Werk und Wirkung: Eine hermeneutische Untersuchung der Kunstphilosophie Martin Heideggers 3161577345, 9783161577345

Ob Kunstwerke, im emphatischen Sinne des Wortes, in der Moderne uberhaupt produziert werden konnen, hat Heidegger philos

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Werk und Wirkung: Eine hermeneutische Untersuchung der Kunstphilosophie Martin Heideggers
 3161577345, 9783161577345

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes
2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie
3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik
4. Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis
Sachverzeichnis
Personenverzeichnis

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Philosophische Untersuchungen herausgegeben von Günter Figal und Birgit Recki

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Nikola Mirković

Werk und Wirkung Eine hermeneutische Untersuchung der Kunstphilosophie Martin Heideggers

Mohr Siebeck

IV Nikola  Mirković, geboren 1983; Studium der Philosophie, Psychologie und Slavistik in Freiburg, Basel, Moskau und Boston. 2014 Promotion in Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau).

ISBN 978-3-16-157734-5 / eISBN 978-3-16-157735-2 DOI 10.1628/978-3-16-157735-2 ISSN 1434-2650 / eISSN 2568-7360 (Philosophische Untersuchungen) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger aus der Minion gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

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Vorwort Diesem Buch liegt eine philosophische Arbeit zugrunde, die im Wintersemester 2013/14 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertationsschrift angenommen wurde. Für die Veröffentlichung habe ich den Text überarbeitet. Wichtig war es mir, dabei die Kontroverse um die sogenannten Schwarzen Hefte zu berücksichtigen, die 2014 einsetzte und an der ich mich mit einschlägigen Publikationen beteiligt habe. Einleitung und Schlussbemerkungen sind neu hinzugekommen. Ermöglicht wurde mir die Durchführung meines Promotionsvorhabens durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Neben der finanziellen Förderung bin ich der Studienstiftung für eine Reihe von Veranstaltungen dankbar, die mir immer wieder interdisziplinäre Perspektiven eröffnet haben. Meinem Doktorvater und akademischen Lehrer Günter Figal danke ich für seine langjährige und großzügige Unterstützung des Projekts. Die Gedanken, die ich in diesem Buch formuliert habe, sind nicht selten aus Gesprächen mit ihm über Fragen der philosophischen Ästhetik entstanden. John Sallis bin ich für seine Gastfreundschaft während eines Forschungsaufenthaltes am Boston College und für die Übernahme des zweiten Gutachtens dankbar. Anna Schreurs-­ Morét darf ich für das Drittgutachten und den wohlwollend-kritischen Blick der Kunsthistorikerin danken. Von vielen Freunden und Kollegen habe ich gute Anregungen und Hinweise für meine Arbeit erhalten. Folgenden Personen möchte ich dafür besonders danken: Damir Barbarić, Rainer Bayreuther, Diego D’Angelo, David Espinet, Antonia Egel, Matthias Flatscher, Markus Gabriel, Tobias Keiling, Philippe Merz, Hannah M. Rotter, Alexander Schnell, Hélder Telo, Mark Thomas, Gerhard Thonhauser, Yuliya Tsutserova und Friedrich A. Uehlein. Zudem haben Sonja Feger, Tilman Haug, Ole Meinefeld, Frank F. Pauly und Lilja Walliser Teile der Arbeit gründlich Korrektur gelesen, wofür ich ihnen überaus dankbar bin. Den Mitarbeitern des Verlages Mohr Siebeck danke ich schließlich dafür, dass der Text in Buchform vorliegt. Auf den familiären Rückhalt bei meinen Eltern Branko und Sonja Mirković sowie bei meiner Schwester Maša Mirković konnte ich mich stets verlassen. Dafür bin ich ihnen zutiefst dankbar. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Karlsruhe, im März 2020

Nikola Mirković

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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   V Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   1 1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes . . . . . . . . . . . . . . . . .   7 1.1. Die Orientierung am Werk als phänomenologischer Ansatz . . . . . . . .   7 1.2. Werke, Dinge und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  16 1.2.1. Klassische Dingkonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   18 1.2.2. Rekurs auf die Zeuganalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  22 1.2.3. Vincent van Goghs Schuhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23 1.2.4. Nochmal van Gogh: Stuhl, Tabakpfeife, Kornfeld . . . . . . . . . . . .  29 1.2.5. Der römische Brunnen von Conrad Ferdinand Meyer . . . . . . . .  31 1.2.6. Dürers Feldhase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  33 1.2.7. Die unscharfen Grenzen zwischen Werk und Ding . . . . . . . . . . .  39 1.2.8. Die Verschmelzung von Ding und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  41 1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . .  47 1.3.1. Der Wahrheitsbegriff von Sein und Zeit bis zum Kunstwerkaufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  47 1.3.2. Der Streit von Welt und Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  52 1.3.2.1. Erde, φύσις und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  52 1.3.2.2. Welt und Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  57 1.3.2.3. Harmonie und Agon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  60 1.3.3. Die Präsenz des „Streits“ im Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  63 1.3.3.1. „Riss“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  63 1.3.3.2. „Gestalt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  64 1.4. Die Zeitlichkeit des Werks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 1.4.1. Geschichtsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  68 1.4.2. Der griechische Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  70 1.4.3. Koordinaten eines aporetischen Geschichtsbildes . . . . . . . . . . . .  73

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Einleitung

2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   83 2.1. Sprache als Gespräch bei Heidegger und Celan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   84 2.1.1. Der Dichtungsbegriff in Heideggers Kunstphilosophie . . . . . .   84 2.1.2. Aus einem Gespräch von der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   87 2.1.3. Polyphonie in Celans Der Meridian und Zähle die Mandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   90 2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor . . . . . . . . . . . .   95 2.2.1. Aufwertung des Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   95 2.2.2. Die Architektur und das Geviert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   96 2.2.3. Die Leere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  107 2.2.4. Das Architekturverständnis Peter Zumthors . . . . . . . . . . . . . . . .  109 2.2.5. Die Bruder-Klaus-Feldkapelle (Wachendorf-Mechernich) . . .  115

3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  121 3.1. Die Absenz der Musik in Heideggers Kunstphilosophie . . . . . . . . . . .  121 3.2. Heideggers Stimmungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  131 3.2.1. Die Gestimmtheit des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  131 3.2.2. Das „Stimmungsgefüge“ der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  138 3.2.3. Die „Urstimmung“ der Schönheit und die Stimmungen in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  158 3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie . . . . . . . . . . . . . .  171 3.3.1. Phänomenologische Musikwissenschaft bei Heinrich Besseler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  171 3.3.2. Das „In-Musik-Sein“ bei Günther Anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  188 3.4. Vergleich der Ansätze Besselers und Anders’ und musikphilosophischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  204

4. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  209 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  215 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  225 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  231

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Einleitung Philosophische Texte und künstlerische Positionen verfügen über die Gemein­ samkeit, dass sich ihr Sinn perspektivisch vermittelt. Das liegt auf der einen Seite an der Subjektivität der Rezipienten, es liegt auf der anderen Seite an der Kom­ plexität der betreffenden Gegenstände. Philosophie ist sprachlich verfasst. Kunst muss sich zwar nicht sprachlich artikulieren, sie ist aber stets in sinnlich wahr­ nehmbaren Medien präsent. Sinnliche Wahrnehmung und menschliche Sprache verweisen beide auf ein unerschöpfliches Sinnpotential, denn die Möglichkei­ ten der Rekonfiguration sind in diesen beiden Bereichen prinzipiell unbegrenzt. Eine philosophische Kunsttheorie muss demnach in höchstem Maße als per­ spektivisch gelten, sie ist es sowohl aufgrund ihres Gegenstandes als auch auf­ grund ihrer Sprachlichkeit. So hängen die Erwartungen, mit denen man einen philosophischen Text über Kunst liest, von zahlreichen Faktoren ab. Dazu zählen die jeweilige Bildungsbiografie des Lesers, die individuellen ästhetischen Kennt­ nisse, Vorlieben und Prägungen und nicht zuletzt die Auffassung jener Kriterien nach denen, ein Text als ein philosophischer gelten kann. Philosophische Texte entstehen, wie alle Erzeugnisse kultureller Praxen, in einem historischen Kontext. Die Argumente und Gedanken, die in philosophi­ schen Texten entwickelt werden, weisen aber immer schon über ihren Entste­ hungskontext hinaus. Sie sollen es ermöglichen, eine Sache so zu denken, wie sie sich unabhängig von konkreten Umständen verhält. In dieser Möglichkeit liegt der Wahrheitsanspruch der Philosophie. Aufgrund der Historizität und des immanenten Wahrheitsanspruchs eröffnen sich unterschiedliche Zugänge zu philosophischen Positionen. Ein Zugang kann sowohl durch ein historisches als auch durch ein systematisches Erkenntnisinteresse bestimmt sein. Beide Zugänge können dem Untersuchungsgegenstand angemessen sein, sie sind als solche legitim und können einander auch ergänzen. Veranschaulichen lässt sich ihr Verhältnis mit einem Koordinatensystem, in dem historische Fragestellun­ gen die horizontale Achse und das systematische Interesse die vertikale Achse bilden. Eine kategorische Trennung von historischen und systematischen Er­ kenntnisinteressen wäre hingegen ein unzulängliches Verständnis textorientier­ ter philosophischer Forschung. In dem Fall von Heideggers Kunstphilosophie ist es dennoch wichtig, histo­ rische und systematische Erkenntnisinteressen voneinander zu unterscheiden. Denn die Zeit, in der Heidegger seine kunstphilosophischen Positionen erar­ beitet hat, fällt gerade in die Jahre seines nationalsozialistischen Engagements. Um ein systematisches Forschungsinteresse an Heideggers Kunstphilosophie

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Einleitung

zu verfolgen, muss man den Untersuchungsgegenstand daher aus seinem Ent­ stehungskontext herauslösen. Es ist dabei allerdings unerlässlich, dass man sich dieses Vorgehens bewusst ist und es reflektiert. Durch die Veröffentlichung der sogenannten Schwarzen Hefte ist deutlich geworden, dass Heideggers Selbstver­ ständnis stärker von Antisemitismus und von der Parteinahme für Hitler und den Nationalsozialismus geprägt war, als das aus den im engeren Sinne philoso­ phischen Texten der 1930er Jahre wie Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36) ersichtlich ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem ideologi­ schen Umfeld, in dem Heideggers Kunstphilosophie entstanden ist, von Neuem. Die Frage an sich ist allerdings nicht neu und in der Forschung bereits mehrfach bearbeitet worden. In seinem umstrittenen Buch Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie hat Emmanuel Faye auch das ideologische Umfeld von Heideggers Kunstphilosophie thematisiert.1 Faye verweist auf die zeitliche Nachbarschaft von Heideggers Der Ursprung des Kunstwerkes mit dem Parteitag der NSDAP im September 1935 und vergleicht das Beispiel des griechischen Tempels, das in Heideggers Text zentral ist, mit der Architektur des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg: „Doch wenn man sich im Kontext der Zeit, im November 1935, auf den Tempel beruft, und zwar als ‚die ausbreitsame und gewurzelte Mitte, in der und aus der ein geschichtliches Volk sein Wohnen gründet‘, und zumal in einem Vortrag, in dem es ausdrücklich um das deutsche Volk geht, dann ist zumindest in den Ohren der Zuhörer der Parteitag nicht weit, der zwei Monate zuvor in Nürnberg stattfand. In diesem Jahr wurde der Parteitag der NSDAP auf dem Zeppelinfeld abgehalten, umgeben von einer 360 Meter langen Tribüne, der durch Säulen und Brunnenschalen etwas Griechisch-Tempelhaftes verlie­ hen wurde, zumal ein Modell der Zeppelintribüne der Pergamon-Altar war: ein idealer Schauplatz für Hitlers Reden.“2 Für die T hese, dass die zeitgenössischen Zuhörer und Leser Heideggers in der Beschreibung des griechischen Tempels eine Anspielung an das Reichspar­ teitagsgelände erkennen mussten, gibt es keine konkreten Anhaltspunkte im Text des Kunstwerkaufsatzes. Faye liefert auch keine historischen Belege, die die vorgenommene Kontextualisierung stützen – denkbar wären hier etwa entspre­ chende Stellen aus Briefen, Tagebucheinträgen oder Rezensionen zu Heideggers Vorträgen über das Wesen der Kunst. Nichtsdestotrotz ist es möglich, dass sich bei einzelnen Lesern Heideggers – sowohl in den 1930er Jahren als auch später – die von Faye evozierte Assoziation einstellt. Ob die Herstellung einer solchen 1  Emmanuel Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Berlin 2014, 320. Für die Kritik am methodischen Vorgehen Fayes und seiner insgesamt ein­ seitigen und tendenziösen Beurteilungen von Heideggers Philosophie vgl. Ulrich Arnswald, „Rezension zu Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie“, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (60), Heft 1, 76–78. 2 Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, 320.

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Assoziation von Heidegger intendiert wurde, lässt sich nicht mit Gewissheit sa­ gen. Dagegen spricht, dass er in der Entstehungszeit des Textes auch explizit auf nationalsozialistische Kunst und Propagandamittel hätte Bezug nehmen kön­ nen, wenn er das gewollt hätte. Eine solche Bezugnahme findet sich in Heideg­ gers Kunstphilosophie nicht – weder in zu Lebzeiten veröffentlichten Vorträgen und Vorlesungen noch in den posthum veröffentlichten Vorstufen des Kunst­ werkaufsatzes. Die von Faye vorgenommene Kontextualisierung mag aber auch unabhängig von den Primärtexten und dem Selbstverständnis des Autors als be­ denkenswert erscheinen. Aus kunsthistorischer Perspektive wäre es möglicher­ weise erhellend, intertextuelle Bezüge und stilistische Affinitäten zwischen Hei­ deggers Kunstphilosophie und der im Nationalsozialismus geförderten Staats­ künstler zu erforschen. Eine ausführliche Untersuchung dieses Zusammenhangs steht noch aus. 3 Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung ist jedoch ein an­ deres. Die Kunstphilosophie Heideggers soll hier aus ästhetischer Perspektive in den Blick kommen. Eine solche Perspektive widerspricht in gewissem Sinne Heideggers Selbstverständnis und der Intention seiner Kunstphilosophie. Denn Heidegger übt an ästhetischen Zugangsweisen zur Kunst mehrfach entschie­ dene Kritik. So schreibt er im Nachwort zum Kunstwerkaufsatz: „Die Ästhetik nimmt das Kunstwerk als einen Gegenstand und zwar als den Gegenstand der αἴσθησις, des sinnlichen Vernehmens im weiten Sinne. Heute nennt man dieses Vernehmen das Erleben. Die Art, wie der Mensch die Kunst erlebt, soll über ihr Wesen Aufschluß geben. Das Erlebnis ist nicht nur für den Kunstgenuß, son­ dern ebenso für das Kunstschaffen die maßgebende Quelle. Alles ist Erlebnis. Doch vielleicht ist das Erlebnis das Element, in dem die Kunst stirbt. Das Ster­ ben geht so langsam vor sich, daß es einige Jahrhunderte braucht.“4 Produktion und Rezeption der Kunst werden von Heidegger in ein metaphysikkritisches Geschichtsbild eingeordnet, in dem der Ästhetik die Schuld für das „Ende der Kunst“ zukommt. Wenn die Moderne so als ein „Zeitalter der Kunstlosigkeit“ gelten muss, erscheint Heideggers Kritik an der Oberflächlichkeit des „Kunstbe­ triebs“ nur konsequent.5 3  Einen Ansatz dazu bietet z.B. Michael E. Zimmermann, Heidegger’s Confrontation with Modernity: Technology, Politics, and Art, Bloomington 1990, 100–109. Zimmermann kontrastiert die T hematik der Zeitlichkeit in Heideggers Kunstphilosophie mit den archi­ tektonischen Plänen und städtebaulichen Vorstellungen von Albert Speer und Adolf Hitler und arbeitet dabei vor allem Unterschiede heraus. Zimmermann verfolgt diese Fragestel­ lung allerdings nicht in kunsthistorischer Perspektive. 4  Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege (1935–1946), Ge­ samtausgabe (= GA), Band 5, Frankfurt am Main 1977, 1–76, hier 67. Die Texte Heideggers werden im Folgenden mit Kurztiteln angegeben. Vollständige bibliografische Angaben sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. 5 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 505–506.

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Dieses Urteil basiert nicht zuletzt auf einer idealisierten Auffassung der anti­ ken Kunst, die im Kunstwerkaufsatz insbesondere an der Darstellung des grie­ chischen Tempels als geschichtsstiftendem Ort deutlich wird. Heidegger fasst die Wahrheit der Kunst anhand dieses Beispiels als ein geschichtliches „Geschehen“, das die soziale, politische und religiöse Wirklichkeit einer Gemeinschaft bestim­ men soll.6 Einem derart umfassenden Anspruch kann die moderne Kunst nicht gerecht werden, und es ist auch fraglich, ob die antike Kunst in dieser Weise interpretiert werden sollte. Die Wesensbestimmung, auf die Heideggers Über­ legungen abzielen, überlastet die Kunst und die Möglichkeiten ihrer Interpreta­ tion. Für das Verständnis dieser Problematik ist die von Günter Figal getroffene Unterscheidung von „Kunstphilosophie“ und „Ästhetik“ instruktiv. Während sich die Ästhetik von der „subjektiven Seite der Erfahrung“ den „Weg zur erfah­ renen Sache“ bahne,7 versuche die Kunstphilosophie „zu klären, wie die Kunst geschieht. Im Zentrum des Interesses steht das eigentümliche Geistes-, Willens-, Lebens-, Wahrheits- oder Rationalitätsgeschehen, das im Kunstwerk manifest wird, aber doch nur als Geschehen angemessen zu verstehen sein soll“.8 Letzte­ res trifft auf Heideggers philosophische Erörterungen zu Kunst und Dichtung weitgehend zu. Sie gehören in diesem Sinne vorwiegend zur Kunstphilosophie und nicht zur Ästhetik. Die vorliegende Arbeit unternimmt keine umfassende Darstellung von Hei­ deggers Kunstphilosophie.9 Sie bietet stattdessen in ihrem ersten Teil eine kriti­ sche Erörterung des im Kunstwerkaufsatz verhandelten Werkbegriffs, auf deren 6 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 34. Günter Figal, Erscheinungsdinge, Tübingen 2010, 50–51. 8 Figal, Erscheinungsdinge, 37. 9  Das Angebot an Forschungsliteratur, die diese Absicht verfolgt, ist sehr umfangreich. Im Folgenden sei auf einige besonders einschlägige Arbeiten verwiesen. Den umfangreichs­ ten, streng textimmanent vorgehenden Kommentar zu Heideggers Kunstphilosophie bietet Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Heideggers Philosophie der Kunst. Eine systematische Interpretation der Holzwege-Abhandlung „Der Ursprung des Kunstwerkes“, Frankfurt am Main 1980. Eine philosophiehistorisch fundierte Einführung in denselben Text gibt Jo­ seph J. Kockelman, Heidegger on Art and Art Works, Dordrecht 1985. Das Verdienst, die Position des Kunstwerkaufsatzes erstmals in ausführlicher Weise zu der Entwicklung von Heideggers Hölderlin-Interpretationen ins Verhältnis gesetzt zu haben, beansprucht Julian Young, Heidegger’s Philosophy of Art, Cambridge 2001. Die gründlichste werkgeschichtliche Einordnung des Kunstwerkaufsatzes unter Berücksichtigung der Vorstufen des Textes fin­ det sich bei Jacques Taminiaux, Art et événement. Spéculation et jugement des Grecs à Heidegger, Paris 2005, insbesondere 101–239. Unter den Veröffentlichungen der letzten Jahre sind die gut lesbare Einführung von Karsten Harries, Art Matters, Dordrecht 2009 (vgl. die Rezension von Nikola Mirković, „Karsten Harries: Art Matters“, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 56/1 (2011), 155–157.) hervorzuheben sowie ein kooperativer Kommentar zu Heideggers Kunstphilosophie: David Espinet/Tobias Keiling (Hrsg.), Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011. Der Forschungsstand wird im Weiteren nicht separat abgehandelt, sondern selektiv in Hin­ blick auf bestimmte Fragestellungen einbezogen. 7 

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Grundlage im zweiten und dritten Teil der Arbeit wirkungsgeschichtliche Zu­ sammenhänge interpretativ erschlossen werden. Dabei kommen auch spätere Texte ins Spiel, in denen Heidegger sich mit der Kunst, der Dichtung und ihrer Bedeutung für das philosophische Denken auseinandersetzt.10 Das Ziel der Un­ tersuchung ist es, Heideggers kunstphilosophische Begriffe so zu kontextualisie­ ren, dass ihr deskriptives Potential deutlich wird. Dazu ist zunächst eine kriti­ sche Bewertung von Heideggers geschichtsphilosophischer Position nötig und in einem zweiten Schritt die Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte seiner Kunstphilosophie. Heideggers Texte wurden nicht nur in der philosophischen Ästhetik aufgegriffen und kontrovers diskutiert,11 sondern haben auch starken Einfluss auf die künstlerische Praxis ausgeübt. Als Beispiele für diese Wirkung werden im zweiten Teil der Arbeit ausgewählte Werke von Paul Celan und Peter Zumthor interpretiert. Dabei werden Rezeptionslinien und intertextuelle Bezüge herausgearbeitet, die zeigen, wie sich die Aneignung von Heideggers Kunstphilo­ sophie in der Dichtung und der Architektur konkret gestalten kann. Der dritte Teil der Arbeit bewegt sich wieder in einem theoretischen Feld und widmet sich der Frage, ob Heidegger Kategorien entwickelt, die sich im Rah­ men einer philosophischen Musikhermeneutik verwenden lassen. Zunächst ist jedoch zu zeigen, dass die Musik eine Leerstelle in Heideggers Kunstphilosophie bildet. Erst eine ausführliche Rekonstruktion von Heideggers Stimmungstheo­ rie und ihrer Semantik führt zu der Einsicht, dass die von ihm in diesem Rah­ men beschriebenen Phänomene eine genuin musikalische Dimension besitzen. Vor diesem Hintergrund wird zum Abschluss der Arbeit die weitgehend uner­ forschte Heidegger-Rezeption in der Musikwissenschaft und Musikphänomeno­ logie der 1920er Jahre herangezogen. So werden zwei programmatische Aufsätze des Musikwissenschaftlers Heinrich Besseler sowie Günther Anders’ posthum veröffentlichte Habilitationsschrift Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen (1929/30) auf die Frage hin untersucht, inwiefern das Phäno­ men der Stimmung eine konstitutive Funktion für die Rezeption und die Erfah­ rung von Musik besitzt. Die Rekonstruktion der wirkungsgeschichtlichen Zusammenhänge ist hier nicht kulturhistorisch motiviert, sondern zielt letztlich darauf, das Potential 10  Heideggers Kunstphilosophie lässt sich nicht auf Der Ursprung des Kunstwerkes re­ duzieren. Der Kunstwerkaufsatz ist jedoch der einzige Text Heideggers, in dem in systema­ tischer Weise eine kunstphilosophische Position formuliert wird. Er bleibt daher auch für das Verständnis späterer Texte, in denen Heidegger die Frage nach dem Wesen von Kunst und Dichtung erörtert oder konkrete Werke interpretiert, ein zentraler Bezugspunkt. Aus diesem Grund erscheint es auch wenig sinnvoll, im Ausgang von nachgelassenen Fragmen­ ten eine zweite, vom Kunstwerkaufsatz unterschiedene Position konstruieren zu wollen, die Heidegger im Spätwerk hätte vertreten können. Vgl. Günter Seubold, Kunst als Enteignis. Heideggers Weg zu einer nicht mehr metaphysischen Kunst, Bonn 1996, 85–136. 11  Vgl. die Beiträge zur philosophischen Wirkungsgeschichte des Kunstwerkaufsatzes in Espinet/Keiling (Hrsg.), Heideggers Ursprung des Kunstwerks, 241–283.

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von Heideggers kunstphilosophischen Bestimmungen für eine anwendungso­ rientierte Ästhetik auszuloten. Die kunstphilosophischen Begriffe Heideggers werden dabei jedoch nicht auf beliebige Beispiele angewendet. Es geht vielmehr darum, nachzuvollziehen, wie sie an bestimmten Stellen in T heoriebildung und Praxis wirksam gewesen sind und deswegen auch immer wieder von Neuem an­ regend sein können. Dass sich Heideggers Kunstphilosophie in der Ästhetik an­ wenden lässt, wird so in der Interpretation ihrer Wirkungsgeschichte erwiesen.12 Auf diese Weise ergänzen sich historische und systematische Forschungsinteres­ sen in der vorliegenden Untersuchung. Die hermeneutische Ausrichtung der Ar­ beit beinhaltet somit ein Verständnis von ‚Anwendung‘, das nicht von einer be­ sonderen Methode abhängt, sondern im Vollzug von Interpretationen aufgeht.13 Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, Heideggers Kunstphilosophie von ei­ nem ästhetischem Standpunkt aus in den Blick zu nehmen und vom Selbstver­ ständnis des Autors zu lösen.

12  Otto Pöggeler hat die Überzeugung vertreten, dass Heideggers Kunstphilosophie „eine Erörterung moderner Kunst nicht ermöglicht“. Vgl. Otto Pöggeler, Philosophie und Politik bei Heidegger, Freiburg/München 1974, 157. Sobald jedoch die Begriffe eines Philo­ sophen von Künstlern angeeignet werden und auf deren Selbstverständnis und ihr Kunst­ schaffen konkrete Auswirkungen haben, was bei Heideggers kunstphilosophischen Bestim­ mungen der Fall ist, lässt sich ein Einwand wie derjenige Pöggelers nicht mehr halten. 13  Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, 312–316.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes 1.1. Die Orientierung am Werk als phänomenologischer Ansatz Eine Philosophie der Kunst kann bei Produktion oder Rezeption von ästhe­ tischen Gegenständen ansetzen, sie lässt sich aber auch auf der Grundlage ei­ nes allgemeinen Begriffs von historischen Prozessen und sozialen Praxen ent­ wickeln. Für Heidegger spielen diese verschiedenen Möglichkeiten in Der Ursprung des Kunstwerkes – wenn auch in unterschiedlichem Maße – alle eine Rolle. Den entscheidenden, philosophischen Zugang zur Kunst bildet für Hei­ degger aber die Frage nach dem „Ursprung“. Diese Frage führt in Heideggers Kunstphilosophie zu der Verbindung eines phänomenologischen Ansatzes mit einer geschichtsphilosophischen Position; ein Umstand, der in der Forschung häufig übersehen wurde.1 Denn der Ursprung der Kunst wird von Heidegger nicht in frühgeschichtlichen Zeugnissen, rituellen oder mythologischen Kon­ texten gesucht,2 sondern in einem wahrheitstheoretischen Strukturmoment, das sich von seiner philosophischen Artikulation nicht trennen lässt. Den systema­ tischen Ausgangspunkt von Heideggers Kunstphilosophie bildet somit das Ver­ hältnis von Kunst und Philosophie, das zwar nicht als solches behandelt oder gar in seiner ganzen historischen Breite thematisiert wird, aber durch die Koppelung des Werkbegriffs an denjenigen der Wahrheit den Gedankengang doch maßgeb­ lich motiviert und vorantreibt. Heidegger geht bei der Erörterung der „Wesens­ herkunft“ der Kunst von der Annahme aus, dass die Klärung des Werkbegriffs mit der philosophischen Bestimmung von Wahrheit verbunden werden müsse.3 1  Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht Andrea Kern, die verschiedene Lesarten des Kunstwerkaufsatzes danach unterscheidet, ob das „Ins-Werk-Setzen der Wahrheit“ als „Maßstab“ oder als ein radikal neues, geschichtsgründendes Verständnis von Wahrheit interpretiert wird. Erstere Lesart bezeichnet Kern als „reflexiv“ letztere, die auch von Gada­ mer und Rorty vertreten worden sei, als „revolutionär“. Vgl. Andrea Kern, „‚Der Ursprung des Kunstwerks‘, Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit“, in: Dieter T homä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2003, 162–174. Diese Unterscheidung lässt sich – wie sich im Folgenden zeigen wird – auf die Ambiguität des Ursprungsdenkens zurückführen, das sowohl phänomenologisch-reflexiv als auch ge­ schichtsphilosophisch-revolutionär interpretiert werden kann. 2  Vgl. Heidegger, Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung), in: Günter Figal (Hrsg.), Heidegger Lesebuch, Frankfurt am Main 2007, 149–170, hier 149. 3  Durch die Verbindung von Wahrheit, Geschichte und Kunst steht Heideggers Kunst­

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Der Ursprung der Kunst bedingt die Möglichkeit von Kunstwerken. Von ei­ ner transzendentalen Kategorie im kantischen Sinne ist Heideggers Ursprungs­ begriff aber dadurch unterschieden, dass er nicht von der Kritik der Erkennt­ nisvermögen, sondern von einer Auffassung der geschichtlichen Wirklichkeit her konzipiert ist. ‚Ursprung‘ meint keine logische Voraussetzung, sondern den wirksamen Grund eines sich zeitlich konstituierenden Phänomens. Das Transzendentale wird von Heidegger zu einem Geschehen umgedeutet, das durch Wesensgesetze bestimmt ist und so den Charakter des Notwendigen be­ hält. Das Wesen des Ursprungs lässt sich aber weder von seiner Wirkung in der Geschichte trennen noch strenggenommen beweisen. Heidegger hat daher auch nicht den Anspruch, die Wesensgesetze, die seines Erachtens zum Ursprung der Kunst gehören, vollständig zu erfassen und darzustellen. Seine Kunstphiloso­ phie verfolgt vielmehr die Absicht, einen Ausblick auf ein ursprüngliches Ge­ schehen zu geben, das in der Kunst Präsenz gewinnt, aber auch dann, wenn es erkannt wird, durch geschichtliche Perspektivität bedingt bleibt. Diese in gewis­ sem Sinne bescheidene Einschränkung des eigenen systematischen Anspruchs lässt sich gerade in Hinblick auf die Komplexität von Kunsterfahrung plausibi­ lisieren. Ebenso wie ein Kunstwerk nie erschöpfend interpretiert oder kritisiert werden kann, lassen sich Wesensgesetze, die als Ursprung der Kunst geltend ge­ macht werden sollen, zu keinem Zeitpunkt vollständig aneignen. Der Ursprung ist für Heidegger ein Entzugsphänomen, das sich einer endgültigen Definition widersetzt. Zugänglich ist der Ursprung überhaupt nur, weil er sich geschichtlich entfaltet und auf diese Weise in jedem einzelnen Kunstwerk präsent ist. Die Zu­ schreibung eines Werkstatus im emphatischen Sinne ist daher auf den Ursprung von Kunst überhaupt bezogen, ohne dass dieser durch das Interpretieren je in seiner gesamten Fülle erkannt wird. Die Annahme eines geschichtlichen, quasi-transzendentalen Ursprungs der Kunst ermöglicht es, der Untersuchung einzelner Kunstwerke einen paradig­ matischen Stellenwert zuzuschreiben. Wäre die Geschichte der Kunst so zu ver­ stehen, dass sie einerseits maßgeblich für das Verständnis einzelner Werke ist, im Gesamtverlauf aber keinen sachlichen Zusammenhang bildet, dann gäbe es keine philosophische Möglichkeit, ein Kunstverständnis mit grundlegendem Anspruch zu formulieren. Würde jede Epoche radikal anderen Regeln folgen, wäre die Kunst nicht mehr als ein Sammelbegriff für nur äußerlich verwandte Phänomene. In einem solchen Fall würde sich die Suche nach Werken mit pa­ radigmatischem Status erübrigen. Paradigmatisch wären Werke höchstens für einzelne Epochen, das Verhältnis der Epochen zueinander bliebe aber ungeklärt – und damit auch das Wesen von Kunst als solcher. Könnte die Kunst ande­ philosophie in einer systematischen Verwandtschaft zu derjenigen Hegels, weswegen sich Heidegger in einigen entscheidenden Punkten bewusst gegen Hegel wendet. Vgl. Damir Barbarić, „Heideggerova rasprava o umjetnosti, in: Ders. (Hrsg.), Heidegger, Izvor umjetničkog djela, Zagreb 2010, 213–230, hier 221.

1.1. Die Orientierung am Werk als phänomenologischer Ansatz

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rerseits durch eine von ihrer geschichtlichen Entwicklung unabhängige, analy­ tische Begriffsbestimmung hinreichend beschrieben werden, müsste sich deren Gültigkeit an beliebigen Beispielen aufzeigen lassen. Es gäbe dann keinen Grund dafür, die Geschichtlichkeit der Kunst genauer zu berücksichtigen, noch einzel­ nen Werken einen paradigmatischen Status für das Verständnis von Kunst über­ haupt zuzusprechen. Dagegen ist für Heideggers Verständnis der Kunst deren Geschichtlichkeit wesentlich. Das einzelne Werk ist für Heidegger zugleich mehr als ein Moment in einer geschichtsphilosophisch konzipierten Entwicklung. Das Werk ist nicht nur bedingt durch die Geschichte, sondern kann selbst der An­ fang für etwas Unvorhergesehenes sein. Das einzelne Werk ist nicht Ausdruck einer allgemeinen geistigen Entwicklung, sondern selbst ein geschichtsbildendes Ereignis. In diesem Sinne bildet der Ursprungsgedanke die philosophische Vo­ raussetzung für eine phänomenologische Orientierung am Werk. Zugleich ge­ hört dieser Gedanke zu einem umfassenderen Geschichtsbild, das, wie am Ende des ersten Teils dieser Arbeit gezeigt wird, sachlich nicht überzeugt. Bevor diese Kritik entwickelt wird, soll aber noch genauer erläutert werden, inwiefern Hei­ deggers Orientierung am Werk als phänomenologischer Ansatz verstanden wer­ den kann. Heideggers Kunstphilosophie orientiert sich in einem doppelten Sinne am Werk.4 Erstens wird im Kunstwerkaufsatz an entscheidenden Stellen immer wieder auf einzelne Werke Bezug genommen. Die für seine Kunstphilosophie entscheidende Begrifflichkeit entwickelt Heidegger aus der Interpretation von Beispielen. Das spricht nicht nur für den Anspruch, Begriffe müssten sich durch Anschauungen ausweisen lassen, sondern sein Vorgehen zielt darauf, überhaupt nur solche Begriffe in die Kunstphilosophie aufzunehmen, die aus der Erfah­ rung mit Kunstwerken gewonnen wurden. Die Orientierung an einzelnen Wer­ ken bezeugt somit die Bedeutung der Erfahrung für die philosophische Begriffs­ bildung. Darüber hinaus wird das Werksein von Heidegger als die spezifische Seinsweise der Kunst gedacht. „Wirklich“ ist die Kunst nur im Werk: „Die Kunst west im Kunst-Werk.“5 Da Heidegger die Kunst zugleich als „Sich-ins-Werk-Set­ zen“ der „Wahrheit“ bestimmt,6 ist das Werksein aber nicht nur für den Seinsbe­ reich der Kunst entscheidend, sondern wird für die Phänomenologie als solche relevant. Es wird nicht nur der Begriff der Wahrheit in die Kunstphilosophie integriert, sondern auch der Werkbegriff in die Wahrheitstheorie. Die Bestim­ mung des Werkseins ist für Heidegger nicht zu trennen von der Frage, wie Sei­ endes erscheint. Aufgrund dieser Verklammerung von konkreten Beschreibun­ 4  Sie lässt sich daher folgerichtig auch als „Werkästhetik“ bezeichnen Vgl. David Espi­ net/Tobias Keiling, „Vorwort“, in: Espinet/Keiling (Hrsg.), Heideggers Ursprung des Kunst­ werks, 14–16. 5 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 2. 6 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 21.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

gen und ontologischem Anspruch ist Heideggers Orientierung am Werk genuin phänomenologisch. Im Kunstwerkaufsatz wird Wahrheit als ein geschichtliches Geschehen be­ stimmt, das seine maßgebliche Gestalt im Kunstwerk gewinnt. Es gibt einen „Zug der Wahrheit“ zum Werk.7 Das Werk ist der Ort, an dem das Geschehen der Wahrheit bleibende Präsenz gewinnt. Durch das Werk wird die Wahrheit wirklich. Aus diesem Grund „will“ die Wahrheit ins „Werk gerichtet werden“.8 Die nähere Bestimmung dieses Geschehens als „Streit von Welt und Erde“,9 auf die noch genauer eingegangen wird, lässt sich wiederum nur plausibel machen, wenn dieser Streit auch als konstituierendes Moment von Kunstwerken ausge­ wiesen wird. Heidegger betont gleichzeitig, dass der „Streit von Welt und Erde“ mit dem „Urstreit von Lichtung und Verbergung“ zusammengedacht werden müsse.10 Das Präfix ‚Ur‑‘ legt an der Stelle nahe, dass der Zusammenhang von Lichtung und Verbergung ursprünglicher, das heißt grundlegender als der Streit von Welt und Erde sei. Mit dem ‚Urstreit‘ von Lichtung und Verbergung geht es um die Möglichkeit, dass sich überhaupt etwas als Seiendes zeigt. Die wechsel­ seitige Angewiesenheit von Präsenz und Entzugsphänomen lässt sich aber nicht zuletzt in der Kunst zeigen, man denke nur an das Spiel mit Licht und Schatten in der Malerei oder die Funktion von Pausen in der Musik. Wenn der Antago­ nismus von Präsenz und Entzug zu einem anspruchsvollen Begriff der Wahrheit gehören soll, dann ist die phänomenologische Relevanz von Kunstwerken kaum zu überschätzen. Zugleich ist es notwendig, dass ein philosophischer Werkbe­ griff diesen Zusammenhang reflektiert. Die phänomenologische Tragweite des Werkbegriffs wird von Heidegger al­ lerdings nicht explizit gemacht und kann daher nur anhand sachlich einschlägi­ ger Stellen rekonstruiert werden. Es wäre zu kurz gegriffen, wenn der Kunstwer­ kaufsatz allein aufgrund der Tatsache, dass Heidegger ein Schüler Husserls war, in die Tradition phänomenologischer Ästhetik eingeordnet würde, wie das etwa in einem Handbuchartikel von John B. Borough geschieht.11 Den Text aus dieser Tradition auszuschließen, scheint jedoch auch nicht ohne weiteres gerechtfertigt. Im Text ist zwar weder von ‚Phänomenologie‘ noch von ‚Phänomenen‘ die Rede, dieser Umstand hat aber eher einen strategischen als einen sachlichen Grund. Heidegger vermeidet an dieser Stelle den Begriff der Phänomenologie, weil er sich vom Standpunkt Husserls abgrenzen möchte. Nachvollziehen lässt sich die Abgrenzung von seinem philosophischen Lehrer bereits in Heideggers frühesten  7 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 46. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 50.  9 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35. 10 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 42. 11  Vgl. John B. Borough, „Art and Aesthetics“, in: Sebastian Luft/Søren Overgaard (Hrsg.), T he Routledge Companion to Phenomenology, London/New York 2012, 287–297, hier 289.  8 Heidegger,

1.1. Die Orientierung am Werk als phänomenologischer Ansatz

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eigenständigen Texten. Die Entscheidung, den Titel ‚Phänomenologie‘ für die ei­ gene Philosophie nicht mehr zu benutzen, formuliert Heidegger aber erst in der Vorlesung zu Hegels Phänomenologie des Geistes im Wintersemester 1930/1931. Im Zusammenhang der Vorlesung betont Heidegger den Unterschied zwi­ schen dem, was Husserl und Hegel jeweils unter ‚Phänomenologie‘ verstehen. Zwar gingen beide von der „Erfahrung des Bewußtseins“ aus,12 das jedoch in unterschiedlicher Art und Weise. Während Husserls Ziel die „Ausbildung der Philosophie als strenger Wissenschaft“ sei, werde Hegels Denken nicht von der Wissenschaftlichkeit, sondern von der „innersten Absicht“ bestimmt, „das Leitproblem der antiken und abendländischen Philosophie zu seiner vollendeten Ausgestaltung zu bringen.“13 Vor dem Hintergrund dieser idealisierenden Gegen­ überstellung wird sowohl Heideggers affirmative Bezugnahme auf Hegel als auch seine Abgrenzungsstrategie gegenüber Husserl deutlich. Während sich Husserl einseitig an einem wissenschaftlichen Erkenntnisideal orientiere, sei für Heideg­ ger der „Bund mit der Sache selbst, die eine und dieselbe ist von Parmenides bis zu Hegel“, entscheidend.14 Der phänomenologische Leitspruch „Zu den Sachen selbst“ wird auf diese Weise geschichtsphilosophisch umgedeutet. Für Heideg­ gers Selbstverortung ist nicht die Wissenschaftlichkeit der Philosophie entschei­ dend, sondern „der Bund mit der Sache selbst“. Durch die geschichtsphilosophi­ sche Bestimmung der ‚Sache‘ der Philosophie entfernt sich Heidegger von der Position Husserls und gewinnt eine deutliche Nähe zum spekulativen Denken Hegels.15 Zur geschichtsphilosophischen Selbstverortung Heideggers, ohne die sein Werkbegriff nicht nachzuvollziehen ist, gehört zudem das Programm der De­ struktion der philosophischen Grundbegriffe. Die Destruktion sei nur durch einen Perspektivwechsel möglich, durch den das wissenschaftliche Erkennt­ nisideal Husserls nachrangig werde: „Die Philosophie kann erst recht nicht zu ihren Grundproblemen zurückfinden, wenn sie sich primär als Grundlegung des Wissens und der Wissenschaften am Leitfaden der Idee strengster Wissenschaft­ lichkeit versteht.“16 Die Abgrenzung zielt letztlich darauf, den Fundierungsan­ spruch der Phänomenologie Husserls zu überbieten. Auch Heidegger will die Möglichkeit zur phänomenologischen Arbeit begründen, aber nicht durch die Reduktion auf ein transzendentales Ego, sondern durch eine Neubestimmung des Ursprungs der Philosophie. Diese beiden Vorhaben schließen einander zwar 12 Heidegger,

Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, 29. Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, 17. 14 Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, 19. 15  Zu der Konstellation dieser drei Autoren in Bezug auf die Bestimmung der ‚Sache‘ vgl. Tilo Eilebrecht, „Der Rückgang zu den Sachen selbst zwischen Hegel, Husserl und Heideg­ ger“, in: Friederike Rese (Hrsg.), Heidegger und Husserl im Vergleich, Frankfurt am Main 2010, 77–94. 16 Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, 18. 13 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

nicht notwendigerweise aus, können aber durchaus in Konkurrenz zueinander treten. Um zu klären, welche Vorgehensweise sinnvoller ist, muss aber zumindest eine von beiden Anwendung finden. Auch die Arbeit an einer transzendentalphi­ losophischen Frage ist demnach nie unparteiisch, sie impliziert die Entscheidung für einen bestimmten Blickwinkel. Denn es gibt in der Philosophie keine Me­ thode, die durch den Gegenstand vorgegeben ist. Damit der Unterschied seines eigenen Vorgehens im Vergleich zu demjenigen Husserls deutlich hervortritt, schlägt Heidegger daher vor, „künftig nur noch das Phänomenologie zu nennen, was Husserl selbst geschaffen hat und bringen wird. Damit bleibt bestehen, daß wir alle von ihm gelernt haben und lernen werden.“17 Heidegger gibt hier also den Begriff der Phänomenologie zur Charakterisie­ rung der eigenen Arbeit auf. Das gilt auch für die Zeit, in der der Kunstwer­ kaufsatz entstanden ist. Sein Vorschlag, den Titel ,Phänomenologie‘ für Husserls methodischen Standpunkt zu reservieren, hat sich in der Forschung aber keines­ wegs durchgesetzt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens hat Heidegger selbst in seinem Spätwerk deutlich gemacht, inwiefern sein gesamtes Werk von der Phänomenologie her verstanden werden kann.18 Zweitens hat sich das Feld des­ sen, was heute als Phänomenologie bezeichnet wird, geweitet, sodass der Begriff in miteinander konkurrierenden Definitionen verhandelt wird, für die nicht nur Husserl, sondern auch Heidegger und nicht zuletzt die französische Phänomeno­ logie wesentliche Referenzpunkte bilden. Mit der Konjunktur der Phänomeno­ logie geht einerseits eine relative Beliebigkeit des Begriffs einher, die bereits von Heidegger in der zitierten Hegel-Vorlesung kritisiert wurde.19 Andererseits sollte nicht vergessen werden, dass sich die Phänomenologie, nicht anders als andere philosophische Forschungsrichtungen, ohne eine kontinuierliche Diskussion über ihre Grundlagen nicht weiterentwickeln kann.20 Solange der Erscheinungs­ charakter des Seienden keine als allgemein verbindlich anerkannte Bestimmung erhalten hat, müssen die Spielregeln der Phänomenologie im Diskurs der theo­ retischen Philosophie immer wieder neu ausgehandelt werden. Da Heideggers Denken und dessen Rezeption nach wie vor zu der Entwicklung der Diskus­ sionslage beitragen, erscheint es sinnvoll, Heideggers eigenem Sprachgebrauch nicht zu folgen, und die im Kunstwerkaufsatz vollzogene Orientierung am Werk aus den genannten Gründen als phänomenologischen Ansatz zu verstehen. Die Spannung zwischen Heideggers Abgrenzung von der Phänomenologie als Forschungsrichtung und der sachlichen Weiterentwicklung phänomenolo­ gischer Motive wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass der Begriff 17 Heidegger,

Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, 40. Vgl. Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie, GA 14, 91–102. 19  Vgl. Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, 40. 20  Einen jüngeren Ansatzpunkt zu einer solchen Reflexion der eigenen Grundlagen bie­ tet die Kritik des „Korrelationismus“ in Quentin Meillassoux, Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence, Paris 2006, insbesondere 23–45. 18 

1.1. Die Orientierung am Werk als phänomenologischer Ansatz

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des Ursprungs für Heidegger bereits zu Beginn seiner philosophischen Lauf­ bahn entscheidend war, um die Differenz seines Standpunkts zu demjenigen Husserls herauszuarbeiten. In der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie aus dem Wintersemester 1919/1920 versteht Heidegger die Philosophie als „Ursprungswissenschaft vom Leben“.21 Die Phänomenalität alles Seienden wird von Heidegger hier nicht wie bei Husserl in der Intentionalität des Bewußtseins verankert, sondern im Leben als „entspringendem, aus einem Ursprung hervor­ gehendem“.22 Die Verschiebung vom Bewusstsein zum Leben ist für Heidegger entscheidend, um von der T hematisierung der Erkenntnis zu den Phänomenen erlebter Wirklichkeit vorzudringen.23 Auch wenn sich diese Verschiebung im Kunstwerkaufsatz anders artikuliert, ist die Frage nach dem Ursprung doch ein klarer Hinweis dafür, dass es um nicht weniger als die Sache der Phänomenolo­ gie geht; denn Heideggers Werkbegriff ist mit einem Seinsverständnis verbun­ den, das sich von der Phänomenologie nicht trennen lässt. Es geht auch in seiner Kunstphilosophie um die Verknüpfung von Ontologie und Phänomenologie, um eine Bestimmung des Seins als Möglichkeit des Erscheinens. Der Kunstwerkauf­ satz kann daher auch so gedeutet werden, dass er nicht nur ein entscheidenden Schritt zum Spätwerk, sondern auch eine konsequente Weiterentwicklung der phänomenologischen Motive aus Heideggers Frühwerk darstellt. Die Idee ur­ sprünglichen Lebens wandelt sich über die Explikation der Faktizität zu der in Sein und Zeit systematisch entfalteten Analyse des Daseins. Nach Sein und Zeit wiederum setzt eine Transformation von Heideggers Denken ein, in der die von ihm selbst als einseitig kritisierte Orientierung am Dasein korrigiert wird. Im Kunstwerkaufsatz nimmt schließlich nicht das Dasein, sondern das Werk die zentrale Stellung ein. Nicht die „Erschlossenheit“ der Welt durch das Dasein ist für Heidegger nunmehr entscheidend, sondern der „Urstreit von Lichtung und Verbergung“, der seinen ausgezeichneten Ort im Werk findet. Das Werk gewinnt damit die Rolle des ursprünglichen und für die Bestimmung der Philosophie maßgeblichen Phänomens. Mit der sogenannten „Kehre“ in Heideggers Denken verschwindet das Da­ sein aber keinesfalls.24 Es ist auch im Kunstwerkaufsatz präsent und für das 21 Heidegger,

Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 81. Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 81 23  Eine kritisch reflektierte und instruktive Darstellung dieser Verschiebung leistet ­Frederik Westerlund, „Phenomenology as Understanding of Origin. Remarks on Heideg­ ger`s First Critique of Husserl“, in: Friederike Rese (Hrsg.), Heidegger und Husserl im Vergleich, Frankfurt am Main 2010, 34–56. 24  In dieser Hinsicht unterscheidet sich die erste Ausarbeitung des Kunstwerkaufsatzes von der endgültigen Fassung in der Holzwegen. In der ersten Ausarbeitung ist deutlich häu­ figer vom Dasein die Rede. Aus diesem Grund hat Jacques Taminiaux die pointierte T hese formuliert, dass die „Kehre“ in Heideggers Denken zwischen der ersten und der letzten Fas­ sung des Textes stattfinde. Vgl. Jacques Taminiaux, „L’origine de l’origine de l’œuvre d’art“, in: Daniel Payot (Hrsg.), Mort de Dieu. Fin de l’art, Paris 1991, 175–194. Englisch: Jacques 22 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Verständnis des Werkseins sogar wesentlich, denn zum Werksein gehören für Heidegger sowohl die Rezeption als auch die Produktion. An seinem Kunstver­ ständnis kann zwar zu Recht kritisiert werden, dass die genauere Bestimmung dieser Zusammenhänge zu kurz kommt. Heidegger macht jedoch an mehreren Stellen deutlich, dass Rezeption und Produktion als Daseinsvollzüge struktu­ rell zum Verständnis des Werkseins der Kunst gehören: „Sowenig ein Werk sein kann, ohne geschaffen zu sein, so wesentlich es die Schaffenden braucht, sowe­ nig kann das Geschaffene selbst ohne die Bewahrenden seiend werden.“25 Das Schaffen steht für die Produktion, das Bewahren für die Produktion. Beide sollen vom Werk her bestimmt werden und nicht umgekehrt. Weil das der Fall ist, kann ein Kunstwerk weder als Allegorie noch als Symbol begriffen werden.26 Denn die Rede vom Symbolcharakter oder vom allegorischen Sinn der Kunst impli­ ziert einen ideellen Gehalt, der im Verhältnis zum konkreten Werk ontologisch primär wäre. Gegen eine solche Trennung des Sinns von Kunst und dem Werk­ sein, von intelligiblem Inhalt und sinnlicher Präsenz wendet sich der im Kunst­ werkaufsatz entwickelte Werkbegriff. Heidegger grenzt sich sowohl gegen eine idealistische Position als auch gegen einen naiven Realismus ab, demzufolge ein Kunstwerk ein materieller Gegenstand wäre, dem noch ein zusätzlicher Sinn zu­ käme, der ontologisch sekundär wäre. Das Dinghafte des Kunstwerks und sein ästhetischer Sinn sollen zusammengedacht werden. Das Kunstwerk ist dabei al­ lerdings immer auch aus einem Korrelationsverhältnis mit dem Dasein gedacht und auch dann auf die Rezipienten bezogen, wenn es aktuell nicht rezipiert wird. Entscheidend ist die grundsätzliche Möglichkeit der Rezeption: „Wenn aber ein Werk die Bewahrenden nicht findet, nicht unmittelbar so findet, daß sie der im Werk geschehenden Wahrheit entsprechen, dann heißt das keineswegs, das Werk sei auch Werk ohne die Bewahrenden. Es bleibt immer, wenn anders es ein Werk ist, auf die Bewahrenden bezogen, auch dann und gerade dann, wenn es auf die Bewahrenden erst nur wartet und deren Einkehr in seiner Wahrheit erwirbt und erharrt.“27 Durch Heideggers Beschreibung des ‚Bewahrens‘ werden zwar weder das kri­ tische Potential noch die Freiheit des Interpretierens ausreichend berücksichtigt, aber es wird doch ein systematischer Gedanke deutlich: Rezeption ist ein konsti­ tutives Moment der Kunst, ohne das ein Werk nicht existieren kann. Dasselbe gilt für die Tätigkeit des Künstlers. Der Sinn eines Werks lässt sich zwar nicht auf die Intention des Künstlers reduzieren, aber ohne Künstler kann ein Werk gar nicht hervorgebracht werden. Der Schaffende erschafft nicht den vermeintlichen Zweck seines Werks, aber er gibt ihm doch eine konkrete Gestalt. Heidegger be­ Taminiaux, „T he Origin of T he Origin of the Work of Art“, in: John Sallis (Hrsg.), Reading Heidegger. Commemorations, Bloomington 1993, 392–404. 25 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 54. 26  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 4. 27 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 54.

