas Fürstenspiegel De clementia wird wichtige Aufschlüsse zum politischen Diskurs der Kaiserzeit bringen.4 Dabei versucht die vorliegende Untersuchung einen Standpunkt in der sehr engagiert geführten Diskussion über die Beurteilung des athenischen Königs zu beziehen. Ist Theseus nach optimistischer Deutung als deus ex machina zu deuten, der durch sein Eingreifen dem sich in einer Gewaltkette immer weiter fortsetzenden Frevel (nefas) ein Ende setzt, oder erscheint er gemäß einer pessimistischen Interpretation als nicht weniger von Affekten geleiteter Tyrann als die thebanischen Brüder? Oder ist er jenseits dieser zweipoligen Auslegungen nicht vielmehr als ambivalente Figur aufzufassen?5 || 4 Die Textgestalt richtet sich nach der Ausgabe zu Statiusʼ Thebais von Shackleton Bailey 2003. 5 Die Deutung, Theseus zeige dieselbe Affektbestimmtheit wie die zuvor erscheinenden tyrannischen Herrscherfiguren, findet sich bei Ahl 1986, 2896; Dominik 1994, 92–98; 156158; McGuire 1997, 147154; 239243; Hershkowitz 1998, 296–301; McNelis 2007, 28; 160177; Ganiban 2007, 207232; Coffee 2009; Bernstein 2016, 399. Dieser pessimistischen Deutung stehen diejenigen gegenüber, nach denen Theseus als deus ex machina die vorausgehende Gewaltkette zu einem Ende bringt. Solche optimistischen Interpretationen finden sich bei Vessey 1973, 6364; 112115, 305316; Braund 1996, 1; 16; 18; Ripoll 1998, 177; 431451; 495502; Franchet d’Espèrey

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2 „Kleine Leute“ im Epos Wenn hier von „kleinen Leuten“ die Rede ist, bedarf es vorab einer genaueren Begriffsbestimmung. Diese wird dann auch zu einer Präzisierung der Fragestellung dieser Untersuchung beitragen. Als Gegenstand wurden bewusst kleine „Leute“, nicht kleine „Figuren“ gewählt. Hierbei geht es um eine Differenzierung zwischen einer sozialen Kategorie, die in dem Begriff „kleine Leute“ enthalten ist, und einer literarischen Klassifizierung, die der Terminus „kleine Figuren“ zu erkennen gibt.6 Gewiss fallen diese beiden Zuordnungen im Heldenepos in der Regel zusammen. Dennoch lassen sich an vielen Stellen Inkongruenzen erkennen. So findet eine Gruppe, wie etwa die Bevölkerung einer Stadt oder ein militärisches Kontingent, ihre literarische Repräsentation meist nicht in Figuren, die als Individuen auftreten, sondern in nicht ausdifferenzierten Gruppen oder gar in Massen – um einen in der Forschungsliteratur zum Epos des 1. nachchristlichen Jahrhunderts häufig gebrauchten Begriff zu verwenden.7 Der Fokus liegt somit auf Personengruppen und individuellen Figuren, die keinen bezeichnenden Anteil an der politischen Macht haben und somit auch nicht als Protagonisten in der von kämpferischen Auseinandersetzungen geprägten epischen Handlung erscheinen. Die Interaktion von Hauptfiguren mit Nebenfiguren entwickelt insbesondere in der Tragödie eine große Dynamik. Ein vorausgehender Blick auf diese Gattung kann dazu dienen, den Fokus für eine Behandlung der Thematik im Epos zu schärfen. Nicht namentlich benannte Boten, deren Berichte grundlegende Informationen für die Handlung bringen, oder Ammen, die auf die ihrer Verblendung oder dem Affekt verfallenen Protagonisten oder Protagonistinnen einzuwirken versuchen, sind aus Tragödienhandlungen nicht wegzudenken.8 Zu den anonymen Figuren in der griechischen Tragödie kann festgestellt werden, dass die Nebenfiguren der Herausstreichung der tragischen Thematik und der Charakteristik

|| 1999, 294296; 310314; 369; Braund 2006, 271. Die Vorstellung einer Ambiguität des Theseus vertreten Pollmann 2004; Bessone 2008, 4. 6 Als eine vergleichbare Untersuchung über „kleine Leute“ im römischen Epos kann die Analyse Fleischmann 2007 angeführt werden, in der die Implikationen dieses Terminus allerdings ohne weitergehende Reflexion geblieben sind. 7 Vgl. Schmitt 1995, Gall 2005 oder Reitz 2013. 8 Boten finden sich unter anderem in Aischylos, Perser, Sieben gegen Theben, Agamemnon; Sophokles, Antigone, Trachinierinnen; Euripides, Herakliden; Seneca, Troerinnen, Phoenissen, Oedipus; Ammen in Euripides, Hippolytos, Seneca, Phaedra, Medea. Eine umfassende Kategorisierung zur griechischen Tragödie liegt in Yoon 2012, 9–38 vor.

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der Protagonisten dienen und damit eine zentrale Rolle bei der Transformation traditioneller Helden aus dem Mythos in Charaktere einer Tragödie spielen. Durch die kleinen Figuren können bei den Protagonisten Aspekte der Verblendung oder soziale Interaktionsmuster hervortreten, so dass das mythologische Personal den Erfordernissen einer Tragödienhandlung gerecht werden kann.9 In literarischen Werken dargestellte Gruppen, anonyme Figuren und auch schwach belegte Figuren sind im Gegensatz zu den Protagonisten in der Regel nicht Teil der frühen mythologischen Stofftradition. Somit liegt gerade in den kleinen Figuren ein Innovationspotential im Rahnen der in ihren groben Zügen bereits festgelegten Haupthandlungen oder Charakterzeichnungen.10 In einer literarischen Fiktion, die in der Lebenswelt von Heroen und Herrschern angesiedelt ist, sind solche „kleinen“ Figuren in der Regel von niedrigerem sozialem Status als die Protagonisten. Anders als in der Erforschung der griechischen Tragödie sind diese Personengruppen, wenngleich immer wieder implizit behandelt, bei der Erschließung von Statiusʼ Thebais noch keiner gesonderten Analyse unterzogen worden. Natürlich können Erkenntnisse zur Tragödie nicht ohne Modifikationen auf das Epos übertragen werden, da die Figurenwelt eines Bühnenstückes und die eines Erzähltextes mit seiner sprichwörtlich „epischen Breite“, einem bei weitem größeren Figurenarsenal sowie einer deutlich weiteren zeitlichen und räumlichen Erstreckung der Handlung grundlegend verschieden sind.11 Ebenso muss sich der Umgang mit mythologischen Stoffen für einen Schriftsteller des 5. vorchristlichen Jahrhunderts grundsätzlich anders erweisen als für einen Autor des 1. Jahrhunderts nach Christus.12 Während auch schon ein Tragödiendichter im klassischen Athen sich mit einer literarischen Tradition der mythischen Stoffe auseinanderzusetzen hatte, wurden die Stoffe in der Literaturgeschichte bis hin

|| 9 Die Funktion kleiner Figuren in der griechischen Tragödie ist eingehend in Yoon 2012 aufgezeigt worden. Wie beispielshalber bei den Hauptakteuren in der Kommunikation mit anonymen Figuren Reaktionen hervorgerufen werden, durch die ihre Charakterzeichnung profiliert wird, zeigt Yoon 2012, 55–59 an der Interaktion zwischen Kreon und dem Wächter in Sophoklesʼ Antigone auf. 10 Vgl. Yoon 2012, 2–3. 11 So entfällt etwa für das Epos die sich dem Drama stellende Notwendigkeit, das Fehlen eines Erzählers durch kleine Figuren, etwa die Boten mit ihren Berichten, auszugleichen. Vgl. zur Tragödie Yoon 2012, 39–40. 12 So erlangt Theseus seine Bedeutung als Herrschergestalt in Athen erst vor dem Hintergrund des politischen Machtzuwachses der Stadt ab dem Ende des 6. vorchristlichen Jahrhunderts; vgl. Criado 2015, 292.

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zum flavischen Rom nochmals deutlich angereichert. Dennoch kann man feststellen, dass selbst einem kaiserzeitlichen Dichter eines mythologischen Epos, der auf eine gegenüber den griechischen Tragikern des 5. vorchristlichen Jahrhunderts bereits verdichtete literarische Überlieferung zurückblickt, hier noch große Gestaltungsräume offenstehen. So arbeitet Statius auch im Bereich der kleinen Leute mit namentlich benannten Figuren, die nicht in der mythologischen Tradition belegt sind und somit als Erfindungen des Autors gelten können, oder mit Figuren, die in den überkommenen Erzählungen nur schwach belegt sind. Solche Figuren können wie die anonymen Sprecher als Vertreter des Volkes erscheinen. Zu dieser Gruppe kann auch die nur wenige literarische Belegstellen aufweisende Frau des Polynices, Argia, gezählt werden. Sie begegnet vor Statius lediglich bei dem Historiker Hellanikos, in Scholien zu Homer und Euripides, bei Apollodor, Diodor und Hygin, nach Statius bei Servius. Da die Tragödientradition des Stoffes die Hikesieszene im Blickpunkt hat, so auch in Euripidesʼ Hiketiden, bleibt die um sie kreisende Handlung auf dem Schlachtfeld in Theben grundsätzlich ausgeblendet. Die um ihren beim Überfall auf Tydeus getöteten Sohn trauernde Thebanerin Ide wird sonst nirgends erwähnt.13 Welche Figuren und Gruppen sind nun unter die „kleinen Leute“ zu zählen? Die Figuren von geringerer sozialer und politischer Stellung lassen sich drei Kategorien zuordnen: 1. Figuren, die nicht als Individuen hervortreten, also eine Gruppe oder Masse darstellen. In der epischen Tradition kann man hier an die Heere in Lucans Pharsalia denken. 2. Charaktere, die als Einzelfiguren hervortreten, aber unter Ausbleiben einer namentlichen Bezeichnung anonym bleiben und manchmal nach ihrer Tätigkeit und Funktion bestimmt werden. In der Tragödie unterliegen solche Figuren meist bis zu einem bestimmten Grade einer Typisierbarkeit, und zwar nach ihrer sozialen Gruppe und – in unmittelbarer kausaler Abhängigkeit davon – nach ihrer Funktion in der Handlung des jeweiligen Dramas (z.B. die Amme, der ‚Pädagoge‘, der Bote oder der Wächter).14 Für das Epos können solche Figuren als untypisch gelten. Im Gegensatz zur Tragödie mit ausschließlicher Figurenrede liegt in der epischen Dichtung bei der Darstel-

|| 13 Vgl. Schönberger 1998, 223. Ida erscheint als ein für ein beliebiges Mädchen gewählter Name in Mart. 1,71,2. Bei Vergil (Aen. 9,177) wird Nisus von einer venatrix Ida in den Krieg geschickt. Hier ist unklar, ob es sich dabei um das Gebirge oder eine Nymphe als Mutter handelt; vgl. Dingel 1997, 101–102. 14 Vgl. Yoon 2012, 9–38.

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lung der Ereignisse durch einen Erzähler die Benennung der Figuren mit Namen unmittelbar nahe.15 Eine markante Ausnahme bilden bei Homer die sogenannten τις-Reden, in denen ein bestimmtes Individuum redet, das als eine repräsentative Stimme aus einer Gruppe aufzufassen ist.16 In dieser Tradition steht im Epos des Statius der anonyme Sprecher aus dem thebanischen Volk. Frauen, insofern sie von der politischen Macht ausgeschlossen sind und damit als passive Opfer der die Handlung des Epos bestimmenden Gewalt erscheinen. Hierin unterscheiden sich auch die Frauen und Töchter der Anführer trotz ihrer Zugehörigkeit zu Adelshäusern nicht von Frauen aus dem Volk. Vielmehr präsentieren sie deren allgemeine Existenzbedingungen.

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass die kleinen Figuren die Protagonisten um eine soziale Dimension erweitern, die jedoch sehr unterschiedlich ausgestaltet werden kann.17 Für eine politische Beurteilung der Bedeutung der kleinen Leute tritt neben das Verhältnis zu den Hauptfiguren auch der Raum, in dem sie agieren. Dies sind die Städte Theben, Argos und Athen, die im Rahmen der Thebais mit verschiedenen Formen monokratischer Herrschaft identifiziert werden. Somit soll zunächst das Bild untersucht werden, das in diesem Epos von dem politischen Aktionsraum gezeichnet wird, bevor das Verhältnis von kleinen und großen Figuren nach den Gesichtspunkten der Übereinstimmungen und dann der Divergenzen untersucht wird. Schließlich soll das unverzügliche politische Handeln des Theseus im Sinne der clementia als eine Überwindung der Divergenz, als eine Aufhebung der in der Bevölkerung herrschenden Unsicherheit und der Zweifel gegenüber dem Einzelherrscher gedeutet werden.

3 Theben, Argos und Athen als politische Symbolorte Statiusʼ Thebais partizipiert am politischen Diskurs der frühen Kaiserzeit. Die zentrale Bedeutung des Krieges, den alle drei Epiker des flavischen Zeitalters in

|| 15 Vgl. Yoon 2012, 141–142. Auch die Zielsetzung des homerischen Epos, zur Erzeugung und Tradierung von κλέος beizutragen, setzt die Nennung von Namen voraus (vgl. ebd. 154). 16 Vgl. Schmitt 1995, 10; Yoon 2012, 142–143 und Anm. 3 zu den Belegstellen. 17 Vergleichbar hiermit ist die Funktion kleiner anonymer Figuren bei Euripides, durch die eine private Dimension erzeugt wird (vgl. Yoon 2012, 98–105).

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schrillen sprachlichen Bildern als Ereignis von bestialischer Grausamkeit darstellen, musste bei der zeitgenössischen Leserschaft Erinnerungen an die Bürgerkriegserfahrung der Jahre 68 und 69 wachrufen.18 Insbesondere das Motiv des wechselseitigen Brudermordes gibt das Phänomen Bürgerkrieg in symbolischer Verdichtung wieder. Einspiegelungen der Frühgeschichte Thebens betonen bei Statius das die historische Entwicklung der Stadt durchziehende Thema des Bürgerkrieges.19 Die Reflexion der zeitgenössischen Politik beschränkt sich jedoch nicht auf die Ereignisgeschichte, sondern dringt tiefer in die konstitutionelle Struktur des Staates vor. Hierbei fällt auf, dass in der Thebais ausschließlich monokratische Systeme präsentiert werden. Selbst Athen wird als Königtum dargestellt. Der Prinzipat wird damit als alternativlose Tatsache anerkannt.20 Der Ausdruck einer solchen Haltung findet sich auch in Senecas De clementia, in der die Diskussion über die beste unter den verschiedenen Verfassungsformen, wie sie von Platon über Aristoteles und Polybios bis Cicero geführt wird, ersetzt wird durch die Auseinandersetzung über gute oder schlechte Formen der Einzelherrschaft.21 Vor diesem politischen Hintergrund werden die Städte Argos, Theben und Athen präsentiert, die zu Paradigmen unterschiedlicher Ausprägungen der Herrschaft eines einzelnen werden. Theben ist als Tyrannis gezeichnet, Argos als ein Staat mit einem patriarchalischen Herrscher, Athen ebenso als eine Monarchie. Damit eine literarisch dargestellte Stadt eine solche symbolische Zeichnung erlangen kann, bedarf es der Auswahl von Elementen, die einen Ort als ein Staatswesen erkennbar machen.22 Im Fokus stehen in der Thebais deshalb nicht nur die Herrscherfiguren. Erst durch die Interaktion zwischen dem Herrscher und der Bevölkerung und durch die Reaktion des Volkes auf das Handeln der poli-

|| 18 Vgl. Ahl 1986, 2812–2816; Braund 2006; McNelis 2007, 2–8; Walter 2010, 87–88; Bernstein 2016, 396–398. Ein zeitgenössischer Beleg für die Assoziation der römischen Bürgerkriege am Ende Republik mit dem thebanischen Brudermord findet sich in Lucan. 1,552. 19 So etwa Manto bei der mit ihrem Vater Tiresias durchgeführten Necromantie über die hasserfüllte Auseinandersetzung zwischen den Erdgeborenen (Theb. 4,556–560); vgl. hierzu Bernstein 2016, 403. 20 Vgl. Criado 2015, 301. 21 Vgl. Fuhrmann 1997, 184. 22 Generell zur Interdependenz zwischen der literarischen Präsentation einer Stadt und der im Text verfolgten Intention vgl. Fuhrer/Mundt/Stenger 2015, 1.

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tisch führenden Personen schließt Statius das Bild der verschiedenen Herrschaftsformen ab.23 Hierbei kann er an die griechische Tradition anschließen, wonach Städte als Orte einer bestimmten politischen Verfassungsordnung aufgefasst werden. So bildet sich seit der Zeit unmittelbar nach den Perserkriegen ein Komplex verschiedener Ideen aus, die mit der Stadt Athen identifiziert werden. Athen wird Sinnbild für Religiosität, für die Demokratie, für die Bildung oder für die Philosophie.24 Eine seit alters ebenso mit Athen in Verbindung gebrachte geistige Haltung ist die Philanthropie.25 In der Tradition der athenischen Hilfsbereitschaft für Schutzsuchende steht auch die Ara clementiae im 12. Buch der Thebais.26 Solche Vorstellungen brauchen nicht auf einen einzelnen Ort beschränkt zu bleiben, sondern lassen sich auch zu mehrpoligen Konstellationen erweitern. So wird etwa bei Thukydides der Peloponnesische Krieg als Konflikt zweier Städte, Athen und Sparta, und zugleich zweier politischer Systeme, Demokratie und Oligarchie, gezeichnet. Vor diesem Hintergrund einer politischen Semantisierung von Städten zu symbolischen Orten ist die Darstellung der Lokalitäten Theben, Argos und Athen in Statiusʼ Thebais zu betrachten. Zunächst zu Argos: Der dortige Herrscher Adrastus erscheint als verantwortungsvoller Dynast (1,390–400). Er lenkt sein Volk in Ruhe (1,390–391: tranquille populos Adrastus habebat). Die Diener bemühen sich, seine Befehle zu befolgen (1,515–516). Auch die Töchter erfüllen seine Anweisungen ohne Zögern (1,533). Nach Adrasts Einschätzung wäre unter seinen Bürgern wohl keiner zu einer solchen Gewalt wie zwischen Tydeus und Polynices bereit, die sich zuvor einen Kampf geliefert haben (1,439–440). Auffällig ist in Adrasts Vorstellung des argivischen Apollokults die Betonung der kollektiven Identität. Der König stellt die Phoebusverehrung als Opferkult des Volkes von Argos dar (1,561: plebs Argiva litat). Ebenso spricht Adrastus in der von ihm beim Bankett erzählten CoroebusGeschichte von nostrae animae, die dem Ungeheuer zum Opfer fielen (1,619). Adrastusʼ Verhältnis zu den Adligen (proceres) ist gut. Wenn sie ihn bitten, den toten Opheltes durch eine Handlung zu ehren, kommt er der Bitte durch einen Pfeil-

|| 23 Die Interaktion von Akteuren ist ein wichtiges Element für die Konstruktion von Raum überhaupt (vgl. Fuhrer/Mundt/Stenger 2015, 3). Dieser Zusammenhang kann um die Dimension des Politischen erweitert werden. 24 Zu verschiedenen Formen der symbolischen Kodierung in der Beschreibung Athens als Ort der Demokratie bei Demosthenes, der griechischen Religion bei Pausanias und der Philosophie bei Cicero vgl. Lau 2001, 639–656; Fuhrer/Mundt/Stenger 2015, 6–7. 25 Vgl. Lau 2001, 643–644. 26 Ein „Altar des Mitleids“ (Ἐλέου βωμός; Paus. 1,17,1) ist in Athen seit späthellenistischer Zeit belegt; vgl. Lau 2001, 649–650 (mit weiteren Belegen); Criado 2015, 295.

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schuss nach (6,924–933). Beim Gelöbnis, Opheltes-Archemorus dauerhaft in Ehren zu halten, schwört Adrastus für alle und jeder nochmals für sich. Die Opheltes-Episode wird somit in der Eintracht von Anführer und Gefolge beendet (7,104). Aber es zeichnen sich auch früh schon Brüche ab. Sehr harmonisch wirkt die Stimmung im argivischen Volk im 2. Buch. Fama und Vorfreuden auf die Hochzeiten gehen durch das Volk (2,201–248). Ganz Argos frohlockt über die Hochzeit (2,213–215). Der angekündigte Krieg bildet hierzu jedoch einen dissonanten Kontrastpunkt (2,213). Schon früh erweist sich auch die Herrscherposition des Adrastus als ambivalent. Wiederholt wird er mit dem Epitheton mitis (1,448; 467; 7,537) charakterisiert.27 Dieses präsentiert ihn einerseits als nachsichtigen und friedliebenden Anführer, andererseits wird ihn diese insgesamt positiv konnotierte Eigenschaft als ein Oberhaupt erweisen, das den sich stellenden Herausforderungen nicht gewachsen ist.28 Als ein diametraler Gegensatz zu Argos erscheint Theben, das als Symbol tyrannischer Gewaltherrschaft fungiert. Dies bringt die Reaktion des Volkes auf Eteoclesʼ Weigerung, die Herrschaft abzugeben, und die anonyme Rede eines Thebaners am Beginn des Epos zum Ausdruck, auf die noch näher einzugehen sein wird. Deutlich werden die Zustände einer Tyrannis bereits darin, dass Polynicesʼ Anhänger von ihm abgefallen sind, nachdem das Los für Eteocles entschieden hat. Hier werden Symptome wechselnder Gewaltherrschaften aufgezeigt, die beim Publikum der römischen Kaiserzeit Wiedererkennungswert besaßen. In einer Rede (2,443–451) bringt Eteocles als Argument für die Beibehaltung seiner Herrschaft die Ungewissheit vor, unter der die Bevölkerung beim Wechsel der Tyrannen leiden müsste. Eteocles beruft sich auf seinen angeblichen Rückhalt im Rat. Er weist auf die Erzeugung von Schrecken in der Bevölkerung als Regierungspraxis hin: Kurze Herrschaft führe zu Befürchtungen bei denen, für die ein Herrscherwechsel zur Bestrafung führen würde. Hierin liegt ein indirekter Hinweis auf die Praxis von Säuberungen bei Herrscherwechseln. Wenn in Senecas Phoenissen, die Statius als literarisches Vorbild herangezogen hat,29 Eteocles die Hervorrufung von Hass in der Bevölkerung als Begleiterscheinung obrigkeitlichen Handelns gutheißt (Phoen. 654–657), so bleibt diese Erklärung dort für sich stehen. Der Epiker hingegen nutzt verschiedene erzählerische Mittel, um die Perspektive des Volkes deutlich zu beleuchten.

|| 27 Vgl. Smolenaars 1994, 244. 28 Zu den Bedeutungsvarianten vgl. OLD, 1119 s.v. mitis, 29 Vgl. Fantham 1997, 189.

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Als der abgewiesene Tydeus Theben verlässt, schauen ihm die Mütter nach und verfluchen ihn, heimlich aber auch Eteocles (2,479–481). Dies konterkariert dessen eigene Einschätzung, wonach er vom Volk gewollt sei, und unterstreicht die Verbindung von Gewaltherrschaft mit Doppelzüngigkeit. Ebenso reagiert das Volk mit geheucheltem Beifall und seufzt, nachdem Creon Antigones Bitten, in Theben sterben zu dürfen, nicht nachkommt (11,755–756). Zu der Schilderung der Zustände unter der Gewaltherrschaft gehört auch der politische Suizid zur Umgehung persönlicher Kompromittierung in der MaeonEpisode (3,33–113). Dem nach dem Überfall auf Tydeus allein nach Hause kehrenden Maeon schallt das Geheul der Mütter entgegen. Dieser nimmt sich das Leben, wobei er Eteocles die Schuld gibt, den Krieg gegen seinen Bruder zu provozieren. Er bringt sich nach seiner Rede um, um den Schergen des Königs zuvorzukommen. Schließlich wird Maeon von den Seinen beweint. Maeon erzielt die Wahrung autonomen Handelns gegenüber der Macht des Tyrannen durch Suizid. Die Selbsttötung in höchster politischer Bedrängnis wird mit dem Argument der Wahrung individueller Autonomie des Untergebenen gerechtfertigt. Ein sympathetischer Nachruf des Erzählers auf Maeon folgt (3,99–113). Während bei den Kriegsrüstungen in Argos das Gefolge Amphiaraus zum Heldentod ermuntert (4,230–231), ist die Stimmung auf thebanischer Seite, wo man sich nur gezwungen in den Krieg begibt, diametral entgegengesetzt (4,345– 405). Jedoch bildet die Differenz zwischen Argos und Theben keinen das ganze Werk durchziehenden Kontrast zwischen einem positiven Argosbild und einer negativen Auffassung von Theben. Argos wird nicht weniger als Theben vom furor heimgesucht, und König Adrastus erweist sich als den Herausforderungen nicht gewachsen, die aus dem Konflikt zwischen den beiden Brüdern resultieren.30

4 Konvergenz zwischen den kleinen Leuten und den Anführern Bietet Argos ein positives Bild, erweist sich sein Herrscher als zu schwach, um sich dem Wüten des Kriegsfurors zu widersetzen. Mag hier beim Volk eine positive Haltung gegenüber dem Gemeinwesen und sogar eine Begeisterung bestehen, in den Krieg zu ziehen, so führt auch diese zu keinem positiven Ziel, wenn

|| 30 In seiner Schwäche, seinen Willen durchzusetzen (vix sponte; 4,40), erscheint Adrastus in der Tradition des vergilischen Latinus und des lucanischen Pompeius; vgl. Bernstein 2016, 398.

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sie auf die Sache des Furors ausgerichtet ist. In der Darstellung des Krieges wird der furor nicht nur als ein individuelles, sondern auch als ein die Gesellschaft ergreifendes Phänomen beschrieben.31 Hierbei kann häufig ein direkter kausaler Nexus zwischen Einzelfiguren und Figurengruppen hergestellt werden. Eine solche identifikatorische Haltung kleiner Charaktere, die in der Regel Untertanen sind, gegenüber den Haupthandelnden kann in der literarischen Tradition als der Normalfall angesehen werden.32 Hier kommen die Aspekte Kommunikation und Rhetorik zum Tragen. Das Verhältnis von Herrschern und Untertanen nutzt Statius, um politische Massenphänomene wie die Reaktion der Bevölkerung auf Agitation und Manipulation, die auf Kriegshetze abzielt, zu beleuchten. So etwa peitscht Tydeus die Bevölkerung auf (3,336–365). Das Volk nimmt ihm die Erzählung gerne ab, dass Eteocles die Herrschaft seines Bruders ablehnt. Auch Polynicesʼ rhetorisch geschickt gestaltete Rede erzeugt Kriegslust bei den Argivern (3,365–406). Adrastus versucht mit Vernunft der Stimmung entgegenzusteuern. Tydeusʼ Erzählung zeitigt ihre Wirkung auf die Zuhörer, im Volk entsteht frische Motivation zum Kampf (3,447– 448). Entsprechend erfolgen die Reaktionen in der Bevölkerung auf die Zeichen Jupiters (3,575–597). Das Volk verlangt nun von sich aus nach Krieg. Das Wirken des Kriegsgottes steht allegorisch für das allgemeine Verlangen nach dem Kampf. Auf Capaneusʼ Reden grölen die Achaeer ihm zu (3,618–620; 669–676). In ihrer Klage gegenüber dem Vater Adrastus drängt Argia ihn im Sinne ihres Mannes Polynices, den Krieg zu beginnen (3,677–721). Das 4. Buch wird mit dem Wirken der Bellona auf Mutige und Feige eröffnet (4,10–12). Trotz allem Abschiedsschmerz beim Aufbruch von Argos (4,13–31) ist der Heereskatalog insgesamt von Kriegseifer geprägt. Die Wirkung von Rhetorik auf die Massen wird auch bei der Rede des Sehers Thiodamas deutlich, der die Argiver zum Kampf entflammt (10,156–261). Die Argiver zeigen ein bestialisches Verhalten beim Angriff auf Theben. Die bereits Begeisterten (ardentes) werden zusätzlich noch von Reden durch Capaneus, Adrastus und Polynices angetrieben (10,475–492). Die Mechanik der Weitergabe von furor wird in der Hypsipyle-Erzählung gespiegelt. Als die anderen Lemnierinnen erfahren, dass Hypsipyle ihren Vater ver-

|| 31 Fantham 1997, 186; 204 sieht hierin einen Reflex stoischer Philosophie. 32 Zur griechischen Tragödie vgl. Yoon 2012, 159: „It is not conflict, but compliance that characterizes the anonymous character. Throughout extant tragedy, his most consistent and significant attribute is his attachment to a particular named hero; he does not have his own agenda or goals, but works for the happiness and welfare of his master.“

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schont hat, fordern sie sie aus Gewissensbissen auf, es ihnen gleichzutun. Daraufhin muss Hypsipyle fliehen (5,486–496). Hiermit ist im Kleinen der Dominoeffekt des Verbrechens, das nach Weitergabe verlangt und sich ständig steigert, beschrieben. Seit Vergil ist das Gerücht als Multiplikator der Massenhysterie im Epos etabliert (Aen. 4,173–197). Diese Tradition nimmt Statius auf, indem er die Rolle des Gerüchts beim Aufkommen von Emotionen beleuchtet, sei es im Volk der Nemeer, das Fama gegen seinen König Lycurgus aufwiegelt (Theb. 5,690–709), sei es in der Versammlung der argivischen Anführer (6,1–24). Durch eine allgemeine Schilderung der Wirkung der Angst (Pavor) auf die Massen wird der Krieg nicht nur zu einer Auseinandersetzung einzelner Großer, sondern zu einem Phänomen der Massenpsychologie (7,108–144). Die Truppen unterliegen denselben Affekten wie die Individuen. Die Argiver drängen, getrieben von ira, gegen Theben (7,398–403). Die Kämpfer folgen ihrem Anführer, der vorangeht. Dieser massenpsychologische Mechanismus wird durch das Gleichnis vom Leitstier untermauert (7,430–440). Bei der Schilderung der Schrecken in Theben werden im Folgenden komplementär die psychologischen Effekte der Angst beschrieben (7,452–469). Deeskalierende Einwirkungen erweisen sich als lediglich retardierende Momente. Die Argiver lassen sich zwar von Iocastas Vermittlungsversuch besänftigen. Nach der Gegenrede des Tydeus schwenken sie jedoch sofort wieder um (7,527–533). Hier zeigt sich das Heer als wankelmütige Masse. Aber auch Präfigurationen der Handlung um die Protagonisten durch das Verhalten kleiner Figuren dienen dazu, die Aktionen der großen Individuen zu verallgemeinern. Der Zweikampf zwischen dem Bacchuspriester Phegeus und Aconteus, der die Tiger getötet hat, nimmt das Duell zwischen den beiden Brüdern vorweg (7,582–607).33 Durch die Analogie wird der furor generalisiert und nicht als individuelles, sondern als Massenphänomen beschrieben (7,589–607). Mit dem Gleichnis eines zunehmenden Sturmes wird umschrieben, wie die Massen zum Krieg drängen (7,608–627). Nicht nur der Kriegertod von großen Figuren wird dargestellt, sondern auch von kleinen (7,632–648: Pterelas). Bemerkenswert ist auch die Namensnennung kleiner Leute, die bei Statius eine markante Umfunktionalisierung im Rahmen der Gattungstradition erfährt.34

|| 33 Zum Mythos von Linus und Coroebus als Spiegel des thebanischen Konfliktes vgl. Walter 2010, 76. 34 Zur Neubestimmung erzählerischer Formen der epischen Tradition bei Statius vgl. Walter 2010, 63–64 am Beispiel der Aitiologie.

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Der Schrecken des Krieges wird auch durch die Nennung der Namen der Gefallenen unterstrichen. Manche im Kampf sterbende Krieger werden nur kurz, jedoch namentlich genannt. Einige Gegner des Tydeus werden zwar nicht näher bestimmt, immerhin aber benannt (7,696–698). Die namentliche Nennung von gefallenen Helden begegnet auch im 9. (9,86–143) und im 10. Buch (10,493–508). Unter den von Thiodamas und anderen Anführern niedergemetzelten Thebanern finden sich zahlreiche Kriegsteilnehmer, deren Namen genannt werden. Mit der namentlichen Nennung Gefallener knüpft Statius an Homer an, bewirkt zugleich aber auch eine Neubestimmung der Funktion dieses Elementes der Figurendarstellung. Während die namentliche Nennung bei Homer dazu dient, den Gefallenen durch den Heldengesang κλέος ἄφθιτον zu verleihen, erwirkt sie bei Statius den Eindruck sinnlosen massenhaften Mordens und erzeugt Mitleid mit den unzähligen Toten. Im 8. Buch, das die Reaktionen auf den Tod des Amphiaraus in beiden Lagern beleuchtet, wird die Psychologie des Krieges in kontrastierender Weise beleuchtet. Bei den Argivern herrschen jetzt Furcht (8,127–152), Flucht, Erschöpfung und Trauer (8,152–217). Nun ist ihnen der Mut gesunken, sie wollen vom Krieg nichts mehr wissen. Ganz anders die Situation bei den Thebanern. Hier regiert die Freude sogar bei Oedipus (8,218–258). In der Erzählung ihrer Feierlichkeiten wird die identitätsstiftende Funktion von Mythen erkennbar, insofern die Thebaner von den Taten ihrer Ahnen und der Geschichte ihrer Stadt erzählen (8,225–239). Auf der Gegenseite bei den Argivern wird ein Ausweg aus der Verzagtheit durch die Berufung des Thiodamas zum neuen Apollopriester erkennbar (8,259–293). Auch bei der Kriegsbegeisterung der Thebaner zeigt sich die Massenpsychologie des Krieges (8,342–362). Bei ihnen ist dieser Drang erst infolge des Todes des Amphiaraus aufgekommen. Vergleichbar ist die Entstehung von Kampfeswille bei den Thebanern infolge der Untat des Tydeus im 9. Buch (9,86–143). Auf der Seite der Argiver macht sich wieder Missmut breit, da ihnen ihr gewohnter Seher fehlt und sie sich dem neuen, Thiodamas, noch nicht ganz anvertrauen wollen (8,363– 455). Die Ermunterung der Argiver erfolgt dann durch Mars, der als Allegorie für eine kriegerische Haltung aufzufassen ist. Dies lässt eine allgemeine Psychologie des Kriegs erkennen: Die Liebe zum eigenen Haus, zu Frau und Kindern und zum eigenen Leben schwindet (8,385). Die parallele Zeichnung der Psychologie des Individuums und der der Massen wird dann ganz augenscheinlich, wenn die Furie Tisiphone zugleich auf die Truppen und dann auch auf die Figur Hippomedon wirkt (9,144–176). Im 10. Buch wird die allgemeine Stimmung in Theben beschrieben als geprägt von Schrecken (insanis lymphatam horroribus urbem), Luctus, Furor, Pavor und Fuga, ferner von timor (10,552–591).

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Die Darstellung von Massen eröffnet andere Bildfelder, mit denen die Folgen der Kriegsverluste gezeichnet werden können, als die von Individuen: Bei der Rückkehr der Thebaner sind die Tore, die beim Auszug noch zu eng waren, nun zu breit (10,1–48). Wie Lucan nutzt auch Statius die Apostrophe, um den Erzähler kleine Figuren ansprechen und somit ihre Haltung beleuchten zu lassen. Statius verwendet die Trope der Apostrophe nicht nur, um Empathie, sondern auch um Motivation und Verantwortlichkeit für das Verhalten zu thematisieren (7,649–687 zu Eunaeus). Das 11. Buch endet mit einem Bild, das das Scheitern des Ruhmerwerbs widerspiegelt, der in der epischen Tradition den Helden auszeichnet (11,757–761). Die Argiver verlassen heimlich (furto) den „Wall des Verderbens“ (vallum exitiale). Keiner von ihnen besitzt mehr Anführer oder Heereszeichen. Sie gehen schweigend (taciti), nehmen ein ehrloses Leben (dedecorem vitam) auf sich und eine schmachvolle Rückkehr (pudendos reditus). Dies alles konterkariert den für den epischen Helden traditionellen Ruhmerwerb. Symbolische Verdichtung erfährt die Thematik in dem das Buch abschließenden Satz, wonach Nacht und Schatten die Fliehenden deckt: nox favet et grata profugos amplectitur umbra. Will man abschließend das Verhältnis der kleinen Leute zu den Hauptfiguren bewerten, so stellt man fest, dass die Wirkung des furor in beiden Gruppen beleuchtet wird. Eine kausale Verbindung zwischen den Gruppen bewirkt jedoch nie eine Minderung von Schuld auf einer der Seiten: Weder werden die Massen noch die großen Einzelnen aufgrund einer Übertragung von Seiten der jeweils anderen Gruppe entschuldigt.

5 Divergenz zwischen den kleinen Leuten und den Anführern In der Erzählung von Coroebus (1,557–668) berichtet Adrastus von der selbstlosen Aufopferung eines einzelnen für die Gesamtheit: Er tötet ein von Apollo gesandtes Ungeheuer. Hierzu bekennt er sich auch mutig vor dem Gott, streicht seine pietas und virtus heraus und bietet sich schließlich als Opfer an, damit der Zorn des Gottes beschwichtigt und Argos gerettet werden könne. Dafür wird er schließlich von Apollo auch mit dem Leben belohnt.35 Die internen Adressaten

|| 35 Zum Aspekt der clementia in der Coroebus-Episode vgl. Baier 2007, 166–168, wenngleich man betonen muss, dass in dieser Erzählung die clementia eines Gottes die Bedeutung der pietas

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der Erzählung, Tydeus und Polynices, zeigen sich von der Geschichte über den Mut des kleinen Mannes gerührt (1,673–675). Ihr eigenes Verhalten im weiteren Verlauf der Erzählung, das gerade ein Gegenbild zur pietas zeichnet, wird jedoch von diesem ehrenhaften Verhalten konterkariert.36 Die Erzählung um Coroebus war wohl in der lateinischen Literatur bis dato nicht bekannt.37 Sie fungiert als Gegenstück zu der Cacus-Erzählung des Euander bei Vergil (Aen. 8,184–305).38 Während bei Vergil der Halbgott jedoch die Menschheit von einem Ungeheuer befreit, unterwirft bei Statius der Gott die Menschen unmäßiger und willkürlicher Bestrafung. Zugleich vermag Apollo es jedoch auch, der fortgesetzten Abfolge von Gewalt durch Nachsicht ein Ende zu setzen. Hierbei ist es jedoch der menschliche Akteur, der den ersten Schritt macht zu einer Beendigung des Rachekreislaufes, wenn sich Coroebus als Opfer anbietet (1,657). Bei dem flavischen Epiker wird heldenhaftes Verhalten von Hercules auf eine „kleine“ Figur, einen jungen Mann aus Argos, verlagert. Im Kontrast zum Verhalten der Großen stehen insbesondere die Reaktionen der Frauen. Das thebanische Volk ist bestürzt über Tydeusʼ Tat. Die thebanischen Frauen suchen ihre Toten und trauern um sie (3,114–132). Ide klagt um ihre Söhne. In ihrem Wunsch, ihre beiden Söhne mögen ungetrennt im Totenfeuer bleiben und in der Urne möge ihre Asche vereint sein (3,165–168), werden die beiden zum diametralen Gegensatz zu Eteocles und Polynices, bei deren Verbrennung selbst die Flammen noch gegeneinander kämpfen. Die Klage der Thebanerinnen wird zu einer Beschreibung allgemeiner Trauer (3,169–217). Es erfolgt eine Tröstung in der Rede des greisen Aletes. Sein Freimut (libertas) gegenüber Eteocles wird durch sein hohes Alter erklärt (3,215). Atalante erschrickt über die Nachricht, dass ihr Sohn in den Krieg zieht (4,309–344). Gemeinsam mit den Männern werden meist auch die Frauen erwähnt, um einen Reflex auf den Tod der Männer zu werfen. So trauern um die Sparten Frauen und Enkel (4,561–569). Hypsipyle berichtet von dem Männermord. Dabei erzählt sie vom Schmerz der Frauen und Kinder, die von ihren Männern aufgrund ihres Feldzuges zu den Thrakern getrennt waren (5,75–84). Ängstliche Mütter zeigen auf thebanischer Seite den Kin-

|| aufseiten der Menschen nicht verdrängt. Die Aeneasfiguration des Coroebus zeigt Walter 2010, 70 auf. Als Träger der pietas fungiert nun jedoch nicht eine Figur, die einen in der mythischen Tradition etablierten Helden darstellen würde, sondern ein Mann aus dem Volk. 36 Vgl. Pollmann 2001, 16: „The main heroes of the Thebaid (…) embody the perversion of Roman piety.“ 37 Vgl. Vessey 1973, 101. 38 Vgl. Baier 2007, 168; Walter 2010 (mit zahlreichen tiefgründigen Beobachtungen zu den Differenzen); Bernstein 2016, 402.

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dern von den Mauern ihren Vater (7,240–242). Alcathous, ein Opfer des Amphiaraus, hinterlässt Frau und Kinder und seinen Beruf als Fischer (7,718–722). Um den im Flusskampf gegen Hippomedon gefallenen Crenaeus trauert seine Mutter Ismenis (9,314–403), Sorge um ihren noch lebenden Sohn Parthenopaeus zeigt Atalanta infolge eines Traums. Sie richtet sich daraufhin mit einer Bitte an Diana (9,570–636). Auch die Mutter des Menoeceus klagt um ihren toten Sohn (10,783– 826). Das Aufatmen in Theben nach dem Tod des Capaneus findet seinen Ausdruck darin, dass die Mütter sich wieder trauen, ihre Kinder von den schützenden Armen zu nehmen und auf dem Boden abzusetzen (11,18–20). Über die Bestialität des Tydeus vor seinem Tod herrscht Empörung sowohl auf Seiten der argivischen als auch der thebanischen Bevölkerung (9,1–31). Die Funktion einer emotionalen Bewertung des Krieges von außen kann auch ein alter Mann erfüllen. Antigone wird von einem „Pädagogen“ begleitet. Diese gehören zu den in der Tragödie wiederkehrenden, dort allerdings anonym bleibenden kleinen Figuren.39 Der greise Phorbas, der Antigone behütet, liefert dem Mädchen bei einer Teichoskopie einen Überblick über einige Teilnehmer auf thebanischer Seite. Danach verfällt er ins Weinen angesichts des Krieges, der bevorsteht (7,359–373). Ferner kann auch ein Liebespaar den Kontrast zum furor des Krieges bilden. Atys und die tugendhafte Ismene als Liebespaar werden durch den Krieg auseinandergerissen. Atys wird von seinem Gegner Tydeus als zu schwach und als seiner unwürdig eingeschätzt (8,554–654). Im Gegensatz zu den vom furor getriebenen Protagonisten zeigt sich, wie Karla Pollmann aufweisen konnte, bei den kleinen Figuren noch virtus. Dies gilt insbesondere für die Geschichte von Hopleus und Dymas, in der zwei untergeordnete Kämpfer Loyalität gegenüber ihren gefallenen Anführern zeigen, denen sie die Totenehren erweisen wollen (10,347–452).40 Die Episode kann als eine in sich geschlossene moralische Erzählung aufgefasst werden.41 Vom Erzähler werden die beiden explizit als pii bezeichnet, ihr Unternehmen als ingentia ausa gewertet (10,384–385). Die beiden entgehen dem von dem Thebaner Amphion ausgeübten Zwang, die Pläne der Argiver zu verraten, indem sie Suizid begehen.

|| 39 Vgl. Yoon 2012, 13–21 und 61–67 speziell zu Orestes und seinem παιδαγωγός in Sophoklesʼ und 74–77 in Euripides’ Elektra. 40 Vgl. Pollmann 2001, 17. Pollmann zeigt auf, wie Statius die pietas der beiden Akteure gegenüber den vergilischen Modellen Nisus und Euryalus deutlich steigert, sie in völliger Selbstlosigkeit handeln lässt. 41 Vgl. Pollmann 2001, 2426 zur Tradition.

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Gegenüber Megaera meint Tisiphone, Eteocles und Polynices seien zwar leicht zu lenken, jedoch schwanke das Volk, und die Mutter und Antigone könnten den Plänen der Furie hinderlich sein. Tisiphone beabsichtigt, dass auch das Volk, nicht nur die Anführer, zum nefas getrieben werden soll (11,102–112). Das Volk und die Toten der Unterwelt stellen die Zuschauer des wechselseitigen Brudermordes dar (11,416–423). Hierin drückt sich die moralische Bewertung der gegenseitigen Ermordung von Eteocles und Polynices bei gleichzeitiger Betonung der Unmöglichkeit einer Einmischung aus. Nach den vielen retardierenden Momenten, die im 11. Buch den endgültigen Konflikt der beiden Brüder noch scheinen aufhalten zu können, ist hier der Punkt der möglichen Umkehr schon überschritten.42 Auch die Götter wenden sich ab. Die Reaktionen des Heeres (11,453–456) und die der Brüder, etwa auf das Wirken der als allegorische Figur auftretenden Pietas, werden parallelisiert (11,474–476). Unter dem Einfluss Tisiphones stehend verlangen die Kohorten nach einem Schauspiel (11,498). Neben Konvergenzen zwischen den kleinen Leuten und den Anführern zeichnen sich somit auch klare Kontrastierungen ab. Vielfach wird das Handeln der Protagonisten in dem Spannungsverhältnis zwischen ihrer Machtposition und der Reaktion der Bevölkerung problematisiert. Die Thebais beleuchtet durchwegs die Situation und Perspektive der kleinen Leute. Ihre Position ist, wie im Folgenden deutlich wird, nicht zuletzt von Unsicherheit gegenüber willkürlich agierenden Machthabern geprägt.

6 Entscheidung des Herrschers und Ungewissheit der Untertanen Ein die gesamte Thebais durchziehendes Thema ist die Unsicherheit der Akteure. Eriphyle, die Frau des Sehers Amphiaraus, erhält den Schmuck der Argia, die ihn während des Kriegs in der Abwesenheit des Mannes und bei der Ungewissheit seiner Rückkehr nicht tragen möchte (4,187–213). Diese Unsicherheit rührt aus der Abhängigkeit der Teilnehmer von kontingenten Faktoren. So ist es der Zufall, der ein bestimmendes Kennzeichen des Krieges darstellt. Dieses Thema wird im 8. Buch mehrfach evoziert. Es begegnet eine Schilderung des allgemeinen Kampfes, in dem Zufall (casus) waltet, nicht die Tapferkeit (8,420–421). Dem Gedanken

|| 42 Nach Fantham 1997, 209 gehört das common people zu den retardierenden Figuren. Treffender wäre es hierbei von „kontrastierenden Figuren“ zu sprechen.

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wird stilistische Prägnanz verliehen, indem cadere („fallen“) und casus in Wortstellung und Inhalt zusammengeführt werden: saepe ignari perimuntque caduntque. / casus agit virtutis opus („Häufig geschieht es ohne ihr Wissen, dass sie sterben und fallen. Zufall verrichtet das Werk der Tapferkeit.“).43 Auch Fortuna wird als ein im Kampf entscheidender Faktor angeführt (8,456). Hierbei kommt es zu einem versehentlichen Mord zwischen Zwillingen, was der Erzähler beklagt (8,448–452). Auch beim Tod des olenischen Butes wird der Aspekt des Unerwarteten betont. Da er noch jung ist, erleidet er ein unvorhergesehenes Schicksal (8,484–491). Eine fehlgeleitete Waffe trifft Eteoclesʼ Waffenträger Phlegyas (8,688). Der Tod durch eine Waffe, die nicht dazu bestimmt war, die Person zu töten, die sie letztlich trifft, bringt in der epischen Tradition die Macht der Fortuna im Krieg in besonders krasser Weise zum Ausdruck. Da der zentrale Konflikt zwischen den Brüdern ein von ihnen absichtsvoll herbeigesteuertes Ziel darstellt, sind es die kleinen Figuren, an denen dieser Aspekt des Krieges beleuchtet werden muss. Die Thebais kreiert ein Spannungsverhältnis zwischen der Perspektive der kleinen Leute und dem Handeln der Anführer. Dabei kommt immer wieder die aus dem willkürlichen Handeln des Herrschers hervorgehende Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung zum Ausdruck. Als eine positiv zu wertende absolute Macht kann nur diejenige erscheinen, bei der die Entscheidungsgewalt des Herrschers an ein moralisches Prinzip gebunden ist. Ein solches stellt die clementia dar. Durch sein Handeln im Sinne der clementia hebt Theseus ein zuvor aufgebautes Spannungsverhältnis zwischen den Unsicherheiten im Volk und dem eigenmächtigen Handeln des Herrschers auf. Hierbei können zwei Positionen im Volk ausgemacht werden. Die Thebais ist durchgehend von Unsicherheit und Misstrauen gegenüber dem willkürlich agierenden Herrscher geprägt. Dies wird insbesondere in der Rede eines anonymen Sprechers im 1. Buch deutlich. Unter dem thebanischen Volk kommt beim Herrschaftsantritt des Eteocles Gemurmel auf. Die „schweigende Menge“ (1,169: tacitum vulgus) grollt, aber verhält sich loyal. Einer traut sich jedoch zu sprechen und sagt, was die Menschen denken: … iam sorte carebat dilatus Polynicis honos. quis tunc tibi, saeve, quis fuit ille dies, vacua cum solus in aula respiceres ius omne tuum cunctosque minores, et nusquam par stare caput! iam murmura serpunt plebis Echioniae, tacitumque a principe vulgus

|| 43 Vgl. zu dieser Stelle auch Augoustakis 2016, 227–228.