1.1. Die Orientierung am Werk als phänomenologischer Ansatz

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greift diese Beziehungen so, dass Künstler, Werk und Rezipient im Geschehen der Kunst zusammengehören. Er weist gleich zu Beginn des Textes auf die wech­ selseitige Angewiesenheit dieser Momente hin.28 Kunstwerk und Künstler sind in ihrem Wesen gegenseitig aufeinander bezogen. Ein Verständnis von Kunst kann daher nur hermeneutisch gewonnen werden, das heißt dadurch, dass der Interpret dieses Zusammenhangs die wechselseitige Bedingtheit der verschiede­ nen Perspektiven auf die Kunst herausarbeitet: „Nicht nur der Hauptschritt vom Werk zur Kunst ist als der Schritt von der Kunst zum Werk ein Zirkel, sondern jeder einzelne der Schritte, die wir versuchen, kreist in diesem Kreise.“29 Zu die­ sen Schritten gehört auch die Erörterung des Bewahrens. Selbst wenn die Re­ zeption also weder als Auslegung noch als Interpretation näher bestimmt wird, wird sie von Heidegger doch aus einem hermeneutischen Zusammenhang he­ raus gedacht. Die Orientierung am Werk sollte also nicht darüber hinwegtäu­ schen, dass das Verständnis von Kunst immer auch auf hermeneutische Arbeit angewiesen bleibt. Wenn Heidegger davon ausgeht, dass sich das ganze Wesen der Kunst im Werk zeigt und nicht etwa im Leben eines Künstlers oder im Urteil des Rezi­ pienten, dann müssen sowohl der Bezug zur Produktion als auch der Bezug zur Rezeption im Werk selbst zur Erscheinung kommen. Sie müssen sich in Hin­ blick auf konkrete Beispiele beschreiben lassen. Tatsächlich werden diese bei­ den Bezüge als konstitutive Momente des Werkseins herausgestellt: „Das Ge­ schaffensein selbst [ist] eigens in das Werk eingeschaffen und steht als der stille Stoß jenes „Daß“ ins Offene.“30 Zur Gestalt des Werks gehören sowohl das Ge­ schaffensein als auch das Staunen über seine Wirklichkeit. Der Rezipient nimmt wahr, dass es sich bei einem Kunstwerk um etwas Hergestelltes handelt und ist zugleich über die Präsenz des Werks erstaunt. Ohne einen Betrachter wäre die Rede von einem Stoß oder vom Staunen hier sinnlos. Ebenso verhält es sich mit dem Geschaffensein des Kunstwerks. Ohne einen Künstler, der den Vollzug der Produktion in das Werk einschreibt, könnte das Werk nicht als geschaffenes er­ kannt werden. Für Heidegger sind nicht die konkreten Umstände der künstle­ rischen Produktion relevant, sondern vielmehr der phänomenale Sachverhalt, dass man am Werk erkennt, dass dieses ein Artefakt ist und die Erfahrung der Kunst auf diese Weise mit der Vorstellung eines Schaffensprozesses verbunden bleibt. Insoweit Heideggers Untersuchung des Werkseins diese Wechselbezüge berücksichtigt, kann sie als eine hermeneutische Phänomenologie der Kunst in­ terpretiert werden. Die methodische Verankerung des Werkbegriffs ist mit seiner Entfaltung im Text jedoch nicht gleichzusetzen. Im Folgenden wird durch die Rekonstruktion 28 

Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, GA 5, 1–2. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 3. 30 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 53. 29 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

von Heideggers Argumentation gezeigt, dass der Kunstwerkaufsatz keine abge­ schlossene Bestimmung des Werkbegriffs bietet. Die Bestimmungsversuche des Werkseins verlaufen aporetisch und werden von Heidegger auch als solche ge­ kennzeichnet. Nicht umsonst wird Der Ursprung des Kunstwerkes in der Samm­ lung Holzwege veröffentlicht.31Die phänomenologische Orientierung am Werk wird letztlich einer geschichtsphilosophischen Position untergeordnet, die sich mit einer definitiven Bestimmung des Werkbegriffs und somit auch einer prak­ tischen Anwendung in der Ästhetik nicht vereinen lässt.

1.2. Werke, Dinge und Beispiele Heideggers Versuch, den Werkbegriff zu klären, zielt zunächst auf die Dinghaf­ tigkeit von Kunstwerken. Kunstwerke sind – anders könnten sie nicht rezipiert werden – ebenso vorhanden und zugänglich wie andere Dinge auch. Heidegger stellt fest, dass Kunstwerke „jedermann bekannt seien“.32 Wir begegnen ihnen in unserer alltäglichen Umwelt: „Das Bild hängt an der Wand wie ein Jagdge­ wehr oder ein Hut. Ein Gemälde, z.B. jenes von van Gogh, das ein Paar Bauern­ schuhe darstellt, wandert von einer Ausstellung in die andere. Die Werke werden verschickt wie die Kohlen aus dem Ruhrgebiet und die Baumstämme aus dem Schwarzwald. Hölderlins Hymnen waren während des Feldzugs im Tornister mitverpackt wie das Putzzeug. Beethovens Quartette liegen in den Lagerräumen des Verlagshauses wie die Kartoffeln im Keller.“33 Diese Aufzählung ist nicht zu­ fällig. Indem je ein Werk aus der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik genannt wird, von denen im folgenden Text zumindest eines etwas ausführlicher betrachtet werden soll, führt Heidegger unter der Hand die seit der Aufklärung klassische Einteilung der Kunst in drei Gattungen ein.34 Bemerkenswert ist zu­ 31  Damit ist der aporetische Ausgang des Textes bereits angedeutet. Andererseits sollte der Titel der Sammlung auch nicht überbewertet werden. Zumal von Carl Friedrich von Weizsäcker überliefert ist, dass Heidegger bei einem gemeinsamen Spaziergang einmal aus­ rief: „Ja, es ist der Holzweg – er führt zu den Quellen! Das habe ich freilich nicht in das Buch geschrieben.“ Das Scheitern am Werkbegriff, dessen Gründe in dieser Arbeit eingehend untersucht werden, kann also als ein produktiver Gedankengang verstanden werden, der obwohl er sein explizites Ziel nicht einholt, neue philosophische Möglichkeiten eröffnet. Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker, „Begegnungen in vier Jahrzehnten“, in: Günter Neske (Hrsg.), Erinnerungen an Martin Heidegger, Pfullingen 1997, 239–247, hier 242. 32 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 3. 33 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 3. 34  Diese Einteilung ist keinesfalls selbstverständlich, zumal sich die Frage stellt, wieso Heidegger an dieser Stelle im Unterschied zu Zeitgenossen wie etwa Walter Benjamin nicht auch den Film als Kunstgattung in Erwägung zieht. Für einen umfassenden historischen Überblick zu der Einteilung der Kunst in Gattungen vgl. Wolfgang Ullrich, „Kunst; Künste; System der Künste“, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Historisches Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe, Band 3, Stuttgart 2001, 556–616.

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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dem der ironische Unterton, mit dem Heidegger an dieser Stelle auf den kom­ merziellen Umgang mit Kunst anspielt. Kunstwerke werden gelagert und ver­ kauft und in dieser Hinsicht sind sie vergleichbar mit Gemüse. Aufgrund ihrer Dinglichkeit kann Kunstwerken auch Warencharakter zukommen. Dennoch trifft der Vergleich einen wichtigen Sachverhalt: Nicht nur die Werke der bildenden Kunst sind dinglich präsent, sondern auch Musik und Literatur.35 Anders könnten sie nicht Gegenstand der Interpretation werden. Sie werden wie Dinge wahrgenommen, aber sind doch mehr als bloße Dinge. Die Frage für Hei­ degger ist daher, wie sich Kunstwerke von anderen Dingen phänomenologisch unterscheiden lassen. Der Ansatzpunkt für die Unterscheidung liegt in der spe­ zifischen Materialität von Kunstwerken. Heidegger gibt mehrere Beispiele: „Das Steinerne ist im Bauwerk. Das Hölzerne ist im Schnitzwerk. Das Farbige ist im Gemälde. Das Lautende ist im Sprachwerk. Das Klingende im Tonwerk.“36 Es handelt sich dabei um mehr als um Materialangaben. Denn die Materialität eines Kunstwerks ist nach Heideggers Verständnis wesentlich verschieden von derje­ nigen eines gewöhnlichen Gebrauchsgegenstands. Er schlägt sogar vor, das We­ sen des Kunstwerks in einem ersten Schritt ganz und gar von seiner materiellen Beschaffenheit her zu begreifen: „Das Dinghafte ist so unverrückbar im Kunst­ werk, dass wir sogar eher umgekehrt sagen müssen: Das Bauwerk ist im Stein. Das Schnitzwerk ist im Holz. Das Gemälde ist in Farbe. Das Sprachwerk ist im Laut. Das Musikwerk ist im Ton.“37 Was sich wie eine einfache Umkehrung der vorangegangenen Aussagen liest, ist von weitreichender Bedeutung für Heideggers Werkbegriff. Die Werke wer­ den hier von einer elementaren Materialität her verstanden. Anders als Ge­ brauchsdinge lassen sie sich geradezu in eine natürliche Umwelt einordnen, die durch Materialien wie „Stein“ oder „Holz“ und sinnliche Qualitäten wie „Farbe“ oder „Ton“ strukturiert ist. Zugleich soll das Kunstwerk aber auch von natür­ lichen Dingen unterschieden werden können. Um die Differenz zwischen na­ türlichen Dingen und Werken beschreiben zu können, muss aber geklärt wer­ den, was überhaupt ein Ding ist. Selbst wenn man ein Kunstwerk als ein Symbol oder eine Allegorie definieren könnte, als ein „Ding, an dem noch etwas anderes 35  Günter Figal hat diesen Gedanken in eigener Sache weiterentwickelt: „In ihrer Fi­ xiertheit sind Kunstwerke dinglich; nur in dinghafter Beständigkeit haben sie ein Bestehen in der Welt.“ Die Annahme eines weiten Dingbegriffs ermöglicht es Figal, systematisch zu begründen, wie sich Kunstwerke als „Erscheinungsdinge“ verstehen lassen. Vgl. Figal, Er­ scheinungsdinge, 97. Vgl. Zur dinglichen Beständigkeit von Kunstwerken in der Welt auch Hannah Arendt, T he Human Condition, Chicago/London 1969, 167: „Because of their out­ standing permanence, works of art are the most intensely worldly of all tangible things; […] their durability is of a higher order than that which all things need in order to exist at all; it can attain permanence throughout the ages. “ 36 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 4. 37 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 4.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

haftet“,38 als die Verbindung eines materiellen Unterbaus mit einer ästhetischen Idee, bliebe noch die Frage, wodurch es möglich ist, dass es so etwas wie den Träger des symbolisierten Sinns, das heißt der darzustellenden Idee, überhaupt geben kann. Eine Bestimmung des Werkseins der Kunst setzt einen bestimmten Dingbegriff voraus. Heidegger erkennt, dass er diese Voraussetzung für die Ent­ faltung seines Werkbegriffs einholen muss. 1.2.1. Klassische Dingkonzeptionen Aus diesem Grund thematisiert Heidegger drei philosophische Dingbegriffe, drei „Auslegungen der Dingheit des Dings“, die in der Geschichte der Philoso­ phie besonders wirkmächtig geworden seien.39 Er orientiert sich in dem über­ blickshaften Exkurs vor allem an der aristotelischen Ontologie.40 Das Ding wird dabei mit dem einzelnen Seienden, τὸ ὄν gleichgesetzt. Die erste Konzeption, die erläutert wird, ist die von Substanz und Akzidenz.41 Diese Unterscheidung er­ möglicht es, ein Ding gleichsam von zwei Seiten her zu betrachten. Ein Ding ist einerseits als ein beständiger Bezugspunkt gegeben, der von Aristoteles als das „Zugrundeliegende“ (τὸ ὑποκείμενον) bezeichnet wird.42 Dieses Zugrundlie­ gende ist die Substanz. Ein konkreter Gegenstand ist aber nie als reine Substanz gegeben, sondern stets mit faktischen Bestimmungen verbunden, die Aristoteles als συμβεβεκότα bezeichnet. Welche Akzidenzien einem bestimmen Ding im Einzelnen zukommen, ist für die Philosophie sekundär; dass ein Ding immer durch eine Reihe solcher Nebenbestimmungen ausgezeichnet wird, dagegen not­ wendig. Konkrete Eigenschaften lassen sich nicht ohne einen beständigen Be­ zugspunkt begreifen. Akzidentielle Bestimmungen müssen als Bestimmungen von etwas verstanden werden und erfordern so den Rückschluss auf ein Zugrun­ deliegendes.43 Ein Dingbegriff, der auf dieser Unterscheidung aufbaut, gewinnt, wie Heidegger hervorhebt, nicht zuletzt dadurch an Überzeugungskraft, dass es bereits bei Aristoteles ein Sprachverständnis gibt, das dieselbe Unterscheidung verwendet. Ein einfacher Aussagesatz besteht in der Verknüpfung von Subjekt und Prädikat. Aussagesatz und Ding können daher in Analogie zueinander ana­ 38 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 4. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 7. 40  Vgl. Zum Zusammenhang von Heideggers Kunstphilosophie und seiner Aristote­ les-Interpretation Michail Pantoulias, „Heideggers Ontologie des Kunstwerks und die an­ tike Philosophie. Heraklit und Aristoteles“, in: Espinet/Keiling (Hrsg.), Der Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, 139–159 sowie die ein­ schlägige Studie von Mark Sinclair, Heidegger, Aristotle and the Work of Art, New York 2006. 41 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 7. 42  Vgl. Aristoteles, Metaphysica, hrsg. von W. D. Ross, Oxford 1924, VII 3; Es ist auch Bezugspunkt der Aussage: Aristoteles, Categoriae, hrsg. von L. Minio-Paluello, Oxford 1949, II, 1a20–1b9. 43  Vgl. Aristoteles, Metaphysica, IV 4, 1007a33–b18. 39 Heidegger,

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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lysiert werden. So wie einem Subjekt verschiedene Prädikate zugeordnet wer­ den können, kann eine Substanz durch unterschiedliche Akzidenzien bestimmt werden. Diese Verknüpfung von Sprache und Ontologie legt die Vermutung nahe, dass die Grammatik unserer Sprache eine bestimmte Auffassung der Dinge vorgibt. Die Regeln unseres Sprechens über die Dinge könnten eine philosophische De­ finition des Dings vorprägen. Man könnte eine historische Entwicklung anneh­ men, in der sprachliche Grundstrukturen ontologischen Begriffen vorausgehen. Derartige Entwicklungsprozesse entziehen sich allerdings nicht nur philologi­ scher Forschung, sie sind auch aus theoretischer Perspektive problematisch. Wie kann eine grammatikalische Struktur auf etwas übertragen werden, das ohne diese Struktur noch gar nicht bezeichnet werden konnte? Ist es nicht so, dass ein Begriffsschema nur dann für die Erklärung eines Phänomens herangezogen wer­ den kann, wenn das Phänomen bereits in irgendeiner Weise zugänglich ist? Aber wenn es zugänglich ist, bevor das Begriffsschema Anwendung findet, kann dann nicht durch die Anwendung des Schemas der originäre Zugang zum Phänomen verdeckt werden? Das Verhältnis von erschließenden und verdeckenden Aspek­ ten hängt wohl nicht zuletzt davon ab, inwieweit im Verlauf der Entwicklung des Begriffsschemas der originäre Zugang zum Phänomen implizit leitend ist. Da die Entsprechung von Begriffsschema und originärem Zugang zum Phänomen aber nicht ohne weiteres verbürgt werden kann, konstatiert Heidegger: „Die Frage, was das erste ist und das Maßgebende, der Satzbau oder der Dingbau, ist bis zur Stunde nicht entschieden. Es bleibt sogar zweifelhaft, ob die Frage in dieser Ge­ stalt überhaupt entscheidbar ist.“44 Der Vergleich des skizzierten Dingbegriffs mit dem Satzmodell unserer Sprache führt also bei einer kritischen Überprüfung keineswegs zu einer Bestätigung der dabei vorausgesetzten Ontologie, sondern vielmehr dazu, dass die Rolle von linguistischen Modellen bei der philosophi­ schen Begriffsbildung im Allgemeinen und der Definition des Dingbegriffs im Besonderen hinterfragt wird. Der zweite Begriff, den Heidegger erläutert, ist derjenige, der das Ding als Korrelat der Wahrnehmung fasst. Aufgrund der menschlichen Wahrnehmungs­ fähigkeit lässt sich ein Ding auch als das „in den Sinnen der Sinnlichkeit durch die Empfindung Vernehmbare“ bestimmen.45 In der antiken Philosophie wird dieses Dingverständnis unter dem Stichwort αἰσθητόν diskutiert. Einschlägig ist dafür unter anderem Aristoteles’ Schrift De anima.46 Die Prominenz von Ding­ begriffen, die sich an der Wahrnehmung orientierten, lässt sich allerdings nicht allein auf die aristotelische Tradition zurückführen. Einflussreich sind hier der frühneuzeitliche Empirismus und dessen Aufnahme ins Kants ‚Kritische Philo­ 44 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 8–9. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 10. 46  Vgl. zum αἰσθήτον als einem außerhalb der Seele vorliegenden Wahrnehmungsin­ halt: Aristoteles, De anima, hrsg. W.D. Ross, Oxford, 417b. 45 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

sophie‘ gewesen. Kant wird von Heidegger zwar nicht explizit genannt, aber es ist der kantische Begriff der Erscheinung, der anklingt, wenn im Kunstwerkaufsatz von dem Ding als „Einheit einer Mannigfaltigkeit des in den Sinnen Gegebenen“ die Rede ist.47 Heidegger stellt fest, dass ein solcher Zugang zu der „Dingheit“ des Dings ebenso legitim sei wie der erste, aber gleichzeitig wird seine Geltung im Weiteren beschränkt. Die phänomenologische Analyse der Wahrnehmung zeigt, dass Sinnesein­ drücke in aller Regel nicht als solche gegeben sind und nicht erst aufgrund einer kognitiven Synthesis einer äußeren Ursache zugeschrieben werden. Sinnesein­ drücke sind immer eingebunden in eine bestimmte Umwelterfahrung. Unsere Wahrnehmung von Dingen vollzieht sich daher stets so, dass wir etwas als etwas wahrnehmen.48 Je vertrauter die Alltagsphänomene sind, desto deutlicher wird diese Ausrichtung unserer Wahrnehmung. So nimmt man den Klingelton eines Handys in der Regel unmittelbar als solchen wahr und nicht als ein schrilles Geräusch, das auf einen technischen Apparat zurückgeführt und dann erst in seiner Funktion entschlüsselt wird. Und wer beim Namen gerufen wird, nimmt nicht erst die Stimme als akustisches Reizmuster wahr, das dann als Folge von Phonemen identifiziert wird, um zu einem Wort zusammenfügt, semantisch entschlüsselt und erst am Ende auf die eigene Person bezogen zu werden. Man wendet sich dem Rufenden vielmehr unmittelbar zu. Aber diese Unmittelbarkeit ist gerade dadurch gewährleistet, dass man diese Phänomene als bedeutungstra­ gende Ereignisse wahrnimmt und nicht als Sequenz von Empfindungen. Auch wenn das an der akustischen Wahrnehmung alltäglicher Dinge besonders deut­ lich wird, so lassen sich wahrnehmbare Dinge allgemein nicht von den Bedeu­ tungsstrukturen abstrahieren, mit denen sie in konkreten Situationen verbun­ den sind. Die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden richtet sich in der Regel auf Einzelnes, wodurch andere Dinge in der Wahrnehmung zurücktreten. Auch die Unterscheidung von Vordergrund und Hintergrund sowie die wechselnde Ferne und Nähe von Dingen gehören zu den Bedeutungsstrukturen einer Wahrneh­ mungssituation. Dingbegriffe, die auf einer empiristischen Wahrnehmungstheorie beruhen, können daher mit Heidegger als internalistische Vereinseitigungen kritisiert werden. Sie vernachlässigen den Sinn, den Dinge in praktischen Lebensvollzü­ gen erhalten, zugunsten eines genaueren Verständnisses der Verarbeitung von Sinnesdaten. Das aristotelische Substanz-Akzidenz-Modell hingegen scheint im Vergleich dazu die Konstitutionsleistung des menschlichen Bewusstseins zu we­ nig zu berücksichtigen. Die Divergenz der beiden Ansätze führt nach Heideg­ 47 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 10. Kant ist ein Gegenstand, sofern er erscheint, durch das Zusammenwirken von Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand erkennbar und deswegen stets eine „synthe­ tische Einheit“ des Mannigfaltigen: Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. von Karl Vorländer, Hamburg 1959, B 104. 48  Für

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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ger zu einer unterschiedlichen und in beiden Fällen problematischen Auffassung von der Beziehung der Dinge zum menschlichen Leib: „Während die erste Ausle­ gung des Dinges uns dieses gleichsam vom Leib hält und zu weit wegstellt, rückt die zweite es uns zu sehr auf den Leib. In beiden Auslegungen verschwindet das Ding.“49 Der richtige Abstand des Dings zum Leib, der unmerkliche Wechsel von Nähe und Ferne, den der Mensch im aufmerksamen Umgang mit den Dingen gewöhnt ist, wird also weder durch das Substanz-Akzidens-Modell noch durch das Definition des Dings als Korrelat der Wahrnehmung erklärt. Der dritte Dingbegriff, den Heidegger in Betracht zieht, ergibt sich aus der Unterscheidung von Stoff und Form. Auch dieses ontologische Begriffspaar geht auf Aristoteles zurück, der das Seiende als Gefüge aus Stoff und Form be­ stimmt.50 Die griechischen Worte hierfür sind ὕλη und μορφή. Weitgehend sy­ nonym zu μορφή gebraucht Aristoteles in diesem Kontext auch das Wort εἶδος.51 Im der aristotelischen Physik wird nicht das εἶδος, sondern die ὕλη als das „erste einem jedem Zugrundeliegende“ in Betracht gezogen.52 Es geht Aristoteles in der Physik um die in „der Natur vorkommenden und vergänglichen Formen“, wodurch das εἶδος vor allem als Ziel der Bewegung und die Bestimmung natür­ lichen Wachstums Berücksichtigung findet.53 Dieses Verständnis von Form liegt dadurch nahe am etymologischen Ursprung des Worts εἶδος als sichtbare Ge­ stalt.54 Instruktiv ist in diesem Kontext auch die Etymologie des aristotelischen Worts für ‚Stoff‘: ὕλη bedeutet zunächst ‚Holz‘ oder ‚Baumaterial‘ und erst im philosophischen Sprachgebrauch wird das Wort zu einem abstrakten Begriff, durch den das Materielle als solches bezeichnet wird.55 Die Etymologie von ὕλη ist für Heideggers Argumentation insofern hilfreich, als sie den Verdacht bestärkt, dass der hylemorphische Dingbegriff an der τέχνη orientiert und letztlich eine problematische Übergeneralisierung darstellt.56 Ge­ 49 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 11. Aristoteles, Metaphysica, III 1, 995b35. Zum Begriff des ‚Zusammengesetzten‘ (lat. compositum, gr. σύνολον). Vgl. auch Johannes Hübner, „Art. ‚synholos‘“, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 558–559. 51  Vgl. Aristoteles, Metaphysik, VII 3, 1029 a3–5. Zur Differenzierung der unterschied­ lichen Gebrauchsweisen von εἶδος vgl. Christoph Rapp/Tim Wagner, „Art. ‚eidos‘“, in: Ot­ fried Höffe (Hrsg.), Aristoteles-Lexikon, 147–158. 52 Aristoteles, Physica, I 9, 192 a13, übers. von Willy T heiler/Horst Seidl, Hamburg 1995, 24. 53  Vgl. Aristoteles, Physica, I 7, 190b5. 54  εἶδος ist das „Verbalnomen zum Wort für ‚sehen‘.“ Vgl. Hjalmar Frisk, Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1973, Band 1, 451. 55  Vgl. Frisk, Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Band 2, 962–963. 56  „Der Hinweis auf die ausgiebige Verwendung dieses Begriffsgefüges in der Ästhetik könnte eher auf den Gedanken bringen, daß Stoff und Form angestammte Bestimmungen des Wesens des Kunstwerkes sind und erst von da auf das Ding zurückübertragen wurden. Wo hat das Stoff-Form-Gefüge seinen Ursprung, im Dinghaften des Dinges oder im Werk­ haften des Kunstwerkes?“ Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 12–13. 50  Vgl.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

brauchsgegenstände werden so hergestellt, dass sie einem bestimmten Zweck dienen. Auf einem Stuhl möchte man sitzen, an einem Schreibtisch schreiben können. Für natürliche Dinge ist ein solcher Zweck aber nicht unmittelbar ge­ geben. Zwar kann auch die Welt als Ganzes als das Werk eines göttlichen Hand­ werkers vorgestellt werden, wie es Platon im Timaios vorführt. Es handelt sich bei solchen Vorstellungen aber letztlich um mythische Beschreibungsformen, die sich als solche der philosophischen Einsicht entziehen. Ob sich das hylemor­ phische Denken für die Beschreibung von natürlichen Dingen eignet, lässt sich daher zumindest bezweifeln. Wenn man aber durch diese Art zu denken eine bestimmt Art von Dingen nicht angemessen fassen kann, bietet sie keine hinrei­ chende Bestimmung von Dinghaftigkeit als solcher. Der hylemorphische Ding­ begriff ist, wie Heidegger beiläufig feststellt, durch die Verbindung von griechi­ scher Metaphysik und christlicher Glaubenslehre besonders einflussreich gewe­ sen. Das Modell des Stoff-Form-Gefüges sei in der Geschichte der Philosophie unterschiedliche Verbindungen mit den anderen beiden Dingbegriffen einge­ gangen und infolge dessen nicht nur für die Ontologie, sondern auch für die philosophische Ästhetik maßgeblich geworden.57 Gerade die bedeutende Rolle dieses Dingbegriffs für die philosophische Tradition lässt Heidegger aber daran zweifeln, dass bei der Herausbildung des Hylemorphismus ein ursprünglicher Zugang zu den Dingen leitend gewesen sei. Ein Modell, das selten hinterfragt wird, ist aus philosophischer Sicht gerade deshalb problematisch. 1.2.2. Rekurs auf die Zeuganalyse Neben diesen drei Dingbegriffen, die sich unterschiedlich modifizieren lassen, aber dabei aufgrund der geschilderten Einwände von Heidegger dennoch als un­ zureichend betrachtet werden, besitzt er selbst einen eigenen Ansatz, der von ihm nicht in die Reihe der traditionellen Begriffe eingeordnet wird. Für seinen eigenen Ansatz ist, ähnlich wie beim Stoff-Form-Modell, die Orientierung an handwerkli­ chen Tätigkeiten wichtig. Gemeint ist die Bestimmung des Dings als „Zeug“, die in Sein und Zeit entwickelt wird.58 Das Zeug wird dort als das „Zuhandene“ be­ schrieben, als dasjenige, womit die Menschen im Alltag hantieren.59 Dieses Han­ tieren lässt sich an handwerklichen Tätigkeiten im engeren Sinne am besten ver­ anschaulichen. Nicht zufällig ist das prominenteste Beispiel der Zeuganalyse ein Hammer. Das Wissen um den Gebrauch eines Werkzeugs ist die Grundlage, um seinen eigentlichen Sinn zu erschließen. Auf die kritische Erörterung der traditio­ nellen Dingbegriffe im Kunstwerkaufsatz hätte also die Einführung eines Ding­ begriffs folgen können, der sich am praktischen Wissen orientiert. Tatsächlich 57 

Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 12. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 66–72. 59 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 69. 58 

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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konstatiert Heidegger, dass mit Blick auf die Philosophiegeschichte die Dingheit der Dinge wohl am besten in Hinblick auf das „Zeugsein des Zeugs“ zu klären sei.60 Dabei ist nicht nur an den aristotelischen Hylemorphismus, sondern auch an die Konzeption des Zuhandenen in Sein und Zeit zu denken. Heidegger hätte im Kunstwerkaufsatz die entsprechende Bestimmung der „Zuhandenheit“ aufgreifen und systematisch weiterentwickeln können. Er ver­ fährt jedoch anders. In Berufung auf einen „Wink“, den er durch die Erörte­ rung der verschiedenen Dingbegriffe empfangen habe, wendet er sich wieder einem Beispiel aus der Kunst zu.61 Man erkennt an Stellen wie diesen, dass der Text auf mündliche Vorträge zurückgeht. Der Blickwechsel wird markiert, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und die Spannung zu erhöhen, und die Rede vom Wink hat zudem auch die Funktion, das Überraschende des neuen Gedankens performativ darzustellen und so dem Vollzugscharakter philosophischer Ein­ sicht Rechnung zu tragen. Es geht Heidegger darum, das Wesen des Dings neu zu bestimmen.62 Die Ergebnisse der Zeuganalyse sollen von dem Paradigma der τέχνη gelöst werden. Der alltägliche, leibliche Umgang mit den Dingen bleibt da­ bei leitend, ohne dass das die Orientierung am Handwerk oder gar die schema­ tische Unterscheidung von Stoff und Form dadurch fortgeführt wird. Die Ver­ abschiedung des technischen Dingbegriffs ist für Heidegger der entscheidende Schritt, um zu einem ursprünglicheren Verständnis des Seienden zu gelangen, das natürliche Dinge, Zeug und Werkhaftes umfasst. In diesem Kontext kommt der Betrachtung einzelner Kunstwerke eine besondere Bedeutung zu. 1.2.3. Vincent van Goghs Schuhe Das wichtigste Vorbild für die Abkehr vom technischen Dingbegriff bildet das bereits erwähnte Stillleben „Schuhe“ von Vincent van Gogh.63 Heidegger geht irrtümlich davon aus, dass es ein Paar Bauernschuhe darstellt. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Motiv für das Werk um ein Paar Arbeiterschuhe, die dem Künstler möglicherweise selbst gehört haben und die er auf einem Flohmarkt in 60 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 17. Das Wort wird von Heidegger in Anlehnung an Hölderlins Gedicht „Rousseau“ ver­ wendet. Bei Hölderlin bezeichnet ‚Der Wink‘ ein göttliches Zeichen. Vgl. Nikola Mirko­ vić, „Heidegger und Hölderlin. Eine Spurensuche in Der Ursprung des Kunstwerkes“. In: Espinet/Keiling (Hrsg.), Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, 173–185, hier 173–174. 62  Bezieht man diese Intention auf die Auslegung der griechischen Philosophie, kann die Suche nach einem neuen Dingbegriff auch als eine Neubestimmung von Poiesis inter­ pretiert werden. Vgl. Pantoulias, „Heideggers Ontologie des Kunstwerks und die antike Philosophie. Heraklit und Aristoteles“, 148–153. Siehe auch Sinclair, Aristotle and the Work of Art, 155–161. 63  Vincent van Gogh, Schuhe (1886), Öl auf Leinen, 37,5 x 35,5 cm, Van Gogh Museum Amsterdam, Vincent van Gogh Stichting (F 255, JH 1124). 61 

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Paris erworben haben könnte.64 Heideggers Fehler ist, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht nur für die Bewertung seiner philosophischen Argumentation neben­ sächlich, sondern beruht auch auf konkreten Anhaltspunkten im Bild und seiner Wirkungsgeschichte. Zu den möglichen Gründen für die fehlerhafte Zuordnung und den damit verbundenen Konsequenzen hat sich nichtsdestotrotz eine wis­ senschaftliche Kontoverse von bemerkenswertem Ausmaß herausgebildet, die bis in die jüngste Zeit fortgesetzt wird.65 Auslöser für diese Kontroverse war ein Artikel des Kunsthistorikers Meyer Schapiro aus dem Jahr 1968 mit dem Titel T he Still Life as a Personal Object – A Note on Heidegger and van Gogh.66 Scha­ piro ist nach Lektüre des Kunstwerkaufsatzes mit Heidegger brieflich in Kontakt getreten, um in Erfahrung zu bringen, auf welches Bild sich Heidegger genau bezieht und hat die Interpretation anschließend von einem kunsthistorischen Standpunkt her kritisiert.67 In Rückgriff auf biografische Dokumente identifi­ ziert Schapiro die Schuhe als diejenigen des Malers und interpretiert das Still­ leben ausgehend von dem sentimentalen Wert des Sujets. Die Schuhe seien für van Gogh „a memorable piece of his own life“ und „a sacred relief“ gewesen.68 Die Interpretation Schapiros wurde wiederum von Jacques Derrida beantwortet und hinterfragt, der Schapiros Vorgehen methodisch gesehen für ebenso pro­ blematisch wie dasjenige Heideggers erachtet. Die Intention, die Schuhe einem Träger zuzuordnen, stellt für Derrida eine gewaltsame Aneignung des Kunst­ werks durch den jeweiligen Interpreten dar. Wenn Meyer Schapiro die Schuhe als Erinnerungsstück interpretiert, dann sei das nicht weniger von seiner per­ sönlichen Erfahrung der Emigration geprägt als Heideggers Interpretation von dessen Sympathie für die bäuerliche Lebenswelt.69 Der Sinn des Stilllebens ergibt 64  Ella Hendriks/Louis von Tilborgh (Hrsg.), „73 Shoes“, in: dies., Vincent Van Gogh, Paintings, Band 2, Zwolle 2011, 257–263, hier 257. 65  Vgl. etwa von philosophischer Seite Michael Kelly, Iconoclasm in Aesthetics, Cam­ bridge 2003, 20–54 und Robert B. Pippin, Kunst als Philosophie, Frankfurt am Main 2011, 151–199. Von kunsthistorischer Seite etwa Dietrich Schubert, „Van Goghs Sinnbild „Ein Paar alte Schuhe“ von 1885, oder: ein Holzweg Heideggers“, in: Tobias Frese/Anette Hoff­ mann (Hrsg.), Habitus. Norm und Transgression in Bild und Text, Berlin 2011, 331–354. Zu­ dem sind das Bild und die um seine Interpretation entstandene Kontroverse sogar T hema einer eigenen Ausstellung gewesen, die von September 2009 bis zum Januar 2010 im Wall­ raf-Richartz-Museum in Köln zu sehen war. Vgl. den Katalog zur Ausstellung: Geoffrey Batchen, What of Shoes? Van Gogh and Art History, Wallraf-Richartz-Museum und Fonda­ tion Corboud, Leipzig 2009. 66  Zuerst veröffentlicht in M. L. Simmer (Hrsg.), T he Reach of Mind: Essays in Memory of Kurt Goldstein, New York 1968, 203–209. 67  Vgl. Meyer Schapiro, „T he Still Life as a Personal Object – A Note on Heidegger and van Gogh“, in: ders., T heory and Philosophy of Art: Style, Artist, and Society. Selected Papers, New York 1994, 135–142, hier 136. 68 Schapiro, T he Still Life as a Personal Object – A Note on Heidegger and van Gogh, 140. 69  Vgl. Jacques Derrida, „Restitution de la vérité en peinture“, in: ders., La vérité en peinture, Paris 1978, 291–436, hier 297.

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sich nach Derrida nicht aus der Rückgabe der Schuhe an einen vermeintlichen Träger, sondern aus der genauen Beobachtung, die beim Werk selbst und den De­ tails der Darstellung ansetzen muss. So betrachtet Derrida nicht nur ausführlich die Ösen und Schnürsenkel der Schuhe, sondern hinterfragt auch, ob es sich bei Schuhe überhaupt um ein Paar handelt.70 Für dieses Vorgehen spricht die Tat­ sache, dass van Gogh die Schuhe so dargestellt hat, dass die Umgebung, in der sie stehen, sich nicht identifizieren lässt. Sie sind so nicht nur von ihrem Träger oder Besitzer getrennt, sondern erscheinen als isolierte Dinge, die gerade nicht im Gebrauch sind und ihren Sinn vor allem in der Betrachtung entfalten. Auch wenn Derrida in seiner ausführlichen, als Dialog gestalteten Abhandlung letzt­ lich eine ebenso eigenständige wie ironische Interpretation des Bilds entwirft, die über werkimmanente Aspekte weit hinausgeht, bleibt er durch die Orientierung am Werk selbst relativ nah an Heideggers kunstphilosophischer Position. Genau genommen wird Derrida dieser phänomenologischen Maxime sogar weit mehr gerecht als Heidegger in seinen Ausführungen über die Welt der vermeintlichen Trägerin der Schuhe. Zudem hat Derrida eine scharfsinnige Überlegung zu der Frage angestellt, wieso Heidegger in dem Bild die Schuhe einer Bäuerin gesehen haben könnte: Heidegger hat das Bild in der Erinnerung möglicherweise mit der Bilderserie über die flämische Landbevölkerung zusammengebracht, die van Gogh wäh­ rend seiner Zeit in Nuenen (1883–1885) geschaffen hat.71 Tatsächlich ist das Bild bezüglich der Farbgebung, in der Braun, Schwarz und ein schmutziges Weiß dominieren, mit den Bildern aus Nuenen vergleichbar.72 Dass flämische Bauern Ende des 19. Jahrhunderts zumindest stereotypen Vorstellungen zufolge eher Holzschuhe trugen, hat auch einen Kunsthistoriker wie Mark Roskill nicht da­ von abgehalten, in ihnen die Schuhe auf van Goghs Bild als die eines „Minenar­ beiters oder Bauern“ zu interpretieren.73 Wenn man die Ausstellungsgeschichte des Bildes rekonstruiert, erhärtet sich zudem Derridas Vermutung: Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Bild tatsächlich regelmäßig in die Zeit von van ­Goghs Bildern aus Nuenen eingeordnet und erst Anfang der 1930er Jahre be­ gann sich die Datierung des Bilds an den Anfang der Pariser Schaffensperiode (1886–1888) durchzusetzen.74 Durch radiologische Untersuchungen ist die spä­ 70  Auf dem Bild ist nicht genau zu erkennen, ob es sich nicht auch um zwei linke Schuhe handeln könnte. In diesem Fall, den vor Derrida noch niemand in Erwägung gezogen hat, wäre eine Zuordnung zu einem Träger tatsächlich ein noch abwegigerer Interpretationsan­ satz. Vgl. Derrida, Restitution de la vérité en peinture, 429. 71  „Plusieurs tableaux seraient venus composer le modèle imaginaire de Heidegger.“ Derrida, Restitution de la vérité en peinture, 350. 72  Vgl. Hendriks/von Tilborgh (Hrsg.), „73 Shoes“, 260. 73  Vgl. Mark Roskill, Van Gogh, Gauguin and the Impressionist Circle, Greenwich (Connecticut) 1970, 235. 74  So wird beispielsweise in der Ausstellung in der Kunsthalle Basel vom März bis Ap­ ril 1924 das Bild in die flämische Zeit eingeordnet. Vgl. Kunsthalle Basel (Hrsg.), Vincent

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

tere Datierung des Bilds heute gesichert: Unter den ‚Schuhen‘ findet sich eine übermalte Häuser-Ansicht, die höchst wahrscheinlich einem Blick aus der Pari­ ser Wohnung (25, rue Laval) entspricht, in der Vincent van Gogh zusammen mit seinem Bruder T heo bis Juni 1886 wohnte. 75 Was in den Beiträgen zur Kontoverse immer wieder übersehen wird, ist, dass Heidegger, entgegen der brieflichen Auskunft, die er Schapiro 1960 gegeben hat, das Stillleben im März 1930 nicht gesehen hat.76 Er konnte es zu diesem Zeit­ punkt gar nicht sehen. Denn das Bild war 1930 nachweislich nur von September bis November ausgestellt.77 Es ist daher anzunehmen, dass sich Heidegger in seinem Antwortschreiben auf Schapiro geirrt hat. Aus dem Briefwechsel Hei­ deggers mit seiner Frau Elfriede lässt sich rekonstruieren, dass Heidegger das Bild im August 1931 in der neu eingerichteten Dauerausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam gesehen haben könnte, von dessen Besuch er mit Begeis­ van Gogh, Basel 1924. Ebenso im Katalog zur Ausstellung Vincent van Gogh, 1853-1890, Stuttgart, Württembergischer Kunstverein, Oktober bis November 1924. Hier ist das Bild das erste im chronologisch geordneten Katalog und mit 1884 datiert. Zu der Zeit als Meyer Schapiro seine Kritik an Heideggers Interpretation formuliert, ist die Zuordnung unter Kunsthistorikern noch umstritten, was sich in Kommentaren wie dem folgenden nieder­ schlägt: „But the colours suggest Nuenen, later 1885, as does the evident symbolism of the subject matter – the choice of worn and empty boots offers an obvious parallel with the birds’ nests.“ Vgl. Hayward Gallery (Hrsg.), Vincent van Gogh, London 1968, 50. Selbst nach der Kontroverse zwischen Schapiro und Derrida wird das Bild mitunter noch irrtüm­ lich in die flämische Zeit eingeordnet. Vgl. den Katalog Mary Anne Stevens u.a. (Hrsg.), Emile Bernard 1868–1941. Ein Wegbereiter der Moderne, Städtische Kunsthalle Mannheim und Rijksmuseum Amsterdam, Zwolle 1990, 383. Demgegenüber ist im ersten Katalog zu van Goghs Gesamtwerk das Bild richtig eingeordnet. Vgl. Jacob B. de la Faille, L’oeuvre de Vincent Van Gogh. Catalogue Raisonée, Paris/Brüssel 1928, Band 1, 75. Dem entsprechen auch die Einordnung des Bilds bei den Ausstellungen im Stedelijk Museum Amsterdam von September bis November 1930 sowie der 1931 am selben Ort eröffneten Dauerausstel­ lung. Vgl Krüller-Möller Stichting (Hrsg.) Beknopte Catalogus, Vincent van Gogh en zijn Tijdgenoten, Stedelijk Museum, Amsterdam 1930, 19 sowie W. Steenhoff (Hrsg.), Vincent van Gogh, Stedelijk Museum Amsterdam, Amsterdam 1931, 28. In letztem Katalog trägt das Bild noch den Titel “Oude Rijgschoenen”, was so viel wie „Alte Schnürschuhe“ bedeu­ tet. Der heute gebräuchliche Name „Schuhe“ („Schoenen“) geht auf den 1973 veröffentlich­ ten Katalog des im selben Jahr eröffneten Van Gogh Museums Amsterdam zurück. Vgl. Ella Hendriks/Muriel Geldof, „F 255 A pair of shoes“, Art Matters: Netherlands. Technical Studies in Art 2 (2005), 39–74, hier 40. Für eine Auflistung der Ausstellungen, in denen die „Schuhe“ nachweislich zu sehen waren vgl. Van Gogh, Paintings, Band 2, 73 Shoes, 263. 75  Vgl. Ella Hendriks/Louis von Tilborgh (Hrsg.), „73 Shoes”, 259–260. 76  Die falsche Angabe, die aus den Artikeln von Meyer Schapiro immer wieder abge­ schrieben wird, findet sich etwa bei Otto Pöggeler, Bild und Technik. Heidegger, Klee und die moderne Kunst, Fink, Paderborn, 2002 167–168. Sie findet sich aber erstaunlicher Weise sogar in solchen Beiträgen, die explizit nach dem „Ort“ der Schuhe und der geographischen Ausbreitung der Kontroverse fragen. Vgl. Katherine Chandler, Where are the Shoes? in: Vincent everywhere, Van Gogh’s (Inter)National Identities, Hrsg. Rachel Esner/Margaret Schavemaker, Amsterdam University Press, Amsterdam, 2010, 63–74. 77  Vgl. Ella Hendriks/ von Tilborgh (Hrsg.), „73 Shoes“, 263.

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terung berichtet.78 Leider ist eine Rekonstruktion der Hängung der Ausstellung, die Heidegger besucht hat, aufgrund der spärlichen Dokumente aus dieser Zeit nicht möglich. Man sieht auf den frühesten Photographien der Dauerausstellung jedoch, dass die Exponate chronologisch angeordnet waren.79 Da Schuhe zu den ersten Bildern gehört, die van Gogh in Paris gemalt hat, ist es also recht wahr­ scheinlich, dass es in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Bildern aus Nuenen hing.80 Berücksichtigt man diese Umstände, erscheint Heideggers Verwechslung der Arbeiterschuhe mit den Schuhen einer Bäuerin also weniger willkürlich, als es in der Forschungsdebatte mitunter dargestellt wird. Zudem wird die von Der­ rida geäußerte Vermutung, dass in Heideggers Interpretation des Bildes Erinne­ rungen an andere Werke van Goghs verschmelzen, durch die historischen An­ haltspunkte gestützt. Diese Umstände tun der Argumentation Heideggers jedoch keinen Abbruch. Es geht ihm weder um die kunstgeschichtliche Einordnung, noch ist für den Werkbegriff die Evokation der bäuerlichen Lebenswelt entscheidend. Die „Müh­ sal der Feldarbeit“, die „Zähigkeit des langsamen Ganges“, der „feuchte und satte Ackerboden“ – all diese Assoziationen erzeugen zwar das stimmungsvolle Bild eines genügsamen Landlebens, für das Heidegger eine biografisch bedingte Affinität gehabt haben mag.81 Dieses rustikale Idyll wird dem Leser aber nur exemplarisch vor Augen geführt, um zu zeigen, wie sich ein Paar Schuhe in ei­ ner bestimmten Umgebung bewährt. Entscheidend ist, dass die „Dienlichkeit“ der Schuhe deutlich wird, der Bezug zum Alltag des Trägers, der aber nicht nur durch das jeweilige Dasein des Trägers ermöglicht wird, sondern durch die ma­ terielle Beständigkeit der Schuhe. Die „Dienlichkeit“ beruht in der „Verläßlich­ keit“ des Zeugs.82 Dieser Zusammenhang ist für Heideggers Verständnis des Zeugseins hier entscheidend.83 Dass Gebrauchsgegenstände, die in ihrer Funktion selbstverständlich gewor­ den sind, unauffällig sind, wurde bereits in der Zeuganalyse in Sein und Zeit herausgestellt. Die „Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit“ von feh­ lenden oder beschädigten Gebrauchsgegenständen,84 die in Sein und Zeit eine entscheidende Funktion besitzt, steht im Kunstwerkaufsatz aber nicht mehr im Vordergrund. Hier ist es ein Werk, das dem Betrachter aufzeigt, dass ein Ding 78  Vgl. Gertrud Heidegger (Hrsg.), „Mein liebes Seelchen“, Briefe Heideggers an seine Frau Elfriede, 1915–1970, München 2005, Brief vom 17. August 1931, 169. 79  Vgl. Stedelijk Museum Amsterdam, Reproduction Department, 1934–gogh-C9743. 80  Wie zum Beispiel Die Kartoffelesser (1885), Öl auf Leinen, 82,0 x 114,0 cm, Van Gogh Museum, Amsterdam, Vincent van Gogh Stichting (F 82, JH 764) oder Frauenkopf (1885), Öl auf Leinen, 42,7 x 33,5 cm, Van Gogh Museum, Amsterdam, Vincent van Gogh Stichting (F 130, JH 692). 81 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 19. 82 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 19. 83 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 19. 84 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 73–74.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

nur dienlich sein kann, weil man sich darauf verlässt. Damit ist aber nicht nur eine Erkenntnis über einen bestimmten Gegenstand gewonnen, sondern zu­ gleich eine Grundstruktur von Zeugsein überhaupt. Diese Struktur beinhaltet implizit auch ein bestimmtes Verständnis der Beziehung, in der Menschen zu den Dingen in der Welt stehen. Heidegger geht es bei der Interpretation von van Goghs Stillleben um nicht weniger als diesen Zusammenhang. Ausgehend von den schlichten „Schuhen“ erwägt er, dass es die „Verlässlichkeit“ des Zeuges ist, die es dem Dasein ermöglicht, seiner Welt „gewiß“ zu sein.85 Diese Gewissheit gehört nicht nur zum Landleben, sondern in das Leben aller Menschen, die sich im Alltag auf Gebrauchsgegenstände verlassen. Heidegger hat mit van Goghs Schuhe ein Beispiel herangezogen, dessen Sujet seinen theoretischen Überle­ gungen offenkundig entgegenkommt. Die meisten Menschen tragen im Alltag Schuhe. Schuhe verleihen dem Gang Sicherheit und schützen vor Schmutz, Kälte und Verletzungen. Die direkte Berührung mit der Erde wird vermieden, zugleich ist die Schuhsohle wie eine zweite Fußsohle und verbindet den Träger mit dem Boden.86 Die Interpretation von van Goghs Bild zeigt, dass Heideggers Verständnis von Zeug sich seit Sein und Zeit gewandelt hat. Die Bestimmung der Verlässlichkeit verändert das Verständnis der zuhandenen Dinge. Sie werden nicht mehr nur von der Bedeutung für das Dasein, sondern vor allem von ihrer materiellen Be­ ständigkeit her begriffen. Zudem kommt mit den Schuhen en passant ein stabiler Boden und Bezugspunkt ins Spiel, der im weiteren Verlauf des Textes eine zen­ trale Rolle spielt: die Erde. Heidegger schreibt das durch die Erde modifizierte Verständnis von Zeug der Wirkung des Kunstwerks zu. Tatsächlich gehört es zur Wirkung eines Bildes wie diesem, dass es die Aufmerksamkeit für einfache, viel gebrauchte und abgenutzte Gegenstände in der Umwelt schärft. Ob van G ­ oghs Werk Heideggers Denken tatsächlich inspiriert hat, oder es sich hier um eine re­ trospektiv überhöhende Darstellung einer Kunsterfahrung handelt, sei dahin­ gestellt. Wichtiger ist für Heideggers Werkbegriff, wie er die Wirkung des Still­ lebens beschreibt: „In der Nähe des Bildes sind wir jäh anderswo gewesen als wir gewöhnlich zu sein pflegen.“87 Das Werk versetzt den Betrachter an einen Ort, an dem Dinge erkannt werden, die vorher unbemerkt bleiben. Für Heideg­ ger ist van Goghs Bild ein Beispiel dafür, wie das Zeugsein des Zeugs sichtbar werden kann. Das Bild selbst habe „gesprochen“.88 Es bleibt dabei jedoch streng 85 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 20. Vgl. Derrida, Restitution de la vérité en peinture, 401. 87 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 21. 88 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 21. Derrida kommentiert diesen Ausdruck Heideggers kritisch. Es seien nicht die Schuhe, sondern die Interpreten, die sprä­ chen. Die Schuhe widersetzten sich im Eigensinn der malerischen Darstellung aber einer abschließenden Übersetzung in Worte. Über Interpreten, die derart „selbstbewußt“ seien, dass sie diese Grenze vergessen, „lachen“ die Schuhe: „Devant une démarche aussi sûre 86 

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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genommen ungeklärt, wie ein Ding überhaupt ist. Der Versuch, den Werkbegriff vom Dingbegriff her zu klären, ist mit der Interpretation von van Goghs Still­ leben nicht zu Ende geführt. Stattdessen wird der in Sein und Zeit vorgeprägte Zeugbegriff vertieft, ohne dass jedoch das Verhältnis dieses Begriffs zu Ding und Werk genauer bestimmt wird. Diese Abgrenzung wird auch im weiteren Verlauf des Textes nicht abgeschlossen. Dafür hat Heidegger durch die Bildinterpreta­ tion einen neuen Ansatzpunkt für die Bestimmung des Werkseins gefunden. Ein Kunstwerk ist ein Gegenstand, in dem sich ein Wahrheitsgeschehen vollzieht: „Im Werk ist, wenn hier eine Eröffnung des Seienden geschieht in das, was und wie es ist, ein Geschehen der Wahrheit am Werk.“89 Dieser Gedanke lenkt die Erörterung des Werkseins in eine neue Richtung. 1.2.4. Nochmal van Gogh: Stuhl, Tabakpfeife, Kornfeld Der Übergang von der Dingtheorie zur Wahrheit geschieht im Kunstwerkaufsatz recht unvermittelt und schneller, als es nötig wäre. Denn prinzipiell spricht von Heideggers Ansatz her nichts dagegen, dass ein Bild nicht nur zeigt, was Zeug ist, sondern auch was ein Ding überhaupt ist. Ansätze zu einer derartigen Deutungs­ möglichkeit von Kunstwerken finden sich in Heideggers Vorlesung Die Frage nach dem Ding aus dem Wintersemester 1934/35. Heidegger kontrastiert dort in seiner Auseinandersetzung mit der kantischen Transzendentalphilosophie die mathematisch-physikalische Bestimmung eines Körpers mit der ursprünglichen Präsenz der Dinge, wie sie in der Kunst erscheine: „Der mathematische Ansatz des Dinges als des ausgedehnten Beweglichen in Raum und Zeit hat zur Folge, dass das umgänglich alltäglich Gegebene als bloßes Material aufgefaßt und in die Mannigfaltigkeit der Empfindungen aufgesplittert wird.“ 90 Die mathema­ tische Betrachtungsweise verdecke den Bereich, „in dem wir uns unmittelbar heimisch wissen, [den Bereich] der Dinge, wie sie uns der Maler zeigt: der ein­ fache Stuhl mit der eben hingelegten oder liegengelassenen Tabakpfeife bei van Gogh.“91 Wodurch diese „Einfachheit“ in der künstlerischen Darstellung – die bemerkenswerterweise wieder van Gogh zugestanden wird –92 erreicht werden kann und worin genau sie besteht, bleibt jedoch unklar. Heidegger betont allerdings einen Aspekt, der eine entscheidende Rolle spielt: die Farbe. Sie wird hier als eine Qualität gedacht, die sich der naturwissenschaft­ d’elle-même, indémontablement, la chose, paire ou pas, rit.“ Derrida, Restitution de la vérité en peinture, 298. 89 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 21. 90 Heidegger, Die Frage nach dem Ding, GA 41, 213–214. 91 Heidegger, Die Frage nach dem Ding, GA 41, 214. 92  Heidegger spielt auf das berühmte in Arles entstandene Bild van Goghs Van Goghs Stuhl an. Vgl. Vincent van Gogh, Van Goghs Stuhl (1888), Öl auf Leinen, 91,8 x 73,0 cm, Na­ tional Gallery, London (F 498).

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

lichen Erforschung entzieht. Die Farbe ist nichts Abstraktes, keine Wellenlänge, kein neuronales Aktivitätsmuster, sondern gehört zum Wesen der Dinge. Dass sich Ding und Farbe nicht trennen lassen, kann in der Malerei sichtbar werden: „Die Dingfarbe gehört zum Ding. Sie gibt sich uns auch nicht als Ursache eines Zustands in uns. Die Dingfarbe selbst, z.B. das Gelb, ist nur dieses Gelb als zuge­ hörig zum Kornfeld. Die Farbe und ihre leuchtende Farbigkeit bestimmen sich jeweils aus der ursprünglichen Einheit und Art des farbigen Dinges selbst.“93 Die Farbe des Kornfelds, auch hier kann wieder an van Gogh gedacht werden,94 be­ sitzt für die Feldarbeit keine unmittelbare Bedeutung. Die Bewirtschaftung des Felds, das Pflügen, Säen, Ernten und Dreschen könnte, rein technisch betrach­ tet, unabhängig davon ablaufen, dass das Feld zu einem bestimmten Zeitpunkt gelb ist. Die Farbe einer konkreten Landschaft zeige sich nicht im besorgenden Umgang, sondern vielmehr in der Betrachtung seiner „puren Vorhandenheit“.95 Diese pure Vorhandenheit, die Heidegger in Sein und Zeit noch als einen defi­ zienten Modus der Zuhandenheit bestimmt,96 ist durch die naturwissenschaft­ liche Beschreibung des Felds nicht zu erfassen. Der Wissenschaft bleibt „die Na­ tur, als das was ‚webt und strebt‘, uns überfällt, als Landschaft gefangen nimmt, verborgen.“97 Die lebendige Natur wirkt überwältigend auf den Betrachter. Heidegger deu­ tet mit der Rede vom ‚Überfallen‘ eine Erfahrung des Erhabenen an. Diese Er­ fahrung wird mit Anleihen aus der Dichtung ausgedrückt, und sei es auch nur mit der Formel vom ‚Weben und Streben‘. Für die Erfahrung des Naturhaften wird bereits in Sein und Zeit auf die dichterische Sprache Bezug genommen: „Die Pflanzen des Botanikers sind nicht ‚Blumen am Rain‘, das geografische Entsprin­ gen eines Flusses ist nicht die ‚Quelle im Grund‘.“98 Es handelt sich an dieser Stelle um nicht mehr als beiläufig erwähnte, stereotype Wendungen. Anspruchs­ volle Beispiele finden sich in Sein und Zeit deshalb nicht, weil Heidegger noch die Begriffe fehlen, um die Präsenz naturhafter Dinge zu beschreiben. Dass die Farbe eines Dings als ein Aspekt seiner puren Vorhandenheit mehr ist als ein defizienter Modus der Zuhandenheit, wird erst aus dem Kontext seiner Kunst­ philosophie verständlich.

93 Heidegger,

Die Frage nach dem Ding, GA 41, 213. prominent ist die Serie der Weizenfeld-Bilder, die 1889 in St. Rémy ent­ standen ist, sowie das ein Jahr später in Auvers entstandene Bild Weizenfeld mit Krähen, das eines der letzten Bilder des Malers überhaupt war. Vgl. Vincent van Gogh, Weizenfeld mit Krähen (1890), Öl auf Leinwand, 50.5 x103,0 cm, Van Gogh Museum Amsterdam, Vincent van Gogh Stichting, (F 779). 95 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 95. 96  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 88. 97 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 95. 98 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 95. 94  Besonders

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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1.2.5. Der römische Brunnen von Conrad Ferdinand Meyer Zu der puren Vorhandenheit der Dinge gehört auch die Erfahrung einer spezi­ fischen Ruhe. So wird im Fall von van Goghs Bildern die alltägliche Vertraut­ heit des liegengelassenen Zeugs betont.99 Schuhe, Tabakpfeife oder leerer Stuhl werden in den Bildern in ihrer Einfachheit gezeigt und kommen so nicht nur als Zeug, sondern auch als bloße Dinge in den Blick. Heidegger unterscheidet jedoch die Präsenz dieser Dinge von der elementaren Ruhe, die den Dingen in der Natur zukommt: „Das Zeug, z.B. das Schuhzeug, ruht als fertiges auch in sich wie das bloße Ding, aber es hat nicht wie der Granitblock jenes Eigenwüchsige.“100 Das Eigenwüchsige, Elementare gehört allein den natürlichen Dingen. Einem Kunst­ werk kommt diese Art des In-sich-Ruhens wiederum nur mittelbar zu. Es ist in seiner Materialität, durch den Einbezug der Natur präsent. In dieser Hinsicht ist die von Heidegger vollständig zitierte, aber nur spärlich kommentierte Elegie Conrad Ferdinand Meyers Der römische Brunnen besonders instruktiv. Auch hier ist ein Ding das Sujet des Kunstwerks. Heidegger besteht allerdings darauf, dass für das Verständnis des Gedichts nicht der Nachvollzug des Darstellungs­ vorgangs entscheidend ist. Es komme nicht darauf an, dass etwas mit Worten „abgemalt“ worden sei.101 Das Gedicht wird im Kunstwerkaufsatz also zu einer Abgrenzung von mimetischen Kunstkonzeptionen verwendet. Es sei nicht aus dem Verhältnis zu einem Vorbild heraus zu verstehen, vielmehr sei die Wahrheit selbst „ins Werk gesetzt“. 102 Worin die Wahrheit des Gedichts genauer besteht, erklärt Heidegger jedoch nicht.103 Diese Frage lässt sich im Ausgang vom letzten Vers des Gedichts klären. Dort heißt es, dass der Wasserstrahl des Brunnens „strömt und ruht“.104 Es ist diese Verbindung von Ruhe und Bewegung, die das durch das Gedicht evozierte Bild des Brunnens für die Rekonstruktion von Heideggers Werkbegriff relevant er­  99 

Vgl. Heidegger, Die Frage nach dem Ding, GA 41, 214. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 13. 101 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 23. 102 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 23. 103  In der Übung für Anfänger über Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, die Heidegger im Sommersemester 1936/37 geleitet hat, findet sich eine ausführ­ liche Interpretation des Gedichts von C.F. Meyer. Heidegger versucht dort zu zeigen, dass man Schillers Begriffe von Schönheit und Form an einem konkreten Beispiel ausweisen kann. Die Interpretation ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, nicht zuletzt weil Heideg­ ger sich in einer für ihn unüblichen Weise auf formale Eigenschaften der Dichtung wie Vo­ kal-Qualitäten und Reimschemata einlässt. Die Einbettung in den Seminar-Kontext führt jedoch dazu, dass die in den Schiller-Protokollen dokumentierte Interpretation nicht ohne weiteres für das Verständnis von Heideggers Gedankengang im Kunstwerkaufsatz frucht­ bar gemacht werden kann. Sie dient vorrangig dem vertieften Verständnis Schillers und kann daher nicht als Ersatz für die fehlende Interpretation im Kunstwerkaufsatz verwendet werden. Vgl. Martin Heidegger, Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Marbach am Neckar 2005, 75–79 und 84–92. 104 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 23. 100 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

scheinen lässt. Die Ruhe in der Bewegung ist für Heidegger auch deshalb ein entscheidendes Moment, weil er es in seiner Interpretation der aristotelischen Physik herausarbeitet, um den Begriff der ἐντελέχεια zu klären.105 In der Kunst wird für Heidegger somit ein Zusammenhang präsent, der für die Ontologie von zentraler Bedeutung ist. Durch das Gedicht wird zugleich sichtbar und hörbar, auf welche Weise ein Brunnen ein Kunstwerk sein kann. Das Gedicht ist nicht nur selbst ein Kunstwerk, sondern es erzeugt ein Bild eines Kunstwerks. Die Bildlichkeit des Sujets führt aber nicht zwangsläufig dazu, dass das Gedicht als mimetisches Kunstwerk im engeren Sinne interpretiert werden muss. Der evo­ zierte Brunnen kann mit Heidegger deshalb als Kunstwerk gelten, weil er in sich ruht und in diesem Zustand der Bewegung des Wassers eine konstante Richtung gibt. Die Anordnung der Marmorschalen ermöglicht, dass das beständige Flie­ ßen des Wassers hervortritt. In der „Flut“ zeigt sich eine gesteigerte Ruhe. Sie ist es, die den gedichteten Brunnen im Sinne Heideggers in seiner „puren Vorhan­ denheit“ auszeichnet. Die dichterische Evokation des römischen Brunnens ist demnach mehr als bloße Darstellung, sie erlaubt gleichsam den Einblick in eine Art ursprünglicher Präsenz des Bauwerks. Zudem steht der Brunnen in seiner Materialität in einem besonderen Verhältnis zur Natur. Es sollte durch die skizzierte Interpretation allerdings nicht der Eindruck ent­ stehen, dass sich das Sujet des Gedichts von der konkreten dichterischen Gestal­ tung lösen ließe. Der Rhythmus der Verse verbindet sich mit der Evokation des architektonischen Kunstwerks derart, dass sich die sprachliche und die bildliche Ebene des Gedichts nicht mehr voneinander trennen lassen. Der Brunnen exis­ tiert nicht außerhalb des Gedichts. Hier leuchtet Heideggers Kritik an mimeti­ schen Kunstauffassungen unmittelbar ein. Dass es für den Brunnen ein reales Vorbild gibt,106 ist für seinen Werkcharakter unerheblich. Der Sinn von Meyers Elegie erschließt sich vielmehr in der inneren Dynamik des evozierten Bildes. Die dichterische Beschreibung überhöht hier kein konkretes Vorbild, sondern zeigt die Möglichkeiten von Kunst an einem architektonischen Beispiel, das aber nur durch das Gedicht zugänglich ist. Die Präsenz des Brunnens, seine pure Vor­ handenheit, kann daher nicht allein durch den Naturbezug erklärt werden, son­ dern ist zugleich auf das Wahrheitsgeschehen der Kunst angewiesen. Es handelt sich also um zwei ontologisch gleichrangige Bereiche, die allein in ihrer Ver­ schränkung erfahrbar werden. Die Verschränkung von Kunst und Natur betrifft hier sowohl Werk als auch Ding. Die Entwicklung des Werkbegriffs erfordert demnach nicht nur ein ge­ naueres Verständnis des Dinghaften, sondern umgekehrt scheint auch der Ding­ begriff von einer Auffassung des Wahrheitsgeschehens in der Kunst abhängig. 105 

Vgl. Heidegger, Vom Wesen und Ursprung der Φύσις, GA 9, 284–286. Ferdinand Meyer beschreibt in dem Gedicht einen Brunnen im Park der Villa Borghese in Rom. Vgl. Heinrich Kraeger, Conrad Ferdinand Meyer, Berlin 1901, 206. 106  Conrad

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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Meyers Elegie zeigt eine gemeinsame Eigenschaft von Kunstwerken und Din­ gen.107 Sie sind beide durch die Bewegung des „In-sich-ruhens“ ausgezeichnet, das sich vom bloßen „Fertigsein“ des Zeugs unterscheidet.108 Dieser Zustand wird durch die Eigenwüchsigkeit aller natürlichen Dinge ermöglicht, jedoch nicht im unmittelbaren Umgang mit der Natur erfahren. Erst durch die Werke der Kunst ist es möglich, diesen Zustand als solchen zu erkennen. Im sprachlich evozierten Bild des Brunnens wird sichtbar, dass das Phänomen des ‚In-sichRuhens‘ erst aus der doppelten Bewegung – von der Natur zu Kunst und von der Kunst zur Natur – entsteht. Die veranschaulichte Differenzierung des In-sichRuhens trägt so zur Unterscheidung von Ding, Werk und Zeug bei, zeigt aber auch die wechselseitige Bezogenheit ihrer Gegebenheitsweisen aufeinander. In Anbetracht von Meyers Elegie erscheint das Verhältnis dieser verschiedenen Be­ reiche des Seienden daher noch komplexer als zuvor. 1.2.6. Dürers Feldhase In dem noch unveröffentlichten Seminar zu Kants Kritik der Urteilskraft im Wintersemester 1935/36 hat Heidegger, wie der Herausgeber der Schiller-Semi­ nare dokumentiert,109 Dürers Zeichnung Feldhase interpretiert.110 Der Kunst­ historiker Werner Körte, der an dem Seminar teilgenommen hatte, hielt im Jahr darauf im Schiller-Seminar einen kunsthistorischen Vortrag, der die Bedeutung und die Ausnahmestellung des Bilds aus Sicht der Kunstgeschichte beschreibt. Der Vortrag ist eines der frühesten Zeugnisse dafür, wie Heideggers Kunst­ philosophie in angrenzenden Disziplinen fruchtbar gemacht worden ist. Körte übernimmt Heideggers Kritik an der Zersplitterung der universitären Forschung und kritisiert die Ratlosigkeit seiner Kollegen gegenüber der Frage nach „Wesen und Gehalt“ von Kunstwerken, was ihn jedoch weder dazu führt, die Methodik des eigenen Fachs zu vernachlässigen, noch die Unterschiede zwischen Kunst­ geschichte und Philosophie aufheben zu wollen.111 Heideggers einleitende und ergänzende Kommentare zum Vortrag lassen wiederum die Grundlinie seiner 107  Dass diese Verallgemeinerung Heideggers Verständnis der Elegie nahe kommt, lässt sich durch eine Stelle aus den Protokollen zum Schiller-Seminar belegen: „In dem Sagen des Gedichtes, in dem Gesagten, wird nicht ein Brunnen, ein Seiendes, in irgendeiner Form abgemalt, sondern es wird das Brunnen-Sein gesagt; und zwar wird es gesagt, nicht um zu sagen, was ein Brunnen ist, sondern: in dem Brunnensein selbst wird zum Vorschein gebracht das Sein der strömenden Ruhe und des ruhenden Stromes, als das Sein nicht nur eines Brunnens sondern alles Seienden.“ Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 114. 108 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 52. 109 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 170. 110  Albrecht Dürer, Feldhase (1502), Aquarell, Deckfarben, mit Deckweiß gehöht, Al­ bertina Wien (3073). 111  Vgl. Werner Körte, „Albrecht Dürer. ‚Der Hase‘ (1502)“, in: Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 151–168, hier 151.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

eigenen Interpretation des Bilds erkennen und sind auch für das Verhältnis von Ding- und Werkbegriff von Interesse. Dürers Aquarell bietet ein Sujet, das unter den bisherigen Beispielen noch nicht aufgetaucht ist. Es zeigt ein Tier. Es handelt sich dabei um einen jungen Feldhasen, der auf einem getuschten Grund aus Grau und Hellbraun sitzt. Die Genauigkeit der Proportion und die Feinheit des Fells sind beeindruckend, der Hase wirkt lebendig. Es stellt sich also auch hier die Frage, ob eine mimetische Kunstauffassung dem Werk gerecht werden kann. Dafür spricht das Selbstver­ ständnis Dürers, der die Natur in seinem Traktat Vier Bücher der menschlichen Proportion ausdrücklich als Vorbild benennt: „Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.“112 Heidegger zitiert die­ sen Satz im Kunstwerkaufsatz, interpretiert ihn jedoch um, wie später noch ge­ nauer gezeigt wird.113 Er versteht das Herausreißen als einen Schaffensprozess, der zwar nicht unabhängig von der Natur geschehen kann, aber nicht in die­ ser allein begründet ist. Denn was der Natur entnommen werden könne, wäre ohne die Kunst gar nicht in dieser präsent. Der „Streit von Maß und Unmaß“, die regelmäßige Unregelmäßigkeit der Natur ist nur durch die Werke der Kunst zugänglich.114 Kunst und Natur bilden für Heidegger daher eine „differentielle Einheit“, eine Einheit, die für das Verständnis des Ganzen des Seienden leitend ist, ohne die auch die Tätigkeit des Künstlers nicht angemessen beschrieben wer­ den kann.115 Dass die Kunst keine mimetische Praxis ist, wird für Heidegger an der Le­ bendigkeit von Dürers Feldhasen sichtbar. Lebendigkeit könne nicht durch die Genauigkeit der Darstellung erklärt werden, weder durch die technischen Fer­ tigkeiten des Malers noch durch die Orientierung an einem realen Vorbild. Es kommt für Heidegger vielmehr auf die Vereinzelung des Hasen an. Dadurch, dass der Hase – ähnlich wie van Goghs Schuhe – unabhängig von einer kon­ kreten Umgebung erscheint, wird der Blick auf das Wesentliche gelenkt. Zen­ tral ist für Heidegger hier die Kategorie des Singularen: „Bei Dürer ist ein Hase, ein ganz einziger Hase dargestellt, ein Einmaliges, Dieses.“116 Diese Singularität entsteht nicht aus dem Detailreichtum des Aquarells, sondern ist eine Intensi­ vierung des Sichtbaren: Das Singulare ist nicht „das in Einzelheiten Genaue“, sondern das Einmalige, in ihm liegt eine Art „Steigerung der Wirklichkeit“.117 Der Hase erscheint ‚wirklicher‘ als dies von einer konventionellen Darstellung zu 112  Albrecht Dürer, Vier Bücher von menschlicher Proportion, in: ders., Das Gesamtwerk, hrsg. von Mark Lehmstedt, Digitale Bibliothek, Band 28, Berlin 2000, 1205–1608, hier 1326. 113  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 58. 114 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 58. 115  Vgl. David Espinet, „Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde“, in: Espinet/ Keiling (Hrsg.), Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frank­ furt am Main 2011, 46–65, hier 47. 116 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 95. 117 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 99.

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erwarten wäre. Dürers Aquarell ist demnach nicht deshalb interessant, weil der dargestellte Hase ganz bestimmte Eigenschaften hätte, die ihn von anderen Art­ genossen unterscheiden. Es handelt sich auch nicht um den Archetypus irgend­ einer Art. Es ist vielmehr die Fokussierung des Aquarells auf das einzelne Tier, die hier von Belang ist. In dieser Fokussierung zeigt sich ein Wesensmerkmal tierischen Lebens überhaupt, das sich jeder objektivierenden Bestimmung der biologischen Spezies entzieht.118 Denn auch der Hase besitzt, wie aus der Analo­ gie zum menschlichen Dasein heraus gesagt werden kann, ein Selbst und ist in seinem Selbst zugleich auf eine Welt bezogen.119 Die Interpretation von Dürers Hasen ist daher auch für Heideggers Bestim­ mung des Tierseins von Relevanz.120 Denn dadurch, dass der Hase lebendig wirkt, ist auch das präsent, was in dem Bild nicht zu sehen ist: die Welt des Ha­ sen. Dürers Hase sitzt ruhig und unbedrängt, die Augen sind starr. Es besteht keine Blickverbindung zum Betrachter. Der Hase erscheint als etwas „Geschlos­ senes“.121 Zugleich gehört es zur Wirkung der Lebendigkeit, dass der Betrachter glaubt, dass sich der Hase bewegen könnte: „Man sieht, daß er jederzeit aufsprin­ gen kann.“122 Ein konkreter Bewegungsimpuls ist am Bild nicht festzustellen, aber es gehört zum Einblick in das singuläre Tiersein, dass sich die Assoziation einer Bewegung des Hasen einstellen kann. Denn dass der Hase lebendig ist, bedeutet, dass er seine Umwelt wahrnimmt und sich in ihr bewegen kann. „Das Lebendige ist gerade dieses: das In-sich-beschlossen-sein im Über-sich-­hinausgehen.“123 Auch wenn der Betrachter von Dürers Bild nicht erfährt, wie es sich ‚anfühlt‘, ein Hase zu sein, so gewinnt er doch einen Einblick in die „Hasen­ welt“.124 Diese Welt eines Tieres ist aber nicht mit dem natürlichen Habitat sei­ ner Spezies gleichzusetzen, sie ist vielmehr der konkrete „Umkreis der Nahrung 118  Diese Fokussierung ist eine bestimmte Darstellungsart. Das Bild könnte daher auch als mimetisch interpretiert werden, sofern Mimesis nicht als schematische Darstellung, sondern als künstlerische Darstellung verstanden wird. So fragt auch John Sallis nach der Möglichkeit, Heideggers Auffassung von Dichtung von der Mimesis her zu interpretieren: „Can Heidegger’s poetics carry on the name mimesis? Can one hear an echo of mimesis rebounding from that limit that marks the end of metaphysics and of aesthetics?“ Vgl. John Sallis, Echoes, Bloomington 1990, 170. Heideggers kategorische Kritik am Modell der Mi­ mesis verbietet es ihm, Darstellungsverhältnisse als solche herauszuarbeiten und zu analy­ sieren. An Beispielen wie Dürers Feldhase wird jedoch deutlich, dass auch das Herausstellen des Singularen im Kunstwerk, nicht ohne eine spezifische Darstellungsart erreicht werden kann. 119 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 108. 120  Heidegger hat sich in der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik aus dem Win­ tersemester 1929/1930 ausführlich mit dem Weltbezug der Tiere auseinandergesetzt. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, Klostermann, GA 29/30, 261–398. 121 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 100. 122 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 109. 123 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 100. 124 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 100.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

und der Gefahr“.125 Dass Tiere vereinzelte Wesen, singuläre Seiende sind, ist die Einsicht, die den Begriff der Welt eines Tieres von dem des Habitats unterschei­ det. Aus diesem Grund kann Heidegger der künstlerischen Darstellung gegen­ über der naturwissenschaftlichen Erforschung einen philosophisch begründeten Vorrang einräumen: „Wenn unsere Naturwissenschaft so wäre, wie Dürers Hase gemalt ist, dann wäre es gut.“126 Einen Begriff wie ‚künstlerische Darstellung‘ kann Heidegger in diesem Zusammenhang freilich selbst nicht gebrauchen, da das hohe Maß an philo­ sophischer Relevanz, das er Dürers Aquarell zuspricht, sich ausdrücklich mit der Kritik an der mimetischen Kunstauffassung verbindet. Im Kunstwerkauf­ satz übersteigt der Geltungsbereich eines Werks als dem Ins-Werken-Setzen der Wahrheit die bloße Entsprechung von Darstellung und Darzustellendem. Dem­ entsprechend ist für Heidegger in Dürers Bild auch nicht nur eine bestimmte Einsicht in das Wesen des Tierseins ausgedrückt: „im Hasen ist gezeigt das Tier­ sein. Sein läßt sich aber eigentlich nicht abmalen – sondern es ist (nicht wieder­ gegeben) sondern erstellt (nicht dargestellt). Erstellung des Seins.“127 Die Präsenz des Tierseins in einem Kunstwerk ist demnach nicht als Ausdruck einer bereits verfügbaren Erkenntnis, sondern als ein deiktischer Prozess zu verstehen: „im Hasen (wird) das Hasesein (gemalt).“128 Dieser Prozess ist mit der Fertigstellung des Bilds nicht zu Ende, sondern gewinnt in dem bewahrten Werk seine eigene Dauer. Weil es sich dabei um ein Wahrheitsgeschehen handelt, wendet sich Hei­ degger gegen die Vorstellung, dass der Sinn von Dürers Bild darin bestünde, dass ein Betrachter „unmittelbar“ daran Gefallen fände. Es sei eine „Entwürdi­ gung des Werkes“, wenn der Betrachter davon ausgehe, dass das Kunstwerk ein bloßes Ding sei, dem er „unvermittelt“ gegenüberstehe.129 Das Wesen des Werks ist nicht auf seine materielle Vorhandenheit beschränkt, ebenso wie der Mensch kein „Ding [ist], das bei seiner Haut aufhört“. 130 Auch der gemalte Hase ist kein bloßes Ding. Das Verhältnis von Bild, Sujet und Betrachter lässt sich nach Hei­ degger also nur als ein vermitteltes denken. Zu dieser Vermittlung gehört auch der Wandel des Seinsverständnisses, der sich in der Geschichte der Philosophie vollzieht. Dürers Hase unterscheide sich von Tierdarstellungen in „mittelterlichen Bestiarien“ nicht zuletzt deshalb, weil die platonische Privilegierung des Genus gegenüber dem Individuum im Über­ gang zur Neuzeit durch den Nominalismus überwunden worden sei.131 Der Hase 125 Heidegger,

Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 100. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 97. 127 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 115. 128 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 127. 129 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 94. 130 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 94. 131  Vgl. Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 99– 108. 126 Heidegger,

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kann in seiner Singularität deshalb erscheinen, weil das Singulare als Wesen des Seienden gedacht wurde. Während für die ältere Kunst noch das Allgemeine ei­ ner Gattung die leitende Vorstellung gewesen sei, könne Dürer das Wesen des Seienden als Einzelnes zeigen. Dem entspricht eine vom Nominalismus ausge­ hende Entwicklung in der Philosophie, die Heidegger stichwortartig resümiert: die Aufwertung des Diesseins, der „haeccitas“ bei Duns Scotus, die Betonung des Individuellen durch Ockham, die „innere Ausgestaltung eines Einzelnen in seiner Einzelheit und Fülle“, wie sie bei Cusanus zur Sprache kommt, schließ­ lich Leibnizens Monadologie und Individuationslehre.132 Mit diesen Stichpunk­ ten verbindet Heidegger eine Emanzipation der Philosophie von der christlichen Glaubenslehre, aufgrund derer er zugespitzt behaupten kann: „Es ist deshalb nicht mehr Kreatur im metaphysischen Sinn, daß es nur etwas Geschaffenes wäre nach dem Vorbild der göttlichen Ideen, sondern hier ist der ‚Hase‘ sozusa­ gen säkularisiert.“133 Die Loslösung des Tiers von seinem ,metaphysischen Sinn‘ wird von Heidegger als Fortschritt verstanden, auch wenn dies im Widerspruch zu seinem vorwiegend metaphysikkritischen Bild der Philosophiegeschichte steht. Der Nominalismus wird hier zwar nicht als Auslöser für Dürers Kunst dargestellt, aber er steht in einer Korrespondenz zu ihr, die es Heidegger ermög­ lichen könnte, auch in Bezug auf die umrissene Tendenz in der Philosophiege­ schichte von einem originären Wahrheitsgeschehen zu sprechen. Heidegger rückt im Rahmen dieser Seminarsitzungen näher an die kunst­ philosophische Position Hegels heran als in den veröffentlichten Schriften. Dies zeigt sich beispielsweise an der Kritik der Vorstellung einer „unmittelbaren“ Be­ ziehung zwischen Ding und Mensch.134 Bemerkenswert ist dabei, dass er die spekulative Verbindung von Werkinterpretation und Philosophiegeschichte schließlich auch durch einen Bezug auf Dürers theoretische Schriften und des­ sen Zeitgenossen Erasmus von Rotterdam fundiert. Heidegger zitiert einen Satz von Erasmus über die Kunst Dürers: „ex situ rei unius non unam speciem sese oculis offerentem exprimit.“ 135 Die ,Lage‘ des Dings, nicht seine Zugehörigkeit zu einer allgemeinen Gattung, war nach Erasmus’ Ansicht für Dürers Kunst ent­ scheidend. Die Lage eine Dings bestimmt seine konkrete Gestalt und verweist so auf dessen natürliche Umgebung: „Zum echten singulare gehört mit, daß das volle Wesen miterscheint; es ist nicht der Fall, der das Wesen verunstaltet, son­ dern das Einzelne, was grade das Wesen zum Erscheinen bringt.“136 Bei einem Hasen ist das die „Hasenwelt“. Die Verbindung von Singularität und Weltbezug charakterisiert aber nicht nur die Behandlung dieses besonderen Sujets. Dürer 132 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 96 und 104–105. 133 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 103. 134  Vgl. Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 93–94. 135 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 112. 136 Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 101.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

widmet jedem Ding, das er malt, größte Sorgfalt. Er kann daher auch an andere Maler appellieren: „es gilt nicht, daß man oben hinläuft und überrumpelt ein Ding.“137 Ex negativo folgt für Heidegger aus diesem Satz der philosophische Anspruch einer Malerei, die die Wirklichkeit neu entdeckt: „Was wollte Dürer eigentlich? Er will das Seiende selbst zeigen, er will das Sein der Dinge, das Sein des Seienden zum Vorschein bringen, und zwar schon in der großen Ahnung, daß das Seiende eben ist das singulare.“138 Dürers Feldhase ist für Heidegger ein Zeugnis dieser Ahnung. Der gemalte Hase ist demnach kein bloßes Ding, sondern er ist ein Werk, das letztlich Aufschluss gibt über das Wesen von Seiendem überhaupt. Der Vollzug dieser Einsicht führt Heidegger von der Betrachtung des Bildes über eine Be­ stimmung des Tierseins zu der Betonung des Singularen als Wesensmerkmal eines jeden Seienden. Die Verbindung von Singularität und Weltlichkeit rückt das Tier in erstaunliche Nähe zum Dasein des Menschen. Zugleich ist auch die Parallele zur Interpretation von van Goghs Schuhe im Kunstwerkaufsatz nicht zu übersehen. Am Beispiel des Hasen wiederholt sich so die mit den Schuhen ver­ bundene Erkenntnis: Die Werke der Kunst zeigen, dass jedes Ding in eine Welt gehört. Dass dieses Welthafte nicht ohne die Kategorie des Singularen verstan­ den werden kann, hat Heidegger aber an keinem andere Kunstwerk so deutlich herausgearbeitet wie an Dürers Feldhase. Dabei sollte klar geworden sein, dass sich aus seiner Argumentation auch ei­ nige Schlüsse für das Verhältnis von Ding und Werk ziehen lassen. Wird das Ding im weiten Sinne als Seiendes verstanden, müssten nicht nur Werk und Zeug, sondern auch Tiere und Menschen als Dinge gelten. Dies scheint der pri­ märe Sinn des Dingbegriffs in der Interpretation von Dürers Zeichnung zu sein. Im Kunstwerkaufsatz geht es aber auch um einen engeren Dingbegriff. Wenn ‚Ding‘ mehr als ein Überbegriff für Zeug und Werke sein soll, dann stellt sich die Frage, woran sich die Bestimmung des Dinghaften orientieren soll. Ein Kan­ didat dafür wären Naturgegenstände. Die Abgrenzung des Werks vom Ding im engeren Sinne käme dann jedoch mit der Unterscheidung von Kunst und Natur überein. Eine solche Trennung der beiden Bereiche findet bei Heidegger aber nicht statt. Seine Interpretationen von Kunstwerken lassen sich mit einer eindeu­ tigen Subsumption von Gegenständen unter diese Kategorien nicht vereinbaren. Das Singulare bestimmt nicht nur Tiersein und Dasein, sondern jedes Ding als solches. Aus der Interpretation von Dürers Hasen folgt, dass alles Seiende als Sin­ gulares und zugleich auch als Welthaftes verstanden werden muss. Damit wird erneut eine gemeinsame Eigenschaft von Werken und Dingen ins Spiel gebracht.

137 Heidegger,

138 Heidegger,

Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 113. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 113.

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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1.2.7. Die unscharfen Grenzen zwischen Werk und Ding Um die vorgelegte Analyse von Heideggers Beispielen für die Rekonstruktion des Werkbegriffs fruchtbar zu machen, ist es sinnvoll, sich noch einmal vor Au­ gen zu führen, wieso der Werkbegriff im Kunstwerkaufsatz überhaupt aus einer Bestimmung des Dingseins entwickelt werden soll. Heidegger geht davon aus, dass Kunstwerke etwas Dinghaftes an sich haben, das sie von anderen Dingen unterscheidet. Wie gezeigt wurde, wird dieses Dinghafte zu Beginn des Kunst­ werkaufsatzes mit der spezifischen Materialität von Werken in Verbindung ge­ bracht und dann in einem zweiten Schritt von klassischen Dingkonzeptionen ab­ gegrenzt. Ausgehend von van Goghs Stillleben versucht Heidegger, einen Ding­ begriff zu entwickeln, der, wie durch die Analyse der Beispiele deutlich geworden sein sollte, keine abgeschlossene Abgrenzung vom Werkbegriff ermöglicht und immer wieder mit dem Begriff des Seienden koinzidiert. Die Interpretation der Beispiele, die im Kunstwerkaufsatz herangezogen werden oder sich in Texten fin­ den, die in denselben Arbeitszusammenhang gehören, sind in der Regel durch eine umfassende ontologische Perspektive bestimmt. Sowohl das Singulare am Hasen als auch die pure Vorhandenheit von Stuhl und Pfeife und die Ruhe des römischen Brunnens sind Eigenschaften, die nicht nur den Sujets dieser Kunst­ werke zukommen, sondern die von Heidegger als Wesensmerkmale des Seien­ den überhaupt verstanden werden. Gemeinsam ist den meisten Sujets zudem das Motiv der Naturbezogenheit, zu der auch die am Kornfeld hervorgehobene Farbe gehört. Die Ausführungen zu den Schuhen und zum Hasen zielen wiederum da­ rauf, die Weltlichkeit des Seienden herauszustellen. Durch die Werkinterpreta­ tionen scheint also, kurz gesagt, Heideggers Interpretation des Seins als „Streit von Welt und Erde“ hindurch. Wenn die Betrachtung der Kunstwerke vorrangig Eigenschaften des Seien­ den überhaupt erkennen lässt, dann stellt sich die Frage, wieso Heidegger über­ haupt vom Dinghaften spricht. Wären Ding und Seiendes gleichzusetzen, dann hätte er im Kunstwerkaufsatz nur betonen müssen, dass Kunstwerke existieren und ihre Existenz nicht ohne ein ausgearbeitetes Seinsverständnis zu begreifen ist. Die Rede vom Dinghaften des Kunstwerks wäre dann überflüssig. Nicht nur in seiner Argumentation, sondern auch in den Interpretationen der Beispiele finden sich jedoch eindeutige Argumente gegen ein solches Vorgehen. An van Goghs Stillleben werden schließlich nicht nur Welthaftigkeit und Naturbezug der Schuhe herausgestellt, sondern auch ihre Verlässlichkeit. Damit ist aber eine Eigenschaft des Zeugs gewonnen, die es ermöglicht, zwischen verschiedenem Seiendem zu unterscheiden. Ein Stein ist für sich genommen nicht verlässlich und auch von einem Stillleben kann das nicht in derselben Weise gelten wie von Arbeitsschuhen. Zudem wird von Heidegger in Hinblick auf das In-sich-Ruhen der Dinge eine Differenzierung getroffen: Das Fertigsein des Zeugs und die Ei­ genwüchsigkeit der natürlichen Dinge unterscheiden sich, das In-sich-Ruhen des

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Werks ist zwischen diesen beiden Polen zu verorten. Auch in Bezug auf die Ka­ tegorie des Singularen scheinen Unterscheidungen zwischen Menschen, Tieren, Werken und Dingen angebracht, auch wenn sie in der vorliegenden Fassung der Dürer-Interpretation nicht ausgearbeitet sind. Was Dinge im engeren Sinne auszeichnet, lässt sich aus diesen Präzisierungen jedoch nicht erschließen. Es deuten sich allerdings zwei Möglichkeiten an. Ers­ tens könnten Dinge im engeren Sinne als Naturgegenstände verstanden werden. Dafür, dass es eine Tendenz zu dieser Gleichsetzung gibt, spricht der durchgän­ gige Naturbezug in Heideggers Kunstinterpretationen. Das Dinghafte am Werk wäre dann nichts anderes als seine Zugehörigkeit zur Erde. Gegen diese Schluss­ folgerung spricht jedoch, dass Heidegger die traditionelle Unterscheidung von Kunst und Natur vermeiden möchte. Genau aus diesem Grund spricht er in Be­ zug auf das Wahrheitsgeschehen in der Kunst vom Streit von Welt und Erde. Diese Verschiebung ermöglicht es Heidegger, nicht nur das in den Kunstwerken Dargestellte, sondern auch die Darstellungsweise und die Wirkung der Werke auf eine Weise zu thematisieren, welche die Opposition von Kunst und Natur umgeht. Auch das Dinghafte im engeren Sinne darf sich demnach nicht auf einen elementaren Naturbezug beschränken lassen. Eine andere Möglichkeit, einen Begriff von Dingen im engeren Sinne zu entwickeln, bietet Heideggers Rede von bloßen Dingen und ihrer puren Vorhandenheit. Die pure Vorhandenheit deutet auf eine ursprüngliche Präsenz hin, die nicht nur der Natur zukommen kann, sondern auch dem Zeug, was am Beispiel von van Goghs Bildern, prinzipiell aber auch an den Stillleben anderer Maler, nachvollzogen werden kann. Das Zeug kommt in diesen Bildern gewissermaßen als ‚bloßes Ding‘ in den Blick. Dinge wären demnach keine Gattung von Gegenständen, neben der es auch noch Zeug und Werke gibt, sondern eine Gegebenheitsweise. Es käme in der Kunst darauf an, das einzelne Seiende in seiner Selbstständigkeit zu zeigen, es aus geläufigem Zusammenhängen herauszulösen und so auf eine Weise erfahrbar werden zu lassen, die philosophisch relevant ist. Diese phänomenologische Intention entspricht zwar weitgehend den von Hei­ degger beschriebenen Kunsterfahrungen, es ist aber unklar, ob aus dieser Inten­ tion die Bestimmung des Dings als Gegebenheitsweise folgt und ob dieses Ver­ ständnis hinreicht, um das Wahrheitsgeschehen der Kunst zu beschreiben. Diese Verbindung hätte für den Werkbegriff die Konsequenz, dass jedes Werk als der Ort verstanden werden müsste, an dem Dinge als Dinge erscheinen. Es ist aber nicht ohne weiteres klar, wieso der Vorgang, dass etwas in den Kunstwerken eine ursprüngliche Präsenz gewinnt, gerade auf seiner dinglichen Gegebenheitsweise beruhen soll. Dass etwas als es selbst erscheint, gilt für jedes wahrhaft Seiende. Außerdem bliebe noch das Verhältnis der Gegebenheitsweise des Werks und der Gegebenheitsweise seines Sujets zu klären. Dass eine Pfeife in einem Stillleben

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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in ihrer puren Vorhandenheit erscheint, kann mit der dinghaften Präsenz des Kunstwerks nicht gleichbedeutend sein.139 Es sollte deutlich geworden sein, dass die Vieldeutigkeit von Heideggers Ding­ begriff im Kunstwerkaufsatz zu nicht unerheblichen systematischen Schwierig­ keiten führt. Beim Versuch, das Dinghafte des Kunstwerks aus dem Wesen des Dings zu klären, schwankt Heidegger zwischen dem weiten Dingbegriff, dem­ zufolge jedes Ding ein Seiendes ist, und einem engeren, der das Wesen des Dings wiederum in einer Schwebe zwischen Naturbezug und Gegebenheitsweise hält. Während der weite Dingbegriff die Rede vom Dinghaften des Kunstwerks als überflüssig erscheinen lässt, ist der engere Begriff in Heideggers Kunstphiloso­ phie letztlich nicht deutlich genug konturiert, um für die Bestimmung des Werk­ begriffs verwendet zu werden. 1.2.8. Die Verschmelzung von Ding und Werk Dass die Grenze zwischen Ding und Kunstwerk unklar bleibt, hat nicht nur pro­ blematische Auswirkungen auf Heideggers Kunstphilosophie, sondern auch für den Dingbegriff in seinem Spätwerk. Dies lässt sich insbesondere an zwei Aufsät­ zen aus den frühen 1950er Jahren zeigen. In Das Ding (1950) und Bauen Wohnen Denken (1951) werden ein Krug und eine Brücke eingeführt, in deren Beschrei­ bung sich die in der Kunstphilosophie ungelösten Widersprüche wiederfinden. Bei dem Krug handelt es sich um einen Gebrauchsgegenstand, den Heidegger in der Konzeption des Kunstwerkaufsatzes noch als ‚Zeug‘ bezeichnet hätte, durch die Brücke kommt wiederum ein Bauwerk ins Spiel. In Heideggers Beschreibun­ gen von Krug und Brücke wird die Auffassung von Ding und Ort jedoch in eine problematische Nähe zur Kunst gebracht. Gemeinsam ist Krug und Brücke, dass ihnen von Heidegger eine wahrheitseröffnende Funktion zugeschrieben wird. Sie werden so verstanden, dass sie das Ganze des Seins „versammeln“.140 In die­ sem auf seine Auslegung angewiesenen Geschehen werden die Strukturen deut­ lich, durch die ein Ding in einem bestimmten Kontext seine Bedeutung erlan­ gen kann. Wenn das Wesen von Krug und Brücke erfasst werden soll, muss so­ mit die ontologische Figur des Gevierts mitgedacht werden. Das Geviert soll die bedeutungsermöglichenden Strukturen einsichtig machen. Alles, was ist, steht demnach in einem Verhältnis zu den Menschen als den „Sterblichen“, zugleich aber auch zu den „Göttlichen“, dem „Himmel“ und der „Erde“.141 Das Geviert tritt hier an die Stelle, die im Kunstwerkaufsatz dem Streit von Welt und Erde 139  Auf dieses Problem hat bereits Meyer Schapiro hingewiesen: Nichts, was Heidegger an dem Stillleben beschreibt, hätte nicht auch aus der Betrachtung eines konkreten Paars Schuhe herausgearbeitet werden können. Vgl. Schapiro, T he Still Life as a Personal Object, 149. 140 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 156 sowie Das Ding, GA 7, 175, 176, 179. 141 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 152 sowie Das Ding, GA 7, 175.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

einnimmt. Während im Kunstwerkaufsatz das Werk als Ort dieses Streits einen Vorrang vor anderen Dingen beanspruchen soll, bietet nun das Ding als ver­ sammelnde „Stätte“ des Gevierts einen originären Zugang zum Verständnis des Seins.142 Da somit das Ding und nicht mehr das Kunstwerk das entscheidende Phänomen ist, um zu klären, wie Wahrheit geschieht, verliert der Werkbegriff seine ontologische Relevanz. Die Unterscheidung von Werk und Ding wird in der Folge aber nicht nur nachrangig, sondern geradezu negiert. Denn die Dinge, deren Beschreibung für Heideggers Argumentation unentbehrlich ist, erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Kunstwerke, sollen aber nicht als solche ver­ standen werden. Heidegger betont ausdrücklich, dass es ihm bei der Erörterung der Brücke nicht um ein bestimmtes, architektonisch anspruchsvolles Bauwerk gehe. Er führt aus diesem Grund neben „Stadtbrücke“ als Beispiele auch „Flußbrücke“, „Bachübergang“ und sogar die moderne „Autobahnbrücke“ an.143 Aus der für die Argumentation des Texts entscheidenden Beschreibung wird jedoch nicht klar, in welcher Weise eine Autobahnbrücke eine „Stätte des Gevierts“ sein könnte. Heideggers Beschreibung folgt, auch wenn er gegen die philosophischen Voraussetzungen dieses Begriffs anschreibt, implizit einem ästhetischen Ideal: „Die Brücke versammelt die Erde als Landschaft um den Strom. So geleitet sie ihn durch die Auen. Die Brückenpfeiler tragen, aufruhend im Strombett, den Schwung der Bogen, die den Wassern des Stroms ihre Bahn lassen. Mögen die Wasser ruhig und munter fortwandern, mögen die Fluten des Himmels beim Gewittersturm oder der Schneeschmelze in reißenden Wogen um die Pfeiler­ bogen schießen, die Brücke ist bereit für die Wetter des Himmels und deren wendisches Wesen. Auch dort, wo die Brücke den Strom überdeckt, hält sie sein Strömen dadurch den Himmel zu, daß sie es für die Augenblicke in das Bogen­ tor aufnimmt und daraus wieder freigibt.“144 Unabhängig davon, ob Heideggers Stil die Leserin oder den Leser anspricht oder nicht, sollte deutlich sein, dass diese Beschreibung nicht zu jeder beliebigen Brücke passt. Wenn eine Brücke die Landschaft, in die sie gebaut ist, als solche hervortreten lässt, dann muss sie als Kunstwerk gelten. Die im Text evozierte Brücke ist eine Stätte, die einen be­ sonderen „Raum umräumt“ und kann daher nicht nur als ein besonderer Ort, sondern auch als Werk einer Baukunst verstanden werden, die mit Heidegger als „Stiften und Fügen von Räumen“ näher bestimmt werden könnte.145 Nicht zufällig wird später im Text auch ausdrücklich die „alte Brücke in Heidelberg“ genannt,146 die in Hölderlins Gedicht Heidelberg eine prominente Rolle spielt.147 142 Heidegger,

Bauen Wohnen Denken, GA 7, 156–157. Bauen Wohnen Denken, GA 7, 154–155. 144 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 154. 145 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 157, 160. 146 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 159. 147  „Wie der Vogel des Walds über die Gipfel fliegt,/Schwingt sich über den Strom, wo 143 Heidegger,

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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Es wäre allerdings irreführend, wenn man die von Heidegger beschriebene Brücke mit einem konkreten Bauwerk identifizieren wollte. Es geht auch nicht darum, ob seine Beschreibung ein konkretes Vorbild hat oder nicht. Die Be­ schreibung fungiert vielmehr als eine phänomenologische Basis für die spekula­ tive Gedankenfigur des Gevierts: Die Brücke ist ein Ding, das einen Ort bildet, an dem die Einheit von Sterblichen, Göttlichen, Erde und Himmel präsent wer­ den kann. Es gäbe diese Einheit nicht ohne derartige Orte, aber die Orte können umgekehrt auch nicht ohne die Struktur des Gevierts gedacht werden. Dinge wie die Brücke fordern daher einen bestimmten Umgang von den Menschen, den Heidegger als „Schonen“ bezeichnet.148 Nur durch diesen Umgang mit den Dingen könne das Geviert in den Dingen „verwahrt“ werden: „Allein die Dinge selbst bergen das Geviert nur dann, wenn sie selber als Dinge in ihrem Wesen gelassen werden.“149 Dieser gelassene Umgang hängt nicht allein von der Hal­ tung der Menschen ab, sondern auch von den Dingen. Aber nicht alle Dinge sind gleich. Daher muss sich auch das unterschieden, was als angemessener Umgang gelten soll. In Heideggers Text wird zwar darauf hingewiesen, dass sich Dinge voneinander unterscheiden – welche Konsequenz das für den Umgang mit ihnen hat, bleibt jedoch unklar. Der Begriff des Schonens bleibt dementsprechend un­ terbestimmt. Zwar wird er mit Blick auf die Struktur des Gevierts konkretisiert: „Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich das Wohnen als das vierfältige Scho­ nen des Gevierts.“150 Aber wie sich dies im Einzelfall gestalten soll, wird aus dem Text nicht ersichtlich. Anschaulichkeit besitzt in dieser Hinsicht allein Heideg­ gers philosophische Beschreibung eines bestimmten Typus von Brücke, dessen Schönheit in dichterisch gestalteten Sätzen Präsenz verliehen wird. Was würde es aber bedeuten, eine Autobahnbrücke zu schonen? Man könnte hier an das Planen des Verkehrsaufkommens und entsprechende Baumaßnahmen denken. Davon ist bei Heidegger aber nicht die Rede. Ebenso wenig geht es in dem Text um die Instandhaltung oder Restaurierung von Bau­ denkmälern. Vor dem Hintergrund von Heideggers Kritik am technischen Seinsverständnis der Moderne scheinen praktische Ratschläge das eigentliche Problem zu verfehlen. Insofern das technische Seinsverständnis herrschend ist, findet die Versammlung des Gevierts in einem Ding nicht statt. Der von Heideg­ ger entwickelte Dingbegriff ist als die Möglichkeit eines anderen Seinsverständ­ nisses als des herrschenden gedacht. Die evozierte Brücke entspricht demnach nicht dem Normalfall. Deswegen schließt der Text mit der Feststellung, dass die er vorbei dir glänzt/Leicht und kräftig die Brüke,/Die von Wagen und Menschen tönt.“ Friedrich Hölderlin, Heidelberg, Sämtliche Werke, hrsg. von Dietrich E. Sattler, Band 5, Frankfurt am Main 1984, 468. 148 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 151–153. 149 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 153. 150 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 153.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Menschen das Bauen und mit ihm den Aufenthalt im Geviert „erst lernen müs­ sen“.151 Wenn die Dinge als Dinge erfahren würden, wäre Heideggers Konzep­ tion zufolge zwar prinzipiell jedes Ding eine Stätte des Gevierts. Heidegger kann diese Möglichkeit zu einer radikalen Veränderung des Seinsverständnisses aber nur beschränkt einsichtig machen: Es gelingt ihm allein an Beispielen, die wie die beschriebene Brücke als Kunstwerk verstanden werden müssen. In dieser Verquickung liegt das systematische Problem der in Heideggers Spätwerk ent­ wickelten Dingtheorie. Heidegger hat das Problem der beschränkten Verallgemeinerbarkeit seiner Beschreibung selbst gesehen: „Man meint freilich, die Brücke sei zunächst und eigentlich bloß eine Brücke. Nachträglich und gelegentlich könne sie dann auch noch mancherlei ausdrücken. Als ein solcher Ausdruck werde sie dann zum Symbol, zum Beispiel für all das, was vorhin genannt wurde. Allein die Brücke ist, wenn sie eine echte Brücke ist, niemals zuerst bloße Brücke und hinterher ein Symbol in dem Sinn, daß sie etwas ausdrückt, was, streng genommen, nicht zu ihr gehört. Wenn wir die Brücke streng nehmen, zeigt sie sich nie als Ausdruck. Die Brücke ist ein Ding und nur dies. Nur? Als dieses Ding versammelt sie das Geviert.“152 Gegen den antizipierten Einwand wird an dieser Stelle allerdings kein Argument angeführt. Entkräftend wirkt allein die Rhetorik, mit der die Rede von Symbol und Ausdruck mit einem Mangel an ‚Strenge‘ assoziiert wird. Bemerkenswert ist, dass Symbol und Allegorie bereits im Kunstwerkaufsatz der vulgären Auffassung von Kunst zugeschrieben werden.153 Wenn Heidegger den in Bauen Wohnen Denken entwickelten Dingbegriff gegen symbolische und al­ legorische Interpretationen desselben Sachverhaltes abgrenzt, transformiert er, was er zwanzig Jahre zuvor bereits in Bezug auf das Werksein der Kunst ge­ schrieben hat. Die Überlegungen, die Heidegger in Das Ding zum „Krughaften des Krugs“ entwickelt, haben einen anderen Ausgangspunkt.154 Die Figur des Gevierts wird hier nicht über den Zusammenhang von Bauen und Wohnen gewonnen, sondern aus dem Phänomen der Nähe, das nicht „unmittelbar“, sondern nur durch die Dinge, die in ihr präsent sind, zugänglich wird.155 Heideggers kreativer Umgang mit Etymologien und Neologismen ist in diesem Text weitaus stärker ausgeprägt als in Bauen Wohnen Denken, doch die Logik seines Beispiels ist dieselbe. Der Krug wird über den Sinn, den er im Kontext seiner Verwendung erfährt, be­ stimmt. Heidegger betont die Bedeutung der „Leere“ für das Wesen des Krugs.156 Allein durch die Leere könne der Krug etwas aufnehmen. Der Krug „fasst“, was 151 Heidegger,