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dissidet, et, qui mos populis, venturus amatur. atque aliquis, cui mens humili laesisse veneno summa nec impositos umquam cervice volenti ferre duces, „hancne Ogygiis“, ait, „aspera rebus fata tulere vicem, totiens mutare timendos alternoque iugo dubitantia subdere colla? partiti versant populorum fata manuque fortunam fecere levem. semperne vicissim exulibus servire dabor? […] cernis, ut erectum torva sub fronte minetur saevior adsurgens dempto consorte potestas. quas gerit ore minas, quanto premit omnia fastu! hicne umquam privatus erit? tamen ille precanti mitis et adfatu bonus et patientior aequi. quid mirum? non solus erat. nos vilis in omnis prompta manus casus domino cuicumque parati. qualiter hinc gelidus Boreas, hinc nubifer Eurus vela trahunt, nutat mediae fortuna carinae, – heu dubio suspensa metu tolerandaque nullis aspera sors populis! – hic imperat, ille minatur.“

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195 (Stat. Theb. 1,164–196)

Schon hatte Polynices beim Losen den Kürzeren gezogen, und seine Herrschaft war aufgeschoben. Welch ein Tag, schrecklicher Eteocles, welch herrlicher Tag war es damals für dich, als du allein als Herrscher im Saal alle Macht bei dir sahst, alle dir Untertan waren und nirgends ein Haupt, das sich dir gleichstellen durfte! Schon durchkriecht Gemurmel das echionische Volk, grollt die schweigende Menge dem Fürsten und liebt nach Sitte der Völker den kommenden Herrscher. Einer, der gern mit niedrigem Gift das Höchste verletzte und sich nie damit abfand, Herrscher im Nacken zu haben, rief: „Hat das harte Schicksal dem Reich des Ogyges solchen Wechsel verhängt, dass es dauernd Herrscher austauscht, die es fürchtet, und den zögernden Nacken unter wechselndes Joch beugt? Sie teilen das Schicksal der Völker unter sich und machen durch ihre Macht unser Glück zum Spielball. Soll ich immer für wechselnd Verbannte der Knecht sein? […] Du siehst ja, wie der Machthaber hochfahrend unter trotzigen Brauen tobt und sich wilder erhebt, befreit von seinem Gefährten. Wie grimmig blickt er! Mit welcher Verachtung drückt er alles hinab! Wird dieser je ein Mensch wie andere sein? Dabei war er vorher mild zu Bittenden, fand leutselige Worte und ließ sich eher gefallen, was recht ist. Kein Wunder! Er war nicht allein. Wir aber sind ein feiler Haufe, passen uns jeder Wende an, sind jedem Herrn verfügbar. Wie wenn hier der eiskalte Boreas, dort der wolkenbringende Eurus am Segel zerren und das Schiff zu ihrem Spielball wird – wehe, ein hartes Los voll wankender Angst und keinem Volke erträglich! – so herrscht der eine und droht der andere. (Übersetzung: Schönberger 1998)

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Dieser anonyme Sprecher (1,171: aliquis) kann in die Tradition der homerischen τις-Rede eingegliedert werden.44 Diese anonyme Rede eines als notorischer Querulant gezeichneten Thebaners kann als „Stimme aus dem Volk“ aufgefasst werden.45 Da er mit seiner Ablehnung der Wechselherrschaft eine Einstellung vertritt, die unmittelbar vorab auch vom Erzähler des epischen Gedichts zum Ausdruck gebracht worden ist – er klassifiziert mutare ducem als ein ius malignum (1,139) –, erfahren seine Haltungen eine Objektivierung.46 Hierbei bedarf es gerade einer negativen Charakterisierung als unangepasste Person (1,171–173), damit er ansonsten verschwiegene Denkweisen im Volk zum Ausdruck bringen kann. Er beklagt die Belastung des thebanischen Volkes durch die wechselnde Doppelherrschaft und beleuchtet insbesondere den Aspekt herrscherlicher Willkür, die sich in der Wechselherrschaft verdichtet. Herrscher würden das Glück des Volkes zu ihrem Spielball machen (1,176). Er beklagt, dass das Volk eine feile Masse sei, die sich zu allem bereitfinde (1,191–192). Vor dem Hintergrund der in den Jahren 68–69 erlittenen vielfachen Herrscherwechsel besaß diese Thematik für einen zeitgenössischen römischen Leser besonders hohe Brisanz.47 Die Abhängigkeit des Volkes von äußeren Mächten bringt der Sprecher bildhaft durch den Vergleich des Schiffes, das dem Wechselspiel der Winde ausgesetzt ist, zum Ausdruck. Innerhalb des gängigen Topos des Staatsschiffes beleuchtet der Sprecher hier den Aspekt der Unsicherheit und des Ausgeliefertseins. Der Redner kann mit Drances in Vergils Aeneis (11,336–375) verglichen werden.48 Während einige Interpreten wohl nicht zu Unrecht davon ausgehen, dass in die sehr individuell gezeichnete und namentlich benannte vergilische Figur des Drances das zeitgenössische Bild Ciceros und des von ihm verkörperten Rednertypus eingearbeitet worden ist,49 wird der Redner in der Thebais nicht als konkrete Person eingeführt, sondern bleibt bezeichnenderweise anonym. Die unterschiedliche Wirkung, die von der namentlichen Benennung und deren Unterlassung ausgeht, ist bezeichnend. Die mit einem Eigennamen versehene Figur in einem Werk wie Vergils Aeneis, das sich gerade durch seine typologischen oder symbolischen Bezüge auszeichnet, legt die Identifikation mit einer bestimmten Person oder mit einer Gruppe von historischen Persönlichkeiten gerade || 44 Diese formale Tradition entgeht Dominik 1994, 155–156 bei seiner Behandlung dieser Stelle. Zurecht stellt er sie jedoch inhaltlich in den Kontext der vituperatio regis. 45 In der Zeichnung als Nörgler imitiert Statius den homerischen Thersites (Il. 2,225–245) und den vergilischen Drances. 46 Vgl. Ahl 1986, 28282829; Dominik 1994, 16; Criado 2015, 302–303. 47 Vgl. Bernstein 2016, 397. 48 Vgl. Schönberger 1998, 218. 49 Vgl. Scholz 1999; zustimmend Binder/Binder 2005, 174–176.

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nahe. Bleibt die Figur, der ein Redepart zugewiesen ist, jedoch anonym, so wird hierdurch ihre Rolle als eine Stimme des Volkes deutlich markiert. Statius orientiert sich hierbei an Lucan50 und setzt sich gemeinsam mit diesem von Vergil ab, indem er über diesen hinaus auf das ältere, homerische Modell der τις-Reden zurückgreift.51 Der hieraus entstehende Effekt ist aber nicht so sehr eine Modifizierung Homers durch eine vergilische Brille – das für den Homerbezug flavischer Epiker häufig feststellbare Verhältnis –,52 sondern gerade eine Differenzierung zu Vergil durch eine Verschiebung auf Homer. Vermutlich teilt Statius mit Lucan und Homer ein größeres Interesse für das innere Funktionieren von Gruppen als Vergil. Eine vergleichbare Passage findet sich im 10. Buch, wo im Volk anonyme Stimmen aufkommen, die für und gegen die Forderung eines Rücktritts des Eteocles sprechen (10,584–588). Statius schließt in seiner Verwendung anonymer Sprecher nicht nur formal, sondern auch inhaltlich an Lucan an, bei dem die namenlosen Figuren bereits dazu dienen, Kritik an der Einzelherrschaft vorzubringen.53 Dass das Volk der Willkür des Herrschers ausgeliefert ist, stellt jedoch nicht nur ein Element dieser expliziten Äußerung einer Figur dar, sondern ist auch in der Handlung erkennbar. Nach dem Kampf sorgen die Thebaner für ihre Gefallenen (12,1–104). Auch die Argiverfrauen wollen ihre Toten bestatten (12,105–206). Der Argiver Ornytus warnt die Frauen, dass sie von Creon kein Entgegenkommen zu erwarten hätten. Er sei nur durch Waffen und Krieg zu Sitten und Menschlichkeit zu bewegen. Daraufhin erschrecken die Frauen. Ihre Situation wird durch ein Gleichnis veranschaulicht, wonach ein Tiger Kälbern begegnet, die in Furcht geraten, welches von ihnen er nun auswählen und reißen würde: non secus adflavit molles si quando iuvencas tigridis Hyrcanae ieiunum murmur, et ipse auditu turbatus ager, timor omnibus ingens, quae placeat, quos illa fames escendat in armos. (Stat. Theb. 12,169–172)

|| 50 Zur aliquis-Rede in Lucan. 2,64–232 vgl. Schmitt 1995, 41–79. 51 Eine Übersicht über die Reden in Vergils Aeneis, die alle von namentlich bezeichneten Personen oder klar bestimmten Gruppen gesprochen sind, findet sich in Highet 1972, 291–340. 52 Vgl. Juhnke 1972, 301–302. 53 Lucan. 2,38–42; 45–63; 68–232. Vgl Criado 2015, 301–302.

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So erschrickt, wenn das hungrige Knurren eines Hyrcanischen Tigers zarten Kälbern zuweht, selbst die Flur, die es hört, und alle fragen entsetzt, wen das hungrige Tier wählt, auf welchen Nacken es springen wird. (Übersetzung: Schönberger 1998)

In diesem Vergleich wird das Ausgeliefertsein der kleinen Leute gegenüber der Willkür des Gewaltherrschers besonders drastisch zum Ausdruck gebracht. Daraufhin sind sie sich unsicher, ob sie sich an Creon oder an die Athener wenden wollen. In dieser Situation wagt Argia den Alleingang. Die Figur der Argia ist als Tochter des argivischen Königs Adrastus und Frau des thebanischen Thronanwärters Polynices nicht ohne weiteres zu den „kleinen Leuten“ zu zählen, jedoch gehört sie als Frau in einem militärischen Konflikt zu dem Personenkreis, der sich nicht aktiv in die Auseinandersetzung zwischen den Brüdern einmischen kann. Ferner macht in dieser Episode die Erzählung deutlich, dass sie exemplarisch die Situation der argivischen Frauen zum Ausdruck bringt, die nicht auf der Basis einer persönlichen Machtposition agieren können. Im konkreten Fall der Argia wird die Unsicherheit über das Handeln des Herrschers aus einer anderen Perspektive und unter einem anderen Aspekt beleuchtet als zuvor in der τις-Rede. Sie will nicht länger auf fremden Beistand eines Mächtigen warten, um ihrem toten Gatten Polynices die letzten Ehren zu erweisen: „anne“, ait, „hostiles ego te tabente per agros (heu dolor!) exspectem quaenam sententia lenti Theseos, an bello proceres, an dexter haruspex annuat?“ (Stat. Theb. 12,209–212) „Soll ich denn, da du [sc. Polynices], ach, auf feindlichem Feld dich zersetzt, warten, wie sich der langsame Theseus entscheidet? Ob sein Rat und ob ein günstiger Seher dem Feldzug zustimmt?“ (Übersetzung nach Schönberger 1998)

Hier werden an einem weiteren Punkt die Unsicherheiten der kleinen Leute gegenüber dem Herrscher artikuliert. An dieser Stelle sind es Bedenken über die Effizienz von Entscheidungsprozessen in einer konsensualen Herrschaft, bei der der Herrscher auf die Zustimmung von politischen Eliten angewiesen ist. Aufschlussreich für die Deutung ist der Vergleich mit dem zugrundeliegenden literarischen Modell, den Hiketiden des Euripides. Diese Tragödie behandelt denselben Stoff der Bitte der argivischen Frauen. Hier spricht der von den Bittflehenden angegangene Theseus:

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δράσω τάδʼ· εἶμι καὶ νεκροὺς ἐκλύσομαι λόγοισι πείθων· εἰ δὲ μή, βίᾳ δορὸς ἤδη τόδʼ ἔσται κοὐχὶ σὺν φθόνῳ θεῶν. δόξαι δὲ χρῄζω καὶ πόλει πάσῃ τόδε. δόξει δʼ ἐμοῦ θέλοντος· ἀλλὰ τοῦ λόγου προσδοὺς ἔχοιμʼ ἂν δῆμον εὐμενέστερον. καὶ γὰρ κατέστησʼ αὐτὸν ἐς μοναρχίαν ἐλευθερώσας τήνδʼ ἰσόψηφον πόλιν. λαβὼν δʼ Ἄδραστον δεῖγμα τῶν ἐμῶν λόγων ἐς πλῆθος ἀστῶν εἶμι· καὶ πείσας τάδε, λεκτοὺς ἀθροίσας δεῦρʼ Ἀθηναίων κόρους ἥξω· παρʼ ὅπλοις θʼ ἥμενος πέμψω λόγους Κρέοντι νεκρῶν σώματʼ ἐξαιτούμενος.

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(Eur. Supp. 346–358) Dies werde ich tun. Ich werde gehen, die Toten lösen und versuchen, mit Worten zu überzeugen; falls sich dies nicht so umsetzen lässt, wird es schleunigst mit Waffengewalt geschehen, ohne dass es die Götter verweigern werden. Ich wünsche, dass die gesamte Stadt dies beschließt. Sie wird es beschließen, da ich es will. Aber wenn ich noch etwas von meinen Überlegungen hinzugebe, dürfte ich das Volk mit größerem Wohlwollen auf meiner Seite haben. Ich habe ihm nämlich die alleinige Herrschaft gegeben und habe den Bürgern dieser Stadt Freiheit und gleiches Stimmrecht verliehen. Ich werde vor die Bürgerversammlung treten und Adrastos als Beweis für meine Worte mitnehmen; wenn ich sie davon überzeugt und ausgewählte junge Athener versammelt habe, dann werde ich wieder hierher kommen; in Waffen gerüstet werde ich dann Botschaften an Kreon senden und die Auslieferung der Leichname verlangen.

Das in Statius’ Thebais nur imaginierte Bild, das Argia von den politischen Verhältnissen in Athen zeichnet, geht auf diesen Prätext zurück, wird aber einer interpretatio Romana unterzogen und den römischen Verhältnissen angepasst.54 Die proceres repräsentieren die römische Senatsaristokratie oder Berater, die Seher die Auguren im römischen Divinationswesen. Hiermit schwebt der Argiverin ein auf die Herstellung von Konsens mit den führenden politischen Gruppen angewiesener Herrscher vor.55 Dann aber agiert Theseus ohne zu zögern und fällt eine eigene Entscheidung zugunsten des Anliegens der Argiverinnen.56 In diesem Verhalten verwirklicht er clementia. Bewertet man das Athenbild, das Argia hier || 54 Zu der die über die die gesamte Thebais hinweg immer wieder evozierten Parallele zwischen Theben und dem zeitgenössischen Rom vgl. Bernstein 2016, 396–398 mit einschlägigen Textstellen und Parallelen zu Lucan und Valerius Flaccus. Spezifisch zu dem vorliegenden Erzählabschnitt Pollmann 2004, 139–140. 55 Vgl. Criado 2015, 298 zu verschiedenen historischen Formen konsensualer Herrschaft, die Statius hier vor Augen gehabt haben könnte. 56 Zu dieser Textstelle auch Pollmann 2004, 139–140.

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entwirft, vor dem Hintergrund der folgenden Handlung, so stellt man fest, dass Theseusʼ unverzügliches Handeln im Sinne der clementia überhaupt nicht dieser Erwartungshaltung entspricht und diese Bedenken entkräftet. Das Athen der Thebais ist von dem des literarischen Modells der euripideischen Tragödie abgehoben und damit auch von den Erwartungen der Argia. Genau betrachtet sind für das Athenbild, das in der Thebais entsteht, drei Stufen zu erkennen: Zunächst wird in der Evokation einer Hikesieszene (1) ein intertextueller Bezug zur Präsentation dieser politischen Institution in der griechischen Tragödie hergestellt. Dieses Athenbild wird dann (2) einer interpretatio Romana unterzogen und den institutionellen politischen Gegebenheiten Roms angeglichen. Die Zustimmung der proceres verbunden mit der Einholung von Vorzeichen vor politischen Entscheidungen konnte die römische Leserschaft an die Institutionen der römischen Republik erinnern. Indem jedoch (3) das tatsächlich eintretende Handeln des Theseus, durch das nach (2) deutlich auf das Walten eines römischen Magistrats oder auch des princeps angespielt wird, überhaupt nicht dem entspricht, was gemäß der intertextuellen Anspielung (1) zu erwarten wäre, entsteht das Bild eines Athen, das nun einen Kontrastentwurf zum Athen der griechischen Tragödie, aber auch zu den römischen Bedingungen darstellt. Dieses Athen bildet eine Kontrastfolie zu dem Athen der griechischen Tragödie und auch zu seiner „romanisierten“ Form. Zugleich refiguriert hierin die Handlung des Epos das Konzept der clementia, wie es in Senecas gleichnamiger Schrift gezeichnet wird. Dort wird clementia als eine Tugend dargestellt, die den als mit absoluter Machtfülle ausgestattet präsentierten princeps an eine Verhaltensnorm binden soll, die Untergebenen Schutz vor herrscherlicher Willkür gewährt. Die von Seneca propagierte Form der clementia bildet das moralische Regulativ für einen Herrscher, der von seiner politischen Position her beliebig zu handeln vermag. In verschiedenen Untersuchungen ist zutreffend eine Verbindung zwischen Statius’ Thebais und Senecas De clementia hergestellt worden.57 Unbeachtet geblieben ist hierbei jedoch die Willens- oder Willkürthematik, die in Senecas Behandlung thematisiert wird und die auch in der Thebais ihren Niederschlag findet. Deshalb soll im Folgenden der dem Walten von Milde anhaftende Aspekt des Willens fokussiert werden. Die Problematik der herrscherlichen Willkür ist ein das Werk durchziehendes Grundthema. So betont Seneca, dass die Ausübung von clementia an den Willen des Herrschers gekoppelt ist.58 In der imaginierten Rede des princeps über sich

|| 57 Vgl. Baier 2007. Eine umfassende Untersuchung liegt jetzt mit Bessone 2011 vor. 58 Ker 2015, 111 weist auf die Bedeutung des Willensaspekts im Augustusexempel hin.

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selbst am Beginn der Schrift wird die Machtfülle des princeps als eine Allmacht gedeutet, die sich aus der gottgleichen Stellung des Herrschers gegenüber seinen Untertanen ableitet.59 Er herrscht als Stellvertreter der Götter auf Erden, in terris deorum vice, und verfügt über eine den Göttern vergleichbare Macht:60 „Egone ex omnibus mortalibus placui electusque sum, qui in terris deorum vice fungerer? ego vitae necisque gentibus arbiter; qualem quisque sortem statumque habeat, in mea manu positum est; quid cuique mortalium fortuna datum velit, meo ore pronuntiat; ex nostro responso laetitiae causas populi urbesque concipiunt; nulla pars usquam nisi volente propitioque me floret; haec tot milia gladiorum, quae pax mea conprimit, ad nutum meum stringentur; quas nationes funditus excidi, quas transportari, quibus libertatem dari, quibus eripi, quos reges mancipia fieri quorumque capiti regium circumdari decus oporteat, quae ruant urbes, quae oriantur, mea iuris dictio est.“ (Sen. clem. 1,1,2) „Ich von allen Sterblichen gefiel und wurde erwählt, auf Erden die Rolle der Götter zu spielen? Ich bin für die Völker Herr über Leben und Tod; welches Los und welchen Zustand jeder hat, ist in meine Hand gelegt; was einem jeden der Sterblichen die Schicksalsgöttin verliehen haben will, verkündet sie durch meinen Mund; aus unserem Bescheid empfangen Völker und Städte den Grund zur Freude; kein Teil steht irgendwo in Blüte, außer wenn ich es will und geneigt bin; diese so viel tausend Schwerter, die mein Friede bändigt, werden auf meinen Wink gezückt werden; welche Völkerschaften von Grund aus ausgetilgt, welche umgesiedelt, welchen die Freiheit gegeben, welchen sie entrissen, welche Könige Sklaven werden und welcher Männer Haupt die Krone aufgesetzt werden muss, welche Städte einstürzen, welche entstehen sollen, ist mein Rechtsspruch.“ (Übersetzung nach Büchner 1970)61

Trotz dieser Stellvertreterrolle bleibt der Herrscher selbst ein Mensch (mortalis). Auch in der vorausgehenden literarischen Tradition wird die Allmacht des Herrschers wiederholt mit der Willkür Jupiters verglichen, der mit seinen Blitzen Menschen treffen, dies jedoch auch unterlassen kann. So fürchtet bei Ovid der Erzähler insbesondere in den Exilgedichten, aber auch im Epilog der Metamorphosen die ira Iovis (met. 15,871), wobei Jupiter mit Augustus gleichzusetzen ist. Diese Zweiseitigkeit der unumschränkten Macht, die sowohl Gewalt regieren als auch

|| 59 Nichts deutet darauf hin, dass in dieser in Form einer Prosopopoiie gehaltenen Rede Seneca Nero Äußerungen in den Mund legen würde, die er im weiteren Verlauf des Traktats wesentlich korrigieren würde, vgl. Braund 2009, 159. Seine Fähigkeit, über sors und status der Bürger zu verfügen, und die Eigenschaft als Sprachrohr der Fortuna stellen ihn auf die Ebene des stoischen Gottes (1,1,2; vgl. Braund 2009, 162–163). 60 Vgl. hierzu auch Braund 2009, 160 mit Angaben zu Parallelstellen. 61 Zeichensetzung im lateinischen Text nach der Ausgabe Braund 2009.

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Gnade walten lassen kann, nutzt somit bereits Ovid, um eine Analogie zwischen Herrscher und höchstem Gott herzustellen. Bei Ovid entmachtet der Erzähler in der geäußerten Ansicht, er habe ein Werk von solcher Bedeutung errichtet, dass es der Zorn des höchsten Gottes nicht zerstören könne, durch das Selbstbewusstsein des Dichters den Herrscher. Dieser Trotz ist dem Duktus des Werkes entsprechend scherzhaft. Bei Seneca hingegen wird die Analogie des allmächtigen Gottes und des absoluten Herrschers durch ein philosophisches Konzept untermauert. Er schließt in seiner Darstellung durchaus an die dichterischen Bilder an, wenn er Nero auffordert, wie die di placabiles et aequi sich mit seinen fulmina zurückzuhalten (clem. 1,7,1–3). Das moralische Verhalten wird in Relation zu dieser Macht gesetzt.62 Er kann über Leben und Tod seiner Untertanen entscheiden (vitae necisque arbiter), in seiner Macht liegen Schicksal, Stellung, glückliche Umstände, Freude, Gedeihen und Frieden für die Bürger (sors, status, Fortuna, laetitia) und auch das Ergehen fremder Völker.63 Die Eigenschaft, die den princeps auszeichnet, ist seine Fähigkeit, sich bei all seiner Macht nicht von Affekten überwältigen zu lassen. Wiederholt weist Seneca auf die unumschränkte Machtstellung des princeps hin. Der Kaiser wird als ein absoluter Herrscher, der über unbeschränkte Handlungsmacht verfügt, dargestellt. Seneca weist etwa auf die erschreckende Wirkung von Strafen auf die Bürger hin, die insbesondere in Anbetracht der Allmacht des Herrschers in heftige Ungewissheit über sein mögliches zukünftiges Handeln geraten: non enim quantum fecerit sed quantum facturus sit cogitatur in eo qui omnia potest – „Nicht wieviel er getan hat, sondern wieviel er tun wird, bedenkt man bei dem, der alles vermag“ (1,8,5).64 Die clementia erscheint als ein Regulativ der Willkür, die dem absoluten Herrscher zu Gebote steht. Die moralische Beschaffenheit des Herrschers ist das einzige Mittel, ihn in seiner absoluten Macht einzuschränken. Hier zählt nicht mehr das politische System, sondern die Person.

|| 62 Vgl. ferner 1,3,3: Ita enim magnae vires decori gloriaeque sunt, si illis salutaris potentia est; nam pestifera vis est valere ad nocendum. 63 In hac tanta facultate rerum non ira me ad iniqua supplicia conpulit, non iuvenalis inpetus, non temeritas hominum et contumacia, quae saepe tranquillissimis quoque pectoribus patientiam extorsit, non ipsa ostentandae per terrores potentiae dira, sed frequens magnis inperiis gloria (1,1,3). In dieser Zeichnung des Herrschers berührt sich der philosophische Traktat mit der senecanischen Tragödie: In Thyestes 607–608 beschreibt der Chor den Herrscher in folgenden Worten: vos quibus rector maris atque terrae / ius dedit magnum necis atque vitae. Vgl. Braund 2009, 75–76. 64 Weitere Stellen zur clementia in Anbetracht der Allmacht des Herrschers: 1,15 (Tarius-Geschichte); 1,17,3.

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Der absolute Herrscher, der institutionell von den Gesetzen losgelöst handeln darf, soll aber mit der Einstellung herrschen, er sei den Gesetzen rechenschaftspflichtig.65 Das tamquam („als ob“) weist auf die Begründung der legitimen Herrschaft hin: Sie beruht nicht auf einem Legalitätsprinzip, vielmehr wird die Gesetzlichkeit in einem tieferen Prinzip verhaftet: Per Gesetz verpflichtet ist der princeps dazu nicht, er soll sich jedoch so verhalten, als ob er es sei. Die Instanz, durch die dies allein abgesichert werden kann, ist die der Moral. Konkretisiert ist diese in den di inmortales (1,1,4). Nach Seneca vollzieht sich die clementia in einer vernünftigen Entscheidung, bei der die Notlage der Betroffenen gründlich beurteilt wird und die sich von dem willkürlich wählenden Affekt der misericordia unterscheidet.66 Seneca formuliert diesen Zusammenhang in der für ihn typischen Manier in Form einer Sentenz: clementia liberum arbitrium habet (2,7,3). In der Verbindung von clementia und liberum arbitrium wird die Freiheit des absoluten Herrschers gewissermaßen philosophisch domestiziert. Getrennt von Argia begeben sich die Argiverfrauen nach Athen zum Altar der Clementia (Stat. Theb. 12,464–518). Die Existenz eines öffentlichen Altars versinnbildlicht, dass clementia in Athen zur Staatsdoktrin erhoben ist, dass Staat und Herrscher sich ihr verschrieben haben. Statius beschreibt den Altar der Clementia in Athen. Hierbei wird betont, dass niemand verdammt und niemand von ihm zurückgewiesen werde (12,484). Ebenso wird der Altar als ein Mittel gegen das Walten von Fortuna beschrieben: a iustis Fortuna recederet aris (12,505). Auch hier wird wieder der Aspekt des Ausgeliefertseins gegenüber höheren Mächten angedeutet. Die Argiverinnen treffen Theseus bei seiner Rückkunft von einem Sieg über die Amazonen an. Er wird mit Begeisterung von den Athenern empfangen (12,519). Die Frau des Capaneus hält eine Bittrede vor Theseus (12,546–586). Nachdem die Argiverin gesprochen hat, ergreift Theseus „gerechter Zorn“ (12,589: iusta ira).67 Der Zorn verbindet Theseus mit Aeneas in der Schlussszene des vergilischen Epos. Allerdings bietet der Erzähler bei Statius eine explizite Rechtfertigung des Zorns. Somit erscheint die ira des Theseus am Ende nicht als ambivalent oder gar negativ. Auch bei der Zeichnung Athens wird das Staatswesen im Lichte des Wechselverhältnisses von Herrscher und Untertanen dargestellt. Dieses hebt sich deutlich von dem Entsetzen in der Bevölkerung über den wechselseitigen Brudermord

|| 65 Sic me custodio, tamquam legibus, quas ex situ et tenebris in lucem evocavi, rationem redditurus sim (1,1,4). 66 Vgl. Konstan 2015, 180–181. 67 Hierbei steht ira in exponierter Stellung am Ende des Verses.

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in Buch 11 ab. In der athenischen Bevölkerung herrscht allgemeine Kriegsbegeisterung (12,611–655). Die Athener melden sich freiwillig zur Teilnahme am Krieg. Von einer Aufnahme flavischer Herrscherpropaganda ist trotz des Panegyricus auf Domitian am Werkbeginn (1,17b–33a) hier nicht auszugehen.68 Die von den Flaviern geförderte Vorstellung vom Kaiser als Wundertäter ist von dem hier präsentierten Bild deutlich zu unterscheiden, da Theseus keine übermenschlichen Fähigkeiten besitzt. Vielmehr erscheint Theseus als ein Herrschertypus, der sich durch sein unverzügliches Handeln im Sinne der clementia nicht nur von den als Tyrannen gezeichneten Anführern Eteocles und Polynices unterscheidet, sondern auch von dem schwachen Adrastus, der langsam entscheidet und seinen Willen dann auch nicht durchzusetzen vermag. Theseus steht somit durchaus exemplarisch für einen optimus princeps. Dem Werk ist damit ein Appellcharakter gegenüber Kaiser Domitian zuzuschreiben.69 Trotzdem schließt das Werk damit, die Ambivalenzen von politischer Macht aufzuzeigen. Die letzte Szene der Handlung seines epischen Gedichts überlässt Statius den kleinen Leuten. Die thebanischen Frauen und Mädchen freuen sich über den Einzug des Theseus in ihre Stadt (12,782–809). Dies verhält sich diametral entgegengesetzt zu dem in den früheren Büchern immer wieder erwähnten Leid und Schrecken bei Frauen und Kindern. Allerdings steht der Versöhnung der Heere die Totenklage der Argiverinnen gegenüber. Es wäre somit unzutreffend, das Ende als ungebrochen positiv aufzufassen. Vielmehr kommt es zu einem Auseinanderklaffen, wenn am Schluss die Spirale der Gewalt und des Hasses, die nach dem wechselseitigen Brudermord durch Creons Bestattungsverbot noch fortgesetzt worden war, zwar aufgehoben ist,70 die Argiverinnen jedoch in eine Totenklage ausbrechen, deren Darstellung nach Beteuerung des Erzählers seine Ausdrucksfähigkeit übersteige (12,797– 799). Die politische Lösung des Konflikts bedeutet somit nicht schon die Aufhebung von menschlichem Leid und Schmerz über Gewalt, Grausamkeit und Tod, die über zwölf Bücher die Stimmung des Gedichts bestimmt haben. Durch dieses Moment subjektiven Erlebens, sei es beim Erzähler, sei es bei den Figuren, bleibt

|| 68 Das Domitianlob ist eher obligatorischer Natur (vgl. Pollmann 2001, 12–13), und auch ein positives Verhältnis zum princeps braucht eine ermahnende Intention nicht auszuschließen. 69 Vgl. Baier 2007, 159; 168–170. Eine erzieherische Intention gegenüber politischen Anführern unterstützt die vom Erzähler hinsichtlich seiner Darstellung der Grausamkeit des wechselseitigen Brudermords geäußerte Hoffnung, nur Könige mögen sich an solche Kämpfe erinnern (et soli memorent haec proelia reges; 11,579). Mag der Erzähler auch seine Zweifel über die Belehrbarkeit der Herrscher innerhalb seiner Erzählung äußern (11,656–657), unterstreicht diese Aussage noch die didaktische Absicht des Werkes (gegen Criado 2015, 305). 70 Zu Creons Tod als Ende des Hasses vgl. Fantham 1997, 208.

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das epische Gedicht davor bewahrt, ganz zur politischen Allegorie zu werden. Stattdessen endet das Gedicht in einer Stimmung der Ambiguität. Das Leid, das trotz der politischen Lösung des Konflikts erhalten bleibt, haben gerade die kleinen Leute zu tragen.

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Stefano Rocchi

Triptolemos und Europa in Tarraco Stadtdarstellung, Politik und mythische Züge in Florus’ Vergilius: orator an poeta? Abstract: (1) In the introduction I discuss the history of the text and the sub-

ject matter of Florus’ Vergilius: orator an poeta?, along with an annotated summary of the work. (2) I further discuss: (2.1) the identification of the dramatic setting with Tarraco, based on geographical, antiquarian and epigraphic evidence; (2.2) the bitter-sweet praise of a place presented as at once a locus amoenus and a provincial backwater, and its contrasting juxtaposition to Rome and the province of Baetica; (2.3) the setting of the dialogue in the temple of Augustus (Augustus in Tarraco; the ‘provincial forum’) in relation to that of other dialogues. (3) I go on to address the critical reference to Domitian and the panegyrical allusion to Trajan’s reign and suggest that the composition of the work may be dated to the reign of Hadrian, after his visit to Tarraco (122/123 AD). (4) Finally I discuss the mythological themes of the dialogue, paying special attention to the passages on Triptolemos’ and Europa’s presence in Tarraco, which have so far been neglected in modern works about their myths.

1 Einführung Das Prosafragment Vergilius: orator an poeta? wurde von Theodor Oehler in einem in Brüssel aufbewahrten Miszellancodex (Koninklijke Bibliotheek van België/Bibliothèque royale de Belgique, MS 10615–729) entdeckt und anschließend von Friedrich Ritschl im ersten Band des Rheinischen Museums veröffentlicht.1 Einer der Schreiber hatte die heutige Seite 73va/b der Handschrift mit dem Beginn

|| 1 Ritschl 1842 (mit Beiträgen von Oehler und Schopen). Seither wurde der Text mehrmals ediert oder kritisch revidiert, und zwar von Jahn 1852; Halm 1854; Rossbach 1896; Jal 1967; Malcovati 1972; Havas 1997; Richardson 2000; Verweij 2015. Letzterer bietet unter anderen eine diplomatische Transkription und eine konservativere Ausgabe von Florus’ Fragment, welche den Text von den (oft nutzlosen) Konjekturen der letzten zwei Jahrhunderte befreit und infolgedessen dem Wortlaut der Handschrift getreuer folgt. Die Textpassagen, die im Folgendem zitiert werden, sind trotzdem von mir kritisch revidiert worden. https://doi.org/10.1515/9783110656893-010

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– und nur damit – unseres Vergilius: orator an poeta? gefüllt.2 Eine spätere Hand schrieb für die Ordensbrüder an den Rand: in alio / uaternione / x integro / hanc / cripturam / abeo („dieses Werk habe ich in einem anderen quaternio/Faszikel vollständig“).3 Aber dieser quaternio ist leider (bislang) verschollen – Schicksal der Überlieferung.4 Die Seite 73va/b beinhaltet immerhin die Einleitung eines Schuldialogs eines P(ublius) Annius Florus, den die moderne Kritik meist mit dem Historiker und Dichter, Freund und Korrespondenten des Kaisers Hadrian identifiziert.5 Der lebensnahe (aber fiktive) Schuldialog befasste sich mit einem grammatikalischrhetorischen Thema, das für uns in Macrobius (Sat. 5,1,1) nachweisbar ist und für andere Autoren ebenfalls diskutiert wurde.6 Die akademische Diskussion, ob der seit Jahrzehnten schon kanonisierte Vergil eher als Redner oder Dichter anzusehen sei, hat höchstwahrscheinlich am Ende keine Entweder-Oder-Entscheidung

|| 2 Siehe dazu die kodikologische Beschreibung der Handschrift von Verweij 2015, 87–92 (insb. 90–91), welcher in den antiken Texten auf ff. 69vb–73vb eine (mehr oder weniger) kohärente Gruppe sieht, die als Appendix zu den Werken Vergils fungieren konnte. Vgl. auch den kursorischen Bericht von Oehler in Ritschl 1842, 302–303; Traube 1896, 152–153; Sabbadini 1914, 20–21. Eine Abbildung von f. 73v ist in Merkelbach/Thiel 1969, 75 reproduziert. 3 Oehler in Ritschl 1842, 302; Havas 1997 ad loc. und Verweij 2015, 91, die die Lektüre der Randanmerkung bestätigt und den Text erneut ediert haben. 4 Zur Vorgeschichte der Überlieferung des Werkes siehe die interessante Hypothese von De Nonno 2010, 40: „The rather exceptional survival of tiny literary singularities may perhaps be accounted for by the fortunate salvaging of elegant booklet editions during the Middle Ages—if not even, perhaps, by the recovery of some of the increasingly rare rolls. Such is the case of the acerbic pamphlet Emperor Claudius Becoming a God […], or of the bizarre collection of Poems for the God Priapus […], or even of the first chunk of a sophisticated dialogue on the theme Virgil: Orator or Poet?, attributed to a certain P. Annius Florus.“ 5 Für die Identität der drei Figuren, und zwar des Verfassers der Epitoma, des Dichters und des Autors des Vergilius: orator an poeta?, sprechen sich u.a. aus: Mattiacci 1982, 21–23; Bessone 1993, 102–107; Hose 1994, 53–61; 127–128. Einen detaillierten Bericht zur Sekundärliteratur über die Identität des Autors und dessen Chronologie bietet Koch 2014 (insb. 101–102), welcher in Anlehnung an Neuhausen 1992 und Neuhausen 1994 zu demonstrieren versucht, dass das historische Werk 14/15 n. Chr. von dem mit Horaz befreundeten Iulius Florus verfasst worden sei und im 2. Jhr. n. Chr. eine neue ‚Auflage‘ mit textuellen Eingriffen bekommen habe. 6 Das sind freilich Debatten, welche aufgrund der anerkannten Nützlichkeit mancher Autoren für den künftigen Redner in der Schule selbst entstanden sind. Siehe z. B. für Homer Cic. Brut. 40 (tam […] ornatus in dicendo ac plane orator); für Sallust Gran. Lic. 36,31 (Sallustium non ut historicuiunt, sed ut oratorem legendum usw.); für Lucan Mart. 14,194 (sunt quidam, qui me dicant non esse poetam:/sed qui me vendit bybliopola putat) und Quint. inst. 10,1,90 (Lucanus ardens et concitatus et sententiis clarissimus et, ut dicam quod sentio, magis oratoribus quam poetis imitandus).

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herbeigeführt; der als Ich-Sprecher eingeführte Florus7 ist sicher zu dem Ergebnis gekommen, dass Vergil sowohl maximus poeta als auch maximus orator gewesen sei, wie Macrobius schon zeigt: omnes inter se consono murmure Vergilium non minus oratorem quam poetam habendum pronuntiabant, in quo et tanta orandi disciplina et tam diligens observatio rhetoricae artis ostenderetur. [Alle] bekannten […] übereinstimmend, Vergil habe nicht weniger als Redner zu gelten denn als Dichter, zeige sich bei ihm doch hohe rednerische Ausbildung und sorgsame Anwendung der Redekunst.8 (Macr. Sat. 5,1,1; Übers. O. und E. Schönberger)

Ohne den überlieferten Titel des Dialogs aber wüssten wir vom tatsächlichen Hauptinhalt des Werkes nichts, weil der Text kurz nach dem setting abbricht. Im überlieferten Fragment lesen wir nämlich nach dem knappen Entwurf der Situation (Flor. Verg. 1,1) von dem zufälligen Treffen zwischen dem Dichter, der in einer Tempelanlage nach Ruhe und Erholung sucht, und zwei (oder mehreren) Baetikern, die aus Rom zurückkommen und vom Wind an die Küste getrieben worden sind (ebd.). Einer der Baetiker erkennt den Dichter als den einstigen Knaben, der einige Jahre zuvor an den Kapitolinischen Spielen teilgenommen hatte (1,2–3).9 Darauf folgt eine interessante Stellungnahme gegen Domitian, die zum Teil schwierig zu interpretieren ist (1,4).10 Der Baetiker fragt ihn weiter, wieso er sich in einer provincial[is] latebr[a] („in einem Versteck in der Provinz“!) aufhalte und nicht in die Baetica weiterziehe

|| 7 Bemerkenswert ist die sphragis innerhalb des Textes (Flor. Verg. 1,3: F l o r u m vides), wo Florus, Autor und Hauptfigur des Dialogs, zugunsten der Anagnorisis im Dialog seinen eigenen Namen nennt. 8 Siehe auch Claud. Don. prooem. p. 4,24–28 Georgii: si Maronis carmina competenter attenderis et eorum mentem congrue comprehenderis, invenies in poeta rhetorem summum atque intelleges Vergilium non grammaticos, sed oratores praecipuos tradere debuisse. Es handelt sich also um ein et-et-Urteil, wie Dahlmann 1970, 260–261 überzeugend demonstriert hat. Richardson 2000, 443 ist unabhängig von Dahlmann zum selben Ergebnis gekommen. 9 Ich stimme Verweij 2015, 97 zu, dass die Teilnahme am Kapitolinischen Agon in dem Wort conciliabulum enthalten sei, so dass Schopens Konjektur certamini für das überlieferte crimini unnötig ist (Flor. Verg. 1,3: Florum vides, fortasse et audieris, si tamen i n i l l o o r b i s t e r r a r u m c o n c i l i a b u l o sub Domitiano principe c r i m i n i [cod., certamini Schopen] nostro adfuisti). Crimini ist für Verweij eine Anspielung auf Ov. trist. 2,207 (duo crimina, carmen et error). Für die Interpretation von crimen siehe auch unten Anm. 50. 10 Darüber siehe unten Abschnitt 3.

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oder in die Hauptstadt, nach Rom, zurückkehre (1,6–7).11 Florus erklärt, dass die Enttäuschung über den Ausgang des Agons so bitter gewesen sei, dass er sich seither nicht nur von Rom ferngehalten, sondern sogar seine Heimat, Afrika, vergessen habe und wie ein Wahnsinniger durch das ganze Mittelmeer gereist sei (1,8–9). In poetisch inspirierter Prosa zählt er zuerst die Etappen seines ‚freiwilligen Exils‘ auf: er sei in Sizilien und in Kreta gewesen, an den Kykladen vorbei gesegelt, später auf Rhodos und in Ägypten gewesen, um dann nach Italien zurückzukehren. Daher sei er an den gallischen Alpen vorbei in Richtung Norden gefahren, um sich danach nach Westen zu wenden und über die verschneiten Pyrenäen zu reisen (2,1–5).12 In rhetorisch elaborierten Sätzen erklärt er weiter, wie er sich endlich entschieden habe, sich aus Müdigkeit in einer ruhigen und angenehmen Stadt niederzulassen (2,5–9). Der Baetiker fragt ihn, wie er sein Leben finanzieren kann und ob sein Vater ihn finanziell unterstütze (3,1). Florus antwortet offenherzig, er sei Lehrer von Beruf;13 darauf reagiert der Baetiker mit den Worten (3,2): o rem indignissimam! Et quam aequo fers istud animo, sedere in scholis et pueris praecipere? („Was für ein unverdientes Los! Wie kannst du es denn gleichmütig erdulden, in Schulen zu sitzen und Kinder zu unterrichten?“).14 Florus lässt sich aber nicht so einfach de-

|| 11 Der Schauplatz des Dialogs ist aber Tarraco, die Hauptstadt der Hispania Citerior, und kein abgelegener Ort: vgl. unten 2.1 und 2.2. 12 Auf der einen Seite berührt der Autor damit das Thema des Scheiterns, das typisch für die Zweite Sophistik ist, und schließt sich an die Reihe der Sophisten an, die gezwungen waren, ins Exil zu gehen, oder sich wie Verbannte darstellten (z. B. Favorinus von Arelate). Auf der anderen aber lässt dies auch an das Exil eines berühmteren Dichters, nämlich Ovids, denken, wie Verweij 2015, 86 und 97 vorschlägt. Zu möglichen intertextuellen Bezügen zu Ovid siehe unten Anm. 25 und die Abschnitte 4.3 und 4.4. 13 Der lateinische Text lautet in der Handschrift: in reditu est mihi possessio litterarum („Als Einnahmequelle habe ich meine literarischen Kenntnisse“). Alle Herausgeber haben aber mit Schopen vorgezogen, possessio in professio zu korrigieren, ein Wort, das innerhalb von wenigen Zeilen noch zweimal vorkommt (3,3 und 3,5). Für die Korrektur von Schopen spricht natürlich die Beobachtung, dass possessio in der handschriftlichen Überlieferung häufig mit professio verwechselt worden ist (siehe ThLL X 2, 1688,35–36). Wenn man mit Verweij 2015 die Lesart der Handschrift halten will, kann man aber auf durchaus prominente Vorbilder verweisen, wie z.B. Cic. fat. 3: utriusque studii – d.h. der Philosophie sowie der Redekunst – nostra possessio est (siehe auch ThLL X 2, 99,45–56). Die einzige Schwierigkeit, die ich sehe, liegt darin, dass der Ausdruck prima facie zu obskur ist, um unmittelbar verständlich zu sein: Wie kann der Baetiker sofort zu dem Schluss kommen, dass Florus als Lehrer tätig ist? 14 Und damit wird auch das Thema des schlechten Rufs der professionellen Grammatiker – meines Erachtens ironisch – berührt, welches seit dem griechischen Epigramm bis weit in die Spätantike ein literarischer Topos ist. Die Passage erinnert auch an jene Art ‚gesellschaftliches

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mütigen und stürzt sich in eine leidenschaftliche Verteidigung der Lehre der sacrarum studia litterarum.15 Die Lehrtätigkeit wird nämlich mit der Militärkarriere verglichen und als dieser überlegen eingeschätzt (3,3–8).16 Der Text bricht leider mitten im Satz ab. Wäre die Inscriptio mit Autornamen und Titel nicht überliefert worden, hätten die Herausgeber vermutlich von einem Anonymus de professione litterarum gesprochen.17

|| Spiel‘, das darin bestand, professores und scholastici (darunter auch vermeintliche Philosophen) bloßzustellen, und an dem sowohl der Kaiser Hadrian als auch seine Zeitgenossen teilnahmen, wie die Historia Augusta und zahlreiche Anekdoten bei Gellius bezeugen (vgl. insb. Hist. Aug. Hadr. 15,10: professores omnium artium semper ut doctior risit, contempsit, obtrivit; ebd. 15,12–13 mit der Anekdote der Kontroverse um eine grammatikalische Frage zwischen Hadrian und Favorinus; für beide Stellen siehe Fündling 2006 ad loc.). Vielleicht spielt sogar in dem berühmten Schlagabtausch in bissigen Versen, den sich Hadrian und Florus liefern, dieser schlechte Ruf eine Rolle, wenn Florus nämlich von Hadrian als gewöhnlicher Besucher verruchter Kneipen verspottet wird (Hist. Aug. Hadr. 16,3–4 = Flor. carm. fr. 1 und Hadr. carm. fr. 1 Mattiacci). Aber der Florus des Dialogs ist nicht immer Lehrer gewesen. Der Baetiker meint, dass der einstmals vielversprechende junge Dichter sozial gesunken sei. Von einem gesellschaftlichen Abstieg, in diesem Fall vom Senator zu einem verbannten Rhetor, berichtet Plinius (epist. 4,11,1–2): audistine Valerium Licinianum in Sicilia p r o f i t e r i ? Nondum te puto audisse […]. Praetorius hic modo inter eloquentissimos causarum actores habebatur; n u n c e o d e c i d i t , u t e x s u l d e senatore, rhetor de oratore fieret. 15 Für ähnliche Ausdrücke vgl. Tac. dial. 20,6 (ex Horati et Vergili et Lucani s a c r a r i o ) und Quint. inst. 10,1,92 (nos […] s a c r a l i t t e r a r u m colentis). 16 Hier möchte ich bei der Passage 3,5 kurz verweilen. Die Handschrift liest nempe si mihi maximus i m p u t e m , id est centum homines regendos tradidisset, non mediocris honor habitus mihi videretur. Das Wort imputem wurde, nach den ersten Versuchen von Schopen und Ritschl, von O. Jahn in imp(erator) vitem korrigiert. Diese Korrektur hat sich seither verständlicherweise durchgesetzt. Man könnte sich fragen, ob diese Erwähnung des centuriatum nicht etwa eine Anspielung auf die Versuche des Valerius Probus sein könnte, eine Militärkarriere anzustreben (vgl. Suet. gramm. 24,1: M. Valerius Probus Berytius diu centuriatum petit, donec taedio ad studia se contulit). Verweij 2015, 97 hat jüngst vorgeschlagen, id est centum homines regendos als eine Glosse zu tilgen. Nicht jede Erläuterung ist aber eine Glosse. Sollte P. Annius Florus mit dem Historiker identisch sein, kann man zudem darauf verweisen, dass er in der Epitoma id-est-Erklärungen mit immerhin zwölf Belegstellen gerne einsetzt. 17 Obwohl in 3,2 eher possessio litterarum zu lesen ist (vgl. Anm. 13), erlaube ich mir, hier professio litterarum zu benützen. Denn diese Struktur ist ebenfalls im Latein belegt (siehe Cassiod. var. 8,12,2). Zum Thema der Lehre in Florus’ Werk (mit einer deutschen Übersetzung der betreffenden Paragraphen) siehe Dahlmann 1970.

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2 Stadtdarstellung In diesem Abschnitt werden die Identifizierung der Stadt (insb. Verg. 2,8), die Darstellung der Umgebung (Verg. 2,6–8) und die Inszenierung des Dialogs diskutiert (Verg. 1,1), aber in umgekehrter Reihenfolge im Vergleich zu Florus.

2.1 Identifizierung der Stadt Die Stadt, in welcher sich der Dialog abspielt, wurde schon vom ersten Herausgeber, Friedrich Ritschl, identifiziert. Die Indizien sind nicht unmittelbar verständlich, aber dennoch unzweifelhaft. Die knappen geographischen Angaben von Florus’ Reise (Verg. 2,3) führen den Leser unstrittig von Gallien über die Pyrenäen nach Spanien, und zwar zu einer Stadt, die an der Küste liegt (Verg. 2,9: siehe unten 4.4) und über einen Hafen verfügt, wo die Baetiker auf der Rückkehr aus Rom angelandet sein konnten (Verg. 1,1). Dass es sich um Tarraco handelt, erschließt sich endgültig aus den folgenden Formulierungen: Si quid ad rem pertinet, civitas ipsa generosissimis auspiciis instituta: nam p r a e t e r Caesaris vexilla, quae portat, triumphos, unde nomen accepit, adest etiam peregrina nobilitas. Quippe si … (siehe unten Abschnitt 4.4) (Florus zum Baetiker:) Die Stadt selbst wurde – wenn es von Belang ist – unter den edelsten Auspizien gegründet: zusätzlich zu den Standarten Caesars, die sie trägt, und den Triumphen, wonach sie benannt wurde, gibt es nämlich einen ausländischen Adel. (Flor. Verg. 2,8)

Der Ausdruck Caesaris vexilla bezieht sich auf die Standarten, welche die neuen Ansiedler – Veteranen von Caesar – trugen, als die Stadt Tarraco höchstwahrscheinlich Ende der 40er/Anfang der 30er Jahre v. Chr. zum Rang einer Kolonie erhoben wurde: Solche Standarten mussten in einem öffentlichen Gebäude aufbewahrt sein.18 Dadurch, dass die Stadt nach der Erhebung zur Kolonie Colonia (Iulia) Urbs Triumphalis Tarraco hieß, wie durch Inschriften und Münzen belegt

|| 18 Siehe darüber Ruiz de Arbulo 2002 und Ruiz de Arbulo 2015, 154–156, welcher sowohl die Ansiedlung der Kolonisten als auch die Datierung der kolonialen deductio ausführlich diskutiert (siehe auch Mar u.a. 2012, 214–220; Mar u.a. 2015, 305). Es handelt sich also weder um die Standarten der in Caesaraugusta stationierten Legio VI Victrix, wie Ritschl 1842, 310 wollte (ihm folgt u.a. Dahlmann 1970, 254), noch um die einer vexillatio von der sonst in León (Legio) stationierten Legio VII Gemina, wie Schulten 1932, 2400 meinte (ihm folgt u.a. Jal 1967, 119 Anm. 3).