Bauen Wohnen Denken, GA 7, 163. Bauen Wohnen Denken, GA 7, 155. 153  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 4. 154 Heidegger, Das Ding, GA 7, 173. 155 Heidegger, Das Ding, GA 7, 168. 156 Heidegger, Das Ding, GA 7, 170. 152 Heidegger,

1.2. Werke, Dinge und Beispiele

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er aufgenommen hat, um dann selbst wieder ausgegossen zu werden. Heidegger legt auf das Moment des „Ausgießen“ besonderes Augenmerk.157 Er stilisiert in seiner Beschreibung den „Guss“ zum „Geschenk“ und rückt die alltägliche Ver­ wendung eines Krugs damit in die Nähe des Trankopfers: „Gießen ist nicht das bloße Ein- und Ausschütten. Im Geschenk des Gusses, der ein Trunk ist, weilen nach ihrer Weise die Sterblichen. Im Geschenk des Gusses, der ein Trank ist, weilen nach ihrer Weise die Göttlichen, die das Geschenk des Schenkens als das Geschenk der Spende zurückempfangen.“158 Mit „Trank“ und „Trunk“ assoziiert Heidegger darüber hinaus auch Wein und Wasser, wodurch nicht nur religiöse Symbolik, sondern auch die Natur als nährende Instanz, als Zusammenspiel von Himmel und Erde ins Spiel kommt. Durch diese Interpretation wird die Einheit des Gevierts im Krug präsent. Aber um was für einen Krug handelt es sich eigentlich? Es finden sich kaum Anzeichen dafür, dass er ein Kunstwerk sein könnte. Heidegger bleibt in seiner Beschreibung sehr allgemein: „Das Fassende am Krug sind Boden und Wand. Dieses Fassende ist selbst wieder faßbar am Henkel. Als Gefäß ist der Krug et­ was, das in sich steht. Das Insichstehen kennzeichnet den Krug als etwas Selbst­ ständiges.“159 Das Insichstehen erinnert an die spezifische Ruhe, die im Kunst­ werkaufsatz, besonders deutlich am Beispiel des römischen Brunnens, als Mo­ ment des Werkseins hervorgehoben wird. Diese Parallele reicht jedoch nicht aus, um Heideggers Beschreibung des Krugs mit einer Kunsterfahrung zu identifi­ zieren. Heideggers Erläuterungen sind betont nüchtern, beruhen bei genauerem Hinsehen aber auf religiösen Motiven. Sie sind vor allem am Motiv des Trankop­ fers orientiertet. Aus einer technischen Weltsicht heraus können Heideggers Be­ schreibungen des Krugs daher bestenfalls als „halbpoetisch“ gelten.160 Heidegger geht davon aus, dass die wissenschaftliche Betrachtungsweise von Gegenständen wie dem Krug so gefestigt sei, dass sie „die Dinge als Dinge schon vernichtet ­[habe]“.161 Er ist zudem pessimistisch, was die Möglichkeiten der phänomeno­ logischen Neubestimmung des Dingbegriffs betrifft: „Der Schritt zurück von ei­ nem Denken in das andere ist freilich kein bloßer Wechsel der Einstellung. […] Für die Ankunft des Dinges als Ding vermag ein bloßer Wechsel der Einstellung nichts, wie denn auch all das, was jetzt als Gegenstand im Abstandslosen steht, sich niemals zu Dingen lediglich umstellen läßt.“162 Da Heidegger wissenschaft­ lichen Herangehensweisen nicht zutraut, das Verständnis des Dings wesentlich zu verändern, spricht er stattdessen der Geschichte dieses Potential zu. Die An­ kunft des Dings ist eschatologisch gedacht. Dass der Krug in der von Heideg­ 157 Heidegger,

Das Ding, GA 7, 173. Das Ding, GA 7, 175. 159 Heidegger, Das Ding, GA 7, 168. 160 Heidegger, Das Ding, GA 7, 171. 161 Heidegger, Das Ding, GA 7, 172. 162 Heidegger, Das Ding, GA 7, 183. 158 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

ger vorgezeichneten Weise wirklich verstanden wird, wäre seiner Überzeugung nach ein Ereignis im emphatischen Sinn. Es wird als ein in der Zukunft liegender Augenblick gedacht: „Erst wenn, jäh vermutlich, Welt als Welt weltet“, wird das Ding ein Ding.163 Zugleich muss Heidegger von „Gegenständen“ nicht nur aus der Vergangenheit,164 sondern auch in der Gegenwart ausgehen, die das Potential haben, Dinge im vollen Sinne zu werden. Daher muss es zumindest prinzipiell denkbar sein, dass die in ihrer Wirklichkeit defizitären „Gegenstände“, nach ih­ rem Potential, Dinge im engeren Sinne zu werden, unterschieden werden kön­ nen. Genau das deutet Heidegger an dem Ende des Textes an: „Ring und gering aber sind die Dinge auch in der Zahl gemessen an der Unzahl der überall gleich gültigen Gegenstände, gemessen am Unmaß des Massenhaften des Menschen als eines Lebewesens.“165 Geht man von diesem Kontrast aus, ließen sich durch­ aus Unterschiede zwischen Krügen machen. Der Krug, den Heidegger vor Augen hat, wäre dann vermutlich eher ein handgefertigtes Gefäß als ein Pappbecher aus industrieller Massenproduktion. Der an diesem Beispiel entwickelte Ding­ begriffs ist von einem ästhetischen Ideal geleitet, das dessen Geltungsanspruch letztlich in Frage stellt. 166 Dieser Ausblick auf die späte Dingtheorie Heideggers sollte deutlich machen, dass die im Kunstwerkaufsatz problematische Unterscheidung von Werk- und Dinghaftem auch in späteren Texten zu keiner Lösung findet. Vielmehr ist die in Heideggers Kunstphilosophie unabgeschlossene Unterscheidung von Werk und Ding ein Grund für eine problematische Verschmelzung von Ding und Kunst­ werk in seiner Spätphilosophie. Heideggers Werkbegriff geht jedoch über die Orientierung am Dinghaften hinaus. Ebenso wichtig wie der Dingbegriff ist im Kunstwerkaufsatz die Wahrheit, deren genauere Struktur bisher ausgeklammert wurde. Die Einbeziehung des Wahrheitsbegriffs eröffnet neue Möglichkeiten, den Werkbegriff zu konturieren: Die Unterscheidung vom Ding könnte sich bei­ spielsweise dadurch klären lassen, dass das Werk als ein Ding bestimmt wird, in dem Wahrheit geschieht. Um zu überprüfen, inwieweit eine solche Differenzie­ rung dem Text Heideggers gerecht wird, muss geklärt werden, was im Kunstwer­ kaufsatz unter ‚Wahrheit‘ verstanden wird.

163 Heidegger,

Das Ding, GA 7, 183. Das Ding, GA 7, 168. 165 Heidegger, Das Ding, GA 7, 184. 166  Dieses ästhetische Ideal und die Spannung, in der es zur industriellen Massen­ produktion steht, wird auch in der zeitgenössischen Kunst thematisiert. So setzt etwa Ai Weiwei immer wieder antike Keramik dramatisch in Szene. Vgl. Ai Weiwei, Urne aus der Han-Dynastie mit Coca-Cola Logo, 25 x 28 x 28 cm, Farbe/Han-Dynastie, 1994 oder auch Ai Weiwei, Zermahlene neolithische Keramik und Vorratsglas, 26 x 20 x 20 cm, 2009. 164 Heidegger,

1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens

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1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens 1.3.1. Der Wahrheitsbegriff von Sein und Zeit bis zum Kunstwerkaufsatz Die im Kunstwerkaufsatz formulierten Überlegungen zur Wahrheit schließen an Bestimmungen aus Sein und Zeit sowie Vom Wesen der Wahrheit und Platons Lehre von der Wahrheit an.167 Heidegger stellt zunächst mit einem Verweis auf den alltäglichen Sprachgebrauch fest, dass man mit „Wahrheit“ in der Regel etwas meint, das als ‚wahr‘ gilt.168 Wahrheit wird demnach zunächst als Eigen­ schaft von etwas verstanden. Geht man von diesem Sprachgebrauch aus, besteht die Aufgabe einer philosophischen Bestimmung des Begriffs darin, zu klären, welchen Gegenständen diese Eigenschaft zugesprochen werden kann. Die neu­ zeitliche Philosophie hat Wahrheit, wie Heidegger resümiert,169 ausgehend von Descartes als ein Prädikat definiert, das Erkenntnisurteilen zugeschrieben wer­ den kann. Ein Satz, der eine Sache angemessen beschreibt, gilt als wahr. Sofern Sätze von einem urteilenden Intellekt hervorgebracht werden, wird Wahrheit als Adäquation von Urteil und Sache begriffen. Voraussetzungen der Wahrheit sind demnach das subjektive Vermögen zu urteilen sowie die faktische Gege­ benheit einer Sache, über die geurteilt werden kann. Im Verlauf der Philoso­ phiegeschichte werden beide Voraussetzungen problematisiert, wobei der Unter­ suchung der subjektiven Voraussetzungen immer stärkeres Gewicht zukommt. Nach Heideggers Auffassung vollzieht sich in der Geschichte der Philosophie eine Subjektivierung des Wahrheitsbegriffs, die besonders prägnant bei Descar­ tes hervortrete. Descartes bezeichne als ‚wahr‘ nur das, was für den Denkenden mit Gewissheit als wahr gelten könne. Er begrenze den Bereich der Wahrheit damit auf Urteile, deren Inhalt richtig sei. Die Wahrheit wird so zur „Satzwahr­ heit“: „Die kritischen Wahrheitsbegriffe, die seit Descartes von der Wahrheit als Gewißheit ausgehen, sind nur Abwandlungen der Bestimmung der Wahrheit als Richtigkeit.“170 Heidegger kritisiert an dieser wahrheitstheoretischen Position, dass sie die Bedeutung der Wahrheit verengt. Wahrheit kommt nicht nur Urteilen zu. „Satz­ wahrheit“ oder „Richtigkeit“ müsse von einem ursprünglicheren Verständnis

167  Diese werkgeschichtliche Perspektive auf Heideggers Wahrheitsbegriff betont auch Tobias Keiling in seinem Kommentarbeitrag zum Wahrheitsbegriff Heideggers. Vgl. To­ bias Keiling, „Kunst, Werk, Wahrheit“, in: Espinet/Keiling (Hrsg.), Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, 66–94. Im Unter­ schied zu Keilings Beitrag geht es im Kontext dieser Arbeit nicht um eine systematisierende Lektüre, sondern letztlich um eine Kritik der geschichtlichen Dimension von Heideggers Wahrheitsverständnis. 168  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 36. 169  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 37–38. 170 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 38.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

der Wahrheit als „Unverborgenheit des Seienden“ unterschieden werden.171 Bei dieser Unterscheidung geht es Heidegger um das, was die Richtigkeit der Wis­ senschaft wie auch die Wahrheit in anderen Bereichen überhaupt erst ermög­ licht. Die objektive Voraussetzung von Wahrheit, d.h. dass es überhaupt etwas gibt, über das geurteilt werden kann, ist für ihn dabei entscheidend. Das Er­ scheinen des Seienden gehört für Heidegger bereits zum Phänomen der Wahr­ heit. Um das ermöglichende Moment zu beschreiben, betont er die phänomenale Gegebenheit des Seienden und greift für die Erläuterung seines Wahrheitsver­ ständnisses bereits in Sein und Zeit auf das griechische Wort ἀλήϑεια zurück.172 Die Etymologie dieses Wortes wird Heidegger zur Inspiration der eigenen Be­ griffsbildung. Wörtlich übersetzt bedeutet ἀλήϑεια „Unverborgenheit“ und als solches steht es nach Heideggers Ansicht nicht nur für die Dinge, die sich uns zeigen, sondern auch für den Raum, in dem sich das, was ist, zeigen kann. Ohne diesen Raum könnte kein Urteil gefällt werden: „Nicht nur das, wonach eine Er­ kenntnis sich richtet, muss schon irgendwie unverborgen sein, sondern auch der ganze Bereich, in dem dieses ‚Sichrichten nach etwas‘ sich bewegt, und ebenso dasjenige, für das eine Anmessung des Satzes an die Sache offenbar wird, muss sich als Ganzes schon im Unverborgenen abspielen.“173 Nur weil es diesen offe­ nen Bereich gibt und in ihm etwas erscheint, sind überhaupt Urteile möglich, die sich nach etwas richten können. In Sein und Zeit werden sowohl der „Bereich“, in dem Wahrheit möglich, ist als auch der Adressat der Wahrheit, derjenige „für“ den Wahrheit möglich ist, in der Analyse des Daseins fundiert. Das Dasein erschließt sich nicht nur selbst, sondern indem es auf sich selbst Bezug nimmt, ist es immer schon über sich hinaus, erobert den Bereich, der das jeweilige Selbstverständnis ermöglicht und konstituiert auf diese Weise die Welt als den Zusammenhang, in dem etwas als wahr gelten kann. Das Dasein ist selbst die „Lichtung“, durch die das, was es selbst nicht ist, zugänglich wird.174 Die subjektive und objektive Bedingung von Wahrheit werden im Dasein als erschlossenem „In-der-Welt-Sein“ zusam­ mengedacht. Daher kann Heidegger in Sein und Zeit schreiben, dass das „ur­

171 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 38. Sein und Zeit, GA 2, 219–226. 173 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, 39. Ob ἀλήϑεια im Griechischen diesen Erscheinungsraum bezeichnen kann, inwiefern sich ein solches Verständnis des Worts bei den Vorsokratikern, Platon und Aristoteles nachweisen lässt und ob es überhaupt sinn­ voll ist, die philosophische Wahrheitstheorie auf das Phänomen der Offenheit des Erschei­ nungsraums auszurichten, sind alles Fragen, die zwar philologisch und philosophisch von entscheidendem Interesse sind, aber hier im Rahmen der Rekonstruktion von Heideggers Werkbegriff nicht behandelt werden können. Vgl. für eine Kritik an Heideggers Wahrheits­ begriff Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin/New York 1970. 174 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 177. 172 Heidegger,

1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens

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sprünglichste Phänomen der Wahrheit“ die „Erschlossenheit des Daseins“ sei.175 Zugleich hat er bereits im Blick, dass die damit verbundene Zugänglichkeit der Welt, die Möglichkeit, dass sich überhaupt etwas als wahres zeigt, einen prekären Status besitzt. Das Dasein könne Wahrheit nur aufdecken, indem es sich „gegen den Schein und die Verstellung“ richte.176 Dieser Schein wird in Sein und Zeit aber nicht primär durch eine Untersuchung innerweltlicher Zusammenhänge erklärt, sondern auf die „Verfallenheit“ des Daseins zurückgeführt. Indem das Dasein sich über sein eigenes Wesen täusche und von sich selbst abfalle, verliere es die Möglichkeit, die Phänomene in ihrem vollen Sinn zu vernehmen. 177 Das Dasein wird also nicht nur als Lichtung und damit als Ort der Wahrheit gedacht, sondern bildet als verfallendes Dasein zugleich den Grund der Unwahrheit. In Vom Wesen der Wahrheit und Platons Lehre von der Wahrheit, die 1930 bzw. 1932 entstehen und 1976 gemeinsam in der Sammlung Wegmarken veröf­ fentlicht werden, entwickelt Heidegger diese grundlegenden Gedanken weiter. Der entscheidende Schritt dabei ist, dass die Wahrheit nun nicht nur im Dasein gründet, sondern ihr Wesen aus dem Zusammenhang von Dasein und Wahrheit ausdrücklich als „Freiheit“ begriffen wird. 178 Freiheit wird dabei nicht als Fähig­ keit des Menschen verstanden.179 Sie ist nach Heidegger nicht primär als Vermö­ gen eines autonomen Subjekts zu begreifen,180 sondern charakterisiert vielmehr das Verhältnis von Mensch und Welt. Freiheit meint einerseits die Offenheit des Daseins. Der Mensch ist frei, insofern er sich als Da-Seiender auf das Seiende „einlassen“ kann.181 Andererseits charakterisiert Freiheit auch das Seiende, in­ sofern es sich im Offenen „offenbart“.182 Die Freiheit verbindet das Dasein und die Welt, sie wird in dem phänomenologischen Grundverhältnis verortet, das für Heidegger das Phänomen der Wahrheit ausmacht. Da sich Phänomene entziehen und gegenseitig verdecken können, kann Frei­ heit in Unfreiheit umschlagen. Vor diesem Hintergrund interpretiert Heidegger das platonische Höhlengleichnis als ein Bild, das die Schwierigkeit verdeutlicht, sich im „Bereich des Offenen“ zu halten. Der Weg zur philosophischen Bildung sei eine „Wende“ im Dasein, der Blick in das Offene müsse „errungen“ werden, die Wahrheit der Unwahrheit „abgerungen“.183 Das nach der Befreiung aus der Gefangenschaft gewonnene philosophische Wissen bleibt somit ein prekäres. 175 Heidegger,

Sein und Zeit, GA 2, 220–221. Sein und Zeit, GA 2, 222. 177 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 222. 178 Heidegger, Vom Wesen der Freiheit, Wegmarken, GA 9, 186. 179  Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Freiheit, Wegmarken, GA 9, 187. 180  Dass Heideggers Freiheitsbegriff als ein Fundament für handlungsorientierte Kon­ zeptionen von Freiheit verstanden werden kann, hat Günter Figal in maßgeblicher Weise herausgearbeitet. Vgl. Günter Figal, Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt am Main 1988. 181 Heidegger, Vom Wesen der Freiheit, Wegmarken, GA 9, 188. 182 Heidegger, Vom Wesen der Freiheit, Wegmarken, GA 9, 188. 183  Vgl. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, GA 9, 222–223. 176 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Philosophische Bildung erscheint Heidegger daher als die wiederholte Aneig­ nung einer phänomenologischen Haltung, in der das Verhältnis von Welt und Dasein durchsichtig wird. Sie ist demnach kein statischer Zustand, sondern viel­ mehr ein Prozess, der aus einem entgegengesetzten Daseinsvollzug nicht nur ge­ wonnen, sondern ihm immer wieder von Neuem aktualisiert werden muss. Der innere Bezug der Wahrheit zur Unwahrheit, der A‑letheia zur Lethe ist bereits in Sein und Zeit für Heideggers Wahrheitsverständnis charakteristisch. Neu ist an den Überlegungen in den Wegmarken, dass nicht die Eigentlichkeit als ein sich in Ausnahmesituationen einstellendes Selbstverhältnis den originären Zugang zum Phänomen der Wahrheit bietet, sondern die Philosophie. Im Kunstwerkaufsatz tritt die wahrheitserschließende Funktion der Philo­ sophie wiederum in den Hintergrund. Dies liegt zunächst an der Tatsache, dass die Kunst als ausdrückliches T hema des Texts im Mittelpunkt steht. Es liegt aber auch daran, dass sich Heideggers Auffassung des Zusammenhangs von Dasein und Wahrheit in der Zeit, in der der Kunstwerkaufsatz entsteht, verändert. In der ersten Ausarbeitung des Kunstwerkaufsatzes ist noch ausdrücklich davon die Rede, dass die Wahrheit „immer Offenheit des Da“ des Daseins sei.184 Das Da­ sein wird dabei zwar nicht mehr wie in Sein und Zeit vorrangig als das einzelne, jeweilige Dasein verstanden, sondern als kollektives Dasein, das eine Nation be­ stimmt.185 In der endgültigen Fassung des Kunstwerkaufsatzes ist in diesem Zu­ sammenhang von Dasein aber nicht mehr Rede. Nicht das „Da“ des Daseins wird nunmehr als Ort der Wahrheit gedacht, sondern das Kunstwerk. Werk- und Wahrheitsbegriff werden miteinander verschränkt. Die Kunst ist das „Sich-insWerken-Setzen der Wahrheit“ und die Wahrheit damit als der Ursprung von Sein und Kunst ausgewiesen.186 Die Wahrheitstheorie gehört damit zu dem zu Beginn thematisierten phä­ nomenologischen Impetus des Textes. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die wahrheitstheoretischen Überlegungen im Kunstwerkaufsatz von Heidegger selbst nicht als phänomenologisch gekennzeichnet werden. Hier wird die bereits angesprochene Abgrenzbewegung gegenüber dem Standpunkt Husserls erneut deutlich.187 Dennoch ist der Bezug der Wahrheit auf das Dasein durch die Ver­ schränkung von Werk- und Wahrheitsbegriff für Heidegger nicht obsolet ge­ worden. Das Dasein gehört in das durch die Kunst erschlossene Phänomen der Wahrheit. Denn nur wenn die Kunst für jemanden erfahrbar ist, kann sie über­ haupt Wahrheit stiften. Das phänomenologische Grundverhältnis von Welt und Dasein ist allerdings nicht mehr im Dasein zentriert, sondern durch das Kunst­ 184 

Vgl. Heidegger, Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung), 157. In diesem Sinne spricht Heidegger von „Volk“. Vgl. Heidegger, Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung), 161–164. 186  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 21, 22, 25, 49, 59. 187  Vgl. Kap. 1.1. 185 

1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens

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werk bestimmt. Deswegen ist die Wahrheit für Heideggers Werkbegriff von ent­ scheidender Bedeutung. Es werden im Kunstwerkaufsatz auch ausdrücklich andere „wesentliche Wei­ sen“, in denen Wahrheit geschieht, erwähnt. Infrage kommen für Heidegger in dieser Hinsicht vor allem Politik, Religion und Philosophie.188 Angesprochen sind damit Bereiche, die das einzelne Dasein prinzipiell übersteigen, ohne dass Heidegger jedoch genauer darauf eingeht, inwieweit diese Bereiche als intersub­ jektiv konstituiert zu denken sind. Die Kunst scheint die Funktion dieser Be­ reiche jedoch weitgehend zu integrieren und gewinnt dadurch eine Wichtigkeit, die ihr von Heidegger weder vor noch nach dem Kunstwerkaufsatz jemals zuge­ sprochen wurde. Was sich in diesem Text hingegen durchhält, ist die wahrheits­ theoretische Berücksichtigung von Entzugsmomenten: „Wahrheit ist in ihrem Wesen Un-Wahrheit.“189 Mit dieser dialektischen Formel bringt Heidegger zum Ausdruck, dass sich das Seiende nie vollständig zeigt und die Erschließung be­ stimmter Phänomenbereiche mit der Verschließung anderer einhergeht. Jeder einzelne Bereich – auch die Kunst – ist in sich also durchaus ambivalent: „Die Lichtung, in die das Seiende hereinsteht, ist in sich zugleich Verbergung.“190 Die Lichtung ist als ein dynamisches Geschehen zu verstehen und nicht als „eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang, auf der sich das Spiel des Sei­ enden abspielt“.191 Heidegger unterscheidet zudem zwei Arten der Verbergung. Es spricht von „Versagung“,192 wenn sich bei dem Versuch, etwas zu verstehen, so etwas wie ein Widerstand oder ein inkommensurabler Rest erfahren lässt, der sich der vollständigen Aneignung des Phänomens widersetzt. Dieser Widerstand hängt für ihn damit zusammen, dass alles, was erscheint, zuvor verborgen war. Die Un-verborgenheit ist immer auf das Verborgene bezogen. Der Ursprung eines Phänomens kann daher nie vollständig präsent werden. Das Ursprüngliche zeigt sich vielmehr in Entzugsmomenten. Neben diesem grundsätzlichen Widerstand der Phänomene gegenüber ihrer vollständigen Erschließung gibt es auch eine Form der „Verbergung“, die durch das Verhältnis der Phänomene zueinander entsteht: „Seiendes schiebt sich vor Seiendes. Das eine verschleiert das andere, jenes verdunkelt dieses, weniges verbaut vieles, vereinzeltes verleugnet alles.“193 Diese komplexen Formen von Negativität fasst Heidegger unter dem Titel „Ver­ stellung“ zusammen.

188 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 49. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 41. 190 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 40. 191 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 41. 192 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 40–41. 193 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 40. 189 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

1.3.2. Der Streit von Welt und Erde Lichtung und Verbergung bilden ein Wahrheitsgeschehen, das im Kunstwerk präsent wird. Die Präsenz dieses Geschehens im Werk wurde bisher allerdings nur in Hinblick auf die Frage nach dem Dinghaften näher erläutert. Dabei zeigte sich, dass an einzelnen Kunstwerken Aspekte des Dinghaften deutlich werden, ohne dass diese Aspekte jedoch von Heidegger zu einem kohärenten Dingbegriff zusammengefügt werden. Das Wahrheitsgeschehen, durch welches das Kunst­ werk bestimmt ist, lässt sich aber nicht auf eine Einsicht in das Wesen der Dinge beschränken. Die Bestimmung der Wahrheit als „Streit von Welt und Erde“ geht über die Frage nach dem Dinghaften hinaus, sie betrifft alles Seiende. Es handelt sich um eine Bestimmung, durch die Heidegger das Sein als eine differentielle Einheit beschreiben kann, als ein Geschehen, in dem zwei Phänomenbereiche und die ihnen zugehörigen Gegebenheitsweisen aufeinander bezogen werden. Heideggers Werkbegriff gewinnt durch die Ausführungen über Streit, Welt und Erde an Anschaulichkeit. Zugleich wirft die Vieldeutigkeit der einzelnen Mo­ mente dieser Bestimmung neue Fragen auf. 1.3.2.1. Erde, φύσις und Natur Die Vieldeutigkeit der Bestimmung trifft vor allem auf den Begriff der Erde zu.194 Es handelt sich zunächst um den Phänomenbereich dessen, was im weitesten Sinne als ‚natürlich‘ gilt. Die Erde beinhaltet aber nicht nur alles, was zur ‚Natur‘ gehört, sondern auch alles, was ‚eine Natur hat‘, d.h. durch ein Wesen bestimmt ist. Ausgehend vom Sinn des Worts im alltäglichen Gebrauch, in dem ‚Erde‘ zu­ nächst für eine Beschaffenheit des Bodens steht,195 beschreibt Heidegger unter diesem Titel verschiedene phänomenale Grundzüge der Natur in diesem dop­ pelten Sinne, wobei je nach Kontext unterschiedliche Aspekt dieses Bedeutungs­ spektrums hervorgehoben werden. Trotz dieser Schwierigkeit hat die Erde eine besondere Prominenz in der Rezeption des Kunstwerkaufsatzes gewonnen,196 194  „Es ist nicht leicht zu sehen, was genau mit ‚Erde‘ gemeint ist. Der Begriff soll alles umfassen, was nicht geschichtliche Welt ist und zugleich nur bezeichnen, was durch den Wesenszug der Unzugänglichkeit bestimmt ist.“ Figal, Erscheinungsdinge, 199. 195  In dieser Bedeutung wird die Erde im Zusammenhang mit dem Bild van Goghs von Heidegger erwähnt. Die Schuhe werden im Rahmen von Heideggers Interpretation in einem zweiten Schritt bereits auf den Streit von Welt und Erde bezogen, ohne dass dieser im Text bereits eingeführt worden wäre: „Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet.“ Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, 19. 196 Interpretationen, in denen die „Erde“ eine zentrale Rolle spielt, sind unter anderem Michel Haar, Le chant de la terre. Heidegger et les assises de l’histoire de l’Être, Paris 1985; Dieter Mersch, Posthermeneutik, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 26, Berlin 2010, 110–112; Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst, Frankfurt am Main 1991, 176 sowie John Sallis, Echoes, insbesondere 186–189.

1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens

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was nicht zuletzt daran liegt, dass sie für Heideggers Werkbegriff deutlich prä­ gender ist als das komplementäre Prinzip der Welt. Während der Begriff der Welt für Heideggers philosophischen Ansatz von Anfang an zentral war, wird der Begriff der Erde, vermittelt durch die Lektüre Hölderlins,197 erst im Kunstwerkaufsatz systematisch entfaltet. Erde und Erd­ haftigkeit sind Kategorien, die für das Verständnis von Heideggers Werkbegriff besonders einschlägig sind. Die von Heidegger herangezogenen Beispiele von Werken, die im Zusammenhang mit der Dingfrage erläutert wurden, zeichnen sich, wie dargelegt wurde, allesamt durch einen deutlichen Naturbezug aus, der mit Heidegger genaugenommen als deren Zugehörigkeit zur Erde verstanden werden kann. Die Wahrheit vollzieht sich in diesen Werken so, dass sie die Erde „her-stellen“, d.h. die Erde als Erde erscheinen lassen.198 Den Begriff der Natur vermeidet Heidegger hier, da er traditionelle Dichotomien und Implikationen nahelegt, die er für den Kunstwerkaufsatz nicht übernehmen möchte. Das Be­ griffspaar von Welt und Erde sollte dementsprechend auch nicht einfach auf die Differenz von Natur und Kultur bezogen werden, weil auch diese Differenz in der Philosophie alles andere als selbstverständlich und unproblematisch ist. Der griechische Begriff der Physis hingegen erscheint für das von Heidegger umris­ sene Verständnis von Erde instruktiv: Das „Herauskommen und Aufgehen selbst und im Ganzen nannten die Griechen frühzeitig die Φύσις. Sie lichtet zugleich jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen gründet. Wir nennen es die Erde.“199 Die Physis versteht Heidegger als ein dynamisches Geschehen, das durch eine innere Spannung charakterisiert ist. Physis bezeichnet zunächst das natürliche Wachstum.200 In der griechischen Philosophie wird damit aber vor allem der Begriff des Wesens gefasst.201 In seiner Interpretation der aristotelischen Physik identifiziert Heidegger Φύσις dementsprechend mit der οὐσία (Seiendheit).202 197  An seiner ersten Vorlesung über Hölderlins Dichtung lässt sich nachvollziehen, wie Heidegger den Naturbegriff Hölderlins für sein Verständnis von ‚Erde‘ fruchtbar macht. Vgl. Heidegger, Die Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 61, 84–93, 140, 224. Heidegger identifiziert Hölderlins Naturbegriff mit seinem Verständnis des griechischen Worts φύσις. Vgl. Heidegger, Die Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 255. Zu­ dem ist Heidegger ausführlich auf die Rolle von ‚Erde‘ und ‚Himmel‘ in Hölderlins Spätwerk eingegangen. Vgl. Heidegger, Hölderlins Erde und Himmel, GA 4, 152–181. 198 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 32–33. 199 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28. 200  Das Wort leitet sich etymologisch vom Verb φύειν (‚wachsen lassen‘) ab. Vgl. Frisk, Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Band 2, Sp. 1052–1054. 201  Man denke beispielsweise an den Titel von Heraklits Werk Περὶ φύσεως. Der Ti­ tel von Heraklits Buch ist bei Diogenes Laertios überliefert Vgl. Herrmann Diels/Walther Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. Aufl., Hildesheim 1951, 22 (Heraklit), A1. 202 Heidegger, Vom Wesen und Ursprung der Φύσις, GA 9, 260. Vgl. Heidegger, Einfüh­ rung in die Metaphysik, GA 40, 17: „Die Φύσις ist das Sein selbst, kraft dessen das Seiende erst beobachtbar wird und bleibt.“

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Heidegger interpretiert das natürliche Wachsen und Aufgehen und das Wesen einer Sache als Aspekte einer Grundbedeutung, der entsprechend Physis allge­ mein als das Aufgehen oder Erscheinen von Seiendem zu verstehen ist. Er über­ setzt – auch wenn es dafür keine tragfähigen philologischen Anhaltspunkte gibt – diesen Gedanken sogar in die griechische Sprache zurück: „Sein eröffnet sich den Griechen als Φύσις. Das aufgehend-verweilende Walten ist in sich zugleich das scheinende Erscheinen. Die Wortstämme φυ- und φα- nennen dasselbe. Φύειν, das in sich ruhende Aufgehen, ist φαίνεσθαι, Aufleuchten, Sich-zeigen, Erscheinen.“203 Die ursprüngliche Erfahrung des natürlichen Erscheinens der Dinge soll aber nicht als ungebrochene Anwesenheit oder vollkommene Präsenz gedacht werden. Den heraklitischen Satz „φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ“ („Die Natur verbirgt sich gerne.“), 204 nimmt Heidegger als Zeugnis dafür, dass es am Anfang der griechischen Philosophie ein Seinsverständnis gegeben habe, für das Ent­ zugsmomente wesentlich seien: „Sein [aufgehendes Er‑scheinen] neigt in sich zum Sichverbergen. Weil Sein heißt: aufgehendes Erscheinen, aus der Verbor­ genheit heraustreten, deshalb gehört zu ihm wesenhaft die Verborgenheit, die Herkunft aus ihr. Solche Herkunft liegt im Wesen des Seins, des Erscheinenden als solchen. In sie bleibt das Sein zurückgeneigt, sei es in der großen Verhüllung und Verschweigung, sei es in der flachsten Verstellung und Verdeckung. Die un­ mittelbare Nähe von φύσις und κρύπτεσθαι offenbart in einem die Innigkeit von Sein und Schein als ihren Streit.“ 205 Das Aufgehen und Entbergen der Physis ist also zugleich ein Verbergen oder genauer ein „Sichverbergen“. Diese Verschrän­ kung korrespondiert mit der Auffassung, die Heidegger im Kunstwerkaufsatz von der Erde entwickelt: „Die Erde ist das zu nichts gedrängte Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden.“206 Wenn Physis und Erde derart enggeführt werden, stellt sich die Frage nach dem Unterschied zwischen dem Sinn des griechischen und dem des deutschen Worts. David Espinet schlägt in Hinblick darauf eine unterschiedliche Akzen­ tuierung des Entzugsmoments vor: „Während Heidegger unter dem Titel der Physis meist die Verborgenheit unter dem Blickwinkel des Aufgehens und Er­ scheinens beleuchtet, beschreibt die Erde das Aufgehen von der Verborgenheit her, aus der Physis erscheint.“207 Die Überlegung, die Erde gleichsam als einen dynamischen Grund für die Physis zu interpretieren, erscheint plausibel. Espi­ net weist zudem darauf hin, dass es sachlich nicht gerechtfertigt ist, Heideggers Begriff der Erde in die der nationalsozialistischen Blut- und Bodenideologie ein­ 203 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 108. Vgl. Diels/Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 22 (Heraklit), B123. 204  Vgl. Diels/Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 22 (Heraklit), B123. 205 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 122. 206 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35. 207 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 55.

1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens

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zuordnen.208 Zwar ist die Erde von Heidegger auch als ‚Heimat des deutschen Volks‘ gedacht worden, aber nicht in einem rassisch-biologischen Sinne. Ent­ scheidend ist für Heidegger eine philosophische Aneignung. Die Erde kann Hei­ degger zufolge nur dann eine Heimat bieten, wenn sie durch die Kunst als solche erkennbar wird: „Die Erde wird durch das Werk erst welthaft und als solche zur Heimat.“209 Heimat ist in diesem Sinne kulturell bestimmt.210 Mit der Bestimmung der Erde als dem Grund, auf dem gebaut und gewohnt werden kann, kommt ein Wortsinn ins Spiel, der über die Verbergungstendenz natürlicher Dinge hinausgeht. Verbinden lassen sich diese beiden Bedeutung­ saspekte allein durch die geschichtliche Dimension der Erde. Heidegger be­ schreibt diese Dimension vor allem in Hinblick auf die Gefahr der „Zerstörung der ­Erde“.211 Aber auch der Umstand, dass eine konkrete Landschaft als Heimat erfahren werden kann, lässt sich mit Heidegger durch die Geschichtlichkeit der Erde begründen. Eine Landschaft ist nicht nur durch Erdformationen und natür­ liche Vegetation, sondern auch durch Formen der Bewirtschaftung und Besied­ lung geprägt, die sich kontinuierlich verändern. Ohne den Eingriff des Menschen in die Natur, ohne die Auswirkungen kultureller Praktiken auf die Natur gäbe es keine Landschaft. Nicht nur die Nutzbarkeit, sondern auch die Verbergungsten­ denz der Erde blieben unerkannt. Die geschichtliche Identität eines bestimmten Erdteils ergibt sich nach Heidegger also nicht zuletzt aus dem Wechselspiel von natürlichem Wachstum und kontinuierlicher Aneignung und Gestaltung, deren konkrete Formen auch hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit ethisch problematisiert werden können.212 Zu diesem Verständnis der Erde gehört für Heidegger auch die Erfahrung intensivierter sinnlicher Qualitäten: „Wir heißen den Einklang dieser unüber­ bietbaren Fülle die Erde und meinen damit nicht eine abgelagerte Stoffmasse und nicht den Planeten, sondern den Einklang des Gebirges und des Meeres, der Stürme und der Luft, des Tages und der Nacht, die Bäume und das Gras, den Adler und das Roß. Diese Erde – was ist sie? Jenes, das ständige Fülle ent­ faltet und doch das Entfaltete immer in sich zurücknimmt und einbehält. […] 208  David Espinet, Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde, 55. Vgl. Dieter T homä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers, 1910–1976, Frankfurt am Main 1990, 707. 209 Heidegger, Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung), 158. 210  Auch ein kulturell verstandener Heimatbegriff kann freilich für nationalistische Zwecke ins Feld geführt werden. Inwiefern Heidegger das getan hat, ist jedoch eine Frage, die an dieser Stelle vom Erkenntnisinteresse der Arbeit zu weit wegführen würde. 211 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 41. Zum Zusammenhang von Technik-Kritik und Ökologie-Debatte vgl. Hanspeter Padrutt, „Heideggers Denken und die Ökologie“, Heidegger-Studies 6 (1990), 43–66. 212  Wer diesen Sinn von Erde als Heimat mit Heidegger erläutern möchte, kann die Erde daher nicht, wie Espinet vorschlägt, als „transgeschichtlichen Grund“ interpretieren. Vgl. Espinet, Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde, 54.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Alle ihre Dinge verströmen sich im wechselweisen Einklang und doch: in jedem der sich verschließenden Dinge ist das gleiche Sichnichtkennen.“213 An dieser Beschreibung, die offenkundig durch Erfahrung von Naturschönem motiviert ist, wird deutlich, dass die Erde ohne das Wahrheitsgeschehen der Kunst und die Sprache der Dichtung nicht gedacht werden kann. Heideggers Beschreibung verweist somit auf einen klassischen Topos der kantischen Ästhetik, nämlich auf die Einsicht, dass sich Naturschönes und Kunstschönes gegenseitig bedingen: „Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.“ 214 Heideggers Konzeption der Erde bietet eine Begrün­ dung für dieses Wechselverhältnis und modifiziert es zugleich: Die Dinge, die sich im „wechselweisen Einklang verströmen“, werden nur durch die Werke der Kunst als solche erkennbar, so ist die Erfahrung des Naturschönen bei Heideg­ ger im Unterschied zu Kant nicht in der Subjektivität des Betrachters begründet, sondern darin, dass das Kunstwerk eine spezifische Materialität besitzt. Es ist erdhaft: „All dies kommt hervor, indem das Werk sich zurückstellt in das Mas­ sige und Schwere des Steins, in das Feste und Biegsame des Holzes, in die Härte und den Glanz des Erzes, in das Leuchten und Dunkeln der Farbe, in den Klang des Tones und in die Nennkraft des Wortes.“215 Kunstwerke sind als solche erd­ haft und können daher offenbaren, wie die Dinge, die sich entbergen und ver­ bergen, zur Erde gehören. Die sich stetig wandelnde Erde gewinnt im Werk eine feste Gestalt: „Hier strömt der in sich beruhte Strom des Ausgrenzens, das jedes Anwesende in sein Anwesen begrenzt.“ Dieses Begrenzen durch die Kunst wird als zwangloses Geschehen beschrieben. Die Erde bleibt im Kunstwerk die „Mü­ helose-Unermüdliche“. Im Unterschied zu industriellen Fertigungsprozessen, in denen Rohstoffe verbraucht werden, ist das Kunstwerk in der Lage, die zur Erde gehörigen Dinge in ihrer Materialität als solche zum Vorschein zu bringen.216 Indem das Kunstwerk die Erde „her-stellt“, sie in die Offenheit bringt, verhilft sie ihr erst zu ihrem vollen Wesen: „Das Werk läßt die Erde eine Erde sein.“217

213 Heidegger,

Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung), 156. Immanuel, Kritik der Urteilskraft, B 179. 215 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 32. 216  Zur Rolle Technik-Kritik in Heideggers Kunstverständnis vgl. Diana Aurenque, „Die Kunst und die Technik, Herstellung ποίησις, τέχνη“, in: Espinet/Keiling (Hrsg.), Heideggers Ursprung des Kunstwerks, Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, 33–45. 217 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 32. 214 Kant,

1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens

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1.3.2.2. Welt und Welten Das durch das Kunstwerk ermöglichte Erscheinen der Erde gehört für Heideg­ ger mit dem „Aufstellen einer Welt“ zusammen.218 Das Werk gewinnt so einen Geschehenscharakter, der sich in verschiedene Weisen des „Stellens“ differen­ zieren lässt: Indem ein Werk geschaffen wird, wird die Erde her‑gestellt und eine Welt auf‑gestellt.219 Interessant ist in diesem Zusammenhang der wechselnde Gebrauch von bestimmten und unbestimmten Artikeln. Während Heidegger vor allem von ,der Erde‘ im bestimmten Singular spricht, ist von ‚Welt‘ in der Re­ gel in indefiniter Einzahl die Rede.220 Diese Verwendungsweise legt nahe, dass es mehrere ‚Welten‘ geben kann. Ein solcher Gebrauch des Wortes, der in Husserls Verständnis von „Sonderwelten“ vorgeprägt ist,221 könnte dazu dienen, den Be­ griff einer spezifischen Welt der Kunst zu prägen,222 aber er wäre auch dazu ge­ eignet, die Unterschiede in der welteröffnenden Funktion verschiedener Kunst­ werke zu verdeutlichen. Weil es sich bei der Vorstellung von mehreren Welten jeweils um ein relatives Ganzes handelt, ist dieser Wortgebrauch aber letztlich von dem Verständnis der ‚Welt‘ im Sinne der Totalität des Seienden abhängig. Wenn bei Heidegger ‚die Welt‘ gemeint ist, ist die Extension des Begriffs mit dem der ‚Erde‘ deckungsgleich. Alles, was ist, gehört sowohl zur Welt als auch zur Erde. Allerdings bedeuten diese Zugehörigkeiten zum Ganzen verschiedenes. Weltlich ist ein Ding dann, wenn es in den „menschliche[n] Strukturen der Be­ deutungsproduktion, ‑rezeption und ‑organisation eingegliedert [ist]“.223 Sofern über ein Ding gesprochen werden kann, hat diese Integration immer schon statt­ gefunden. Es macht für Heidegger daher keinen Sinn zu fragen, wie die Dinge 218 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28, 34. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass in Heideggers Interpretation von Dürers Feldhase im Kontext der Kritik an mimetischen Kunstvorstellungen in Abgrenzung von „darstellen“ und „Darstellung“ auch von „erstellen“ und „Erstellung des Seins“ die Rede war (Vgl. Heidegger, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 115.). Heidegger modifiziert das Verb ‚stellen‘ durch verschiedene Präfixe, um unterschiedliche Aspekte und Weisen der ποίησις, d.h. des Hervorbringens und Erscheinens von Dingen zu beschreiben. Für den Werkbegriff seiner Kunstphilosophie ist dabei vor allem die Abgren­ zung von der Technik entscheidend, deren Wesen Heidegger im Rückgriff auf denselben Wortstamm als „Ge-stell“ bestimmt. (Vgl. Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 20). 220  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28, 30–31. 221  Vgl. Edmund Husserl, Ideen zur einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Husserliana, IV, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag 1952, 182. Vgl. zum Weltbegriff in der Phänomenologie insgesamt Christian Bermes, Welt als T hema der Philosophie vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg 2004. 222  Zu einem kritischen Vergleich des Weltbegriffs in Heideggers Kunstwerkaufsatz und Dantos Verständnis von ‚artworld‘ vgl. Daniel O. Dahlstrøm: „Kunst und Weltweisheit“ in: Christoph Jamme/Karsten Harries (Hrsg.), Martin Heidegger – Kunst, Politik, Technik, München 1992, 45–58. 223 Espinet, Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde, 47. 219 

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

sich außerhalb dieser Strukturen verhalten. Entzugsmomente, die durch die Zu­ gehörigkeit eines Dings zur Erde erklärt werden können, sind immer nur in den Strukturen der Welt erkennbar. Im Kunstwerkaufsatz wird die geschichtliche Dimension dieser Strukturen betont: „Die Welt ist die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfa­ chen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Vol­ kes.“224 Die Welt wird hier als Bereich politischer Zusammenhänge vorgestellt, der sich weniger von den Handlungen der Akteure, sondern vielmehr von der Wirkung herausragender Ereignisse her verstehen lässt. Diese Ereignisse besit­ zen eine innere Gesetzmäßigkeit, in der Freiheit und Notwendigkeit koinzidie­ ren. Dies trifft auch auf das Kunstwerk zu. Es gehört in die Offenheit, die durch die „weiten Bahnen der Entscheidungen“ geprägt ist, eröffnet diese aber zugleich. Die Welt, die Heidegger beschreibt, ist nicht nur als Offenheit bestimmt, sondern ist zugleich eine verbindliche Instanz. In der ersten Ausarbeitung des Kunstwer­ kaufsatzes kommt dieser Aspekt noch stärker zum Tragen. Dort ist die Rede von dem „Geleit“ der Welt: „weisend hält es unser Tun und Lassen entrückt in ein Gefüge von Verweisungen“.225 Während sich die Erde durch die Verbergungs­ tendenz einer abschließenden Erkenntnis entzieht, so sind es bei der Welt die Weite und Komplexität der sprachlichen Bezüge, die es unmöglich machen, sie zu vergegenständlichen. Die Welt wird von Heidegger daher auch als das „Unge­ genständliche“ bezeichnet.226 Während die Erdhaftigkeit eines Dings gerade in dessen Konkretion besteht, weist ein Ding in seiner Welthaftigkeit immer über sich hinaus, nicht nur auf andere Dinge, sondern in eine offene Weite. Indem man sich diese Weite vor Augen führt, wird man dessen gewahr, dass die eigene Einsicht in ihre Strukturen begrenzt ist. Mehr von der Welt zu verstehen bedeu­ tet dann auch, sich möglicher Täuschungen bewusst zu werden – und dies im­ pliziert die Möglichkeit der Entfremdung. Aus diesem Grund wird die Welt von Heidegger an einer Stelle auch als das „Unheimische“ bezeichnet.227 Und auch dieser Zusammenhang kann im Kunstwerk präsent werden: „Das Unheimische, was jedes Werk umwittert, ist jene Abgeschiedenheit, in die das Werk – ganz nur seine Welt aufstellend – sich zurückstellt.“228 Mit der Welt ist ein größerer Zusammenhang bezeichnet als mit der im Kon­ text der Erde erwähnten Heimat. Zugleich ist dieser größere Zusammenhang immer nur aus einer bestimmten Perspektive erkennbar. Die Welt übersteigt die Lebenswelt eines Einzelnen und ist doch getrennt von dieser nicht erfahrbar: „Welt weltet.“229 Sie ist ein Geschehen, das sich an einem einzelnen Ort verdich­ 224 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35. Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung), 153. 226 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 30. 227 Heidegger, Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung), 154. 228 Heidegger, Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung), 154. 229 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 31.

225 Heidegger,

1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens

59

tet. So eröffnet das Werk einen Raum, in dem sich auch das Selbstverständnis einer Gemeinschaft entwickeln kann. Dieses kann aber als solches nicht abge­ schlossen sein, sondern muss auf etwas Äußeres, auf einen Bereich des Fremden und Unbekannten bezogen bleiben. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, ‚Welt‘ so­ wohl im Singular als auch im Plural zu gebrauchen. Ein Kunstwerk ist zunächst auf nichts anderes als auf die Welt bezogen, die es eröffnet: „In-sich-aufragend eröffnet das Werk eine Welt und hält diese im waltenden Verbleib.“230 Die jewei­ lige von einem Werk eröffnete Welt zeichnet den Rahmen der Werkinterpreta­ tion vor, sie übersteigt aber zugleich den Horizont der Kunst und ermöglicht das kulturelle Selbstverständnis einer Gemeinschaft. Durch das Aufstellen der Welt ist die Kunst für die kollektive Identitätsbildung entscheidend, für Heidegger hat diese aber nur einen Sinn, sofern sie als Erfahrung von Offenheit gedacht wird: „Das Werk hält das Offene der Welt offen.“231 Diese Offenheit ermöglicht grundsätzlich auch die Rezeption von Werken, die ihre identitätsstiftende Kraft in anderen Gemeinschaften als der eigenen entfaltet haben, das heißt sowohl des kulturell Fremden als auch den Werken vergangener Epochen. Dieser Aspekt des Werkbegriffs ließe sich daher, auch wenn das nicht Heideggers Intention ist, als die Voraussetzung einer kosmopolitischen Form von Kunstrezeption expli­ zieren. Wenn es mehrere Kunstwerke gibt und dementsprechend auch eine Vielzahl von eröffneten Welten, dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Welten zueinander und ihrem Bezug zu ‚der‘ Welt. Heidegger beantwortet diese Frage im Kunstwerkaufsatz nur implizit. Die Wahl seiner Beispiele verdeutlicht, dass es ihm vor allem um das Verhältnis von zwei Welten geht: die Welt der griechi­ schen Antike und die seiner eigenen Gegenwart. Diese Perspektive ist zweifellos einseitig und durch ihre politischen Implikationen im nationalsozialistischen Deutschland durchaus problematisch. Sie ist aber zumindest insofern produktiv, als an ihr deutlich wird, dass die Welt im Sinne eines universalen Horizontes des Verstehens und nicht unabhängig von der konkreten Lebenswirklichkeit einer Gemeinschaft erfahren werden kann. Die Weite des Offenen erschließt sich von partikulären Standpunkten aus. Die Welt als erkennbare Totalität zu denken, würde diese Einsicht schlicht überspringen. Aus diesem Grund ist die Welt, die durch das Werk aufgestellt wird, zugleich immer auch „eine Welt“ und „diese Welt“.232 Deswegen stellt sich hier die Frage, wie die im Verlauf der Geschichte eröffneten Welten in ihrer Verschiedenheit aufeinander bezogen werden kön­ nen, wenn es gilt, eine umfassende Perspektive zu entwerfen. Heideggers Erör­ terung des Streits von Welt und Erde kann auch als eine Antwort auf diese Frage interpretiert werden. So sehr sich die Welt einer griechischen Polis von der Le­ 230 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 30. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 31. 232 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 31. 231 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

benswirklichkeit in der Moderne unterscheidet, sind nach Heidegger doch beide durch die Struktur des Streits bestimmt. 1.3.2.3. Harmonie und Agon Der Begriff des Streits bringt das „Gegeneinander“ und das „Gegenwendige“ in der Beziehung von Welt und Erde zum Ausdruck.233 Heidegger orientiert sich dabei an Heraklits Auffassung des λόγος, die aus den überlieferten Fragmenten zu πόλεμος und ἁρμονίη herausgearbeitet werden kann.234 Heraklits Gedanke der Zusammengehörigkeit der Gegensätze wird von Heidegger in den Kontext seiner Kunstphilosophie übertragen. Was es bedeutet, dass das Kunstwerk, als „Anstiftung“ und „Bestreitung“ des Streits von Welt und Erde zu verstehen ist,235 wird deutlicher, wenn man sich die heraklitischen Motive dieser Idee vor Augen führt. Als Ausgangspunkt dafür kann das Fragment B53 dienen: „Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.“236 Der Krieg erscheint hier als der Ursprung der durch Gegensätze geprägten Struktur des Logos. Durch die Gegenüberstellung von Göttern und Menschen einerseits und Freien und Sklaven andererseits verweist Heraklit darauf, dass diese Vorstellun­ gen von sozialen Rollen so aufeinander bezogen sind, dass die eine ohne die an­ dere nicht bestehen könnte. Heidegger interpretiert die Struktur des Logos, auch wenn bei Heraklit an den entscheidenden Stellen vom Sein nicht ausdrücklich die Rede ist, ontolo­ gisch.237 Nicht nur interpersonale Beziehungen, sondern alles, was dem Men­ schen durch den Logos zugänglich ist, wird durch die Einheit der Gegensätze bestimmt. Was zueinander im Verhältnis der Gegensätzlichkeit steht, ist nach Heraklit besonders eng miteinander verbunden. Dieser Gedanke ist für das Verständnis des Streits, von dem der Kunstwerkaufsatz handelt, entscheidend: „Welt und Erde sind wesentlich voneinander verschieden und doch niemals von­ einander getrennt.“238 Sie bilden ineinander verschränkte Phänomenbereiche. Heidegger begründet diese Verschränkung damit, dass sie in das Geschehen der Wahrheit hineingehören: „Erde durchragt nur die Welt, Welt gründet sich nur auf die Erde, sofern die Wahrheit als der Urstreit von Lichtung und Verbergung 233 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35, 42, 49, 51. (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, VS 22 (Heraklit), B8, B51, B53 und B54. Das Verhältnis einander entgegenstehender Dinge wird in B53 als παλίντονος ἁρμονίη bezeichnet, es ist aber auch die Variante παλίντροπος überliefert. Diels übersetzt „gegenstrebige Vereinigung“. Vgl. Heidegger Interpretation des Fragments bei Heidegger, Heraklit, GA 55, 147–155. 235 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 36. 236  Diels/Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 22 (Heraklit), B53. 237  Vgl. Heidegger, Logos (Heraklit, Fragment 50), GA 7, 218. 238 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35. 234 Diels/Kranz

1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens

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geschieht.“239 ‚Durchragen‘ und ‚Gründen‘ stehen hier für die ontologische Auf­ fassung des Streits, der geschichtlich wirksam ist. Am Streit wird von Heidegger zudem das agonale Moment hervorgehoben: „Die Welt trachtet in ihrem Aufru­ hen auf der Erde, diese zu überhöhen. Sie duldet als das Sichöffnende kein Ver­ schlossenes. Die Erde aber neigt dahin, als die Bergende jeweils Welt in sich ein­ zubeziehen und einzubehalten.“240 ‚Aufruhen‘, ‚Einbeziehen‘ und ‚-halten‘ sind Formen der Bewegung, die kein äußeres Ziel haben. In der näheren Erläuterung des Streitcharakters finden sich so wieder Anklänge an Heideggers Verständnis der aristotelischen ἐντελέχεια. Die Rede vom ‚Trachten‘, ‚Überhöhen‘ und ‚Nei­ gen‘ verweist jedoch darauf, dass der Streit nicht als eine einheitliche und in sich vollendete Bewegung begriffen werden kann, sondern durch eine Vielzahl ein­ ander widerstreitender Bewegungen vollzogen wird. Der Streit führt letztlich zur Zuspitzung der Gegensätze: „Im Streit trägt jeder das andere über sich hinaus. Der Streit wird so immer strittiger und eigentlicher, was er ist.“241 Damit in der Steigerung des antagonistischen Moments die Zusammengehörigkeit der bei­ den Phänomenbereiche nicht verloren geht, muss es einen Ort geben, in dem die entgegengesetzten Bewegungen zusammenlaufen. Dieser Ort ist das Kunstwerk. Das Werk ist das Ziel, das der Streit, in sich selbst trägt: „Weil der Streit im Ein­ fachen der Innigkeit zu seinem Höchsten kommt, deshalb geschieht in der Be­ streitung des Streites die Einheit des Werkes. Die Bestreitung des Streites ist die ständig sich übertreibende Sammlung der Bewegtheit des Werkes.“242 Mit „Innigkeit“ greift Heidegger an dieser Stelle einen Ausdruck Hölderlins auf.243 Er betont mit dem Wort die paradoxale Vereinigung der Gegensätze: „Je härter der Streit sich selbstständig übertreibt, umso nachgiebiger lassen sich die Streitenden in die Innigkeit des einfachen Sichgehörens los.“244 Der entschei­ dende Referenzpunkt für Heideggers Gedanken findet sich jedoch bei Nietzsche. In Der Ursprung der Tragödie aus dem Geiste der Musik ist es das Gegensatzpaar des Dionysischen und des Apollinischen, deren agonale Verbindung die Ent­ wicklung der griechischen Kunst auszeichnet.245 Wenn Heidegger im Kunstwer­ kaufsatz Hölderlins ‚Innigkeit‘ zitiert, dann ist immer auch Nietzsches Begriffs­ 239 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 42. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35. 241 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35. 242 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 36. 243  Vgl. zur Interpretation der ‚Innigkeit‘ Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Ge­ dicht „Wie wenn am Feiertage…“ in Heidegger, „Wie wenn am Feiertage…“, GA 4, 49–77, insbesondere 73–75. 244 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35. 245  Für Nietzsche geht es dabei zunächst um das griechische Drama: „…und hier bietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der ‚attischen Tragödie‘ und des dramatischen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel beider Triebe, deren geheim­ nisvolles Ehebündniss, nach langem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchen Kinde – das zugleich Antigone und Kassandra ist – verherrlicht hat.“ (Kursive Hervorhebung von N.M.). Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Kritische 240 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

paar mitzudenken, was sich mit einem Verweis auf das Ende von Heideggers erster Hölderlin-Vorlesung plausibilisieren lässt. Dort erläutert Heidegger Höl­ derlins Beschreibung der „widerstreitenden Innigkeit“ von Pathos und Nüch­ ternheit mit Nietzsches Begriffen des Dionysischen und des Apollinischen.246 An dieser Stelle zeigt sich, wie Heidegger diese beiden – für ihn ausgesprochen ein­ flussreichen – Autoren in seiner Kunstphilosophie miteinander verbindet und wie sich seine Lektüren gegenseitig beeinflussen. Nicht nur das Werkverständ­ nis, sondern auch die sprachlichen Mittel Heideggers sind – wie könnte es auch anders sein – historisch bedingt. Gleichzeitig muss die Aufnahme und Modifikation bestimmter Motive hier auch als philosophische Entscheidung mit systematischen Anspruch verstanden werden. Anstatt Heraklits Logos-Begriff, die Hölderlin’sche Innigkeit und das auf Nietzsche verweisende agonale Moment ins Spiel zu bringen, hätte Heideg­ ger den Streitcharakter auch auf den Begriff der Schönheit beziehen können. Für einen solchen Bezug fänden sich auch bei den zitierten Autoren genügend An­ haltspunkte. So lautet ein Satz Heraklits über die ἁρμονίη: „Das widereinander Strebende zusammengehend; aus dem auseinander Gehenden die schönste Fü­ gung.“247 In seiner ersten Vorlesung zu Heraklit, aus dem Sommersemester 1943, hat Heidegger dieses Fragment als eine Aussage über die Schönheit der Physis interpretiert und die Wendung „καλλίστην ἁρμονίαν“ („schönste „Fügung“) da­ bei als „erstrahlende Fügung“ übersetzt.248 Die Verbindung des Streitcharakters mit Harmonie und Schönheit findet sich auch an einer exponierten Stelle von Hölderlins Hyperion oder der Eremit in Griechenland wieder. Bei Hölderlin ist es die heraklitische Formel „εν διαφερον εαυτω“, die als „Wesen der Schönheit“ eingeführt wird.249 Da sich Heidegger im Kunstwerkaufsatz jedoch vom Voka­ bular der traditionellen Ästhetik emanzipieren möchte, vermeidet er eine Cha­ rakterisierung des Streits als definitorisches Merkmal von Schönheit und betont stattdessen die Spannung aus Einheit und agonaler Dynamik. Diese Spannung wird von Heidegger zudem durch zwei Begriffe präzisiert: „Riss“ und „Gestalt“.

Studienausgabe (= KSA), Band 1, hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1988, 42. 246  Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 293–294. 247 Diels/Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 22 (Heraklit), B8. 248 Heidegger, Heraklit, GA 55, 145. Zur Physis als das „Schöne“ vgl. Heidegger, Hera­ klit, GA 55, 148. 249  Vgl. Friedrich Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Sämtliche Werke, hrsg. von Dietrich E. Sattler, Band 11, Frankfurt am Main 1982, 681.

1.3. Das Kunstwerk als Ort eines Wahrheitsgeschehens

63

1.3.3. Die Präsenz des „Streits“ im Werk 1.3.3.1. „Riss“ Der Riss zeigt sich in der materiellen Präsenz des Streits von Welt und Erde: „Die Wahrheit richtet sich als Streit in ein hervorzubringendes Seiendes nur so ein, daß der Streit in diesem Seienden eröffnet, d.h. dieses selbst in den Riß ge­ bracht wird.“250 Der Streit ist in den Kunstwerken auf unterschiedliche Art und Weise präsent. Selbst wenn er in einem Kunstwerk nicht explizit thematisiert wird, kann er nach Heidegger an den formalen Eigenschaften von Kunstwerken festgemacht werden. Aus der Erörterung des Streitcharakters von Welt und Erde folgt, dass der Riss als Präsenz des Streits im Werk einen Vorgang einer Entge­ gensetzung bezeichnet, in dem das Entgegengesetzte aufeinander bezogen bleibt: „Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit des Sichzugehörens der Streitenden. Dieser Riß reißt die Gegen­ wendigen in die Herkunft ihrer Einheit aus dem einigen Grunde zusammen.“251 Das ‚Aufreißen‘ bezeichnet den Eingriff in die Erde, durch den ein Werk seine Materialität erhält. Dieser Eingriff ist keine Form der Zerstörung, sondern er fügt das ‚Auf-gerissene‘ zu einer konkreten Gestalt. Die Form eines Werks wird so auf das Geschehen des Risses zurückbezogen, das wiederum in sich durch seine gegensätzlichen Momente bestimmt ist: Der Riss ist das „einheitliche Ge­ züge von Aufriß und Grundriß, Durchriß und Umriß“.252 Im Riss kommt so der Entwurf eines Werks mit der Verwendung von Material und der konkreten Gestalt zusammen. Mit diesen Modifikationen des Grundworts ‚Riss‘ ließe sich eine Reihe von Hinweisen auf formale Aspekte von Kunstwerken verbinden.253 Heidegger ent­ scheidet sich im Kunstwerkaufsatz an dieser Stelle für die Interpretation des be­ reits oben angeführten Satzes von Dürer: „Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.“254 Dürer reflektiert die Pro­ duktion von Kunst und greift dabei den klassischen Topos der Mimesis auf. Zu­ gleich erfährt dieser Topos bei Dürer eine spezifische Wendung. Die Kunst wird als etwas dargestellt, das der Natur inhärent ist. Um ein Kunstwerk zu schaffen, muss der Künstler die geometrischen Proportionen in der Natur erkennen, die 250 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 51. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 51. 252 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 51. 253  In seiner ersten Hölderlin-Vorlesung spricht Heidegger vom „Riß“ im Sinne der „rei­ ßenden Zeit“, sowie dem „Fortriß in die Zukunft“ und betont so den prozessualen Cha­ rakter des Risses. Des Weiteren finden sich in der Vorlesung auch der „Zusammenriß“ als Ausdruck für den Vorgang, durch den das „eigenste Wesen des Einzelnen“ erweckt wird sowie die Rede von der „Erde“, die durch den „Sturm des Göttlichen in ihren Gründen und Abgründen aufgerissen wird“ [Kursivsetzung N. M.]. Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 8, 105, 109. 254 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 58. 251 Heidegger,

64

1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

schon für sich genommen als ‚Kunst‘ gelten können. Die Kunst ist aber nicht nur in ihrer Regelmäßigkeit zu begreifen, sondern auch als Prinzip des Schaffens­ vollzugs, durch den Schönes hervorgebracht wird. Wenn sich der Künstler dieses Prinzip aneignet, dann gleicht seine Tätigkeit einer zweiten Schöpfung. 255 In Ab­ grenzung vom christlichen Gott schafft der Künstler aber nicht aus dem Nichts, sondern eignet sich die Natur durch Beobachtung und Studium an. In einem Kunstwerk wird die Natur gleichsam zu etwas von Menschen Neugeschaffenem. Da Dürer diese Tätigkeit auch als ‚Herausreißen‘ bezeichnet, betont er zugleich die Differenz zwischen Kunst und Natur. Das Erschaffen von Kunstwerken wird von Dürer demnach auch als Überwindung dieser Differenz und Aneignung der Natur begriffen: „wer sie heraus kann reißen, der hat sie.“ 1.3.3.2. „Gestalt“ Auch bei der Bestimmung der „Gestalt“ eines Kunstwerks bleibt im Kunstwerk­ aufsatz die bildende Kunst maßgebend. Die Gestalt ergibt sich aus dem Zusam­ menspiel sichtbarer Eigenschaften, die auf ein Ganzes bezogen sind. Heidegger betont diesen Aspekt, indem er die Gestalt als das „Gefüge, als welches sich der Riss fügt“ bezeichnet.256 Wie bei der Erläuterung des Risses und des Reißens ist auch hier der Bezug zur Produktion und der verwendeten Apparatur deut­ lich: „Was hier Gestalt heißt, ist stets aus jenem Stellen und Ge-stell zu denken, als welches das Werk west, insofern es sich auf- und herstellt.“257 Das Ge-stell bezeichnet an dieser Stelle noch nicht wie in späteren Texten das Wesen der Technik. Heidegger verweist damit vielmehr auf die verschiedenen Weisen der ποίησις, die zum Geschehen der Kunst gehören und später in seiner Auseinan­ dersetzung mit der Technik weiter ausdifferenziert werden. In dieser Hinsicht ist Ernst Jüngers Abhandlung Der Arbeiter ein wichtiger Bezugspunkt für Heidegger. In Jüngers Text spielt die „Gestalt“ eine zentrale Rolle. Jünger zielt mit seinen Überlegungen zum Arbeiter ausdrücklich nicht auf eine Begriffsbestimmung, sondern versucht, die Beschreibung eines Typus zu entwickeln, der für das Verständnis des Menschen in der Moderne maßgeb­ lich sein soll. Die Gestalt des Arbeiters habe etwas Bezwingendes an sich. Denn „eine Gestalt ist, und keine Entwicklung vermehrt oder verändert sie“.258 Die in­ nere Geschlossenheit dieses Menschentypus widersetze sich einer begrifflichen Aneignung. Jünger lässt dementsprechend „eine leere Stelle“, lässt ein „Fenster“ 255 

Zu Dürers Verständnis von der Kunst als „Zweiter Schöpfung“ und der „Gotteseben­ bildlichkeit“ des Künstlers vgl. Fedja Anzelewski, „Das Selbstbildnis von 1500“, in: ders., Dürer-Studien: Untersuchungen zu den ikonographischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen seiner Werke zwischen den beiden Italienreisen, Berlin 1983, 90–100. 256 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 51. 257 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 51. 258  Ernst Jünger, Der Arbeiter, Stuttgart 1982, 89.

1.4. Die Zeitlichkeit des Werks

65

offen, „das durch die Sprache nur umrahmt werden kann und das vom Leser durch eine andere Tätigkeit als die des Lesens ausgefüllt werden muß“.259 Um den Typus des Arbeiters zu verstehen, sind demnach praktische Erfahrungen nötig, die es ermöglichen, ein Verhältnis zur Moderne zu gewinnen. Heidegger hat den Arbeiter in der Entstehungszeit des Kunstwerkaufsatzes eingehend studiert und sich dabei auch kritische Anmerkungen zu Jüngers Ver­ ständnis von „Gestalt“ notiert. Seine Kritik betrifft die Uneinheitlichkeit des Wortgebrauchs. Jünger meine mit Gestalt drei verschiedene Dinge: 1. Ganz­ heit im Sinne der „gegenwärtigen Gestalt-theorie“, 2. Den „rechtverstandenen Ideen-Begriff“, 3. Die ausgezeichnete Rolle des Arbeiters im Sinne des „Typus Übermensch“.260 Für die Interpretation des Kunstwerkaufsatzes sind diese No­ tizen aufschlussreich. Die ersten beiden Bedeutungen lassen sich auch in Hei­ deggers Wortgebrauch ausmachen. Auch im Kunstwerkaufsatz ist der Spielraum für unterschiedliche Lesarten von „Gestalt“ relativ weit. Heidegger formuliert das Verhältnis von Riss und Gestalt nicht eindeutig. Einerseits bezeichnet er die Gestalt als „in den Riß gebrachte[n] und so in die Erde zurückgestellte[n] und damit festgestellte[n] Streit“, andererseits ist sie das „Gefüge, als welches sich der Riss fügt“.261 In der ersten Formulierung wird die Identität des Agens offenge­ lassen, in der zweiten Formulierung besitzt der Riss diese Funktion. Demnach wäre der Riss vor allem als das Geschehen zu verstehen, in dem der Streit von Welt und Erde seine Präsenz im Werk gewinnt und die Gestalt als die bestän­ dige Form dieser Präsenz. In dieser Lesart entsprechen Riss und Gestalt den am Streit herausgestellten Strukturmomenten von Dynamik und Einheit. Der Text des Kunstwerkaufsatzes schreibt eine solche definitorische Trennung der beiden Ausdrücke jedoch nicht fest. Um Heideggers Ausdrücke „Riss“ und „Gestalt“ für die Interpretation von Kunstwerken zu nutzen, müsste also zunächst ein eigen­ ständiger Umgang mit ihrer Beweglichkeit gewonnen werden.

1.4. Die Zeitlichkeit des Werks Riss und Gestalt gehören für Heidegger als Momente eines Wahrheitsgeschehens zur Kunst. Welche Bedeutung hat es aber für den Werkbegriff, dass die Wahr­ heit als ein Geschehen bestimmt ist? Inwiefern ist ein Werk zeitlich bestimmt,262 259 Jünger,

Der Arbeiter, 85. Vgl. Heidegger, Zu Ernst Jünger, GA 90. 261 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 51. 262  Gottfried Boehm hat die Kategorie der Temporalität für Heideggers Werkbegriff hervorgehoben: „Kunstwerke […] bringen nicht nur etwas Verständliches hervor, sondern lassen auch etwas Neues ins Dasein kommen. Kunstwerke sind in diesem Sinne Ereignisse.“ Gottfried Boehm, „Im Horizont der Zeit. Heideggers Werkbegriff und die Kunst der Mo­ derne“, in: Walter Biemel/Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), Kunst und Technik. 260 

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

und in welcher Hinsicht ist es ereignishaft?263 Die spezifische Ereignishaftigkeit von Kunstwerken zeigt sich auf zwei verschiedenen Ebenen. Sie bestimmt ei­ nerseits die Kunsterfahrung des Einzelnen, sie gehört andererseits auch zu der geschichtlichen Dimension eines Kunstwerks. Die Erfahrung, dass ein bestimm­ tes Werk „ist und nicht vielmehr nicht ist“, ist nach Heideggers Verständnis von ­Kunst­erfahrung wesentlich.264 Ein ‚echtes‘ Kunstwerk versetzt den Betrachter ins Staunen. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang auch vom „factum est“, der Tatsache, dass überhaupt etwas derartiges wie ein Kunstwerk da ist. In dem Ausdruck „factum est“ klingt ein Satz des Johannesevangeliums nach: „Ver­ bum caro factum est.“265 („Das Wort ist Fleisch geworden.“) Der Anklang an den christlichen Gedanken der Inkarnation verdeutlicht, mit welcher Emphase Hei­ degger die Gegenwart von Kunstwerken denkt. Zum Staunen über die Einzigartigkeit eines Kunstwerks kann auch ein Ge­ fühl von Befremdung hinzutreten: „Je wesentlicher das Werk sich öffnet, um so leuchtender wird die Einzigkeit dessen, daß es ist und nicht vielmehr nicht ist. Je wesentlicher dieser Stoß ins Offene kommt, umso befremdlicher und einsa­ mer wird das Werk.“266 Kunstwerke unterscheiden sich von Dingen, mit denen man im Alltag umgeht, nicht zuletzt deshalb, weil sie aus gewohnten Ordnungs­ systemen herausfallen. Dabei kann ein Werk auch unheimlich oder beunruhi­ gend wirken: „Das Ereignis seines Geschaffen-seins zittert im Werk nicht ein­ fach nach, sondern das Ereignishafte, daß das Werk als dieses Werk ist, wirft das Werk vor sich her und hat es ständig um sich geworfen.“267 Die Rede vom Zittern erinnert an Heideggers Bestimmung der Angst in Sein und Zeit und in der An­ trittsvorlesung Was ist Metaphysik?. Selbst wenn die Angst ausgeblendet wird, so kann sie als „Grundbefindlichkeit“ des Daseins doch nie vollkommen ver­ schwinden: „Die Angst ist da. Sie schläft nur. Ihr Atem zittert ständig durch das Dasein: …“268 Sowie die Angst den Alltag stimmt, auch wenn sie nicht als solche wahrgenommen wird, so ist der Stoßcharakter der Kunst im Werk aufbehalten, auch wenn er nicht unmittelbar als solcher erfahren wird.

Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, Frankfurt am Main 1989, 255–286, hier 260. 263  Heidegger hat zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt in seinem Handexemplar des Kunstwerkaufsatzes den Begriff „Ereignis“ immer wieder an entscheidenden Stellen des Textes angemerkt. Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 1, 25, 31, 32, 39, 41, 42, 43. Daran lässt sich erkennen, dass Heideggers Bestimmung des Werkbegriffs und des Wahrheitsgeschehens der Kunst das Ereignisdenken der Beiträge in entscheidender Weise vorbereitet hat. 264 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 53. 265  Biblia Sacra Vulgata, hrsg. von Andreas Beriger u.a., Berlin 2018, Joh. 1, 14. 266 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 53. 267 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 53. 268 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9 117.

1.4. Die Zeitlichkeit des Werks

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Der Stoßcharakter der Kunst ist mit der Grundbefindlichkeit der Angst in mehrfacher Hinsicht vergleichbar. Beide bilden eine Zäsur in der alltäglichen Zeiterfahrung. In Sein und Zeit wird der Angst die Bedeutung beigemessen, die Verfallenstendenz des Daseins zu suspendieren und die Einsicht in das Wesen des eigentlichen Daseins zu ermöglichen.269 Die Angst führt zu einer Vertiefung des Selbstverhältnisses des Menschen. Das in Angst befindliche Dasein verein­ zelt sich, es wird aus der Mitte der Mitmenschen und der Welt entrückt und erfährt diese Bewegung zunächst als Bedeutungsverlust. Was vorher Geltung besaß, erscheint plötzlich als nichtig und unheimlich.270 Dieselbe Wirkung be­ schreibt Heidegger im Zusammenhang mit dem Stoßcharakter der Kunst: Das „Gewöhnliche und Bisherige [wird] zum Unseienden.“271 Dieser Einstellungs­ wechsel dient Heidegger auch als Kriterium, um bedeutende Kunstwerke mit ei­ ner selbstverständlich gewordenen ästhetischen Praxis zu kontrastieren: „Sobald jener Stoß ins Un-geheure im Geläufigen und Kennerischen abgefangen wird, hat um die Werke schon der Kunstbetrieb begonnen.“272 Zu diesem Betrieb gehört für Heidegger nicht zuletzt auch die wissenschaft­ liche Beschäftigung mit der Kunst. Die Wissenschaft tauscht die emphatische Empfänglichkeit für das einzelne Werk gegen eine sachliche Betrachtungsweise ein, in der existenziell aufgeladene Redeweisen wie etwa diejenige vom Stoßcha­ rakter der Kunst als deplatziert erscheinen. Während die Wissenschaft nach Hei­ degger aber durch ihren Beitrag zur „sorgfältigen Überlieferung“ unverzichtbar sei, erscheint ihm der „bloße Kunstgenuß“ den eigentlichen Anspruch, den be­ deutende Werke an ihre Rezipienten stellen, grundsätzlich zu verfehlen.273 Diese kulturkritische Tendenz in Heideggers Kunstphilosophie führt zu einer Abwer­ tung dessen, was als gesellschaftlicher Normalfall im Umgang mit der Kunst gelten kann. Kunstwerke sollten im Sinne des Kunstwerkaufsatzes vor allem in Hinblick auf immanente Qualitäten und unabhängig von ihren sozialen Entste­ hungs- und Rezeptionsumständen betrachtet werden. Wenn der Künstler eines Werks anonym bleibt, ist das nach Heideggers Verständnis daher auch eine be­ sonders günstige Situation für die Rezeption: „Dort, wo der Künstler und die Umstände der Entstehung des Werks unbekannt bleiben, tritt dieser Stoß, die­ ses ‚Daß‘ des Geschaffenseins am reinsten aus dem Werk hervor.“274 Durch die Konzentration auf das Werk wird die Zuschreibung zu einem Künstler marginal. Der Stoßcharakter lässt sich nicht auf einen Künstler zurückführen, sondern auf 269 

Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 184–191. Zum Verhältnis von Angst, Verstimmung und Umstimmung und Psychopathologie vgl. Marc Richir, „Phénoménologie et Psychiatrie: d’une division interne à la Stimmung“, Études phénoménologiques 15 (1992), 81–117. 271 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 60. 272 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 56. 273 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 56. 274 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 53. 270 

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

das Wahrheitsgeschehen, an dem nicht nur Künstler, sondern auch Rezipienten partizipieren. Im Zentrum des Geschehens steht aber das Werk: „Je einsamer das Werk, festgestellt in die Gestalt, in sich steht, je reiner es alle Bezüge zu den Menschen zu lösen scheint, um so einfacher tritt der Stoß, daß solches Werk ist, ins Offene, um so wesentlicher ist das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Scheinende umgestoßen.“275 1.4.1. Geschichtsstiftung Heidegger beschränkt diese Wirkung nicht auf die individuelle Rezeption, son­ dern spricht Kunstwerken das Potential zu, eine umfassende geschichtliche Wirkung zu entfalten: „Immer wenn Kunst geschieht, d.h. wenn ein Anfang ist, kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an.“276 Ge­ schichte ist demnach nicht etwas, das sich von alleine fortsetzt und einen konti­ nuierlichen Verlauf besitzt, sondern ein Zusammenhang, der durch Bewegungen bestimmt ist, die anfangen, aber auch aussetzen, neu beginnen, aber auch auf­ hören können. Was in der Geschichte geschieht, gehört zu der Geschichte, weil es in Sinnstrukturen einbehalten ist, die aus Einzelereignissen hervorgehen. In diesem Sinne sind Kunstwerke auch geschichtliche Ereignisse, die in Heideg­ gers Verständnis zudem zur Ausbildung kollektiver Identitäten von vorgestellten Gemeinschaften beitragen. Problematisch an Heideggers Konzeption ist jedoch, dass er diesen Zusammenhang auf die nationale Bedeutung einzelner Künstler und einzelner Werke beschränkt: „Geschichte meint hier nicht die Abfolge ir­ gendwelcher und sei es noch so wichtiger Begebenheiten in der Zeit. Geschichte ist die Einrückung eines Volkes in sein Aufgegebenes als Einrückung in sein Mit­ gegebenes.“277 Die wissenschaftliche Darstellung historischer Zusammenhänge wird von Heidegger mit der Idee eines nationalen Schicksals kontrastiert. An dieser Stelle wird Heideggers Parteinahme für den Nationalsozialismus deut­ lich. Die Rede von ‚Volk‘, dem ‚Auf-‘ und ‚Mitgegebenen‘ im Kunstwerkaufsatz erzeugt Anklänge, die nicht überhört werden sollten.278 Heideggers Geschichts­ auffassung ist in dieser Zeit von der nationalsozialistischen Ideologie beeinflusst, sie lässt sich aber auch nicht einfach auf eine ideologische Position reduzieren. 275 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 54. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 65. 277 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 65. 278  Für einen fundierten Beitrag zur ideengeschichtlichen Verortung von Heideggers Kunstwerkaufsatz im Kontext des „mythisch-theologischen Denken des Politischen“ in den 1930er Jahren vgl. Christian Sommer „Nämlich sie wollten stiften/ein Reich der Kunst“ in Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 11 (2012), 229–261. Für eine ausführliche Ein­ ordnung von Heideggers Kunstphilosophie in verwandte Problemstellungen des deutschen Idealismus, die Heideggers vermeintlichen „Weg zum Mythos“ als Abkehr von „moderner Rationalität“ kritisiert, vgl. Andreas Grossmann, Spur zum Heiligen. Kunst und Geschichte im Widerstreit zwischen Hegel und Heidegger, Bonn 1996, insbesondere 154–239. 276 Heidegger,

1.4. Die Zeitlichkeit des Werks

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Heidegger selbst nimmt nicht explizit Bezug auf die politischen Verhältnisse sei­ ner Zeit, sondern konzentriert sich auf die Einführung von Begriffen, mit denen er sein Verständnis von Kunstwerken und ihrer geschichtlichen Dimension zu fassen sucht. So wird die durch die Kunst in Gang gesetzte Geschichte als „Stif­ tung von Wahrheit“ konkretisiert.279 Heidegger unterschiedet drei Aspekte des Stiftens: „Schenken“, „Gründen“ und „Anfangen“.280 Kunst stellt gerade dann ein wichtiges Identifikationsangebot zur Verfü­ gung, wenn sie von einer Gemeinschaft als ein unverfügbares Geschehen, als ein unerwartetes Ereignis oder ein glücklicher Zufall erfahren wird. Aber auch die individuelle Rezeption eines Kunstwerks kann sich an der Logik der Gabe orientieren.281 Eine Gabe lässt sich weder erzwingen noch lässt sie sich zurück­ zahlen. Ein Künstler kann für seine Arbeit zwar Anerkennung gewinnen, aber diese Vorgänge bleiben dem Werk letztlich äußerlich. Der angemessene Umgang mit Kunstwerken lässt sich daher nicht auf die finanzielle Förderung und ge­ sellschaftliche Anerkennung von Künstlern reduzieren. Mitunter verhindert der Ausdruck von Anerkennung sogar, dass ein Kunstwerk wirken kann. Das ge­ schieht beispielsweise dann, wenn im T heater oder im Konzertsaal an unpassen­ den Stellen geklatscht wird. Der Wunsch, Zustimmung und Gefallen auszudrü­ cken, kann die für die Rezeption eines Werks geforderte Offenheit überdecken. Kunstwerke sollen aber von ihren Rezipienten nach Heideggers Verständ­ nis auch als Aufforderung begriffen werden, die eigenen Selbstverständnisse zu überprüfen. Dabei geht es Heidegger nicht nur um die Ablösung überkomme­ ner, sondern auch um die Gewinnung neuer Maßstäbe für ein Selbstverständ­ nis des Einzelnen wie der Gemeinschaft. Zur Stiftung von Wahrheit gehört da­ her auch der Aspekt der Gründung. Das Kunstwerk erhält eine Verbindlichkeit gerade deshalb, weil es mehr ist als ein Mittel zur Selbstüberprüfung. Die sich selbst ins Werk setzende Wahrheit bildet einen Anfang, der zukünftiges Seins­ verständnis vorprägt. Kunstwerke sind demnach nicht nur Ausdruck ihrer Zeit, sondern führen die Bedingungen für eine zukünftige Rezeption mit sich. Hei­ degger denkt diese Rezeption als die Entfaltung eines Potentials, das einzelnen, herausragenden Werken inhärent ist: „Der echte Anfang ist als Sprung immer ein Vorsprung, in dem alles Kommende schon übersprungen ist, wenngleich als ein Verhülltes. Der Anfang enthält schon verborgen das Ende.“282 Heideg­ ger konkretisiert diese auf seine eigene Nation zentrierte geschichtsphilosophi­ sche Konstruktion, indem er der griechischen Antike eine Vorbildfunktion zu­ 279 

Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 63. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 63. 281  Zur Logik der Gabe vgl. Jacques Derrida, Donner le temps. 1. La fausse monnaie, Paris 1991 sowie die klassische ethnologische Studie von Marcel Mauss, „Essai sur le don. Forme et raison de l'échange dans les sociétés archaiques“, in: ders., Sociologie et anthropologie, Paris 2003, 145–184. 282 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 64. 280 

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

schreibt: „Immer wenn das Seiende im Ganzen als das Seiende selbst die Grün­ dung in die Offenheit verlangt, gelangt die Kunst in ihr geschichtliches Wesen als die Stiftung. Sie geschah im Abendland erstmals im Griechentum. Was künftig Sein heißt, wurde maßgebend ins Werk gesetzt.“283 Aus diesem Grund hat das bisher noch ausgeklammerte Beispiel des griechischen Tempels eine herausgeho­ bene Bedeutung für die Argumentation des Kunstwerkaufsatzes. Das Bauwerk, das Heidegger mit literarischen Mitteln evoziert,284 gehört zu der von ihm als „maßgebend“ anerkannten Stiftung eines Anfangs. An diesem Beispiel wird die geschichtliche Dimension des Werkbegriffs daher besonders deutlich. 1.4.2. Der griechische Tempel In Heideggers Beschreibung des griechischen Tempels kehrt eine Reihe von Mo­ tiven wieder, die bereits für die Auswahl und Erläuterung der im Text voran­ gehenden Beispiele von Bedeutung waren. So geht es beim griechischen Tem­ pel unter anderem auch um einen besonderen Naturbezug, der in der gesteiger­ ten Präsenz der Materialität und der umgebenden Landschaft thematisch wird. Der Felsen ist ein elementarer Bestandteil der Erde und erscheint zunächst als „dunkel“ und „ungefügt“.285 Er hat keine klar begrenzbare Gestalt, ist schwer fassbar und zugleich getrennt und unterschieden von anderen Dingen. Wer ihn aufschlägt, um sein Inneres zu betrachten, findet doch nur neuerlich eine feste Oberfläche vor. Das Eindringen in das Innere des Felsens ist schlechterdings un­ möglich. Das Innere entzieht sich der Wahrnehmung. Der Felsen ist „zu nichts gedrängt“ und trägt das Bauwerk.286 Er hält dem Wetter stand und so kann an ihm auch die Gewalt der Natur veranschaulicht werden. Darüber hinaus ist in Heideggers evokativer Beschreibung auch vom „Glänzen“ und „Leuchten“ des Felsens die Rede.287 Er spiegelt das Licht der Sonne. Zur beschriebenen Erfah­ rung des Felsens gehört hier also nicht nur der Entzug, sondern auch ein aura­ tisches Moment. Die Landschaft wird durch das Bauwerk in ihrer Präsenz ver­ 283 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 64. Heidegger reiht Hauptsatz an Hauptsatz, beginnt die Sätze vorwiegend mit bestimm­ ten Artikeln und greift bei der Beschreibung der Landschaft klassische Motive auf. Als Tiere werden beispielsweise „Adler“, „Stier“, „Schlange“ und „Grille“ genannt (Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28), die in der griechischen Literatur einschlägig sind. Vgl. zu Adler und Schlange etwa Homer, Ilias, XII, 200–210. Zu Grille Christian Hüne­ mörder, „Art. Grille“, in: Hubert Cancik/Helmut Schneider (Hrsg.), Der Neue Pauly, Band 4 Stuttgart, 1998 Spalte 1242, Stier Michael Jameson, „Art. Rind“, in: Hubert Cancik/Helmut Schneider (Hrsg.), Der Neue Pauly, Band 10, Spalte 1014–1020, insbesondere 1015–1017. In­ dem Heidegger diese klassischen Motive aufgreift, gewinnt seine Beschreibung des griechi­ schen Tempels einen erstaunlichen Reichtum an Resonanzpotentialen, die vom jeweiligen Leser in seiner Lektüre unterschiedlich realisiert werden können. 285 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28. 286 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28. 287 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28. 284 

1.4. Die Zeitlichkeit des Werks

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stärkt und alle einzelnen Dinge, die zur Umgebung gehören, gewinnen eine „ab­ gehobene Gestalt“.288 Nebensächlich ist, ob hier ein konkreter Tempel, eine bestimmte Abbildung oder eine literarische Beschreibung als Vorlage diente. Zwar wird im Text an einer vorangehenden Stelle ausdrücklich auf den Tempel von Paestum verwie­ sen,289 aber die Beschreibung würde auch auf andere antike Kultstätten passen. Heideggers Beschreibung zielt auf den exemplarischen Typus.290 Der griechi­ sche Tempel kann als ein geschichts- und gemeinschaftsstiftendes Kunstwerk interpretiert werden, das nicht nur einer vergangenen kulturellen Epoche zu­ zuordnen ist, sondern für die Welt der griechischen Antike eine konstitutive Bedeutung hatte.291 Heidegger geht es darum, die zentrale Stellung des Tempels im Leben der griechischen Polis auf emphatische Weise nachzuvollziehen. Die­ sem Zweck dienen auch die Beschreibungen einer imaginären Landschaft. Ein griechischer Tempel stellt nach Heideggers Auffassung aber nicht nur die Erde her, sondern auch eine Welt auf, er „fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Se­ gen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Ge­ stalt seines Geschickes gewinnen“.292 Diese Gegensätze bestimmen die Welt des antiken Griechenlands. Sie bilden den Verständnisrahmen, in dem die „einfa­ chen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Vol­ kes“ Sinn ergeben.293 Die im weitesten Sinne ‚politische‘ Funktion des Tempels, d.h. seine grundsätzliche Bedeutung für die Polis als Ganze, integriert im mo­ dernen Wortsinn politische und religiöse Aspekte in das Wahrheitsgeschehen der Kunst. Denn das Aufstellen der Welt ist hier auch ein „Errichten im Sinne von Weihen und Rühmen“. Der Tempel schafft einen heiligen Ort, an dem eine Gottheit präsent werden kann. Die Präsenz der Gottheit, ihr „Anwesen“ ist wie­ 288 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28. Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 26. 290  Auch für einen Protagonisten der Architekturgeschichte der Moderne wie Le Cor­ busier ist der antike Tempelbau gerade als Typus von besonderer Bedeutung gewesen. Le Corbusier hat hier allerdings im Gegensatz zu Heidegger vor allem standardisierte Herstel­ lungsverfahren im Blick, die eine kontinuierliche Verfeinerung der Formgebung ermög­ lichen. So kann Le Corbusier das Parthenon mit dem Design des Automobils vergleichen. Vgl. Le Corbusier, Vers une architecture, Paris 1923, 111. 291  In dieser Hinsicht schließt Heidegger an Hegels Interpretation der griechischen Tempelarchitektur an. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Sämtliche Werke, Band 13, Frankfurt am Main 1970, 117. 292 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 27–28. Diese Aufzählung von Ge­ gensatzpaaren, die Heidegger an anderer Stelle wiederholt, erinnert an die Komposition des bereits zitierten Fragments Heraklits, auf das Heidegger selbst verweist (Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 29): „Krieg [πόλεμος] ist Vater aller Dinge, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ 293 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35. 289 

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

derum mit dem auratischen Moment von „Würde“ und „Glanz“ verbunden. 294 Der Tempel eröffnet einen „heiligen Bezirk“, in diesem Bezirk „west Gott an“.295 Für Heideggers Beschreibung des griechischen Tempels ist die Gegenwart des Göttlichen ein entscheidendes Moment. Der Tempel stellt nichts dar, auch die Götterstatue soll nicht als ein Abbild verstanden werden, sondern als Gegenwart des Göttlichen im heiligen Bezirk. Es geht hier um das Erscheinen des Transzen­ denten in der Welt. Heidegger vergleicht den Tempel in dieser Hinsicht mit der griechischen Tragödie: „In der Tragödie wird nicht auf- und vorgeführt, sondern der Kampf der neuen Götter gegen die alten wird gekämpft. Indem das Sprach­ werk im Sagen des Volkes aufsteht, redet es nicht über diesen Kampf, sondern verwandelt das Sagen des Volkes dahin, daß jetzt jedes wesentliche Wort diesen Kampf führt und zur Entscheidung stellt, was heilig ist und was unheilig, was groß und was klein…“296 Auch wenn Heidegger durch die ausführliche Beschrei­ bung des Tempels die Bedeutung der Baukunst für die griechischen Welt hervor­ hebt, schreibt er anderen Kunstwerken wie der Tragödie eine vergleichbare Rolle zu. Demnach stellt auch die griechische Literatur einen Bezug zu den Göttern her. Indem Heidegger diesen Transzendenzbezug ebenso wie den Ursprung des Politischen in das Wahrheitsgeschehen der Kunst integriert, erfahren Werke wie der Tempel eine emphatische Aufwertung. Was Heidegger im Blick hat, über­ steigt die wissenschaftliche Einordnung seines Beispiels in einen historischen Kontext. Der Tempel wird nicht als ein Beispiel antiker Kultur genommen, son­ dern er wird als die ereignishafte Stiftung eines umfassenden Seinsverständ­ nisses gefasst. Es geht Heidegger um die Evokation eines Kunstwerks, an dem deutlich wird, wie die zuvor nur abstrakt erörterte geschichtliche Dimension des Wahrheitsgeschehens der Kunst erfüllt werden kann. Die Konkretion der geschichtlichen Dimension des Werkbegriffs, die Heideg­ ger durch die Beschreibung des griechischen Tempels erreicht, wirft ein neues Licht auf die zuvor angeführten Beispiele. Es ergibt sich eine problematische ­Diskrepanz. Denn weder dem Stillleben van Goghs noch dem Gedicht Con­ rad Ferdinand Meyers kann eine ähnliche geschichtliche Tragweite beigemes­ sen werden wie einer antiken Kultstätte, deren Funktion von Heidegger retro­ spektiv überhöht wird. Während das Herstellen der Erde im Falle des Stilllebens oder des Gedichts hinsichtlich der phänomenalen Gesichtspunkte mit dem Tem­ pel vergleichbar ist, ist das Aufstellen von Welt offenkundig davon verschieden. Zwar spricht Heidegger auch in Bezug auf die Schuhe von der ‚Welt der Bäuerin‘, aber diese Assoziation hat eine beschränkte Verbindlichkeit. Es ist unklar, ob ein von seiner gesellschaftlichen Bedeutung her gesehen eher marginales Kunstwerk überhaupt als weltaufstellend bezeichnet werden sollte. Wenn ein Bild als Stif­ 294 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 30. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 27. 296 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 29. 295 Heidegger,

1.4. Die Zeitlichkeit des Werks

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tung begriffen werden soll, lässt sich seine weltaufstellende Bestimmung jeden­ falls nicht auf eine Richtlinie für die Ekphrasis reduzieren. Es müsste, ebenso wie ein Sakralbau, eine zentrale Funktion im Kontext identitätsstiftender sozialer Praktiken beanspruchen können. Orientiert man sich in der Rekonstruktion von Heideggers Werkbegriff an dieser ebenso anspruchsvollen wie problematischen geschichtsstiftenden Perspektive, stellt sich die Frage, inwieweit es sich bei van Goghs Schuhe und Meyers Der Römische Brunnen nach Heidegger überhaupt um Kunstwerke im vollen Sinne des Wortes handeln kann. Einerseits werden sie im Text ausdrücklich als solche angeführt. Andererseits lassen sie die am griechi­ schen Tempel beschriebene geschichtliche Tragweite des umrissenen Wahrheits­ geschehens vermissen. Diese Diskrepanz in der Bewertung antiker und moder­ ner Kunst gründet in Heideggers philosophiegeschichtlich bedingten, ambiva­ lenten Auffassung der eigenen Gegenwart. 297 1.4.3. Koordinaten eines aporetischen Geschichtsbildes Im Nachwort zum Kunstwerkaufsatz greift Heidegger dieses Problem auf: „Hat die Rede von den unsterblichen Werken und vom Ewigkeitswert der Kunst einen Gehalt und einen Bestand? Oder sind dies nur noch halbgedachte Redensarten zu einer Zeit, in der die große Kunst samt ihrem Wesen von dem Menschen ge­ wichen ist?“298 Heidegger macht deutlich, dass die Antwort auf die Frage nach dem Status der modernen Kunst nach seiner Auffassung in einer Auseinander­ setzung mit Hegels Ästhetik zu suchen ist. Was sich am Beispiel des griechischen Tempels als einheitliches Wahrheitsgeschehen beschreiben lässt, in dem Politik, Religion und Kunst zusammenwirken, gehört für Hegel zu einer Vergangenheit, die weder Maßstab für ein Verständnis der eigenen Gegenwart noch Vorbild für zukünftige Kunst sein kann. Die Moderne ist für Hegel durch die „roman­ tische Kunstform“ geprägt, in der im Unterschied zur „klassischen Kunstform“ der Antike das Bewusstsein herrscht, dass sich das Ideelle im Sinnlichen nicht adäquat darstellen lasse. Der Transzendenzbezug wird für ihn nicht mehr durch die Kunst gestiftet: „Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortreff­ lich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet darge­ stellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.“299 Weder die Orientierung am griechischen Seinsverständnis noch an den Entzugsphäno­ menen, die Heidegger in seiner Interpretation Hölderlins hervorhebt, sind für Hegels Ästhetik maßgeblich. 297  Auch Karsten Harries hat den unterschiedlichen Status der im Kunstwerkaufsatz diskutierten Beispiele betont. Er übernimmt bei der Problematisierung dieser Diskrepanz allerdings weitgehend Heideggers metaphysikkritische Modernediagnose, die im Folgen­ den grundsätzlich in Zweifel gezogen wird. Vgl. Harries, Art Matters, 121. 298 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 67–68. 299 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, 142.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Hegel bringe die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Kunst keine „we­ sentliche und notwendige Weise“ sei, in der für das „geschichtliche Dasein ent­ scheidende Wahrheit gesch[ehe]“.300 Heidegger erkennt einerseits an, dass diese Einschätzung des Verhältnisses von Kunst und Wahrheit die Moderne richtig charakterisiere. Er verfolgt im Kunstwerkaufsatz aber zugleich das Ziel, eine Perspektive zu entwickeln, in welcher der Kunst eine neue geschichtliche Trag­ weite zukommen könnte. Heidegger nennt neben der Kunst ausdrücklich die „staatsgründende Tat“, das „wesentliche Opfer“, die „Frage des Denkers“ und die „Nähe“ des höchsten Seienden als Weisen, in denen Wahrheit geschehen kann.301 Die Kunst soll Politik, Religion und Philosophie weder ersetzen noch mit ihnen vermischt werden; der Kunstwerkaufsatz provoziert jedoch die Frage, ob die Kunst zum Paradigma für andere Lebensbereiche werden kann. Die ge­ schichtsstiftende Funktion eines Kunstwerks ist nach Heidegger durch Wechsel­ wirkungen mit diesen Bereichen charakterisiert, die von der Philosophie zwar thematisiert, nicht aber vollständig eingeholt werden können. Die Philosophie kann sich die Wahrheit der Kunst demnach nie vollständig aneignen oder sie gar ersetzen. Der programmatische Anspruch von Heideggers Kunstphilosophie liegt daher darin, einen Werkbegriff zu entwickeln, der es ermöglicht, diesen be­ sonderen Bedeutungsüberschuss von Werken, der in der Sprache der Philosophie nicht eingeholt werden kann, und die damit einhergehende Angewiesenheit der anderen Bereiche auf die Kunst zu verstehen. Dieser Anspruch verhält sich analog zu Heideggers Kritik an der Technik und dem metaphysischen Denken, die sich auch über die Ästhetik als solche er­ streckt. Mit der Ästhetik sei eine Einstellung zur Kunst verbunden, die Gleich­ gültigkeit ausdrücke: „Sind wir in unserem Dasein geschichtlich am Ursprung? Wissen wir, d.h. achten wir das Wesen des Ursprunges? Oder berufen wir uns in unserem Verhalten zur Kunst nur noch auf gebildete Kenntnisse des Vergan­ genen?“302 Diese Fragen, die Heidegger direkt an den Leser richtet, sind keines­ wegs als Zeichen der Resignation, sondern eher als Kritik zu interpretieren. Sie appellieren an die Bereitschaft der Leser, ihr Verhältnis zur Kunst und zu deren Werken zu ändern. Den Maßstab für einen solchen revolutionären Einstellungs­ wechsel soll, was dem Leser aus dem vorangegangen Text nicht unmittelbar ein­ sichtig ist, das dichterische Werk Hölderlins geben: „Für dieses Entweder-Oder und seine Entscheidung gibt es ein untrügliches Zeichen. Hölderlin, der Dichter, dessen Werk zu bestehen den Deutschen noch bevorsteht, hat es genannt, indem er sagt: ‚Schwer verläßt / Was nahe dem Ursprung wohnt, den Ort.‘“303 Die Suche nach dem Ursprung der Kunst mündet nicht in einer allgemeingültigen Defini­ tion des Werkbegriffs, sondern in dem Appell, Hölderlins Lyrik zu lesen. Das 300 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 68. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 49. 302 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 65. 303 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 66. 301 Heidegger,

1.4. Die Zeitlichkeit des Werks

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Zitat aus der Hymne Die Wanderung wird von Heidegger als Hinweis dafür ver­ wendet, dass ein Wandel des Seinsverständnisses durch die Kunst möglich sei. Es ist bemerkenswert, dass Heidegger im Kunstwerkaufsatz nicht näher auf Hölderlins Dichtung eingeht. Allein an dem Schlusszitat wird deutlich, dass das Werk Hölderlins für das im Text vorgestellte Kunstverständnis entscheidend ist. Heidegger belässt es bei dieser Andeutung wohl nicht zuletzt deshalb, weil er für die Bestimmung des Werkseins doch eine gewisse Weite anstrebt, die die An­ wendung auf verschiedene Beispiele ermöglicht. Andererseits hat die Analyse von Heideggers Argumentation und seinen Beispielen gezeigt, dass die Bestim­ mung des Werkseins im Text keineswegs abgeschlossen ist und die Beispiele für das, was als Kunstwerk gelten kann, daher einen prekären Status besitzen. Was macht aber nun den entscheidenden Unterschied zwischen den zuvor themati­ sierten Kunstwerken und der Dichtung Hölderlins aus? Wieso kann Hölderlins Werk als Ursprung der Kunst und somit als Einspruch gegen Hegels T hese vom Ende der Kunst interpretiert werden? Der Kunstwerkaufsatz bietet keine eindeutige Antwort auf diese Fragen. Es finden sich im Text aber Anklänge an Hölderlins Dichtung, Spuren von Hei­ deggers Auseinandersetzung mit Hölderlin, die in dieser Hinsicht instruktiv sind.304 In Bezug auf den Stoßcharakter des Kunstwerks spricht Heidegger bei­ spielsweise vom „Ent- und Einrücken“: Das Werk könne nur dann seine Wir­ kung entfalten, wenn „wir uns selbst unserer Gewöhnlichkeit entrücken und in das vom Werk Eröffnete einrücken, um so unser Wesen selbst in der Wahr­ heit des Seienden zum Stehen zu bringen“.305 Eine ähnliche Formulierung hat Heidegger zuvor in der Vorlesung Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ verwendet, um die Wirkung der Dichtung Hölderlins zu charakteri­ sieren: Diese sei „ent­rückend zu den Göttern und einrückend in die Erde zu­ gleich“.306 Der Mensch wird durch ein Kunstwerk wie dasjenige Hölderlins also nicht nur in ein Verhältnis zur Erde, sondern auch in ein Verhältnis zum Göttlichen gesetzt. Diese Erfahrung wird von Heidegger zwar bereits im Kon­ text des ursprünglich geweihten und heiligen Bezirks des griechischen Tempels thematisiert. Hölderlins Dichtung aber markiert für Heidegger eine besondere Wendung in der Geschichte der Gottes­erfahrung. In den Gedichten Hölder­ lins manifestiere sich der Entzug des Göttlichen in der Moderne: „[Sie] ist die dürftige Zeit, weil sie in einem gedoppelten Mangel des Nicht steht: im Nicht­ 304  Dass Heidegger die Grundideen seiner Kunstphilosophie im Zuge seiner Beschäf­ tigung mit Hölderlin entwickelt hat, lässt sich an einer Stelle aus dem Briefwechsel mit Elisabeth Blochmann nachvollziehen. Im Brief vom 20. Dezember 1935 schickt er ihr eine Kopie der Vorträge und schreibt: „Zeitlich stammt es aus der glücklichen Arbeitszeit der Jahre 1931 u. 32. – wohin ich jetzt den gereifteren Anschluss wieder voll erreicht habe.“ Vgl. Joachim W. Storck (Hrsg.), Martin Heidegger – Elisabeth Blochmann, Briefwechsel, 1918–1969, Marbach am Neckar 1989, 86. 305 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 62. 306 Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 140.