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ist,19 und dass sie die einzige in der Hispania Citerior war, welche den Beinamen Triumphalis trug, lässt sich das Wort triumphos in Florus’ Bericht eindeutig erklären. Triumphalis und triumphos sollten auf die Triumphzüge hinweisen, die Caesar 46 und 45 v. Chr. feierte und an denen auch die später in Tarraco angesiedelten Soldaten teilnahmen.20

2.2 (Süßsaures) Lob der Stadt Kurz vor den Anhaltspunkten für die Identifizierung werden die Stadt, deren Bevölkerung, Klima und Umgebung auf verschiedenen Ebenen gepriesen, aber unter Bedingungen: Si fata Romam negant patriam, saltim hic manere contingat. Quid, quod consuetudo res fortis est? Et ecce iam familiaritate continua civitas nobis ipsa blanditur, quae, si quid credis mihi qui multa cognovi, omnium rerum quae ad quietem eliguntur gratissima est. (2,7) Populum vides, o hospes et amice, probum, frugi, quietum, tarde[m] quidem, sed iudicio hospitalem. Caelum peculiariter temperatum miscet vices et notam veris totus annus imitatur.21 (2,8) Terra fertilis campis et magis collibus – nam Italia vites adfectat et comparat areas22 – serotino non erubescit autumno.

|| 19 Die ältesten Belege sind die Inschrift CIL II2/14, 977 (39/37 v. Chr.) ([colonia urbs Triu]mphalis [Tarrac(onensium)]) und die Legenden C(olonia) V(rbs) T(riumphalis), C(olonia) V(rbs) T(riumphalis) T(arraco) und C(olonia) V(rbs) T(riumphalis) Tarr(aco) von Münzen, die erst nach dem Jahr 2 v. Chr. geprägt wurden (siehe RPC 1.1 Nr. 210–214). 20 So Ruiz de Arbulo 2015, 155–156. Von Caesars Triumphen wird auch in der Epitoma berichtet (Flor. epit. 4,2,88–89). Weniger überzeugend scheint die Meinung von Kruse/Scharf 1996 zu sein, die argumentieren, dass sich der Ausdruck Caesaris vexilla nicht auf C. Julius Caesar, sondern auf Augustus und auf den von ihm abgelehnten spanischen Triumph von 25 v. Chr. beziehe. Über Augustus und Tarraco siehe unten. 21 Vgl. auch Mart. 1,49,19–21: At cum December canus et bruma impotens/Aquilone rauco mugiet,/ a p r i c a repetes Tarraconis l i t o r a . Verweij 2015, 86 vermutet, dass in Florus’ Zeilen vergilische Elemente aus der Laus Italiae des 2. Buches der Georgica (136–176) zu finden seien: „especially with regard to the climate …“. Wenn das stimmt, könnte man caelum peculiariter temperatum miscet vices et notam veris totus annus imitatur als eine ‚Variation‘ über das Thema der Jahreszeiten von Verg. georg. 2,149 (hic ver adsiduum atque alienis mensibus aestas) sehen. Das Thema des milden Wetters im mediterranen Europa wird auch im Lob Italiens in Varros Res rusticae berührt (1,2,3–5). 22 Neben dem Chiasmus (vites adfectat et comparat areas) und der apo-koinou-Konstruktion von Italia kann man beobachten, dass die von nam eingeleitete Parenthese eine nähere Präzisierung von terra fertilis ist und dass areas nicht allgemein als ‚Ortschaften‘ (wie Jal 1967 ad loc.: „les terres de ce pays“), sondern in der technischen Bedeutung von ‚Dreschtennen‘ interpretiert werden sollte. Zusammen mit der folgenden Litotes (serotino non erubescit autumno) wird diese Passage im ThLL II 499,12–14 (Ausfeld) überzeugend unter der Rubrik „de tempore

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Wenn mir das Schicksal Rom als Heimat vorenthält, soll es mir wenigstens hier zu bleiben vergönnt sein. Außerdem: Gewohnheit ist ein starkes Motiv. Da! Jetzt lockt uns mit langer Vertrautheit die Stadt selbst, die von allen Möglichkeiten, die zur Erholung ausgewählt werden, die angenehmste ist (wenn man mir, da ich viel Erfahrung gesammelt habe, vertraut). (2,7) Du siehst hier, Gast und Freund, eine Bevölkerung, die rechtschaffen, maßvoll und bedächtig ist und die sich zwar nur langsam, dann aber mit gutem Grund dem Fremden gastfreundlich öffnet. Ein besonders ausgewogenes Klima macht den Wechsel der Jahreszeiten kaum spürbar, und das ganze Jahr ahmt die Eigenschaften des Frühjahrs nach. (2,8) Die Erde, die auf den Feldern reiche Frucht trägt und noch mehr auf den Hügeln – denn Italiens Weinreben nimmt sie sich zum Vorbild und konkurriert mit seinen Dreschtennen – , errötet nicht in einem spät kommenden Herbst. (Flor. Verg. 2,6–8)

Die idyllische Darstellung ist aber nicht geschrieben worden, um den Tarraconenses zu schmeicheln. Sonst hätte der Autor nicht die consuetudo und die familiaritas als Argument dermaßen betont. Der locus amoenus des friedlichen und abgeschiedenen Städtchens einer Provinz ist, wie Richardson schon bemerkt hat, für eine römische Leserschaft gedacht.23 Rom tritt in der Tat als ‚Sehnsuchtsort‘ in einer starken Gegenüberstellung zur der vermeintlichen provincial[is] latebr[a], wie sie der Baetiker darstellt, auf (Verg. 1,7).24 In der Fiktion des Dialogs stellt Rom die Stadt dar, die den jungen Florus damals während des Kapitolinischen Agons enttäuscht hat (Verg. 1,4) und wohin er wegen der schmerzhaften Erinnerungen oder aufgrund des Schicksals nicht zurückkehren will bzw. kann, obwohl dort der Triumph von Trajan ‚jetzt‘ gefeiert und die Verse desselben

|| metendi“ aufgeführt. Mit anderen Worten: Florus muss gemeint haben, dass die Traubenlese und die Getreideernte in Tarraco, nicht anders als in Italien, im Sommer und frühen Herbst erfolgen. Was hingegen die Qualität der Produkte angeht, erreichen die Weine von Tarraco die italischen noch nicht ganz, sind ihnen aber auch nicht weit unterlegen, wie wir von Plin. nat. 14,71 erfahren (elegantiā […] Tarraconensia […] conferuntur Italiae primis; vgl. auch Mart. 13,118; siehe dazu Tchernia 2016, 174–176; 273–274). 23 Siehe Richardson 2000, insbes. 446. Derselbe hat hervorgehoben (ebd. 435), dass der provinzielle locus amoenus in der Topik üblicherweise auch den mos maiorum, der in Rom längst verschwunden ist, noch bewahrt (er weist auf Massilia in Tac. Agr. 4,2 hin, siehe aber auch Plin. epist. 1,14,5–6 über Brixia und Patavium). Ich glaube aber, dass der moralische Aspekt nicht die Hauptpointe von Florus’ Passage ist (weil in Rom nicht mehr die Laster eines Domitian, sondern die Tugenden von Trajan, dem optimus princeps, herrschen). 24 Tarraco wird aber von Florus als eine Stadt verteidigt, „die […] unter allen Möglichkeiten, die zur Erholung ausgewählt werden, die angenehmste ist“. Dies könnte an die idyllische Beschreibung der villatica quies der fiktionalisierten Stadt Hypata in Apuleius’ Metamorphosen erinnern (met. 2,19,5–6: siehe dazu Fuhrer 2015, insbes. 98–100).

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Florus gesungen werden.25 Außerhalb der literarischen Fiktion sollte gerade Rom der Ort sein, wo sich Florus nach dem Ende seines ‚freiwilligen Exils‘ aufhält und seinen Text abgefasst hat. Am Rand kann man also nicht nur die topische Gegenüberstellung zwischen Zentrum und Peripherien bemerken, sondern vielleicht auch erkennen, wie eine Spur von Lokalpatriotismus der provinciales inszeniert wird. Der Autor Florus lässt den Baetiker die Dialogfigur Florus fragen, wieso er in einer provincialis latebra weile und nicht in die Baetica weiterziehe oder in die Hauptstadt zurückkomme: Die Baetica, die Provinz, aus der die Senecas, Trajan und Hadrian stammten, wird offenbar auf dasselbe Niveau wie Rom gehoben, während die Tarraconensis damit indirekt als zweitrangig abgewertet wird.26

2.3 Mise en scène des Dialogs Ich möchte hier die problematische Inszenierung des Dialogs selbst in Augenschein nehmen und vorschlagen, dass der sakrale Kontext, in dem sich der Dialog Vergilius: orator an poeta? des Florus abspielt, mit dem Tempel des Augustus auf dem Hügel hinter der Stadt Tarraco identifiziert werden kann.27 Dafür beziehe ich die Inszenierungsandeutungen, die am Anfang des Dialogs zu lesen sind, einige literarische Beobachtungen zu diesem und anderen Dialogen der lateinischen Literatur und archäologische Überlegungen zur Topographie der Stadt mit ein.

|| 25 Vgl. Verg. 1,6–8: ‘Et quid tu’ inquit ‘tam diu in hac provincia? nec in nostram Baeticam excurris nec urbem illam revisis, ubi versus tui a lectoribus concinuntur et in foro omni clarissimus ille de Dacia triumphus exultat? (7) Potesne [...] p r o v i n c i a l e m l a t e b r a m p a t i ? Nihil te caritas urbis [...] movet? Nihil denique lux et fulgor felicis imperi, qui in se rapit atque convertit omnium oculos hominum ac deorum?’ (8) Atque ego varie perturbatus ‘quid nunc vis ego respondeam? O q u i s q u i s e s , mihi quoque ipsi hoc idem mirum videri solet, quod non Romae morer. Sed nihil est difficilius quam rationem reddere actus tui. Q u a r e d e s i n e , me in memoriam priorem reducendo, v u l n u s dolorum meorum r e s c i n d e r e . Propitia sit illa civitas et fruantur illa quibus fortuna permittit’ (vgl. auch 1,9). Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass O quisquis es […] quare desine […] vulnus […] rescindere eine Anspielung auf Ov. trist. 3,11,63 ist: ergo, quicumque es, rescindere vulnera noli (siehe auch ebd. 56 quisquis is es; die Stelle von Florus scheint übrigens eine Bestätigung der Lesart vulnera anstatt der Variante crimina in Ovids Vers darzustellen). 26 Siehe dazu Richardson 2000, 435 und Mar u.a. 2015, 305, welche die niedrigere Einschätzung der Hispania Citerior mit den positiveren sozioökonomischen Umständen der Baetica erklären. 27 Für Details zu diesem Vorschlag erlaube ich mir, auf Rocchi 2014 zu verweisen. Hier möchte ich nur die wichtigsten Punkte aufgreifen und neue Argumente beibringen, um die Hypothese zu untermauern.

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Das dialogische Fragment beginnt mit einer komplizierten partizipialen Struktur, welche – trotz der Korruptel gerade am Anfang28 – der des sogenannten Dativus iudicantis deutlich ähnelt und sie zugleich parodiert:29 † Capienti mihi in templo et saucium vigilia caput plurimarum arborum amoenitate, euriporum frigore, aeris libertate recreanti obviam subito quidam fuere, quos ab urbis spectaculo Baeticam revertentes sinister Africae ventus in hoc litus excusserat. Während ich mich in dem Tempel erholte und mir den vom Wachbleiben ermüdeten Kopf durch die Annehmlichkeit vieler Bäume, die Kühle der Wasserbecken, die freien Flächen erfrischte, begegneten mir plötzlich einige Leute, die ein ungünstiger afrikanischer Wind auf dem Heimweg von dem Schauspiel der Hauptstadt30 in die Baetica an diese Küste getrieben hatte. (Flor. Verg. 1,1)

|| 28 Gemeint ist die irritierende Lücke nach capienti mihi (in templo), die eine Ergänzung wie verlangt (vgl. auch Flor. Verg. 2,1: si ita indulges otio). Von den vielen vorgeschlagenen ‚Reparaturen‘ scheint mir die von Helmreich und Damsté empfohlene Einfügung von otium – und zwar nach templo und vor et (siehe Damsté 1912, 145–146) – die beste zu sein. Otium in dieser Position hätte den stilistischen Vorteil, einen Chiasmus der Prädikate und der Objekte mit breitem Hyperbaton wiederherzustellen, der zu der ausgefeilten Gestalt des Satzes gut passt (nämlich capienti […] otium et […] caput […] recreanti). Viele der weiteren Vorschläge sind meines Erachtens eher Korrekturen, die dem Enthusiasmus für den Neufund und dem Anpassungswillen an andere Dialoge zuzuschreiben sind (manche davon werden in Rocchi 2014 Anm. 1, 4 und 5 diskutiert). 29 Das Partizip des so genannten Dativus iudicantis (Typus: cogitanti mihi) ist eine Struktur, welche schon bei den griechischen Historikern und Philosophen belegt ist (Hdt. 1,14,2; Thuc. 1,1,2; Xen. Mem. 4,1,1: τῷ σκοπουμένῳ τοῦτο καὶ [εἰ] μετρίως αἰσθανομένῳ). Diese scheint im Lateinischen erstmals bei Cicero belegt und gerade für Einleitungssätze markant eingesetzt worden zu sein (siehe insbes. de orat. 1,1: cogitanti mihi […] et memoria vetera repetenti; 3,1: instituenti mihi; aber auch har. resp. 55; Brut. 22). Wenn man weitere ähnliche Belege in Betracht zieht (z. B. Sall. Catil. 53,2 und 4; Liv. 37,58,8; Ps.-Q. Cic. comm. pet. 1,1 [eine noch nie hervorgehobene Imitation von Ciceros Stil]; Sen. dial. 9,1,1; Tac. Agr. 11,3; Min. Fel. 1,1: cogitanti mihi et cum animo meo […] memoriam recensenti; usw.), wird es augenfällig, dass Florus diese Pose des Intellektuellen, der sich beim Denken anstrengt, ironisch aufgreift, indem er damit das Gegenteil meint, nämlich dass er sich vom Denken ausruhen wolle. Dass er absichtlich mit dem Topos spielt, lässt sich an der Wiederaufnahme des Motivs in Verg. 3,4 eindeutig erkennen: retractanti […] sortemque meam […] conferenti ( ipse conieci). Der Vorschlag von Havas 1997, den Beginn von Florus zu cogitanti mihi […] et saucium vigilia caput […] recreanti zu korrigieren, führt zu der unsinnigen Vorstellung, dass der Dichter sich in einen Tempel zurückgezogen habe, um sich durch eine intellektuelle Anstrengung (cogitare) zu erholen (obwohl es scheinbar dem otiumKonzept in Dialogen entsprechen könnte). 30 Ist mit spectaculum das Schauspiel gemeint, das Rom selbst mit seinen imposanten Denkmälern für Besucher aus einer Provinz bietet (wie z. B. Liv. 31,24,3: ad deforme s p e c t a c u l u m

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Der professor Florus sucht – vermutlich nach einer Nacht von intellektueller Arbeit – nach Erholung und zieht sich hierfür in einen Tempel zurück, der mit Gartenanlage (arborum amoenitate), Wasserbecken und Kanälen (euriporum frigore) und ausgedehnten freien Flächen (aeris libertate)31 ausgestattet ist. Vor diesem Hintergrund geschieht das zufällige Treffen mit den Baetikern. Die mise en scène in einer Tempelanlage, wenngleich selten in der Gattung bezeugt, wird durch den Vergleich mit Buch I der Res rusticae des Varro bestätigt. Denn der varronische Dialog findet in der Aedes Telluris auf den Carinae statt. Aber wo wird Florus’ Dialog inszeniert?32 Einige Tempel, die in Tarraco historisch, archäologisch oder epigraphisch bezeugt sind, können ausgeschlossen werden: das Capitolium, das archäologisch vier Bau-Zustände, zwei aus der republikanischen, eine aus der tiberischen und noch eine weitere aus der hadrianischen Zeit, aufweist;33 ein republikanisches templum Minervae, das in der frühen Kaiserzeit restauriert worden war;34 eine augusteische aedes Tutelae Tarraconensis.35 Diese drei sind auszuschließen, weil sie alle in unmittelbarer Nähe des Munizipalforums lagen – was in Verbindung mit der Suche nach Ruhe unseres Florus schwierig zu erklären wäre – und weil keine Gartenanlagen oder Kanäle für diese Tempel bezeugt sind. Außerhalb des Zentrums hingegen lag vermutlich ein Isis-Tempel.36 Auch dieser muss ausgeschlossen werden, da nicht sicher ist, dass die Tempelanlage schon zur Zeit des Florus errichtet war; zudem wird auf Isis selbst im Dialog eher kritisch hingedeutet (Verg. 2,2; vgl. unten 4.2).37

|| semirutae ac fumantis sociae u r b i s ; 45,28,2), oder Trajans Triumph, auf den später im Text hingewiesen wird (Flor. Verg. 1,6)? 31 Dies soll aeris libertate bedeuten: vgl. Rocchi 2014 Anm. 2. 32 Ich habe schon zu demonstrieren versucht (Rocchi 2014, 52), dass der Dialog nicht am Strand – wie der von Gell. 18,1,2–3 und der Octavius von Minucius Felix – inszeniert ist, wie bisher geglaubt wurde (siehe Jal 1967, 106; Richardson 2000, 432–433). 33 Siehe Mar u.a. 2012, 163–180; 260–261; 364–365; Mar u.a. 2015, 288–289. Dieser Tempel sollte das vetus templum Iovis von Suet. Galba 12,1 sein: siehe unten 4.4. 34 Mar u.a. 2012, 146–148 und Abb. 88; Mar u.a. 2015, 289. 35 Siehe Mar u.a. 2012, 328–338 und Mar u.a. 2015, 289; 292 für den Tempel von Tarraco; Fernández Díaz u.a. 2016, 246 für die Tutela in Spanien. 36 Siehe CIL II2/14, 827 und CIL II2/14, 913; Mar u.a. 2015, 292. 37 Von anderen Kulten außerhalb des Stadtzentrums – dem einer gewissen Expeditiensis dea (CIL II2/14, 818) und dem von Mars Campester seit der Zeit von Commodus (CIL II2/14, 839) – lässt sich zu wenig sagen, um sie für unser Ziel in Betracht zu ziehen (darüber siehe auch Mar u.a. 2015, 292).

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Meines Erachtens könnte der mögliche Schauplatz von Florus’ Dialog mit dem Tempel des Augustus identifiziert werden, den Tacitus in seinen Annalen erwähnt: templum ut in colonia Tarraconensi strueretur Augusto petentibus Hispanis permissum datumque in omnis provincias exemplum. Der Bau eines Tempels für Augustus in der Kolonie Tarraco wurde auf Bitten der Spanier gestattet und damit ein Vorbild für alle Provinzen gegeben. (Tac. ann. 1,78,1; Übers. A. Städele)

Es sollte nicht verwundern, dass die Tarraconenses die ersten waren, die im westlichen Reich Augustus einen Kult stiften wollten. Augustus hatte sich seit dem Winter 27 v. Chr., während der Operationen des bellum Cantabricum et Asturicum (siehe Flor. epit. 4,12,46–60), für fast zwei Jahre in Tarraco aufgehalten und dort sein achtes und neuntes Konsulat angetreten. An diesen ehrenvollen Aufenthalt des Kaisers wollten die Bürger der Stadt noch zu seinen Lebzeiten erinnern. Sie hatten ihm schon einen Altar errichtet und auf diesem Altar war später ein Palmzweig wie durch ein Wunder von selbst gewachsen: Eine Gesandtschaft der Spanier sei nach Rom gefahren – so Quintilian – und Augustus habe auf die Mitteilung des mirakulösen Ereignisses mit spöttischem Witz geantwortet: „Man sieht, wie oft ihr das Opferfeuer anzündet.“38 Trotz der bissigen Antwort des Kaisers hat die Stadt das Palmenwunder später auch mit der Prägung von Münzen gefeiert.39 Kurz nach dem Tod des Augustus wurde Tiberius durch die von Tacitus erwähnte Gesandtschaft offiziell um die Erlaubnis gebeten, einen Tempel für den divus Augustus errichten zu dürfen: Die Tarraconenses stifteten also einen im Westen neuen Kult und zugleich ein besonderes Merkmal für die städtische Identität von Tarraco selbst.40

|| 38 Vgl. Quint. inst. 6,3,77: Augustus, nuntiantibus Tarraconensibus palmam in ara eius enatam, ‛apparet’, inquit, ‛quam saepe accendatis’. Die Palme galt als Symbol der Üppigkeit. Die Tarraconenses müssen gemeint haben, dass das Wunder Sieg und Reichtum verkündete. Vgl. ein im 2. Jh. v. Chr. geschehenes Wunder (Calp. hist. 40 Cornell bei Plin. nat. 17,24): nec non et Romae in Capitolio in ara Iovis bello Persei enata palma victoriam triumphosque portendit. 39 Vgl. RPC 1.1, z. B. Nr. 218. 40 Der Tempel ist auch auf zeitgenössischen Münzen bezeugt, welche die Stadt prägen ließ, „um sich damit […] vor anderen Städten zu rühmen“ (Zanker 1987, 301). Die Münzen selbst bezeugen aber zwei Bauprojekte, wohl den ersten Entwurf (vgl. RPC 1.1 Nr. 219; 221–223) mit achtsäuligem Tempel auf krepidoma und den durchgeführten Bau mit achtsäuligem Tempel auf Podium (RPC 1.1 Nr. 224).

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Der Standort des Augustus-Tempels wurde kontrovers diskutiert, aber vor kurzem auf der oberen Terrasse des sogenannten „Provinzialforums“ zweifelsfrei identifiziert.41 Das „Provinzialforum“ ist ein grandioser monumentaler architektonischer Mehrzweckbau, der seit der flavischen Zeit auf dem Hügel hinter Tarraco erbaut wurde. Am Tempel, der seit dem Beginn der tiberischen Zeit geplant und gebaut worden war, fanden nochmalige Bauarbeiten für den Ausbau des temenos statt, während der genannte Hügel einen neuen prunkvollen Ausbau auf drei Niveaus zugleich bekam: Als Krönung der Anlage galt der sogenannte „Kultbezirk“, eine breite Terrasse (153m x 133m), die einen zentralen Bau, unseren Tempel, für die kaiserliche Verehrung hatte und auf drei Seiten von einer porticus umgeben war; die porticus ihrerseits war mit einem großen axialen Saal und alternierenden Exedren ausgestattet (Modell für diese porticus war das flavische templum Pacis in Rom); in der mittleren Position war eine von cryptoporticus und porticus umgebene Terrasse von riesigen Proportionen (320 m x 175 m) und mit Gartenanlage, die den administrativen und zeremoniellen Aufgaben des conventus provinciae diente. Auf der untersten Ebene befand sich der circus aus der Zeit von Domitian für die Wagen- und Pferderennen und für die Inszenierung der kaiserlichen Macht in der Person des Statthalters. Es scheint mir plausibel, dass die sakrale Umgebung, in der der Autor des Vergilius in trajanischer Zeit nach Erholung gesucht hatte, mit dem oberen Teil des eben beschriebenen Komplexes identifiziert werden kann: der Ort ist deutlich von der unteren Stadt getrennt, also für die Erholung geeignet, aber auch celeberrimus und dementsprechend für ein zufälliges Treffen mit reisenden Fremden passend. Nach dem heutigen Wissensstand erlauben uns viele unverzichtbare Elemente der römischen ars topiaria, eine Gartenausstattung mindestens für die mittlere Terrasse für sicher zu halten: Es handelt sich um einen Aquädukt, eine Sektion eines euripus, die Fragmente von vier großen Kratern aus Marmor mit bacchischen Motiven.42 Aber dieselbe Situation darf auch für den „Kultbezirk“, die höchste Terrasse, vorausgesetzt werden: Dort sind Exedren, die sich an die porticus anschließen, identifiziert und Fragmente eines weiteren Kraters aus Parischem Marmor gefunden worden.43 || 41 Ich erlaube mir hier, die Situation des problematischen Standortes des Tempels nur in großen Zügen und nach den Ergebnissen der letzten Forschung zu präsentieren: vgl. insbes. Ruiz de Arbulo 2007; Ruiz de Arbulo 2009, 179–183; sowie die Beiträge in Mar u.a. 2012, 348–366 und Mar u.a. 2015, 83–95. 42 TED’A 1989, 168–169; Ruiz de Arbulo 2007, 174 und Anm. 94; Mar u.a. 2015, 272. Zu der römischen Gartenanlage siehe Luschin 2010 (229–30 über Tarraco). 43 Vgl. Macias u.a. 2007, 775 und Abb. 3 (Exedren) und Macias u.a. 2007, 782 und Abb. 11.3 (Krater).

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Da eine Inschrift bezeugt, dass man in Tarraco schlechthin von „dem Tempel“ sprechen konnte (CIL II2/14,2 1124: curatori templi | praef(ecto) murorum), darf man mit Geza Alföldy (CIL II2/14,2 ad loc.) annehmen, dass es sich um den Augustus-Tempel gehandelt haben kann und dass die Inschrift selbst auf 122/123 n. Chr. zu datieren ist (für die Datierung siehe auch unten Abschnitt 3).44 Wenn diese Hypothese nicht falsch ist und der Tempel im verlorenen Teil des Dialogs eindeutig identifiziert worden wäre, hätte man sogar eine thematische Verbindung zwischen dem augusteischen numen des Tempels und dem vergilischen Thema dieses rhetorischen Schuldialogs, wie es auch in der Tradition der Dialoge üblich war. Man kann erneut auf das erste Buch der varronischen Res rusticae hinweisen und die deutliche Beziehung zwischen dem Thema des Werkes und der Aedes Telluris erwähnen: In dem der Tellus gewidmeten Tempel auf den Carinae begegnet Varro seinen Gesprächspartnern, und sie schauen sich das Fresko mit der geographischen Karte Italiens an (1,2,1: in pariete pictam Italiam), welches den Anlass zum Beginn des Dialogs liefert. Die Beispiele könnte man noch vermehren. Man könnte an den Rahmen von Varros drittem Buch der Res rusticae über Landgut-Verwaltung, welches in der villa publica spielt, denken oder auf den „archäologisch-philosophischen“ Spaziergang vom Dipylon zur Akademie im fünften Buch von Ciceros De finibus über die Lehre des Akademikers Antiochos von Askalon verweisen.45 Die Frage, warum die Anspielungen auf den Namen der Stadt erst nach der Erwähnung des Tempels geschehen und warum die Beschreibung der Ortschaft noch später und wesentlich weniger gründlich ausfällt, lässt sich leicht beantworten: Florus schreibt weder ein Städte-Enkomion noch einen Reiseführer. Nach den Konventionen des antiken Dialogs und der Stadtbeschreibungen reichen nur wenige Andeutungen aus; es muss nur eine Auswahl von räumlichen und geographischen Eindrücken des Standortes wiedergegeben werden, damit die Erwartungen des Rezipienten befriedigt werden und er mit seinen Vorkenntnissen bzw. seiner Einbildungskraft eventuell weitere Details der Stadt ergänzen

|| 44 Die Inschrift von einem anderen curator, einem curatori [C]apitoli (CIL II2/14,4 2305), bezeugt durch die genauere Bestimmung des Tempels, mit dessen curatela er beauftragt worden war, dass „der Tempel“ von CIL II2/14,2 1124 antonomastisch gemeint ist. 45 Cicero spricht deutlich von der Erinnerungskraft der Orte (fin. 5,2): tanta vis admonitionis inest in locis. Darüber und über die Beziehung zwischen Thema und Inszenierung von Ciceros Dialogen vgl. Narducci 2003, insb. 134–135.

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kann.46 Dadurch wird der Stadtraum – wie „eine Art petrifizierte Psyche“ der Leser – „in einer Erzählung stimmungs- oder handlungsbestimmend“.47 Und das behielte auch dann seine Geltung, wenn sich die Identifizierung von Florus’ sakraler Anlage mit dem Augustus-Tempel als falsch erweisen würde.

3 Politik (und Datierung des Fragments): Domitian, Trajan und Hadrian Wir sollten uns als nächstes fragen: Ist die Raumdarstellung in diesem Dialog mit einer politischen Aussage zu verbinden? Da von Augustus schon die Rede gewesen ist (oben 2.3), bleibt noch von den anderen erwähnten und nicht erwähnten Kaisern zu sprechen, und zwar von Domitian, Trajan und Hadrian. Wie schon gesagt, beinhaltet der Dialog eine interessante Stellungnahme gegen Domitian: (1,3) ‘Florum vides; fortasse et audieris, si tamen in illo orbis terrarum conciliabulo sub Domitiano principe crimini nostro adfuisti.’ (1,4) ‘Tune es […] ex Africa, quem summo consensu poposcimus, invito quidem Caesare atque resistente, non quod tibi puero invideret, sed ne Africae corona magni Iovis attingeret?’48 (Vgl. auch 1,9: postquam ereptam manibus et capiti coronam meo vidi.) (1,3) Du siehst Florus vor dir; vielleicht hast du ihn auch gehört, wenn du unter Kaiser Domitian in jenem berühmten Agon mit weltweiter Beteiligung dabei warst, als mir Unrecht widerfuhr. (1,4) Bist du derjenige aus Afrika, den wir einstimmig als Gewinner verlangten? Aber ein unwilliger Caesar widersetzte sich, nicht weil er dich, den Jungen, beneidete, sondern damit die Krone des großen Jupiter Afrika nicht zuteil würde. (Vgl. auch 1,9: „nachdem ich mir von den Händen und dem Kopf die Krone entrissen sah.“) (Flor. Verg. 1,3–4)

|| 46 Siehe darüber Fuhrer/Mundt/Stenger 2015, insbes. 4–5. 47 Das erste Zitat ist aus der Rede von Jacques Herzog anlässlich der feierlichen Eröffnung der Elbphilharmonie Hamburg am 11.1.2017 frei entnommen („Die real existierende Stadt kann man […] als eine Art petrifizierte Psyche ihrer Bevölkerung verstehen“); das zweite Zitat stammt aus Fuhrer 2015, 88. 48 Ich schlage vor, das überlieferte attingeret als contingeret zu verstehen (vgl. Prud. perist. 5,525–526: simplex sed illis contigit/corona poenarum). Diese Bedeutung, die auch Apul. apol. 100,2 belegt ist, würde sowohl größere Eingriffe in den Text (vgl. ne Afric corona […] attingeret von Ritschl) als auch Verben wie obtingere (Baehrens) oder accingere (Verweij dubitanter), die mit corona nicht gut passen oder nicht belegt sind, vermeiden.

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Wir werden durch die Reaktion des Baetikers darüber informiert, dass Domitian im Kapitolinischen Agon trotz der Gunst des Publikums den jungen Florus nicht ausgezeichnet habe, anscheinend aus einer (vermeintlich) feindlichen Gesinnung den Afrikanern gegenüber:49 Das damalige Geschehen wird auf jeden Fall von Florus als eine bittere, ungerechte Enttäuschung empfunden.50 Das ist schon alles, was der Autor über Domitian zu sagen hat, obwohl Spanien unter Vespasian das ius Latii bekommen und Tarraco selbst gerade unter den Flaviern den imposanten Ausbau auf der Akropolis erlebt hatte. Dieser Verzicht auf weitere Äußerungen könnte als eine absichtliche Ausblendung oder eine Art damnatio memoriae interpretiert werden. Aus dem folgenden Lob des Triumphs und der Herrschaft Trajans – wenngleich nicht namentlich genannt – wird zudem klar, dass sich der Autor von der Ära Domitians absetzt: Vielleicht betreibt er eine eigene Neupositionierung aufgrund der Teilnahme an den Festspielen des Flaviers, der nachher als Tyrann galt, vielleicht aber passt er sich einfach der später herrschenden Domitiankritik an, wie es bei anderen Autoren deutlich zu beobachten ist:51

|| 49 Wie Hardie 2003, 145 richtig bemerkt: „whether or not this was true, it is valuable evidence for the kind of suspicions and accusations which were circulated by ‘sore losers’ in the febrile atmosphere of the games circuit“. Dass sich Domitian der Begeisterung der fautores entschlossen widersetzen konnte, ist anderweitig belegt (Suet. Dom. 13,1): sed et Capitolino certamine cunctos ingenti consensu precantis, ut Palfurium Suram restitueret pulsum olim senatu ac tunc de oratoribus coronatum, nullo responso dignatus tacere tantum modo iussit voce praeconis (Palfurius Sura stammte aus der Tarraconensis und war ein delator unter Domitian). Siehe auch die folgende Fußnote. 50 In diesem Sinne ist das angebliche ‚Verbrechen‘ des Florus entweder als ‚das von mir erlittene crimen‘ oder als ‚das mir vorgeworfene crimen, aus Afrika zu stammen‘ zu deuten. Vgl. auch die Enttäuschung des Statius und seiner Frau nach seiner Niederlage im Kapitolinischen Spiel von 90 n. Chr. (silv. 3,5,31–33: tu, cum Capitolia nostrae/infitiata lyrae, saevum ingratum-que dolebas/mecum victa Iovem). 51 Das ist bei Martial und Plinius, ganz am Anfang der neuen Zeiten, und, noch später, in der praefatio von Tacitus’ Historiae oder bei Iuvenal zu beobachten.

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(1,6) in foro omni c l a r i s s i m u s i l l e d e D a c i a t r i u m p h u s exultat;52 (1,7) […] l u x e t f u l g o r f e l i c i s i m p e r i , qui in se rapit atque convertit omnium oculos hominum ac deorum.53 ( 1,6) Auf jedem Platz jubelt jener glänzendste Triumph über Dakien; (1,7) […] der blitzende Glanz des erfolgreichen Imperiums, der die Blicke aller Menschen und Götter auf sich richtet. (Flor. Verg. 1,6–7)

Ob Florus hier den ersten oder den zweiten Triumph des Trajan meint (102 oder 107 n. Chr.), bleibt unklar, und infolgedessen sind sowohl der fiktive Zeitpunkt des Dialogs als auch der terminus post quem für die Abfassung des Werkes nicht sicher zu bestimmen. Trotzdem neigen die Forscher dazu, die Entstehung des Dialogs nicht lange nach Trajans Triumphen anzusetzen, auch wenn die Angabe nur den fiktiven Dialogzeitpunkts bestimmt.54 Diese Vermutung ist aber nicht bindend: Wenn die fiktive Handlung noch innerhalb des ersten Jahrzehntes datiert werden muss, könnte der Text noch in der späten trajanischen oder auch in der fortgeschrittenen hadrianischen Zeit abgefasst worden sein.55 In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass Kaiser Hadrian den Winter zwischen 122 und 123 n. Chr. in Tarraco verbrachte und dort einen conventus aller Hispani ausrief, um eine Aushebung durchzuführen (Hist. Aug. Hadr. 12,3–4). Er besuchte Tarraco genau 150 Jahre nachdem sich Octavianus selbst in der Stadt aufgehalten und dort den Ehrennamen Augustus angenommen hatte (siehe oben 2.3). Es ist sicherlich kein Zufall, dass Hadrian, der später mit einer Reihe von Statuen auf demselben „Provinzialforum“ geehrt wurde (CIL II2/14,2

|| 52 Es scheint mir sehr unwahrscheinlich, dass man in dieser Passage einen Hinweis auf ein vermeintliches carmen de bello Dacico, das Florus anlässlich des certamen Capitolinum zu Ehren von Domitian gesungen habe und das später für Trajan wiederverwertet werden konnte, finden kann (so Friedländer 1920, 198; Morelli 1916, 101–102). Und das unabhängig von den vorausgehenden Worten ubi (d.h. Rom) versus tui a lectoribus concinuntur, die deutlich auf den Ruhm von Florus in Rom selbst verweisen. 53 Hierhin darf man eine metonymische Umschreibung Trajans erkennen. Dass sich Trajan nicht davor scheuen musste, vor die Götter und die Menschen zu treten, war ein propagandistisches Motiv, dessen sich auch Plinius bedient hatte (Paneg. 63,8): non adeo deos hominesque contempserant (d.h. die vorherigen Kaiser), ut in illa spatiosissima sede (d.h. auf dem Marsfeld) hominum deorumque coniectos in se oculos ferre ac perpeti possent. Tibi contra et moderatio tua suasit et sanctitas, ut te et religioni deorum et iudiciis hominum exhiberes. 54 Vgl. z. B. Morelli 1916, 102; Jal 1967, 105 und 106. 55 Vgl. jüngst Verweij 2015, 85: „a rough date (viz. ca. 105–120) for the writing of the text (and not only for the setting of the dialogue)“; siehe auch Hose 1994, 57–61, der überzeugend für die Abfassung der Epitoma in hadrianischer Zeit argumentiert.

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1154), den Tempel des Augustus sumptu suo restaurieren ließ.56 Er stellte sich damit demonstrativ als imitator Augusti dar, auch indem er sich kurz darauf auf neu geprägten Münzen mit der „monumental-schlichten“57 Titulatur Hadrianus Augustus präsentierte.58 Unabhängig davon, ob unser Florus der Dichter ist, der mit Hadrian befreundet war und mit ihm einen berühmten Gedichtwechsel gehabt hat, sollte man diese Umstände nicht vernachlässigen.59 Der adventus des Kaisers mit seiner Gefolgschaft könnte ein Echo im Dialog selbst gefunden haben, d.h. der Besuch könnte Anlass für die Abfassung und für die Inszenierung der Handlung in der ‚glücklichen Vergangenheit‘ von Trajans Regierungszeit gewesen sein.60

4 Mythologie Die Aspekte, die sich in der Beziehung von Stadtdarstellung und politischen Aussagen eröffnet haben, sollten unser Augenmerk auch auf den Einsatz der Mythen in diesem Text lenken. Erfüllen die Mythen vor allem eine ästhetische Funktion, indem die Nähe zu poetischen Texten den Stil des Redners schmückt? Oder knüpft Florus an Traditionslinien städtischer Selbstdarstellung oder kaiserlicher Propaganda an? Im Dialog werden verschiedene Gottheiten und Helden bzw. Heldinnen mehr oder weniger deutlich erwähnt. Bei einer genaueren Betrachtung scheinen einige der mythologischen Motive eher einer inneren Logik des Textes zu entsprechen. Sie erfüllen nämlich vor allem narrative oder ästhetische Funktionen. Andere hingegen erlauben auch eine tiefergehende Interpretation durch die eben formulierte Fragestellung (siehe unten, insb. 4.3 und 4.4).

|| 56 Hist. Aug. Hadr. 12,3: sumptu suo aedem Augusti restituit. Der schon erwähnte curator templi von CIL II2/14,2 1124 soll sich um die Restaurierung von diesem Tempel gekümmert haben, genauso wie ein anderer als curator Capitoli eine ähnliche Maßnahme für das Kapitol beaufsichtigt hatte (CIL II2/14,4 2305). Siehe oben Anm. 44. 57 Fündling 2006, 617. 58 Für Hadrian in Tarraco siehe Birley 1997, 142–150; Birley 2004, 61; 63–64; Plácido Suárez 2004, 29; Fündling 2006, 602–603, der aber die imitatio Augusti eher mit dem diplomatischen Verhalten den Parthern gegenüber verbindet. 59 Florus verspottete die Reisen des Kaisers (Hist. Aug. Hadr. 16,3–4 = Flor. carm. fr. 1 Mattiacci), darunter die nach Britannien von 121 n. Chr.; für die Antwort des Kaisers siehe oben Anm. 14. 60 Genauso wie der um die Schwelle zwischen dem 1. und dem 2. Jhr. n. Chr. verfasste Dialogus de oratoribus unter Vespasian spielt.

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4.1 Pelagi deae In einem der rhetorisch elaborierten Sätze, mit denen Florus seine Entscheidung rechtfertigt, sich nach dem langen Reisen endlich in Tarraco niederzulassen, sagt er (2,5): si vagus gubernator (sc. essem), iam dicata pelagi deae prora penderet („wenn ich Steuermann wäre, würde mein Bug schon längst als Weihgabe [in einem Tempel] hängen“). Die anonyme Göttin könnte entweder Tethys, Gattin von Okeanos, oder – eher – eine Meeresnymphe sein. Zur letzten Interpretation lässt die Metamorphose der Schiffe in der Aeneis tendieren, in der Kybele die trojanischen Schiffe anspricht und ihnen befiehlt, aufs Meer hinauszufahren (Verg. Aen. 9,117: ite deae pelagi; vgl. auch ebd. 10,219–235, insb. 231: nymphae pelagi), und aus ihren Rümpfen (prorae) durch ein Wunder Nymphen entstehen (9,120–122).61

4.2 Isis Die Göttin, deren römischer Tempel auf dem Marsfeld 80 n. Chr. von Domitian prächtig wiederaufgebaut worden war, wird von Florus als peregrina dea andeutend erwähnt,62 um einer Etappe seiner Reise einen erhabenen Ton zu verleihen (2,2): ut ora Nili viderem et populum semper in templis otiosum peregrinae deae sistra pulsantem („um die Mündungen des Nils zu sehen und das in den Tempeln immer müßige Volk, das die Rasseln der fremden Göttin schlägt“). Diese jedenfalls nicht schmeichelhafte Bemerkung kombiniert zwei Klischees über Ägypten. Auf einer Seite war Ägypten ein sehenswertes Reiseziel – wie z.B. Griechenland –;63 auf der anderen galt es als ein Wunderland, mit dem sich Exotisches und Aberglauben verbinden.64

4.3 Ceres und Triptolemos Ceres wird einmal antonomastisch als Gottheit Siziliens zitiert (2,1: primum Siciliam nobilem vidi, domesticam Cereris, „Als erstes habe ich das edle Sizilien, die Heimat von Ceres, gesehen“); später wird sie als Terra mater auch in Verbindung

|| 61 Beide vergilischen iuncturae (deae pelagi und nymphae pelagi) haben ein erfolgreiches Fortleben in der lateinischen Dichtung gehabt, wie man aus dem ThLL X 1, 991,27–29 (Malsbary) erfährt. 62 Dieselbe iunctura wird auch in Apul. met. 8,28,4 verwendet. 63 Wie bekannt, wurde Ägypten 130/131 n. Chr. von Hadrian besucht. 64 Über die Tendenzen der frühkaiserzeitlichen Ägyptenrezeption siehe Leemreize 2014, 56–59.

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mit Triptolemus zitiert. Mit dem attischen Halbgott identifiziert sich Florus selbst. Er vergleicht nämlich seine eigene Reise mit der des kulturbringenden Triptolemos: Vides, hospes, quae s p a t i a c a e l i peragraverim, quae maris quaeve terrarum. N o n a l i t e r , mehercules, s i c o n f e r r e p a r v i s m a g n a l i c e t , sacer ille iuvenis terras pervolitavit, cui Terra mater capaces oneraverat frugibus amictus et, cum a l i t e s e r p e n t e currum ipsa iunxisset, nisi toto orbe peragrato vetuit suas redire serpentes. Du siehst ja, lieber Gast, welche Himmels-, Meeres- oder Erdenweiten ich durchstreift habe. Nicht anders, bei Herkules, wenn man Großes mit Kleinem vergleichen darf, flog jener gottbegnadete junge Mann über alle Länder herum, dem die Mutter Erde den geräumigen Umhang mit Feldfrüchten gefüllt hatte, und nachdem sie ihm mit geflügelten Schlangen den Wagen bespannt hatte, verbot sie, dass seine Schlangen zurückkommen, bevor sie die ganze Erde durchstreift hatten. (Flor. Verg. 2,4)

Triptolemos ist hier in seiner bekannten Ikonographie auf dem von Schlangen gezogenen Wagen dargestellt. Über andere intertextuelle Bezüge hinaus65 darf man hier insbesondere eine augenfällige Referenz zu Vergils Georgica hervorheben: non aliter […] si conferre parvis magna licet verweist, mit Auflösung der metrischen Sequenz durch leichte Änderungen, eindeutig auf Verg. georg. 4, 176: non aliter, si parva licet componere magnis. Obwohl die Wortwahl vergilisch ist, entspricht der Vers einem Sprichwort,66 welches dazu dient, den Vergleich scheinbar unvergleichbarer Elemente zu präsentieren. Darüber hinaus spielt der attische Held selbst in Vergil kaum eine Rolle, während er von Ovid in den Exildichtungen einmal autobiographisch herangezogen wird (trist. 3,8,1–2: nunc ego Triptolemi cuperem consistere curru,/misit in ignotam qui rude semen humum). Horaz lieferte vielleicht die Junktur serpente […] alite, die für Medeas Wagen benutzt wird (Hor. epod. 3,19).67 In dieser poetisch inspirierten und rhetorisch gestalteten Prosa ähnelt der Vergleich, den Florus herstellt, letztlich der detaillierten Ekphrasis eines Kunstwerkes (einer Wandmalerei oder eines Gemäldes?), da all die Elemente der

|| 65 Siehe z. B. spatium/spatia caeli, eine bekannte poetische Junktur (vgl. u.a. Lucr. 2,1110 oder Verg. ecl. 3,105), die aber hier auf keine besondere Stelle zurückzuführen ist. Mit der Sprache der Epitoma gibt es u. a. eine Übereinstimmung in 2,1,2 (populus Romanus) totum […] orbem terrarum […] peragravit. Die Epitoma beinhaltet auch eine Anspielung an die eleusinische Sage von Demeter und Triptolemos (3,5,10): Athenas urbem […] frugum parentem. 66 Vgl. Otto 1890, Nr. 1008. Vergil selbst benützt es schon in ecl. 1,24. 67 Und die nirgendwo anders in der klassischen Latinität zu finden ist.

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Ikonographie des Helden vorhanden sind: Schlangen, Wagen, amictus, fruges, die Göttin als Helferin.68 Die Passage erfüllt also einen hohen rhetorischen Anspruch – doch damit ist ihre Intention vermutlich nicht ganz erschlossen: Der eleusinische Halbgott Triptolemos war schon unter Claudius zu einem Motiv der kaiserlichen Propaganda geworden: In Anlehnung an ptolemäische Herrscherallegorien stilisierte sich der Kaiser auf zwei berühmten Kameen, die in Paris und Sankt Petersburg aufbewahrt sind, „als Neos Triptolemos, als Kornspender und Ernährer der Römer“.69 Zu Florus’ Zeit war Triptolemos, der den Schlangenwagen besteigt, auf lokalen Münzen aus Korinth und Alexandria zu finden, welche auf der Vorderseite Hadrians Profil tragen.70 Es ist bekannt, dass sich Augustus (Suet. Aug. 93; Cass. Dio 51,4,1; 54,9,10) und Hadrian (IG II2 3620; Cass. Dio 69,11,1; Hist. Aug. Hadr. 13,1) – wie später auch Antoninus Pius und Mark Aurel – in den eleusinischen Kult einweihen ließen und dass beide in Athen Getreide verteilten.71 Darf man auch hierin ein Hinweis auf eine Datierung von Florus’ Werk in hadrianische Zeit finden?

4.4 Jupiter und Europa Jupiter ist der Gott, der im Dialog am häufigsten auftritt. Er wird zuerst im Zusammenhang mit den ludi Capitolini (1,1: corona magni Iovis) erwähnt, die von Domitian ihm zu Ehren gestiftet wurden.72 Später wird er als antonomastischer Gott von Kreta flüchtig erwähnt, ein rhetorisches Mittel, um eine Etappe von Florus’ Reise zu markieren (2,1: deinde Creten, patriam Tonantis). Ein drittes Mal erscheint er als Entführer der phönizischen Prinzessin Europa und als städtischer Gott von Tarraco:73

|| 68 Über Triptolemos siehe Schwarz 1987 (zu deren Quellenkatalog Florus’ Stelle hinzugefügt werden sollte). 69 Vgl. Richter 2015, 67–68 (Zitat 68); Schwarz 1987, 172–173. 70 Siehe Schwarz 1987, 188–189 für die alexandrinischen und korinthischen Prägungen (ebenda wird auch ein alexandrinischer Billon aus trajanischer Zeit besprochen). Später erscheint Triptolemos auch auf Schaumünzen des Antoninus Pius (Schwarz 1987, 185–186). 71 Vgl. Spawforth 2012, 169; 246. Eunapios bezeugt, dass das Motiv des Kaisers als Triptolemos und „Kornspender“ auch in der Panegyrik benutzt wurde: Der Sophist Prohairesios verglich mit dem attischen Helden den Kaiser Constans, welcher ihn mit der Aufsicht der Athener Getreideversorgung beauftragt hatte (Eunap. V.S. 492). 72 Für die bekannte Selbstidentifizierung Domitians mit Iuppiter, die z. B. von Stat. silv. 1,6,27 bezeugt wird, gibt es selbstverständlich bei Florus keinen Platz mehr. 73 Man kann den seltenen Ausruf bone Iuppiter (3,8) vernachlässigen.

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… adest etiam peregrina nobilitas. Quippe si vetera templa respicias, hic ille colitur corniger praedo, qui T y r i a m v i r g i n e m portans, dum per tota maria lascivit, hic amisit et substitit et, eius quam ferebat oblitus, subito nostrum litus adamavit. … es gibt sogar einen ausländischen Adel. Wenn du nämlich auf die älteren Tempel achtest, wird hier jener hörnertragende Entführer verehrt, der, während er sich mit der tyrischen Jungfrau über allen Meeren vergnügte, sie hier verloren hat und sich länger aufhielt und, ohne an diejenige, die er trug, zu denken, sich sofort in unsere Küste verliebt hat. (Flor. Verg. 2.8–9)

Der Tempel, der zu den vetera templa der Kolonie gehörte und wo Jupiter verehrt wurde, könnte vielleicht mit dem Capitolium identifiziert werden, wie auch das von Sueton (Galba 12,1) erwähnte vet[us] templ[um] Iovis von Tarraco mit demselben republikanischen Kapitol identifiziert wird.74 Der corniger praedo ist hingegen der in einen Stier verwandelte Jupiter,75 während Europa als Tyri[a] virg[o] bezeichnet wird: Diese Junktur kann wohl aus der Europa-Episode von Ovids Metamorphosen entliehen sein (2,845: virginibus Tyriis).76 Bei Ovid gelangt aber der Stier nach Kreta, wie in der kanonischen Version der Sage. Eine abweichende literarische Variante lässt hingegen den Stier und die virgo nach Teumessos in Böotien kommen.77

|| 74 Darüber siehe Mar u.a. 2012, 175–178 (mit der Identifizierung des vet[us] templ[um] Iovis mit dem Kapitol); Mar u.a. 2015, 292 und 305 schlagen vor, dass der von Florus gemeinte Tempel ein möglicher (aber archäologisch nicht nachweisbarer) Bau aus dem 3. Jh. v. Chr. sei. Ich glaube, dass nicht unbedingt zwei Tempel von Iuppiter für Tarraco postuliert werden müssen. Ein älterer Kult oder eine ‚alte‘ Gründungssage o.ä. könnten sich mit dem Kult von Iuppiter Capitolinus einfach überlagert haben. ‚Vetera‘ templa muss ferner nicht notwendig auf sehr alte Zeiten verweisen, denn vetus drückt nur einen relativen Begriff aus, aus dem keine absolute zeitliche Festlegung möglich ist. Vielmehr gibt das Adjektiv eine relative Chronologie an, in der ‚alt‘ durch den Bezug auf etwas Jüngeres bestimmt wird. In Florus’ Text scheint dieses jüngere Pendant der Tempel zu sein, in dem der Dialog stattfindet. 75 Und nicht ein Iuppiter Ammo, wie Schulten 1932, 2401–2402 aufgrund des Fundes von clypei mit Iuppiter Ammon vermutet hatte, welche zu der Dekoration der Attiken des ‚Kultbezirkes’ (siehe oben 2.3) gehört haben müssen und eine imitatio des römischen forum Augusti darstellten (darüber vgl. jetzt Mar u.a. 2015, 125–128). 76 Diese Junktur findet sich übrigens im lateinischen corpus nur noch in Verg. Aen. 1,336 (Venus spricht: virginibus Tyriis mos est gestare pharetram), der höchstwahrscheinlich Ovid inspiriert hatte, und – nicht zufällig – im vergilischen Cento Europa der Anthologia Latina (14,9). 77 Vgl. Helbig 1884/1886, 1411.

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Florus distanziert sich seinerseits von beiden Versionen.78 Europa wird nach Tarraco entführt, um da vom Stier letztlich vernachlässigt zu werden: ein bemerkenswertes Ende für einen Brautraub. Dies scheint aber kein Mittel des Autors zu sein, um dem Dialog eine weitere Verbindung zum Mythos zu verleihen, als ob er zeigen möchte, dass mehrere Sagen nach Tarraco führen. Aus der Formulierung lässt sich eher ersehen, dass sich die Stadt selbst mit der Ankunft von Jupiter und Europa schmücken wollte. Falls es so ist, könnte die Ankunft des mythischen Paars in Tarraco als eine der typischen Re-Funktionalisierungen von Sagen (von der Seite lokaler Eliten) mit einem identitätsstiftenden Zweck interpretiert werden. Wann, wie und wieso die lokale Version entstanden ist, kann man aber nur mutmaßen. Handelt es sich z.B. um einen antiquarischen Versuch der Römer (3./2. Jhr. v. Chr.), ihr Hauptquartier in Spanien mit einer tyrisch-phönizischen Verbindung zu legitimieren, und zwar durch eine mythische Episode, die ‚älter‘ als die tyrische Gründung von Karthago oder Gades (Vell. 1,2,3) und sogar ‚älter‘ als die Ankunft des griechischem Herkules (bzw. tyrischen Melqart) in Spanien ist? Oder ist dies ein durch Emporion und Massalia vermittelter Mythos? Welcher auch immer der Ursprung von dieser Version des Mythos war: Die Sage von Europa und Jupiter in Tarraco lässt sich mit der Ankunft oder Anwesenheit von mythischen Helden sowohl vor dem trojanischen Krieg (z.B. Herkules) als auch nach der Zerstörung von Troja in Verbindung bringen. Wir wissen nämlich von Landungen griechischer Helden wie Odysseus und Teukros und anderer in Spanien.79 Odysseus soll so weit gereist sein, dass er sogar nach Lusitanien gelangt sei und dort Olysipo (Lissabon) gegründet habe.80

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|| 78 Diese Variante des Mythos ist von keiner weiteren Quelle bezeugt. Deswegen ist sie vielleicht in den Arbeiten über die Rezeption von Europas Sage vernachlässigt worden (darunter siehe jüngst Renger 2008 und Heldmann 2016). 79 Vgl. Strabo 3,2,13; 3,4,3 (seine Quelle war die Periegesis des Asklepiades von Myrleia, welcher eine Zeitlang auch in der Turdetania gelebt und gelehrt hatte). 80 Wie man von Solinus erfährt (23,6): ibi oppidum Olisipone Ulixi conditum.

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Markus Hafner

Der ‚Mythos Athen‘ im literarischen Diskursfeld fiktionaler Erzählprosa der Kaiserzeit Lukian, Chariton und Heliodor Abstract: As recent excavations of auditoria at Rome suggest, which lie adjacent to the Forum Traiani and which were originally designed for the performances of sophists and thus associated with the so-called Athenaeum donated by Hadrian, Athens as the capital of Atticism and Greek sophistry was esteemed a central place even for Roman self-definition in the Imperial Era. Fictional prose texts of this age provide further insights into the perception of Athens, since it is there that we come across different (affirmative and/or critical) perspectives concerning the centrality of Athens within the ideology of philhellenism, especially its reputation as the home of wisdom, an exemplary historical place and the birthplace of rhetoric and drama. By contextualizing and contrasting selected passages from Lucian, Chariton and Heliodorus with their (extratextual) cultural environment, I shall outline how these texts dealt with the dynamic model of Athenocentrism.