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

mehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden.“307 Auch Ruinen griechischer Tempel stehen für einen solchen Verlust. Sie sind als Rui­ nen keine Kultstätten mehr, ihre eigentliche Bestimmung ist verloren gegangen: „Als die Gewesenen stehen sie uns im Bereich der Überlieferung und Aufbe­ wahrung entgegen. Fortan bleiben sie nur solche Gegenstände. Ihr Entgegen­ stehen ist zwar noch eine Folge jenes vormaligen Insichstehens, aber es ist nicht mehr dieses selbst. Dieses ist aus ihnen geflohen.“308 Ein griechischer Tempel ist heute nur noch weltaufstellend, insofern er einen konstitutiven Mangel deutlich machen kann. Der Bezug zum Göttlichen, der zum Wahrheitsgeschehen des Tempels in der Antike gehörte, scheint verloren gegangen zu sein. Aber gerade dieser Verlust wird von Heidegger als wesentlich für die eigene Zeit begriffen: „Auch das Verhängnis des Ausbleibens des Gottes ist eine Weise, wie Welt wel­ tet.“309 Der Verlust des Transzendenzbezugs kann also am Tempel nachvollzo­ gen werden, ist aber nichts, was sich in den Ruinen selbst ins Werk setzt. Anders verhält es sich bei Hölderlins Dichtung. Sie ist für Heidegger gerade als eine Artikulation des Verlusts von Transzendenzerfahrung in der Moderne ein maßgebliches Wahrheitsgeschehen. Die Ruinen griechischer Tempel, die in Hölderlins Werk ein wichtiges Motiv bilden,310 werden so zum Sinnbild einer authentischen Gotteserfahrung, welche nach Heidegger erfordert, den Verlust einer selbstverständlichen, ungebrochenen Tradition religiöser Praxis anzuer­ kennen: „Das Verzichtenmüssen auf die alten Götter, das Ertragen dieses Ver­ zichtes ist das Bewahren ihrer Göttlichkeit.“311 Doch selbst diese Form der Selbst­ bescheidung hat für Heidegger einen prekären Status. Die Moderne sei kaum noch zur Erinnerung an den Verlust einen Gottesbezug in der Lage: „Nicht nur das Heilige geht als die Spur zur Gottheit verloren, sondern sogar die Spuren zu dieser verlorenen Spur sind beinahe ausgelöscht.“312 Um nicht auch noch die Gottesvergessenheit zu vergessen und so ein wesentliches Moment von Wahr­ heit als solcher zu verkennen, plädiert Heidegger für die Auseinandersetzung mit der Dichtung Hölderlins. Sie scheint ihm durch die Intensität, mit der sie den Gottesentzug thematisiert, eine neue Verhältnisbestimmung von Menschli­ chem und Göttlichem zu ermöglichen und auf diese Weise etwas Wesentliches zu einem gewandelten Seinsverständnis in der Moderne beitragen zu können. In einem späteren Text, dem Vorwort zur Wiederholung der Rede Heimkunft/An die Verwandten geht Heidegger noch weiter: „Die Gedichte erscheinen wie ein 307 Heidegger,

Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 47. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 27. 309 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 31. 310  Vgl. dazu den Anfang des Hyperion „Aber was soll mir das? Das Geschrei des Jakals, der unter Steinhaufen des Alterthums sein wildes Grablied singt, schrökt ja aus meinen Träumen mich auf.“ Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, 583. 311 Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 95. 312 Heidegger, Wozu Dichter?, GA 4, 272. 308 Heidegger,

1.4. Die Zeitlichkeit des Werks

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tempelloser Schrein, worin das Gedichtete aufbewahrt wird.“313 Diese Formu­ lierung legt nahe, dass in Hölderlins Werk die entscheidenden Einsichten bereits gewonnen sind und allein der Ort fehlt, an dem diese umgesetzt werden können. Wenn Heidegger Hölderlins Verständnis der dürftigen Zeit und des Gottesent­ zugs interpretiert, geschieht das aber auch vor dem Hintergrund von Nietzsches Religionskritik. Das wird dort deutlich, wo Heidegger die dichterische Artiku­ lation des Gottesentzugs als ‚Tod der Götter‘ interpretiert. Eine neue Erfahrung des Göttlichen könne es solange nicht geben, bis das Volk „als Ganzes in seinem geschichtlichen Dasein als solchem die innerste Not des Todes der Götter zur wesentlichen Erfahrung und zu einem langen Ausdauern bringt“.314 Hölderlins Dichtung nimmt für Heidegger aber nicht nur eine Sonderrolle in Hinblick auf eine Neubestimmung des Göttlichen ein, sondern hat für ihn auch eine nationale Dimension. Auch dieser Zusammenhang ist aus dem Kunst­ werkaufsatz nicht unmittelbar ersichtlich, lässt sich aber aus dem Entstehungs­ kontext des Texts rekonstruieren. Die „Entrückung eines Volkes in sein Auf­ gegebenes als Einrückung in sein Mitgegebenes“, von der weiter oben bereits im Zusammenhang mit dem geschichtlichen Stoßcharakter des Kunstwerks die Rede war, verweist auf die Vorlesung Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“. Was das „Aufgegebene“ und „Mitgegebene“ eines Volkes sein soll, wo­ rin seine „Zugehörigkeit zur Welt-Geschichte“ besteht,315 kann anhand von Hei­ deggers Interpretation der Hymne Der Rhein rekonstruiert werden. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Gedicht endet in einer Bestimmung des „Wesens der Deutschen“. Es wird, unter Rückgriff auf den Brief Hölderlins an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, in seinem Verhältnis zum Griechentum beschrieben.316 Das Mitgegebene wird als dasjenige gedacht, was einem Volk von Natur aus zukomme, während das Aufgegebene das Fremde sei, das sich erst angeeignet werden müsse. Zum Mitgegebenen der Deutschen zählen bei Hölderlin „Klar­ heit der Darstellung“ und „junonische Nüchternheit“, das Aufgegebene wird als „Feuer des Himmels“ und „heiliges Pathos“ bezeichnet.317 Den Griechen sei hin­ gegen gerade das Pathos natürlich gegeben, während sie sich die strenge Darstel­ lungsart in ihrer Geschichte erst hätten aneignen müssen. Heidegger überträgt diese Zuordnung von Volkscharakteren auf sein eigenes Geschichtsbild.318 Dabei scheut Heidegger keine banalen Stereotype: „Den Deutschen ist mitgegeben: das 313 Heidegger,

Vorbemerkung zu Wiederholung der Rede „Das Gedicht“, GA 4, 194. Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 100. 315 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 61–62. 316 Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 290. 317  Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 291. 318  Der Begriff des „Geschichtsbildes“ wird hier bewusst in kritischer Absicht verwen­ det. Die Erörterung der nationalen Bedeutung Hölderlins besitzt genau die Tendenz zur Vereinfachung und Vereinnahmung, die Heidegger am „Kampf der Weltanschauungen“ in der Neuzeit kritisiert. Vgl. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, GA 5, 75–113, insbesondere 93–94. 314 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Fassenkönnen, das Vorrichten und Planen der Bereiche und das Rechnen, das Ordnen bis zum Organisieren.“319 Aus heutiger Sicht erzeugt diese Zuspitzung eine ironische Wirkung, was sich jedoch am Vorlesungstext nicht belegen lässt. Mit der Aufgabe, die „Deutschen zu dichten“,320 überlastet Heidegger die Dichtung Hölderlins jedoch.321 Gotteserfahrung und nationale Identität vom Werk eines einzelnen Autors abhängig machen zu wollen, spricht zwar für die Begeisterungsfähigkeit des Lesers,322 aber ist vor dem Hintergrund eines kriti­ schen, wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins nicht nachzuvollziehen. Darüber hinaus ist das Geschichtsbild, das Heidegger im Zuge seiner Hölderlin-Interpre­ tation zeichnet und das im Kunstwerkaufsatz in die Bestimmung des Werkseins hineinspielt, ausgesprochen einseitig. Weder die Festlegung des Transzendenz­ bezugs auf religiöse Verlusterfahrung noch eine nationale Bestimmung von Poli­ tik erscheinen der Sache nach notwendig. Indem Heidegger von beidem ausgeht, nimmt er eine Selbstverortung vor, durch die verdeckt wird, dass es sich dabei um nicht mehr als ein Verständnis der eigenen Gegenwart handelt, die in ihrer Komplexität eine Vielfalt divergierender Positionierungen ermöglicht.323 Diese Schwäche von Heideggers Kunstphilosophie sollte nicht überspielt werden. Für eine anwendungsorientierte Ästhetik, die sich auf die Interpretation von Beispie­ len konzentriert, lässt eine nähere Untersuchung von Heideggers Geschichtsbild daher keinen Gewinn erwarten. 319 Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien „und „Der Rhein“, GA 39, 92. Vgl. auch Heidegger, Hölderlins Hymne „Andenken“ , GA 52, 142–149. 320  Heidegger erläutert diesen Ausdruck wie folgt: „Dichter der Deutschen nicht als ge­ nitivus subiectivus, sondern als genitivus obiectivus; der Dichter, der die Deutschen erst dichtet.“ Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 220. 321  Zur Überlastung der Kunst durch eine Ästhetik, die Kategorien aus anderen Be­ reichen auf die Kunsterfahrung überträgt, vgl. Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989. Vgl. auch die bereits oben genannte Unterscheidung zwischen geschichtsphilosophisch vereinnahmter „Kunstphilosophie“ und phänomenologischer „Ästhetik“ in Figal, Erscheinungsdinge, 33–51. 322  Vgl. Markus Wild, „Heidegger, Staiger, Muschg. Warum lesen wir?“, in: Günter Fi­ gal/Ulrich Raulff (Hrsg.), Heidegger und die Literatur, Frankfurt am Main 2011, 107–130. 323  Man kann das mit der Hölderlin-Lektüre verbundene Geschichtsbild Heideggers auch im Zusammenhang seines nationalsozialistischen Engagements problematisieren. Heidegger hat jedoch allem Anschein nach die Bedeutung der Dichtung Hölderlins Anfang der 1930er Jahr in geschichtlicher Hinsicht für bedeutender gehalten als die nationalsozia­ listische Bewegung. Hölderlin sollte seiner Ansicht nach die „geschichtliche Macht“ werden, die das „Wesen der Deutschen“ bestimmt: „Weil er das noch nicht ist, muß er es werden. Hierbei mitzuhalten ist ‚Politik‘ im höchsten und eigentlichen Sinne, so sehr, daß, wer hier etwas erwirkt, nicht nötig hat, über das ‚Politische‘ zu reden.“ Heidegger, Hölderlins Hym­ nen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 214. Es steht außer Zweifel, dass Heidegger hier die Bedeutung der Dichtung und ihrer philosophischen Interpretation überschätzt. Lacoue-Labarthe hat diese Einstellung treffend als „Nationalästhetizismus“ beschrieben und kritisiert: Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, La fiction du politique. Heidegger, l’art et la politique, Paris 1987, Kap. 7.

1.4. Die Zeitlichkeit des Werks

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An Heideggers Interpretation von Hölderlins Werk zeigt sich aber auch ein grundsätzliches Problem für die Übertragung von Heideggers Kategorien in die Ästhetik und für deren Anwendung im Rahmen von Interpretationen. In­ dem Heidegger der Dichtung Hölderlins die skizzierte Ausnahmestellung zu­ schreibt, verengt er den Begriff des Werks auf eine Weise, die eine Operatio­ nalisierung und Depotenzierung seines Kunstverständnisses erschwert. Nimmt man die zeitgleich entstehende Hölderlin-Interpretation ernst, dann kommt als geschichtsstiftende Kunst, die nicht der Vergangenheit angehört, für Heidegger eigentlich nur Hölderlins Dichtung infrage. So wird das, was erst noch zu „be­ stehen“ ist,324 nicht nur als Maßstab für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft genommen. Hölderlins Dichtung bildet so verstanden gleichsam einen Ursprung der Kunst, der seine Wirkung noch nicht voll entfaltet hat. Wenn diese im Kunstwerkaufsatz implizit vorausgesetzte Ausnahmestellung Hölderlins be­ rücksichtigt wird, ergibt sich eine neue Möglichkeit, die geschichtliche Dimen­ sion von Kunstwerken zu differenzieren. Kunstwerke können als vergangene, als gegenwärtige und als zukünftige verstanden werden. Zu den vergangenen Werken zählt Heidegger nicht nur griechische Tempel, „die ,Ägineten‘“ oder „die Antigone des Sophokles“, sondern auch den beiläu­ fig erwähnten Bamberger Dom.325 Noch deutlicher wird diese Einordnung in der ersten Ausarbeitung des Textes: „An unseren ‚herrlichen deutschen Domen‘ können wir uns zwar ‚begeistern‘. Und dennoch – Weltzerfall und Weltentzug haben ihr Werksein gebrochen.“326 Die christliche Kunst des Mittelalters besitzt für Heidegger keine Kontinuität, die in seine Gegenwart hineinreicht. Bereits in einer Fußnote zu einem wesentlich früher entstandenen Text, dem Natorp-Bericht, hat Heidegger die bedingte Zugänglichkeit der mittelalterlichen Kunst fest­ gestellt: „Die Hymnologie und Musik des Mittelalters, ebenso wie seine Archi­ tektur und Plastik sind geistesgeschichtlich nur zugänglich auf dem Boden einer ursprünglichen phänomenologischen Interpretation der philosophisch-theolo­ gischen Anthropologie des Zeitalters, die sich mit- und umweltlich in Predigt und Schule mitteilte. Solange diese Anthropologie nicht explizit zugeeignet ist, bleibt der ‚gotische Mensch‘ eine Phrase.“327 Während im Kontext dieser frühen phänomenologischen Hermeneutik eine Aneignung der mittelalterlichen Kunst durch geisteswissenschaftliche Arbeit möglich und wünschenswert erscheint, er­ gibt sich vom Kunstwerkaufsatz her eine andere Perspektive. Indem Heidegger die Möglichkeit eines erneuerten Transzendenzbezugs auf die Auseinanderset­ zung mit Hölderlins Dichtung festlegt, kann ein Kunstwerk, das auf der ‚philo­ sophisch-theologischen Anthropologie des Mittelalters‘ beruht, nur von nach­ rangigem Interesse sein. 324 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 66. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 26. 326 Heidegger, Vom Ursprung des Kunstwerks (Erste Ausarbeitung), 151. 327 Heidegger, Interpretationen zu Aristoteles (Ontologie und Logik), GA 62, 370. 325 Heidegger,

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1. Der Werkbegriff in Der Ursprung des Kunstwerkes

Heidegger charakterisiert seine philosophische Vorgehensweise im Natorp-Bericht als „grundsätzlich atheistisch“.328 Im Kunstwerkaufsatz wird da­ gegen der Versuch deutlich, die Möglichkeit einer Gotteserfahrung jenseits von tradierten Formen zu denken.329 Wesentliche Vorbilder sind für Heideg­ ger dabei Hölderlin und Nietzsche: In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst, schreibt Heidegger, dass Nietzsche neben Hölderlin der einzige gläubige Mensch im 19. Jahrhundert gewesen sei.330 Wenn die literarische Darstellung re­ ligiöser Verlusterfahrung als Maßstab genommen wird, mag das als provoka­ tive Bemerkung einleuchten, bei der Überarbeitung der Nietzsche-Vorlesungen für die Veröffentlichung wurde sie von Heidegger freilich gestrichen.331 Eine derart exklusive Berufung auf einzelne Philosophen und Künstler und ihr reli­ giöses Selbstverständnis entzieht sich dem wissenschaftlichen Diskurs und ra­ tionaler Überprüfbarkeit. Ihre Untersuchung ermöglicht es zwar, im Einzelnen genauer nachzuvollziehen, inwieweit Heideggers Verständnis von Kunstwerken mit dem Moment der Transzendenzerfahrung verbunden ist. Wenn es darum geht, im Anschluss an Heidegger eine systematische Position in der philosophi­ schen Ästhetik zu gewinnen, erscheint hier eine klare Abgrenzung notwendig. Es ist grundsätzlich zu bedenken, wie in der Gegenwart religiöse und säkulare Traditionen zusammenwirken, und wie unterschiedlich sich Kunstwerke vor ei­ nem solchem pluralen Hintergrund positionieren können. Die schwierigste Kategorie für Heideggers Kunstverständnis ist die der Ge­ genwart. Denn der Status von Meyers Der römische Brunnen und von van ­Goghs Schuhen bleibt letztlich unklar. Einerseits sind zentrale Bestimmungen des Werkseins an diesen Beispielen von Heidegger entwickelt worden, andererseits weisen sie eine bereits erwähnte Diskrepanz zur geschichtlichen Tragweite des griechischen Tempels auf. Peter Trawny hat einen vom Spätwerk Heideggers in­ spirierten Lösungsvorschlag für dieses Problem angeboten, indem er einen Aus­ druck aus den Zollikoner Seminaren abwandelt und in Bezug auf Kunstwerke, die in die Moderne hineinwirken, von „Inseln des Gelingens“ spricht.332 In Spät­ 328 Heidegger,

Interpretationen zu Aristoteles (Ontologie und Logik), GA 62, 363. Vgl. Günter Figal, „Gottesvergessenheit. Über das Zentrum von Heideggers Beiträ­ gen zur Philosophie“, in: ders., Zu Heidegger. Antworten und Fragen, Frankfurt am Main 2009, 145–162. 330  Vgl. Heidegger, Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, 192. 331  Vgl. Heidegger, Nietzsche I, GA 6.1, 158. 332  Trawny nennt eine Reihe von Künstlern, deren Werk seiner Auffassung nach einen Zufluchtsort vor dem „Unheil des gegenwärtigen Industriezeitalters“ bieten könnten. In seiner Aufzählung stehen Botticelli und Rothko, Bach und Nono, Dürer und Beuys ne­ beneinander. Trawny löst sich somit ein Stück weit von der Emphase, mit der Heidegger nach der geschichtsstiftenden Kraft einzelner Werke fragt. Die geschichtliche Tragweite des Kunstwerks und der von Heidegger betonte Stiftungscharakter werden so in die Nähe von Gadamers Begriff des Klassischen gerückt (Gadamer, Wahrheit und Methode, 290–295). Vgl. Peter Trawny, Martin Heideggers Phänomenologie der Welt, Freiburg/München 1997, 194–196. 329 

1.4. Die Zeitlichkeit des Werks

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werk hat Heidegger zwar dem Phänomen des Marginalen und des „Geringen“ besondere Aufmerksamkeit geschenkt,333 der Kunstwerkaufsatz orientiert sich aber noch ausdrücklich an der „großen Kunst“. Allein von ihr, so heißt es in der ersten Ausarbeitung des Texts, „sei hier die Rede“.334 Welche Werke diesen Status in der Moderne seinem Verständnis nach beanspruchen könnten, hat Heidegger im Kunstwerkaufsatz aber nicht geklärt. Als Werk der Zukunft kommt für Hei­ degger zu diesem Zeitpunkt offenkundig nur Hölderlins Dichtung in Betracht. Um das rekonstruierte Verständnis des Werkseins mit der Definition eines kohärenten Begriffs abzuschließen, wäre es nötig, Heideggers Orientierung am Dinghaften mit seiner geschichtsphilosophischen Position zusammenzubrin­ gen. Es sollte allerdings deutlich geworden sein, dass beide Aspekte des Werk­ begriffs – das Dinghafte und das Geschichtliche des Werkes – bereits für sich genommen problematisch sind. Der Kunstwerkaufsatz setzt sich von metaphy­ sischen Begrifflichkeiten ab, entwickelt aber nur einige Umrisse eines Werkbe­ griffs, der tradierte Dichotomien überwinden könnte. Nichtsdestoweniger sind diese Ansätze, auch wenn sie von Heidegger nicht primär dafür gedacht waren, von großer Relevanz für die Ästhetik. Die Beschreibungen von Erde, des Ding­ haften und der Erdhaftigkeit sowie der Präsenz von Ruhe und Bewegung lassen sich für die Interpretation von Kunstwerken fruchtbar machen. Ebenso ist der erörterte Stoßcharakter für die Analyse von Rezeptionsvorgängen instruktiv. Das dem Kunstwerkaufsatz zugrundeliegende Geschichtsbild jedoch stellt den kritischen Leser unweigerlich vor die Frage, ob hier nicht andere Ansätze einen sachlicheren Blick auf die geschichtliche Dimension von Kunstwerken ermög­ lichen. Die begriffliche Arbeit an einer phänomenologischen Bestimmung des Werkseins scheint Heidegger letztlich einer geschichtsphilosophischen Position untergeordnet zu haben. Weil sich Heideggers Werkbegriff aber nicht vom As­ pekt der Geschichtsstiftung trennen lässt, kann er nicht ohne weiteres für eine hermeneutische Ästhetik übernommen werden. Wer ausgehend von Heideggers Bestimmungen Kunstwerke philosophisch interpretieren will, kann daher ledig­ lich auf Teilaspekte seines Werkbegriffs zurückgreifen.

333  Vgl. Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 34 sowie insbesondere Das Ding, GA 4, 182–186. 334 Heidegger denkt das Geringe allerdings auch als unscheinbare Gegenwart des Großen: „Doch vielleicht ist das von Hölderlin dichterisch erfahrene Geringe schon zum Großen bestimmt, worin das mögliche Kommen des großen Anfangs gehütet bleibt bis zum letzten Augenblick des rufenden Hinausschauens zur ‚Augen Schule Blau‘.“ (Heideg­ ger, Hölderlins Himmel und Erde, GA 4, 180.) Vgl. zum „Geringen“ auch Heidegger, Das Ding, GA 7, 183–184.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie Heideggers kunstphilosophische Überlegungen lassen sich, unter den genann­ ten Bedingungen, auf unterschiedliche Art und Weise anwenden. Grundsätzlich können Interpreten dafür auch Werke von Künstlern heranziehen, die nicht von Heidegger beeinflusst worden sind. Bei einem solchen Vorgehen kann die Reich­ weite von Heideggers Bestimmungen und die Frage nach ihrer Übertragbarkeit, auch auf popkulturelle Zusammenhänge, besonders deutlich werden. Dabei kann jedoch leicht der Eindruck von Beliebigkeit entstehen.1 Der zweite Teil die­ ser Arbeit schlägt eine andere Richtung ein. Es werden innerhalb der Wirkungs­ geschichte von Heideggers Kunstphilosophie zwei Kapitel untersucht, die ihren Einfluss auf die künstlerische Praxis von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart dokumentieren. Mit der Dichtung Paul Celans und den Bauten des Schweizer Architekten Peter Zumthor werden die Arbeiten zweier Künstler herangezogen, die sich intensiv mit Heidegger und insbesondere auch mit sei­ ner Kunstphilosophie beschäftigt haben. Sowohl bei Celan als auch bei Zumthor lässt sich diese Rezeption an programmatischen Texten, die der Selbstreflexion des künstlerischen Schaffens dienen, nachvollziehen. Für Celan sind Heideg­ gers Sprach- und Dichtungsverständnis sowie dessen T hematisierung von Tod, Stille und Gespräch zu einem zentralen Orientierungspunkt geworden. Die Be­ stimmungen von Ort, Umgebung, Erde und Geviert wiederum haben Zumthors Architekturverständnis merklich beeinflusst. Die entsprechenden Rezeptions­ vollzüge und intertextuellen Bezüge lassen sich nicht nur in den theoretischen Schriften dieser beiden Heidegger-Leser nachweisen, sondern auch in der Inter­ pretation von konkreten Werken verdeutlichen. Der Einblick in diese beiden Re­ zeptionslinien zielt darauf, das deskriptive Potential von Heideggers kunstphi­ losophischen Begriffen anhand konkreter Beispiele herauszuarbeiten. Die Frage nach der Allgemeingültigkeit der im Kunstwerkaufsatz und in späteren Texten entwickelten Bestimmungen tritt dabei in den Hintergrund. Es geht allein da­ rum, die Möglichkeit der Anwendung zu klären, indem konkrete Formen ästhe­ tischer Aneignungen analysiert werden. 1  Vgl. etwa die Interpretation einiger Stücke von U2 und der Graphic Novel Watchmen von Alan Moore/Dave Gibbons in Iain D. T homson, Heidegger, Art, and Postmodernity, Cambridge 2011, 121–168. Den Versuch, Heideggers Kunstphilosophie am Beispiel des Woodstock Music and Art Festival (1969) zu erklären, unternimmt Hubert L. Dreyfus, „Hei­ degger on the connection between nihilism, art, technology, and politics“, in: Charles Guig­ non (Hrsg.), T he Cambridge Companion to Heidegger, Cambridge 2006, 345–372, hier 367.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

2.1. Sprache als Gespräch bei Heidegger und Celan 2.1.1. Der Dichtungsbegriff in Heideggers Kunstphilosophie Die Bedeutung von ‚Dichtung‘ ist in Heideggers Texten ebenso vielschichtig und prekär wie diejenige anderer Grundworte. Der Begriff steht einerseits für die Untrennbarkeit von Wort und Sache, von Bezeichnung und Bezeichnetem, wird in Der Ursprung des Kunstwerkes aber in einem weiten Sinne auch als „Wesen der Kunst“ bestimmt.2 Umso erstaunlicher ist es, dass die Dichtung erst gegen Ende des Textes ins Spiel kommt. Sie wird eingeführt, um die zeitliche Struktur künstlerischer Produktion zu verdeutlichen. Die Wahrheit der Kunst erscheint dabei als Emergenzphänomen: „Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird. Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung.“3 Heidegger spielt an dieser Stelle auch mit der Homonymie von ‚dichten‘ als lite­ rarischer Arbeit und dem handwerklichen ‚dichten‘ im Sinne von ‚ver­schließen‘ oder ‚abdichten‘. Die Auffassung, dass das Wahrheitsgeschehen in einem Kunst­ werk seine Gestalt gewinnt, wird an dieser Stelle als sprachlicher ‚Verdichtungs­ prozess‘ konkretisiert. Das Sich-Ins-Werk-Setzen der Wahrheit äußert sich in der Produktion poetischer Sprache, insofern in dieser komplexe Zusammen­ hänge auf wenige Worte reduziert und in eine geschlossene Form gebracht wer­ den ­können. Die Dichtung gewinnt für Heidegger auf diese Weise auch eine phänome­ nologische Bedeutung. Sie ist Sprache im emphatischen Sinne, ein „Nennen“, durch das Seiendes als Seiendes erschlossen wird.4 Diesen Gedanken betont Hei­ degger in seiner Interpretation von Stefan Georges Gedicht Das Wort, das mit dem Vers endet: „kein ding sei wo das wort gebricht.“5 Der Vers verweist darauf, 2 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 59. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 59. 4  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 61. In seiner ersten Vorlesung zu Hölderlin entfaltet Heidegger diesen Gedanken im Rekurs auf die Etymologie des Wor­ tes: „‚Dichten‘ – was meint das Wort eigentlich? Es kommt von ahd. tithôn, und das hängt zusammen mit dem lateinischen dictare, welches eine verstärkte Form von dicere = sagen ist. Dictare: etwas wiederholt sagen, vorsagen, ‚diktieren‘, etwas sprachlich aufsetzen, abfas­ sen, sei es einen Aufsatz, einen Bericht, eine Abhandlung, eine Klage – oder Bittschrift, ein Lied oder was immer. All das heißt ‚dichten‘, sprachlich abfassen. Erst seit dem 17. Jahrhun­ dert ist das Wort ‚dichten‘ eingeschränkt auf die Abfassung sprachlicher Gebilde, die wir ‚poetische‘ nennen und seitdem ‚Dichtungen‘. Zunächst hat das Dichten zu dem ‚Poetischen‘ keinen ausgezeichneten Bezug […]. Trotzdem können wir uns einen Fingerzeig zunutze machen, der in der ursprünglichen Wortbedeutung von tithôn – dicere liegt. Dieses Wort ist stammesgleich mit dem griechischen δείκνυμι. Das heißt zeigen, etwas sichtbar, etwas offenbar machen, und zwar nicht überhaupt, sondern auf dem Wege eines eigenen Weisens.“ Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 29. 5  Vgl. Heidegger, Das Wort, GA 12, 163. 3 Heidegger,

2.1. Sprache als Gespräch bei Heidegger und Celan

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dass sich eine radikal außersprachliche Wirklichkeit in der Sprache nicht fassen lässt. In Worte fassen lässt sich nur das, was für sich genommen bereits sprach­ lich vermittelt ist. Die Interpretation von Dichtung wird für Heidegger so zu einem Medium der Sprachphilosophie. Das Wesen der Sprache zeigt sich nach seiner Auffassung in der Dichtung, weil diese das größte Potential besitzt, die Dinge als Dinge zur Erscheinung zu bringen.6 Dichtung ist in diesem Sinne die höchste Möglichkeit der Sprache: „Die Poesie ereignet sich in der Sprache, weil diese das ursprüngliche Wesen der Dichtung verwahrt.“7 Diese Engführung von Sprache und Dichtung hat für die Kunst zur Folge, dass sie in all ihren Formen auf die Sprache bezogen ist. So erhält die Poesie als diejenige Kunstgattung, die den Sprachbezug am deutlichsten zur Erscheinung bringt, eine paradigmatische Rolle für das Verständnis von Kunst überhaupt. Es geht Heidegger an dieser Stelle also nicht mehr um einen Werkbegriff oder den Ursprung der Kunst überhaupt, sondern um die Klärung der Ausnahme­ stellung von Dichtung. Die dingliche Präsenz der bildenden Künste wird in dem Entwurfscharakter der Dichtung fundiert: „Bauen und Bilden […] geschehen immer schon und immer nur im Offenen der Sage und des Nennens.“8 Kunst bringt demnach nicht die Dichtung neben anderen Gattungen hervor, sondern gehört umgekehrt in einen durch die Dichtung eröffneten Bereich. Die prak­ tische Konsequenz dieses in systematischer Hinsicht durchaus problematischen Gedankens ist, dass es Heidegger nach dem Kunstwerkaufsatz in seiner Arbeit nicht mehr um das spezifische Wahrheitsgeschehen der Kunst geht, sondern vielmehr das Verhältnis von Sprache und Wahrheit in den Mittelpunkt rückt. Warum Heidegger dieses Verhältnis gerade in der Auseinandersetzung mit der Dichtung im engeren Sinne zu klären versucht, ist wiederum mit einer genaueren Untersuchung der Nennkraft der dichterischen Sprache verbunden, die vor al­ lem in Unterwegs zur Sprache und in Heideggers Interpretationen von Hölderlins Spätwerk durchgeführt wird. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Bestimmung der Sprache als Ge­ spräch.9 Um zu zeigen, wodurch der Gesprächscharakter von Sprache ermöglicht wird, greift Heidegger in Hölderlin und das Wesen der Dichtung einen Entwurf zu der Hymne Friedensfeier auf und hebt daraus vier Verse hervor: „Viel hat er­ fahren der Mensch. / Der Himmlischen viele genannt. / Seit ein Gespräch wir  6 Heidegger,

Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 62. In einer späteren Anmerkungen im Handexemplar der Reclam-Ausgabe des Textes stellt Heidegger diesen Zusammenhang nochmal in Frage: „Was sagt dies? Geschieht die Lichtung durch die Sprache oder gewährt die ereignende Lichtung erst Sage und Entsagen und so Sprache? Sprache und Leib (Laut und Schrift).“ Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 62.  8 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 62.  9  Vgl. für eine umfassende Untersuchung dieser Bestimmung Radomír Rozbroj, Gespräch. Die zwischenzeitliche Problematik im Spätwerk Heideggers, Würzburg 2008.  7 

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

sind / Und hören können voneinander.“10 Anhand dieser Verse bestimmt Hei­ degger nicht nur die Tätigkeit des Dichters, sondern auch das „Sein des Men­ schen“ als Gespräch.11 Dieses kann sich, wie bei Hölderlin, als dichterische Be­ zugnahme auf den Bereich des Göttlichen vollziehen,12 es hat aber auch andere Erscheinungsformen. In Hinblick auf die Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie ist hier eine Differenzierung wichtig. Der Gesprächscharak­ ter der Sprache zeigt sich nicht nur im inneren Dialog des Denkenden „mit sich selbst“,13 sondern vor allem im Austausch mit anderen Menschen. Dieser kann sich in einer mündlichen Zwiesprache vollziehen. Die Schrift ermöglicht jedoch auch ein Gespräch mit abwesenden Gesprächspartnern. Zudem lässt sich sowohl das Lesen und Interpretieren als auch das Schreiben von Texten als ein Dia­ log mit einem Autor oder mit mehreren Autoren begreifen. Ein Gespräch kann so eine kollektive Dimension gewinnen, die geschichtlich tradiert wird. Genau genommen ist diese kollektive Dimension sogar die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt miteinander kommunizieren können. Der Gesprächscharakter der Sprache umfasst daher letztlich alle Möglichkeiten des Schreibens und Spre­ chens, sofern sie verstanden werden können. Heidegger hat in seinem Werk immer wieder einzelnen Philosophen und Dichtern eine privilegierte Rolle als Gesprächspartnern eingeräumt. Dabei ist, wie bereits im letzten Kapitel im Zusammenhang mit dem Geschichtsbild des Kunstwerkaufsatzes gezeigt wurde, insbesondere die Rolle Hölderlins proble­ matisch. Gerade im Ausgang von der von Heidegger genannten „Offenheit“ der Welt,14 die durch Kunstwerke konstituiert wird, wäre es sinnvoll, keine Fest­ legung auf einzelne Autoren vorzunehmen, denen ein Ausnahmestatus zuge­ sprochen wird. Stattdessen liegt es vielmehr nahe, die globale Dimension der Kunstrezeption einzubeziehen. Die Verankerung der Kunst in regionalen Ent­ stehungs- und Rezeptionskontexte muss deswegen keinesfalls nivelliert werden. Gerade wenn ein Kunstwerk für eine bestimmte Zeit oder eine kulturelle Ge­ meinschaft maßgeblich ist, besitzt es in der Regel auch das Potential, für an­ dere Gruppen relevant zu werden. Diese Verschränkung von Partikularität und potentieller Universalität findet sich beispielsweise auch in dem Literaturver­ ständnis von Dostojewski wieder, einem Autor, den Heidegger insbesondere in den Jahren des ersten Weltkriegs intensiv gelesen hat.15 In der Puškin-Rede aus dem Jahr 1880 schreibt Dostojewski, dass Puškins Werk gerade, weil dieser die

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Friedrich Hölderlin, „ Entwurf zu der Hymne Friedensfeier“, zitiert nach Heidegger, Hölderlin und das Wesen, GA 4, 38. 11  Vgl. Heidegger, Hölderlin und das Wesen, GA 4, 38. 12  Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 68–72. 13  Vgl. Platon, Sophistes, 263e. 14  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 65. 15  Vgl. Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, 56.

2.1. Sprache als Gespräch bei Heidegger und Celan

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„Empfänglichkeit“ oder „Responsivität“ (russ. „otzyvčivost’“) des russischen Geistes gegenüber anderen Nationalcharakteren in seinem Werk vollkommen ausgedrückt habe, einen einzigartigen Beitrag zur Weltliteratur darstelle.16 Hei­ degger betont zwar den Unterschied zwischen seinem Dichtungsbegriff und der Idee der Weltliteratur.17 Die Texte seines Spätwerks, wie diejenigen in Unterwegs zur Sprache, stehen nichtsdestoweniger für eine Öffnung und Erweiterung seines ästhetischen Bewusstseins. 2.1.2. Aus einem Gespräch von der Sprache Besonders eindrucksvoll zeigt sich diese Erweiterung in Heideggers Aus dem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden. Dieser in Dialogform verfasste Text kreist um Fragen der ostasiatischen Kunst und Äs­ thetik und zählt daher nicht zuletzt auch zu Heideggers kunstphilosophischen Schriften. Die Interpretation des Dialogs soll dazu beitragen, eine Perspektive auf Heideggers Verständnis des Gesprächscharakters der Sprache zu gewinnen, die es im Anschluss ermöglicht, Celans Rezeption von Heideggers Bestimmungen nachzuvollziehen. Heidegger wurde 1953/1954 durch den Besuch eines japani­ schen Kollegen dazu angeregt, einen Aufsatz in Form eines Dialoges zu verfas­ sen.18 Der Text beginnt, ebenso wie Hölderlin und das Wesen der Dichtung, mit der Erinnerung an einen Toten. Während Heidegger den Hölderlin-Aufsatz dem Gedächtnis Norbert von Hellingraths widmet, beginnt das Gespräch von der Sprache mit der literarischen Darstellung des Andenkens an Shuzo Kuki, der bei Heidegger studiert hat und zugleich der Lehrer jenes japanischen Kollegen Heideggers war, der im Text als Gast auftritt. Erwähnt werden der Grabstein des Verstorbenen und der Hain im Tempelgarten von Kyoto, in dem der Grabstein steht.19 Zum Andenken gehört auch die Erinnerung an die Gespräche Heideg­ gers mit dem Verstorbenen, Gespräche über deutsch-japanische Übersetzungs­ probleme, über die Unterschiede zwischen der europäischen und der ostasiati­ schen Denktradition und über die Frage, inwiefern diese Schwierigkeiten mit der Verschiedenheit der beiden Sprachen zusammenhängen. Durch dieses An­ denken werden nicht nur die zentralen Fragen des Dialogs exponiert, sondern zugleich wird der gesamte Dialog auf die Erinnerung an den Verstorbenen bezo­ gen. Die Erinnerung wird zum Andenken, indem dasjenige, woran der Verstor­ bene gearbeitet hat, aufgegriffen und neu durchdacht wird. Der Gedankenaus16  Vgl. Fedor M. Dostoevskij, Puškin, in: ders., Polnoe Sobranie Sočinenij v Tridcati ­Tomach, Band 26, Leningrad 1984, 136–149, insbesondere 146–149. 17  Vgl. Heidegger, Was heißt denken?, GA 8, 139. Zum Ort der Weltliteratur im „ästhe­ tischen Bewußtsein“ vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 167–169. 18  Vgl. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 269. 19 Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 81.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

tausch zwischen dem fragenden Heidegger und dem verstorbenen Grafen Kuki kreiste, wie der Leser des Gesprächs erfährt, um Fragen nach dem Wesen der europäischen sowie der ostasiatischen Kunst und Dichtung.20 Dabei war nicht nur Graf Kuki daran interessiert, von Heidegger zu lernen, sondern auch Hei­ degger versuchte, einzelne Grundworte der japanischen Tradition nachzuvoll­ ziehen. Heidegger inszeniert sich hier in seiner Rolle als Fragender so, dass er nicht bloß vorgibt, unwissend zu sein, sondern, ohne jegliche sokratische Ironie, tatsächlich von dem, was er erfahren möchte, wie es scheint, so gut wie nichts versteht. Zumindest im Text bleibt der Versuch des Fragenden, mit dem japani­ schen Gast Worte wie ‚Iki‘, ‚Ku‘ oder ‚Iro‘ zu verstehen, erfolglos. Der „japanische Sprachgeist“ bleibt ihm nach eigener Aussage verschlossen.21 Entscheidend ist im Folgenden aber nicht die Frage, auf welche Weise Heidegger sich den frem­ den „Sprachgeist“ hätte aneignen können, sondern wie in dem Text mit dem Nicht-Verstehen einer fremden Sprache umgegangen wird. Das Unvermögen, sich die japanischen Worte anzueignen und das Scheitern von Verstehensvollzügen wird in dem Dialog performativ dargestellt. Der Japa­ ner und der Fragende unterbrechen das Gespräch über ein T hema immer wie­ der, um auf andere T hemen zu sprechen zu kommen. Sie sprechen bestimmte Dinge nicht direkt an, sondern hüllen sich darüber zunächst in Schweigen, sie zögern, halten sich zurück und erlauben sich, einzelne Worte dem Unbestimm­ ten zu überlassen. Sie verweilen im Zustand des Nicht-Verstehens, um den rich­ tigen Zeitpunkt für das gesuchte Wort zu finden. Dieses langsame, verhaltene Sprechen beider Gesprächspartner wird mit einem zweckorientierten, instru­ mentellen Sprachgebrauch kontrastiert: „Das Wissenwollen und die Gier nach Erklärungen bringen uns niemals in ein denkendes Fragen. Wissenwollen ist stets schon die versteckte Anmaßung eines Selbstbewußtseins, das sich auf eine selbsterfundene Vernunft und deren Vernünftigkeit beruft. Wissenwollen will nicht, daß es vor dem Denkwürdigen verhoffe.“22 Das „Denkwürdige“ im Fall dieses Gesprächs ist zunächst das Verhältnis von japanischer und deutscher Sprache. Indem um die Übersetzung von einzelnen Worten gerungen wird, soll die gegenseitige Verstehbarkeit ausgelotet werden. Heidegger betont dabei, wie wichtig es ist, die Identifikation des Fremden mit dem Eigenen nicht vorschnell zu vollziehen. Das Fremde soll sich von sich selbst her zeigen können und nicht als bloßes Äquivalent zum Eigenen erscheinen. Wenn es um die Grundworte für das Verständnis von Kunst und Literatur geht, bedeutet das konkret, dass nicht im Vorhinein davon ausgegangen werden sollte, dass die ostasiatische Tra­ dition in begriffliche Zusammenhänge eingeordnet werden kann, die in der Ge­ schichte der europäischen Ästhetik entwickelt wurden. Dem Anderen seine An­ 20 Heidegger,

Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 89. Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 89. 22 Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 100. 21 Heidegger,

2.1. Sprache als Gespräch bei Heidegger und Celan

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dersheit zu lassen, ist aber schon allein deshalb geboten, weil einem auch das Eigene nie vollkommen durchsichtig ist. Die eigene Sprache ist immer mehr als das Wissen eines Sprechers über sie. Aus diesem Grund können zwei Menschen, die in verschiedenen Sprachen zu Hause sind, das Verhältnis ihrer Sprachen zu­ einander nie vollständig klären. Zudem ist nicht nur das Wissen über eine ein­ zelne Sprache unerschöpflich, sondern es wird im Gespräch grundsätzlich frag­ lich, was Sprache überhaupt ist. Die Frage nach dem Wesen der Sprache erweist sich als das eigentliche T hema des Dialogs. Es geht auch dort um diese Frage, wo sie nicht ausdrücklich gestellt wird. Sie ist „das unbestimmte Bestimmte“, das „Ungesagte“, das in allem Ge­ sagten mitschwingt.23 Aus diesem Grund erkundigt sich der Fragende auch nach dem japanischen Wort für Sprache. Damit wird der Versuch unternommen, die Frage nach dem Wesen der Sprache in einen Dialog zwischen verschiedene ­Sprachen zu überführen. Dass die verschiedenen Sprachen auf einen gemeinsa­ men Ursprung zurückgeführt werden können, wird dabei zwar angenommen, nicht jedoch vorausgesetzt: Dass „der Wesensquell der grundverschiedenen Sprachen derselbe [ist]“, lässt sich nur erahnen.24 Wenn dieser Ahnung gefolgt wird, geht es gerade auch darum, Unterschiede zu erkennen und Brüche und Widerstände zu beachten. Entscheidend ist die „Achtsamkeit auf die Spuren, die das Denken in seinen Quellbereich weisen“.25 Zu diesem Quellbereich gehört für Heidegger wie selbstverständlich vor allem die Dichtung. In dem Gespräch mit dem Japaner wird sie allerdings nicht gesondert behandelt, sondern bildet nur einen Teil der geschichtlichen Tradition einer Sprache. Die „Sprache ist gewich­ tiger und mächtiger als wir [es sind.]“26 Sie ist es, weil niemand allein spricht, sondern vielmehr nur sprechen kann, weil er an einem geschichtlichen Gesche­ hen teilhat. Um die Spuren zu finden, die zu dem Sinn dieses Geschehens führen, muss man auf die eigene Sprache hören. Die Spuren lassen sich nur finden, sagt der Fragende, „weil sie nicht von mir stammen und selten genug vernehmlich sind wie ein verwehtes Echo eines fernen Zurufes“.27 So ist ein Gespräch zwi­ schen zwei Menschen letztlich immer eingebettet in ein vielstimmiges Gespräch, das sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft bezogen ist: „Jeder ist jedesmal [wenn er spricht] im Gespräch mit seinen Vorfahren, mehr noch viel­ leicht und verborgener mit seinen Nachkommen.“28 Die Sprache wird demnach als ein dialogisches Geschehen verstanden, das mehrere Generationen umspannt. Ein Verständnis der eigenen Sprache kann 23 Heidegger,

Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 100. Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 115. 25 Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 131. 26 Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 124. 27 Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 131. 28 Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 123. 24 Heidegger,

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

somit nur gewonnen werden, wenn man mithört, wer mitspricht, solange man selbst spricht. Heidegger hat immer wieder einzelnen Gesprächspartnern eine herausragende Bedeutung zugesprochen. Von Aristoteles über Hölderlin zu den Vorsokratikern Anaximander, Parmenides und Heraklit sind es immer wieder ausgesuchte Einzelfiguren, mit denen er ins Gespräch geht, nicht zuletzt, um sich über sein eigenes Denken zu verständigen. Aus dem Gespräch von der Sprache ergibt sich jedoch ein breiterer Horizont. Heidegger erkennt hier, dass ein Ge­ spräch, das nicht nur von der Sprache handelt, sondern von ihr spricht und auf diese Weise in ihr Wesen hineinführt, nie von nur zwei Gesprächspartnern ge­ führt werden kann. Die Sprache ist vielmehr als ein vielstimmiges dialogisches Geschehen zu verstehen, an dem Anwesende und Abwesende, Vergangene und Zukünftige, Philosophen und Schriftsteller Anteil haben. 2.1.3. Polyphonie in Celans Der Meridian und Zähle die Mandeln Die von Heidegger angedachte Polyphonie der Sprache findet sich in eindrucks­ voller Weise in Celans Büchner-Preisrede Der Meridian (1961) wieder. Die Rede ist kurz, dabei jedoch erstaunlich reich an Bezügen. Celan geht nicht nur aus­ führlich auf das Werk des Autors ein, zu dessen Andenken der Preis gestiftet wurde. Er greift auch Zitate von anderen Autoren auf, Sätze von Dichtern und Philosophen, die ihm für sein Verständnis von Dichtung wichtig sind. Wenn er diese Sätze zitiert und sich daran erinnert, wie sie auf ihn gekommen sind, wird deutlich, wie verwickelt sich die Überlieferung von Sprache gestalten kann. Ein Beispiel hierfür ist folgende Anmerkung zu der konzentrierten Sprache, die das „absolute Gedicht“ auszeichnet. Es ist eine Sprache, die dem Leser von sich selbst aus Aufmerksamkeit schenken soll: „‚Aufmerksamkeit‘ – erlauben Sie mir hier, nach dem Kafka-Essay Walter Benjamins, ein Wort von Malebranche zu zitie­ ren – Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele.“29 Celans umständ­ liche Ausweisung dieses Zitats dient dazu, Kafka, Benjamin und Malebranche einen Ort in der Rede zu geben. Ihre Namen sollen mitgehört werden. Andere Namen, die für Celans Poetologie von Bedeutung sind, werden nicht genannt. Celan erinnert sich beispielsweise an „eine versäumte Begegnung im Engadin“, die ihm zum Anlass wurde „eine kleine Geschichte zu Papier“ zu bringen.30 Dass es sich dabei um ein in Sils-Maria geplantes Treffen mit Adorno gehandelt hat, wird jedoch verschwiegen. Ebenso fehlt in der Rede der Name Heideggers. Und doch ist Der Meridian nicht zuletzt auch eine Auseinandersetzung Celans mit Heideggers Sprach- und Dichtungsverständnis.31 Es gibt eine Konvergenz im Paul Celan, Der Meridian, Frankfurt am Main 1999, 9. Der Meridian, 11. 31  Vgl. Anja Lemke, Konstellation ohne Sterne, Zur poetischen und geschichtlichen Zäsur bei Martin Heidegger und Paul Celan, Paderborn 2002, 339–408. 29 

30 Celan,

2.1. Sprache als Gespräch bei Heidegger und Celan

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Sprachverständnis von Celan und Heidegger, die der persönlichen Begegnung vorausgeht und sachlich nicht von dieser abhängig ist.32 Sie besteht darin, dass sowohl Heidegger als auch Celan das Wesen der Sprache von der Dichtung her verstehen und diese wiederum als Medium des Gesprächs und des Andenkens. Für Celan konstituiert das Gedicht eine Begegnung von Du und ich, es steht „im Geheimnis der Begegnung“.33 Wie eine solche Begegnung dichterisch Gestalt gewinnen kann, soll im Fol­ genden an einem Gedicht näher erläutert werden. Es handelt sich um das Ge­ dicht Zähle die Mandeln, das den Band Mohn und Gedächtnis abschließt. Es ist 1952 entstanden, also ein knappes Jahrzehnt vor der Büchner-Preis-Rede und ein Jahr vor Heideggers Aus einem Gespräch von der Sprache. Es fällt also genau in die Zeit, in der Celan beginnt, sich intensiv mit Heidegger auseinanderzusetzen und in die Zeit, in der Celans Liebesbeziehung mit Ingeborg Bachmann endet. Vor diesem biografischen Hintergrund wäre es daher denkbar, dass in der Bit­ terkeit, von der in Zähle die Mandeln die Rede ist, das Scheitern der Liebesbezie­ hung mitschwingt: ZÄHLE die Mandeln, zähle, was bitter war und dich wachhielt, zähl mich dazu: Ich suchte dein Aug, als du’s aufschlugst und niemand dich ansah, ich spann jenen heimlichen Faden, an dem der Tau, den du dachtest, hinunterglitt zu den Krügen, die ein Spruch, der zu niemandes Herz fand, behütet. 32 

Das erste der drei Treffen zwischen Celan und Heidegger fand 1967 in Freiburg und Todtnauberg statt. Celan kam aber bereits 1948 durch Ingeborg Bachmann, die sich in ih­ rer Dissertation kritisch mit Heidegger auseinandergesetzt hatte, mit dessen Philosophie in Berührung. Bachmann gab Celan – der Erinnerung von Klaus Demus zufolge – 1950 auch ein Exemplar der Holzwege. Die erste Heidegger-Lektüre Celans, die unabhängig von dem Austausch mit Bachmann dokumentiert ist, fällt in den Oktober 1951. Celan liest Der Feldweg. Da sich in dem im Nachlass erhaltenen Exemplar Celans kaum Unterstreichungen und Annotationen befinden, die ansonsten für die Lesegewohnheiten des Dichters typisch sind, ist davon auszugehen, dass der Text ihn nicht sonderlich beeindruckt hat. Celan hat aufgrund von Heideggers Parteinahme für den Nationalsozialismus auch zunächst Vor­ behalte gegenüber Heideggers Denken. Dennoch wächst Celans Interesse an Heidegger in den beiden darauffolgenden Jahren, in denen er sich mit Sein und Zeit beschäftigt, ra­ pide. Vgl. James K. Lyon, Paul Celan and Martin Heidegger. An Unresolved Conversation, 1951–1970, Baltimore 2006, 2–3 und 9–11. Lyon weist nach, dass schon vor Celans Hei­ degger-Lektüre eine stilistische Affinität zwischen beiden Autoren bestand, welche Celans Aufnahme von Heideggers Denken befördert habe. Vgl. Lyon, Paul Celan and Martin Heidegger, 3–7. 33 Celan, Der Meridian, 9.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

Dort erst tratest du ganz in den Namen, der dein ist, schrittest du sicheren Fußes zu dir, schwangen die Hämmer frei im Glockenstuhl deines Schweigens, stieß das Erlauschte zu dir, legte das Tote den Arm auch um dich, und ihr ginget selbdritt durch den Abend. Mache mich bitter. Zähle mich zu den Mandeln.34 In der Forschungsliteratur zu Celan, so z.B. bei John Felstiner35 und Joachim Seng,36 wird dieses Gedicht vor allem als Andenken an Celans Mutter verstan­ den, die 1942 in Transnistrien erschossen wurde. Eine starre Identifikation des namenlosen‚ „Du“ mit Celans Mutter würde dem Sinn dichterischer Sprache jedoch widersprechen. Peter Horst Neumann versteht das „Du“ offener als eine Ansprache an einen „Toten“ überhaupt.37 Die Mandel wiederum kann als Sym­ bol für die Zugehörigkeit zum Judentum verstanden werden. Das tote „Du“ lässt sich demnach zu den Mandeln zählen, das heißt zu der Unzahl der jüdischen Opfer in den Vernichtungslagern. Diese Interpretation leuchtet im Kontext von Celans Auseinandersetzung mit der Schoah und der eigenen Existenz als Über­ lebendem unmittelbar ein. Im „Ich“ des Gedichts würde sich der Dichter selbst zeigen, mit der ganzen Verzweiflung des Überlebenden, der zu den Toten gezählt werden will. Dabei sollte jedoch das Wort ‚Mandel‘ nicht auf eine Chiffre für eine Volkszugehörigkeit reduziert werden. Es handelt sich um eine Metapher für das Judentum, aber zugleich steht sie bei Celan auch für einen anderen Dichter, in dessen Namen, das Wort ‚Mandel‘ vorhanden ist. Es handelt sich dabei um Osip Mandel’štam, der 1938 in einem sowjetischen Arbeitslager gestorben ist. Die Vielschichtigkeit der Metapher verhindert eine eindeutige historische Zu­ ordnung. Die Mandel steht weder für eine anonyme Gruppe von Opfern noch sollte sie mit einem einzelnen Menschen identifiziert werden. Celan gedenkt sei­ ner Mutter, aber zugleich den Opfern der Schoah, sofern sie Einzelne sind. Das Gedicht spricht aber nicht direkt von der Schoah, sondern wendet sich an ein „Du“, das „einsam“ ist und das allein durch das dichterische Wort erreicht wird. Die Gedanken des „Du“ werden durch das Wort des Dichters gesammelt. Sie gleiten an dem Faden des dichterischen Worts herab „wie Tau in die Krüge“. Diese Krüge bilden einen geschützten Ort, der durch einen „Spruch [behütet wird], der zu niemandes Herz fand“. Der Inhalt des Spruchs bleibt unbestimmt 34 Celan, Der Sand aus den Urnen/Mohn und Gedächtnis, Historisch-Kritische Ausgabe, hrsg. von Andreas Lohr u.a., I. Abt., Band 2.1/3.1, Frankfurt am Main 2003, 138. 35  John Felstiner, Paul Celan, München 1997. 36  Joachim Seng, „Nachwort“, in: Paul Celan, Mohn und Gedächtnis, Stuttgart 2000, 92. 37  Peter Horst Neumann, Zur Lyrik Paul Celans, Göttingen 1968, 29.

2.1. Sprache als Gespräch bei Heidegger und Celan

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und ermöglicht so die angesprochene Offenheit der Deutung. Auf diese Weise wird die Ansprache an das Du in ein Geheimnis eingebunden, das das Persön­ liche des Gedichts verstärkt und sein Verständnis verkompliziert. Aber allein in dieser geschützten Sphäre kann das Du seinen Namen erhalten, dennoch bleibt dieser im Gedicht ungesagt. Der Entzug des Namens eröffnet den Raum, in dem das Du, wie es heißt „zu sich selbst schritt“. In dieser Bewegung der Selbstbegeg­ nung, die dem Du durch das Gedicht ermöglicht wird, gewinnt es seine eigene Stimme. Das Schweigen des Ichs ermöglicht es dem Du zu sprechen. Das schwei­ gende Gedicht wird zum Glockenstuhl, „in dem die Hämmer frei schwangen“. So kann die Stimme des Du erklingen, ohne dass ihm ein bestimmtes Wort vor­ gegeben würde. Das Schweigen des Ichs ist ein zurückhaltendes Hören, das „Er­ lauschte“ tritt zum Du hinzu, ohne dieses zu bedrängen. Das schweigende Hören ist aber auch ausdrücklich auf den Tod bezogen, denn Du, Erlauschtes und Tote „[gingen] selbdritt durch den Abend“. Wenn dieser schweigend-hörende Gang als eine eigenständige literarische Produktion verstanden werden könnte, wäre damit auch Ingeborg Bachmann angesprochen. Das Andenken an die ermordete Mutter und die Anrede an die Geliebte müs­ sen einander nicht ausschließen. Es ist durchaus denkbar, dass Celan, indem er seiner Mutter gedenkt, zugleich die Geliebte anspricht. Es ist möglich, dass er das Auge der Toten sucht, aber das Auge der Lebenden findet. Die Verbindung des Andenkens an die Tote mit der Ansprache an die Geliebte findet sich in dem Ge­ dicht In Ägypten, das die Begegnung mit einer Nicht-Jüdin in der Form von neun Geboten beschreibt. Das siebte Gebote lautet: „Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noëmi“.38 So schwierig diese Spannung auch auszuhalten sein mag, die Ansprache in Zähle die Mandeln kann zugleich an die Tote und an die Geliebte gerichtet sein. Das Du meint allerdings noch mehr. Es wäre sicher zu kurz gegriffen, es allein aus biografischen Bezügen erklären zu wollen. Zwar heißt es in Der Meridian, dass derjenige, der das Gedicht schreibt, diesem immer „mitgegeben“ sei. Aber zugleich ist das Gedicht auch selbstän­ dig, es ist „einsam und unterwegs“.39 In einem nachgelassenen Fragment schreibt Celan sogar: „Echte Dichtung ist antibiographisch. Die Heimat des Dichters ist sein Gedicht.“40 Das Werk hat also auch nach Celans Verständnis ein Eigenrecht gegenüber der biografischen Deutung. Die Lebensumstände des Autors können zwar den Ausgangspunkt einer Interpretation bilden, das Gedicht gewinnt aber letztlich ein Eigenleben, durch das es verschiedenen Lesern auf unterschiedliche Art und Weise immer wieder neu begegnen kann.41 In dem Potential zu solchen 38 Celan, „In Ägypten“, in: ders., Gesammelte Werke, Band 1, hrsg. von Beda Alleman, Frankfurt am Main 1992, 46. 39 Celan, Der Meridian, 9. 40 Celan, Mikrolithen sinds, Steinchen, Frankfurt am Main 2005, 95. 41  Vgl. Hans-Georg Gadamer, Gedicht und Gespräch: Essays, Frankfurt am Main 1992, 114.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

Begegnungen liegt die von Celan zitierte Aufmerksamkeit der dichterischen Sprache. Das „Du“ in Zähle die Mandeln entzieht sich also einer eindeutigen Zuord­ nung. Es bleibt ein Geheimnis. Zwar können durch die skizzierte Interpretation bestimmte Facetten sichtbar gemacht werden, aber es gehört zugleich zum Sinn des Gedichts, dass es einen geschützten, irreduziblen Rest bewahrt, der die Mög­ lichkeit zu neuen Verbindungen zwischen Leserinnen, Lesern und Worten bietet. Die Bedeutung des Du verschiebt sich dabei, das Gedicht wandelt sich in seinem Sinn und gewinnt so sein Eigenleben. Auch eine Interpretation ist somit wie der Text selbst als ein vielstimmiges Geschehen zu verstehen. Das interpretierte Gedicht überbietet auf diese Weise die Interpretationsoffenheit philosophischer Texte und in dieser Überbietung liegt gerade sein Reiz für die Philosophie. Denn die intensivierte Erfahrung sprachlicher Offenheit kann zu einer uneinholbaren Alteritätserfahrung für das philosophische Denken werden. Gleichzeitig bildet sie aber auch eine Grenze. Um dem Vorwurf zu begegnen, dass durch die maß­ gebende Funktion dichterischer Sprache Klarheit und Genauigkeit in der Phi­ losophie verloren gehen könnten, betont Heidegger in seinen Gedichtinterpre­ tationen immer wieder die „Strenge“ der Sprache.42 Celan hingegen hat diese Abgrenzung gegen die Ungenauigkeit nicht nötig und nimmt den Mangel an Klarheit als Charakterisierung dichterischer Sprache an. In Der Meridian wird ein entsprechender Ausspruch von Blaise Pascal zitiert: „Ne nous reprochez pas le manque de clarté puisque nous en faisons profession.“43 –„Werfen Sie uns nicht einen Mangel an Klarheit vor, denn aus dieser machen wir einen Beruf.“ Die Dichtung erzeugt eine produktive Unbestimmtheit, die nicht ohne wei­ teres in die Philosophie übertragen werden kann. Die „Nennkraft“ des dichte­ rischen Wortes ist – ironisch und zugespitzt formuliert – damit erkauft, dass sich nur schwer sagen lässt, was genau sie nennt. Vor diesem Hintergrund kann Heideggers Scheitern am Werkbegriff auch umgedeutet werden zu einem Be­ stimmungsversuch von Kunst, der die bestimmte Unbestimmtheit der dichteri­ schen Sprache performativ einholt. So kann die Beschäftigung mit der Dichtung die Perspektive auf die Philosophie verändern. Die Interpretation von Zähle die Mandeln und der Einblick in Celans Poetologie sollte aber auch verdeutlichten, dass Celans Dichtung an entscheidenden Punkten mit Heideggers Sprachver­ ständnis konvergiert. Die Bestimmung der Sprache als Gespräch, die konstitu­ tive Funktion von Scheitern und Entzug des Verstehens sowie die T hematisie­ rung von Tod und Andenken gehören zu den deutlichsten Berührungspunkten. Inwieweit diese Gemeinsamkeiten im Einzelnen auf Celans Heidegger-Rezep­ tion zurückgehen, ist an dieser Stelle sekundär. Festzuhalten ist in jedem Fall, 42  Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 40–42; Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 16, 87, 114, 138; Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 60. 43 Celan, Der Meridian, 7.

2.1. Sprache als Gespräch bei Heidegger und Celan

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dass zwischen Heideggers Kunstphilosophie und Celans Dichtung, trotz der his­ torischen Umstände, die das Werk der beiden Autoren trennen, eine große in­ haltliche Nähe besteht. Nur deshalb konnte ihr kompliziertes, leid- und schuld­ beladenes Verhältnis zu einem Topos werden, der in der Literatur, Literaturwis­ senschaft und Philosophie bis in die Gegenwart hinein bearbeitet wird.44 Die Bestimmung der Sprache als Gespräch dient nicht nur als Anhaltspunkt für das Verständnis von Wirkungsgeschichte. Sie hat inzwischen selbst eine Wirkungs­ geschichte entfaltet, zu der die Namen Celans und Heideggers untrennbar ge­ hören.

2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor 2.2.1. Aufwertung des Materials Die Architektur spielt in Heideggers Kunstphilosophie eine prominente Rolle. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde dargelegt, wie am Beispiel des griechischen Tempels eine spezifische Auffassung der Geschichtlichkeit von Kunst entwickelt wird.45 Der antike Sakralbau „stiftet“ nach Heideggers Verständnis eine Wahr­ heit, die für die jeweilige kulturelle Gemeinschaft verbindlich ist. Das gilt für die anderen im Kunstwerkaufsatz behandelten Kunstwerke nicht in vergleichbarer Weise. Der Tempel ist somit das einzige Werk, das allen entwickelten Wesens­ bestimmungen der Kunst entspricht, auch wenn es diesen Status nur in Bezug auf die eigene Zeit beanspruchen kann, nicht aber als Ruine in der Gegenwart. Dennoch hebt Heidegger in seiner Beschreibung weniger die soziale Funktion der Sakralarchitektur hervor, sondern betont vor allem erdbezogene Aspekte: die sinnlichen Qualitäten des Baumaterials, die Stabilität und Widerstands­ kraft der Konstruktion, die Wirkung des Wetters und der Elemente, die modifi­ zierte Wahrnehmung von Natur und Landschaft.46 Die Architektur ist diejenige Kunstform, an der das, was Heidegger als Erde zu denken versucht, am deut­ lichsten wird. Für Hegel, dessen Ästhetik Heidegger als Kontrastfolie für seine eigene Be­ schreibung nutzt, hat die Architektur durch ihre Angewiesenheit auf das sinn­ liche Material die niedrigste Stellung im System der Künste: „Sie ist der Anfang der Kunst, weil die Kunst in ihrem Beginn überhaupt für die Darstellung ihres geistigen Gehaltes weder das gemäße Material noch die entsprechenden Formen 44 

Die Beziehung zwischen Celan und Heidegger wurde aus philosophischer Perspek­ tive insbesondere von Jacques Derrida untersucht. Vgl. Jacques Derrida, Schibboleth, Pour Paul Celan, Paris 1986 und Jacques Derrida, Béliers. Le dialogue ininterrompu: entre deux infinis, le poème, Paris 2003. Eine Annäherung an das T hema im Medium der Lyrik bietet Boško Tomašević, Celan trifft H. und C. in Todtnauberg, Berlin 2005. 45  Vgl. Kap 1.4.2. 46  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

gefunden hat und sich deshalb in dem bloßen Suchen der wahren Angemessen­ heit und in der Äußerlichkeit von Inhalt und Darstellungsweise genügen muß. Das Material dieser ersten Kunst ist das an sich selbst Ungeistige, die schwere und nur nach den Gesetzen der Schwere gestaltbare Materie; ihre Form sind die Gebilde der äußeren Natur, regelmäßig und symmetrisch zu einem bloß äußeren Reflex des Geistes und zur Totalität des Kunstwerks verbunden.“47 Dementspre­ chend übersieht Hegel in seinen Erörterungen zur griechischen Tempelarchitek­ tur die Bedeutung konkreter landschaftlicher Orte und die Stärke, die gerade in der materiellen Präsenz der Architektur liegt. Entscheidend ist für ihn allein die soziale Funktion: „Denn die Architektur bahnt der adäquaten Wirklichkeit des Gottes erst den Weg und müht sich in seinem Dienst mit der objektiven Natur ab, um sie aus dem Gestrüpp der Endlichkeit und der Mißgestalt des Zufalls he­ rauszuarbeiten. […] So ist denn aber durch die Architektur die unorganische Au­ ßenwelt gereinigt, symmetrisch geordnet, dem Geist verwandt gemacht, und der Tempel des Gottes, das Haus seiner Gemeinde, steht fertig da.“48 Die Kunstform der Architektur wird von Hegel in Opposition zur Natur bestimmt. Der Mate­ rialität von Bauten kann in seiner Ästhetik daher nur ein untergeordneter Wert zukommen. Zudem denkt Hegel den architektonischen Raum als Ausschluss des Äußeren, entscheidend ist in seiner Ästhetik nicht die Wechselwirkung mit der natürlichen Umgebung, sondern die Funktion des eingegrenzten Raums. Dass die Architektur die Schönheit einer Landschaft akzentuieren kann, ist aus Hegels Perspektive nebensächlich.49 Wenn Heidegger die erdhaften Aspekte des Tem­ pels hervorhebt, richtet er sich also gegen das Architekturverständnis Hegels.50 Wenn die Materialität von Bauten aufgewertet wird, geht es auch um das Un­ terlaufen idealistischer Entgegensetzungen, wie der von Kunst und Natur und Innenraum und Außenwelt. Genau in dieser Hinsicht sind Heideggers Bestim­ mungen der Erde und ihre Reformulierungen in der späteren Konzeption des Gevierts für die moderne Architektur und ihre theoretische Reflexion von Re­ levanz. 2.2.2. Die Architektur und das Geviert Heidegger hat keine systematische T heorie der Architektur ausgearbeitet. Mit Bauen Wohnen Denken liegt jedoch ein Text von ihm vor, der die moderne Ar­ chitekturtheorie und die Philosophie der Architektur in vielfältiger Weise beein­ flusst hat.51 Im ersten Teil dieser Arbeit wurde der Text bereits herangezogen, um 47 Hegel,

Vorlesungen über die Ästhetik II, 258–259. Vorlesungen über die Ästhetik I, 117. 49  Zur Unterordnung des Naturschönen unter das Kunstschöne vgl. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, 190–202. 50  Vgl. Harries, Art Matters, 104. 51  Eine ausführliche Untersuchung zu Heideggers Begriff des Wohnens, die auf ein exis­ 48 Hegel,

2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor

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zu zeigen, wie die unabgeschlossene Bestimmung des Dingbegriffs im Kunst­ werkaufsatz zu einer Verschmelzung von Ding- und Werkbegriff in Heideggers Spätphilosophie führt.52 Dieses systematische Problem wird jedoch im Folgen­ den ausgeklammert, um zu zeigen, wie Heidegger den Gedanken der Erdhaf­ tigkeit von Kunstwerken weiterentwickelt. Das Hauptaugenmerk dieses Kapi­ tels liegt daher auf der Konzeption des Gevierts. Es geht um eine Verschiebung in Heideggers Verständnis der Erde, deren phänomenologisches Potential sich durch die Interpretation von architektonischen Werken aufzeigen lässt. Bauen Wohnen Denken ist als Vortragstext für das Darmstädter Gespräch „Mensch und Raum“ vom 4. bis 6. August 1951 entstanden.53 Die Veranstal­ tung gehörte zum Rahmenprogramm einer Ausstellung desselben Titels, die anlässlich eines 50-jährigen Jubiläums ausgerichtet worden ist. Im Jahre 1901 fand auf der Darmstädter Mathildenhöhe die Architekturausstellung Ein Dokument deutscher Kunst statt. Bedeutende Jugendstilkünstler wie Peter Behrens und Joseph Maria Olbrich, die sich in Darmstadt zu einer Künstlerkolonie zu­ sammengeschlossen hatten, errichteten im Rahmen dieser ersten Ausstellung eine Reihe von Wohnhäusern, die fortschrittliches Wohnen repräsentierten. Die Jubiläumsfeier dieses Ereignisses wurde vom Land Hessen mit einer Einladung an führende Architekten der Gegenwart verbunden, die Entwürfe einzelner Ge­ bäude für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Darmstadt einreichten. Die Gesprächsteilnehmer, für die Heideggers Vortrag eine Art Impulsreferat bieten sollte, haben seine Überlegungen, wie sich in der dokumentierten Diskussion tenziales Verständnis der Architektur zielt, bietet Burkhard Biella, Eine Spur ins Wohnen legen: Entwurf einer Philosophie des Wohnens nach Heidegger und über Heidegger hinaus, Düsseldorf 1998. Biella interpretiert im Schussteil seiner Untersuchung die Arbeit des eng­ lischen Architekten Ralph Erskine, in der Partizipation und Nachhaltigkeit zentrale Mo­ tive bilden, als eine künstlerische „Berücksichtigung des Gevierts“, die das „existenziale Wohnen“ ermögliche, vgl. Burkhard Biella, Eine Spur ins Wohnen legen, 265–269. Eine systematische Philosophie der Architektur, die wesentliche Impulse von Heideggers Den­ ken aufnimmt, liefert Karsten Harries, T he ethical function of architecture, Cambridge 1997. Während Harries ausgehend von Heideggers Metaphysik- und Technikkritik nach der Rolle der Architektur in der Moderne fragt, ist für Schwarte vor allem Heideggers Phänomenolo­ gie des Ortes ein wichtiger Ansatzpunkt: Vgl. Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur, München 2009, insbesondere 9–15 und 35–45. Zu einer Engführung von Minimalismus und Leere in den Bauten von Tadao Ando und Heideggers Erörterungen zu Langeweile, Leere und Nichts vgl. Ernst Hövelborn, Tadao Ando, Materialien zum Abiturschwerpunktthema 2010, Heilbronn 2009. Zu Parallelen in der intellektuellen Biographie von Heideg­ ger und Mies van der Rohe vgl. Werner Blaser, Mies van der Rohe – Crown Hall, Basel/ Boston/Berlin 2001, insbesondere 15–24 und Rebecca Comay, „Heidegger and Mies“, in: Detlef Mertins (Hrsg.), T he presence of Mies, Princeton 1994, 179–192. Eine Analyse der „Ikonizität“ des Eiffelturms in Rückgriff auf Heideggers Begriff des Gevierts und dessen Technikkritik unternimmt Stefan Braun, „Identität und Ereignis. Martin Heidegger und der Eiffelturm“, in: Oliver Kohns/Martin Roussel (Hrsg.), Einschnitte. Identität in der Moderne, Würzburg 2007, 313–331. 52  Vgl. Kap 1.2.8. 53  Vgl. Otto Bartning (Hrsg.), Mensch und Raum, Darmstadt 1952.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

nachlesen lässt, jedoch nicht aufgegriffen.54 Dabei ist die Schlusspointe von Hei­ deggers Vortrag durchaus provokativ. Trotz des Wohnungsmangels im kriegs­ zerstörten Europa schreibt er: „Die eigentliche Wohnungsnot ist auch älter als die Weltkriege und Zerstörungen, älter auch denn das Ansteigen der Bevölke­ rungszahl auf der Erde und die Lage des Industrie-Arbeiters. Die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, daß die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer wieder suchen, daß sie das Wohnen erst lernen müssen.“55 Die Arbeit der Architekten ist so an die ethische Frage gebunden, wie der Mensch leben soll. Heidegger betrachtet die Architektur nicht als isolierte Kunstform, sondern aus dem Gesamtzusammenhang menschlichen Lebens he­ raus. Das „Wohnen“ wird daher im Rückgriff auf die Etymologie des Wortes als ein „Aufenthalt auf der Erde“ bestimmt, der nicht auf die Herstellung von Ar­ chitekturen folgt, sondern dieser immer schon vorausgeht.56 Dass dieser Zusam­ menhang bei der Nutzung von Gebäuden und im Baugewerbe leicht übergangen wird, begründet Heidegger mit der Verdeckungstendenz alltäglicher Kommu­ nikation: „Das Bauen als Wohnen, d. h. auf der Erde sein, bleibt nun aber für die alltägliche Erfahrung des Menschen das im Vorhinein, wie die Sprache so schön sagt, ‚Gewohnte‘. Darum tritt es hinter den mannigfaltigen Weisen, in de­ nen sich das Wohnen vollzieht, hinter den Tätigkeiten des Pflegens und Errich­ tens, zurück.“57 Die Beziehung zwischen Architektur und dem Wohnen ist für Heidegger dementsprechend keine praktische Fragestellung, sondern vor allem ein räumliches Phänomen, dessen Sinn es philosophisch zu fassen gilt. „Bauten“ sind „Dinge“, die zugleich „Orte“ bilden.58 Orte werden dabei nicht als Stellen im Raum gedacht, sondern als dasjenige Seiende, was räumliche Beziehungen überhaupt erst hervorbringt.59 Die Gleichsetzung von Ding und Ort ist durchaus problematisch.60 Heideggers Ortsbegriff ist für die Interpretation von Architek­ tur dennoch instruktiv. Denn mit der Kategorie des Ortes wird ein lebensweltli­ cher Raumbegriff ins Spiel gebracht, den Heidegger bewusst in Opposition zu ei­ nem mathematisch-abstrakten Raumverständnis entwickelt. Architektonischer 54  Eine Ausnahme bildet der Redebeitrag von Dolf Sternberger, der Heideggers Vor­ tragsstil karikiert. Wohnen bedeute nach Heidegger „in einem Paradiese zu leben, in einem ontologischen Paradies zu leben, in einem ontologischen Paradies sinnhafter Ordnung, in einem ontologischen Paradies mit aller ihm auch zugehörigen Gemütlichkeit, mit der Urgemütlichkeit des Paradieses [Heiterkeit im Publikum]“, Bartning (Hrsg.), Mensch und Raum, 124. Sternbergers Kritik greift sachlich allerdings zu kurz. Er übersieht, dass Heideg­ ger, wie am Ende des Vortrags deutlich wird, von einer transzendentalen Not des Menschen in der Moderne ausgeht, die nichts von paradiesischer „Gemütlichkeit“ hat. 55 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 164. 56 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 147–148. 57 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 149. 58 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 156. 59  Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 157–158. 60  Zu einer phänomenologischen Kritik an dieser Gleichsetzung und einer differenzier­ teren Bestimmung architektonischen Raums Vgl. Figal, Erscheinungsdinge, 237–242.

2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor

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Raum erschließt sich erst dadurch, dass wahrnehmende und denkende Men­ schen diesen durchschreiten. In diesem Rahmen ließe sich, auch wenn Heidegger dies nicht tut, die Rolle der Leiblichkeit für die Erfahrung von Architektur her­ ausstellen.61 Eine konstitutive Funktion für die Bewegung im architektonischen Raum und ihre theoretische Reflexion hat aber auch die Einbildungskraft.62 Heidegger konkretisiert dieses Raumverständnis, das nicht nur die Interpre­ tation von Architektur, sondern das In-der-Welt-Sein des Menschen grundsätz­ lich betrifft, durch die Konzeption des „Gevierts“. Dabei werden zentrale Mo­ mente der im Kunstwerkaufsatz entwickelten Bestimmung des Streits von Welt und Erde transformiert. Die Erde wird nun nicht mehr mit der Welt kontrastiert, sondern mit dem Himmel verbunden. Parallel dazu wird der Mensch in der Kol­ lektivform der „Sterblichen“ auf die „Göttlichen“ bezogen. Ein Bauwerk „ver­ sammelt“ diese vier Sinnhorizonte, es bildet einen Ort, an dem die Beziehungen von Erde, Himmel, Göttlichen und Sterblichen zugänglich werden.63 Die Inter­ pretation von Architektur ist so mit einer allgemeinen Bestimmung des Wesens von Dingen überhaupt verbunden. Heidegger geht es dementsprechend weniger um Unterschiede zwischen einzelnen Bauwerken. Die beiden Beispiele, die er in Bauen Wohnen Denken anführt, die „Brücke“ und der „Schwarzwaldhof“, wer­ den beide als eine „Stätte“ dargestellt, an der sich das Geviert als solches zeigt.64 Das Wohnen, und darin besteht die normative Implikation von Heideggers An­ satz, soll an beiden Orten den Charakter des „Schonens“ besitzen.65 Sowohl Brü­ cke als auch Bauernhof erfordern einen umsichtigen Umgang der Menschen mit den Dingen, der aus einem Verständnis der im Geviert versammelten Sinnhori­ zonte gewonnen werden muss.

61  Der menschliche Leib bildet immer schon ein Maß für die Architektur. Darüber hinaus werden im Rahmen der Einfühlungsästhetik des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch Ansätze entwickelt, um ein architektonisches Ortsverständnis von der Erfahrung der Leiblichkeit herzuleiten: „In sich selber trägt ja das Subjekt die Dominante des Axensyste­ mes, das Höhenlot vom Scheitel an die Sohlen. Das heißt, solange eine Umschließung des Subjekts gewollt wird, bedarf der Meridian unseres Leibes keiner sinnlich sichtbaren Her­ stellung: wir selber sind seine Ausgestaltung in Person. Die Architektur als unsere Raumge­ stalterin schafft als ihr Eigenstes, das keine andre Kunst zu leisten vermag, Umschließungen unserer selbst, in denen die senkrechte Mittelaxe nicht körperlich hingestellt wird, sondern leer bleibt, nur idealiter wirkt und bestimmt ist als Ort des Subjektes.“ August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894, 4. 62  So weist Heidegger darauf hin, dass das „Hindenken“ an einen Ort die „Ferne zu diesem Ort durchsteht“. Durch das Vermögen der Einbildungskraft ergibt sich so ein dyna­ misches Verhältnis von Nähe und Ferne, das für das Verständnis der Erfahrung architekto­ nischen Raums einen Vorrang gegenüber physikalischen Größen beanspruchen kann. Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 159. 63  Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 155. 64  Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 154, 162. 65 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 154.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

Die Wahl von Heideggers Beispielen ist hier von nachrangigem Interesse.66 Der philosophische Anspruch des Textes liegt vielmehr in der ontologischen Funktion, die das Geviert erhält. Es bildet den semantischen Kontext, aus dem alles Seiende heraus verstanden werden soll. Dieses Verständnis artikuliert sich wiederum im Wohnen des Menschen, das in einem weiten Sinne als „Aufent­ halt auf der Erde“, und „bei den Dingen“ bestimmt wird.67 In diesen Bereich fallen alle Tätigkeiten des Menschen. Die Architektur hat jedoch insofern eine herausgehobene Rolle, als sie die konkreten Räume hervorbringt, in denen sich die meisten Tätigkeiten des Menschen vollziehen. Die gelungene Gestaltung von Räumen trägt zu einer Haltung bei, in der die Menschen angemessen mit den Dingen umgehen können, das heißt so, dass die Dinge als das zur Geltung kom­ men, was sie sind. Als Maßgabe für die Praxis dient die jeweilige Interpreta­ tion des Gevierts. Es geht um ein „Erscheinenlassen“, das zugleich ein „Verwah­ ren“ der Zusammengehörigkeit von Erde, Himmel, Sterblichen und Göttlichen ist.68 Für Heidegger ist hier auch eine Form der Zurücknahme entscheidend. Die Dinge sollen nicht auf ihre praktische Funktion reduziert werden, sondern müssen freigegeben und „in ihrem Wesen gelassen“ werden.69 So klingt in dem Text eine Ethik der Gelassenheit an,70 die auch Folgen für die praktische Ge­ staltung und Nutzung von Architekturen hat. Das Bauen der Menschen soll zu einem „Wohnenlassen“ werden, das Freiräume für individuelle Realisierungen ermöglicht. 71 Während die ethischen Implikationen des Gevierts einleuchten,72 bleibt doch die grundsätzliche Frage, warum es gerade vier Sinnhorizonte sein sollen, die nicht nur das Verständnis von Bauten, sondern von Dingen überhaupt ausma­ chen. Warum sind es nicht drei oder fünf? Gibt es Argumente dafür, warum man mit Heidegger von genau vier Dimensionen ausgehen sollte? Einen ersten An­ haltspunkt für die Vierzahl ist die Einordnung des Gevierts als Aktualisierung antiker Naturphilosophie. Empedokles geht in seiner Schrift Über die Natur von vier Elementen aus: Wasser, Erde, Luft und Feuer bilden ihm zufolge durch Streit 66  Eine interessante Perspektive auf die Funktion des „Schwarzwaldhofes“ für Heideg­ gers Gedankenführung, die hier doch zumindest erwähnt werden soll, wirft Karsten Har­ ries. Er bezieht das Beispiel des Schwarzwaldhofes auf die Idee des „maison onirique“ bei Gaston Bachelard. Vgl. Harries, T he ethical function of architecture, 202–203. Zur psycho­ analytischen Deutung des „Traumhauses“ vgl. Gaston Bachelard, La poétique de l’espace, Paris 1957, 23–50. 67 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 163. 68 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 153, 161–162. 69 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 153. 70  Vgl. zur Bedeutung der Gelassenheit in Heideggers Spätwerk Brett Davis, „Will and Gelassenheit“, in: ders., Martin Heidegger: Key Concepts, Durham 2010, 168–182. 71 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 161. 72  Vgl. zu ihrer Rolle im aktuellen Diskurs um Nachhaltigkeit und Ökologie Charles Taylor, „Heidegger, Sprache und Ökologie“, in: Paul Sörensen/Nikolai Münch (Hrsg.), Politische T heorie und das Denken Heideggers, Bielefeld 2013, 191–224.

2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor

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und Liebe, Trennung und Verbindung die „Wurzeln“ alles Seienden.73 Tatsäch­ lich spielen in Heideggers Beschreibungen des Gevierts kosmologische Motive eine Rolle, die Parallele zu Empedokles’ Lehre ist aber kein hinreichendes Ar­ gument für die Annahme von vier Sinnhorizonten. Zumal sich insbesondere „Sterbliche“ und „Göttliche“ nicht als Elemente identifizieren lassen. An ande­ rer Stelle verweist Heidegger darauf, dass sich Aristoteles „nicht bei den ‚vier Ursachen‘ als nur aufgerafften beruhigt, sondern sich um ein Verständnis ihres Zusammenhangs und eine Begründung der Vierzahl bemüht“.74 Bei der Ent­ stehung eines Seienden sind immer alle vier Gründe gegeben. In Hinblick auf das Geviert charakterisiert Heidegger den Zusammenhang der Sinnhorizonte als „Einfalt“, die sich als eine Form der differentiellen Einheit begreifen lässt. Im Vergleich zur Beschreibung des Streits von Welt und Erde im Kunstwerkaufsatz ist in der Einfalt des Gevierts das agonale Moment jedoch zurückgenommen. Die vier Sinnhorizonte sind nicht durch ihre Gegensätzlichkeit miteinander verbun­ den, sondern durch ihre jeweilige Eröffnung an konkreten Orten. Heidegger gibt in diesem Zusammenhang jedoch keinen Grund für die Vierheit an.75 Um dem Sinn der Anzahl der Sinnhorizonte auf die Spur zu kommen, müs­ sen die Beschreibungsmöglichkeiten reflektiert werden, die sich aus ihr ergeben. Als Menge betrachtet, lässt sich die Vier in zwei gleichgroße Mengen untertei­ len. Schon für Augustinus besitzt die Vier aus diesem Grund eine besondere Be­ deutung in der Zahlentheorie: Eins und Zwei bestimmt er in De musica als den ersten und den anderen „Anfang“ aller Zahlen, sie sind als Einheit und Vielheit die „principia numerorum“, aus denen sich alle anderen Zahlen zusammenset­ zen lassen.76 Die Drei sei demnach die erste ungerade Zahl, die Vier die erste ge­ rade. Letztere besitze eine „teilbare Mitte“, denn die Zwei, als „Mitte“ der Vier, lasse sich noch einmal in zwei identische Einheiten teilen. Die Vier könne daher auch von dem Verhältnis ihrer Glieder her beschrieben werden: „So entsprechen also die Mitte den Außengliedern und die Außenglieder der Mitte.“77 Augustinus bezeichnet die Struktur der Vier daher auch als „proportio“ oder „ἀναλογία“.78 Heideggers Konzeption des Gevierts enthält dieselbe symmetrische Struktur. So stehen Himmel und Erde als kosmologische Vorstellungen den Sterblichen und Göttlichen als kollektiven Entitäten gegenüber. Zudem sind die Sterblichen mit 73 

Vgl. Diels/Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 21 – Empedokles, B17.

74 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 124. Vgl. für eine Interpretation, die einen

etwas forcierten Vergleich zwischen Heideggers Bestimmung des Gevierts und der aristo­ telischen Vier-Ursachen-Lehre unternimmt Jean-François Mattéi, Heidegger et Hölderlin. Le quadriparti, Paris 2001. 75  Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 151–152 und 161. 76  “… ut illud primum principium, a quo numeri omnes, hoc autem alterum, per quod numeri omnes esse inveniantur.“ Augustinus, De musica, Hamburg 2002, 52–54. 77  „Ita ergo medium extremis et medio extrema consentiunt.“ Augustinus, De musica, 58. 78 Augustinus, De musica, 58.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

der Erde und die Göttlichen mit dem Himmel assoziiert. Das Geviert lässt sich also mindestens auf zwei Weisen in Paare unterteilen. Veranschaulicht man das Geviert in einen Diagramm durch Punkte, so lassen sich zwei Geraden kon­ struieren, die eine vertikale und eine horizontale Achse bilden.79 Interpretiert man die Beziehung von Erde und Himmel sowie von Sterblichen und Göttlichen beide als zwei vertikale, so ergeben sich wiederum zwei parallele Geraden. Die Vierzahl ermöglicht so eine symmetrische Ordnung von Horizonten, deren Ver­ anschaulichung auch der Bewegung im architektonischen Raum einen Orientie­ rungsrahmen geben kann.80 Die Funktion der Orientierung bei der Interpreta­ tion des Gevierts einzubeziehen, liegt auch nicht zuletzt deshalb nahe, weil die Geographie auf der Unterscheidung von vier Himmelsrichtungen aufbaut. Man kann diese begriffsgeschichtlichen Konnotationen der Vierzahl dazu verwenden, um die Annahme von vier Sinnhorizonten zu plausibilisieren. Not­ wendig ist diese Festlegung jedoch nicht. Das Geviert ist zudem auch in seiner inhaltlichen Bestimmung eine ausgesprochen voraussetzungsreiche Konzeption. Es bleibt offen, wieso es gerade Erde, Himmel, Sterbliche und Götter sein sollen, in deren Relation sich das Wesen der Dinge erschließt.81 Es wären grundsätzlich nicht nur zusätzliche, sondern auch andere Sinnhorizonte denkbar. Der ontolo­ gische Anspruch des Gevierts muss im Rahmen dieser Arbeit daher eingeklam­ mert werden. Heideggers Beschreibungen des Gevierts besitzen aber auch ohne diesen Anspruch ein phänomenologisches Potential, das sich in der Interpreta­ tion architektonischer Werke ausweisen lässt. Um das zu zeigen, soll es in die­ sem Kapitel um die Mitte des Gevierts gehen, die im Verhältnis von Erde und Himmel liegt, zumal sich Göttliche und Sterbliche in diesen Zwischenbereich integrieren lassen: „Doch ‚auf der Erde‘ heißt schon ‚unter dem Himmel‘. Beides meint mit ‚Bleiben vor den Göttlichen‘ und schließt ein ‚gehörend in das Mit­ einander der Menschen‘.“ 82 Sowohl Erde als auch Himmel werden durch anschauliche und einfache Be­ schreibungen näher bestimmt: „Die Erde ist die dienend Tragende, die blühend Fruchtende, hingebreitet in Gestein und Gewässer, aufgehend zu Gewächs und Getier. […]. Der Himmel ist der wölbende Sonnengang, der gestaltwechselnde Mondlauf, der wandernde Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres und ihre Wende, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, das Wirt­ 79  Vgl. dazu das Diagramm, das Heidegger in den Beiträgen entwirft, um den Begriff des Ereignisses zu veranschaulichen. „Mensch“ und „Götter“ bilden dort eine horizontale Achse, „Welt“ und „Erde“ eine vertikale. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereig­ nis), GA 65, 310. 80  In dieser Hinsicht ist T homä zuzustimmen, wenn er auf die „interne Symmetrie“ des Gevierts hinweist. Vgl. T homä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, 830. 81  Auch wenn sich für diese konkrete Auswahl Vorbilder in der griechischen Philoso­ phie finden lassen. Vgl. Platon, Gorgias, 507e-508a. 82 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 151.

2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor

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liche und Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers.“83 Die Erde umfasst hier den Bereich belebten und Teile der unbelebten Natur. In­ dem Heidegger sie als ‚aufgehende‘ bezeichnet, wird sie, wie schon im Kunstwer­ kaufsatz, mit seiner Interpretation der vorsokratischen Auffassung von φύσις verbunden.84 Zugleich wird an dieser Stelle die vertikale Richtung des Wachs­ tums betont und so der Bezug der Erde zum Himmel hergestellt. Im Unterschied zur Bestimmung der Erde im Kunstwerkaufsatz scheint das Moment der Verber­ gung und des Entzugs zurückgenommen. Zudem kommt die Erde, auch wenn sie sich nur an bestimmten Orten oder in der Betrachtung von Dingen zeigt, hier nicht in ihrer sinnlichen Materialität oder als besondere Gegebenheitsweise, son­ dern eher als eigenständiger Bereich zur Geltung. Das gilt auch für den Himmel. Heidegger bestimmt ihn als den Sinnhorizont, zu dem die Bewegung der Him­ melskörper, die zyklischen Wechsel von Tages- und Jahreszeiten und Wetterphä­ nomene wie Stürme, Blitze und Wolken gehören.85 Auch hier ist ein Bezug auf die Natur vorhanden, der Himmel weist aber zugleich über die Natur hinaus. Er bestimmt die natürlichen Lichtverhältnisse und die lebensweltliche Zeiterfah­ rung der Menschen.86 Am Ausdruck „blauende Tiefe des Äthers“ wird deutlich, dass Heidegger in seinen Beschreibungen nicht nur auf Vorstellung der anti­ ken Naturphilosophie zurückgreift, sondern auch poetische Motive aufnimmt. Es handelt sich genau genommen um eine Rezeption griechischer Begriffe, die durch die Interpretation von Hölderlins Dichtung vermittelt ist. So deutet Hei­ degger den „Äther“ in der Auslegung von Wie wenn am Feiertage… als Gottheit des „Lichts“ und der „Luft“.87 Bei Hölderlin gehörte der Äther zur „Natur“, sie umschließt den Bereich vom Höchsten bis zum tiefsten „Abgrund“.88 Das Blau des Äthers, das Heidegger für die Beschreibungen des Gevierts übernimmt, ver­ weist auf das späte Fragment Hölderlins In lieblicher Bläue blühet.89 Die Farbe charakterisiert dort eine Heiterkeit, die sich in der Betrachtung des Himmels einstellt. Die Bläue steht aber auch für die Tiefe des Äthers. Denn je größer die Sichtweite, desto höher ist der Anteil des blauen Lichts. Der Himmel ist nicht nur das Medium der Sichtbarkeit, sondern auch ein sichtbares Medium.90 83 Heidegger,

Bauen Wohnen Denken, GA 7, 152. Kap. 1.3.2.1. 85  Das Wasser kommt im Geviert also an verschiedenen Stellen vor. Als Gewässer, Fluss, See und Meer gehört es zu Erde. Als Wolke, Tau und Regen gehört es zum Himmel. 86  Zu einer Interpretation der Sinnhorizonte des Gevierts als „Chiffren“ für Zeit und Geschichte vgl. Günter Figal, Heidegger zur Einführung, Hamburg 1992, 176. 87 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 60–61. 88 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 47. 89  Vgl. zur Interpretation des Textes Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 42, 89, 165. 90  Vgl. dazu die Vorstellung von der Durchsichtigkeit des Äthers in Aristoteles, De anima, 418b9–10. Zur ästhetischen T heorie des Diaphanen allgemein Emmanuel Alloa, Das durchscheinende Bild, Zürich 2011. 84  Vgl.

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Im Aufsatz Hölderlins Himmel und Erde zeigt Heidegger im Einzelnen, wie der Gedanke des Gevierts nach seiner eigenen Auffassung in der Dichtung Höl­ derlins vorgeprägt ist.91 Das Verhältnis von Himmel und Erde erläutert er dabei im Rückgriff auf Hölderlins Hymne Der Rhein. Es entspricht dem „Brautfest“ von Göttlichen und Sterblichen. 92 In diesem Kontext wird besonders deutlich, dass das Geviert im Unterschied zur Konzeption des Streits von Welt und Erde keine agonalen Oppositionen beinhaltet. So schreibt Heidegger: „Die Hochzeit ist das Ganze der Innigkeit von: Erde und Himmel, Menschen und Göttern. Sie ist Fest und Feier des unendlichen Verhältnisses.“ 93 Die Sinnhorizonte des Ge­ vierts werden also nicht unter dem Blickwinkel der ἔρις, sondern aus dem des ἔρος betrachtet.94 An die Stelle des Streits tritt die Idee der Vermittlung. Mit der „Hochzeit“ ist zudem eine kosmologische Ordnung angedacht, die als solche schön sein soll: „Es ist die Hochzeit von Erde und Himmel, da die Menschen und ‚irgend ein Geist‘, d. h. ein Gott, gemeinschaftlicher die Schönheit auf der Erde wohnen lassen. Die Schönheit ist das reine Scheinen der Unverborgenheit des ganzen unendlichen Verhältnisses samt der Mitte. Die Mitte aber ist als das mittelnd Fügende und Verfügende. Sie ist die ihr Erscheinen sparende Fuge des Verhältnisses der Vier.“ 95 Die Schönheit des Gevierts kann unterschiedlich kon­ figuriert sein. Sie muss nicht erst durch die Kunst herausgestellt werden, sondern stellt sich mitunter auch in der Alltagserfahrung ein. In Hebel – Der Hausfreund veranschaulicht Heidegger die alltägliche Schönheit des Gevierts in Hinblick auf den Himmel und die natürlichen Lichtverhältnisse: „Das Natürliche der Natur ist jenes Auf- und Untergehen der Sonne, des Mondes, der Sterne, das die woh­ nenden Menschen unmittelbar anspricht, indem es ihnen das Geheimnisvolle der Welt zuspricht.“ 96 Dass die Bewegung der Himmelskörper so wahrgenom­ men werden kann, liegt in der menschlichen Rezeptivität für das Naturschöne begründet. Heidegger beschreibt einerseits die alltägliche Vertrautheit mit den natürlichen Lichtquellen, andererseits sind sie bei ihm auch ein Residuum my­ thologischer Vorstellungen und symbolisieren die Präsenz der Göttlichen in der 91  „Erde und Himmel und ihr Bezug gehören […] in das reichere Verhältnis der Vier. Diese Zahl wird von Hölderlin nicht eigens gedacht und nirgends gesagt. Gleichwohl sind die Vier überall für all sein Sagen zuvor aus der Innigkeit ihres Zueinander erblickt.“ Hei­ degger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 170. 92  Die mythologische Vorstellung hinter diesem poetischen Motiv ist der ἱερὸς γάμος, vgl. Hesiod, T heogonia, Opera et Dies, Scutum, hrsg. von Friedrich Solmsen, Oxford 1983, 116–138 und 969. 93 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlin, GA 4, 173. 94  Zu Eris und Eros in der griechischen Dichtung und Naturphilosophie und ihm be­ griffsgeschichtlichen Stellenwert vgl. Hartmut Böhme, „Art. Natur“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 4, Stuttgart/Weimar 2002, 432–497, insbesondere 453–454. 95 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlin, GA 4, 179. 96 Heidegger, Hebel – Der Hausfreund, GA 13, 145.

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Welt. Wer den Himmel auf diese Weise betrachtet, erfährt etwas, das sich nie restlos erschließt. Zudem dienen Heidegger die Beschreibungen natürlicher Lichtverhältnisse, des Wechsels von Tag und Nacht, von Helle und Dunkelheit auch dazu, die Be­ deutung von Absenz für das Denken zu veranschaulichen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass Dunkelheit und Helle nicht isoliert auftreten. Sie können nur in relativen Abstufungen, im Kontrast, im Wechsel oder allgemein in Relation zueinander wahrgenommen werden. Vollkommene Helligkeit bleibt der visuellen Wahrnehmung ebenso unzugänglich wie die restlose Selbstdurch­ sichtigkeit dem Denken.97 Der Mensch hat in diesem Sinne eine „Stellung zwi­ schen Licht und Nacht“.98 Besonders prägnant kommt das in einem Fragment Heraklits zum Ausdruck, das Heidegger im Rahmen eines gemeinsamen Semi­ nars mit Eugen Fink interpretiert. Das Fragment lautet: „Der Mensch zündet sich in der Nacht ein Licht an, wann er gestorben ist; im Leben berührt er den to­ ten im Schlummer, wann sein Augenlicht erloschen; im Wachen berührt er den schlummernden.“ 99 Der wache Mensch kann von der Wirklichkeit mehr verneh­ men als der Schlafende, der Schlafende mehr als der Tote. Wenn diese Zustände aber näher beieinander liegen, als wir gewohnt sind zu glauben, dann kann He­ raklits Satz als eine Kritik an der Überschätzung menschlicher Erkenntnismög­ lichkeiten interpretiert werden. Der menschliche Geist hat demnach, wie Eugen Fink es formuliert, den „Inselcharakter des kleinen Lichts“.100 Klein erscheint dieses Licht im Verhältnis zum „ewigen Feuer“ , dem großen Λόγος.101 Auch in Heideggers philosophischem Dialog Ein Gespräch selbdritt auf einem Feldweg wird vom „Weisen“ auf die wechselseitige Angewiesenheit von nächtlichem Dunkel und Sternenlicht hingewiesen: „Für das Kind im Menschen bleibt die Nacht die Näherin. Sie nähert, sο daß Stern bei Stern im stillen Licht erglänzt.“102  97 

Der Blick in die Sonne, den Platon im Höhlengleichnis als Ziel geistiger Selbstbefrei­ ung beschreibt, bleibt demnach ein unerreichbares Ideal. Vgl. Platon, Politeia, 516b-c. In Grundsätze des Denkens schreibt Heidegger über die Dunkelheit als „Herkunft“ und „Ort“ des Denkens: „Der Mensch kann sie nicht beseitigen. Er muß vielmehr lernen, das Dunkle als das Unumgängliche anzuerkennen und von ihm jene Vorurteile fernzuhalten, die das hohe Walten des Dunkeln zerstören. So hält sich das Dunkle geschieden von der Finsternis als der bloßen und völligen Abwesenheit von Licht. Das Dunkle aber ist das Geheimnis des Lichten. Das Dunkle behält das Lichte bei sich. Dieses gehört zu jenem, Darum hat das Dunkle seine eigene Lauterkeit. Hölderlin, der alte Weisheit wahrhaft wußte, sagt in der dritten Strophe seines Gedichtes ‚Andenken‘: ‚Es reiche aber,/Des dunklen Lichtes voll/ Mir einer den duftenden Becher‘.“ Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, GA 79, 93.  98 Heidegger, Seminare, GA 15, 212.  99 Diels/Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Heraklit, B26. Zur Diskus­ sion über dieses Fragment vgl. Heidegger, Seminare, GA 15, 197–221. 100 Heidegger, Seminare, GA 15, 212. 101  Vgl. zu der Unterscheidung zwischen dem λόγος als der einzelnen Rede und mensch­ lichen Vernunft und dem Λόγος als „Sein“ Heidegger, Heraklit, GA 55, 353–359. 102 Heidegger, Feldweg-Gespräche, GA 77, 156.

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Tatsächlich durchdringen sich die Nacht und der Sternenhimmel so, dass sie nur zusammen sichtbar sind. Durch die Rede vom ‚Glanz der Sterne‘ greift Heideg­ ger hier einen klassischen Topos der Naturästhetik auf.103 Allgemein rekurriert Heidegger, wenn er den Himmel beschreibt, häufig auf das Moment des Glanzes und spielt damit auf den platonischen Begriff der Schönheit an.104 Da der Him­ mel als Sinnhorizont des Gevierts verstanden werden soll, kann grundsätzlich jedes Ding diese Eigenschaft gewinnen.105 Der Glanz fällt mit der Versammlung des Gevierts zusammen, er ist eine intrinsische Eigenschaft des „Spiegel-Spiels“ von Göttlichen, Sterblichen, Himmel und Erde.106 Heidegger verbindet die Aneignung philosophischer Lichtmetaphorik in sei­ ner ersten Heraklit-Vorlesung Der Anfang des abendländischen Denkens mit ei­ ner Kritik an künstlicher Beleuchtung: „Die moderne Großstadt hat inzwischen [noch] vor dem Krieg durch eine riesenhafte Beleuchtungstechnik die Nacht zum Tag gemacht, so daß weder ein Himmel noch auch seine Lichter sichtbar sein können. Zufolge dieser Lichttechnik ist die Helle selbst zu einem herstell­ baren und vordringlichen Gegenstand geworden. Die Helle hat ihr Wesen, das Unscheinbare in allem Scheinen zu bleiben, eingebüßt. Die Helle im Sinne der Durchsichtigkeit des Lichtes gründet aber darin, daß überhaupt Lichtung und Aufgang, d. h. φύσις west.“107 Inwiefern das natürliche Licht in der Moderne vom künstlichen überstrahlt wird und welche Konsequenzen das für die Philosophie hat, sei dahingestellt. Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass Heidegger hier das Denken grundsätzlich auf die Gegebenheit von Lichtverhältnissen bezieht und ihm so eine ästhetische Sensibilität zuspricht. Das natürliche Licht bietet einen Zugang zum Verständnis der φύσις. Die unscheinbare ‚Helle‘ ist aber zu­ gleich auch Grund von Schönheit. Das Verhältnis von Himmel und Erde bedingt so nicht nur die Erkennbarkeit der Dinge, sondern auch ihre sinnliche Präsenz. 103  „Erstmals [bei Homer] erscheint auch eine nächtliche Mondlandschaft, die das Ini­ tial für spätere Schilderungen einer nicht-grausenden, freundlichen Nacht abgibt.“ Hartmut Böhme, „Art. Natur“, 457. Die Stelle, auf die Böhme verweist, lautet in der Übersetzung von Voß: „Wie die Sterne den leuchtenden Mond umkränzen am Himmel,/ Strahlend in herr­ lichem Glanz, wann windstill ruhet der Äther;/Hell sind rings die Warten und ragenden Gipfel der Berge;/ auch die Schluchten, es öffnete sich der unendliche Äther;/ Aller Gestirne wird man gewahr, und es freut sich der Hirte.“ Homer, Illias, VII, 555–559. 104  In der platonischen Tradition und insbesondere der neuscholastischen Ästhetik wird die Schönheit als „splendor veri“, „splendor ordinis“ sowie „splendor formae“ charakteri­ siert. Vgl. Dietrich Schlüter, „Art. Glanz“, Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, Darmstadt 1974, Spalte 626. 105  Vgl. zum „Glanz“ des „Scheinenden“, des „Schönen“, des „Wirklichen“, des „Nutzlo­ sen“, der „Gestirne“, des „Ringes“, der „Einfalt“, dessen, was „unter dem Himmel und somit auf der Erde“ ist sowie des „Geheimnisses“ Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, 35; 36; 39; 65; 151,179; 181; 183; 205 sowie 288. 106  Heidegger, Heraklit, GA 55, 142. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Er­ eignis), GA 65, 487. 107 Heidegger, Heraklit, GA 55, 142. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Er­ eignis), GA 65, 487.