1 Hadrians römisches Athenaeum Bei Grabungen an der Piazza della Madonna di Loreto in Rom, die östlich an die Piazza Venezia grenzt, kamen im Jahr 2009 im Nordwest-Sektor des Forum Traiani neue bauliche Entdeckungen ans Licht:1 Die dabei als drei Vorlesungsräume (auditoria) klassifizierten Gebäude Hadrianischer Zeit bieten Identifikations-

|| 1 Zu den archäologischen Ausgrabungen, die 2007 im Zuge der Konstruktion einer dritten UBahn-Linie in Rom eingeleitet wurden, vgl. Egidi et al. 2010 und die rezente Beurteilung bei López García 2015. || Anmerkung: Ich danke an dieser Stelle Paolo Cecconi sowie Christian Tornau für die Möglichkeit, das Thema des Beitrags im Rahmen des Würzburger Workshops präsentieren zu können. https://doi.org/10.1515/9783110656893-011

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möglichkeiten mit dem in antiken Texten thematisierten Athenaeum an,2 einer Schenkung Kaiser Hadrians. Westlich des templum divi Traiani konnte eine Sequenz rechteckiger Räume rekonstruiert werden, wo sowohl öffentliche Lesungen und Vorträge abgehalten wurden als auch – sofern die Identifizierung mit dem Athenaeum zutrifft – in vieldeutiger Nähe zur Trajanssäule die kulturelle wie politische Praxis des Kaiserkults öffentlichkeitswirksam zelebriert wurde.3 Die Räumlichkeiten sind Bestandteil einer Renaissance Athens in Hadrianischer Zeit, die mittels der Einrichtung des Athenaeum gewissermaßen nach Rom Einzug hielt:4 Im Sinne der philhellenischen Ideologie wurde die urbs Roma sozusagen zur Erbin und Traditionshüterin Athens und der Kaiser zum rechtmäßigen Verwalter dieses Erbes und dieser Tradition. Das Athenaeum kann so als propagandistischer Ausdruck einer neuen, vom römischen Kaiser garantierten Friedenszeit verstanden werden, die eine Konzentration der Oberschicht auf geistige Bildungsgüter ermöglicht. Hier wurde den Römern das Beste aus Athens einstiger Glanzzeit zugänglich und somit erlebbar gemacht, wie eine bei Flavius Philostratos in Severischer Zeit berichtete Episode vom Auftritt des Hadrian von Tyros in Rom verdeutlicht (V.S. 2,10, Olearius p. 589):5 Dem gefeierten Starsophisten, der bei Herodes Atticus in Athen ausgebildet worden war, wurde unter der Herrschaft von Marc Aurel und Commodus ein Lehrstuhl für Rhetorik zugesprochen.6 Die

|| 2 Belege für das Athenaeum bieten Cassius Dio 51,22,1; 73,17,3 und 4 (angesprochen wird die ἐν αὐτῷ τῶν πεπαιδευμένων ἄσκησις) sowie 74,14,4; Philostr. V.S. 2,10 (Olearius p. 589); Hier. in Gal. 3 praef.; Aur. Vict. Caes. 14,2–4; Hist. Aug. Alex. Sev. 34; 35,1–2; Gord. 3,4; Pert. 11,3; Sidon. epist. 9,9,13; 9,14; 9,16,25–28. Zum Athenaeum bei den Schriftstellern der Historia Augusta vgl. Braunert 1964 und Hårleman 1981. Zur Identifizierung der Funde in Rom mit dem Athenaeum vgl. Galli 2013. Skeptischer dagegen López García 2013, 243–244. Für die Argumentation des vorliegenden Beitrags ist weniger die Identifizierung der Hörsäle mit Hadrians Athenaeum als vielmehr überhaupt die Präsenz von Stätten, an denen griechische (attische) Bildung in Rom prominent praktiziert wurde, zentral. 3 Zur Einordnung der Ausgrabungen in die Kultur und Politik der Kaiserzeit und v. a. der Zweiten Sophistik vgl. Galli 2013, der weitere Literatur bietet. Die neuen Grabungen ergänzen diejenigen vom Beginn des 20. Jh. 4 Zur programmatischen ‚Neugründung‘ Athens vgl. die beiden Inschriften auf dem Hadrianstor (neugriechisch Πύλη του Αδριανού) am Rande der Altstadt Athens, wo Hadrian, dem 111/2 in Athen Bürgerrecht wie Archontat verliehen wurden, in Bezug zum mythischen Stadtgründer Theseus gesetzt wird (IG II2 5185). Vgl. allgemein Graindor 1934. 5 Bei Philostratos ist Rom einer der Hauptstandorte sophistischer Redepraxis. Vgl. Bowie 2004, 68: „the cities in which Philostratus’ sophists dispensed and received rhetorical training were not numerous: Athens, Ephesus, Pergamum, Smyrna and Rome are the big five“. 6 Κατασχὼν δὲ καὶ τὸν ἄνω θρόνον οὕτως τὴν Ῥώμην ἐς ἑαυτὸν ἐπέστρεψεν, ὡς καὶ τοῖς ἀξυνέτοις γλώττης Ἑλλάδος ἔρωτα παρασχεῖν ἀκροάσεως. ἠκροῶντο δὲ ὥσπερ εὐστομούσης ἀηδόνος, τὴν εὐγλωττίαν ἐκπεπληγμένοι καὶ τὸ σχῆμα καὶ τὸ εὔστροφον τοῦ φθέγματος καὶ τοὺς

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Stelle bei Philostrat illustriert die Begeisterung und das Interesse, das den Auftritten von Sophisten in Rom entgegengebracht wurde, sowie die zentrale Rolle, die das Athenaeum (τὸ Ἀθήναιον) bei der Darbietung solcher performances spielte. Der Ort ist nicht nur ein Beispiel für den Euergetismus und das Bauprogramm Hadrians:7 Vielmehr offenbart der in der Forschung mit dem Athenaeum identifizierte Komplex im Bereich der Kaiserfora – mit seinen Vorlesungssälen für Lehrer, Literaten und Sophisten – die Modellhaftigkeit sowie Zentralität Athens für die Ideologie des Philhellenismus während der Hohen Kaiserzeit.8 Diese wurde im Athenaeum v. a. sprachlich-literarisch zur Darstellung gebracht,

|| πεζῇ τε καὶ ξὺν ᾠδῇ ῥυθμούς. ὁπότε οὖν σπουδάζοιεν περὶ τὰς ἐγκυκλίους θέας, ὀρχηστῶν δὲ αὗται τὸ ἐπίπαν, φανέντος ἂν περὶ τὴν σκηνὴν τοῦ τῆς ἀκροάσεως ἀγγέλου ἐξανίσταντο μὲν ἀπὸ τῆς συγκλήτου βουλῆς, ἐξανίσταντο δὲ τῶν δημοσίᾳ ἱππευόντων οὐχ οἱ τὰ Ἑλλήνων σπουδάζοντες μόνον, ἀλλὰ καὶ ὁπόσοι τὴν ἑτέραν γλῶτταν ἐπαιδεύοντο ἐν τῇ Ῥώμῃ καὶ δρόμῳ ἐχώρουν ἐς τὸ Ἀθήναιον ὁρμῆς μεστοὶ καὶ τοὺς βάδην πορευομένους κακίζοντες („Als er dann auch den oberen Lehrstuhl [in Rom] erhielt, zog er Roms Aufmerksamkeit so sehr auf sich, dass er auch denen, die kein Griechisch verstanden, ein Verlangen einflößte, ihn zu hören. Man hörte ihm wie einer schön schlagenden Nachtigall zu […] und staunte über seine wohlklingende Sprache, den Figurenreichtum und die Gestalt seiner Stimme und das Melodische in seiner prosaischen und doch mit Gesang rhythmisierten Rede. So oft man daher den gewöhnlichen Schauspielern zusah, bei denen üblicherweise Tänzer vorkamen, standen jedes Mal, wenn der Bote, der den Vortrag ankündigte, sich auf der Bühne zeigte, von den Senatoren und von den Rittern nicht nur die auf, die sich mit griechischen Dingen beschäftigten; vielmehr liefen auch alle, die in Rom nur in einer der beiden Sprachen [= der lateinischen] unterrichtet worden waren, voller Elan eifrig in das Athenaion und beschimpften diejenigen, die nur mit langsamen Schritten gingen“; Übers. Brodersen 2014). Laut Galli 2007 konstruiert Philostrat in den Vitae Sophistarum eine Tradition, die von der glorreichen Vergangenheit griechischer παιδεία bis in die Zeit des Autors, die Severer-Dynastie, reicht. Dabei soll weniger die Vergangenheit nostalgisch wiederbelebt als dynamischen Prozessen der Gegenwart Struktur gegeben werden. 7 Zu den zentralen baulichen Initiativen des Kaisers in Athen zählen die Vollendung des Olympieions, das als kultischer Mittelpunkt eines Panhellenions dienen sollte, sowie die Bibliothek. Während das Panhellenion vordergründig die griechische ‚Kulturautonomie‘ illustrieren, wohl eher jedoch die griechischen Städte in harmonischer Einheit repräsentieren und über Athen an das Zentrum Rom binden sollte (vgl. Fündling 2006, 630–635 zum Lemma: multa in Athenienses contulit), verwies die architektonische Gestaltung der Hadriansbibliothek auf Römisches und stellte so eine kulturelle Synthese zwischen Athen und Rom her, wie u. a. Knell 2008, 113 betont. 8 Opper 2009, 70 deutet Hadrians Philhellenismus als machtpolitische Strategie: Die griechischsprachigen Provinzen sollten als ruhender ‚Gegenpol‘ zu den militärischen Konfliktzonen im Osten des Reichs fungieren.

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indem das Interesse an den griechischen Kulturgütern (in nuce im Terminus παιδεία gebündelt)9 ostentativ zur Schau gestellt wurde.10 Die Eingliederung der einst mächtigen griechischen Stadt Athen in die kulturelle Topographie des römischen Imperiums der Kaiserzeit – lange Zeit also nach der politischen Eingliederung 146 v. Chr. – zeigt sich insbesondere auch im Medium der zeitgenössischen Literatur: Die nach wie vor wirksame kulturelle Superiorität Athens stellte für die Leser dieser Texte eine zentrale und in mehrfacher Hinsicht topische Bezugsgröße dar. Der Stadt wie auch der Region Attika wurde darin exemplarischer Wert zugesprochen, wie das erste Buch von Pausanias’ Ἑλλάδος περιήγησις (Athen, Attika sowie das Gebiet von Megara), Plutarchs Beschreibung von Theseus-Athen,11 Passagen in den Reden Dions von Prusa12 oder das Städtelob des Aelius Aristides im hymnischen Παναθηναïκὸς λόγος13 verdeutlichen.14 Die Texte geben den Blick frei auf ein Korpus kanonischer Wissensbestände, die unter den soziokulturellen Bedingungen der römischen Kaiserzeit zu dynamischen Leitbildern geworden waren. Die genaue Kenntnis dieser Wissensbestände, mit anderen Worten griechische παιδεία, bildete die conditio sine qua non gesellschaftlichen Aufstiegs, beziehungsweise – indirekt – einer gehobenen sozialen Stellung innerhalb der kaiserzeitlichen Gesellschaftshierarchie.15 Es bietet

|| 9 Dies bezieht sich einerseits auf den Attizismus, d. h. die perfekte Beherrschung des attischen Dialekts des 5./4. Jh. v. Chr., andererseits auf ein Wissen um attische und athenische Realien der Klassik. Zur Wendung „sachlicher Attizismus“ vgl. Delz 1950, 3, von Schmitz 2010, 298 mit „material classicism“ übersetzt. 10 Die ‚private‘ Vermittlung von παιδεία an die römische Oberschicht wurde i. d. R. durch in griechischer Sprache wie Kultur gebildete Lehrer geleistet. Zu literarischen Reflexen dieses sozialen Phänomens vgl. Hafner 2017b. 11 Zur Einrichtung der Demokratie, der Polis-Institutionen und der Kulte sowie zur Namensgebung Athens vgl. Plut. Thes. 23–25, zum Synoikismos ebd. 24,1 (συνῴκισε τοὺς τὴν Ἀττικὴν κατοικοῦντας εἰς ἓν ἄστυ, καὶ μιᾶς πόλεως ἕνα δῆμον ἀπέφηνε, τέως σποράδας ὄντας καὶ δυσανακλήτους πρὸς τὸ κοινὸν πάντων συμφέρον, ἔστι δ’ ὅτε καὶ διαφερομένους ἀλλήλοις καὶ πολεμοῦντας). 12 Or. 6,1–5 wird etwa Diogenes’ laus Athenarum referiert. 13 Zum kulturellen Primat Athens vgl. bes. Aristid. or. 1,335–401. 14 Zur Kontinuität der Athen-Topik in der Kaiserzeit vgl. Lau 2001, 648–652. Ebd. 649 werden Textstellen aus der kaiserzeitlichen Literatur aufgelistet, die Kataloge der mythisch-historischen Kulturleistungen Athens bieten. 15 Es wäre zu einseitig, von einer Hellenisierung Roms zu sprechen. Eher fördert die ab dem 2. Jh. v. Chr. gleichzeitig einsetzende Romanisierung griechischer Eliten das Bild reziprok verlaufender, transkultureller Durchdringungen: Vgl. z. B. zur Romanisierung Athens den Tagungsband von Hoff/Rotroff 1997.

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sich demnach an, literarische Diskurse in engen Wechselbeziehungen sowie komplementär zu soziopolitischen Diskursen zu verorten.16

2 Athen-Diskurse in der fiktionalen griechischen Erzählprosa Um den spezifischen Umgang mit dem Faszinosum ‚Athen‘ in der Literatur des 1. und 2. Jh. herauszuarbeiten, eignet sich insbesondere die fiktionale Erzählprosa. Denn hier fungiert die Stadt, sei es auch aus einer kritischen oder karikierendverzerrenden Perspektive, einerseits inhaltlich als Haupt- oder Nebenschauplatz einzelner Erzählstränge, oder in der Erzählung treten Athener bzw. Figuren auf, die explizit Leben und Treiben in der Stadt beschreiben. Die Texte bieten ein breites Spektrum an Stimmen sowie Gegenstimmen, die sich innerhalb der jeweiligen fiktiven Textwelt expliziter oder impliziter, affirmativ oder gar (indirekt) subversiv zum offiziellen Athen-Diskurs positionieren. In Fall einer kritischen Sicht auf Athen entsteht jedoch ein Spannungsverhältnis zwischen Inhalt und Form: Denn gleichzeitig folgen die Texte selbst dem Attizismus und – damit verbunden – dem Stilideal literarischer Mimesis,17 d. h. sie rekurrieren formal und generisch auf mit dem klassischen Athen des 5./4. Jh. assoziierte Schriftsteller und Texte, die als gleichsam unhinterfragt gültige Referenzen angesehen werden. Über die Rekonstruktion bestimmter (Gegen-)Diskurse in der zeitgenössischen Literatur18 soll die auf soziopolitische Bedingungen der Kaiserzeit zurückgehende, dynamische Transformation Athens hin zu einem spezifisch konturierten Leit- (wie auch Ge-

|| 16 Zur Wirkung der Faktoren ‚Bildung und Macht‘ auf die Texte der Zweiten Sophistik vgl. Schmitz 1997 und konzise Schmitz 2011. 17 Wie es etwa im Traktat Über die Nachahmung (Περὶ μιμήσεως, De imitatione) des Dionysios von Halikarnass für verbindlich festgesetzt wurde. Darin wird eine eklektische Imitation vorgeschlagen mit dem Ziel, im Zuge der Lektüre attischer Klassikertexte die jedem Autor eigenen Stilqualitäten herauszuarbeiten, woraus ein ‚gemischter‘ Stil, der sich jedoch um Klarheit bemüht, hervorgehen soll. Zur Entstehung des Attizismus aus einer römischen Umwelt heraus vgl. Hose 1999. 18 Ich verwende den Begriff ‚Diskurs‘ in diesem Beitrag im Sinne eines multiplen Rede-Zusammenhangs, in den ein Autor involviert ist, dessen Strukturen wie Funktionen ihm nicht notwendig bewusst sein müssen: Vgl. Japp 1992, 255. Texte werden gemäß der pragmatistischen Diskursanalyse nicht als geschlossene Systeme der Sinngenerierung aufgefasst, sondern als Spuren einer diskursiven Aktivität, die innerhalb eines bestimmten Kontexts situiert ist und über die Texte diskursiv verbunden sind: Vgl. hierzu Angermüller 2001.

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gen-)bild deutlich werden. In ausgewählten fiktionalen Prosatexten können insbesondere drei Athen-Diskurse (2.1, 2.2, 2.3) unterschieden werden, in denen die Stadt je verschiedentlich als Projektionsfläche für zeitgenössische Vorstellungen und Ideale konzeptualisiert wird.19 Die Ergebnisse werden zuletzt synoptisch gebündelt präsentiert (3).

2.1 Athen als idealer Ort von Weisheit und Philosophie Die bei den Grabungen im Nahbereich der römischen Kaiserfora zum Vorschein gekommenen Sitzreihen (subsellia, scamna) legen die Vermutung nahe, dass die auditoria für Rezitationen literarischer Werke und rhetorische Deklamationen bestimmt waren, wobei das Publikum sitzend den Sophisten, Rhetoren und Dichtern lauschte.20 In kurzer Distanz zu Trajans Bibliotheca Ulpia mit ihren Archiven fungierten die Säle so als Orte, an denen man sich der Bildung wie der Unterhaltung widmete, wobei der Kaiser – verkörpert in den von ihm gespendeten Bauten – als Garant dieser Aktivitäten betrachtet werden konnte. Gleichzeitig evozierte der programmatische Name der Vortragsräume, soweit die Identifizierung mit dem Athenaeum richtig ist, eine enge Verbindung zwischen den Städten Rom und Athen: Rom als caput mundi konnte so gleichsam als Importeurin wie Traditionshüterin der athenischen Kultur, die in neuer Umwelt bewahrt und gepflegt wurde, verstanden werden. Eine Synkrisis Athens und Roms, wie sie auch dem literarischen Programm von Plutarchs Βίοι παράλληλοι zugrunde liegt,21 findet sich prägnant ausgestaltet in einem Dialog des Schriftstellers Lukian (ca. 125–180 n. Chr.), dem Nigrinos.22 Der Text beschreibt den Besuch und die anschließende Bekehrung des Erzählers bei einem platonischen Philosophen namens Nigrinos in Rom. Inhaltlich wie formell erinnert das Gespräch mit dem Πλατωνικὸς

|| 19 Allgemein verwiesen sei an dieser Stelle auf die mit Athen in nahezu der gesamten Antike assoziierten loci communes, wie sie etwa Lau 2001, 639–646 herausarbeitet (1. ‚Heiliges‘, frommes Athen; 2. Freiheit, Demokratie, Recht; 3. Macht; 4. Philanthropie; 5. Kultur und Bildung; 6. Inbegriff des Hellenentums). Ferner Breitenbach 2003, 9–26 („Vom Loblied zum Sinnbild – Der Wandel des Athen-Repertoires“), der Topoi wie die Erfindung von Künsten und Wissenschaften, von Handwerk und Ackerbau, die Aufnahme von Fremden, die demokratische Gesinnung der Bewohner, ihre Wissbegierde, den intensiven Götterglauben etc. behandelt. 20 Vgl. Galli 2013, 65. 21 Zur Athen-Rom-Synkrisis vgl. etwa Plut. Thes. 1,5 (ἐφαίνετο τὸν τῶν καλῶν καὶ ἀοιδίμων οἰκιστὴν Ἀθηνῶν ἀντιστῆσαι καὶ παραβαλεῖν τῷ πατρὶ τῆς ἀνικήτου καὶ μεγαλοδόξου Ῥώμης). 22 Zu Lukian vgl. übersichtlich Baumbach/von Möllendorff 2017.

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φιλόσοφος (Luc. Nigr. 2) an einen sokratisch-platonischen Dialog,23 der mutatis mutandis in die neue soziokulturelle Umwelt der Stadt Rom in der Kaiserzeit eingebettet ist. Der Bericht über die philosophische Konversion (ebd. 1–11 und 35– 38) umrahmt die lange ῥῆσις des Nigrinos im Mittelteil der Schrift, worin der Platoniker das abstoßende Treiben in der Großstadt Rom der ‚Idealstadt‘ Athen, wo Philosophie, Weisheit und Askese noch in Ehren stünden, gegenüberstellt.24 Kontrastiert wird besonders in Nigr. 14–15 das Hier (ἐνταῦθα: Lug, Trug und Unwahrheit in Rom) mit dem Dort (ἐκεῖ: ein ethisch gutes Leben ‚gemäß der Natur‘ in Athen), ebd. 17 ironisch gefasst in die Homerverse Od. 11,93–94 (τίπτʼ αὖτʼ, ὦ δύστηνε, λιπὼν φάος ἠελίοιο | […] ἤλυθες), wodurch Rom mit der Unterwelt, Griechenland und v. a. Athen mit dem lebensspendenden Sonnenlicht assoziiert werden.25 Konkret umfasst das Lob Athens (Nigr. 12 ἔπαινος […] τῶν Ἀθήνησιν ἀνθρώπων), das in manchen Punkten an Thukydides’ Perikles-Rede (2,35–46) erinnert, folgende Punkte: a) Die Athener saugten von Kindheit an sowohl die Liebe zur Weisheit wie auch die Armut in sich auf und ließen es nicht zu, dass Fremde bei ihnen luxuriösen Lebensstil einführten. Vielmehr brächten sie die Fremden dazu, sich an ihre eigene, einfache Lebensweise zu gewöhnen (Nigr. 12),26 zu der sie auch öffentlich Bekenntnis ablegten (ebd. 14: Ὅτι δ’ οὐκ αἰσχύνονται πενίαν ὁμολογοῦντες); b) ferner lobt Nigrinos die in Athen herrschende Ruhe von Geschäften und Rummel (ἀπραγμοσύνη), wie sie wiederum in Rom anzutreffen seien; allein in Athen könne man einen reinen Charakter, der frei vom Streben nach Reichtum sei, ausbilden und sich ganz der Philosophie widmen (ebd.).27 Nigrinos, der als Platoniker und Athen-Bewunderer sowie Bewohner Roms ein

|| 23 Zu den Platon-Reminiszenzen im Nigrinos vgl. Schirren 2005, 146–150 sowie Lechner 2015, bes. 27–40, und Lechner 2016, bes. 109–122. 24 Beide Städte treten als Handlungsorte in Lukians Texten in Erscheinung: Vgl. Nesselrath 2009. Zu Athen als Gegenbild Roms vgl. die Literatur bei Lau 2001, 651–652, bes. 652 zu Lukians Nigrinos. 25 Zur Kontrastzeichnung als stilistischer Grundsignatur satirischer Texte vgl. exemplarisch Bogel 2001. 26 ὅτι φιλοσοφίᾳ καὶ πενίᾳ σύντροφοί εἰσιν καὶ οὔτε τῶν ἀστῶν οὔτε τῶν ξένων οὐδένα τέρπονται ὁρῶντες, ὃς ἂν τρυφὴν εἰσάγειν εἰς αὐτοὺς βιάζηται, ἀλλὰ εἰ καί τις ἀφίκηται παρ’ αὐτοὺς οὕτω διακείμενος, ἠρέμα τε μεθαρμόττουσι καὶ παραπαιδαγωγοῦσι καὶ πρὸς τὸ καθαρὸν τῆς διαίτης μεθιστᾶσιν. In Nigr. 13–14 folgen Beispiele. 27 Ταῦτά τε οὖν ἐπῄνει καὶ προσέτι τὴν ἐλευθερίαν τὴν ἐκεῖ καὶ τῆς διαίτης τὸ ἀνεπίφθονον, ἡσυχίαν τε καὶ ἀπραγμοσύνην, ἃ δὴ ἄφθονα παρ’ αὐτοῖς ἐστιν. ἀπέφαινε γοῦν φιλοσοφίᾳ συνῳδὸν τὴν παρὰ τοῖς τοιούτοις διατριβὴν καὶ καθαρὸν ἦθος φυλάξαι δυναμένην, σπουδαίῳ τε ἀνδρὶ καὶ πλούτου καταφρονεῖν πεπαιδευμένῳ καὶ τῷ πρὸς τὰ φύσει καλὰ ζῆν προαιρουμένῳ τὸν ἐκεῖ βίον ὡς μάλιστα ἡρμοσμένον. Vgl. Thuc. 2,41,1 (Ξυνελών τε λέγω τήν τε πᾶσαν πόλιν τῆς Ἑλλάδος παίδευσιν εἶναι) mit Lau 2001, 644–645.

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Bindeglied zwischen beiden Städten darstellt (zugleich als komische Figur, deren charakterliche Inkonsequenz es u. a. ist, trotz der gescholtenen moralischen Missstände weiterhin in der verhassten Stadt wohnen zu bleiben), stellt im Laufe seiner Rede die im 2. Jh. n. Chr. von Hadrian und seinen ostentativ hellenophilen Nachfolgern propagierte Ideologie einer kulturellen Verbindungslinie AthenRom – wie sie etwa im Athenaeum materialisiert wurde – in Frage. Stattdessen werden Linien eines Gegendiskurses sichtbar, wonach Athen gegenüber Rom als idealisierter ‚Gegenort‘ erscheint und die – etwa in der architektonischen Formensprache der Hadrianischen Ära evozierte – Verknüpfung beider Städte angezweifelt wird. Dabei findet jedoch das philhellenisch-athenozentrische Modell, das die Stadt als idealen Ort von Weisheit und Philosophie betrachtet, auch bei Lukian, konkret im Lob des Nigrinos, seine Entsprechung.28 Blickt man von hier aus auf entsprechende Passagen in Aristides’ Παναθηναïκός,29 wo die Rolle Athens als „Hegemon der Weisheit“ und Geburtsstadt der (φιλο)σοφία thematisiert wird (z. B. Aristid. or. 1,364), zeigen sich Spuren eines insgesamt wirkmächtigen, zeitgenössischen Athen-Diskurses.

|| 28 Athen erscheint auch in Lukians Demonax als ideale Heimstätte der Philosophie, da man in der Stadt den gleichnamigen kynischen Philosophen feierlich bestattet (Demon. 67) und somit diesem – in der Darstellung Lukians – vorbildhaften Philosophen höchste Ehren erweist. Ironisiert wird dagegen die klassische Kulturtradition Athens vom gleichnamigen Skythen in Lukians Dialog Anacharsis (am Beispiel der Athletik, z. B. Anach. 5). Trotz der insgesamt herausragenden Bedeutung der Stadt bei Lukian schließt Nesselrath 2009, 133 angesichts vieler z. T. subversiver Passagen: „Athens […] seems almost as much in need of moral improvement as Rome does.“ 29 Zur herausragenden σοφία der Athener vgl. u. a. Aristid. or. 1,5 (οἱ μὲν τὴν σοφίαν αὐτῆς [sc. τῆς πόλεως] ἐγκωμιάζουσιν); 1,330 (an die Athener gerichtet: νυνὶ δ’ ἀτεχνῶς πάντας ἀνθρώπους καὶ πάντα γένη τῇ καλλίστῃ τῶν εὐεργεσιῶν ἀνέχετε, ἡγεμόνες παιδείας καὶ σοφίας ἁπάσης γιγνόμενοι); 1,364 (ἁπάντων γὰρ, ὡς ἔοικε, τῶν ἀρίστων αὕτη πατρὶς καὶ σοφίας πάσης καὶ τέχνης ἡγεμὼν); 1,397 (λόγων ἄσκησις sowie σοφία begründen die anhaltende Attraktivität der Stadt für Philosophen: ἔτι καὶ νῦν ἐνταῦθα πάντες συνέρχονται· καὶ τὰ γένη τῶν φιλοσόφων οὐ τέθνηκε τῇ τῆς πόλεως ἀγαθῇ τύχῃ, χωρὶς τοῦ καὶ τοὺς ὅπου δὴ γῆς ἀναγκαίως ἔχειν ἅμα τῶν τε λόγων καὶ τῶν Ἀθηναίων μεμνῆσθαι, καὶ μηδέποτε ἐκβαλεῖν ἂν ἐκ τῆς ψυχῆς τὸ εἴδωλον, ὥσπερ ἐν κατόπτρῳ τοῖς λόγοις ἐμβλέποντας); 1,401 (der Sprecher bezeichnet Athen am Ende der Rede als τὸ τῆς σοφίας πρυτανεῖον καὶ τὴν τῆς Ἑλλάδος ἑστίαν καὶ τὸ ἔρεισμα καὶ ὅσα τοιαῦτα εἰς τὴν πόλιν ᾔδετο, νῦν δέ μοι δοκεῖ πάντα ταῦτα εἴσω πίπτειν).

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2.2 Athen als exemplarischer Ort menschlichen Könnens und Verhängnisses Die Auftritte der Sophisten im Athenaeum umfassten i. d. R. eine geschichtliche Dimension: Redner ließen die Pracht des klassischen Athens aufs Neue erstehen, wenn sie Figuren der griechischen Vergangenheit impersonierten oder historische Prozess-/Schaureden rezitierten bzw. extemporierten und sich dabei auf die besondere Geschichte Athens bezogen.30 Reflexe eines solchen Athen-Diskurses finden sich exemplarisch in Charitons Roman Chaireas und Kallirhoë,31 dessen Entstehungszeit grob zwischen 50 und 150 n. Chr. datiert wird. Bereits im ersten Satz des Werks (1,1,1) inszeniert sich der Autor Chariton von Aphrodisias als Historiker in der Tradition des Atheners Thukydides, indem er auf den ‚Namensatz‘ zu Beginn von dessen Geschichtswerk (Thuc. 1,1,1) anspielt.32 Neben dem Thukydides imitierenden incipit ist auch die

|| 30 Zum Vergangenheits- und v. a. Athen-Bezug sophistischer Deklamationen vgl. Whitmarsh 2005. 31 Die acht Bücher des Romans teilen sich in vier Buchpaare auf: In Buch 1 und 2 steht Kallirhoë im Mittelpunkt, in 3 und 4 die Leiden des Chaireas, in 5 und 6 befinden sich beide am selben Ort (wenngleich noch voneinander getrennt), in 7 und 8 liegt der Fokus erneut auf Chaireas. Eine kurze Inhaltszusammenfassung: Die Erzählung beginnt mit der Hochzeit von Chaireas und Kallirhoë in Syrakus (obwohl sie gemäß dem Romeo-und-Julia-Motiv Kinder zweier verfeindeter Familien sind, wurde ihre Heirat mittels einer Volksabstimmung beschlossen). Doch verliert Chaireas seine Frau, da er ihr aus Eifersucht einen Fußtritt versetzt. Kallirhoë, bloß scheintot, wird aus ihrem Grab von Piraten geraubt und in Milet an den reichen Dionysios verkauft. Um das Kind, das sie von Chaireas erwartet, sicher zur Welt zu bringen, willigt sie in die Ehe mit Dionysios ein (Bücher 1–3). Die Bücher 3–5 beschreiben, wie Chaireas verzweifelt nach seiner Frau sucht und Sklave des persischen Satrapen Mithridates, eines weiteren Verehrers der Kallirhoë, wird. Die Szenerie wechselt nach Babylon, wo es zu einem Rechtsstreit zwischen den Rivalen der Kallirhoë, Dionysios und Mithridates, kommt, in dessen Verlauf der totgeglaubte Chaireas die Bühne betritt (Buch 6). Doch der persische Großkönig Artaxerxes verschiebt den Prozess, um in der Zwischenzeit seinerseits Kallirhoë seine Liebe zu gestehen. Unterbrochen wird dieser Plan durch einen Abfall der Ägypter von Persien, auf deren Seite Chaireas sich als Kriegsheld erweist und im Zuge seiner Eroberungen auch Kallirhoë rauben kann (Buch 7). Das achte Buch präsentiert schließlich ein komödienhaftes Verwechslungsspiel sowie die gegenseitige Wiedererkennung der Liebenden, die nach Syrakus zurückkehren, um dort ihr eheliches Leben zu verbringen. Vgl. Holzberg 2006, 60–65. Zur Vorreiterrolle der Schrift für den idealisierenden Roman: Tilg 2010. 32 Vgl. Χαρίτων Ἀφροδισιεύς, Ἀθηναγόρου τοῦ ῥήτορος ὑπογραφεύς, πάθος ἐρωτικὸν ἐν Συρακούσαις γενόμενον διηγήσομαι mit Θουκυδίης Ἀθηναῖος ξυνέραψε τὸν πόλεμον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων. Hierzu Tilg 2010, 217–220. Zum frühen Erscheinen solcher Anfangsformeln vgl. FGrHist 1 F 1 (Hekataios).

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Handlung ins ausgehende 5. Jh. v. Chr. zurückversetzt, am Anfang und Ende konkret nach Syrakus, gegen das Athen im Rahmen der Sizilischen Expedition 415– 413 v. Chr. unterlegen war. Um eine Einbettung der Erzählung in den historischen Kontext zu plausibilisieren, werden zeitgenössische Ereignisse (wie der Aufstand der Ägypter gegen Persien 389–387 v. Chr.) eingearbeitet und treten bekannte Persönlichkeiten jener Zeit auf, etwa der über Athen siegreiche syrakusanische Stratege Hermokrates, der bei Chariton als Kallirhoës Vater erscheint (1,11,2), oder der Perserkönig Artaxerxes II. Mnemon. Die Stadt Athen tritt bloß am Rande in Erscheinung, ist jedoch über – meist kritische, da aus syrakusanischer Perspektive erfolgende – Aussagen der Romanfiguren ständig in der Erzählung präsent:33 Anspielungen gibt es insbesondere auf die historische Rolle, die die Stadt während der Perserkriege (2,6,3; 5,8,8; 6,7,10; 7,5,8; 8,2,12) und später, im Peloponnesischen Krieg, im Rahmen der missglückten Sizilienexpedition (2,6,3; 7,2,4; 7,5,8; 8,2,12) spielte. Die exemplarischen Siege und Niederlagen der Athener werden innerhalb der Erzählung des Romans verschiedentlich als Hintergrundfolie funktionalisiert: Aufschlussreich hierfür ist etwa der Passus 7,2,4, wo auch ein Ägypter um die mit Athen verbundenen denkwürdigen Ereignisse weiß.34 Die δυστυχία der Athener im Krieg erweist sich als exemplarisch und repräsentativ für menschliche Selbstüberschätzung: Die Wehrhaftigkeit der Syrakusaner wird im Roman durchaus athenkritisch mit derjenigen der aufständischen Ägypter – wodurch deren Anführer Chaireas in die Fußstapfen des sizilischen Kommandanten Hermokrates, seines Schwiegervaters, tritt –, die Hybris der Athener mit derjenigen der Perser assoziiert: Letztere führt in beiden Fällen zu Niederlage und Leid. Indem der Romanautor Chariton von Aphrodisias in römischer Zeit die v. a. von Thukydides geschilderten, athenischen Ereignisse in seine Erzählung einflicht, suggeriert der Erzähler, ebenso Denkwürdiges zu berichten und als eine Art ‚Zweiter Thukydides‘ aufzutreten. Dies wird bereits durch die Verwendung typisch Thukydideischer Begrifflichkeiten deutlich, die jener zur Analyse menschlichen Verhaltens am Beispiel der Athener im Peloponnesischen Krieg bereitgestellt hatte.35 Gleichzeitig ist die Perspektive auf Athen durchaus kritisch und distanziert. Veranschaulicht wird dies etwa in der Textstelle 1,11,5–7: Als die Banditen mitsamt der geraubten Kallirhoë aus Syrakus an || 33 Smith 2007a, der die Athen-Bezüge des Romans im Rahmen einer Monographie herausarbeitet, fasst zusammen (S. 50): „In fact the Athenian literary and cultural tradition is an integral part of the novel’s fabric and it shapes the world-view of the characters and the narrator in [...] subtle and profound [ways].“ 34 οὐδὲν γὰρ ἔθνος ἄπυστον ἦν τῆς Ἀθηναίων δυστυχίας, ἣν ἐδυστύχησαν ἐν τῷ πολέμῳ τῷ Σικελικῷ. Die Übersetzung folgt Meckelnborg/Schäfer 2006. 35 Vgl. die Analyse bei Smith 2007a, 155–163, mit weiterer Literatur in den Anmerkungen.

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der Stadt Athen vorübersegeln (1,11,5: Ἀθῆναι πλησίον, μεγάλη καὶ εὐδαίμων πόλις), wittern sie ein aussichtsreiches Verkaufsgeschäft in der Metropole (ἐκεῖ πλῆθος μὲν ἐμπόρων εὑρήσομεν, πλῆθος δὲ πλουσίων. ὥσπερ γὰρ ἐν ἀγορᾷ τοὺς ἄνδρας οὕτως ἐν Ἀθήναις τὰς πόλεις ἔστιν ἰδεῖν). Doch der Seeräuber-Hauptmann mit dem sprechenden Namen Θήρων („Jäger“) warnt seine Mannschaft vor dem berüchtigten Übereifer der Stadt (τῆς πόλεως ἡ περιεργία): Habt ihr als Einzige denn noch nichts von der Neugier (πολυπραγμοσύνη) der Athener gehört? Sie sind ein geschwätziges und prozesssüchtiges Volk.36 Im Hafen werden sich Tausende von Schnüfflern erkundigen, wer wir sind und woher wir mit diesen Waren kommen. In ihrer Bösartigkeit werden sie schlimmen Verdacht schöpfen. (7) Der Areopag ist dort schnell bei der Hand und die Archonten sind härter als Tyrannen. Athener sollten wir noch mehr fürchten als Syrakusaner.37 (Charit. 1,11,6–7)

Er schlägt dagegen Ionien als geeigneteren Zielort vor, da die Menschen dort, nicht wie die Athener, „ein Leben in Luxus und Muße“ (1,11,7: ἄνθρωποι τρυφῶντες καὶ ἀπράγμονες) führten... Mit dem Stichwort πολυπραγμοσύνη führt der Bandit rhetorisch gezielt eine menschliche Eigenschaft an, die den Seeräubern gefährlich werden und zu ihrer Vernichtung führen kann. Sie hatte laut Thukydides bereits zum katastrophalen Ausgang der Belagerung von Syrakus unter Nikias geführt. Dem entsprechenden Bericht im Werk des Historikers vorausgegangen waren die Werbereden des syrakusanischen Feldherrn Hermokrates (Thuc. 6,76–80) und des athenischen Gesandten Euphemos für ein Bündnis mit der sizilischen Stadt Kamarina (6,82–87), wobei letzterer ebd. 6,87 kraftstrotzend die Athener zu Befreiern und Helfern aller in Not geratenen Völker stilisierte und die Kamariner aufforderte, sich die Vielgeschäftigkeit (πολυπραγμοσύνη) und das umtriebige Wesen der Athener zu Nutze zu machen und sich mit ihnen gegen Syrakus zu verbünden. Doch wie Thukydides (7,33,1; 7,58,1) berichtet,

|| 36 Die Vielgeschäftigkeit der Athener war ein beliebtes Komödienmotiv, wie die Titel fragmentarisch überlieferter Stücke von Timokles (fr. 29 PCG), Diphilos (fr. 67–68 PCG) oder Heniochos (fr. 3 PCG) zeigen. Zur Prozesssucht der Athener vgl. exemplarisch Aristoph. Vesp. und den Nachklang in späterer Zeit bei Val. Max. 6,3 ext. 3; NT Act. 17,21. 37 μόνοι γὰρ ὑμεῖς οὐκ ἀκούετε τὴν πολυπραγμοσύνην τῶν Ἀθηναίων; δῆμός ἐστι λάλος καὶ φιλόδικος, ἐν δὲ τῷ λιμένι μυρίοι συκοφάνται πεύσονται τίνες ἐσμὲν καὶ πόθεν ταῦτα φέρομεν τὰ φορτία. ὑποψία καταλήψεται πονηρὰ τοὺς κακοήθεις. Ἄρειος πάγος εὐθὺς ἐκεῖ καὶ ἄρχοντες τυράννων βαρύτεροι. μᾶλλον Συρακουσίων Ἀθηναίους φοβηθῶμεν. Mittels der Erwähnungen athenisch-attischer Realien wie z. B. des Areopags rekurriert der Autor auf attizistisches Bildungswissen. Zu den impliziten Syrakus-Bezügen dieser Stelle vgl. Smith 2007a, 62–64.

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wandten sich die Kamariner im Jahr 413 v. Chr. von Athen ab und Syrakus zu. Im selben Jahr endete das expansive athenische Ausgreifen in der Katastrophe! Indem die πολυπραγμοσύνη in Charitons Roman als für die Figuren gefahrvolle wie negative Eigenschaft der Athener – somit ein deutliches Gegenbild zum idealisierenden Diskurs des zeitgenössischen Kontexts – erscheint, wird zugleich der exemplarische Wert der Geschichte Athens in der Form, wie sie die Thukydideische Analyse bietet, auch noch für Erzählmodelle offenbar, die Jahrhunderte nach Ende der klassischen Zeit entstanden waren. Trotz einer dominierenden kritisch-distanzierten Perspektive erscheint Athen bei Chariton als ein Ort, an dem großes menschliches Können,38 aber auch Leid in exemplarischer Deutlichkeit hervorgetreten sind.39

2.3 Athen als rhetorischer wie theatraler Ort par excellence Zwar dienten die auditoria von Hadrians Athenaeum mangels Bühnenarchitektur nicht direkt dramatischen Aufführungen,40 doch spricht die oben angeführte Philostrat-Episode über Hadrian von Tyros,41 der nicht nur die griechisch gebildete Senatoren- und Ritterschicht, sondern auch des Griechischen unkundige Römer kraft seiner überragenden Rhetorik dem Theater abwerben konnte, zumindest für ein Konkurrenzverhältnis zu theatralen performances im topographischen Bereich der Kaiserfora. Dies fügt sich ein in die Beobachtung, dass in der Kultur der Zweiten Sophistik wiederholt auf die zahlreichen Berührungspunkte und Überschneidungen zwischen sophistischen und schauspielerischen Darbietungen

|| 38 Zum ‚Könnens-Bewusstsein‘ der Athener im 5. Jh. v. Chr. vgl. Meier 1978. 39 Vgl. die ‚superlativischen‘ Leistungen der Athener – sichtbar allein an der Verwendung des Multiplikators πλεῖστος – bei Aristid. or. 1,90 (πλεῖστα δ’ ὑπὲρ μιᾶς πόλεως ταύτης ἁπάντων εἰρηκότων, μᾶλλον δὲ ὑπὲρ μόνης πλείω σχεδὸν ἢ τῶν ἄλλων ἁπασῶν); 1,348 (ἀγῶνας πλείστους καὶ μεγίστους καὶ ὑπὲρ καλλίστων ἐποιήσατο, καὶ τρόπαια πλεῖστα καὶ κάλλιστα ἐκ τῶν Ἀθηνῶν, καὶ λόγοι πλεῖστοι καὶ κάλλιστοι καὶ διὰ πάντων ὑπερέχοντες οἱ τῆσδε τῆς πόλεως). Andererseits lobt Aristides Athens Größe im Umgang mit dem großen Leid (μέγα πᾶθος) angesichts der Niederlage im Peloponnesischen Krieg: or. 1,234 (Γενομένου δὲ τοῦ μεγάλου πάθους – οὐ γὰρ οὖν σιωπήσομαι, ἀλλὰ καὶ τοῦτο ἔτι μείζω μοι δοκεῖ δεικνύναι τὴν πόλιν); 1,240 (αὕτη δὲ τοσαύτῃ χρησαμένη συμφορᾷ μετὰ ταῦτʼ ἐν Σικελίᾳ κτλ.). 40 Vgl. Galli 2013, 65, der jedoch durchaus ein breites Spektrum an Darbietungen vermutet: „Gli Auditoria, a differenza degli edifici teatrali, essendo privi di pulpitum-logeion, non sono quindi strutturalmente predisposti per accogliere rappresentazioni in forma drammatica, ma recitazioni di testi in prosa, quindi declamati da oratori o retori, o in poesia, declamati in forma anche cantata.“ 41 S. o. Anm. 6.

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verwiesen wird.42 So werden sowohl Rhetorik wie Schauspiel mit dem Klassischen Athen und seiner agonistischen Rede- und Theaterkultur assoziiert.43 Athen, die Wirkungsstätte von Rhetoren vom Schlage eines Herodes Atticus, wurde im römischen Athenaeum als idealer Ort und geradezu als ‚Mutterstadt‘ sophistischer Aktivitäten repräsentiert, während Rom, um das Bild fortzuführen, als ‚Pflanzstadt‘ bzw. intellektuelle Kolonie Athens erschien,44 die sich aber de facto zur stolzen kulturellen Erbin griechischer Kultur und hegemonialen Macht erklärt hatte. Athen erscheint als sowohl rhetorischer als auch theatraler Ort κατʼ ἐξοχήν prominent im chronologisch letzten der griechischen Liebesromane, den man ins 3. oder alternativ 4. Jh. n. Chr. datiert: in den Aithiopika des Heliodor von Emesa in zehn Büchern.45 Eingeschaltet in den Hauptstrang der Erzählung der Abenteuer des Liebespaars Theagenes und Charikleia sind die beiden Exkurse, mit denen der Athener Knemon beiden Protagonisten erklärt, wie er sich nach langen Irrfahrten den Räubern des Nildeltas anschloss (1,9,14–1,17,6; 2,8,4–2,10,1): Über || 42 Prägnante Aussagen zur Konvergenz beider Aufführungspraktiken bietet Lukians Schrift Über den Tanz (Περὶ ὀρχήσεως, De saltatione), z. B. 35; 65; 82. In der Apologia lässt Lukian Ankläger wie Verteidiger jeweils nach Art von Schauspielern auf die sophistische Bühne treten. Hierzu Hafner 2017a. 43 Dies zeigt z. B. der Gebrauch des Worts θέατρον als Ort für Rhetorik und Drama: Vgl. Luchner 2004, 386–398, bes. 389. 44 Analog Kemezis 2011 über die Beziehung der beiden Städte in Philostrats Vitae Sophistarum, der darin ein für die gesamte griechisch-römische Welt modellhaftes Narrativ konstruiert sieht. 45 Vgl. einleitend Holzberg 2006, 130–138, grundlegend zum Roman weiterhin Paulsen 1992, der das Werk auf seine Substrate aus Epos, Tragödie und Komödie hin untersucht. Aufgrund des enormen Umfangs des Werks kann eine Zusammenfassung nur holzschnittartig die wichtigsten inhaltlichen Linien aufzeigen. Buch 1: Die Protagonisten Charikleia und Theagenes werden im Nildelta von Seeräubern gefangen genommen und zur Bewachung Knemon, einem jungen Athener, übergeben, der den beiden seine Lebensgeschichte erzählt (diese Exkurse sind für den vorliegenden Kontext bedeutsam). Buch 2: Nach dem Scheintod Charikleias und der – durch einen Überfall anderer Nilräuber plötzlich herbeigeführten – Trennung der drei erzählt der ägyptische Priester Kalasiris dem Athener Knemon die Vorgeschichte, d. h. (Buch 3) wie sich Charikleia und Theagenes in Delphi verliebten und (Buch 4) wie Charikleias Herkunft als äthiopische Königstochter offenbar wurde, wie das Paar aus Delphi fliehen und schließlich (Buch 5) gegen Piraten und Verehrer kämpfen musste. Hier endet die Analepse. Buch 6: Kalasiris und Charikleia machen sich verkleidet auf die Suche nach Theagenes. Buch 7–8: In Memphis findet Kalasiris seine Kinder wieder und stirbt. Theagenes verweigert sich unterdessen der Liebe der Arsake, der Schwester des persischen Großkönigs. Buch 9: Das Heer der Äthiopier unter König Hydaspes siegt gegen die Perser bei Syene. Buch 10: Es kommt zur Wiedererkennung Charikleias durch deren Eltern, König Hydaspes und seine Gattin Persinna, woraufhin Charikleia und Theagenes dem Götterpaar Helios und Selene geweiht werden und es zur Abschaffung der bis dahin üblichen Menschenopfer in Äthiopien kommt.

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Parallelen – wie Theagenes ist Knemon der Protagonist einer Liebesgeschichte – und Kontraste spiegelt Heliodor darin die Haupthandlung.46 Gebeten, seine Geschichte zu erzählen, wehrt Knemon zunächst ab und verweist auf das ihm widerfahrene Unglück, wobei er Termini der Bühnensprache (z. B. ἐπεισόδιον) verwendet und so den folgenden Bericht als geradezu dramatisches Geschehen ausweist.47 Die Szenerie der narrativen Analepse, Athen, wird durch die Erwähnung topographischer und historischer Details, einem ‚sachlich-materiellen Attizismus‘ entsprechend, plausibel ausgestaltet.48 Insgesamt sind in Knemons Athen-Exkursen Rhetorik und Theatralität stark ineinander verwoben:49 Zum einen werden zwei Prozesse geschildert, der eine gegen Knemon selbst, der von seinem Vater und seiner Stiefmutter des versuchten Mordes bezichtigt wurde (1,13–14),50 wobei letztere durch ihr Geheul (κώκυτος) einer berüchtigten Athener Gerichtspraxis entspricht (1,13,2), der andere gegen den Vater Knemons, der für mitschuldig am späteren Selbstmord besagter Stiefmutter befunden wurde (2,9). Im Zentrum steht die sprichwörtliche Prozesssucht der Athener, die auch Chariton (1,11,6: δῆμός […] φιλόδικος, s. o.) und Lukian (Bis Acc. 12) erwähnen. Zugleich orientiert sich die Konfiguration – verliebte und zurückgewiesene Stiefmutter, keuscher Sohn, intriganter Stiefmutter Glauben schenkender Vater – am

|| 46 Zur narrativen Struktur vgl. Morgan 1989, Winkler 1999 sowie Grethlein 2016, 320–326. 47 Vgl. Hld. 1,8,7: «Παῦε» ἔφη· «τί ταῦτα κινεῖς κἀναμοχλεύεις; τοῦτο δὴ τὸ τῶν τραγῳδῶν. Οὐκ ἐν καιρῷ γένοιτ’ ἂν ἐπεισόδιον ὑμῖν τῶν ὑμετέρων τἀμὰ ἐπεισφέρειν κακά κτλ.» 48 Genannt werden u. a. der Areopag, die Panathenäen, die Ephebie, die Volksversammlung und die Akademie. 49 Zum Inhalt des Rückblicks: Knemon wurde einst von seiner Stiefmutter Demainete begehrt, verweigerte sich ihrem Liebesdrang jedoch. Hieraufhin intrigierte die Abgewiesene enttäuscht gegen Knemon (Potiphar-/Phaidra-Motiv) und stellte ihm eine Falle, mit der Konsequenz, dass er fälschlicherweise des versuchten Mordes an seinem Vater Aristipp angeklagt und aus Athen verbannt wurde. Doch rächte sich die Sklavin Thisbe, die frühere Handlangerin Demainetes, nach einem Streit an ihrer Herrin, indem sie ihrerseits gegen diese intrigierte und sie öffentlich bloßstellte. Demainete nahm sich hierauf aus Verzweiflung das Leben. Ihre Verwandten strengten jedoch aus Zorn einen Prozess gegen Knemons Vater an, dem sie die Schuld am Tod Demainetes gaben, woraufhin auch dieser des Landes verwiesen wurde. Daher verfolgte Knemon die flüchtige Sklavin Thisbe bis nach Ägypten, wo er sich zur Zeit der Haupterzählung des Romans befindet, um von ihr ein Schuldgeständnis bezüglich des Tods Demainetes und somit den Freispruch seines Vaters zu erreichen. 50 Es handelt sich um die erste von drei besonders ausgestalteten Gerichtsszenen innerhalb des Romans: Vgl. ferner 8,9,5–8,9,9 (Charikleia wird vor dem persischen Staatsrat von Arsake zu Unrecht des Giftmords angeklagt); 10,10,1–10,39,3 (Charikleias Klage gegen das äthiopische Menschenopfer).

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Verhältnis von Phaidra, Hippolytos und Theseus in Euripides’ Hippolytos,51 als deren novellistische Variante Knemons Rückblick erscheint.52 Zudem hat die Erzählung auch eine komische Facette – in diese Richtung deuten auch die komödientypischen Intrigen der Exkurse –, wozu der Name des Protagonisten, Knemon, beiträgt, den ein belesenes Publikum der Kaiserzeit auf die gleichnamige Hauptfigur aus Menanders Komödie Dyskolos beziehen konnte.53 Somit verbindet die nach Athen verlegte Nebenhandlung des Romans die beiden Dimensionen Rhetorizität (bzgl. der Prozess-Schilderungen) und Theatralität (bzgl. der dramatischen Elemente der Erzählung): Die Techniken der Redner wie der Schauspieler, so suggeriert es die Knemon-Erzählung bei Heliodor, sind untrennbar mit der Geburtsstadt von Redekunst54 und Theater55 verbunden. Zwar treten die Bürger Athens in den Aithiopika Heliodors als besonders zänkische wie prozesssüchtige Figuren auf, doch erscheint die Stadt dadurch indirekt auch als rhetorischer wie theatraler Ort par excellence. Letzteres entspricht wiederum der offiziellen interpretatio Romana, als deren materielle Manifestation und bauliche Inszenierung man Hadrians Athenaeum betrachten kann. Dass auch Rom selbst in der Literatur der Kaiserzeit – was durchaus ambivalent dargestellt wird – als theatrale Stadt und Bühnen-Pendant in urbanem Großformat erscheint und so zur eigentlichen Nachfolgerin Athens aufsteigt, kann hier nur angedeutet werden.56

|| 51 Zu den Parallelen vgl. Elmer 2008, 417–418. Ferner Paulsen 1992, 85–89 und insgesamt 97– 102 sowie Smith 2007b. 52 Vgl. die Anspielungen in Hld. 1,10,2 (Knemon als νέος Ἱππόλυτος bezeichnet); 2,11,2 (die Erzählung eine σκηνὴ Ἀττική genannt); 2,8,2 (Knemon gleich dem deus ex machina des athenischen Theaters unerwartet nach Ägypten versetzt: ἐκ μέσης τῆς Ἑλλάδος ἐπ' ἐσχάτοις γῆς Αἰγύπτου καθάπερ ἐκ μηχανῆς ἀναπεμφθῆναι). 53 Zu den Komödien-Aspekten der Knemon-Figur und -Handlung vgl. Paulsen 1992, 94–97. 54 Zu dieser Vorstellung vgl. etwa Cic. Brut. 26 (zu Atticus): lucent Athenae tuae, qua in urbe primum se orator extulit primumque etiam monumentis et litteris oratio est coepta mandari. Zum Lob athenischer λόγοι vgl. u. a. Isocr. or. 4,50; Aristid. or. 1,343; Liban. or. 11,184. Zur christlichen Umdeutung der athenischen Rhetorik als ‚Geschwätzigkeit‘ und ‚Götterwahn‘ vgl. Lau 2001, 665 oder Breitenbach 2003, 23. 55 Vgl. den Preis der Athenischen Theater bei Aristid. or. 1,364. 56 Vgl. exemplarisch zu „Rome, City of Spectacles“ bei Lukian Whitmarsh 2001, 254–257.

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3 Synopse Wie – ausgehend von Hadrians Stiftung des Athenaeum in Rom – anhand der fiktionalen Prosatexte Lukians (2. Jh.), Charitons (1./2. Jh.) sowie Heliodors (3./4. Jh.) exemplifiziert, wurde die Auffassung Athens als eines idealen Ortes der Weisheit, als eines geschichtsträchtigen Ortes sowie als der Geburtsstadt von Rhetorik und Theater in der kaiserzeitlichen Literatur je unterschiedlich diskursiviert und als Projektionsfläche konzeptualisiert. Die verschieden gelagerten literarischen Reflexe des Phänomens Athen – im Vergleich mit dem kürzlich weiter ergrabenen Repräsentationsbau in Rom, der eine Identifizierung mit Hadrians Athenaeum erlaubt –, bieten es an, Spuren eines vielschichtigen Redezusammenhangs, einer diskursiven Aktivität, im Zeitkontext des kaiserzeitlichen Philhellenismus und Athenozentrismus bzw. Attizismus sowie der Etablierung einer kulturellen Verbindungslinie Athen-Rom innerhalb der Texte nachzuverfolgen – ohne dass dadurch Anspruch auf eine vollständige Rekonstruktion erhoben werden kann. Das Spektrum reicht von Affirmation über Karikatur bis hin zur Etablierung eines kritischen Gegendiskurses. Häufig deuten die Texte auf einen spielerisch-distanzierten Umgang mit dem Phänomen ‚Athen‘ – bisweilen bis zur Parodie reichend –, wenn bei Lukian der ‚Moralapostel‘ Nigrinos seine Meinung zum Thema darlegt, bei Chariton eine sizilische und damit implizit athenkritische Erzählperspektive vorliegt und bei Heliodor der athenische Protagonist Knemon gleichsam dem Repertoire des attischen Dramas entstammt – jeweils in spannungsreicher Beziehung zum offiziellen, im Bereich der römischen Zentrale lokalisierten philhellenischen Diskurs. Eine scheinbar kritische Perspektive auf Athen wird jedoch v. a. dadurch ‚abgemildert‘ bzw. korrigiert, dass sich die in den Texten thematisierten Athen-Diskurse jeweils mit bestimmten Schriftstellern verbinden, die im Attizismus kanonische Gültigkeit erlangt hatten: So rekurriert die Form des literarischen Athen-Diskurses in Lukians Nigrinos auf diejenige Platonischer Dialoge, in Charitons Chaireas und Kallirhoë auf diejenige Thukydideischer Analyse und in Heliodors Aithiopika auf diejenige des Attischen Dramas (neben der Komödie bes. Euripides’ Hippolytos). All diese am Maßstab kreativer Mimesis orientierten literarischen Gestaltungsformen verbinden sich – weniger explizit als eher über literarische Strukturen kenntlich – mit der Stadt Athen: sei es, weil die genannten Schriftsteller (Platon, Thukydides, Euripides) Athener, sei es, weil die literarischen Genera (philosophischer Dialog, Geschichtsanalyse, Drama) im demokratischen Athen des 5./4. Jh. entstanden waren. Damit verlaufen die Diskurse innerhalb bestimmter Linien, d. h. über mit bestimmten Autoren und Textsorten verbundene Wissensbereiche, die im kaiserzeitlichen Attizismus kanonische Gül-

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tigkeit erlangt hatten und deren Kenntnis Text-Produzenten wie -Rezipienten soziales Prestige in Aussicht stellte. Die besprochenen literarischen Reflexe sind nur vordergründig innerhalb eines apolitischen, literarischen Raums situiert.57 Denn stellt man die Texte in einen größeren Rahmen und kontextualisiert sie innerhalb ihrer soziopolitischen Umwelt – wie hier am Beispiel des zentral vom Kaiser gestifteten Athenaeum und der dort vollzogenen Mythisierung der ‚Kultmarke‘ Athen, wie sie prominent etwa auch in Aristides’ panegyrischem Παναθηναïκὸς λόγος hervortritt, gezeigt –, eröffnen sich zuvor ungeahnte Perspektiven auf ein Korpus kanonischer Wissensbestände, die unter den kulturellen Bedingungen der römischen Kaiserzeit zu dynamischen Leit- wie Kontrastbildern geworden waren.58

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|| 57 Entgegen der Annahme, die Literatur der Zweiten Sophistik und generell der Kaiserzeit sei apolitischen Charakters und habe sich an als vereinzelte Individuen gedachte Leser gerichtet, denen sie ein letztes Refugium an nostalgischen Identifikationsangeboten mit griechischen Themen der Vergangenheit geboten habe – so z. B. noch Reardon 1969 –, folgt dieser diskursanalytische Beitrag der bei Swain 1996, Schmitz 1997 und dann v. a. seit dem Bimillennium in der Forschung entwickelten Betrachtungsweise, die Texte verhandelten zentrale Fragen, v. a. Erfolg und Scheitern von sozialer Zugehörigkeit zu einem politischen Machtgefüge. 58 Zum Umgang der griechischen Kirchenväter mit der Stadt und der Neukonzeptualisierung Athens im 4. Jh.: Breitenbach 2003.

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Chiara Ombretta Tommasi

Da indovino tebano a profeta universale Alcune metamorfosi di Tiresia in età tardoantica Abstract: The present article deals with some late antique or early medieval interpretations of the figure of Tiresias, the Theban seer around whom a series of legends concerning his blindness and his transgender status had been established already in the archaic and classical period. The allegorization Greco-Roman myths underwent in Christian literature is obvious in Fulgentius’ interpretation of Tiresias, which links his story to the seasonal cycle, and in the Ovide moralisé, while Clement of Alexandria relies on Euripides’ Bacchae and describes Tiresias as a priest whose religion has to be overcome by the most perfect revelation of Christ, the true hierophant. An isolated passage in Lactantius Placidus’ scholia on Statius’ Thebaid, finally, interprets Tiresias as a powerful seer, thus providing the first kernel of the Demogorgon legend.

1 Introduzione All’interno delle molte, lunghe e complesse vicende in cui la saga tebana si è costituita, sviluppata e ramificata, ingenerando, secondo una arguta immagine di Jan Bremmer, un complesso edipico negli stessi Greci e nelle interpretazioni successive,1 desideriamo in questa sede prendere in esame una figura al suo interno meno eclatante, ossia quella dell’indovino e sacerdote Tiresia,2 così come essa appare declinata in tre esegesi di età tardoantica: sceglieremo, peraltro, quegli esempi più significativi tesi a mostrare quanto il riuso del mito operato dagli autori cristiani non sia semplice e naturale ripresa esornativa di storie e leggende,

|| 1 Bremmer 1987 e già Vernant 1972. Sulla fortuna e le interpretazioni successive del mito di Edipo, che non è possibile qui indagare, cf. Paduano 1994; Paduano 2012; altri riferimenti in Campanile 2009; Citti/Iannucci 2012. 2 Su cui cf. la raffinata e tuttora indispensabile analisi di Brisson 1976 che scompone le varianti del mito in chiave strutturalista; recentemente Buis 2003 presenta un succinto esame di alcuni temi chiave del mito. Un buon sunto della valenza simbolica del personaggio Tiresia in Capelli 2012, cap. 1. Si vedano inoltre, incentrati soprattutto sulla fase più arcaica, Ugolini 1995; Torres 2014. Uno studio in chiave comparativa su profetismo e divinazione nel mondo ebraico e in quello greco è offerto da Lange 2007. https://doi.org/10.1515/9783110656893-012

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né svolga più funzioni volte a legittimare una tradizione soprattutto cittadina, ma si connoti in maniera più ampia. Indovino e profeta strettamente connesso alla città di Tebe e ai suoi dinasti, considerato di origine tebana fin dalle prime attestazioni nell’Odissea3 (per quanto tale connessione si consolidi solo in epoca posteriore, probabilmente a partire dai poemi ciclici), Tiresia sembra gradualmente in età imperiale spogliarsi di queste caratteristiche per così dire ‘locali’ e assumere connotati più generici con tratti talora universali, già chiari in alcuni aspetti legati al suo mito (per esempio nelle vicende inerenti al cambio di sesso, connesse anche al rapporto con gli animali) e parzialmente responsabili, in ultima analisi, anche della successiva fortuna medievale, moderna e contemporanea.4 Emblematico a esempio il suo essere figura che assume, nel senso letterale del termine, diverse forme e differenti aspetti.5 Certo, la fama di Tiresia come indovino e profeta è attestata stabilmente già nell’Odissea, dove egli ha il ruolo di

|| 3 Cf. e.g. 10.537 e 11.90. 4 Solo per citare alcuni momenti di tale Nachleben, senza, peraltro, la pretesa di esaurire un ricco dossier (a esempio non citeremo opere che riguardano, più in generale, il tema dell’androginia e del cambio di sesso): oltre alle riprese di età medievale, a es. nell’Ovide Moralisé (cf. infra) e in Dante, Inferno 20.40–45, significativamente l’esempio di Tiresia è utilizzato agl’inizi del XV secolo da Christine de Pisan, ne Le Livre de la Mutacion de Fortune, 1061–1093, opera alla cui base sembrano essere la Consolatio di Boezio e l’Ovide Moralisé, e in cui si immagina, tra le altre cose, un cambio di sesso della protagonista (cf. Griffin 2009). Si può poi ricordare, in epoca moderna e contemporanea, il poema del 1885 Tiresias di Alfred Tennyson (su cui Di Rocco 2007); le sezioni III di The Waste Land (Helmling 1990 osserva come, contrariamente alla maggior parte delle fonti antiche, Eliot presenti Tiresia in maniera simpatetica, nonostante il suo esplicito essere rappresentante del paganesimo); From Mrs Tiresias, poesia di C.A. Duffy (1999); Les Mamelles de Tirésias, opera surrealista di Guillaume Apollinaire scritta originariamente nel 1903, ma riadattata per una rappresentazione nel 1917 (Bermel 1974; Read 2000), musicata poi da Francis Poulenc nel 1945 (prima rappresentazione 1947), che presenta, pur nel contesto satirico, forti toni antibellici; il balletto del 1950 di Constant Lambert; il mito è narrato in maniera leggera e scanzonata anche ne La chiave a stella di Primo Levi (1978, con Cinelli 2010, 179–181, per il quale la figura di Tiresia è “l’emblema di una sapienza capace di arbitrare l’insoluta tenzone fra il vincolo del reale e l’infrazione del possibile”); interessante la ripresa della vicenda di Edipo in Kafka sulla spiaggia, 海辺のカフカUmibe no Kafuka (2002) dello scrittore giapponese Haruki Murakami: in particolare il giovane emofiliaco ed efebico Oshima funge da novello Tiresia che inizia il giovane Kafka alle vicende della vita. Altre allusioni sono state riconosciute nel personaggio di Obi Wan della saga di Star Wars, ispirata latamente anche alle vicende di Edipo (Roisman 1999), e, in ultimo, si menzioni il film Tiresias diretto da B. Bonello (2003), su cui cf. il raffinato lavoro di Danese 2012 (che esamina anche altri aspetti del mito di Tiresia e della sua fortuna, p.es. l’opera di Poulenc). Una rassegna è offerta anche da Ugolini 2005. 5 Sul motivo della metamorfosi (e per conseguenza della conversione) insiste la lettura di Capelli 2012, a proposito delle interpretazioni medievali, moralizzate e cristianizzate, del mito.

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indirizzare e consigliare Odisseo prima della sua discesa agl’inferi e sembra profetizzargli la morte lontano da casa,6 e si fonde con quella di un Tiresia “avvezzo ai prodigi” nel papiro di Lille (PMGF 222(b), 234);7 ma senza dubbio egli appare inscindibilmente legato a molti episodi della saga tebana, nel suo ruolo di sacerdote e indovino alla corte, che attraversa varie generazioni da Cadmo fino a Laodamante. Sulla base di questi dati si è potuto supporre che la leggenda tebana si sia poi evoluta fino a incorporare elementi e influenze delfiche (a es. soprattutto per quanto riguarda il nucleo incentrato su Manto, figlia di Tiresia ed ella stessa indovina, che in altre fonti è anche ricordata come fondatrice dell’oracolo di Claro).8 Gli esempi che prenderemo in esame mostreranno le diverse sfaccettature assunte dal personaggio, con la prevalenza di un aspetto piuttosto che di altri con precisi scopi e precise rispondenze all’interno delle varie opere. A prevalere, infatti, sarà l’aspetto del Tiresia vate e indovino; la storia della sua bisessualità e, infine, il suo legame col culto dionisiaco così come risultante dalla lettura di un testo famoso e significativo quale le Baccanti di Euripide.

2 Tiresia mago e il demiurgo gnostico Un breve accenno si può dunque fare al ruolo quasi di mago, già adombrato nell’Edipo re sofocleo,9 ma accentuatosi nella letteratura latina di età neroniana e flavia, dal momento che si innesta sul terreno favorevole della marcata ten-

|| 6 Per questo episodio, che funge da legame tra l’Odissea e le successive vicende narrate nel Ciclo, cf. Castiglioni 2013 e Torres 2014. Sui legami tra Tebe e l’episodio omerico cf. Levin 1985. 7 Se si accetta la felice restituzione di Barrett (in Parsons 1977, 25): Τειρ[ε]σίας τ[ερασπό]λος (termine che sarebbe hapax legomenon, ma che sembra richiamarsi all’etimologia del nome di Tiresia, su cui cf. infra n. 36); cf. anche l’altro epiteto ὀ]νυμάκλυτος a 291 e l’espressione μάντιος θείου di 226. Numerosi i contributi sul papiro, dopo l’editio princeps di Ancher/Boyaval/Meiller 1976 e le successive di Parsons 1977; Bremer 1987; Davies 1991, 213–218. Per il ruolo di Tiresia cf. MacInnes 2007. 8 Torres 2014, 349–354; Torres 2015. Sul mito di Cadmo e le origini della vicenda tebana cf. Vian 1963 (76–77 per Tiresia) e più recentemente Castiglioni 2010. Per le vicende di Manto (in part. le connessioni con la tradizione italica) cf. Michalopoulos 2012, 224–228. Per le fonti latine, importante Brugnoli 1998. 9 Con tutti i significati che il termine μάγος implica: per il testo sofocleo cf. Rigsby 1976. Una prospettiva teorica più generale, che muove da Sofocle e da paralleli con la coeva letteratura medica, è offerta da Carastro 2007.

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denza all’elemento manieristico e barocco. Lo si vede già nell’Oedipus senecano,10 mentre la Tebaide staziana,11 ma soprattutto l’esegesi che del poema fece un altrimenti oscuro commentatore forse del quinto secolo, Lattanzio Placido,12 consegnò al Medioevo e alla letteratura successiva un Tiresia quasi gnostico, evocatore di una divinità somma dai tratti potenti e terribili. Cieco e ormai anziano (Stat. Theb. 4.443: senior), il vate Tiresia si prepara a richiamare gli dei dell’oltretomba, tra i quali il sommo signore del triplice mondo, il cui nome non è lecito conoscere (triplicis mundi summum, quem scire nefastum):13 mentre risultano evidenti i debiti con la celeberrima scena parallela del Bellum Civile lucaneo, in cui la strega Erictho invoca le Furie e altre divinità infere (lo Stige, Ecate e Persefone),14 sono altresì da mettere in rilievo le caratteristiche singolari di questa divinità, aniconica e innominabile, dal potere immenso e terribile, legato a entità infere e ctonie, come la Gorgone e le Erinni e dimorante egli stesso nel punto più basso del Tartaro. Il Tiresia staziano si spinge ancora oltre, conferendo a tale dio, innominabile e inconoscibile, caratteristiche di signore del cosmo (il triplice mondo rappresenta il cielo, la terra e gl’inferi), quasi controparte maschile della dea triplice Selene/Artemide/Ecate, che regna sugli stessi tre ambiti.15 In mezzo a una farragine di notizie banali (come quelle offerte dalla maggior parte della letteratura scolastica e scoliastica), la glossa lattanziana a Theb. 4.514–517 presenta tuttavia un punto di un qualche interesse. Stazio, si osserva, chiama Demiurgo il dio del quale non è lecito conoscere il nome e innumerevoli filosofi e magi persiani

|| 10 Per Tiresia come indovino nelle tragedie greche e segnatamente in Sofocle cf. Ugolini 1991; sull’evoluzione del personaggio da Sofocle a Seneca cf. Roisman 2003; Michalopoulos 2012; non sembrano però del tutto condivisibili e appaiono un po’ forzate le analogie che si vogliono stabilire tra Tiresia ed Edipo e soprattutto immaginare che la figura di Manto, che accompagna il padre, sia un’allusione alla bisessualità di Tiresia. Tra i vari studi (talora superflui) sulla tragedia latina e sulla caratterizzazione di Tiresia merita di essere ricordato qui Capdeville 2000. 11 Hopfner 1924; più recentemente cf. il commento di Parkes 2012 ad loc. e Lovatt 2013. 12 Sulla personalità assai oscura di Lattanzio Placido cf. Brugnoli 1988; Wolff 2010; Santini 2014; Cardinali 2014; sul procedimento esegetico Chance 1994, 168–169; Arena 2015. Manifesta scetticismo sulla reale esistenza dell’autore Cameron 2004, 313–316, che pure muove dalle considerazioni di Brugnoli. 13 Stat. Theb. 4.514–517. 14 Lucan. 6.744–749. 15 Solomon 2012, 43.

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asseverarono, dunque, che esiste, oltre a questi dèi conosciuti, che si venerano nei templi, anche un altro signore e reggitore oltre ogni misura, il quale dispone ordinandole tutte le restanti divinità, al genere delle quali appartengono il sole e la luna.16 (Lact. Plac. in Theb. 4.514–515)

Con accenti che ricordano da vicino le argomentazioni proposte da Massimo di Madaura nella celebre epistola 16 ad Agostino e altri testi tardoantichi a proposito dell’adorazione di un unico principio sotto molteplici forme,17 Lattanzio Placido prosegue ribadendo come il vero nome di dio sia inconoscibile e che dunque le sphragides possedute dai maghi si rivelino vane. Per sostenere questi concetti fa appello ad auctoritates sia pagane (Pitagora, Platone, Tagete, e poi Orfeo) che ebraiche (Mosè, Isaia), ed è inoltre da osservare come lo scoliaste sembri qui confondere – o comunque porre sullo stesso piano – la impronunziabilità del nome divino con la sua natura ignota.18 Mentre sia Lucano che Stazio, nel fare appello a questo dio ignoto, non sembrano tralasciare suggestioni provenienti dal mondo ‘orientale’, è certo che il tardo Lattanzio sembra essere influenzato da alcune dottrine gnostico-ermetiche a proposito del Demiurgo, che, come è noto, incorporò i

|| 16 Dicit autem Deum δημιουργόν, cuius scire non licet nomen. Infiniti autem philosophorum magorum, [Persae] etiam confirmant [aut] reuera esse praeter hos deos cognitos, qui coluntur in templis, alium principem et maxime dominum, ceterorum numinum ordinatorem, de cuius genere sint soli Sol et Luna (testo secondo Sweeney 1997). 17 Cf. Massimo, Aug. ep. 16.1: Equidem unum esse Deum summum, sine initio, sine prole naturae, seu patrem magnum atque magnificum, quis tam demens, tam mente captus neget esse certissimum? Huius nos virtutes per mundanum opus diffusas multis vocabulis invocamus, quoniam nomen eius cuncti proprium videlicet ignoramus. 18 Su questo punto cf. le considerazioni e il dibattito fiorito intorno alla pubblicazione dello studio di E. Norden sull’Agnostos Theos nel 1913 (cf. Norden 2002, con le nostre considerazioni introduttive). Il passo di Lattanzio Placido, citato già da Norden (233), ha ricevuto una attenta disamina in Bidez/Cumont 1938, 225–238, per i quali esso sarebbe da ricondurre a un milieu impregnato di credenze e dottrine iraniche, la cui comprensione è offuscata dal maldestro resumé fattone dallo scoliaste. Merita un cenno l’ultima sezione del testo in cui, conformemente a una tendenza attestata anche in altri autori tardi, credenze di natura latamente orientale sono accostate a dottrine etrusche (su questo punto cf. Briquel 2008), in questo caso alla storia di una sacerdotessa che, avendo rivelato all'orecchio di un toro il nome impronunciabile del dio sommo avrebbe in tal modo causato la morte del povero animale – una vicenda che è stata ricondotta alla storia di Vegoia narrata da Serv. Aen. 6.72 e, più in generale, al tabù di rivelare il nome segreto di una divinità (bibliografia in Tommasi 2014). È però interessante rilevare che la sovrapposizione tra elementi iranici, giudaici ed etruschi a proposito di una divinità somma si riscontra anche in Suid. s.v. Τυρρηνία. Per Nock 1962 il passo di Lattanzio Placido rientra appieno nella linea platonica.

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tratti del Dio veterotestamentario, ma stravolgendoli in senso negativo ed enfatizzandone i tratti di principio cosmico del male.19 In ogni caso, tanto il brano di Stazio, quanto la sua esegesi sembrano essere alla base della leggenda medievale che vuole l’autore della Tebaide convertito al cristianesimo,20 ma soprattutto la corruttela subita dal termine ‘demiurgo’ ha portato all’invenzione della figura mostruosa del Demogorgone.21 La glossa di Lattanzio testé esaminata riguarda solo in misura marginale il personaggio di Tiresia, ma si concentra esclusivamente sull’identificazione con il dio terribile da questi evocato. Non mancano, tuttavia, in ambito cristiano riprese che, nella generale condanna del determinismo astrale, degli indovini e delle arti mantiche, individuano anche in Tiresia un facile bersaglio: emblematico, benché trascenda il periodo cronologico preso qui in considerazione, è il canto dantesco citato in apertura, che accomuna nella pena dell’essere costretti a camminare con il viso rivolto all’indietro, Anfiarao, Tiresia, Arrunte, Manto ed Euripilo. Tra i non molti exempla mitologici riutilizzati da Boezio nella Consolatio, singolare è la scelta di menzionare Tiresia all’interno di una sezione che dibatte su temi quali prescienza, predestinazione e libertà umana e ripropone il paradosso secondo cui la libertà non è veramente tale se Dio prevede, mentre, viceversa, se Dio non può prevedere, la sua conoscenza è pura opinione. La conoscenza divina è certamente più salda di quella puramente umana rappresentata qui da Tiresia, del quale, con fine allusione e secondo un procedimento non estraneo allo spoudogeloion menippeo,22 Boezio riprende (Cons. 5, pr. 3.25) un verso pronunziato nella satira oraziana in cui Ulisse e Tiresia agl’inferi deplorano l’avidità dei captatores, sempre pronti ad andare in cerca di eredità:23

|| 19 Sulla vexata quaestio circa le origini orientali o greche della nozione di dio ignoto cf. il riassunto della questione da noi offerto in Norden 2002; sul demiurgo gnostico si vedano Fauth 1973; Quispel 1978; Jackson 1985; Plese 2006, 178–179. Per la divinità ignota di Stazio e Lucano, forse da identificarsi con il Dio degli Ebrei, cf. Tommasi 2013. 20 Ancora fondamentale al riguardo Mariotti 1976. 21 Come osserva, con concise formule, Seznec 1961, 22, “Demogorgon is a grammatical error, become god”. Sulle vicende medievali (ma anche rinascimentali e dell’età moderna, fino a Shelley) del Demogorgone cf. le ottime indagini di Fauth 1987; Solomon 2012; Matton 1995. 22 Per il caso specifico di Tiresia cf. il precedente nella Nekyomanteia di Luciano, studiato da Branham 1989, in cui la risposta di Tiresia a Menippo al cap. 21, sembra risentire di moduli paremiografici. Debole la nota di Monteleone 1998 a proposito dei legami tra il personaggio di Tiresia in Orazio e nella menippea. 23 All’interno delle numerose analisi della satira resta sempre valida quella di Kiessling/Heinze 1957, 290, che, per il verso in questione, suggerisce un’allusione alle polemiche contro il determinismo stoico, così come esemplificato a es. in Cic. fat. 20. Il passo boeziano, il cui

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O cosa ha a che fare con quel ridicolo vaticinio di Tiresia, ‘Che potrei dire, avverrà o non avverrà?’ Aut quid hoc refert vaticinio illo ridiculo Tiresiae: ‘Quicquid dicam, aut erit aut non?’ (Hor. serm. 2.5.59)

Meno prominente rispetto ad altri exempla mitologici (quali a esempio quello di Orfeo), quello di Tiresia non è sfuggito all’attenzione di alcuni commentatori medievali di Boezio (né ai miniaturisti dei codici), che lo reinterpretano in senso morale e in toni neoplatonizzanti, unendovi la nota vicenda del mutamento di sesso, derivata da Fulgenzio o dai Mythographi Vaticani (cf. infra)24. Tiresia diviene quindi paradigma dell’uomo e offre lo spunto per dibattere non solo (come nel testo della Consolatio) sull’incertezza dell’uomo nei confronti del fato, ma anche della divisione sessuale25.

3 Tiresia bisessuato: il ciclo delle stagioni e la conversione L’elemento che maggiormente connota la leggenda di Tiresia è dunque la sua bisessualità, spiegata dagli antichi come dovuta al fatto che egli fosse stato trasformato in donna dopo aver inavvertitamente spiato e percosso con il bastone (oppure ucciso, secondo altre varianti) due serpenti intenti a compiere l’atto sessuale, e che, trascorso un certo numero di anni (il numero simbolico di sette è attestato in varie fonti), avendo sorpreso gli stessi serpenti nello stesso atto, fosse stato in grado di ritornare uomo. Parimenti, è noto il seguito della vicenda, ossia che Tiresia venne chiamato a fungere da arbitro tra Zeus ed Hera in una contesa che verteva su chi tra l’uomo e la donna provasse maggior piacere nell’atto sessuale, dal momento che si trattava dell’unico essere umano ad aver sperimentato entrambe le condizioni: la schietta risposta, che cioè fosse la donna, provocò l’ira

|| contesto farebbe supporre appunto la matrice filosofica, è invece discusso brevemente da Guillaumin 2004. 24 Sulle miniature cf. Guillaumin 2004 e già Courcelle 1967, 234; per i glossatori siamo debitori a Chance 1994, 416–417 e 471–472. 25 Tale è l’interpretazione offerta nel commento anonimo di Erfurt edito da Silk 1935 (p. 290), che sembra contaminare note a Boezio e Marziano Capella. Attribuita inizialmente a Scoto Eriugena dallo stesso Silk, l’opera è stata successivamente considerata più tarda e ascritta al dodicesimo secolo da Courcelle.

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della dea che lo rese cieco, mentre Zeus, a parziale compensazione, gli donò il dono della profezia e, secondo altre versioni, gli concesse persino uno statuto divino.26 Una diversa variante del mito27 lega invece la cecità – comunque caratteristica di molti indovini – all’ira di un’altra dea, Atena, che da lui era stata sorpresa nuda mentre si bagnava. La circostanza è apparentemente slegata dal motivo transgender, in quanto conseguenza della violazione di un tabù, ossia il guardare un essere divino, benché, seguendo un’intuizione interessante di Luc Brisson, si può recuperare il motivo della bisessualità considerando che Atena, vestita, è di solito raffigurata in armi e dunque con attributi tipicamente maschili, mentre, nuda, rivela la sua vera natura femminile. In questo modo un tema di importanza cruciale nella vicenda di Tiresia può essere perciò recuperato e rielaborato.28 La bisessualità o l’androginia è infatti caratteristica tipica di figure mediatrici che non di rado assumono tratti sciamanici;29 e di caratteristiche pertinenti o riconducibili allo sciamanesimo è peraltro ricchissima la vicenda di Tiresia: cecità, preveggenza, transessualismo, ma anche la relazione con le montagne (Cillene, Citerone, Elicona), che di norma sono ritenute immagini dell’axis mundi, e con gli animali, tra cui il serpente, che sembra avere un rapporto privilegiato con gli indovini.30 Tiresia inoltre raffigura la mediazione tra uomini e dèi, e, in quanto indovino, considera le vicende umane da una prospettiva sovrumana e divina, di cui è raffigurazione la vita estremamente lunga. Tiresia diviene così, oltre che mediatore tra uomini e dèi, tra uomini e animali e tra i due sessi anche mediatore

|| 26 Nucleo originario della vicenda già nella Melampodia di Esiodo (ap. Ps. Apollod. 3.6.7 = fr. 275 Merkelbach/West). Torres 2014, 354 suggerisce, in maniera suggestiva, ma forse un po’ azzardata, che il fatto che il discorso di Tiresia nel libro undicesimo dell’Odissea apra la strada al catalogo delle donne avrebbe potuto richiamare alla mente degli uditori la vicenda del cambio di sesso, benché questa non sia mai esplicitata nel poema (conformemente, peraltro, al disinteresse omerico per questo tipo di materiale). 27 Ps. Apollod. 3.6.7 = Pherec. FGrHist 3 F 92a e Callim. H. 5.75–84. 28 Brisson 1976, 50–55 insiste anche sul legame tra Atena e il serpente. Ulteriori considerazioni sono ora svolte da Di Rocco 2016, con attenzione al motivo dell’ora meridiana in cui Tiresia avrebbe sorpreso Atena e con ampia discussione sul topos della proibizione di vedere un dio. Sul tema cf. anche McCartney 1941 (in chiave comparativa) e Loraux 1989, che interpreta differentemente il mito di Tiresia e Atena. 29 Ma si vedano a proposito dell’individuazione e della delimitazione del fenomeno sciamanico gli opportuni caveats espressi da Casadio 2017. Duplain-Michel 2000 presenta un’analisi dei tratti e delle peculiarità sciamaniche di Tiresia. 30 Sul motivo si veda già Krappe 1928. Cf. anche il brano di Porph. Abst. 3.3, ove si dice che il serpente aveva potere di conferire facoltà mantiche.

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tra vivi e morti e tra le generazioni.31 Certamente, tale condizione mediana implica che il profeta sia marginalizzato e talora relegato al di fuori del normale consesso umano: Brisson a tal proposito parla di uno statuto ambiguo “qui inspire à son égard un mélange de venération et de crainte, d’admiration et de mepris”.32 La notorietà di tale mito permette che sia oggetto di una declinazione assai interessante nel corso della Tarda Antichità.33 Allegorizzando la maggior parte dei miti classici, conformemente a una tendenza generalizzata del periodo e a una chresis da parte cristiana, ma sicuramente influenzata da idiosincrasie personali (rispecchiantisi nello stile bizzarro e involuto, come nelle fantasiose etimologie), Fulgenzio Mitografo34 annovera Tiresia tra gli esempi di creature ibride e mostruose che presentano un’unione di elementi innaturali, come a esempio uomini e cose o animali. Dopo aver riferito per sommi capi la vicenda dei serpenti, del cambio di sesso e della contesa tra Giove e Giunone, lo scrittore africano aggiunge che i Greci35 interpretarono Tiresia come immagine del tempo (Teresiam

|| 31 Cf. già García Gual 1975; interessante l’indagine comparativa offerta da Carp 1983, che prende in esame il tema della bisessualità e il motivo del puer senex (nel caso presente sostituito dalla vita oltremodo lunga) in una serie di figure di profeti e indovini di varie tradizioni e culture; cf. anche l’interpretazione antropologico-psicanalitica in Roheim 1946. Sul mediatore come androgino cf. anche il nostro Tommasi 1998, con bibliografia. Per altre considerazioni metodologiche cf. Bremmer 2015. 32 Brisson 1976, 35. 33 Esula dai limiti cronologici del presente lavoro la pur interessante rielaborazione del mito di Tiresia in un poeta altrimenti sconosciuto di nome Sostrato, forse da datarsi al I sec. a.C. secondo O’Hara 1996. Sostrato riferisce di sette metamorfosi subite da Tiresia, che originariamente era nato fanciulla, venendo poi trasformato in ragazzo da Apollo; in questa fase Sostrato colloca il giudizio dato alla contesa di Hera e Zeus; successivamente, fu alternativamente ritrasformato in donna, uomo o persino animale, talora per aver irritato o essersi beffato degli dèi. Come già nota O’Hara 1996 (ripreso da Cameron 2004, 56–57; cf. anche Ugolini 1995, 100–110), molte delle vicende in cui Tiresia si ritrova coinvolto o coinvolta rispecchiano strutture e motivi di altri miti (a es. Cassandra e Apollo; il giudizio di Paride; la storia di Atena e Aracne, etc.) ed è superfluo notare come alcuni degli animali legati alla vicenda di Tiresia (topo, donnola) siano considerati animali profetici. 34 In attesa dell’annunciata monografia di G. Hays, che dovrebbe anche produrre una nuova edizione del testo che sostituisca quello di Helm 1898 (da cui citiamo), su questo oscuro scrittore africano cf. Hays 2003 e Hays 2004. Per il suo modo di allegorizzare il mito cf. Chance 1994, passim; Cameron 2004, 308–309; Cullhed 2015, 402–432; Venuti 2015, oltre al testo commentato da Wolff/Dain 2013. 35 Interessante la nota con cui viene introdotta questa interpretazione: Grecia enim quantum stupenda mendacio, tantum est admiranda commento (Fulg. myth. 2.5, p. 44,6–7 Helm).

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enim in modum temporis posuerunt quasi teroseon [sc. θέρος + αἰών] id est aestiua perennitas), con una fantasiosa etimologia;36 successivamente prosegue: Dunque dalla primavera, che è maschile, poiché in quella stessa stagione i germogli sono chiusi e sodi, mentre vide degli animali che tra loro copulavano e con quel bastone, cioè con calore ardente, li percosse, viene trasformato in donna, ossia nella calura estiva. Infatti essi interpretarono l’estate come una donna, poiché in quel periodo tutte le cose, apertesi, emergono dai loro follicoli. E poiché sono due i periodi del concepimento, la primavera e l’autunno, quando gli è impedito quel concepimento, di nuovo ritornò alla forma che aveva in precedenza. L’autunno infatti serra tutte le cose che hanno un corpo maschile, per cui, chiuse le vene degli alberi, stringendo nuovamente i canali che hanno rapporti comuni, fa cadere in basso la calvizie delle foglie marcite. Infine viene richiesto come arbitro tra i due dèi, ossia i due elementi, il fuoco e l’aria, che litigavano a proposito della vera maniera dell’amore. Profferisce alfine un giusto giudizio: per far fruttificare i germogli è presente una parte doppia di aria rispetto al fuoco. L’aria invero sposa nelle zolle, sviluppa nelle foglie, ingravida nei follicoli, mentre il sole è solamente in grado di maturare nei frutti. Ché, perché ciò sia certo, viene anche accecato da Giunone, evidentemente perché il tempo in inverno si oscura con l’addensarsi caliginoso delle nubi, mentre Giove, con nascosti vapori, gli fornisce il concepimento del germe che verrà, ossia, quasi una prescienza. Infatti, per questa ragione anche Giano viene raffigurato bifronte, perché osserva gli eventi passati e quelli futuri.37 (Fulg. myth. 2.5, p. 44,8–45,4 Helm; traduzione mia)

|| 36 Gallavotti 1937 osserva, riguardo all’etimologia, come sia da collegarsi a τέρας (“prodigio”), piuttosto che a τείρεα, “costellazioni, fenomeni o segni celesti”. 37 Ergo ex uerno tempore, quod masculinum est quia eodem tempore clusura soliditasque est germinum, dum coeuntia sibi adfectu animalia uiderit eaque uirga id est feruoris aestu percusserit, in femineum sexum conuertitur, id est in aestatis feruorem. Ideo uero aestatem in modum posuerunt feminae, quod omnia patefacta eodem tempore suis emergant folliculis. Et quia duo concipiendi sunt tempora, ueris et autumni, iterum conceptu prohibito ad pristinam redit imaginem. Autumnus enim ita omnia masculino corpore astringit, quo constrictis arborum uenis uitalis suci conmerciales transennas iterum stringens foliorum marculentam detundat caluitiem. Denique duobus diis id est duobus elementis arbiter quaeritur, igni atque aeri, de genuina amoris ratione certantibus. Denique iustum profert iudicium; in fructificandis enim germinibus dupla aeri quam igni materia suppetit; aer enim et maritat in glebis et producit in foliis et grauidat in folliculis, sol uero maturare tantum nouit in granis. Nam, ut hoc certum sit, cecatur etiam a Iunone, illa uidelicet causa, quod hiemis tempus aeris nubilo caligante nigrescat, Iuppiter uero occultis uaporibus conceptionalem factum ei futuri germinis subministrat, id est quasi praescientiam; nam ob hac re etiam Ianuarius bifrons pingitur, quod et praeterita respiciat et futura. Con qualche minima variante il racconto viene fatto proprio anche dai Mythographi Vaticani (1.16; 2.84; 3.4.8) e da Lattanzio Placido (in Theb. 2.96, derivato essenzialmente da Hyg. fab. 75, oltre che da Ovidio).

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Mentre, come altrove, il riassunto del mito è chiaramente improntato a uno degli auctores canonici, utilizzati dal nostro, come da tutti gli eruditi tardoantichi e medievali, ossia Ovidio,38 sembra di più difficile identificazione la fonte di tale esegesi, che sarà piuttosto da ricondurre a Fulgenzio medesimo: lo farebbero supporre il modo consueto di argomentare, che segue uno schema prefissato di etimologie, interpretazioni figurali, citazioni, talora esplicite, di auctoritates antiche, e tendenza al descrittivismo o all’iconografia ed è non di rado oberato di farragine e artificiosità.39 Senza dubbio l’interpretazione dei vari cambiamenti di sesso di Tiresia e della sua preferenza accordata al piacere femminile come facente riferimento al processo di fecondazione e germinazione e all’alternarsi delle stagioni rientra nell’ambito di una tendenza, lontanamente ricollegabile allo stoicismo, di interpretare figure ed episodi del mito come espressione di fenomeni naturali;40 mentre sembrano potersi ricollegare a un neoplatonismo vulgato i contrasti tra chaos e kosmos oppure tra materia e spirito, largamente presenti nell’opera,41 talora caratterizzati da toni velatamente misogini42 (in questa sezione, a dire il vero, solo impliciti, mentre, viceversa, molto maggiormente insistita è la condanna del comportamento di Giunone, affrettato e irascibile nelle

|| 38 Il Sulmonese, com’è noto, descrive l’episodio in met. 3.316–338. I recenti studi di Liveley 2003; Fabre Serris 2011 evidenziano i nessi con il complesso del terzo libro e la saga tebana, ma anche con il tema del serpente; le affinità col mito di Narciso e, in parte, con la nascita di Bacco. Per la struttura cf. anche Capelli 2012, 87–93, che evidenzia altresì il tema della vista e le componenti ctonie (rappresentate anche dai serpenti). 39 Una discussione del metodo seguito da Fulgenzio è offerta da Venuti 2010. Preziosismi stilistici nel presente passo sono stati individuati da Wolff/Dain 2013, 159: tra questi cf. il tardo clusura, i rari termini detundo (Apul. Met. 2.32.1) e commercialis (Aug. Io. ev. tr. 13.14), l’hapax marculentus, per non parlare della difficoltà sintattica del periodo. 40 Come si vede, peraltro, anche dalla ripresa dell’allegoria fisica di origine stoica, che identificava Zeus con il fuoco ed Hera con l’aria (grazie anche al gioco paronomastico tra ῞Ηρα e ἀήρ). Similmente il commento di Bernardo Silvestre a Marziano Capella (p. 67,554–68,581 Westra), in una esegesi che godrà di discreta fortuna, essendo utilizzata da Arnolfo di Orléans e dal commento di Neckam, offre parimenti una versione molto conforme all’interpretazione di Fulgenzio, intendendo il conflitto tra Giove e Giunone come una lotta nelle regioni dell’aria e del fuoco. I sette anni trascorsi da Tiresia in spoglie femminili indicano il concepimento nel mese di settembre; la separazione dei serpenti significa l’arrivo dell’inverno, etc. 41 Chance 1994, 107–108 (con discussione anche della Graeca garrulitas o di altre espressioni simili che connotano la mitologia pagana). 42 Venuti 2010, 87, a proposito del mito di Pegaso e Bellerofonte. Anche l’interpretazione che Fulgenzio dà della novella apuleiana di Amore e Psiche va in questa stessa direzione (Moreschini 2015, 88–90).

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riletture medievali).43 In ogni caso Fulgenzio sembra alludere alla dottrina, comunemente attestata nel mondo antico, secondo cui le stagioni femminili sono l’estate e l’inverno, mentre, viceversa, primavera e autunno sono maschili, in base alla credenza che si potesse concepire (essendo il solo maschio responsabile del concepimento) solo in quei periodi. L’allegoria fulgenziana di Tiresia sarà ripresa in epoca medievale, a esempio in Arnolfo di Orléans,44 e costituirà il nucleo del primo stadio esegetico (expositio) presente nell’Ovide moralisé (vv. 1107–1188), con un importante mutamento rispetto a Fulgenzio. Dall’Africano si riprende e si amplia il dettaglio per cui Tiresia rappresenta il cambiamento delle stagioni, calda e fredda, e si aggiunge come il litigio di Giove e Giunone, composto da Tiresia, rappresenta l’armonia della Natura in seguito alla concordia discors degli elementi; il fatto che Tiresia dichiari che la donna prova maggior piacere corrisponde alla realtà naturale del processo germinativo, maggiormente appannaggio della parte femminile, mentre l’accecamento di Tiresia da parte di Giunone e l’intervento riparatore di Giove rappresentano il ciclo di maturazione dei frutti, prima nascosti al buio nella terra (a causa della gelida aria invernale, ovvero Giunone), e poi fatti sbocciare alla luce dal sole, grazie al calore di Giove; accanto a ciò, sembra però potersi istituire un ulteriore parallelismo tra Giunone che rinserra e chiude i germogli così come acceca Tiresia, mentre Giove, dischiudendo la natura, palesa a Tiresia la vista delle cose future. Di particolare interesse si rivela però la sezione finale del testo, che trasforma Tiresia/veggente in Tiresia/profeta (vv. 1191–1125), simbolo di tutti coloro che raccolsero il messaggio di Cristo per diffonderlo nel mondo con la predicazione (vv. 1126–1242); la doppia natura del tempo, prima scura poi luminosa, rappresenta la notte del peccato da cui si esce convertendosi alla luce della fede, ed è ben esemplificata dai casi paradigmatici della Maddalena e di san Paolo (vv. 1243–1272), le cui rispettive esperienze di pentimento e redenzione mostrano anche che la donna è una devota più fervente degli uomini, perché – a differenza degli uomini che abbandonarono Gesù sulla croce – furono la Maddalena e la Madonna a restare con lui fino alla sua Resurrezione (vv. 1273–1291).45

Superfluo è aggiungere come la scelta di Paolo non appaia casuale non solo per il ruolo e l’importanza all’interno del consesso degli Apostoli, ma soprattutto per aver sperimentato un temporaneo accecamento nel noto episodio della conversione sulla via di Damasco. || 43 Capelli 2012, 65–76. 44 Allegoriae super Ovidii Metamorphosen, 3.4; cf. anche Giovanni di Garlandia, Integumenta Ovidii, 3.167–168, con le considerazioni di Capelli 2012, 40. 45 Capelli 2012, 105, che pubblica il testo alle pp. 108–121.

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Ancora più esplicitamente caratterizzata in senso cristiano sembra essere la versione in prosa, scritta da un chierico a servizio del nobile francese Renato d’Anjou tra il 1466 e il 1467, nata a uso delle corti, ma probabilmente influenzata anche dagl’insegnamenti del noto domenicano Juan de Torquemada:46 vediamo qui che la parte espositiva è limitata al minimo, mentre si espande notevolmente l’interpretazione di Tiresia come modello per Paolo e per le donne ai piedi della croce. Come Tiresia sperimentò un mutamento di vita, trasformandosi da uomo in donna, così Paolo sperimenta la metamorfosi dall’uomo vecchio, prigioniero del peccato, a quella dell’uomo nuovo, annunciatore del Cristo. Sembra degno di nota il riferimento all’ira di Giunone non solo carico dei toni antifemministi già evidenziati, ma anche di accenni antigiudaici: tale interpretazione è assente dalla versione poetica, che pure assume talora atteggiamenti antigiudaici. Giunone infatti viene interpretata come la “Sinagogue des Juifs, … tant courroucée et indignée contre luy [sc. Paolo] qu’elle luy imposa et mist en sus comme digne de mort”47 e non sembra peregrino ricordare qui come l’iconografia medievale spesso raffigurasse la Sinagoga cieca – dunque, in tal caso, si assisterebbe ad una implicita sovrapposizione tra colei che nel mito acceca Tiresia e la cecità degli Ebrei che non riconobbero la divinità di Gesù.

4 Tiresia sacerdote di Dioniso e la conversione Prima ancora delle riletture marcatamente cristiane offerte dall’Ovide Moralisé, peraltro, il mondo antico aveva offerto un esempio che sembra andare in questa stessa direzione e che rientra in quei non sporadici tentativi di cercare una symphonia o una conciliazione tra cultura classica e religione cristiana, oggetto negli ultimi decenni di studi sempre maggiori nei termini di “coabitazione”, appropriazione e di rilettura del patrimonio culturale greco-romano. || 46 Come sembra evincersi dall’interpretazione che riguarda il cosiddetto ufficio delle tenebre previsto dalla liturgia negli ultimi tre giorni della settimana santa: “un candelabro con quindici candele accese veniva posto sull’altare e ognuna delle candele veniva spenta alla fine del Salmo intonato dai presenti, tranne l’ultima che, nascosta sotto l’altare, rappresentava Gesù Cristo, solo momentaneamente morto in croce ma poi risorto nella luce eterna del Padre”. L’Ovide Moralisé in prosa presenta inoltre una particolare esegesi di tale consuetudine, che deriverebbe dalla Summa de Ecclesia 1.30 di Torquemada: quod candela quae occultatur in officio matutinali in ultimis diebus hebdomadae sanctae significat fidem Christi quae in sola uirgine remansit, per quam postea omnes fideles docti & illuminati sunt (Capelli 2012, 143–151, da cui sono tratte le citazioni). 47 Cap. 9, da Capelli 2012, 148.

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Inoltre, se i brani sinora letti sembrano fare appello a un Tiresia spogliato di qualunque connotazione locale, viceversa, questo, cronologicamente il più antico, presenta un richiamo esplicito alla vicenda tebana e in particolare a quella dell’introduzione del culto dionisiaco nella città. Rievocando apertamente, mediante un uso sapiente della citazione e dell’arte allusiva, le Baccanti euripidee, il capitolo finale del Protrettico di Clemente, l’opera in cui l’Alessandrino esorta i pagani colti affinché abbandonino la falsità dei loro dèi e la vanità dei loro culti, apostrofa direttamente Penteo e Tiresia: (118.4) … Allora contemplerai (κατοπτεύεις) il mio Dio, sarai iniziato a quei santi misteri (τοῖς ἁγίοις ἐκείνοις τελεσθήσῃ μυστηρίοις) e gusterai quelle cose che sono nascoste nei cieli (τῶν ἐν οὐρανοῖς ἀπολαύσεις ἀποκεκρυμμένων), che sono a me riservate, che nessun orecchio udì, e non giunsero mai al cuore di alcuno (ἃ οὔτε οὖς ἤκουσεν οὔτε ἐπὶ καρδίαν ἀνέβη τινός). (5) “E mi sembra di vedere due soli e due città di Tebe” (Καὶ μὴν ὁρᾶν μοι δύο μὲν ἡλίους δοκῶ, δισσὰς δὲ Θήβας), diceva un tale che, ubriaco di completa ignoranza (ἀγνοίᾳ μεθύων ἀκράτῳ), nel furore bacchico (βακχεύων), credeva di vedere dei fantasmi. Io provo pietà per lui, che è in stato di ubriachezza, e vorrei esortarlo, mentre è in tale stato di dissennatezza, a una salvezza che lo può rinsavire (ἐπὶ σωτηρίαν […] σωφρονοῦσαν), poiché il Signore gradisce il pentimento e non la morte del peccatore. (119.1) Vieni, o pazzo, senza appoggiarti al tirso, senza corone di edera; getta via la benda, getta via la nebride, ritorna in senno (Ἧκε, ὦ παραπλήξ, μὴ θύρσῳ σκηριπτόμενος, μὴ κιττῷ ἀναδούμενος, ῥῖψον τὴν μίτραν, ῥῖψον τὴν νεβρίδα, σωφρόνησον): ti mostrerò il Logos e i misteri del Logos (τοῦ λόγου τὰ μυστήρια), descrivendoli a somiglianza dei tuoi misteri. Questo è il monte amato da Dio, non è riservato a tragiche storie come il Citerone, ma consacrato ai drammi della verità, un monte temperante (ὄρος νηφάλιον), ombreggiato di santi boschi. In esso si inebriano, non “le sorelle di Semele”, “colpita dal fulmine” (τῆς κεραυνίας), le Menadi, le iniziate alla ripugnante spartizione di carni crude (αἱ δύσαγνον κρεανομίαν μυούμεναι), ma le figlie di Dio, le belle agnelle, che celebrano i venerabili riti (σεμνὰ … ὄργια) del Logos, e che formano un casto coro. (2) Questo è il coro dei giusti, e il loro è un inno di lode al re dell’universo. Suonano le fanciulle, gli angeli innalzano il loro canto di gloria, parlano i profeti, si eleva un suono di musica; coloro che sono stati chiamati, desiderosi di ricevere il Padre, seguono di corsa il tiaso, si affrettano (δρόμῳ τὸν θίασον διώκουσιν, σπεύδουσιν οἱ κεκλημένοι). (3) Anche tu vieni a me, o vecchio; dopo aver lasciato Tebe, e dopo aver messo da parte la tua arte profetica e il furore bacchico (λιπὼν καὶ τὴν μαντικὴν καὶ τὴν βακχικὴν ἀπορρίψας), fatti condurre per mano verso la verità. Ecco io ti do il legno (ξύλον) per appoggiarti. Affrettati, Tiresia, abbi fede, riacquisterai la vista. Cristo, grazie al quale gli occhi dei ciechi tornano a vedere, risplende su di te più luminosamente del sole. La notte fuggirà via da te, il fuoco avrà paura di te, la morte si dileguerà. Vedrai i cieli, o vecchio, tu che ora non riesci a vedere Tebe (Χριστὸς ἐπιλάμπει φαιδρότερον ἡλίου, δι’ ὃν ὀφθαλμοὶ τυφλῶν ἀναβλέπουσιν· νύξ σε φεύξεται, πῦρ φοβηθήσεται, θάνατος οἰχήσεται· ὄψει τοὺς οὐρανούς, ὦ γέρον, ὁ Θήβας μὴ βλέπων). (120.1) O misteri veramente santi! O luce purissima! Illuminato dalle torce del daduco in modo tale che posso contemplare i cieli e Dio, divengo santo per mezzo dell’iniziazione ai

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misteri; il Signore è ierofante e, mentre illumina l’iniziato, lo contrassegna con il suo sigillo, e presenta al Padre colui che ha creduto, affinché sia custodito per l’eternità (δᾳδουχοῦμαι τοὺς οὐρανοὺς καὶ τὸν θεὸν ἐποπτεῦσαι, ἅγιος γίνομαι μυούμενος, ἱεροφαντεῖ δὲ ὁ κύριος καὶ τὸν μύστην σφραγίζεται φωταγωγῶν). (2) Queste sono le feste dei miei misteri (ταῦτα τῶν ἐμῶν μυστηρίων τὰ βακχεύματα)! Se vuoi, anche tu fatti iniziare (μυοῦ) ai misteri, e danzerai insieme con gli angeli intorno all’ingenerato e imperituro, il solo che è veramente Dio, mentre il Logos di Dio canterà inni insieme con noi. (Clem. Al. Protr. 12.118.4–120.2, citato nella trad. di Migliore 2004)

Sostenuta da una accurata tessitura letteraria, che abilmente mescola citazioni dei classici, richiami eruditi e parafrasi scritturistiche,48 è questo, come già accennato, l’inno di esortazione con cui Clemente suggella la sua opera, nella quale, verisimilmente, il presentare i riti, e prima ancora i miti, pagani come una serie ripetuta di crimini e oscenità serviva a controbilanciare, secondo un metodo largamente diffuso presso gli apologeti, ma qui ulteriormente rifinito e raffinato, le accuse mosse talora al cristianesimo di incesto e riti cannibalici. In particolare, Clemente “sfrutta qui una forte tendenza a unificare i misteri” (derivata probabilmente da una fonte orfica), “ma nella sua narrazione, egli aumenta la connessione tra i vari misteri fino al punto di presentarli come un’unica congerie di ‘assassinii e tombe’”.49 L’opera ha certamente come bersaglio polemico molti dei culti cosiddetti di mistero, primi tra tutti quelli di Demetra e Dioniso, ma non di rado critica altresì una serie di culti minori, oltre a usanze e tradizioni meno note,

|| 48 Siffatta attenzione al dettato stilistico (assimilabile a quella dei coevi esponenti della Seconda Sofistica) e all’uso accorto delle citazioni, ancora maggiore che in altri testi di Clemente, è caratteristica di tutto il Protrettico e non appare casuale, proprio in ragione dei destinatari, ovvero Greci colti. Sullo stile cf. ancora Steneker 1967. Negli ultimi tempi si è ipotizzato che Clemente avesse in mente un pubblico composto, oltre che di pagani, quasi in una risposta all’opera polemica del colto filosofo Celso, anche di persone già cristiane, in virtù dei frequenti richiami alla Scrittura (Herrero de Jáuregui 2008, 28). Sul modo in cui i Padri della Chiesa rielaborano le citazioni dei tragici cf. le considerazioni metodologiche di Moreschini 2004; per quanto riguarda le Baccanti in particolare vale la pena notare che in Strom. 4.25.162.3–4, Clemente cita alcuni versi del dialogo tra Dioniso e Penteo in Eur. Bac. 470–472; 474; 476, su cui innesta 1 Cor. 13.12. Massa 2014, 186–188 propone di vedere in tale citazione una forma di catechesi a carattere iniziatico, probabilmente maturata per contrapporsi ai coevi movimenti gnostici. 49 Herrero de Jáuregui 2010, 266. Lo studioso continua osservando come la chiave di tale processo di unificazione sia rappresentata da Eleusi, come sembra mostrare il sovrapporsi di immagini tratte dalla sfera del culto eleusino e di quello bacchico; peraltro, sarà proprio a partire da Clemente che la successiva speculazione cristiana mostrerà una tendenza a unificare tutti i misteri sotto l’ombrello della saga orfico-eleusina e che il nesso tra le due tradizioni appaia nel cristianesimo con una pregnanza assai maggiore di quanto altre fonti invece sembrino suggerire.

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spesso legate a culti e contesti locali (per esempio sulla divinizzazione di personaggi mortali, secondo l’usato argomento evemeristico)50. L’operazione culturale di Clemente è comunque più fine e degna di interesse, in quanto non si limita alla mera polemica e all’opporre le due realtà,51 ma presenta una interessante commistione tra la Fachsprache dei misteri52 e la lingua scritturistica,53 per non parlare di abili richiami a sezioni precedenti, quasi in un processo di Ringkomposition:54 si produce in tal modo un discorso retoricamente efficace, nel quale Clemente stesso si presenta come colui che si fa annunciatore del messaggio misericordioso del Logos, qui presentato con l’interessante attributo di ἀρχιερεύς.55 Grazie a tale funzione, Clemente si può porre quindi come un nuovo Orfeo, nella sua natura di ierofante, che, mediante l’inserzione di una nota personale, sorpassa gli antichi culti e palesa, in una studiata climax, la forma più pura e più alta dei veri misteri, ossia i misteri cristiani: essi fanno scomparire la notte, il fuoco e la morte degli empi misteri pagani (così esplicitamente caratterizzati a Protr. 2.22.7). Accanto alla terminologia eleusina, è dunque importante menzionare le reminiscenze del culto dionisiaco, che sono introdotte da un verso celebre delle Baccanti,56 in cui a nostro parere la scelta dell’imagerie solare si pone in diretta

|| 50 Sono questi i punti in cui al testo di Clemente sembra attingere Arnobio, grossomodo un secolo dopo, in particolare nel riprendere certe vicende nei libri quarto, quinto e sesto come evidenziamo nel nostro commento (Tommasi 2017a). 51 Non è questa la sede per discutere delle premesse teoriche e del complesso rapporto tra dionisismo e cristianesimo, oggetto di dibattito fin dalla fine dell’Ottocento, e discusse ora, sulla base di nuovi paradigmi metodologici nella disamina di Massa 2014. Per alcuni temi dionisiaci in Clemente cf. anche Jourdan 2006. 52 Su cui cf. Riedweg 1987, 155–157. 53 Apertamente citata la prima Epistola ai Corinzi (2.9), già citata in Protr. 10.94.4; inoltre vi sono allusioni a Ez. 18.23 e 33.11, rifuse con Lc. 15.20 (il Signore gradisce il pentimento, etc.); ad Apoc. 14.1 (le donne cristiane come “belle agnelle”). 54 Similmente si veda l’immagine della luce nei misteri eleusini citata a Protr. 11.114.3; cf. anche l’apostrofe al daduco e a Iacco che spengano le torce, perché i riti vergognosi non siano visibili (2.22.6–7); il contrasto tra Sion e il Citerone in 1.2.1–3, con l’adattamento della metafora teatrale a Cristo (“il legittimo competitore, incoronato nei teatri di tutto il mondo”). L’immagine della musica e degl’inni riprende, peraltro, proprio la sezione di apertura dell’opera, con il richiamo ad Anfione e Orfeo. 55 Cf. anche Paed. 2.8.67.1; Strom. 2.9.45.6. “Interestingly, the title has Biblical roots (cf. e.g. Hebr. 7.26), but functions at the same time as a reminiscence of the Eleusinian mysteries (cf. Hdt 2.37)” (Herrero de Jáuregui 2008, 266). 56 Si tratta del v. 918, ripreso anche in Plut. Comm. not. 1083E; Luc. Pseudol. 19; Sext. M. 7.192. L’immagine del sole raddoppiato allude alla visione alterata di Penteo in preda all’estasi dioni-

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continuità con la scelta di metafore attinenti alla luce presenti nei capitoli immediatamente precedenti e destinate a manifestare lo splendore della religione cristiana. I richiami al dionisismo inoltre trovano rispondenza nella scelta di utilizzare in senso metaforico aggettivi di norma pertinenti al contesto del vino e dell’ebbrezza quali ἄκρατος e νηφάλιος, ma soprattutto si evidenziano nei passi in cui Clemente allude prima a Penteo e poi apostrofa direttamente Tiresia, incalzandolo, tramite una serie insistita di anafore, ad abbandonare il culto bacchico e i suoi attributi distintivi (il tirso, l’edera, la mitra e la nebride),57 per indirizzarsi ai veri misteri del Logos. Ciò potrà avvenire solo appoggiandosi alla croce, il cui legno riveste in tale contesto un particolare significato, in quanto abilmente Clemente vi allude mediante l’uso di un termine non connotato quale ξύλον, che viene quindi a sovrapporsi alla tradizionale iconografia di un Tiresia che, cieco, sorreggeva i suoi passi con l’aiuto di un bastone, bastone che rappresenta il suo status di mediatore.58

|| siaca (cf. anche le riprese Ov. ars 3.763–764; Sen. epist. 83.21), variamente interpretata dai moderni, vuoi come semplice conseguenza dell’ebbrezza, vuoi come manifestazione di fenomeni isterici (Dodds 1969, 193), ovvero come conseguente all’iniziazione (Seaford 1987): una sintesi di tali esegesi in Goldhill 1988 e Massa 2011, 156 (= 2014, 172), a cui vanno aggiunte le osservazioni di Di Benedetto 2004 ad loc.: i sintomi di tale visione sdoppiata ricorrono con la medesima terminologia in Hp. morb. 2.15. Per Agnosini 2015, 291: “Clemente sembra […] prendere spunto da un’interpretazione della diplopia di Penteo come dovuta a ebbrezza, a cui sovrappone la metafora che equipara l’ubriachezza alla ἄγνοια, alla follia, forse accentuata anche dal gioco di parole tra i participi παροινοῦντα e παρανοοῦντα. In altre parole, Clemente sembra voler mettere in evidenza l’originalità della propria interpretazione del verso euripideo, mostrando di innovare consapevolmente quella che pare essere un’interpretazione più diffusa”. Si deve notare come lo stesso Clemente, in Paed. 2.2.24.2, riprenda questo verso e lo dica pronunziato da un “vecchio tebano ubriaco”. La discrepanza tra la usuale raffigurazione di Penteo come giovane è stata notata e discussa da Massa 2014, per il quale più che di errore si tratta di voluta distorsione da parte di Clemente, dettata forse dalla volontà di sovrapporvi la tematica scritturistica dell’“uomo vecchio”, oppure che si tratti di un richiamo a Tiresia. A nostro parere è meno macchinoso supporre, con Agnosini 2015, ibid., il quale peraltro osserva come l’appellativo di vecchio potrebbe riferirsi anche a Cadmo (nella tragedia, peraltro, meno refrattario ad accettare i misteri dionisiaci), come, dal momento che “Clemente sta descrivendo gli effetti nocivi del vino […] l’appellativo di ‘vecchio ubriaco’ potrebbe forse essere soltanto un modo di dipingere, in maniera estremizzata e iperbolica, gli effetti del bere smodato”. 57 Sia Migliore 2004, 208, che Agnosini 2015, 291 giustamente notano che il passo costituisce un contraltare dell’elaborata scena di vestizione di Penteo nelle Baccanti, sulla quale cf. anche quanto osserviamo (con bibliografia) in Tommasi 2017b, 123. 58 Brisson 1976, 35–36 per la simbologia del bastone. In Clemente, inoltre ξύλον si pone in diretta continuità con Protr. 12.118.4, in cui lo stesso termine è impiegato per alludere al legno della nave cui si era legato Odisseo per sfuggire agli incantamenti delle Sirene (la metafora prosegue indicando il Logos come nocchiero e lo Spirito Santo che farà approdare al porto del cielo), un

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Si stabilisce quindi uno schema di conversione,59 in cui il contrasto è ulteriormente sottolineato dalla serie di antitesi, studiatamente introdotte da Clemente, che dunque oppongono la σωφροσύνη all’estasi bacchica,60 Sion al Citerone,61 le sobrie figlie di Dio e le menadi impazzite.62 La frase successiva espande ancora il concetto, immaginando un θίασος cristiano, composto di giusti, profeti e angeli, che si affretta di corsa,63 in cui il processo di sovrapposizione tra misteri pagani e fede cristiana è ulteriormente rafforzato dall’allusione agli “eletti”,64 e al “sigillo” battesimale,65 come anche dall’identificazione tra Clemente stesso e il daduco. Viceversa, come è nel caso delle letture allegorizzanti di epoca medievale, la cecità di Tiresia appare simbolo della vecchia religione ed è superata dal miracolo di Cristo che ridona la vista ai ciechi,66 da intendersi, chiaramente, in senso metaforico, come possibilità di contemplare le realtà celesti,67 che sono, eterne e immutabili.

|| episodio volentieri citato dai Padri della Chiesa: Iustin. Apol. 55.3; Tert. adv. Marc. 3.18.4; Hippol. Ref. 7.13.2; Min. Fel. 29.8; peraltro, ξύλον ricorre anche variamente nel Nuovo Testamento per indicare o la croce, in quanto “legno dell’esecrazione” sulla base di un’esegesi di Dt. 21.22–23, oppure, più scopertamente, l’albero della vita (cf. Kittel 1954) e sembra essere usato nella patristica anche in connessione con l’interpretazione allegorica del brano di Ex. 15.25 (il legno che Mosè getta nelle acque di Mara per renderle bevibili): cf. Herrero de Jáuregui 2010, 277. 59 Dopo l’importante studio di Nock 1933 (interessante messa a punto nella premessa di M. Mazza all’ed. italiana, Roma/Bari 1974), il tema della conversione è stato recentemente ripreso in molti studi (una esemplificazione la si può vedere anche nelle pagine iniziali di Massa 2011, riprese in Massa 2014, 167–169). 60 Herrero de Jáuregui 2008, 264 richiama Eur. Bac. 999–1005. 61 Molto raffinata l’allusione a Plat. Phaedr. 230d tramite la scelta di σύσκιος e la paronomasia tra ἁγνός e ἄγνος. 62 Sulle menadi e sulla questione se sia o meno esistito un fenomeno rubricabile come menadismo cf. almeno Henrichs 1978 e Bremmer 1984. Cf. anche, per il passo in esame, Herrero de Jáuregui 2010, 268–269 e Massa 2014, 173–175. 63 Un richiamo all’immagine presente in Eur. Bac. 136 e 1091 (quest’ultimo verso espunto in talune edizioni). Per l’immagine del tiaso nella prima letteratura cristiana cf. Massa 2014, 131– 137. 64 Herrero de Jáuregui 2010, 346 presenta un interessante rimando a Orph. fr. 576 Bernabé, “molti sono bacchoi, ma solo pochi portano il tirso”, osservando come in Strom. 1.19.92.3 e 5.13.17.4, Clemente leghi l’espressione alla frase evangelica (Mt. 22.14) “molti sono i chiamati, ma pochi gli eletti”. 65 Sul motivo del sigillo cf. ancora Dölger 1911. 66 Cf. Ioh. 9.1–41; e già Is. 35.5 e 42.7. 67 Chiaramente il motivo cristiano è qui predominante, ma si noti anche, en passant, la tradizione greca per cui gli iniziati potevano vedere la luce nell’oltretomba (Nilsson 1967, 662). Massa 2011, 162 (= 2014, 178) opportunamente richiama i versi di Bac. 193 e 210 in cui Cadmo dice a Tiresia che lo condurrà e gli mostrerà ciò che non può scorgere.

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Interessante sembra anche soffermarsi sulla trasformazione subita da Tiresia, che nella tragedia euripidea era raffigurato con tratti ‘sofistici’, molto vicini, cioè, all’ideale di intellettuale disincantato dell’Atene del V secolo,68 rappresentando però, al tempo stesso, il ruolo di sacerdote di corte “che sfrutta le sue sofisticate conoscenze intellettuali per comporre una nuova teologia dionisiaca”,69 come pare evincersi dalle sue rheseis di stampo quasi didascalico nelle quali l’introduzione del culto dionisiaco viene giustificata e plasmata in termini che la adattino alle esigenze della polis. È quindi possibile che in tal modo Clemente recuperi i tratti del Tiresia euripideo, consapevolmente adattandoli al nuovo ruolo che deve svolgere il sacerdote cristiano, ossia farsi istitutore di un nuovo, superiore culto: rimane tuttavia, a nostro parere, preminente l’esigenza della reformatio in melius che anima di norma gli scrittori cristiani più attenti e più aperti alle istanze culturali del mondo pagano.

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|| 68 Interessanti considerazioni svolge al riguardo Roth 1984. Cf. anche Lanza 1977, 252–254. 69 Massa 2011, 158, al quale improntiamo anche parte delle considerazioni che seguono.

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Thomas Gärtner

Ethopoiie, Struktur und Mythopoiie in den profanen Epyllien des Nordafrikaners Dracontius Abstract: The present paper inquires into the three profane epyllia Raptus Helenae (Romul. 8), Medea (Romul. 10) and Orestes by the late antique North African Latin poet Dracontius. It focuses (1) on the parallel characterization of the male protagonists, who are all pictured as peasant-like cretins, (2) on the macrostructure of the epyllia, which illuminates the moral flaws of the main characters, and (3) on the methods by which the author integrates his Medea or his Orestes into the literary background of former versions about the myth of Thebes or respectively Argos.

1 Vorbemerkung Die folgende Untersuchung betrachtet die profanen Epyllien Raptus Helenae (Romul. 8), Medea (Romul. 10) und Orestes des spätantiken nordafrikanischen Dichters Dracontius unter drei Gesichtspunkten: Zunächst (2) wird die Parallelität der Zeichnung der jeweiligen männlichen Hauptpersonen herausgestellt, die sämtlich als Ehebrecher von „banausischer“ Provenienz mit deutlich diskriminierenden Zügen gezeichnet werden; dann (3) soll die – ebenfalls jeweils die Unmoral des Ehebruchs ins Licht setzende – sinnhafte Makrostruktur der drei Epyllien betrachtet werden; schließlich (4) wird die Art zu untersuchen sein, wie die Medea bzw. der Orestes in den literarischen Hintergrund früherer dichterischer Bearbeitungen des Theben- bzw. Argos-Stoffs eingegliedert wird. Hierbei spielt auch Athen eine wichtige Rolle, das im Orestes in herkömmlicher Weise seine ||

Anmerkung: Zwischen der Vortragsfassung dieses Beitrags und seiner Drucklegung erschienen mehrere wichtige editorische Arbeiten zu den behandelten Werken, vor allem die ausführliche kommentierte Separatedition von Dracontius’ Helena-Epyllion durch Pohl 2019a, ferner die Editio Teubneriana der Carmina profana des Dracontius durch Otto Zwierlein (Zwierlein 2017; hierzu meine Rezension Gärtner 2018) und eine kommentierte Ausgabe der Fragmente des euripideischen Alexandros (Karamanou 2017). Eine detaillierte und durchgehende Berücksichtigung dieser wichtigen Neueditionen war in diesem Beitrag nicht mehr möglich; es sei jedoch besonders auf die für meinen Abschnitt 2 einschlägigen Ausführungen von Pohl 2019a, 31–35 („Die parodistische Anlage des Helden“) zur Lächerlichkeit des Paris sowie auf Pohl 2019b verwiesen. https://doi.org/10.1515/9783110656893-013

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mäßigende und ausgleichende Funktion erfüllen kann – welche Dracontius andererseits in der Medea aus dem Theben-Mythos durch seine innovative mythologische Neugestaltung gerade eliminiert hat.

2 Das „Heldenbild“ in den Epyllien des Dracontius: Paris in der Helena, Jason in der Medea, Ägisth im Orestes 2.1 Paris im Raptus Helenae Die Zeichnung des Paris bei seinem Wiedereintritt in die trojanische Königsfamilie und bei der folgenden Unternehmung ist notwendig vor dem Hintergrund des einigermaßen fassbaren euripideischen Alexandros zu betrachten. Ob und wie Dracontius auf den Stoff dieses griechischen Stückes, welches dem modernen Philologen nur durch einen glücklichen Papyrusfund, nicht durch die mittelalterlich-byzantinische Euripides-Überlieferung kenntlich wurde, zugreifen konnte, ist völlig ungewiss (kaum im Originaltext, viel eher auf dem Weg lateinischer Kompendien). Allerdings wird sich anhand eines Details erweisen lassen, dass dem Dracontius ein einigermaßen detaillierter Zugriff auf den Stoff des Alexandros möglich war. Bei Euripides sticht Paris durch seine Eigenschaften unter den Hirten, denen er infolge seiner Aussetzung angehört, hervor, was dazu führt, dass er gefesselt zum König Priamos geführt wird. Hier kann er an den von Hekabe aus Trauer um den verlorenen Sohn herbeigeführten Leichenspielen teilnehmen – und er schlägt sich mit solchem Erfolg, dass er den gefährlichen Zorn des Deiphobus erregt, der sich nicht von einem „Sklaven“ besiegen lassen will und Paris nach dem Leben trachtet. Diese für einen Hirten ungewöhnlichen Erfolge des Paris lösen einen drameninternen, sophistisch geprägten Diskurs aus über die Frage, ob wahrer Adel tatsächlich mit der Geburt zusammenhänge. Bei Dracontius steht es dagegen außer Zweifel, dass Paris nichts anderes als ein Hirt ist und seine Fähigkeiten in keiner Weise darüber hinausgehen. Während er sich bei Euripides durch seine herausstechenden Eigenschaften exponiert und damit seine Zugehörigkeit zum Hirtenstand zweifelhaft macht,1 erweist er bei

|| 1 Vgl. die Hypothesis, Z. 13–14 (p. 174–175 Kannicht): ἔδοξε [κρείττων τ]ὴν | φύσιν εἶναι βουκόλο[υ τοῦ θρέψα]ντος.

Ethopoiie, Struktur und Mythopoiie in den Epyllien des Dracontius | 295

Dracontius, wie sich im Folgenden zeigen wird, durch sein ganzes Handeln im Epyllion, dass er nicht mehr ist als ein Hirt und diesem Beruf besser treu geblieben wäre. Da sich Paris also bei Dracontius nicht durch herausragende Leistungen hervortut, muss sein Aufstieg anders motiviert werden: Er geht einfach von seinem eigenen Ehrgeiz aus. Bei Dracontius ist die Anagnorisis zwischen der trojanischen Königsfamilie und Paris nur einseitig; Paris selbst kennt durch eine Amme seine wahre Identität von vorneherein und bringt seine Erkennungszeichen mit nach Troja: … monitus Paris omnia norat Blandita nutrice puer, quo sanguine cretus, Qui genus, unde domus; rapiensque crepundia pastor Troianum carpebat iter … (Romul. 8,68–71)

Das Verhältnis zur Version des Euripides scheint also geradezu auf einer Art von ironischer Umkehrung zu beruhen: Dort sticht Paris durch seine Fähigkeiten hervor und führt so ungewollt seine Anagnorisis herbei; hier dagegen besitzt er keine Fähigkeiten, kennt aber sehr wohl seinen Status als Königssohn. Entsprechend wird er bei Dracontius nicht etwa gefesselt zu Priamos geführt, sondern unternimmt diesen Gang aus eigenem Antrieb und mit größter Dynamik (vgl. ebd. 70: rapiensque crepundia; 89: prorumpit in agmen). Zu diesem Statusbewusstsein als trojanischer Königssohn kommt noch das (in dieser Version bereits vollzogene) Paris-Urteil hinzu, welches Paris endgültig seiner Hirtenwelt überdrüssig macht: Iam grex horretur, fontes casa pascua silvae Flumina rura pigent nec fistula dulcis amatur; Non placet Oenone, sed iam prope turpis habetur, Ex quo pulchra Venus talem promisit in Ida, Qualis nuda fuit: talem iam pastor anhelat. Sordent arva viro post iurgia tanta dearum. (Romul. 8,61–66)

Die frühere Geliebte Oenone erscheint hier als ein besonders aussagekräftiges Symbol der Hirtenexistenz, die Paris ablegen will. Die ὑπερήφανος συμβίωσις des Paris, welche die Hirten gemäß der Euripides-Hypothesis (Z. 15–16, p. 175 Kannicht) dazu bringt, Paris zu Priamos zu führen, bekundet sich hier nicht in besonderen Leistungen oder Taten, sondern einfach in einer inneren Ablehnung des als minderwertig und unangemessen empfundenen Hirtenlebens.

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Vor allem ist in der Version des Dracontius die Reihenfolge von Paris’ Wiedereintritt in die königlich-trojanische Familie und Paris-Urteil (so etwa bei Hyg. fab. 9192) umgekehrt, so dass hier der Status des Paris als Richter über die olympischen Göttinnen gewissermaßen zur Quelle seiner Arroganz wird: Gerade dieser Status ist es, der Paris ein Weiterleben als Hirt unerträglich macht. Dieser Anspruch des Paris aufgrund des Paris-Urteils wird später prinzipiell bekräftigt durch Apoll in seiner Trugprophezeiung: Mortali divum periet quo iudice iudex? (Romul. 8,200)

Im weiteren Gang des Epyllions wird dieses Vorwärtsstreben ins Königshaus noch durch eine „zweite Stufe“ der Arroganz übersteigert: Nach dem Paris-Urteil ist er nicht einmal mehr mit seiner Herrscherposition zufrieden, sondern will sich unsterblichen Ruhm durch auswärtige Unternehmungen erwerben: Iam regno non impar erat, sed sceptra tiaram Imperium trabeas iam post caeleste tribunal Totum vile putat, solam cupit addere famam Maiorum titulis, vivaces quaerere laudes. (Romul. 8,213–216)

Der erneute Gebrauch eines satzeinleitenden iam (213; vgl. 61: Iam grex horretur) verdeutlicht das sukzessive Steigen der Ansprüche des Paris – geradezu vergleichbar den wachsenden Wünschen der Fischersfrau Ilsebill im Märchen vom Fischer und seiner Frau. Kaum hatte er den Königspalast erreicht, schon strebte er nach einer überseeischen Unternehmung: … vix viderat aulam Regis, et Iliacas quaerit per litora puppes; Aegaeum sulcare fretum iam mente parabat. (Romul. 8,217–219)

Es wird deutlich: Das Paris-Urteil ist in dieser Version weniger Legitimation des Paris als vielmehr Quelle seiner unangemessenen Arroganz. Die Ursache des Trojanischen Kriegs bleibt in der Version des Dracontius der Wettstreit der drei Göttinnen, also ein Ereignis göttlicher Natur; aber dieses entfaltet seine verheerende Wirkung nur durch die dadurch ausgelöste Arroganz des „Richters“ Paris. Als Paris erstmals Troja erreicht, begeht Priamos gerade feierlich das Jubiläum des Wiederaufbaus Trojas nach dessen früherer Zerstörung durch Hercules:

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Forte dies sollemnis erat, quo Pergama rector Infelix Priamus post Herculis arma novarat. (Romul. 8,78–79)

Auch bei Euripides trifft Paris zum Zeitpunkt einer Feierlichkeit ein, nämlich der Feier seiner eigenen Totenspiele, welche die immer noch trauernde Hekabe von Priamos erwirkt hat (Hypothesis, Z. 19–21, p. 175 Kannicht: τῶν | ἐπ’ αὐτῷ τελ[ο]υμέν[ων] ἀγώνων εἰάθη | μετασχεῖν). In beiden Fällen führt die Koinzidenz zu einer ironischen Paradoxie, die aber jeweils auf einer anderen Ebene liegt. Bei Euripides nimmt der vermeintlich Tote als Wettkämpfer an seinen eigenen Leichenspielen teil, bei Dracontius kommt der zukünftige Zerstörer Trojas (das ist dem Leser auch am Anfang des Werkes hinreichend klar) gerade rechtzeitig zur Feier des Wiederaufbaus Trojas, den er durch sein eigenes, für Troja zerstörerisches Handeln subvertieren wird. Diese ironisch-sinnhafte Koinzidenz müsste nicht notwendig beweisen, dass Dracontius die Version des Euripides in diesem Detail kannte – wenn sich nicht noch ein zweites Echo dieser Koinzidenz fände, welches Paris tatsächlich mit seiner eigenen Totenfeier konfrontiert. Nachdem Paris gegen Ende des Epyllions durch einen Seesturm von den ihm beigegebenen Gesandten getrennt worden ist und diese Gesandte Priamos den vermeintlichen Tod des Paris gemeldet haben, ist Priamos gerade mit der Einrichtung eines Kenotaphs für Paris beschäftigt, als dieser mit der geraubten Helena eintrifft: Tunc pater absenti tumulum formabat inanem, Ut iacuisse putes praesenti morte cadaver. Dum parat inferias genitor mactare sepulchro, Non ubi corpus erat, vel nil satiare cruore, Per freta conspiciunt notam de litore classem. (Romul. 8,610–614)

Nach Hyg. fab. 273 = Eur. Alex. test. iv b (p. 177–178 Kannicht) verband bei Euripides Priamos mit den Leichenspielen einen Kenotaph für den ausgesetzten Sohn; rudimentäre Euripides-Kenntnis ist also auch hier wahrscheinlich.2

|| 2 Wenn man auf die Annahme detaillierter Kenntnis der euripideischen Mythologeme verzichten will, könnte man diese Partie auch aus Ov. met. 12,1–7 herleiten, wo Priamos und Hector dem Aesacos, der in Wirklichkeit in einen Vogel verwandelt worden ist, vergeblich einen Kenotaph errichten. In diesem Kontext wird auch Paris erwähnt (met. 12,4–6), nämlich als derjenige Bruder, der bei diesem Familienereignis gerade nicht persönlich anwesend ist.

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Mit dieser jäh unterbrochenen Feier sind recht ambivalente Gefühle seitens der Teilnehmer verbunden, sowohl vor als auch nach der überraschenden Ankunft des Paris. Zuvor trauert man, nicht etwa weil ein wehrhafter Krieger gestorben sei, sondern einfach nur, weil Paris ein Königssohn gewesen sei: Moenia iustitio foedant et plangitur urbe, Sexus uterque gemit, non pro virtutis honore Aut quod talis erat qui posset bella subire Aut ingesta pati vel summis viribus hostem Frangere et ensiferas acie iugulare cohortes […] Sed regis quia natus erat, fit planctus in urbe. (Romul. 8,598–607)

Damit bestätigt sich auktorial die geringschätzige Beurteilung, welche Paris in der verzweifelten Lage des Seesturms über seine eigenen militärisch-politischen Führungsqualitäten äußerte (hierzu s.u.); diese Szene wird mit den Worten ignarus, quid de pastore procella/Fecerit, sc. Priamus (ebd. 592593) geradezu in das Gedächtnis des Lesers zurückgerufen. Zudem wirkt die warnende Helenos-Prophezeiung weiter, welche die Leute nur oberflächlich trauern lässt: Nam quicumque memor Heleni mox dicta tenebat, Laetatur gaudens et tantum voce dolebat. (Romul. 8,608–609)

Nach dem Auftauchen des Paris verkehrt sich diese Situation komplementärsymmetrisch in ihr Gegenteil. Man bekundet äußerlich Freude, aber bedauert insgeheim, dass Paris zurückgekommen ist: Non invitus adest, non gaudet fortior Hector, Quem Troilus sequitur nec lividus, attamen aeger, Non membris sed mente gravis … (Romul. 8,624–626)

Auch bei der zweiten Ankunft des Paris zeigt sich also eine gewisse Feindseligkeit seitens seiner Brüder; diese ist jedoch deutlich abgeschwächt gegenüber seiner früheren Ankunft, wonach Paris von seinen Brüdern (die durch die Weissagungen des Helenos und der Kassandra aufgerüttelt wurden) offen mit dem Tode bedroht wurde. Hierin liegt ein zweiter, etwas abgeschwächter Reflex der EuripidesTragödie, wo Deiphobus den Paris mit Hilfe seiner Mutter Hekabe ermorden will. Allerdings wirkt bei Euripides die mantische Autorität der Kassandra gegen die Mordversuche (insofern sie zu seiner Anagnorisis führt), während bei Dracon-

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tius Kassandra – wie auch Helenos – zur Ermordung des als Königssohn bekannten Paris aufruft und diese nur durch eine groteske Trugprophezeiung des Phoebus selbst verhindert wird; Phoebus verheißt Troja die Weltherrschaft und erreicht durch Vergilzitate eine hohe Glaubwürdigkeit beim Leser, der jedoch – anders als seine trojanischen Zuhörer – weiß, dass diese Weltherrschaft erst durch Rom verwirklicht werden wird und zunächst einmal die Zerstörung Trojas voraussetzt. Zusammenfassend kann man feststellen, dass Dracontius das euripideische Handlungsschema (unerwartete Ankunft des Paris in Troja, welche in grotesker Weise mit einer Festlichkeit dort koinzidiert, löst Feindseligkeit seitens seiner Brüder aus) sogar zweifach adaptiert hat, zunächst (am Anfang des Gedichts) im ursprünglichen Kontext der Anagnorisis, dann (am Ende) bei der unerwarteten Heimkunft nach dem Seesturm; daher kann man kaum bezweifeln, dass er die euripideische Version zumindest in ihren Grundzügen kannte. Umso signifikanter ist es, dass sich der bei Euripides zugunsten des unerkannten Paris wirkende Adelsdiskurs bei Dracontius umgekehrt gegen Paris richtet; dieser hat bei Dracontius eben keine herausragenden Fähigkeiten mehr, sondern beharrt ausschließlich auf seinem Status als Königssohn; er ist also letztlich nichts anderes als ein einfacher Hirt, der mit seiner Lebenssituation unzufrieden ist. Im Prooemium wird der Raub der Helena nicht nur als ein „Raubzug“ (1: praedonis iter), sondern auch als ein verbrecherisches „Hirtenwagnis“ (2: Et pastorale scelerati pectoris ausum) bezeichnet. Die Handlung beginnt mit einem plusquamperfektischen Rückgriff auf das vollzogene Paris-Urteil: Caelicolum praetor iam sederat arbiter Idae: Iam gremium caespes, iam surgens herbida tellus Stabat et aetherium fuerant herbosa tribunal. Solverat Iliacus caeli vadimonia pastor Et litem facit ipse suam … (Romul. 8,31–35)

Damit ist angedeutet, dass die grasige Szenerie eigentlich ein völlig ungeeigneter Schauplatz für ein solches Göttergericht bildet. Das eigentlich Bedenkliche dieses Gerichtes besteht gemäß dem Erzähler darin, dass nicht nur der Hirte schuldig gesprochen wird (4041: nec solus pastor habetur/ Ex hac lite reus) – dessen Verlust, so wird man mitverstehen dürfen, für sich wohlfeil wäre –, sondern auch die glanzvollen Helden, welche der Trojanische Krieg das Leben kosten wird (41–52). Nachdem Paris mit seinen Erkennungszeichen Troja während des Festtages in der oben skizzierten Weise erreicht hat, sucht er seine Hirtenexistenz schönzureden:

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Parvus Alexander pastor nutritur in Ida. Nec pastor sit vile, Phryges: ego iurgia divum Compressi, nam lite caret me iudice caelum. (Romul. 8,97–99)

Dieses Argument zugunsten des Paris ist in dem Moment, in dem es referiert wird, durch den Erzähler bereits widerlegt mit den Worten: Et litem facit ipse suam (35). Später werden die Rechtfertigungsversuche in sehr fragwürdiger Weise fortgesetzt von Apoll in seiner Trugprophezeiung: Nec pudeat, quod pavit oves: ego pastor Apollo Ipse fui domibusque canens pecus omne coegi, Cum procul a villa fumantia tecta viderem; Alcestam sub nocte pavens deus ubera pressi, Admetus intrantes haedos numerabat et agnos. (Romul. 8,206–210)

Dieses Argument geht doch sehr auffällig an der Tatsache vorbei, dass Apoll ohne Zweifel über göttliche Fähigkeit verfügt, die einem Hirten von der Statur des Paris, wie er von Dracontius gezeichnet wird, sicher nicht eignen. Paris setzt sich sogar in offenen Widerspruch mit dem apollinischen Prinzip „Hirt zu sein ist keine Schande“: Einerseits schaudert er vor allem, was mit seiner Hirtenexistenz zusammenhängt: Iam grex horretur, fontes casa pascua silvae Flumina rura pigent nec fistula dulcis amatur; Non placet Oenone, sed iam prope turpis habetur. (Romul. 8,6163)

Andererseits sucht er sogar seine Zugehörigkeit zu diesem Stand zu verschleiern (217: Ut celet quod pastor erat). Die Widersacher sprechen ihrerseits über Paris, als ob er tatsächlich ein bloßer Hirte (und nicht etwa ein Königssohn) wäre. Zunächst heißt es über die Fama: Fama volat per templa deum, quod pastor ab Ida Se velit ostendi regni de stirpe creatum. (Romul. 8,117118)

Im Munde der unwissenden Menge mag dies heißen, dass irgendein Hirte vom Ida-Gebirge sich (wahrscheinlich fälschlich) als Mitglied der königlichen Familie auszugeben versucht; doch im Lichte der folgenden Zitate kann der Leser durchaus auch verstehen, dass „der, der in Wirklichkeit Hirt im Ida-Gebirge ist“, sich

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aufwerten möchte. Denn auch Kassandra, die sehr wohl um die Identität des Paris weiß, wirft ihrer Mutter vor: … uni pia mater haberis Pastoremque foves, sed multis impia constas Regibus …, (Romul. 8,137–139)

worin deutlich impliziert liegt, dass Paris von seinen Brüdern wesensverschieden ist. Und Apoll gibt das Votum des Helenos bezüglich des Paris (sicher ganz im Sinne des ersteren) wieder mit den Worten: Pellere pastorem patriis de sedibus … (Romul. 8,190)

Die eindrucksvolle Alliteration und die ganze Stilisierung suggeriert doch, dass man einen unberechtigten Eindringling aus dem väterlichen Palast entfernen will. Wenn Kassandra zur Ermordung des Hirten auffordert (177: Dicite pastorem gladio pietatis obire), dann ist pastor eine abschätzige Bezeichnung des ihr bekannten Bruders Paris – wohingegen bei Euripides κτανόντες ἄνδρα δοῦ[λον (Alex. fr. 62b,42, p. 197 Kannicht) die Tötung eines dem Sprecher in seiner Identität unbekannten Sklaven beinhaltet. In dieser ganzen Partie fühlt der Gedanke von Paris’ Geringwertigkeit als Hirt dazu, dass er gewissermaßen als Sündenbock durch seinen Tod die ganze Stadt Troja entsühnen könnte (167–175). Ähnlich spielt Orest nach der Traumerscheinung seines Vaters Agamemnon einen Moment mit dem Gedanken, seine Mutter leben zu lassen und durch die Tötung des Hirten Ägisth eine hinreichende Sühnung vorzunehmen (Drac. Or. 575576: Facta luat pastor solusque superstite matre/Conruat, et patrios manes satiabo cruore); auch in diesem Fall wäre der Hirt der alleinige „Sündenbock“. Im Seesturm entlarvt Paris seinen geringen Wert schließlich selbst. Das einzige meteorologische Detail des Seesturms, welches beschrieben wird, besteht darin, dass das Schiff, nachdem es geradezu bis zu den Sternen emporgeschleudert wurde (Romul. 8,389–391), anschließend bis fast auf den Meeresgrund herabgedrückt wird (ebd. 394–397). Dies ist ein topisches Merkmal von Seesturmbeschreibungen und auch im ersten Aeneis-Buch belegt,3 der wichtigsten

|| 3 Verg. Aen. 1,106107: Hi summo in fluctu pendent; his unda dehiscens/Terram inter fluctus aperit, furit aestus harenis. Hier werden jedoch bezeichnenderweise gerade nicht dieselben Personen zuerst nach oben und dann in die Tiefe geworfen.

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Vorbildpartie unserer Szene (s.u.). Dennoch bietet sich hier eine symbolistische Ausdeutung dieses Details in Bezug auf Paris an: Der Hirte hat mit seinem Status als königlicher Gesandter und der nunmehr begonnenen Auslandsunternehmung den äußersten Zenit seiner Laufbahn erreicht und muss nun den Sturz ganz nach unten fürchten, der in seiner jämmerlichen Klage im Seesturm antizipiert und später im Sturz Trojas verwirklicht wird. Unmittelbar nach der Klagerede des Paris wird das Schiff jedoch plötzlich wieder nach oben geworfen und nach Zypern getragen (ebd. 426427). In der Bedrängnis des Seesturms preist Paris plötzlich das Hirtenleben (dem er zuvor zu entgehen suchte) glücklich und ergeht sich in einer ausladenden Ausmalung von dessen Details: … felici sorte creati Pastores, quos terra capit, quos nulla procella Concutit. haut ponti metuunt super aequora fluctus Et rabidum pelagus temnunt latrantibus undis, Sed celso de monte vident ut in arce sedentes Pascua rura nemus fontes et flumina prata, Per campos gestire pecus, pendere capellas Praerupta de rupe procul dumeta sequentes: Ut virides tondent lascivis dentibus herbas! Ubera lactantes contundunt frontibus agni, Dum cauda crispante tremunt mollique palato Exultant potare cibos atque edere potus. Mulgere balantum depressis ubera mammis Decedente die noctis venientibus umbris Quantus amor, cum lacte novo iam caseus albens Formatur manibusque premit lac pastor ad orbem! Candida summittit ferventes bucula tauros Committitque duces armata fronte iuvencos.

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(Romul. 8,402–419)

Die Art, wie sich der Königssohn und königliche Gesandte Paris hier in die Details des von ihm doch eigentlich verabscheuten Hirtenlebens verliert (wird in 418419 die Wirkung der Helena in bukolischer Form verbrämt?),4 ergibt ein höchst ironisches Echo derjenigen Stelle, wo sich der Gott Apoll am Ende seiner Trugprophezeiung in die bukolischen Details seiner Knechtschaft bei Admet ver-

|| 4 Es könnte sich im Kontext des Gesamtgedichtes um eine Anspielung darauf handeln, dass Paris im Hirtenleben die Eskalation des Kampfes zweier Stiere um eine Kuh einzuschätzen versteht, nicht jedoch die parallele Erscheinung im menschlich-politischen Leben.

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liert (206–210): Dort reflektiert ein Gott mit eigentümlicher, wohl gespielter Melancholie auf seine zeitweilige Erniedrigung, hier ein einfacher Hirte in realistischer, durch die Umstände erzwungener Selbsterkenntnis auf das ihm eigentlich angemessene Tätigkeitsfeld. Zugleich stellt sich Paris mit diesem ausgreifenden μακαρισμός während eines Seesturms aber auch ersichtlich in die Tradition des vergilischen Aeneas: ... „o terque quaterque beati, Quis ante ora patrum Troiae sub moenibus altis 95 Contigit oppetere! o Danaum fortissime gentis Tydide! mene Iliacis occumbere campis Non potuisse tuaque animam hanc effundere dextra, Saevus ubi Aeacidae telo iacet Hector, ubi ingens Sarpedon, ubi tot Simois correpta sub undis 100 Scuta virum galeasque et fortia corpora volvit!“ (Verg. Aen. 1, 94–101)

Aeneas wünscht sich in dieser Situation gerade nicht das beschauliche Dasein eines Ida-Hirten, sondern den Tod für das Vaterland.5 Für Paris dagegen steht solche Kriegsgefahr auf demselben Blatt wie die Bedrängnis des Seesturms: Nam gravis est regnare labor, metus excutit ingens Corda ducum, ne bella ruant, ne tela minentur Exitium crudele: necis timor omnis ubique est. Nam gladios tellure pavent pelagoque procellas Formidant nec plena datur ducis hora quieti. (Romul. 8,420–424)

Diese Ablehnung der Lebensweise einer stets militärisch gefährdeten Führungsperson steht natürlich zu den weit über den Hirtenstand hinausgehenden Ambitionen des Paris in peinlichem Widerspruch. Zugleich ist Vorsorge getroffen, dass die Bemerkung über den geringen militärischen Wert des Paris, die sich im Zusammenhang der Trauerfeier nach seinem vermeintlichen Tod im Seesturm findet (s.o.), nicht etwa als eine ungerechte Bosheit des Erzählers, sondern im Gegenteil als eine durch die eigenen Worte des Paris bestätigte Wertung betrachtet werden muss. Der einzige, der Paris eine militärische Leistung nachrühmt, ist Apoll in seiner Trugprophezeiung:

|| 5 Vgl. Simons 2005, 264; 281282.

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… stant iussa deorum: Magnanimum Aeacidem solus prosternet Achillem. (Romul. 8,191192)

Der Wert dieser Äußerung ist schon dadurch erheblich eingeschränkt, dass mit solus deutlich auf die mythischen Alternativversionen verwiesen wird, gemäß denen Apoll (der Sprecher dieser Worte!) allein oder als Helfer des Paris an der Tötung Achills beteiligt war.6 Wenn der Hirte dann doch mit zitternden Knien nach seinem Seeabenteuer wieder Land betritt (432433: … mox pastor harenis/Dardanus exsiluit tremulis post aequora plantis), dann ist Paris längst zur lächerlichen Figur geworden. Als eine solche tritt er kurz danach Helena entgegen, in tyrischen Gewändern verkleidet (483–486). In diesem Kontext wird er in weniger als 20 Versen nicht weniger als viermal als pastor bezeichnet (489; 498; 502; 507), der u.a. nur wegen seiner äußeren Aufmachung „die Blicke aller auf sich zieht“ (489: Pastor … in sese cunctorum lumina vertit). Im Anbahnungsgespräch mit Helena bringt Paris dann seine Abstammung von Jupiter ins Spiel (528–529) und verfehlt damit nicht seine Wirkung bei der Angebeteten (531–532). Die Ambivalenz zwischen dieser göttlichen Genealogie des Räubers und seiner Provenienz aus dem Hirtenmilieu spiegelt sich wahrscheinlich auch in einem Gleichnis, welches den Moment, als Paris während der eiligen Flucht Helena auf seine Schultern nimmt, mit der Aufnahme der geraubten Europa auf die Schultern des göttlichen Stiers assoziiert (557–559): Dieser Stier ist einerseits Jupiter, aber verweist doch auch auf die Hirtenwelt des Paris, zumal letzterer als Hirt bekanntermaßen mit einem Lieblingsstier in Verbindung gebracht wird. Am Ende des Gedichtes ist die Rede von einer Unglückshochzeit des Hirten (638: Duxerat uxorem pastor cum sorte sinistra). Ein besonders boshafter Zug, den der Erzähler in die Hochzeitsschilderung bringt, besteht darin, dass dort neben diversen Unglückssignalen auch die Hirtenflöte erklingt (642643: iam rustica fistula carmen/Pastorale canit), dasjenige Instrument, welches Paris gerne zusammen mit seinem Hirtendasein losgeworden wäre (62: nec fistula dulcis amatur); hierbei handelt es sich gewissermaßen um die persönliche Signatur des Paris, welche abzulegen er sich im gesamten Gang des Epyllion vergeblich angestrengt hat.

|| 6 Vgl. hierzu Bretzigheimer 2010, 383: „Ob der Redner mit dem Lob solus prosternet den Sachverhalt treffen oder ihn übertreiben oder eine Schandtat in eine Ruhmestat ummünzen will, bleibt offen.“

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2.2 Ägisth im Orestes Eine ziemlich exakte Analogfigur zu Paris findet sich im Ägisth des Orestes.7 Eine enge Parallelität ergibt sich schon durch die mythologische Kindheitsgeschichte dieser Figur,8 auch wenn diese bei Dracontius nicht thematisiert wird. Ägisth wurde von seiner Mutter Pelopia, die von ihrem Vater Thyest gemäß einem Orakel inzestuös geschwängert wurde, bei Hirten ausgesetzt, dann aber in die Familie des Atreus aufgenommen;9 diese Geschichte war auch in der Spätantike kenntlich, wie Hyg. fab. 8788 zeigt (demselben Autor, fab. 91, entnimmt man auch die Grundzüge der euripideischen Paris-Geschichte). Genau genommen ist die „Diskriminierung“ durch die Herkunft aus dem Hirtenmilieu bei Ägisth noch erstaunlicher als bei Paris, da Paris erst gerade der ländlichen Welt entkommen ist, während Ägisths Wiedereintritt in die königliche argivische Familie dem im Orestes geschilderten Geschehen lange vorausgehen muss und somit seine frühere Hirtenexistenz als ein längst überwundenes Missverständnis eigentlich völlig obsolet sein sollte. Ägisth wird als pastor explizit mit Paris parallelisiert. Der gegenüber Orest wohlwollende Dorylas apostrophiert den Totenschatten Agamemnons folgendermaßen: Nonne laborastis, Helenam ne pastor haberet? Ecce, tuam nunc pastor habet! … (Or. 469470)

Die Tragik des Agamemnon liegt also darin, dass sein Versuch, die Ehe des Bruders von einem Ehebrecher aus dem Hirtenmilieu zu befreien, dadurch gekrönt wird, dass seine eigene Frau nun mit einem pastor Ehebruch treibt. Beiden pastores haftet also das Odium des unverschämten, weil unstandesgemäßen, Ehebruchs an. Kassandra apostrophiert Ägisth voller Ironie: Tuque triumphalis domitor bone pastor Egiste, Plumea cui praestant post pelles stramina lectum,

|| 7 Zur Parallelität vgl. Bright 1987, 148149; Simons 2005, 319; 350351. Die „soziale Diskriminierung“ als Merkmal der dracontianischen Ägisth-Figur wird auch von Trillitzsch 1981, 273 hervorgehoben. 8 Hierzu vgl. auch van Zyl Smit 2010, 3132. 9 Hierauf spielt wohl Or. 307308 an: Tamquam legitimus heres Agamemnonis aulae –/Et magis heredem convenerat esse Thyestis.

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Quem post tecta casae regalis suscipit aula: Quid dubitatis adhuc vestros relevare timores? (Or. 139–142)

Die Titulierung als triumphalis domitor bringt hier denselben Aspekt zum Ausdruck, welchen Paris während des Seesturms in selbstentlarvender Weise ausspricht: Die Existenz eines pastor ist mit der Lebensweise eines echten militärischen Anführers nicht vereinbar. Der „Triumph“ des Hirten Ägisth über Agamemnon ist lächerlich, ebenso wie der „Triumph“ des Hirten Paris direkt in seinen eigenen Untergang führt.10 Wenn der pastor Ägisth mit Herrschaftsausdrücken in Verbindung gebracht wird, treten diskriminierende Herabsetzungen hinzu,11 vgl. Sceptra triumphorum data sub p a s t o r e t y r a n n o 12 Pro pretio scelerum … (Or. 419420)

und Dum regnaret iners, Parcarum crimina, pastor. (Or. 453)

Dass ein pastor über sein Reich gebietet, ist noch postmortal eine Schande für Agamemnon, wie Dorylas unterstellt (478479: … morieris inultus,/Et pastor tua regna tenet?) und die Totenseele des Agamemnon anerkennt (530531: Ut pastor mea regna notet promotus in arce/Sanguinea mercede). Die erotische Entscheidung der Klytaimnestra für Ägisth und gegen Agamemnon war ein grotesker Fehlgriff, welchen Orest mit den Worten Praelato pastore ducis tu colla cruentas (750) durch eine pointierte Juxtaposition der Wertbegriffe pastore und ducis geißelt; der Erzähler äußert sich ähnlich: Impete plectibili per rustica colla pependit. (Or. 229)

|| 10 Romul. 8,147–149: … gener ipse Tonantis/Idaeus sic pastor erit capietque triumphum,/Sed post ipse cadet … 11 Tempone 2010, 222 glaubt, hinter der stereotypen Verwendung von pastor in Bezug auf Ägisth verberge sich eine Anspielung auf den homerischen Sprachgebrauch ποιμὴν λαῶν „con un intento sottilmente sarcastico, quasi ironico-tragico“. 12 Tyrannus auch von Paris in Romul. 8,556.

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Ägisth verwächst in der Darstellung (trotz seiner tatsächlichen Abkunft) wie Paris mit seiner Hirtenexistenz so eng, dass er mit seiner Konkubine Klytaimnestra nicht mehr gleichrangig ist; als sie ihn zum Handeln treiben will, sagt sie: … iubeoque rogoque Pastorem regina monens …, (Or. 183184)

ähnlich wie Kassandra ihrer Mutter vorwirft, den pastor Paris auf Kosten seiner königlichen Geschwister zu bevorzugen (Romul. 8,137–139, s.o.). Orest verwendet pastor (von Ägisth) als verächtlichen Gegenbegriff zu rex (von Agamemnon): Et pereat pastor qua regem morte peremit. (Or. 722)

Mit noch stärker ausgeprägter Polarität werden die beiden Begriffe pastor und rex umschrieben in Or. 275276: Eversorem Asiae foderet quod cultor agelli Aut desertor iners, ovium pecorumque magister.

Die kriegerische Geringwertigkeit des Ägisth (exakt entsprechend derjenigen des Paris) erhellt aus einer psychologischen Betrachtung über das argivische Volk: … timuere bubulcum Acrius, Hectoreos qui non timuere furores. (Or. 423424)

Bei der Beschreibung des eigentlichen Mordvorgangs kann die Mordwaffe, ebenfalls verächtlich, als das typische Instrument eines pastor bzw. Landarbeiters dargestellt werden: vgl. 235 Illa rapit tunicam, pastor rapit inde bipennem (Or. 235)

und Heu, pastoralis populavit membra securis. (Or. 270)

An der letztgenannten Stelle wird dieser Effekt noch erheblich dadurch verstärkt, dass das Mordopfer Agamemnon unmittelbar zuvor mit einem im Jagdnetz ver-

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fangenen Eber verglichen wurde (265–268). Ägisth führt die Mordtat also geradezu nach Hirtenart aus. Deshalb soll er nach dem Willen des Pylades auch selbst durch das gleiche Instrument umkommen: Carnifices frangant durissima membra secures Et pereat pastor qua regem morte peremit. (Or. 721722)

Andererseits ist der „Landmann“ wehrlos und deshalb ein hilfloses Opfer des Rächers, kaum wehrhafter als seine adultera (Dorylas spricht): Nec labor ullus erit mulierem sternere turpem; Rustica praeterea quae sit mora frangere membra?13 (Or. 661662)

2.3 Jason in der Medea Auch Jason, die männliche Hauptfigur der Medea (Drac. Romul. 10), erfährt durchgehend eine ähnliche Diskriminierung durch seinen Berufsstand. Infolge seiner Zugehörigkeit zu den Argonauten fällt es leicht, ihn als nauta zu qualifizieren.14 Bei seiner Ankunft in Colchis entgeht er nautischen Problemen der Schiffslandung durch einen Sprung ins Wasser: … sed callidus heros Solus Iason adhuc vento currente carina Prosilit in fluctus et litora visa natatu Nudatus c e u n a u t a petit … (Romul. 10,41–44)

Dieser Akt, welcher Jason (ohne die Begleitung seiner Gefährten) in die Hand der Medea kommen lässt und somit den ersten Teil der Dichtung in Gang setzt, wird

|| 13 Moralisches Parallelargument hierzu hinsichtlich des Muttermordes in Or. 539540 (der Totenschatten Agamemnons): Nullum crimen erit matrem punisse nocentem/Morte maritali sceleratam iure necabis. Ein formales, auf Agamemnon bezügliches Pendant findet sich im ersten Gedichtteil (Or. 190191; Klytaimnestra): Nec labor ullus erit victorem sternere ferro:/Semper iners securus erit, qui perculit hostem, widersprochen von Ägisth (ebd. 206207): … labor est extinguere regem/Atque triumphantem (quod plus) in principis aula. 14 Zu Jason als nauta vgl. das Kapitel „perfidus nauta Iason“ bei Simons 2005, 195–199. Simons leitet diese abschätzige Qualifizierung von „Zeitalterlehren“ ab, in denen die Seefahrt als grenzüberschreitender Frevel gewertet wird (ebd. 196).

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hier offenbar als eine etwas verwegene Handlung betrachtet (noch dazu nackt ausgeführt!), wie sie typisch für einen nauta ist. Bereits vor seiner Argonautenzeit hat Jason einen tollkühnen Akt des Schwimmens begangen, nämlich indem er Juno – nach dem herkömmlichen Mythos in Gestalt einer greisen Frau – bei einer Flussüberquerung half (ebd. 57 im Munde Junos: Qui gelidum quondam mecum transnaverat Istrum).15 Insofern hier keine Rede von einer Greisin ist, sondern es vielmehr im vorigen Vers über Jason hieß Est nimis acceptus iuvenis mihi p u l c h e r Iason, wird hier zumindest die Möglichkeit offengehalten, dass Jason einstmals Juno auf dieselbe erotische Weise beeindruckte wie jetzt Medea. Die Verwegenheit von Jasons Landgang spiegelt sich in der auf den ersten Blick verspielt bzw. überschüssig wirkenden Beschreibung der Einholung Cupidos durch Hymenaeus (87–155). Cupido verlässt wie Jason das Meer und entbrennt wie dieser sogleich in Liebesglut (96–101).16 Empfangen wird er von dem auf ihn wartenden Hymenaeus wie Jason von der Mannschaft des Aeetes. Dieselbe Wendung, die von Jasons Landgang verwendet wurde (4344, s.o.), wird aufgegriffen im Munde des Liebesgottes Cupido, als Jason auf dem Opferaltar der Medea liegt und den Gott um Hilfe anfleht. Dieser verheißt sie ihm lächelnd, warnt ihn aber zugleich: Sed memor esto mei, ne te fortuna superbum Reddat et incipias iterum c e u n a u t a v e n i r e . (Romul. 10,214215)

Cupido warnt Jason davor „ein zweites Mal wie ein Seemann zu kommen“;17 impliziert ist, dass der Gott ihm dann nicht mehr helfen wird. Man wird diese Warnung kaum so eng fassen, dass Jason nicht ein zweites Mal unbedarft und unbegleitet bei einer Schiffslandung an Land schwimmen soll, sondern eher allgemeiner ausdeuten in dem Sinne, sich nicht so seemannshaft leichtsinnig in einem neuen Land einer neuen Gefahr auszusetzen. Dass dieses neue Abenteuer,

|| 15 Vgl. den Kommentar von Kaufmann 2006a, z. St., insbesondere zur mythologisch neuartigen Lokalisierung der Szene an der Donau. An keiner der von Kaufmann zitierten Belegstellen findet sich der Begriff „schwimmen“, der genaugenommen ja in der Tat überraschend ist in Bezug auf einen Helden, der einer anderen Person bei einer Flussüberquerung hilft. 16 Noch subtiler dürfte das auf Cupido gehende Phoenix-Gleichnis (Romul. 10,102–109) auf Jason Bezug nehmen: Der Vogel Phoenix ersteht wie der von Cupido vom Opferaltar gerettete Jason von einem rogus (ebd. 107), an welchem er zunächst zu sterben scheint, zu neuem Leben auf, indem er in Glut versetzt wird. 17 Die Junktur nauta venit wird bereits im Prooemium verwendet (18), offenbar als ein typisch burlesk-pantomimisches Motiv.

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in welches sich Jason nicht stürzen soll, wieder erotischer Art sein wird, liegt in Anbetracht der Tatsache, dass der Liebesgott spricht, nahe. Dem Begriff nauta haftet hier als Konnotation der Begriff der sexuellen Liederlichkeit an, wie es zum mythischen Zeitpunkt der Argonautenunternehmung, der ersten Hochseeschifffahrt (vgl. 34–39, besonders 34 pelagi temerator primus Iason), eigentlich noch völlig anachronistisch sein muss. Die zitierte Warnung Amors bildet zugleich eine Verklammerung zum zweiten, in Theben spielenden Teil des Gedichts. Dort wird Jason von Kreon empfangen: Ventum erat ad Thebas,18 pellis datur aurea regi. Miratur rex ipse Creon, laudatur Iason, Quod freta quod terras sic felix praedo vagetur. (Romul. 10, 366368)

Das Lob Kreons gründet sich darauf, dass Jason „als ein so glücklicher (d.h. erfolgreicher) Räuber über das Meer streift“. Der glückliche Erfolg Jasons dürfte sich zwar primär auf das von ihm erlangte, jetzt Kreon überreichte goldene Vlies beziehen, aber sicherlich (zumindest aus der Perspektive des Lesers) auch auf die Tatsache, dass er in Colchis dem drohenden Tod entkam und dabei eine andere „Beute“, nämlich Medea als Ehefrau, erlangte. Da die Vorgeschichte des Argonautenzugs in dieser Version völlig im Dunkeln bleibt, weiß man nicht genau, ob Jason primär im Auftrag Kreons (wie in der herkömmlichen mythischen Variante im Auftrag des Pelias) handelte oder seinem eigenen heroischen Tatendrang nachgab. Die hier vorliegende Formulierung stellt ihn jedenfalls nicht als einen Helden dar, der sich in fremdem Auftrag schweren Leiden unterzog, sondern als einen glücklichen – und schließlich erfolgreichen – Draufgänger und Abenteurer. Diana urteilt über Jason: … cui19 turpiter audax Sacrilegus processit amor … (Romul. 10,292293)

Die Aussicht, ihn zum Schwiegersohn zu bekommen, löst bei Medeas Vater Aeetes zunächst eine Agenor-artige Gegenreaktion aus (Romul. 10,314–316).20

|| 18 Schetter 1994a, 318 verweist auf das signifikante Zitat aus Stat. Theb. 2,65: Ventum erat ad Thebas. 19 cui könnte man sprachlich genauso gut auf Medea wie auf viro beziehen. Aber insofern Jason vom Opferaltar gerettet wurde, liegt es näher zu sagen, für ihn sei die Liebe erfolgreich verlaufen. 20 Das Exempel vom Europa-Raub auch bei Paris, Romul. 8,557–562.

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Unmittelbar im Anschluss an die ausgeschriebene Formulierung Kreons über den felix praedo (Romul. 10,368) wird das Entstehen der unmoralischen Liebe von Kreons Tochter Glauke zu dem verheirateten Jason beschrieben; Kreon gibt diesem Verlangen schließlich nach (ebd. 376–378). Wie im ersten Teil des Gedichtes (Medea im Diana-Tempel) geht die Liebe zu Jason also von der Frau aus; der nauta entfaltet seine unseriöse Wirkung durch seine bloße Ausstrahlung. Es kommt also genauso, wie es Cupido warnend antizipiert hat: Jason kommt als ein felix praedo in ein neues Land (diesmal in seine Heimat Theben) und gerät dort in ein neues erotisches Abenteuer, das ihn jedoch diesmal – ohne die Unterstützung Cupidos – endgültig ins Verderben stürzt. Dass hier Jason nicht mehr als nauta, sondern als praedo bezeichnet wird, also die Konnotation des Raubs hinzutritt, ist übrigens nicht unvorbereitet: Cupido hat Jason vor seiner Warnung als pirata decore angeredet (210 – auch hier dürfte die Nuance erotischer Eroberungen mitschwingen), und Medea hat ihrer Frage, ob Jason schon eine Frau habe, die Anrede nauta fugax, pirata nefande (248) vorausgeschickt – als habe sie einen Schwerenöter vor sich, der stets auf der Flucht vor seinen alten Beziehungen und auf der Jagd nach neuen Eroberungen ist.21 Auch die Versklausel pirata sacerdos (411) in der Aretalogie der Proserpina dürfte auf die Rollen der beiden Hauptfiguren im ersten Teil des Gedichts gehen. Übrigens kann man den praedo bzw. pirata, wenn man ihm den Erfolg abspricht, auch als mendicus bezeichnen, wie es Medea nach dem Zerwürfnis tut (418: mendicus Iason). Andererseits wirkt ein pirata so unseriös, dass man ihn sogar für einen Hexenmeister (magus) halten kann, wie es die Amme angesichts von Medeas ungewöhnlichem Gebaren erwägt (235236). Mit der (erotischen) Räubervorstellung ergibt sich wiederum eine Parallele zu Paris, der ja auch recht leichtfertig seine frühere Geliebte Oenone zusammen mit seiner Hirtenexistenz preisgibt und über dessen neue Eroberung es zu Beginn der Helena heißt: Troiani praedonis iter raptumque Lacaenae Et pastorale scelerati pectoris ausum … (Romul. 8,12)

Umgekehrt wurde auch Paris einmal mit der diskriminierenden Bezeichnung nauta in Verbindung gebracht: Helena begründet ihre Einladung an ihn mit den Worten

|| 21 Ganz ähnlich wird Paris vor seiner Verführung Helenas charakterisiert, nämlich als pastor, perfidus hospes (Romul. 8,507).

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… nam turpe videri, Regina praesente Paris c e u n a v i t a v i l i s Litus harenosum teneat … (Romul. 8,446–448)

Und in der Tat verhält sich Paris durchaus ähnlich wie Jason zweimal in der Medea: Nachdem er glücklich dem Meer entronnen ist, nimmt er sogleich erotischen Kontakt mit einer Frau auf (wenngleich er dabei wesentlich aktiver ist als Jason gegenüber Medea bzw. Glauke). Aus Sicht des Erzählers dürften Reisende wie Jason und Paris objektiv Bezeichnungen wie nauta vilis bzw. pastor vilis (vgl. Romul. 8,98) verdienen. Andererseits wird Medeas Vater Aeetes, als er sich mit dem Gedanken, dass ein nauta sein Schwiegersohn wird, anfreunden muss, von Bacchus mit dem Gedanken vertröstet, dass sich auch die Mondgöttin Luna in einen Hirten – nämlich Endymion – verliebt habe (Romul. 10,326327: fervescit amans et casta Diana/Pastorem confessa virum); der Gebrauch des mythischen Exempels erinnert stark an die das Hirtentum verteidigenden Ausführungen Apolls über seine eigene Hirtentätigkeit unter Admet (Romul. 8,206–210). Solche letztlich austauschbaren, abschätzigen Berufsbezeichnungen kolorieren auch in wenig schmeichelhafter Weise die – elegisch geprägten – Liebesschwüre beider epischer Figuren, die ihrer Ehefrau als servus statt als maritus beizuwohnen versprechen (Romul. 10,253254 bzw. Romul. 8,524).22 Der Leser, dem die faktische Identität der jeweiligen männlichen Hauptperson als pastor bzw. nauta geradezu eingehämmert worden ist, wird bei solchen Liebesschwüren automatisch an den äußeren Status des Liebenden denken müssen. Genau dieselbe abwertende Nuance trägt das Wort nauta in Medeas Urteil über Jasons neue Eheverbindung (Romul. 10,422423: … tantum ne virgo Creontis/Discidium pariat nautam ductura maritum)23 und im auktorialen Resümee über Medeas Tat (Romul. 10,519: Uritur ingratus usta cum virgine nauta).

|| 22 Kaufmann 2006b, 108109 lehnt entsprechend ihrem Ansatz (vgl. Anm. 53) eine elegische Ausdeutung von Jasons Liebesversprechen ab, da dieser in seiner Situation auf dem Opferaltar kaum ernstlich in Medea verliebt sein könne. Das ist faktisch nicht zu bestreiten. Jedoch greift Jason zu dem rhetorischen Kunstgriff, sein (alternativloses) Einverständnis mit der Ehe vor Medea elegisch zu verbrämen, und bestätigt dem Leser zugleich mit seiner Selbstqualifikation als servus die vom Erzähler ständig suggerierte Diskriminierung seines sozialen Standes (als nauta). Diese Interpretation gilt genauso für Paris’ Liebesschwur im Raptus Helenae: Mit seiner selbstgewählten Erniedrigung zum servus will er natürlich Helena beeindrucken (gerade weil sich ein Abkömmling von Jupiter, Romul. 8,528529 [s.o.], so vor ihr erniedrigt); andererseits versteht der Leser hinter dem servus sogleich den vom Erzähler ständig bemühten pastor. 23 Vgl. Romul. 8,638: Duxerat uxorem pastor cum sorte sinistra.

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Diana hatte zuvor die Verbindung Jasons mit Medea verflucht24 mit den Worten Perfidus egregiam contemnat nauta iugalem. (Romul. 10,294)

Dem nauta (Jason) und dem pastor (Paris bzw. Ägisth) haftet also – neben der Geringwertigkeit ihrer Person – als herausragendes Charakteristikum die sexuelle Rücksichtslosigkeit bzw. Leichtfertigkeit an. Dieser Aspekt wird in den drei Epyllien des Dracontius mit jeweils anderer Nuancierung in den Mittelpunkt gerückt. Paris ist seines Hirtendaseins wie auch seiner alten Geliebten Oenone überdrüssig und strebt nach Wiedereingliederung in das trojanische Königshaus und Gewinnung der ihm von Venus verheißenen Ehefrau; bei seinem ersten Unternehmen trifft er zufällig (infolge des Seesturms) auf Helena, eignet sie sich ohne Rücksicht auf ihren Ehemann Menelaos an und bringt damit das prophezeite Unheil über seine Vaterstadt. Jason gelangt im Zuge seiner Argonautenfahrt (bzw. der anschließenden Heimkehr) in verschiedene Länder und trifft dort auf verschiedene Frauen, mit denen er sich ohne weiteres verbindet; bei seiner neuen Heirat mit Creusa verstößt er dabei gegen die frühere Eheverbindung mit Medea, welche sich kraft ihrer immensen magischen Fähigkeiten furchtbar an ihm und seiner neuen Ehefrau rächt. Ägisth verbindet sich unstandesgemäß (als Hirte) und ehebrecherisch mit Klytaimnestra, der Ehefrau des Agamemnon, während dieser im Trojanischen Krieg den Ehebruch des Paris mit seiner Schwägerin Helena rächt; damit bringt er Schande über Agamemnons Reich und dessen Leben, der als Bestrafer eines ehebrecherischen Hirten (Paris) nunmehr selbst einem solchen (Ägisth) unterliegt; das Recht wird wiederhergestellt durch dessen Sohn Orest. In allen drei Epyllien werden also konsequent Ehebrecher im Status eines pastor bzw. eines nauta abgestraft.25

|| 24 Diese verfluchende Tendenz ist der Rede Dianas anlässlich Medeas Weggang bei Valerius Flaccus (6,495–502; danebengestellt bei Simons 2005, 168169) völlig fremd; dort blickt Diana eher mit Stolz auf Medea als ihre magische Schülerin, die noch viel von sich reden machen wird. 25 Wasyl 2011, 13–109 vertritt in ihrem Dracontius-Kapitel die Ansicht, dass das Moralisieren des Erzählers in den einzelnen Epyllien sukzessive zunimmt: Der Hylas (Romul. 2) kenne noch keinen „narrator-moralist“ (50); im Raptus (Romul. 8) wende sich der Erzähler gegen Helena und besonders gegen Paris, in der Medea (Romul. 10) sei die „cruelty of gods“ das zentrale Thema (42), im Orestes bilde die purgatio Orestis den Zielpunkt des Erzählers (44).

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3 Die Struktur der Epyllien 3.1 Medea In der Medea wird auf die dichotomische Teilung in einen „pantomimischen“ und einen tragödienhaften Teil vom Dichter ausführlich reflektiert; er verwahrt sich, die frevelhaften magischen Praktiken der Medea im Einzelnen darzustellen (Romul. 10,13–15); stattdessen entscheidet er sich für folgendes: … nos illa canemus, Quae solet in lepido Polyhymnia docta theatro Muta loqui, cum nauta venit, cum captus amatur Inter vincla iacens mox regnaturus Iason; Vel quod grande boans longis sublata cothurnis Pallida Melpomene, tragicis cum surgit iambis, Quando cruentatam fecit de matre novercam Mixtus amore furor dotata paelice flammis, Squamea viperei subdentes colla dracones Cum rapuere rotis post funera tanta nocentem.

20

25 (Romul. 10,16–21)

Besonders prägnant werden beide Teile charakterisiert durch die das Prooemium beschließende Frage an die Muse: … cur hospes amatur, Qui mactandus erat, vel cur mactatur amatus? (Romul. 10,3132)

In der Ausgestaltung der Dichtung wird die Zweiteilung konsequent durchgeführt;26 der zweite Teil beginnt in 340 mit dem Vergehen von vier Jahren, innerhalb welcher Zeit Medea dem Jason zwei Söhne geboren hat. Durch welche Charakteristika hebt sich der „pantomimische“ erste Teil von dem tragischen zweiten (der den wesentlich verbreiteteren Stoff bietet) ab? Vor allem sind es göttliche Einflüsse, welche den ersten bestimmen: Juno und Venus verbünden sich, um Jason zu retten; Venus’ Sohn wird recht umständlich durch die Mithilfe des Hymenaeus herbeigeholt, begibt sich nach Kolchis, gibt sich Jason zu erkennen und rettet diesen durch seine beiden gezielten Pfeilschüsse

|| 26 Vgl. die schematische Strukturierung bei Bright 1987, 82.

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auf Medea; Bacchus findet sich ein, um die letzte Schwierigkeit vor einer Eheschließung, nämlich das mangelnde Einverständnis des Vaters Aeetes, zu beseitigen. Dagegen sind in der zweiten, tragischen Hälfte die Götter als handelnde Instanzen viel weniger präsent. Sie sind freilich präsent in den Anrufungen Medeas, welche die Götter zur Teilnahme an ihren Racheplänen bestimmen. Hier sind die Götter jedoch nicht mehr aktive Instanzen, sondern werden durch den Zauber Medeas gebunden und gewissermaßen zur Teilnahme gezwungen. Diese bindende Macht Medeas über die Götterwelt wird im Prooemium eingehend thematisiert, obwohl sie im ersten Teil des Gedichts (wo Medea ja ursprünglich als Dienerin der Diana agiert) gar nicht zum Tragen kommt. Man könnte sogar zuspitzend formulieren, dass die Menschen im ersten Teil der Medea Spielball der sie mühelos manipulierenden Götter sind, im zweiten Teil dagegen die Verhältnisse sich diametral verkehren.27 Genau diesen Unterschied reflektiert Juno, wenn sie zu Venus am Anfang des ersten Teils sagt: Te metuat metuenda deis [sc. Medea]. (Romul. 10,68)

Wenn man den Ausgang der beiden Gedichtteile betrachtet, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die Götter im ersten Teil ein letztlich höchst heiter, fast komödienhaft verlaufendes Geschehen determinieren (welches in der Hochzeit zwischen Medea und Jason gipfelt), während das menschlich-magische Handeln Medeas im zweiten Teil (welches sich dort inhaltlich homogen in die düstere thebanische Stadtgeschichte integriert) eine verheerende Katastrophe herbeiführt. Mit ihrer diesbezüglichen Dichotomie nimmt die Medea eine Mittelstellung zwischen Raptus Helenae und Orestes ein: Im Raptus Helenae wird letztlich von Dracontius die alte Ursachenversion (Paris-Urteil) gewählt, wonach die Entwicklung zum Trojanischen Krieg von den Göttern gesteuert ist; und als Paris, der diese Entwicklung durch sein ehrgeiziges Vorwärtsstreben weitertreibt, in Gefahr gerät, tritt Apoll in ureigener Gestalt als Deus ex machina auf, um das Geschehen wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Im Orestes sind die Götter, d.h. Apoll als Auftraggeber des Muttermords und die Erinyen als Rächerinnen, im ganzen

|| 27 Grundsätzlich richtig erkannt wird der Unterschied des ersten und zweiten Teils der Medea bezüglich der Götter von Klein 2001, der jedoch letztlich in beiden heterogenen Teilen jeweils anders gemünzte christliche Kritik an heidnischen Gottesvorstellungen findet. Gegen Klein mit berechtigter Kritik vgl. Simons 2005, 209–219. Dagegen sieht Kaufmann 2006c in der Medea durchgängig eine götterkritische Haltung des Erzählers, die insbesondere auf die fehlende Hierarchie der olympischen Götter abziele.

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Stück weitestgehend eliminiert (s.u.). In der Medea dagegen scheint das Geschehen nur im ersten, „pantomimischen“ Teil durchgehend göttlich motiviert; der von Venus beauftragte Amor sucht sich mit dem von ihm gewählten Geschoss gegen die Jagdgeschosse der Diana, die Medea als ihre Dienerin vindiziert, durchzusetzen,28 woraus erhellt, dass Medea soweit wirklich nur Spielball des Geschehens ist und die Beschwerde der Diana über ihre Priesterin, welche die Form einer Verfluchung annimmt (ebd. 290–300), zutiefst ungerecht ist. Allerdings ist im ersten Teil durch die Rekurse auf die götterbezwingende Magie Medeas die andersartige Tendenz des zweiten Teils bereits angelegt, wo Medea all ihre Zauberkraft dazu verwendet, die thebanische Stadtgeschichte aus eigener Kraft durch ein kulminierendes Greuel zu krönen. Die reiche Götterwelt des ersten Teils der Medea konstituiert teilweise Bindeglieder zum zweiten Teil: So tauchen gerade die Gottheiten, welche in der ersten Gedichthälfte die Verbindung zwischen Medea und Jason ermöglichten (Venus, Amor und Bacchus), im Epilog (587–601) wieder auf als thebanische Lokalgottheiten, welche nach dem Gebet des Erzählers endlich den thebanischen Greueln ein Ende setzen mögen; so wird gewissermaßen dem Götterapparat des „pantomimischen“ Teils im Nachhinein ein thebanisches Kolorit vindiziert (allgemein zur „Einschreibung“ der Medea in den Thebenmythos vgl. unten Abschnitt 4). Ferner wird die Hochzeit zwischen Medea und Jason von den auf Jasons spätere Untreue hinweisenden allegorischen Gottheiten Ingratia29 und Oblivio besucht (270271),30 und die Göttin Diana, die im ersten Teil die Verödung ihres

|| 28 Romul. 10,153–155: „et virgo cruenta/Approbet hos arcus dominae plus posse pharetris./ Namque Diana feras, cervos et figere dammas/Adsolet: hoc telum reges et numina figit.“ Hier liegt letztlich der Streit zwischen Apoll und Amor zugrunde, der im ersten ovidischen MetamorphosenBuch zur ersten Liebesgeschichte überleitet: Primus amor Phoebi Daphne Peneia, quem non/Fors ignara dedit, sed saeva Cupidinis ira./Delius hunc, nuper victo serpente superbus,/Viderat adducto flectentem cornua nervo:/„Quid“que „tibi, lascive puer, cum fortibus armis?“/Dixerat. „ista decent umeros gestamina nostros,/Qui dare certa ferae, dare vulnera possumus hosti,/Qui modo pestifero tot iugera ventre prementem/Stravimus innumeris tumidum Pythona sagittis./Tu face nescio quos esto contentus amores/Irritare tua, nec laudes assere nostras.“/Filius huic Veneris: „figat tuus omnia, Phoebe,/Te meus arcus“, ait, „quantoque animalia cedunt/Cuncta deo, tanto minor est tua gloria nostra.“ (Ov. met. 1,452–465) Diese göttliche Auseinandersetzung wird hier auf Cupido und Diana übertragen. Wie sehr Medea im Spannungsfeld dieser Gottheiten steht, erhellt daraus, dass sie das Tönen der Pfeile im Köcher des Cupido fälschlich auf ihre Herrin Diana zurückführt (Romul. 10,183–186). 29 Vgl. 384: i n g r a t u m nam senserat ipsa maritum. 30 Zur Bedeutung der Hochzeitsgäste in Hinsicht auf den zweiten Werkteil vgl. Selent 2011, 163: „Dracontius zeigt hier … anhand der Gefolgezüge und der Anwesenheit Bacchus’, dass die Verbindung dieses Paares im Grunde von Beginn an vom Scheitern bedroht ist.“

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Tempels durch Medeas Fortgang beklagt und daher die Hochzeit verflucht (290– 300), wird im zweiten Teil von Medea in ihrer Zauberbeschwörung um Verzeihung gebeten (396–430, besonders 416: Da veniam, Medea precor); allerdings handelt es sich bei Diana nur um eine Facette der Dreifach-Gottheit Luna-DianaProserpina, welche Medea bereits im ersten Teil des Gedichtes angerufen hatte, um die Opferung Jasons anzukündigen (188–194). Diese damals abgebrochene Opferhandlung wird jetzt mit verfünffachtem Opfer (425) wieder aufgenommen. Doch dieser scheinbar zum ersten Werkteil parallele Gottesdienst verdeckt nur die Tatsache, dass jetzt vielmehr die Gottheit die magischen Wünsche Medeas zu erfüllen hat – ähnlich wie der Sonnengott in Medeas Feuerzauber instrumentalisiert wird (497–508), obwohl er über ihr Verbrechen Scham empfindet (568569); Medea zwingt die Götter „widerwillig“ in ihren Dienst (13; 138). Man hat also den Eindruck, dass diese Götter, wenn sie noch autonom handelten wie im ersten Teil und nicht von Medea magisch instrumentalisiert würden, den Handlungsverlauf zum Besseren wenden würden (wie in der ersten Gedichthälfte). Insbesondere die Flucht Medeas aus Theben mit dem Drachenwagen31 ist systematisch als ein Gegenbild zur Anreise Cupidos nach Colchis mit dem Taubengespann der Venus gestaltet. Die Korrespondenzen zwischen beiden Szenen gehen über das bloße Motiv des fliegenden Wagens weit hinaus: Der Wagen Cupidos wird von positiven allegorischen Figuren begleitet, welche den heiteren ersten Gedichtabschnitt repräsentieren (161–163), der Wagen Medeas von der negativen des Furor (563), die den zweiten Abschnitt bestimmt. Während Cupido zwischen den verschiedenen Tauben des Gespanns wechselt und damit für Erleichterung sorgt,32 lastet Medea schwer auf ihrem Wagen.33 Amor ruft durch seine erheiternde Erscheinung epiphanieartige Reaktionen der Natur in Colchis aus;34 Medea könnte mit ihrer Erscheinung hingegen den Himmel verfinstern.35 Eine weitere, wichtige Verknüpfung zwischen den beiden Werkteilen der Medea ergibt sich dadurch, dass Jason bei seiner Rückkunft in Theben entgegen der im ersten Teil von Cupido ausgesprochenen Warnung „wieder wie ein (leichtsinniger) Seemann“ ankommt (s.o.) und sich nun durch die leichtfertig eingegangene zweite Ehe endgültig ins Verderben stürzt.

|| 31 Vgl. hierzu Stoehr-Monjou 2013. 32 165–167: … tamen impiger ales/ Nunc hanc nunc illam residet gaudetque iugales/ Iam r e l e v a r e suas et se pensare volatu. 33 562: Occupat illa g r a v e m funesto corpore currum. 34 174176: Et magis accessu pueri plaga maesta serenat/Adventum testata dei: mox taetra fugantur/Nubila, caeruleos excludit flammiger imbres. 35 567: Et poterat fuscare diem, corrumpere ventos.

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Als „pantomimisch“ und unepisch wird man im ersten Teil insbesondere empfinden, wie leicht und unmittelbar die Götter mit den Sterblichen verkehren: Cupido gibt sich dem auf dem Opferaltar liegenden Jason ohne weiteres zu erkennen, und auch Bacchus richtet seinen Rat direkt an den erzürnten Vater Aeetes – wohingegen man in epischer Dichtung eher erwarten würde, dass sich die Götter Menschen nur in Menschengestalt zeigen. Man vergleiche etwa die komplizierte Art, wie Cupido in der Aeneis auf Aeneas einwirkt, indem er die Gestalt von dessen zuvor entrücktem Sohn Ascanius annimmt; in der Medea des Dracontius zeigt sich der Liebesgott dem auf dem Opferaltar liegenden Jason dagegen einfach von der Tempelkuppel aus und begrüßt ihn (199200) – wohingegen Cupido auch im Hylas, ganz nach epischer Manier, bevor er mit den Quellnymphen, die er in Brand setzen soll, Kontakt aufnimmt, die Gestalt einer solchen annimmt (Romul. 2,81–83). Auch die Entscheidungsprozesse verlaufen im ersten, „pantomimischen“ Teil für epische Verhältnisse äußerst leicht und mühelos. Medea entscheidet sich noch am Opferaltar für die Ehe mit Jason, sehr zum Befremden ihrer Umgebung, und Aeetes legt sein Unbehagen über die unerwartete Ehe Medeas unter dem göttlichen Rat des Bacchus sehr unvermittelt ab, indem er von dem durch einen poetischen Vergleich ausgedrückten Verhaltensparadigma „Agenor“ (als Jupiter dessen Tochter Europa raubt) zu dem alternativen, ebenfalls in Gleichnisform gegebenen Paradigma „Lycomedes“ (als Achill dessen Tochter Deiadamia geschwängert hat) überwechselt; mit diesem neuen Paradigma wird zugleich die heiterere Note des Geschehens (welche an das erhaltene erste Buch der Achilleis des Statius erinnert) literarisch markiert. All diese Stimmungswechsel geschehen mit einer unepisch wirkenden Leichtigkeit, ohne jegliche Motivation etwa durch einen Entscheidungsmonolog. Trotzdem ist Vergil ohne Zweifel das bestimmende poetische Vorbild des ersten, „pantomimischen“ Teils. Die Anbahnung des Bündnisses der beiden Göttinnen Juno und Venus zum Schutze Jasons, das Eingreifen Amors, die „Verbrämung der Schuld durch den Namen einer Ehe“ (Romul. 10,257)36 – all das entspricht exakt dem vergilischen Vorbild, nur die Leichtigkeit der göttlichen Einwirkung und die Problemlosigkeit der Umsetzung und schließlichen Eheschließung wirken unvergilisch. Man könnte geradezu von einer vergilischen Komödie im ersten Teil der Medea sprechen. Es kommt zu einem vierjährigen ehelichen Zusammenleben und der Geburt von zwei Söhnen. Dann fährt es Jason in den Sinn, dass er die Argonautenfahrt

|| 36 Ut facinus purget proprium, vocat ipsa maritum. So ist die Periode zusammenzunehmen, vgl. Gärtner 1999a, 200.

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und seine Heimat doch nicht so ohne weiteres aufgeben möchte – die Eltern mögen ja in der Tat noch auf ihn warten; aber ob die Gefährten wirklich plausiblerweise geduldig vier Jahre abgewartet haben würden, mag man anzweifeln. Die Rückbesinnung auf die Argonautenfahrt vollzieht sich allerdings nicht vergilisch durch eine Ermahnung seitens des Götterboten, sondern in einem nächtlichen Gespräch des Jason mit seiner Gattin, dessen Vorbild in der nächtlichen Unterredung zwischen Polynices und Argia in der statianischen Thebais zu suchen ist.37 In dieser Scharnierszene am Ende des ersten Teils vollzieht sich auch der Übergang von Vergil zu Statius als poetischem Paradigma (Statius als Vorbild – allerdings dessen Achilleis – ist bereits zuvor bei der Umstimmung des erzürnten Vaters Kreon durch den Vergleich mit Lycomedes aufgeschienen). Denn konstitutiv für den in Theben spielenden zweiten Teil des Gedichtes ist die mythologisch innovative Einordnung von Medeas Rache in die in der Thebais dargestellten Greuel des thebanischen Königshauses; hierauf wird unten in Abschnitt 4 näher einzugehen sein.

3.2 Orestes Im Orestes ist die Dichotomie38 nicht minder deutlich als in der Medea. In beiden Fällen wird im zweiten Teil eine Rachehandlung beschrieben; allerdings wird im Orestes in der zweiten Hälfte durch Mord eine andere Mordtat gerächt, die im ersten Teil geschildert wurde, wohingegen in der zweiten Hälfte der Medea ein Ehebruch gerächt wird, der erst zu Beginn des zweiten Teils gegen eine in der ersten Hälfte angebahnte Ehebeziehung vollzogen wird. Mit diesem Unterschied hängt es zusammen, dass die erste Hälfte der Medea von einer anderen, „pantomimischen“ Qualität ist, während der Orestes durchgehend tragisch, wenngleich im epischen Gewand daherkommt:

|| 37 Hierzu vgl. Schetter 1994a, 316317. Kaufmann 2006b, 107 (die Schetters Aufsatz nicht berücksichtigt, vgl. Anm. 53), sucht die intertextuelle Relevanz dieses Zitats dadurch abzuwerten, dass die „treue“ Argia charakterlich nichts mit Medea gemein habe. Die Bedeutung des Zitats dürfte eher darin liegen, dass hier programmatisch Statius’ Thebais als wichtigster Bezugstext des zweiten Teils der Medea eingeführt werden soll. 38 Zu alternativen, weniger zutreffenden Gliederungsversuchen vgl. Simons 2005, 308309 Insbesondere Bright 1987, 203 analysiert den Orestes strukturell als Trilogie, in Analogie zur Orestie des Aischylos.

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Te rogo, Melpomene, tragicis descende cothurnis Et pede dactylico resonante quiescat iambus. (Or. 1314)

Es ergibt sich eine deutliche Übereinstimmung mit der Charakterisierung der zweiten Hälfte der Medea: Vel quod grande boans longis sublata cothurnis Pallida Melpomene, tragicis cum surgit iambis. (Romul. 10,2021)

Die dichotomische Zweiteilung ergibt sich im Orestes wie in der Medea durch das Vergehen eines erheblichen Zeitraums: Der „Hirt“ Ägisth regiert nach der Ermordung Agamemnons sieben Jahre und acht Monate (Or. 453–455).39 Grundsätzlich sind im Orestes beide Teile frei von aktiver göttlicher Einwirkung auf das erzählte Geschehen.40 Im Gegensatz zur Orestie des Aischylos wird Orest weder von Apoll mit dem Muttermord beauftragt noch danach von den Erinyen heimgesucht. Beide Aufgaben werden von Totenschatten übernommen: Der Schatten Agamemnons beauftragt Orest und Pylades; die Heimsuchung Orests vollzieht sich durch den Schatten der Klytaimnestra, der ihn in den Wahnsinn treibt.41 Eine Erinye wirkt nur sehr punktuell (zusammen mit Enyo) beim eigentlichen Akt des Muttermords mit, und zwar unterstützend (785);42 es dürfte sich um nicht wesentlich mehr als um eine personale Verbildlichung des Begriffs

|| 39 Hierzu, insbesondere zu der numerischen Zeitangabe, vgl. Schetter 1994b, 351 352. 40 Vgl. Schetter 1994b, 355–362. 41 Zur Provenienz dieses Motivs vgl. Schetter 1994b, 361–362. Schetter verweist auf Verg. Aen. 4,471–473: Aut Agamemnonius scaenis agitatus Orestes,/Armatam facibus matrem et serpentibus atris/Cum fugit ultricesque sedent in limine Dirae. Bemerkenswerterweise wird die äußere Erscheinung beider Totenschatten mit parallelen korrektiven Wendungen beschrieben. Agamemnon: Et stetit ante toros ambobus visus Atrides/In somnis, non qualis erat post bella triumphans,/Sed qualis cecidit percussa fronte bipenni;/Tristis iners tremulus, gemitu suspiria rumpens;/Pallida puniceo perfuderat ora cruore/Et tremulas languore manus; cervice vacanti/Ac pede vincla trahens quibus est abstractus ab aula (Or. 520–526); Klytaimnestra: Astitit ante oculos genetrix sua non ut inermis,/Sed faculis armata rogi, subcincta cerastis;/Ignibus admotis resolutos orbibus angues/Ingerit in faciem iuvenis, mortale minatur (ebd. 821–824). Der ersten Partie liegt ersichtlich die Traumerscheinung Hektors bei Verg. Aen. 2,270–279 zugrunde: In somnis, ecce, ante oculos maestissimus Hector/Visus adesse mihi largosque effundere fletus,/Raptatus bigis ut quondam, aterque cruento/Pulvere perque pedes traiectus lora tumentis./Ei mihi, qualis erat, quantum mutatus ab illo/Hectore qui redit exuvias indutus Achilli,/ Vel Danaum Phrygios iaculatus puppibus ignis;/Squalentem barbam et concretos sanguine crinis/Vulneraque illa gerens, quae circum plurima muros/Accepit patrios … 42 Vgl. Schetter 1994b, 356–358.

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der Rache handeln – ähnlich wie die Furien in der Medea rein punktuell bzw. symbolisch den neuen Ehevertrag des Jason unterzeichnen (Romul. 10,480–483). Personell werden beide Werkteile verknüpft durch die Person von Orestes’ Erzieher Dorylas, der im ersten Teil Orestes beiseiteschafft und im zweiten durch seine nächtliche Anrufung an Agamemnons Totenschatten die Rachehandlung in Gang setzt. Die wichtigste strukturelle Parallelität zwischen erstem und zweitem Teil besteht im Ablauf der Verursachung der jeweiligen Mordhandlung. Klytaimnestra, die sich schon beruhigt hatte, als Agamemnon noch nicht persönlich heimkam, wird durch die Prophezeiung der vorausgeschickten Gefangenen Kassandra, die das Geschehen detailliert voraussieht, geradezu zur Tat aufgestachelt. Im Anschluss daran wirkt sie auf Ägisth ein; bei diesem erzielen Klytaimnestras Worte nachhaltige Wirkung: Haec infausta loquens lacrimis simul ora rigabat. Turbidus in ferrum rapitur flammante timore 220 (Audacem faciebat amor terrorque protervum) Et movet armatos ictu quatiente lacertos Absentemque ferit pavidus quem non videt hostem. Sic solet anguis hians obsesso fonte venenum Fauce parare necis fatis mortalibus aptum 225 Pectore sublatus lingua vibrando trisulca. (Or. 219–226)

Im zweiten Teil aktiviert Agamemnons Totenseele die Muttermörder, indem sie Orestes und Pylades gleichzeitig im Traum erscheint. Orest ist zunächst unsicher und will sich auf die Tötung Ägisths beschränken, doch Pylades hebt die Notwendigkeit des Muttermords hervor. Auch seine Worte fruchten: Talibus adloquiis accensus felle doloris Erigitur iuvenale fremens, mortale minatus, (Dentibus illisis frangebat murmura morsus) Et, quasi adulterium cuperet43 pastoris Egisti Matris in amplexus infamia membra ligare, Percutit absentes nullo moriente reorum: Qualiter infremuit post somnia Pyrrhus Achillis, Quae sensus monuere suos cum nocte sopora

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|| 43 cuperet Zwierlein, caperet codd. Ich folge hier einer Konjektur Otto Zwierleins in seiner Teubneriana der Carmina profana (Zwierlein 2017). Hierzu vgl. meine Rezension (Gärtner 2018, 158).

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Aeacide stimulante truci, cum posceret heros Virginis inferias in Pergama saevior umbra. (Or. 616–625)

In beiden Fällen zieht eine übermenschliche Rede die menschliche Suasorie einer Komplizenfigur nach sich, die bei dem künftigen Mitmörder so nachhaltig wirkt, dass er seine Mordtat durch körperliche Bewegungen gegen den abwesenden Feind antizipiert; über diese signifikante Übereinstimmung hinaus werden beide Partien exakt parallel durch ein Gleichnis abgeschlossen; das Schlangengleichnis (224–226) fokussiert auf die urtümliche Bosheit des Ehebrechers, das PyrrhusGleichnis (622–625)44 dagegen auf die sich sekundär ergebende Rachepflicht des Sohnes. Eine weitere Verklammerung zwischen den beiden Hälften des Orestes bilden die beiden Iphigenie-Szenen. Agamemnon wird am Anfang von Troja aus nach Tauris verschlagen, findet dort seine totgeglaubte Tochter Iphigenie wieder, wird aber von der immer noch erzürnten Diana daran gehindert, Iphigenie in seine Heimat mitzunehmen.45 Der in Wahnsinn geratene Orest wird gegen Werkende von Pylades außer Landes geschafft; die beiden geraten ebenfalls in den von Iphigenie gewarteten Diana-Tempel. Dort wird zunächst Orest vom Opferaltar in letzter Minute gerettet (die Szene weist deutliche verbale Übereinstimmungen mit dem Anfang der Medea auf)46, dann von seinem Wahnsinn gereinigt; schließlich gelingt es den beiden Freunden (anders als zuvor Agamemnon), Iphigenie heimzuführen.

|| 44 Zum Pyrrhus-Motiv vgl. zuvor in der Rede des Dorylas 476. 45 Es ergeben sich Bezüge zur vergeblichen Zurückforderung der Hesione durch Antenor in Romul. 8: In beiden Fällen wird um die Rückgabe einer nahen Verwandten ersucht, die mit einem gewissen Recht von ihrer Familie ferngehalten wird (Iphigenie als der Diana geschuldete Opfergabe, Hesione als Kriegsbeute Telamons). Agamemnon argumentiert, dass ihm der Sieg über Troja nichts bedeute, wenn er nicht seine Tochter zurückerhalte; entsprechend argumentiert Telamon, Priamos könne keinen Stolz auf seinen Wiederaufbau Trojas empfinden, wenn er nicht seine Schwester zurückerhalte. Vgl. Or. 98–100 (Nil actum Troiae est, si non comitante Mycenas/Virgine pergo redux plangenti reddere matri,/ Quam putat extinctam …); vgl. mit Romul. 8,270–273: (… iacet ingens Troia favillis/ Excidii compressa sui, nec Pergama ductor/Surrexisse putat, nisi iam, rex magne, sororem/Reddideris regi, quae nunc captiva tenetur. In beiden Fällen führt dieses Argument zum Zorn der angeredeten Instanz (Romul. 8,285: at Telamon mentes armabat in iras; Or. 102: His precibus commota dea crudescit in iras). 46 Besonders ähnlich sind die Äußerungen, mit welchen die jeweilige Priesterin die Unterlassung des Opfers rechtfertigt. Vgl. Romul. 10,243–247 (… effatur: „non est haec victima digna:/Non torta cervice iacet, male palpitat, artus/Erigit impatiens et saucius ante dolorem:/ S a n g u i n e m e m b r a c a r e n t ; i a m n o n e r i t h o s t i a g r a t a ,/Quae sicco mucrone cadet“) mit Or. 878–881 (… non ultra passa loquentem/Proiecit cultrum percussa fronte sacerdos:/„Solvite,

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Die beiden Szenen, die dem Anfang bzw. dem Ende des Gedichts nahestehen, machen sinnfällig, dass Orests Handeln das Tun seines Vaters insofern ergänzt, als er dasjenige vollendet, was Agamemnon wegen des Götterzorns versagt blieb bzw. dass die Götter dem Sohn wesentlich geneigter sind als dem Vater. Orest ist im Gegensatz zu seinem Vater erfolgreich bei der Restitution der familiären Verhältnisse.

3.3 Raptus Helenae Blicken wir noch kurz auf die Struktur des Helena-Epyllions. Die Vergeltung für Paris’ Ehebruch durch die drohende Zerstörung Trojas ist hier allgegenwärtig durch die Prophezeiungen und auktorialen Andeutungen, füllt aber keinen eigenen Werkteil. Im Werk selbst findet das Fehlverhalten des Paris ein strukturelles Pendant durch die Gesandtschaftsreise zu Telamon, über deren kompositorischen Sinn viel gerätselt worden ist.47 Priamos stellt dem unternehmenslustigen Paris, der sich, wie in Abschnitt 2 gezeigt, vor allem durch seine Unfähigkeit als Politiker und Krieger auszeichnet, die drei erfahrenen Trojaner Antenor, Polydamas und Aeneas (Romul. 8,240) zur Seite: … veneranda senectus Praecipitem frenat monitis per cuncta iuventam. (Romul. 8,236237)

|| carnifices, trepidantia membra ligati:/S a n g u i n e c o r d a c a r e n t , n o n e s t h a e c h o s t i a g r a t a “). 47 Schetter 1994c, 308: „Die Gesandtschaft wäre ohne Folgen geblieben, alles wäre gut gegangen, wenn nicht Paris auf der Rückfahrt durch einen Seesturm nach Zypern verschlagen worden und dort Helena begegnet wäre. Beinahe hätte der Trojanische Krieg nicht stattgefunden. Daß er dann doch stattfand, lag an fatalen Imponderabilien.“ Mit dieser Betrachtungsweise werden aber die konkreten Bezüge zwischen dem Helena-Prooemium und der Gesandtschaftshandlung verkannt. Dagegen sieht Simons 2005, 262 in der (für den Fortgang der Erzählung belanglosen) Gesandtschaftshandlung eine Ablehnung der rationalistischen mythologischen Variante durch Dracontius: „Mit seiner Gestaltung der Salamis-Episode reagiert er auf die … mythologische Tradition, die in der Weigerung, Hesione zurückzugeben, die causa des Trojanischen Krieges sah, und verneint diese.“ Aber eine solche Ablehnung der jüngeren mythologischen Variante erklärt gerade nicht, warum sie so ausführlich berücksichtigt wird. Richtiger Simons 2005, 300: „Dracontius nutzt sie [sc. die Episode] als Kontrast zu Paris und seinem Verhalten. Dies erklärt auch die ausführliche Gestaltung der Episode.“

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Diese wickeln gemeinsam mit Paris die Gesandtschaft zu Telamon ab, werden dann aber anschließend von ihm durch einen verhängnisvollen Seesturm getrennt. Noch im Seesturm unternimmt Paris den vergeblichen (und von vorneherein sinnlosen) Versuch, das Schiff dieser drei Gesandten zu erreichen (398399). Erst sein Scheitern bei diesem Versuch ruft seine erbärmlichen Klagen im Seesturm hervor (s.o.). Schließlich erreicht er aber doch Land in Zypern und verführt dort Helena. Durch den Seesturm verliert Paris den Kontakt zu seinen väterlichen Beratern und ist ganz auf sich und seine eigene Unfähigkeit gestellt. So verführt er Helena; mit seinem rücksichtslosen Vorgehen gegen deren Ehe verschuldet er den trojanischen Krieg. Die drei Gesandten dagegen, die ihrerseits für die Gesandtschaft zu Telamon verantwortlich sind, zeigen paradigmatisch, wie man durch Rücksichtnahme auf ein bestehendes Eheverhältnis einen drohenden Krieg vermeiden kann. Bereits vor den eigentlichen Reden macht der Erzähler deutlich, welch gefährliches Kriegspotenzial die Rückforderung von Priamos’ Schwester Hesione in sich trägt: … ramos frondentis olivae Portantes ad tecta ducis sub imagine pacis Non pacem, sed bella gerunt; nam dicta tenebant, Quae possent armare virum, nisi iura vetarent Hospitii, quae nemo parat violare modestus. (Romul. 8,254–258)

Inwiefern die von Antenor formulierte Forderung eine besondere Provokation für Telamon darstellte, die ihn „bewaffnen“ könnte, wird zwischen den beiden Reden deutlich gemacht: … at Telamon mentes armabat in iras; Nam pietas affectus amor concordia proles Accendunt motus in pectore fellis amari. Conubium regni, thalami consortia casti Scindere poscebant, et, quod mens nulla tulisset, Aiacis haec mater erat! (Romul. 8,285–290)

Dann empört sich Telamon: … quis regi quisve marito Vel misero sic ausus ait cum voce proterva: „Conubium rescinde tuum, rumpatur honesto Foedere iuncta domus, thalami damnentur amantum,

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Festivas extingue faces“?48 quis vicit, ut istud Audiat Aeacides, patriam qui perculit hosti? (Romul. 8,304–309)

Als die Gesandten erfahren, dass Telamon Hesione geehelicht hat, sehen sie sogleich von einer Rückforderung ab; Polydamas formuliert beschwichtigende Worte. Damit entsprechen die Gesandten exakt den moralisierenden Axiomen, welche im Prooemium des Helena-Epyllions mit deutlicher Stoßrichtung gegen Paris aufgestellt werden, nach Unverletzlichkeit der Ehe und insbesondere der weiblichen Mutterrolle: … nam prodimus hostem Hospitis et thalami populantem iura mariti, Foedera coniugii, consortia blanda pudoris, 5 Materiem generis, subolis spem, pignera prolis: Nam totum de matre venit, de matre creatur Quod membratur homo; pater est fons auctor origo, Sed nihil est sine matre pater: quota portio patris Omnis constat homo? mater fit tota propago. 10 (Romul. 8,3–10)

Die Wichtigkeit der Mutter für das Kind (womit eine dezidierte Gegenposition bezogen wird zu der verbreiteten Auffassung, die Mutter bilde nur den „Ackerboden“, auf welchen der männliche Same falle),49 entspricht exakt der Wertschätzung des Telamon, wonach die größte Zumutung der Gesandtschaftsforderung darin besteht, dass er sich nunmehr von der Mutter des Aias trennen solle (289290). Die recht ausgreifende, fast exkurshafte Gesandtschaftshandlung ist also nichts anderes als ein gegen Paris’ Helenaraub gerichtetes Paradigma, welches zeigt, wie rücksichtsvoller Umgang mit fremden Ehen und der damit verbundenen Mutterschaft den Frieden bewahren und Katastrophen vermeiden kann. Durch die Trennung von den ihm beigegebenen Gesandten und die damit verbundene Beschränkung auf seine eigenen bescheidenen Fähigkeiten weicht er jedoch in der Folge von diesem Weg ab.

|| 48 Ein mittelateinischer Epiker des 12. Jahrhunderts, Joseph von Exeter, hat in seiner Ylias gerade diese Formulierung des Dracontius aufgegriffen und die Ankunft des Gesandten Antenor exakt auf den Tag der Hochzeit zwischen Telamon und Hesione verlegt, womit eine erhebliche Zuspitzung des Konfliktes erreicht wird (Joseph folgt im ganzen der Version des Dares Phrygius, wonach die verweigerte Rückgabe der Hesione tatsächlich zum Trojanischen Krieg führt). Vgl. Gärtner 1999b, 399–416. 49 Hierzu vgl. Simons 2005, 224225.

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Der Kontrast zwischen der Beruhigung des Telamon durch die beschwichtigende Rede des Polydamas und der Aufreizung des Menelaus durch Paris’ Entführung der Helena spiegelt sich in zwei kompositorisch aufeinander abgestimmten Gleichnissen: Telamon wird mit einem Löwen verglichen, der durch einen sich zu Boden werfenden Jäger geschickt besänftigt wird, Menelaus dagegen mit einem Tigerweibchen, das durch den Raub seiner Jungen auf das Äußerste provoziert wird. Beide Gleichnisse haben eine einander entsprechende zweistufige Struktur, und die zweite Phase wird jeweils mit Ast ubi eingeleitet: … regis iam corda tepescunt, Quae fuerant accensa nimis. sic magna leonis 350 Ira fremit, cum lata procul venabula cernens Venantis crispare manu iam verbera caudae Cruribus incutiens spargit per colla per armos Erecta cervice iubas, iam tenditur altus Dentibus illisis et pectus grande remugit 355 (Flumina tunc resonant, montes et lustra resultant): Ast ubi venator reiecta cuspide sollers Sponte cadit pronusque iacet, perit ira leonis, Turpe putans, non dente suo si praeda iacebit, (Temnit praedo cibos, quos non facit ipse cadaver, 360 Ignoscens feritate pia, veniale precatus Venator si cesset iners): sic rector Achivus Frangitur … (Romul. 8,349–363)

und Hyrcanae sic saepe solent per devia tigres Affectu stimulante rapi, cum pignora mater Perdit et elusa feritas pietate nocentis Raptoris sectatur iter, vestigia sollers Insequitur praedonis equi, sessoris anheli; Ast ubi torva parens transacto flumine natos Secerni conspexit aquis, redit orba dolore Et gemit infrendens amissum nobile pignus: Atrides sic maestus erat de coniuge rapta.

580

585 (Romul. 8,577-585)

Die Parallelität der Gleichnisse betont den Gedanken, dass die Reaktionen eines mit dem Verlust der Ehefrau konfrontierten Mannes natürlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und daher voraussehbar bzw. kalkulierbar sind, forciert also die moralisierende Lehre über die Notwendigkeit des Respekts vor fremden Ehen.

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Man kann das Nebeneinander von Gesandtschaftshandlung und Helenaraub auch unter mythengeschichtlichem Aspekt betrachten: Dracontius vollbringt in seinem Epyllion das Kunststück, zwei mythologisch alternative Aitiologien zum trojanischen Krieg (einerseits die götterbezogene Erklärung durch das Paris-Urteil und den hieraus folgenden Raub der Helena, andererseits die militärisch-rationalistische Alternativerklärung durch die verweigerte Rückgabe der Hesione) in seiner Erzählung miteinander zu kombinieren und durch die in seiner Version glimpflich ausgehende Gesandtschaftshandlung dem verhängnisvollen Helenaraub ein moralisch positives Paradigma gegenüberzustellen. Die beiden aitiologischen Versionen werden besonders kompakt nebeneinandergestellt in der Partie, wo die Helden, denen der Tod im Trojanischen Krieg bestimmt ist, als Verurteilte in das Paris-Urteil einbezogen werden: … damnatur Thessalus heros Et Telamone satus, pereunt duo fulmina belli. Pro matris thalamo poenas dependit Achilles (Unde haec causa fuit), forsan Telamonius Aiax Sternitur invictus, quod mater reddita non est Hesione Priamo … (Romul. 8,47–52)

Hier wird der Tod Achills auf die Hochzeit seiner Mutter Thetis zurückgeführt (wo der Apfel der Eris gemäß der herkömmlichen Aitiologie Unfrieden stiftete, der wiederum zum Paris-Urteil führte), derjenige des Aias dagegen auf die verweigerte Rückgabe seiner Mutter (also auf die rationalistische Aitiologie, die gescheiterte Gesandtschaft an Telamon).50 Insofern sich im weiteren Verlauf des Gedichts die rationalistische Aitiologie nicht faktisch auswirkt (die trojanischen Gesandten geben sich ja mit der Verheiratung Hesiones zufrieden), sondern nur als Folie für Paris’ Fehlverhalten dient, wird diese Aitiologie hier zurückhaltend mit forsan (50) modifiziert. Obwohl das Verhalten der trojanischen Gesandtschaft auf Salamis demnach als moralisches Lehrstück bessernd auf den Hirten Paris einwirken könnte, ergibt sich ein solcher Einfluss nicht; das zeigt sich symbolistisch schon daran, dass Paris unmittelbar nach dem Verlassen von Salamis durch einen Seesturm von den ihm beigegebenen älteren Gesandten getrennt wird und deren Schiff nicht mehr zu erreichen vermag.

|| 50 Während der Gesandtschaftsverhandlungen auf Salamis ist mehrfach von der Wehrkraft des jungen Aias die Rede (Romul. 8,319–320; 364365; 375–378).

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Strukturell zeigt sich die (vom mäßigenden Einfluss der älteren Mit-Gesandten unbeeinflusste) Kontinuität von Paris’ Handeln in mehreren auffälligen Parallelen zwischen seiner Ankunft in Troja und seiner Ankunft auf Zypern: In beiden Fällen verbreitet sich schnell die Fama,51 er hinterlässt in beiden Städten zunächst den Eindruck eines pastor vilis (98) bzw. eines navita vilis (447), sein Gang in die Stadt wird jeweils mit der Junktur carpere iter beschrieben,52 und in beiden Fällen findet zum Zeitpunkt seiner Ankunft dort eine sakrale Handlung statt. In Troja feiert Priamos den Wiederaufbau der Stadt, auf Zypern wird ein Venus-Fest begangen. Paris wird bald darauf mit auf seine Person bezüglichen Weissagungen konfrontiert: in Troja mit denjenigen des Helenos und der Kassandra, auf Zypern mit derjenigen eines Auguren; am Ende dieser Weissagungsszenen wird jeweils auf zwei Priesterautoritäten rekurriert (in 181182 auf Helenos und Laokoon, in 479480 auf Ganymed und Polles als Archegeten der Augurenkunst). Schließlich gerät Paris in akute Lebensgefahr: in Troja durch die feindlichen Prophezeiungen von Helenos und Kassandra, auf Zypern durch die ihn verfolgende Mannschaft des Menelaos; er entkommt jeweils nur knapp, und am Ende der jeweiligen Perikope steht das schmerzliche Scheitern seiner Widersacher Hektor (212) bzw. Menelaos (585). Zugleich werden durch die parallel gestalteten Einzugsszenen in Troja bzw. auf Zypern die beiden Stufen von Selbstüberhebung nachvollzogen, die am Werkanfang aus der psychischen Innenperspektive des Paris jeweils durch miteinander korrespondierende iam-Perioden geschildert wurden (s.o. Abschnitt 2): 1. die Unzufriedenheit mit dem Hirtendasein, die zur Rückkehr in die Königsfamilie führt; 2. die Unzufriedenheit mit dem bloßen Königsstatus, die Paris zu seiner verhängnisvollen auswärtigen Unternehmung treibt.

4 Die „Einschreibung“ der Epyllien in den Theben- bzw. Argos-Mythos Bereits von Willy Schetter wurde gezeigt, dass die mythologisch neuartige Integration der Medea-Geschichte in den Theben-Mythos zwar ermöglicht wird durch die Namensgleichheit des korinthischen und des thebanischen Kreon, sich

|| 51 Vgl. 116–118 (Nuntius interea totam compleverat urbem:/Fama volat per templa deum, quod pastor ab Ida/Se velit ostendi regni de stirpe creatum) mit 442443 (Nuntia fama ducis totam repleverat urbem,/Advenisse Parin Troiano sanguine cretum). 52 Vgl. 71 (Troianum carpebat iter) mit 450 (Praeceptum dum carpit iter festinus ad urbem).

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aber keineswegs erschöpfend erklären lässt durch eine Verwechslung namensgleicher Personen, sondern auf eine bewusste und gewollte „Einschreibung“ durch Dracontius in die literarische Tradition der statianischen Thebais abzielt.53 Führen wir Schetters Überlegungen noch ein wenig weiter: Medeas frevelhafter Kindermord wird im Schlussgebet als End- und Höhepunkt der von Statius besungenen thebanischen Greuel dargestellt. Die Namensgleichheit ermöglicht es Dracontius, mit dem durch Medea verursachten Todesgeschick Kreons eine Alternativversion zum Tod des thebanischen Kreon im 12. Thebais-Buch durch Theseus zu schaffen. Damit übt er gewissermaßen implizit eine poetologische Kritik am – auch in der neuzeitlichen Literaturkritik – öfter kritisierten letzten ThebaisBuch, welches auf die sukzessive anwachsenden und im wechselseitigen Brudermord in Buch 11 gipfelnden thebanischen Greuel mit der durch den Athener Theseus erzwungenen Bestattung der argivischen Gefallenen gewissermaßen ein Decrescendo bzw. eine moralische Bändigung des Grauens folgen lässt. In Dracontius’ Alternativversion erfährt hingegen das thebanische Grauen mit der Neu-Thebanerin Medea eine weitere, letzte Steigerung. Die von Medea angerichtete Flammenhochzeit soll als mindestens ebenbürtig neben die Hochzeit des Ödipus und ihre Folgen treten. Auch die Figur Medea selbst ist sich ihrer Stellung innerhalb des thebanischen Mythos durchaus bewusst. Sie betet zum Unterweltskönig und speziell zu den Furien: … regnator Averni, Crastina cum Glauce veniet nuptura marito, Mox Furias admitte tuas; properate, sorores Tartareae: Thebis iterum iam vota geruntur, Currite, per thalamos Iocastae frater et heres Coniungit natam. gens est vestra […]. Si Furias saevire precor nec sponte nocetis, Non estis Furiae: nomen mutate domosque, Ponite serpentes, alienas reddite flammas Et puerum Veneris, quem iam tempsistis, amate.

450

460 (Romul. 10,446–460)

|| 53 Schetter 1994a. Mit Schetters überzeugenden Ergebnissen ist eigentlich die These von Kaufmann 2006b, Dracontius verzichte mit Rücksicht auf die weniger gebildeten Vandalen auf die in alexandrinischer Dichtung übliche Art, mit Zitaten Sinnverbindungen zu früheren Autoren herzustellen, bereits widerlegt (eigentümlicherweise fehlt Schetters Aufsatz im Literaturverzeichnis zu Kaufmanns Aufsatz).

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Die Furien sollen nicht zögern, „ihr (der Furien) Geschlecht“, d.h. das ihnen wohlvertraute thebanische Königshaus, aufzusuchen. Dieselbe logische Struktur der Furien-Beschwörung wird im Orestes von Dorylas verwendet. Er betet zu den Göttern der Unterwelt: Di, regitis quicumque chaos crudele barathri, Rumpite tartareas proscisso gutture fauces, Mittite virgineas funesta in tecta cerastas! Ne dubitate: truces venient ad regna Thyestis, Notum iter invenient, sua per vestigia current. Spes mihi maior adest: Thebis vicina petuntur Moenia tartareis quondam sacrata tenebris Et claro privata die sub luce diurna. Non estis Furiae, si quaeritis ante rogari Ad quodcumque nefas, si non iam sponte venitis:54 Sed dubito: quia iusta peto, tamen oro cruenta.55 Ergo precor, cum iusta truces sententia mortis Participes scelerum percusserit ense severo, Vos Acheronteis tortoribus addite flammas Et Furiis augete malum mortale venenum, Torqueat auctores scelerum crudelis Enyo: Non sat erunt quaecumque reis tormenta paratis.

485 487 491 493 488 489 494 495

(Or. 483–499)

|| 54 Am Versende ist venitis (A) gegenüber potestis (B) und auch nocetis (Bährens, vgl. Romul. 10,457) zu bevorzugen, da es in den vorigen Versen gemäß obiger Textkonstitution um die Auffindung des richtigen Weges durch die Furien ging (486: venient; 487: iter invenient, current; 491: petuntur). Das Wort vor sponte ist in beiden Handschriften korrupt (nisi in A, unmetrisches licet in B), fehlte also vermutlich im Archetyp und kann daher ohne Rücksicht auf paläographische Nähe ergänzt werden. Oben ist iam sponte gewählt, als effektive Antithese zu ante rogari (et sponte Peiper, vel sponte Rossberg), vgl. Ov. am. 2,9,37 (Huc tamquam iussae veniunt iam sponte sagittae); Drac. laud. dei 3,581; Romul. 10,281. 55 quia muss (sofern richtig überliefert) im Sinne eines faktischen quod verstanden werden (als Kausalkonjunktion verträgt es sich nicht mit dem folgenden tamen). Alternativ darf man eine leichte Änderung in qui erwägen: „Aber ich zögere: ich, der ich Gerechtes erbitte, flehe dennoch um Grausames.“ Peiper verbindet den quia-Satz anders als gemäß obiger Interpunktion mit Sed dubito. dubitare ist bei Dracontius mit AcI belegt, nicht aber mit quia. Selbst wenn man verstehen dürfte: „Aber ich zweifele, dass (ob) ich um Gerechtes bitte – dennoch erflehe ich Grausames“, würde diese Aussage logisch kaum befriedigen. Bouquet nimmt dem Vers durch Änderung von Sed dubito in Nec dubito den Charakter des Zweifels. – Wenn es in irgendeiner Weise gelingen sollte, dem Vers 490 affirmativen statt zweifelndem Sinn zu geben, so bliebe immer noch das Problem, dass dann die mit Ergo (494) eingeleitete Bitte um postmortale Bestrafung in keiner Weise motiviert wird (s.o. im Haupttext).

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Die Furien werden den Weg zum Ort des Thyest-Mahls leicht finden56 – ebenso wie in der Medea nach Theben. Darin liegt impliziert, dass die argivischen Greuel durch die weiteren Mordtaten des Orestes eine würdige Fortsetzung erhalten werden. Darüber hinaus enthält die Orestes-Partie mit Notum iter invenient (487) eine deutliche Reminiszenz an Stat. Theb. 1,100101 (Arripit extemplo …/Notum iter ad Thebas [sc. Tisiphona]). Zudem offenbart der Hinweis auf die Nachbarschaft Thebens zu Argos (welche die Hoffnung des Sprechers, dass die Furien den Weg nach Argos wieder finden werden, noch vergrößert) das Vorbild für diese Gestaltung der Furien-Beschwörung, welches aus dem Bereich des thebanischen Mythos stammt. In dem Hinweis auf die „Nachbarschaft“ von Argos und Theben könnte aber auch – eine zeitliche Priorität der Medea vor dem Orestes vorausgesetzt – ein poetologischer Fingerzeig auf die gegenseitige Nähe bzw. Verwandtschaft der beiden Epyllien Orestes und Medea des Dracontius liegen.57 Die Nähe von Orestes und Medea zeigt sich insbesondere auch in der parallelen Gestaltung beider Gedichte mit Schlussgebeten an die jeweils zuständigen Gottheiten, die um eine Schonung der jeweiligen Stadt bzw. um ein Ende der in

|| 56 Die mythologische Kontinuität zwischen Muttermord und Thyest-Mahl findet bei Dracontius auch dadurch ihren Ausdruck, dass die Sonne sich tatsächlich auch nach Orests Muttermord verdunkelt (781782: Sol negat almus equos iterum de more Mycenis,/Atque tenebroso subtexitur aere caelum). Andererseits bedeutet das Anbrechen des Rachetags auch eine positive Kompensation des Thyest-Mahls (684: Sol micat et melior conpensat damna Thyestis). 57 Textkritisch wirft die ausgeschriebene Partie aus der Anrufung des Dorylas einige erhebliche Probleme auf: Die Verse 488–490 (die Romul. 10,457–460 entsprechen) sind in obiger Textfassung mit Rossberg hinter 493 versetzt, da sie den engen Zusammenhang der Perikopen 486487 und 491–493 stören, wo jeweils Argumente gegeben werden, warum die Furien den Weg nach Argos finden werden (1. er ist ihnen schon vom Thyest-Mahl her bekannt; 2. Argos liegt nahe Theben, wo sich die Furien ohnehin auskennen). In diesem enggefügten und auf die Furien konzentrierten Zusammenhang ist vor allem eine Bekundung des eigenen Zweifels des Sprechers (490) völlig fehl am Platze. Diese Bekundung ist andererseits vor Vers 494 (Ergo precor) zwingend erfordert, denn die mit Ergo eingeleitete Bitte richtet sich nunmehr wieder an die Herrscher der Unterwelt im allgemeinen (vgl. 483–485) und fordert diese auf, für eine adäquate Bestrafung von Ägisth und Klytaimnestra in der Unterwelt nach ihrer irdischen Aburteilung zu sorgen, verfolgt also nicht mehr das Ziel, dass die Furien als Unterweltsgötter nach Argos kommen sollen. Dieser Umschwung in der Ausrichtung der Bitte wird aber erst dann verständlich, wenn er durch das in Vers 490 bekundete Zögern des Sprechers motiviert ist: Er zweifelt an seiner eigenen Bitte um eine persönliche Ankunft der Furien nach Argos, weil ihm deren Folgen zu grausam (cruenta) erscheinen, und beschränkt sich folglich (Ergo precor) auf eine eher konventionelle Bitte um adäquate postmortale Bestrafung. Mit dieser Zurücknahme der Herbeirufung der Furien (welche die hier vorliegende Partie von ihrer Parallele aus der Medea unterscheidet) harmonisiert auf das Beste das weitgehende Fehlen der Furien im Ablauf der Rachehandlung bei Dracontius.

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ihr stattfindenden Greuel ersuchen.58 Im Schlussgebet des Orestes erscheint der Frevel Ägisths und die Rache, die dieser auslöst, als eine konsequente Fortführung und Kulmination früherer argivischer Verbrechen gegen die Ehe: Crimina Lemniadum sat erant: Danaeia festa, Quae thalamos fecere rogos, et facta Thyestis Innumerumque nefas, quod sit narrare pudoris – Ecce Mycenaea triplex iam scaena profanat Graiugenum famam … (Or. 969–973)

Die Verbrechen der Lemnierinnen, d.i. die Ermordung ihrer Ehemänner, hätte eigentlich – als Frevel dieser Sorte – ausgereicht: Dann folgte jedoch das von Danaos gestiftete Hochzeitsfest, bei welchem 49 von 50 Bräuten ihren jeweiligen Bräutigam umbrachten, und die Taten Thyests (sein Ehebruch mit Aerope, der Frau des Atreus), seine damit verbundenen unzähligen Frevel (etwa die Intrigen gegen Atreus mithilfe des Goldenen Widders etc., gewiss auch seine von Atreus ins Werk gesetzte Verspeisung der eigenen Söhne) – und siehe, bereits ein dreifaches Trauerspiel aus Mykene (nunmehr Klytaimnestras Ehebruch und die Ermordung Agamemnons, nach den Ehefreveln des Danaos und des Thyest)59 beschmutzt den Ruhm der Griechen. Die hier zu beobachtende Konzentration auf Ehefrevel fehlt in der entsprechenden, allgemeiner gehaltenen Aufzählung im Epilog der Medea (Romul. 10,574–587), die sich vielleicht an dem Katalog beiseitegelassener thebanischer Ereignisse bei Statius (Theb. 1,4–14) orientiert.60 An anderer Stelle in der Medea bringt Dracontius jedoch die neue, von Kreon gestiftete Ehe seiner Tochter Glauke in vergleichbarer Weise speziell mit derjenigen des Ödipus in Verbindung: Currite [sc. Furiae]: per thalamos Iocastae frater et heres Coniungit natam … (Romul. 10,450451)

|| 58 Drac. Romul. 10,570–601, bes. 573 (Parcite iam Thebis); 588 (Parcite vos saltim); vgl. Or. 973974 (vestro iam parcite mundo/Atque usum scelerum miseris arcete Pelasgis). 59 Rossberg 1889 z.St. versteht triplex … scaena anders: „1) die Zerstückelung des Pelops durch seinen Vater Tantalus, 2) die Greuelthat des Atreus, 3) den Muttermord des Orestes“. Bright 1987, 199 denkt dagegen an die Trilogie der Orestie, „which Dracontius has just reproduced (ecce) in this poem“. 60 Gemeinsam ist beiden Partien die ausführliche Darstellung der Spartensaat des Kadmos; bei Dracontius fehlt gegenüber Statius der Mauerbau des Amphion (Stat. Theb. 1,910), weil dieser an sich kein Greuel darstellt.

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Kreons Schwester Iokaste bildet gewissermaßen das genealogische Bindeglied zwischen Medeas Verbrechen gegen das Haus Kreons und dem herkömmlichen Eheskandal im Labdakiden-Hause. Wie die Medea als ein gegenüber Stat. Theb. 12 alternatives Schlussglied der Greuel der statianischen Thebais verstanden werden will, so der Orestes als ein (zu früheren literarischen Darstellungen wie der Orestie des Aischylos und – partiell – dem senecanischen Agamemnon) alternatives Schlussglied der argivischen Ehefrevel. Ein positives Gegenbild erhalten Argos und Theben, die Heimstätten solcher Greuel, in Athen, das im Orestes nicht nur befreiender Gerichtsort für den Titelhelden, sondern auch Zufluchtsort während seiner Landesflucht ist. Da die letzte Szene des Orestes vor dem athenischen Gericht spielt, hat Athen in diesem Prozess offenbar die Rolle, den argivischen Greueln Ziel und Grenze zu bieten: Das Gerichtsverfahren zwischen Molossus und Orest bestätigt auf menschlicher Ebene die Unschuld des letzteren, die von göttlicher Seite schon durch seine Heilung vom Wahnsinn nach der Reinigung durch Iphigenie gesichert ist. Somit hat der Orestes nach den argivischen Greueln einen versöhnlichen athenischen Werkschluss, wie er im Schlussbuch der statianischen Thebais vorliegt – und wie ihn Dracontius in seiner Medea durch die „Neufassung“ von Kreons Tod (der hier eben nicht durch einen gerechten athenischen König, sondern durch die rasende Frevlerin Medea umkommt) dem thebanischen Mythos gerade vorenthielt. In Anbetracht der Allgegenwart des statianischen Vorbilds wird man darauf verweisen dürfen, dass in der Ekphrasis der athenischen ara Clementiae im Schlussbuch der Thebais Orest ausdrücklich als deren Supplikant neben Ödipus genannt wird (Stat. Theb. 12,510511). Der hohe Rang, welchen Athen im Orestes einnimmt, zeigt sich nicht nur in ehrenden Bemerkungen in beiden Gerichtsreden,61 sondern auch in der bewussten Auswahl Athens als Ort für die gemeinsamen Studien von Orest und Pylades durch Dorylas (Or. 287–301), im Hinweis des Agamemnon auf die Bedeutung der Studien in Athen62 sowie in der Aufforderung des Dorylas, in athenischer Gesinnung vorwärtszuschreiten;63 kurz zuvor werden die beiden Freunde sogar – entgegen ihrer mythischen Genealogie – als Athenaei iuvenes (638) bezeichnet. Auf diese Weise wird Athen nicht nur als Hort der Bedrängten, sondern auch als ein seine Schüler moralisch verpflichtender Ausbildungsort berücksichtigt.

|| 61 Bei Molossus: 905 (decet ultio talis Athenas); bei Orest: 913 (Gaudeo securus quod apud vos causa movetur). 62 529: Grandibus instructos studiis et fortibus armis. 63 654655: properate sodales/Indole Cecropia.

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Die Autorinnen und Autoren Johannes Buhl studierte in Regensburg und München Klassische Philologie und Schulmusik und promoviert an der Ruhr-Universität Bochum. Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen auf der Philosophie-und Religionsgeschichte, auch über die Antike hinaus. Er unterrichtet an einem Gymnasium in Regensburg und ist an der dortigen Universität als Lehrbeauftragter tätig. Maria Paola Castiglioni è professore associato di Storia e civiltà del mondo antico all’Università Grenoble Alpes. I suoi interessi principali riguardano l’Adriatico antico, le ibridazioni e i contatti culturali nel mondo greco, il mito, la propaganda politica e la storia di genere. Tra i suoi lavori: Cadmos-serpent en Illyrie: itinéraire d’un héros civilisateur (2010) e La donna greca (2019). Paolo Cecconi dirige dal 2017 l’Archivio della città di Chemnitz ed è autore e coordinatore di studi sul Pastore di Erma e le sue fonti, sulla storia di Chemnitz e sulle relazioni tra mito e politica nell’antica Grecia. P. J. Finglass is Henry Overton Wills Professor of Greek and Head of the Department of Classics and Ancient History at the University of Bristol, and Director of the Arts and Humanities Research Council South, West and Wales Doctoral Training Partnership. He has published a monograph Sophocles (2019) in the series ‘Greece and Rome New Surveys in the Classics’, as well as editions of Sophocles’ Oedipus the King (2018), Ajax (2011), and Electra (2007), of Stesichorus (2014), and of Pindar’s Pythian Eleven (2007) in the series ‘Cambridge Classical Texts and Commentaries’; has co-edited (with Adrian Kelly) The Cambridge Companion to Sappho (2020) and Stesichorus in Context (2015) and (with Lyndsay Coo) Female Characters in Fragmentary Greek Tragedy (2020); and edits the journal Classical Quarterly, all with Cambridge University Press. Thomas Gärtner ist Außerplanmäßiger Professor für Klassische und Mittellateinische Philologie an der Universität zu Köln. Seine bevorzugten Forschungsgebiete sind die klassische, spätantike, mittel- und neulateinische Dichtung sowie das Humanistengriechisch. Angela Ganter, née Kühr, studied and worked at the universities of Cologne, Salamanca, Cambridge, Frankfurt am Main, Rome, Erlangen, Dresden, and Göttingen. Since 2018, she is professor of Ancient History at the University of Regensburg. Departing from her dissertation, “Als Kadmos nach Boiotien kam. Polis und Ethnos im Spiegel thebanischer Gründungsmythen” (2006), her research focuses on Archaic and Classical Greece, Memory Studies, Myths, Roman Patronage, and the interconnection between Cults and Emotion. Markus Hafner ist Universitätsassistent am Institut für Antike der Universität Graz. Zu seinen Forschungsgebieten zählen die Literatur und Bildungskultur der Kaiserzeit, insbesondere Lukian, Formen und Funktionen von Autorschaft in der frühgriechischen und klassischen Literatur sowie die Geschichte des Faches Klassische Philologie.

338 | Die Autorinnen und Autoren

Marion Meyer lehrte und forschte in München, Hamburg, Gainesville und Bonn und ist seit 2003 Professorin für Klassische Archäologie an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die griechische Bilderwelt und Bildsprache, die Kult- und Kulturgeschichte Athens sowie visuelle Kommunikation im östlichen Mittelmeerraum. Sie publizierte Athena, Göttin von Athen. Kult und Mythos auf der Akropolis bis in klassische Zeit (Wien 2017), bereitet derzeit die Veröffentlichung eines Workshops zu Innovationen in Athen um 500 v. Chr. vor und arbeitet an einem Projekt zur privaten und staatlichen Totenkommemoration in antiken Athen. Stefano Rocchi ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München und beim Corpus Inscriptionum Latinarum (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften). Seine Forschungsschwerpunkte sind die lateinische Philologie, Literatur und Epigraphik und das Fortleben der Antike in der Renaissance. Beim Verlag De Gruyter hat er bereits Imagines Antiquitatis (Philologus. Supplemente 7/2017) mitherausgegeben und wird P. Annio Floro, Vergilius: orator an poeta? (Texte und Kommentare 65/2020) publizieren. Jochen Schultheiß ist Privatdozent an der Universität Würzburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bamberg (Projekt „Tragicorum Romanorum Fragmenta Vol. 4 – Accius“). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Schnittbereich von Literatur und Theologie in Spätantike und Früher Neuzeit, bei anthropologischen Konstanten und ihrer literarischen Diskursivierung, auf dem Gebiet des römischen Epos von der augusteischen bis zur flavischen Zeit sowie bei der Rezeption griechischer Autoren im Renaissance-Humanismus. Chiara Ombretta Tommasi è professore di storia delle religioni e di storia del cristianesimo antico all’Università di Pisa. Ex allieva della Scuola Normale Superiore, si è occupata di poesia latina tardoantica e di aspetti del neoplatonismo latino (in particolare Mario Vittorino e Marziano Capella), prestando inoltre attenzione alle correnti ‘esoteriche’ del periodo imperiale. Il suo lavoro più recente è una edizione commentata dell’Adversus Nationes di Arnobio. Christian Tornau ist Professor für Klassische Philologie an der Universität Würzburg. Er hat Monographien zu Plotin und Augustinus vorgelegt und forscht über antike Rhetorik, den kaiserzeitlichen Platonismus und die spätantike christliche Literatur. Vanessa Zetzmann studierte Latein und Griechisch in Würzburg und Oxford. Seit 2017 promoviert sie zur Rhetorik der griechischen Tragödie in Würzburg mit Forschungsaufenthalten in Zürich und Pisa. Zu ihren weiteren Forschungsinteressen zählen Pindar und der antike Mythos, Pragmatik und Linguistik sowie Metapoetik der Tragödie und des griechischen Epos.

Index auctorum et operum Aelius Aristides – Orationes 48, 65, 252, 256, 260, 263, 265 Aeschylus 320, 333 – Agamemnon 4, 7582, 8492, 94, 95, 97, 100, 118, 194 – Choephoroe 4, 76, 79, 91, 92, 94 – Eleusinioi (fragmenta) 18, 21 – Epigonoi (fragmenta) 22 – Eumenides 4, 5, 57, 61, 7578, 80, 93103, 120, 163 – Persae 194 – Prometheus vinctus 102, 148 – Septem contra Thebas 14, 15, 17, 19, 21, 139, 141, 147149, 175, 194 – Supplices 86 Amelesagoras (FGrHist 330) 41 Ampelius – Liber memorialis 57 Anacreon 187 Androtion (FGrHist 324) 48 Anthologia Latina 244 Apollodorus (Ps.-) – Bibliotheca 17, 18, 33, 41, 48, 115, 126, 131, 165, 170, 276 Apollonius Rhodius 3 Apuleius – Apologia 237 – Metamorphoses 230, 241, 279 Aristophanes – Nubes 36 – Vespae 259 Aristoteles – Athenaion Politeia 32 – De generatione animalium 98 – Poetica 183 – Rhetorica 77, 95 Arnobius 284 Arnulfus Aurelianensis – Allegoriae super Ovidii Metamorphosen 280 Arrianus – Epicteti Dissertationes 57 https://doi.org/10.1515/9783110656893-014

Asclepiades (FGrHist 12) 22 Asclepiades (FGrHist 697) 245 Athenagoras – Legatio pro Christianis 33, 41 Augustinus – Epistulae 273 – In Iohannis evangelium tractatus 279 Aurelius Victor – De Caesaribus 250 Avienus – De ora maritima 165 Bacchylides 124 Boethius – De consolatione philosophiae 270, 274 Callimachus – Hecale (fragmenta) 41 – Hymni 276 Calpurnius historicus – Annalium fragmenta 234 Cassiodorus – Variae 227 Cassius Dio 243, 250 Chariton 7, 249, 257260, 262, 264, 267 Christine de Pisan 270 Cicero – Brutus 224, 232, 263 – De fato 226, 274 – De finibus bonorum et malorum 236 – De haruspicum responso 232 – De oratore 232 Cicero, Quintus Tullius (Ps.-) – Commentariolum petitionis 232 Clemens Alexandrinus – Paedagogus 284, 285 – Protrepticus 8, 269, 282285 – Stromata 283, 284, 286 Conon (FGrHist 26) 170 Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) 229, 233, 236, 239, 240 Cyclus epicus – Alcmaeonis 22, 175

340 | Index auctorum et operum

– Epigoni 22, 175 – Oedipodea 122, 175 – Thebais 11, 1315, 118, 122, 129, 175, 188 – Theseis 183, 185, 186 Dante – Inferno 270 Demosthenes 33, 53, 95 Dio Chrysostomus – Orationes 252 Diodorus Siculus 165 Diogenes Laertius 183 Dionysius Halicarnassensis – Antiquitates Romanae 36 – De imitatione 253 Dionysius Periegeta 165 Diphilus – Fragmenta 259 Donatus, Ti. Claudius 225 Dracontius – De laudibus dei 330 – Hylas 313, 318 – Medea 3, 8, 293, 294, 308316, 318322, 329333 – Orestes 293, 294, 305308, 313, 319322, 330333 – Raptus Helenae 293307, 310313, 315, 322327 Eratosthenes – Catasterismi 48 Etymologicum Genuinum 165 Etymologicum Magnum 165 Eumelus Corinthius poeta cyclicus 113, 175 Euripides – Alexandros (fragmenta) 294, 297 – Andromacha 122 – Antiope (fragmenta) 17, 113, 114, 170 – Archelaos (fragmenta) 166 – Bacchae 5, 6, 124, 163169, 172, 173, 175, 176, 269, 271, 282286 – Cyclops 148 – Electra 92, 207 – Erechtheus (fragmenta) 6, 47, 49, 163, 168

– Hecuba 128 – Helena 122, 124, 141, 145 – Heraclidae 194 – Hercules furens 17, 122, 175 – Hippolytus 78, 182, 185, 194, 264 – Ion 41, 44, 49, 124 – Iphigenia Aulidensis 95, 124 – Iphigenia Taurica 124, 141, 145 – Kadmos (fragmenta) 165 – Medea 118, 128 – Orestes 118 – Phoenissae 5, 15, 17, 20, 107111, 115120, 122135, 139160, 164, 170, 173175 – Supplices 17, 18, 21, 24, 175, 176, 196, 213, 214 – Fragmenta 146 Eusebius – Praeparatio evangelica 33 Florus – Carmen ad Hadrianum 227, 240 – Epitoma de Tito Livio 229, 234 – Vergilius orator an poeta 7, 223225, 228, 230233, 237, 239, 242, 244 Fulgentius – Mitologiarum libri 8, 275, 277280 Georgius Syncellus – Ecloga chronographica 48 Giovanni di Garlandia – Integumenta Ovidii 280 Granius Licinianus 224 Hadrianus – carminum fragmenta 227 Harpocration – Lexicon 52 Hecataeus (FGrHist 1) 257 Heliodorus – Aethiopica 7, 249, 261264, 267 Hellanicus (FGrHist 4) 15, 44, 115, 170 Hellanicus (FGrHist 323a) 48 Heniochus comicus – Fragmenta 259 Heraclitus (VS 22) 142 Hereas Megarensis (FGrHist 486) 188

Index auctorum et operum | 341

Hermogenes – De ideis 165 Herodotus 18, 21, 32, 34, 57, 62, 112, 114, 115, 119, 164, 166, 170, 232, 284 Hesiodus 124 – Theogonia 40, 58, 119, 164 – Opera et dies 1214, 17, 58 – Scutum 17 – Fragmenta 113, 276 Hesychius – Lexicon 170 Hieronymus – Commentarius in Galatas 250 Himerius 56 Hippocrates – De morbis 285 Hippolytus – Refutatio omnium haeresium 286 Historia Augusta – Hadrianus 227, 239, 240, 243 – Pertinax 250 – Alexander Severus 250 – Gordiani 250 Homerus – Ilias 11, 13, 17, 20, 34, 36, 37, 54, 75, 98, 102, 114, 188, 211 – Odyssea 6, 13, 17, 34, 54, 112, 122, 124, 148, 181183, 185188, 190, 255, 270, 271, 276 Horatius – Ars poetica 165 – Epodi 242 – Sermones 275 Hyginus – Astronomica 41, 48 – Fabulae 17, 41, 165, 170, 278, 296, 297, 305

Lactantius Placidus – Scholia in Statii Thebaidem 8, 165, 269, 272274, 278, 291 Livius 232 Lucanus 165, 196, 198, 205, 212, 214, 272, 273 Lucianus 249 – Anacharsis 256 – Bis accusatus 262 – De saltatione 165, 261 – Demonax 256 – Necyomantia 274 – Nigrinus 7, 255, 264 – Pseudologista 284 Lucretius 242 Lycophron – Alexandra 171 Lycurgus orator 65 Lysias 18, 34, 36, 95 Macrobius – Saturnalia 225 Marmor Parium (FGrHist 239) 48 Martialis 224, 229, 230 Martianus Capella 275 Menander – Dyscolus 263 Minucius Felix 232, 233, 286 Mythographi Vaticani 165, 275, 278

Ibycus 37, 187 Inscriptiones Graecae (IG) 32, 36, 45, 46, 56, 250 Isocrates 65, 95, 115, 174, 263 Iustinus – Apologia 286

Nepos – Themistocles 32 Nicander – Theriaca 165 Nonnus – Dionysiaca 3, 17, 165, 170 Novum Testamentum – Evangelium sec. Matthaeum 286 – Evangelium sec. Lucam 284 – Evangelium sec. Iohannem 286 – Actus Apostolorum 259 – Ad Corinthios I 283 – Ad Hebraeos 284 – Apocalypsis 284

Joseph of Exeter – Ylias 325

Orphica 286 Ovide moralisé 269, 270, 280, 281

342 | Index auctorum et operum

Ovidius – Amores 330 – Ars amatoria 285 – Epistulae ex Ponto 53 – Metamorphoses 165, 170, 216, 244, 279, 297, 316 – Tristia 225, 231, 242 Parmenides (VS 28) 142 Pausanias 1114, 1620, 22, 23, 33, 41, 48, 53, 54, 5658, 62, 64, 109, 113, 115, 116, 127, 165, 170173, 182, 183, 199, 252 Pherecydes (FGrHist 3) 15, 17, 18, 115, 170, 276 Philochorus (FGrHist 328) 23, 48, 56 Philostratus – Imagines 165 – Vitae sophistarum 250, 260 Photius – Lexicon 170 Pindarus – Olympica 14, 20, 23, 100, 129, 171 – Pythia 17, 170, 172 – Nemea 17, 20, 37 – Isthmia 17 – Hymni (fragmenta) 171 Plato – Apologia Socratis 143 – Gorgias 95 – Laches 143 – Leges 174 – Menexenus 65, 174 – Phaedrus 286 – Protagoras 95 – Res publica 115, 143, 174 – Sophista 174 Plato (Ps.-) – Hipparchus 187 Plinius Maior – Naturalis historia 48, 57, 58, 230, 234 Plinius Minor – Epistulae 227 – Panegyricus 239 Plutarchus – Alcibiades 166 – De communibus notitiis 284

– Lysander 176 – Quaestiones convivales 48 – Themistocles 32, 170 – Theseus 18, 252, 254 – Fragmenta 33 Plutarchus (Ps.-) – Vitae decem oratorum 46, 64 Priscianus – Periegesis 165 Prudentius – Liber peristephanon 237 Quintilianus – Institutio oratoria 95, 224, 227, 234 Sallustius – De coniuratione Catilinae 232 Scholia – in Aelium Aristidem 34, 48 – in Apollonium Rhodium 170 – in Aristophanis Ranas 166 – in Demosthenem 53 – in Euripidis Hecubam 38 – in Euripidis Phoenissas 170, 173 – in Lycophronis Alexandram 170, 171 – in Pindari Isthmia 170 – in Platonis Parmenidem 48 – in Theocritum 48 Seneca – De clementia 193, 215217 – Dialogi 232 – Epistulae morales 285 – Hercules furens 165 – Medea 194 – Oedipus 194, 272 – Phaedra 194 – Phoenissae 194, 200 – Thyestes 217 – Troades 194 Servius – in Vergilii Aeneida 273 Sextus Empiricus – Adversus Mathematicos 284 Sidonius Apollinaris – Epistulae 250 Simonides – Fragmenta 48, 187

Index auctorum et operum | 343

Solinus 245 Solon – Fragmenta 142, 187 Sophocles – Aiax 120 – Antigona 15, 17, 18, 21, 95, 175, 194, 195 – Electra 207 – Oedipus Coloneus 15, 19, 148, 163, 175, 176 – Oedipus tyrannus 119, 120, 148, 149, 175, 271 – Phaedra (fragmenta) 181183, 185 – Philoctetes 148 – Trachiniae 118, 194 Statius 205 – Achilleis 318, 319 – Silvae 238, 243 – Thebais 3, 68, 17, 165, 191193, 195, 197199, 203, 206, 208210, 212215, 218, 272, 274, 310, 319, 329, 331333 Stephanus Byzantius 165 Stesichorus – Fragmenta 6, 14, 15, 22, 175, 181, 184186, 188 Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) 95 Strabo 23, 245 Strattis comicus – Fragmenta 38 Suda 273 Suetonius – De grammaticis et rhetoribus 227 – Divus Augustus 243 – Galba 233, 244 – Domitianus 238

Tacitus – Agricola 230, 232 – Annales 234 – Dialogus de oratoribus 227 – Historiae 238 Tertullianus – Adversus Marcionem 286 – De praescriptione haereticorum 192 Thucydides 21, 3133, 47, 55, 78, 112, 115, 232, 255, 257, 259, 264 Timocles comicus – Fragmenta 259 Torquemada, Juan de – Summa de Ecclesia 281 Valerius Flaccus 214, 313 Valerius Maximus 259 Varro – Res rusticae 229, 236 Velleius Paterculus 245 Vergilius – Eclogae 242 – Georgica 229, 242 – Aeneis 196, 203, 206, 211, 212, 241, 244, 301, 303, 318, 320 Vetus Testamentum – Exodus 286 – Deuteronomium 286 – Isaias 286 – Ezechiel 284 Xenophanes 37 Xenophon – Historia Graeca 176 – Memorabilia 232

Index nominum et rerum Affekte 193, 194, 203, 217, 218 Akropolis 2, 6, 30, 31, 33, 34, 37, 38, 40, 42, 4447, 5254, 57, 59, 60, 62, 63, 66, 114, 168172, 238 Amazonomachie 4, 54, 57 Argos 1, 2, 4, 6, 8, 11, 14, 16, 21, 22, 24, 47, 7578, 80, 86, 91, 93, 103, 111, 116, 118, 121, 126, 130, 133, 191, 193, 197, 199, 200202, 205, 206, 293, 328, 331, 333 Athen 18, 12, 15, 16, 1820, 24, 2933, 35, 3844, 4648, 50, 52, 53, 55, 57, 5962, 64, 65, 7580, 86, 9395, 9799, 103, 126, 133, 134, 139, 158, 161, 163, 164, 166, 168, 169, 171, 173177, 181, 182, 186188, 191193, 195, 197, 199, 214, 215, 218, 242, 243, 249253, 255, 257265, 287, 293, 329, 333 Athena, Athene 4, 5, 6, 29, 30, 3335, 37, 3941, 44, 4649, 5153, 56, 5863, 65, 66, 76, 80, 93, 95, 96, 98102, 110, 115, 117, 126, 127, 130, 132, 133, 154, 168170, 276, 277 Athena Nikephoros 30, 52, 55, 59, 154 Athena Parthenos 30, 33, 40, 55, 57, 59 Athena Promachos 30, 37, 38, 52 Athenaeum 249251, 254, 256, 257, 260, 261265 Autochthonie 4, 6, 19, 32, 49, 50, 65, 66, 112, 121, 123, 167169, 171, 173, 174 Bürgerkrieg 1, 107, 130, 134 clementia 7, 191, 193, 197199, 205, 209, 214, 215, 217219, 333 Dialog 7, 77, 83, 90, 116, 117, 143, 223228, 230233, 236, 237, 239, 240, 243245, 254, 255, 256, 264, 283

https://doi.org/10.1515/9783110656893-015

Diskurs 1, 57, 49, 66, 78, 95, 100, 103, 134, 140, 193, 197, 249, 253, 254, 256, 257, 260, 264, 294, 299 Domitian 7, 219, 223, 225, 230, 235, 237, 239, 241, 243 Epos 68, 11, 22, 37, 108, 109, 116, 118, 122, 175, 182, 183, 188, 189, 194196, 200, 203, 215, 218, 261 Epyllion 8, 293297, 304, 313, 323, 325, 327, 328, 331 Erechtheus 4, 6, 29, 34, 40, 4244, 4651, 62, 64, 66, 163, 168, 169, 172175 Erichthonios 4, 33, 4246, 4851, 57, 62, 6366, 168170, 172 Erzählprosa 249, 253 Ethik 5, 144, 159, 255 Freud, Sigmund 5, 139, 140, 149151, 157, 159 Gigantomachie 37, 3941, 58, 59, 61, 66 Gottlosigkeit 1, 90, 123, 127, 135, 165, 167169, 284 Gründungsheroen 6, 108, 110112, 114, 119, 121, 122, 129, 130, 167173, 271 Helena 59, 60, 84, 184, 297, 299, 302, 304, 311, 313, 323327 Hephaistos 4, 40, 41, 43, 48, 58, 61, 80, 168 Herrschertugend 7, 86, 215, 230 Identität 1, 2, 1113, 33, 34, 49, 87, 103, 108, 122, 171, 191, 192, 199, 204, 224, 234, 245, 295, 301, 312 Intentionale Geschichte 3, 11, 12, 16, 20 interpretatio Romana 191, 214, 215, 263 Iokaste 111, 116124, 129, 133, 140153, 155, 156, 158, 159, 203, 333

346 | Index nominum et rerum

Kadmos 5, 6, 12, 108111, 114117, 119, 121135, 140, 145, 147149, 153, 156, 163165, 167175, 271, 285, 286, 332 Kaiserzeit 1, 3, 68, 40, 53, 193, 196, 197, 200, 233, 241, 249, 250253, 255, 263, 264, 265, 270 Könnensbewusstsein 5, 139, 140, 156, 158 Krieg 4, 5, 6, 13, 14, 16, 17, 19, 21, 23, 32, 35, 4749, 5254, 57, 59, 60, 64, 66, 76, 81, 85, 108, 110, 113, 116, 118, 124, 126, 129, 130, 133, 139, 140, 154, 156, 158, 164, 166, 168, 176, 186, 191, 196, 197, 199, 201, 203, 204, 206, 208, 212, 219, 245, 257, 258, 260, 296, 298, 299, 303, 307, 313, 315, 322324, 327 Manipulation 5, 7578, 8183, 88, 89, 91, 94, 98, 100, 102, 165, 173, 175, 202, 315 Masse 152, 193, 194, 196, 202205, 211 Mauer 3, 14, 16, 17, 19, 25, 53, 110, 112114, 124, 129, 132, 157, 170, 207, 332 Medea 8, 242, 308312, 314319, 328, 329, 333 Memorialkultur 12, 17, 118, 166, 168, 172 Metapragmatik 77, 81, 83, 94, 99 Monarchie 122, 198 Mythos 18, 11, 12, 14, 1618, 2025, 2931, 3335, 38, 4044, 4649, 54, 57, 58, 61, 62, 64, 65, 76, 78, 79, 87, 107, 108, 112, 115117, 119, 120, 123, 125, 127, 129, 140, 142, 149, 153, 156, 157, 163, 169, 170, 171, 173, 176, 181185, 187189, 193, 195, 203, 206, 223, 240, 245, 249, 250, 252, 265, 269271, 274, 275277, 279, 281, 293, 294, 304, 305, 309, 310, 312, 316, 319, 323, 327, 328, 331, 333 Mythos, aitiologischer 4, 31, 42, 169, 327 Opfer 20, 34, 46, 4850, 63, 65, 87, 89, 102, 109, 117, 123, 131, 143, 153155, 159, 168, 197, 199, 205, 207, 234,

261, 262, 307, 309, 310, 312, 317, 318, 322 Orest 5, 8, 75, 76, 80, 91, 92, 9498, 100, 102, 207, 301, 305, 306, 313, 320322, 331333 Papyri 6, 184187, 271, 294 Paris 235, 243, 294299, 301304, 306, 307, 310, 311, 313, 315, 323, 325, 327, 328 Parthenon 4, 30, 33, 35, 50, 51, 56, 5964, 66 Performanz 75, 77, 82, 94, 98, 100, 104, 187, 249, 251, 260 Phaedra 78, 181185, 187, 194 Philhellenismus 7, 249251, 256, 264 Philosophie 3, 7, 8, 29, 76, 126, 192, 199, 202, 217, 218, 226, 227, 232, 236, 254256, 264, 272, 275, 283 Politisierung 3, 6, 11, 12, 16, 21, 24, 114, 115, 121, 132, 134, 164, 166, 175 Polygnotus 182, 183, 185 Poseidon 4, 6, 31, 42, 45, 46, 48, 51, 62, 64, 66, 124, 168, 169 Rhetorik 5, 21, 29, 7578, 81, 82, 84, 86, 91, 9397, 99103, 117, 128, 144, 147, 174, 202, 224, 226, 227, 236, 241243, 249, 250, 254, 259, 260, 262264, 284, 312 Roman 7, 257, 258, 260263 Schuld 5, 14, 15, 41, 92, 93, 96, 107, 131, 133135, 146, 167, 175, 201, 205, 262, 299, 318, 322, 324 Selbstopfer 139, 140, 152154, 156, 161 Spätantike 1, 3, 8, 226, 269, 273, 277, 279, 293, 305 Stasis 4, 14, 16, 84, 156, 175 Stichomythie 78, 81, 88, 9093, 95, 96, 99, 101, 155 Synkrisis 7, 254 techne 4, 34, 37, 40, 41, 58, 62, 65 Teiresias 8, 117, 129, 131, 141, 146, 153155, 167, 198, 269272, 274277, 279282, 285287

Index nominum et rerum | 347

Tempel des Augustus 7, 223, 231, 234237, 240 Textkritik 134, 271 Theatralität 7, 260, 262, 263 Theben 16, 8, 11, 13, 1517, 19, 2125, 107, 108117, 119134, 139141, 144, 145, 147, 148, 155, 158, 159, 161,163, 164, 167, 168, 170176, 188, 191, 193, 194, 196198, 200, 201, 202, 204, 207, 214, 270, 271, 282, 293, 310, 311, 316, 317, 319, 328, 331, 333

Trajan 7, 223, 230, 231, 233, 235, 237240, 243, 250, 254 Trojamythos 4, 108, 113, 116 Verfassung(sdiskurs) 32, 164, 198, 199 Wandermythos 47 Zivilisation 15, 19, 58, 65, 80, 114, 123, 134, 154, 160, 161, 163, 164, 169, 173 Zweite Sophistik 3, 7, 83, 226, 250, 253, 260, 265, 283