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Diese Überlegungen Heideggers können auch in der Gestaltung von Archi­ tektur Anwendung finden. Ein Beispiel dafür sind Bauten, die nicht einfach auf künstliche Beleuchtung verzichten, sondern das natürliche Licht so einbeziehen, dass es unscheinbar bleibt. So wird beispielsweise im Kunsthaus Bregenz, das zwischen 1990 und 1997 von Peter Zumthor errichtet wurde, das Licht über eine Glasfassade gefiltert und in drei übereinanderliegende Ausstellungssäle geleitet. Jedes der drei Oberstockwerke wird auf diese Weise durch ein diffuses Oberlicht beleuchtet, das bei Bedarf durch künstliches Licht aus dem in der Decke liegen­ den Hohlraum verstärkt werden kann. Es handelt sich um eine „Glasarchitektur, die ihr Material nicht monumental verspiegelt einsetzt, sondern ihre Qualität der Transparenz als ‚Lichteinsammler‘ einsetzt.“108 Zumthor schreibt zu der Wir­ kung des Gebäudes: „Das Kunsthaus steht im Licht des Bodensees. Sein Körper ist aus Glasplatten, Stahl und einer Steinmasse aus gegossenem Beton gebaut, die im Innern des Hauses Struktur und Raum bildet. Von außen betrachtet wirkt das Gebäude wie ein Leuchtkörper. Es nimmt das wechselnde Licht des Himmels, das Dunstlicht des Sees in sich auf, strahlt Licht und Farbe zurück und lässt, je nach Blickwinkel, Tageszeit und Witterung etwas von seinem Innenleben erah­ nen.“109 Die Lichtverhältnisse im Inneren des Gebäudes entsprechen also nicht nur den praktischen Anforderungen eines Museums, sondern stellen einen Be­ zug zur besonderen Atmosphäre der Uferlandschaft her. 2.2.3. Die Leere Die Baukunst ist nach Heidegger das „Stiften und Fügen von Räumen“, sie bringt „Orte“ hervor.110 Sie ist in dieser Hinsicht mit der Plastik verwandt, beide Kunst­ formen lassen sich als „Auseinandersetzung mit dem Raum“ verstehen.111 Mit Die Kunst und der Raum hat Heidegger einen eindringlichen Text verfasst, der diesen Zusammenhang in Hinblick auf die Bildhauerei näher untersucht.112 Da­ bei legt Heidegger zunächst Wert darauf, dass der Raum der Bilderhauerei nicht als mathematisch-physikalischer verstanden werden soll.113 Er nimmt die Kunst als Ausgangspunkt dafür, um einen phänomenologischen Raumbegriff zu um­ reißen, in dem die Bestimmungen des Gevierts weiterentwickelt werden. So wird der Raum auch hier vom „Räumen“ her bestimmt. Es geht Heidegger um die 108  Regine Heß, Emotionen am Werk. Peter Zumthor, Daniel Libeskind, Lars Spuybroek und die historische Architekturpsychologie, Berlin 2012, 137. 109  Peter Zumthor, Kunsthaus Bregenz, Archiv Kunst Architektur, Werkdokumente, Ostfildern 1998, 7. 110 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 160. 111 Heidegger, Die Kunst und der Raum, GA 13, 208. 112  Der Text ist für ein Künstlerbuch des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida ent­ standen. Vgl. zu den historischen Umständen der Entstehung Andrew J. Mitchell, Heidegger among the sculptors, Stanford 2010, 66–69. 113  Vgl. Heidegger, Die Kunst und der Raum, GA 13, 208.

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Entstehung konkreter Orte, die aber überhaupt nur deshalb möglich ist, weil es so etwas wie „das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Men­ schen“ gibt.114 Wie die Architektur wird hier also auch die Bildhauerei auf den Aufenthalt des Menschen auf der Erde, bei den Dingen und unter dem Him­ mel bezogen. Die Verkörperung dieser Bezüge folgt in der Architektur und Bild­ hauerei verschiedenen Regeln. Wenn eine Skulptur aufgestellt wird, erhält die Umgebung ein räumliches Zentrum. Die Architektur hingegen hat selbst „Um­ gebungscharakter“.115 Die beiden Kunstformen besitzen jedoch die Gemeinsam­ keit, dass die Offenheit, die für das Hervorbringen von Orten benötigt wird, in ihren Werken zu einer gesteigerten Präsenz gelangen kann. Die Offenheit, die den Raum überhaupt ausmacht, zeigt sich nach Heideg­ gers Verständnis an einzelnen Orten und konkreten Dingen als Leere: „Vermut­ lich ist jedoch die Leere gerade mit dem Eigentümlichen des Ortes verschwistert und darum kein Fehlen, sondern ein Hervorbringen. / Wiederum kann uns die Sprache einen Wink geben. Im Zeitwort ‚leeren‘ spricht das ‚Lesen‘ im ursprüng­ lichen Sinne des Versammelns, das im Ort waltet. / Das Glas leeren heißt: es als das Fassende in sein Freigewordenes versammeln. / Die aufgelesenen Früchte in einen Korb leeren heißt: / ihnen diesen Ort bereiten. / Die Leere ist nicht nichts. Sie ist auch kein Mangel. In der plastischen Verkörperung spielt die Leere in der Weise des suchend-entwerfenden Stiftens von Orten.“116 Ohne die Leere kön­ nen weder Dinge betrachtet noch Räume betreten werden. Die Aufnahmebereit­ schaft und Durchlässigkeit des Raumes entziehen sich im Alltag der Aufmerk­ samkeit. Sie wird in der Regel erst dann bemerkt, wenn die Sicht verstellt oder ein gewohnter Weg durch ein Hindernis unterbrochen wird. An Gegenständen, die als Behälter dienen, wird zudem deutlich, dass die Leere nicht nur ungenutzter Raum ist. Wenn die Leere als Leere erfahren wird, strebt sie danach, angefüllt zu werden und ist in diesem Sinne auch die Möglichkeit der Fülle. Dieses Po­ tential der Leere kann in der künstlerischen Gestaltung von Raum Verwendung finden. Heidegger entwickelt seine Beschreibung der Leere zwar nicht im Rah­ men der Interpretation von bildender Kunst. Sie lassen sie dennoch zu diesem Zweck nutzen, beispielsweise um Stilmittel der Reduktion zu erläutern. Wenn eine Architektur den Eindruck von Leere erzeugt, kann das mit Heidegger als eine Verkörperung der Offenheit verstanden werden, die das Bauen überhaupt erst ermöglicht.

114 Heidegger, 115 

214.

Die Kunst und der Raum, GA 13, 206. Vgl. Günter Figal, Unscheinbarkeit: Der Raum der Phänomenologie, Tübingen 2015,

116 Heidegger,

Die Kunst und der Raum, GA 13, 210.

2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor

109

2.2.4. Das Architekturverständnis Peter Zumthors Dieser Zusammenhang lässt sich an den bereits erwähnten Bauten des Schweizer Architekten Peter Zumthor veranschaulichen. Bevor mit der Bruder-Klaus-Feldkapelle auf ein Beispiel seiner Arbeit näher eingegangen wird, werden zwei Texte herangezogen, die beide auf Reden und Vorträge zurückgehen, in denen Zum­ thor nicht nur die eigene Arbeit reflektiert, sondern zugleich allgemeine Über­ legungen zur Architektur entwickelt. Es handelt sich um Architektur Denken und Atmosphären.117 Im ersten Text beruft sich der Architekt ausdrücklich auf Heidegger: „Der Begriff des Wohnens, so weit gefasst wie das Heidegger tut als Leben und Denken an Orten und in Räumen, enthält einen genauen Hinweis auf das, was Wirklichkeit für mich als Architekt bedeutet.“118 Zumthors Texte sind unprätentiös geschrieben, bewahren den mündlichen Vortragsstil und enthalten eine Vielzahl von Verweisen auf literarische und philosophische Autoren, aber auch auf Filme, Musikstücke und Werke bildender Künstler, die das ästhetische Empfinden des Architekten beeinflusst haben. Der Verweis auf Heidegger findet sich also in einem weitgespannten Netz an Bezügen wieder. Bei genauerer Lek­ türe erweist sich die Kunstphilosophie Heideggers für die Selbstreflexion Zum­ thors allerdings als ein besonders wichtiger Referenzpunkt. Selbst an den Stellen, an denen sich ein direkter Einfluss nicht nachweisen lässt, lassen sich Zumthors Ausführungen über Licht, über die Bedeutung der Materialien, über die Leere und den architektonischen Raum als Aneignung und Weiterentwicklung der kunstphilosophischen und architekturtheoretischen Ansätze Heideggers lesen. Dass die Rezeption von Heideggers Kunstphilosophie hier in einer künstleri­ schen Praxis fundiert ist, verleiht diesen Texten einen besonderen Stellenwert. Sie stehen für die Aktualität von Heideggers kunstphilosophischen Gedanken in der zeitgenössischen Architektur. Zumthor beschreibt die Präsenz, die Materialien in der Architektur erhal­ ten können, immer wieder als ein „Klingen“ und „Strahlen“.119 Diese Formulie­ rung erinnert an das „Her-stellen der Erde“, wie Heidegger es im Kunstwerkauf­ satz am Beispiel des Tempels bestimmt: Dort ist unter anderem von „Blitzen“, „Schimmern“, „Klingen“ und „Leuchten“ die Rede.120 Zumthors Ausführungen sind hier allerdings differenzierter als diejenigen Heideggers. Der Facettenreich­ tum, den das einzelne Material besitzt, erschließt sich ihm aus der praktischen Erfahrung des gelernten Handwerkers: „Materialien sind unendlich – nehmen 117  Peter Zumthor, Architektur Denken, 2. erweiterte Aufl., Basel/Boston/Berlin 2004 und Peter Zumthor, Atmosphären, Basel/Boston/Berlin 2006. Der erste Band umfasst Re­ den und Vorträge, die von 1988 bis 2004 entstanden sind, der zweite Band basiert auf einem Vortrag, den Zumthor am 1. Juni 2003 beim Literatur und Musikfest in Ostwestfalen-Lippe „Wege durch das Land“ gehalten hat. 118 Zumthor, Architektur Denken, 36. 119 Zumthor, Architektur Denken, 10 und 25 sowie Zumthor, Atmosphären, 86. 120 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 32.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

Sie einen Stein, und diesen einen Stein können sie sägen, schleifen, bohren, spal­ ten und polieren, er wird immer wieder anders sein. Und dann halten Sie ihn ins Licht, er wird nochmals anders. Bereits ein Material hat schon tausend Möglich­ keiten. Ich liebe diese Arbeit und je länger ich sie mache, umso geheimnisvoller wird sie irgendwie.“121 Jede Bearbeitung des Steins verleiht ihm eine neue Ge­ stalt. Dabei entstehen Oberflächen mit unterschiedlichen Wahrnehmungsqua­ litäten, die nicht abschließend kategorisierbar sind und zusammengenommen dennoch das ästhetische Potential eines Materials bilden. Die Bearbeitung er­ schließt nie so etwas wie das ‚Innere‘ eines Steins.122 Das Wesen eines Materials besteht vielmehr im unendlichen Kontinuum seiner Erscheinungsmöglichkei­ ten. Ein konkreter Bau verwirklicht stets einen Ausschnitt aus diesem Konti­ nuum: „Sinn entsteht dann, wenn es gelingt, im architektonischen Gegenstand spezifische Bedeutungen bestimmter Baumaterialien hervorzubringen, die nur in diesem einen Objekt auf diese Weise spürbar werden.“123 Künstlerisch an­ spruchsvolle Architektur verfolgt demnach das Ziel, singuläre Werke zu errich­ ten, die sich auch in ihrer Materialität von konventionellen Bauten abheben. Dazu reichen die individuellen Materialeigenschaften einzelner Bauteile nicht aus, entscheidend ist dafür ihre Auswahl und Zusammensetzung, die Zumthor als „Materialkomposition“ bezeichnet.124 Zumthors Arbeit zeichnet sich gerade in dieser Hinsicht durch besonders sorgfältige Entscheidungen aus. In seinen Texten bringt er auch die spielerische Faszination zum Ausdruck, die bestimme Baustoffe auf ihn ausüben: „Ich nehme eine bestimmte Menge von Eichenholz und eine andere Menge von Tuffstein und dann gebe ich noch etwas dazu: drei Gramm Silber, einen Schlüssel – was hätten Sie noch gerne?“125 Die Frage klingt unschuldig und leicht ironisch. Mit der Antwort kann man jedoch durchaus daneben liegen, denn die Absicht, der Erde in der Architektur Präsenz zu ver­ leihen, lässt sich nicht immer verwirklichen. Zumthor reflektiert auch die Mög­ lichkeit künstlerischen Scheiterns: „Es gibt eine kritische Nähe der Materialien zueinander, die ist abhängig vom Material selber und vom Gewicht, das es hat. Und Sie können Materialien in einem Bauwerk zusammenbringen. Da gibt es einen Punkt, wo sie zu weit weg sind, dann schwingen sie nicht miteinander, und dann gibt es einen Punkt, wo sie zu eng sind, und dann sind sie tot.“126 Das 121 Zumthor,

Atmosphären, 25. Vgl. Heideggers Ausführungen zum Entzugscharakter der Erde am Beispiel des Fel­ sens: „Der Stein lastet und bekundet seine Schwere. Aber während diese uns entgegenlastet, versagt sie sich zugleich jedem Eindringen in sie. Versuchen wir solches, indem wir den Fels zerschlagen, dann zeigt er in seinen Stücken doch nie ein Inneres und Geöffnetes. Sogleich hat sich der Stein wieder in das selbe Dumpfe des Lastens und des Massigen seiner Stücke zurückgezogen.“ Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 33. 123 Zumthor, Atmosphären, 10. 124 Zumthor, Atmosphären, 25. 125 Zumthor, Atmosphären, 23. Vgl. Zumthor, Architektur denken, 86. 126 Zumthor, Atmosphären, 27. 122 

2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor

111

Ziel der Komposition besteht also darin, die Materialien im richtigen Abstand voneinander in Anwendung zu bringen. Wenn das gelingt, stellt sich eine äs­ thetische Wirkung ein, die als „sinnstiftendes Spannungsverhältnis“ erfahren werden kann.127 Aus diesem Grund ist für Zumthor auch die Arbeit mit Model­ len wesentlich wichtiger als das Medium der Entwurfszeichnung.128 Die Wech­ selwirkung von Materialien lässt sich auf einem Blatt Papier nicht antizipieren. Wenn ein Projekt „Materie“ wird, folge es „eigenen Gesetzmäßigkeiten“.129 Aber letztlich reicht auch ein Modell nicht aus, die Materialkomposition muss sich am konkreten Ort bewähren. Bereits getroffene Entscheidungen werden von Zum­ thor mitunter auch während der Umsetzung eines Projekts wieder rückgängig gemacht: „Die Zeder war doch besser! […] Ein Jahr später: Dunkle, harte, reich gemaserte Edelhölzer sind wieder eingezogen, daneben weiche, hellere. Die Ze­ der war letztendlich zu linear strukturiert, zu spröde; sie wurde doch nicht ein­ gebaut.“130 Fehlgriffe können so als Teil eines experimentellen Prozesses verstan­ den werden, der idealerweise zu einer gelungenen Materialkomposition führt. Damit das Erdhafte im Bauwerk zur Erscheinung kommt, muss also eine Reihe von richtigen Entscheidungen getroffen werden. Für Zumthor sind dabei nicht nur visuelle Qualitäten wie die Oberflächen­ struktur oder die Färbung der Materialien relevant. Auch haptische Eigenschaf­ ten wie „Härte“ und „Weiche“ spielen in seinen Werken eine Rolle.131 Hinzu kommt die Akustik. Insofern Zumthor mit seinen Bauten die Aufmerksamkeit auf die Stille lenkt, verfolgt er eine Absicht, die auch Heideggers Interpretationen dichterischer Sprache leitet. So schreibt der Architekt: „Ich achte auf den Klang des Raums, auf die Anschlagsqualitäten der Materialien und Oberflächen und auf die Stille, als Voraussetzung des Hörens.“132 Schließlich gehört zur Aufgabe der Materialkomposition die Erzeugung einer bestimmten Temperatur. Mit dem Schweizer Pavillon auf der Weltausstellung Expo 2000 hat Zumthor in dieser Hinsicht nach eigener Aussage einen glücklichen Zufall erlebt: „Die schönsten Dinge sind doch Überraschungen. Wir haben viel, viel Holz, viele Holzbalken verwendet […]. Und wenn es dann heiß war, war es in diesem Pavillon kühl wie im Wald, und wenn es kühl war, war es in diesem Pavillon wärmer als drau­ ßen, obwohl er nicht geschlossen war.“133 Die Temperatur ist für Zumthor jedoch mehr als ein Faktor des Raumklimas. Einem Bauwerk bestimmte ‚Temperaturen‘ zu verleihen, hat einen weiteren Sinn: „[W]enn ich das mache, kommt mir auch 127 Zumthor,

Atmosphären, 17. Peter Zumthor, „Architektur, Bild und Entwurf“, Interview mit Toni Hilde­ brandt, Rheinsprung – Zeitschrift für Bildkritik 11 (2011), 139–146, insbesondere 142–143. 129 Zumthor, Architektur Denken, 62. 130 Zumthor, Atmosphären, 25–27. 131 Zumthor, Architektur Denken, 62. 132 Zumthor, Architektur Denken, 86. 133 Zumthor, Atmosphären, 33. 128  Vgl.

112

2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

das Wort temperieren in den Sinn. Vielleicht ein bißchen so, wie die Klaviere temperieren, also die richtige Stimmung suchen. Im wörtlichen und im über­ tragenen Sinn. Das heißt, diese Temperatur ist eine physische und vermutlich auch eine psychische. Was ich sehe, was ich spüre, was ich berühre, auch mit den Füßen.“134 Wahrnehmung und affektive Beurteilung lassen sich in der leiblichen Erfahrung von Architektur nicht trennen. Die sichtbare Oberflächenstruktur von Baustoffen kann auf den Betrachter eine taktile Anziehungskraft ausüben. Bei der Berührung kommt unmittelbar die Wahrnehmung der Temperatur ins Spiel. Für die ästhetische Wirkung, die Zumthor im Blick hat, ist die Wechsel­ wirkung dieser Sinneseindrücke von entscheidender Bedeutung. Was Heidegger Erde nennt, kommt so in Zumthors Ausführungen über die Materialität der Ar­ chitektur in der ganzen Fülle sinnlicher Qualitäten zur Geltung. Was von Hei­ degger nicht begrifflich gefasst wird und was Zumthor hingegen nachdrücklich betont, ist die Rolle der Komposition. Sie erlaubt einen Blick auf die Materialien, der immer wieder überraschen kann: „Wir kennen sie [die Materialien] alle. Und wir kennen sie doch nicht.“135 Zumthor steht als Architekt für eine ortsspezifische Architektur. Ein Bauwerk schafft für ihn einen Ort, der seine geschichtliche Bedingtheit integriert.136 Zu­ gleich ist es ein Orientierungspunkt in der Landschaft.137 Im Unterschied zu Hei­ degger hat für Zumthor der Ort jedoch keinen Vorrang vor dem Raum: „Wenn wir uns als Architekten mit dem Raum beschäftigen, dann befassen wir uns le­ diglich mit einem kleinen Teil dieser Unendlichkeit, die die Erde umgibt. Aber jedes Bauwerk bezeichnet einen Ort in dieser Unendlichkeit.“138 Zumthor geht hier implizit von dem Raum als geometrischem Kontinuum aus. Das hindert ihn jedoch nicht, bei der Gestaltung dieses Kontinuums den Aspekt der Offenheit zu betonen. Der architektonische Innenraum erscheint ihm als Ausschnitt aus dem „unendliche[n] Raumkontinuum“, der zugleich von der „Art eines offenen Gefäßes“ ist.139 In erstaunlicher Nähe zu Heideggers Beschreibungen von Krug 134 Zumthor,

Atmosphären, 35. Architektur Denken, 66. 136  Zumthor schöpft in seiner Arbeit immer wieder aus der Geschichte der Architektur. Die Bezugnahme auf die Tradition erfolgt dabei aber weniger durch die Übernahme beste­ hender Formen und Gestaltungsprinzipien, sondern eher über die Evokation bestimmter Bilder und die Herstellung von Sinneseindrücken, die Vertrautes neu zur Geltung bringen: „Ich plädiere darum für eine Architektur der praktischen Vernunft, die ausgeht von dem, was wir alle noch kennen, verstehen, und fühlen können. Ich betrachte die gebaute Welt genau und versuche mit meinen Bauten aufzunehmen, was mir wertvoll erscheint, zu kor­ rigieren, was stört, und neu zu schaffen, was uns fehlt.“ Zumthor, Architektur Denken, 24. 137  Ein Bauwerk „erzeugt einen Ort. Dort, wo es steht, gibt es ein Hinten und Vorne, gibt es ein Links und ein Rechts, gibt es Nähe und Entfernung, ein Drinnen und Draussen, gibt es Formen der Fokussierung, der Verdichtung oder der Bearbeitung der Landschaft. Es entsteht Umgebung.“ Zumthor, Architektur denken, 75. 138 Zumthor, Architektur Denken, 22. 139 Zumthor, Architektur Denken, 22. 135 Zumthor,

2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor

113

und Korb betont Zumthor an dieser Stelle auch die konstitutive Funktion von Leere. „Sie [die Gebäude] umschließen diese geheimnisvolle Leere, die wir Raum nennen, auf eine besondere Weise und bringen sie zum Schwingen.“140 Die Leere ist aber als Rezeptivität des Raumes nicht nur Voraussetzung für das Bauen, son­ dern kann in der Architektur sowohl in der Anordnung des Innenraums als auch im Verhältnis eines Gebäudes zu seiner Umgebung selbst zur Erscheinung kommen. Sie wird nie in Reinform erfahren, sondern stets in Relation zu der be­ grenzenden, materiellen Struktur eines Bauwerks. Zumthor richtet daher beson­ dere Aufmerksamkeit auf „Schwellen, Übergänge und Grenzen.“141 An diesen Punkten lassen sich die Wahrnehmungsqualitäten des architektonischen Raums entscheidend modifizieren. So betonen durchbrochene Außenbegrenzungen den umschließenden Charakter eines Gebäudes. Erscheint der Innenraum als durch­ lässig, kann er in seiner Leere wahrgenommen werden. Wichtig ist Zumthor aber auch die Reduktion von Sinnesreizen. Der Schritt über eine Schwelle kann etwa mit dem Eintritt in Dunkelheit verbunden sein. Das Schließen einer Tür schützt vor Lärm: „Ich finde es ist wunderschön, ein Gebäude zu bauen und dieses Ge­ bäude aus der Stille heraus zu denken. Das heißt, es ruhig zu machen, das braucht heute ziemlich viel, weil unsere Welt so lärmig ist.“142 Ein Bauwerk kann eine Umgebung schaffen, welche den Menschen zur Ruhe kommen lässt. Die Architekturerfahrung, um die es Zumthor in seiner Selbstreflexion geht, hat durchaus meditative Züge: „Wenn wir Gegenstände oder Bauwerke betrach­ ten, die in sich selbst zu ruhen scheinen, wird unsere Wahrnehmung auf eine besondere Weise ruhig und stumpf. Das Objekt, das wir wahrnehmen, drängt uns keine Aussage auf, es ist einfach da. Unsere Wahrnehmung wird still, un­ voreingenommen und nicht besitzergreifend. Sie liegt jenseits der Zeichen und Symbole. Sie ist offen und leer. Es ist, als ob man etwas sähe, das sich nicht ins Zentrum des Bewusstseins rücken lässt. […] Das Objekt sehen, heißt jetzt auch, die Welt in ihrer Ganzheit erahnen, denn es ist nichts da, was nicht zu verstehen wäre.“143 Die Vorstellung, dass im Objekt die Welt als Ganze aufscheint, verweist auf Heideggers Konzeption des Gevierts und seiner Versammlung durch das Ding.144 Während Heidegger in Frage stellt, ob es in der Moderne noch Dinge gibt, die ein solches Potential besitzen,145 ist Zumthor, wohl nicht zuletzt auf­ grund seiner praktischen Tätigkeit als Architekt, in dieser Hinsicht weitaus zu­ versichtlicher: „Trotzdem ich bin überzeugt, dass, wenn auch gefährdet, noch

140 Zumthor,

Architektur Denken, 22. Architektur Denken, 86. 142 Zumthor, Atmosphären, 31. 143 Zumthor, Architektur Denken, 17. 144  Vgl. Kap. 2.2.2. 145  „Wann aber und wie sind Dinge als Dinge? So fragen wir inmitten der Herrschaft des Abstandlosen.“ Heidegger, Das Ding, GA 7, 183. 141 Zumthor,

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

wahre Dinge existieren. Es gibt Erde und Wasser, das Licht der Sonne, Land­ schaft und Vegetation; und es gibt vom Menschen geschaffene Gegenstände.“146 Zu den Charakteristika von Zumthors Arbeit gehört auch die Schaffung be­ sonderer Lichtverhältnisse im Inneren von Bauten. Er versteht diese Aufgabe nicht nur als technische Herausforderung, sondern auch als eine künstlerische Vermittlung von Kunstlicht und Tageslicht. Die Qualitäten, die das Licht in der Landschaft gewinnen kann, dienen ihm als Inspiration für die Einrichtung künstlicher Beleuchtung.147 Auch in diesem Zusammenhang finden sich in sei­ ner Arbeit und seiner Selbstreflexion Motive wieder, die in Heideggers Konzep­ tion des Gevierts bereits philosophisch entwickelt worden sind. So kontrastiert Zumthor die Helle des Himmels mit der Dunkelheit der Erde: „Das Licht der Sonne, des Tages, das die Oberfläche der Erde aus dem Kosmos erreicht, ist groß und stark und gerichtet. Es ist ein Licht. Die Dunkelheit wohnt in der Erde.“148 In der Logik dieses Bildes geht es, wenn in einem Bauwerk die Erde zur Präsenz kommen soll, also darum, die Dunkelheit des Erdhaften ins Licht zu rücken. Äs­ thetisch lässt sich das beispielsweise so verwirklichen, dass die Oberflächen der verwendeten Materialien im Licht nicht blenden, sondern ein Spiel von Lichtre­ flexen entsteht, welches die Helligkeit des Innenraums in einer mittleren Inten­ sitätsstufe belässt. Eine andere Herausforderung besteht für Architekten darin, den natürlichen Tag-Nachtrhythmus in die Gestaltung von Bauwerken einzubeziehen. Darauf, dass nicht nur ein Mangel an Licht, sondern auch der Mangel an Dunkelheit als störend empfunden werden kann, wurde bereits in Rekurs auf Heideggers Heraklit-Interpretation hingewiesen. Tatsächlich lässt auch Zumthor in diesem Zusammenhang Heraklit anklingen und artikuliert eine ähnliche Sensibilität wie Heidegger: „Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang richten wir uns ein mit den Lichtern, die wir selber herstellen und anzünden. Mit dem Ta­ geslicht sind diese Lichter nicht zu vergleichen, dazu sind sie zu schwach und zu kurzatmig mit ihren flackernden Intensitäten und rasch ausgreifenden Schatten. Aber wenn ich diese Lichter, die wir uns selber machen, nicht als Anstrengung zur Aufhebung der Nacht begreife, sondern sie als Lichter in der Nacht, als Ak­ zentuierung der Nacht, als intime, vom Menschen geschaffene Orte des Lichtes in der Dunkelheit zu denken versuche, dann werden sie schön, dann können sie ihren eigenen Zauber entfalten.“149 Kunstlicht und Tageslicht stehen also in einem subtilen Wechselverhältnis. Das Tageslicht hat für Zumthor dabei einen gewissen Vorrang: „Bei diesem T hema des Tageslichtes und des Kunstlichtes, ich muß es gestehen, daß das Tageslicht, das Licht auf den Dingen mich manchmal 146 Zumthor, 147 

Architektur Denken, 17. Vgl. den Abschnitt „Das Licht in der Landschaft“ in Zumthor, Architektur Denken,

89–93. 148 Zumthor, Architektur Denken, 91. 149 Zumthor, Architektur Denken, 93.

2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor

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so berührt, daß ich darin manchmal fast etwas Spirituelles zu spüren glaube.“150 Diese Aussage bleibt vage. Doch Zumthors Andeutung fällt aber auch nicht im Rahmen einer wissenschaftlichen Abhandlung fällt, sondern in einem freien, essayistischen Text. Wenn es darum geht, das Selbstverständnis eines Künstlers und implizite theoretische Grundannahmen nachzuvollziehen, dann sind ge­ rade derartige persönliche, ungeschützte Aussagen von besonderem Wert. Das Tageslicht verweist für Zumthor auf etwas Transzendentes: „…dieses Licht, das kommt nicht von dieser Welt! Ich verstehe dieses Licht nicht. Ich habe da das Gefühl, es gibt etwas Größeres, das ich nicht verstehe. Ich bin sehr froh, ich bin unendlich dankbar, daß es das gibt.“151 An dieser Stelle von Atmosphären wird die im Text verwendete Lichtmetaphorik durch eine Abbildung einer Modellstu­ die von Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle flankiert. 2.2.5. Die Bruder-Klaus-Feldkapelle (Wachendorf-Mechernich) Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle steht in Wachendorf, einem Dorf, das heute zur ehemaligen Bergbaustadt Mechernich gehört und am Nordostrand der Eifel liegt. Von Köln aus ist der Ort in einer knappen Stunde mit öffentlichen Ver­ kehrsmitteln zu erreichen. Die Zugstrecke führt von der flachen Rheinebene in die sanft geschwungene Landschaft des Vorgebirges. Vom Bahnhof geht es wei­ ter zu Fuß, vorbei an Wohngebieten, Feldern und Waldstücken. Zur Kapelle ge­ langt der Besucher erst, wenn er die Straße verlässt und einem ausgeschilderten, schmalen Kiesweg in die Felder folgt. Der Bau steht wie ein erratischer Block auf offenem Feld. Er bildet aus der Ferne betrachtet eine Vertikale in der Land­ schaft, lenkt den Blick nach oben und macht so auf die Witterungs- und Licht­ verhältnisse aufmerksam. Zugleich verlängert sich mit dem Bau die natürliche Horizontlinie zwischen Erde und Himmel. Dass es sich hier um eine Kapelle handelt, ist nicht unmittelbar zu erkennen. Die Außenwände scheinen aus der Ferne weder Fenster noch andere Öffnungen aufzuweisen. Erst wenn man sich nähert, wird eine dreieckige Eingangstür aus Aluminium sichtbar, über der ein schlichtes Eisenkreuz hängt. Die Kapelle selbst hat einen fünfeckigen Grundriss und ist aus einem hellen rötlich-ockerfarbenen Beton erbaut. Aus demselben Material ist der flache Sockel, der auf der Süd- und Westseite des Baus einen organischen Übergang von den hochragenden Wänden zum Feld bildet. Der Sockel lädt dazu ein, sich hinzusetzten und die Umgebung zu betrachten. Der avantgardistische Bau verändert die Wahrnehmung der ländlichen Umgebung. Er bildet nicht nur aus der Ferne betrachtet einen exponierten Orientierungs­ punkt, sondern wirkt sich auf das gesamte Sehverhalten des Besuchers aus. Die Tiefenschärfe des Blicks verringert sich, Einzelheiten rücken in den Fokus. Dazu 150 Zumthor, 151 

Atmosphären, 61. Zumthor, Atmosphären, 61–63.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

zählen die Grenzen zwischen den Feldern und auch ihre Farben, die mit den Jahreszeiten wechseln: das dunkle Braun des gepflügten Ackers, das Grün der Weide, das Gelb des Rapsblüte. Ungewöhnlich ist auch die Entstehungsgeschichte der Kapelle. Während Pe­ ter Zumthor mit dem Bau des Kunstmuseums Kolumba für die Erzdiözese Köln beschäftigt war, traten die Landwirte Trudel und Hermann-Josef Scheidtwei­ ler an den Architekten heran. Das Ehepaar hatte den Wunsch, auf dem eige­ nen Land eine Kapelle zu errichten „aus Dankbarkeit für ein gutes und erfülltes Leben“.152 Tatsächlich kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem Architekten. Zumthor machte Pläne, die darauf ausgelegt waren, dass die Bauherrn und deren Freunde und Helfer selbst Hand anlegten. Dabei wurden zudem regionale Mate­ rialien und traditionelle Handwerkstechniken eingesetzt. Die Scheidtweilers be­ richten: „112 Fichtenstämme formten den Innenraum der Kapelle. Die Stämme wurden im Stadtwald von Bad Münstereifel gefällt und über einer Bodenplatte aus Beton zu einer zeltartigen Konstruktion aufgerichtet. Um dieses Hochzelt herum entstand der Kapellenkörper aus gestampften Beton in Lagen von 50 cm. 24 Tagwerke waren notwendig, um das Bauwerk Schicht um Schicht bis auf 12 m zu erhöhen. Der Beton, vor Ort gemischt, besteht aus Flusskies, rötlich gelbem Sand aus der Umgebung und weißem Zement. […] Im Herbst 2006 wurde im In­ neren des von Beton umgebenen Holzzeltes für 3 Wochen ein Mottfeuer in der Art eines Köhlerfeuers unterhalten, das die Baumstämme austrocknen ließ und vom Beton ablöste, sodass sie leicht ausgebaut werden konnten. Der Fußboden besteht aus Zinnblei, das an Ort und Stelle in einem Tiegel erhitzt und mit dem Schöpflöffel von Hand auf dem Boden verteilt wurde.“153 Durch die Beteiligung an den einzelnen Arbeitsschritten erhöhte sich die Identifikation der Bauherren und ihrer Helfer mit dem Projekt.154 Bereits an diesem Bericht wird deutlich, dass für die Errichtung und die Wir­ kung der Kapelle die Materialkomposition entscheidend ist. Außen trägt der helle und grobkörnige Beton der Wände zu dem beschriebenen Wechselverhält­ 152  Vgl. Markus Bönsch, Zum Himmel offen. Die Bruder-Klaus-Kapelle in Wachendorf, Köln 2009, 31–32. Alle im Text erwähnten Einzelheiten zur Baugeschichte und den ver­ wendeten Materialen, die nicht mit Literaturverweisen belegt werden, lassen sich in dieser Publikation nachlesen. 153  Markus Bönsch, Zum Himmel offen, 31–32. 154  Vgl. dazu Lara Fritzsche, „Turm in der Eifel“, zeitonline, 19.04.2007: „ ‚Jeder Schaf­ fenstag endete mit einem gemeinsamen Essen mit all diesen lieben Menschen, die uns ge­ holfen haben‘, schwärmt Trudel Scheidtweiler. Eine arbeitsreiche Zeit, die ihr jene innere Ruhe beschert hat, die der Städter im Yoga sucht, beim Meditieren, auf dem Jakobsweg oder im Kloster. Die meisten Leute beneideten sie nicht um die Zusammenarbeit mit einem be­ rühmten Architekten, sondern um das Erlebnis, mit den eigenen Händen etwas erschaffen zu haben, erzählt sie. Das Ehepaar glaubt, einen Nerv der Zeit getroffen zu haben. Alle su­ chen nach Spiritualität, Sinn und Erfüllung. Sie haben all das gefunden: dort oben auf ihrer Baustelle, zwischen Matsch und Schweiß und Butterbroten.“ (http://www.zeit.de/2007/17/ Turm_in_der_Eifel/seite-3).

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nis mit der Landschaft bei. Im Inneren erhält derselbe Beton eine andere Gestalt, es kommen daher auch andere Aspekte seines Potentials zur Geltung. Tritt man in die Kapelle ein, ist man zunächst von Dunkelheit umgeben, und es ist still. Hinter einer Biegung im Eingangsbereich gelangt man in einen Gebetsraum, in dem aus einer Öffnung in der Decke Licht einfällt. Beim Ausbrennen der Zelt­ konstruktion hat sie als ein Rauchabzug gedient. Die Öffnung hat die Form ei­ nes Tropfens und entspricht so in etwa dem Grundriss des Innenraums, der sich nach oben konisch verjüngt. Der Innenraum ist also weder überdacht noch ver­ schließbar und bietet keinen Schutz gegen Regen oder Schnee. An Sommertagen trägt das zu einem kühlen Raumklima bei. Die Öffnung ist auf diese Weise mit einem Opaion von antiken Tempelbauten vergleichbar. Im Unterschied zu einem klassischen Kuppelbau wird eindringendes Wasser in der Bruder-Klaus-Kapelle aber nicht gleichmäßig abgeleitet. Es kann im Inneren die Betonwände hinun­ terfließen und auf dem Boden eine Pfütze bilden. Die Materialien im Innenraum stehen unter dem Einfluss der Witterung. Am Beton zeigen sich neben Ruß­ spuren, welche die Entstehung des Baus dokumentieren, auch grüne Flechten. Die Innenwände haben überhaupt eine außergewöhnliche Form, ihre schma­ len Rillen entsprechen dem Negativbild der abgebrannten Fichtenholzstämme. Sie verengen sich nach oben und verleihen dem Raum eine aufwärtsstrebende Dynamik. Der Boden aus gegossenem Zinnblei fällt wiederum durch seine un­ regelmäßige Oberflächenstruktur auf. Der Herstellungsprozess bleibt in den er­ starrten Fließbewegungen des Materials auf Dauer sichtbar. Der matte Glanz dieses Materials wird durch die Lichtreflexe der Wasserpfütze verstärkt. Zu den besonderen Lichtverhältnissen im Inneren tragen schließlich hunderte von Glas­ pfropfen bei, die über die gesamten Innenwände verteilt sind. Sie verschließen die Bundöffnungen, mit denen die Schalung der Betonkonstruktion gespannt worden war, sie sammeln und dämpfen zugleich das von außen eindringende Tageslicht. Vor dem geschwärzten Grund des Betons wirken diese Pfropfen wie Sterne im Nachthimmel. Die Innenausstattung ist minimalistisch. An der Seite eine schmale Bank aus Lindenholz, zur Rechten ein Gästebuch, zur Linken ein mit Sand gefüllter Be­ hälter, in dem Votivkerzen brennen. Daneben steht auf einem stelenartigen So­ ckel eine bronzene Halbfigur, die den Patron der Kapelle darstellt. Sie enthält eine Reliquie und bildet somit den eigentlichen Schrein. Der Gebetsraum besitzt keinen Altar. An der gegenüberliegenden Wand ist ein sechsspeichiges Rad aus Messing angebracht, eine Form, die der heilige Nikolaus von Flüe als Meditati­ onszeichen verwendet hat. Es symbolisiert die Natur Gottes und die Ordnung der Schöpfung.155 Diese Elemente gehören zur Tradition katholischer Frömmig­ keit, drängen sich aber nicht als solche auf. Der Charakter des Ortes ist nicht 155  Vgl. zur theologischen Bedeutung das Rades Charles Journet, Der heilige Nikolaus von Flüe, Freiburg im Üechtland 1980, 37–50.

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2. Zwei Kapitel der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie

von einer konfessionellen Bindung geprägt. Die Stille, die besonderen Lichtver­ hältnisse des Raumes und die Präsenz der Materialien können auf den Besucher unabhängig von seinem Glaubensbekenntnis so wirken, dass er zu Ruhe kom­ men, nachdenken, meditieren oder beten kann.156 Dazu trägt auch die architek­ tonische Inszenierung von Leere bei. So verweisen etwa die Rußspuren an den Wänden und die Form des Betons auf die verkohlten Baumstämme und damit auf etwas, das es nicht mehr gibt. Das Fehlende wird hier präsent. Die Öffnung in der Decke wiederum unterbricht die Begrenzung des Innenraums und gibt den Blick auf den Himmel frei. Die Kapelle öffnet sich der Weite des Raumes, welche das Errichten von Bauten überhaupt ermöglicht. Der sakrale Charakter dieses Ortes kann auch pluralistisch gefasst werden. Mit Heidegger ließe sich hier von einer „Freigabe“ sprechen. Die Funktion der Kapelle wäre dann ein „Räumen“, eine „Freigabe der Orte, an denen ein Gott erscheint, der Orte, aus denen die Götter entflohen sind, Orte, an denen das Erscheinen des Göttlichen lange zögert“.157 Um was für einen Ort es sich bei der Bruder-Klaus-Kapelle handelt, hängt dann letztlich von den jeweiligen Be­ suchern ab. Nach Heidegger ist die Architektur allerdings allgemein auf die Er­ fahrung von Transzendenz angewiesen. Selbst dann, wenn ein Bau keine reli­ giöse Bestimmung besitzt, stellt er eine Bezugnahme auf den Bereich des Gött­ lichen dar. Dieser Gedanke liegt in der Konsequenz der Konzeption des Gevierts. Heidegger geht aber noch einen Schritt weiter, indem er eine architekturge­ schichtliche Ursprungsthese andeutet: „Profane Räume sind stets die Privation oft weit zurückliegender sakraler Räume.“158 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum er in Bauen Wohnen Denken neben Brücke und Schwarzwald­ hof nicht auch ein Beispiel aus der Sakralarchitektur heranzieht. Zwar ermög­ licht die Interpretation profaner Bauten und Orte, den im Geviert angelegten Transzendenzbezug als grundsätzliches Merkmal des Wohnens auszuweisen. Die architektonische Bezugnahme auf diese Dimension lässt sich jedoch an ei­ nem Beispiel wie Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle wesentlich eindringlicher zei­ gen. Das hermeneutische Potential von Heideggers Bestimmungen ist bei der In­ 156  Der Sinn dieses Raums, ist dadurch bedingt, wie der jeweilige Besucher ihn wahr­ nimmt. Gerrit Confurius entwickelt in seiner Werkanalyse der Bruder-Klaus-Kapelle eine originelle Perspektive für diesen Zusammenhang. Die Korrelation von sakralem Charakter und individueller Nutzung beschreibt er als eine Art Experiment. Die Bezugnahme Zum­ thors auf Heideggers Kunstphilosophie klammert Confurius dabei bewusst aus. Stattdessen betont er die avantgardistische Dimension des Baus und interpretiert die Spuren der einge­ setzten Bautechniken als alchimistische Symbolik: „Der sakrale Raum ist […] ein begehba­ rer Destillationskolben, eine Art ontologischer Wärmetauscher, den wir mit unserem Ein­ treten in Betrieb nehmen.“ Gerrit Confurius, „Architektur der Architektur. Bruder Klaus Kapelle in Wachendorf von Peter Zumthor“, Werk, Bauen + Wohnen (Schweizer Ausgabe) 95 (2008), 17–22, hier 22. 157 Heidegger, Die Kunst und der Raum, GA 13, 206. 158 Heidegger, Die Kunst und der Raum, GA 13, 207.

2.2. Erde, Geviert und Bauten bei Heidegger und Zumthor

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terpretation von Sakralarchitektur offenkundig größer als bei der Interpretation hauptsächlich funktional bestimmter Bauwerke. An der Außenwand der Bruder-Klaus-Kapelle befindet sich eine Plakette, die näher erläutert, um was für einen Bau es sich handelt: „Kapelle / gebaut zum Lobe / Gottes und der Erde /“. Des Weiteren wird auf den Widmungsträger und auf Jahr und Monat der Konsekration verwiesen. Aber was heißt hier eigent­ lich ‚Erde‘? Es wäre zu einfach, Heideggers Erläuterungen dieses Begriffs direkt heranzuziehen und unvermittelt auf die Kapelle anzuwenden. Um zu erfahren, was die Bauherren genau damit meinen, müsste man sie fragen. Bei dem Ar­ chitekten, der die Pläne für die Kapelle entworfen hat, geben seine Texte Auf­ schluss darüber. Zumthors Auseinandersetzung damit, wie durch Bauten kon­ krete Orte und Umgebungen geschaffen werden und besondere Materialien und Lichtverhältnisse zur Geltung kommen, sind von Heideggers Bestimmungen der Erde und des Gevierts inspiriert. Die Selbstreflexion des Architekten wird seiner praktischen Arbeit weitgehend gerecht. Sicher sind hier auch andere Bezüge von Bedeutung, und doch ist die konkrete Gestalt des Schöpfungslobs, das die Bru­ der-Klaus-Kapelle darstellt, durch die Lektüre von Heideggers Kunstphilosophie vermittelt. Die Kapelle führt die Menschen, die an ihrer Errichtung beteiligt wa­ ren, zusammen. Die gemeinsame Arbeit stellt hier einen Bezug zum Bereich des Göttlichen her und das letztlich auch unabhängig davon, wie dieser interpretiert wird. Entscheidend ist aber vor allem etwas, das von Heidegger in der Regel nicht als solches benannt wird, nämlich die Ästhetik des Baus. Die vertikale Ausrich­ tung, die ortsspezifische Materialkomposition und die besonderen Lichtverhält­ nisse im Innenraum stellen eine architektonische Verbindung zwischen Himmel und Erde her. In diesem Sinne „versammelt“ die Kapelle das Geviert. Der Bau bedeutet allerdings mehr als das, was mit Heidegger „Versammlung des Gevierts“ genannt werden kann. Denn die Bruder-Klaus-Kapelle lässt sich selbstverständlich auch aus anderen theoretischen Perspektiven interpretieren. Die Interpretation von Bauwerken sollte nie so weit gehen, zeitgenössische Ar­ chitektur gänzlich für einen philosophischen Standpunkt zu vereinnahmen. Der Sinn eines Kunstwerks geht allgemein weder in philosophischen Interpretatio­ nen noch in historischen Analysen auf. Ebenso wenig ist ein Bauwerk auf Inter­ pretationen und wissenschaftliche Einordnungen angewiesen. Kunstphilosophi­ sche Bestimmungen müssen hingegen sehr wohl an Beispielen veranschaulicht werden, um ihre Gültigkeit auszuweisen. Der hermeneutische Wert von Begrif­ fen wie „Erde“ und „Geviert“ zeigt sich tatsächlich durch ihre Aneignung in der Architektur. Zumthors theoretische und praktische Rezeption von Heideggers Kunstphilosophie bezeugt auf diese Weise nicht zuletzt deren Relevanz für die philosophische Ästhetik.

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3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik 3.1. Die Absenz der Musik in Heideggers Kunstphilosophie Die Musik bildet eine Leerstelle in Heideggers Kunstphilosophie. Heidegger ent­ wickelt weder im Kunstwerkaufsatz noch andernorts einen eigenen Ansatz, um die Musik als eine eigenständige Kunstform zu begreifen. Im Kunstwerkaufsatz wird zwar erwähnt, dass die Musik sich im Medium des Tones verwirklicht und musikalische Werke die Erde ‚her-stellen‘, indem sie Töne zum ‚klingen‘ brin­ gen.1 Näher ausgeführt wird dieser Gedanke von Heidegger aber nicht. Diese Leerstelle gibt Anlass zur Kritik.2 Denn wer sich ausdrücklich zum Ziel setzt, das Wesen der Kunst zu bestimmen, wie das bei Heidegger im Kunstwerkaufsatz der Fall ist,3 sollte auch in der Lage sein, die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen zu berücksichtigen. Im Rahmen einer entsprechenden Kritik wäre es denkbar, nach biografischen Texten zu suchen, die eine begrenzte musikalische Rezepti­ vität Heideggers dokumentieren.4 Ein rein biografisch vorgehender Erklärungs­ versuch ließe für eine anwendungsorientierte Ästhetik jedoch kaum einen Er­ kenntnisgewinn erwarten. Auch die beiläufigen Äußerungen Heideggers dazu, welche Komponisten und musikalische Werke er schätzte, sind in systematischer Hinsicht nicht ergiebig.5 Lohnenswerter erscheint die Klärung der sachlichen Motive, die dazu geführt haben, dass die Musik im Unterschied zu bildender 1 

Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 4, 10–11 und 31–32. Heidegger nimmt Nietzsches Wagner-Kritik in einer Weise auf, die weder eine eigen­ ständige Auseinandersetzung mit Wagner erkennen lässt noch eine systematische Perspek­ tive für die Hermeneutik von Musik eröffnet. Vgl. Nikola Mirković, „Schönheit, Rausch und Schein. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsches Ästhetik“, in: Espinet/Keiling (Hrsg.), Heideggers Ursprungs des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, 200–209, ins­ besondere 202–203. 3  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 2. 4  So wird etwa für zur Erklärung der Randstellung der Musik in Kants System der Künste (Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, B202–230) häufig auf eine Anekdote verwiesen. In einem Brief an den Königberger Bürgermeister, T heodor Gottfried Hippel, vom 9. Juli 1784 beschwert sich Kant darüber, dass die Insassen eines in seiner Nachbarschaft gelege­ nen Gefängnisses durch den Abgesang von Chorälen unmäßigen Lärm produzierten. Vgl. Uwe Schultz, Kant, Rowohlt, Reinbek 2003, 53. 5  Für einen Überblick über Heideggers Bemerkungen zu Mozart, Wagner, Bach, Orff, Stravinsky und anderen Komponisten Werk vgl. Augusto Mazzoni, Il dono delle muse. Heidegger e la musica, Genua 2009. 2 

122 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Kunst und vor allem zur Dichtung für Heidegger von nachrangigem Interesse geblieben ist. In dieser Arbeit wird weder der erste noch der zweite Weg beschritten. Zu­ mindest ein konzeptioneller Grund dafür, dass Heidegger die Musik in seiner Kunstphilosophie weitgehend vernachlässigt, soll jedoch nicht unerwähnt blei­ ben: Heideggers sprachphilosophische Orientierung am einzelnen Wort steht einer Bestimmung der Musik, die den rhythmischen Verlaufscharakter dieser Kunstform ernst nimmt, entgegen.6 Die Nennkraft der Dichtung, die sich im einzelnen Wort konzentriert und von Heidegger für das dichterische Wesen von Kunst überhaupt reklamiert wird,7 lässt sich an musikalischen Werken nicht ohne weiteres aufzeigen. Musik operiert im Unterschied zur Literatur nicht mit semantischen Gehalten. Ein Ton verweist auch nicht auf einen Gegenstand. Zwar kann auch die bildende Kunst jeden konventionellen Gegenstandsbezug negie­ ren. Wenn das geschieht, wird in der bildenden Kunst aber etwas anderes sicht­ bar. Gerade das Unterbrechen von habituellen Verweisungszusammenhängen ermöglicht es, Dinge zu zeigen, die sich der Wahrnehmung normalerweise ent­ ziehen. In diesem Sinne besitzen auch verschiedene Spielarten der Abstraktion in der bildenden Kunst ein deiktisches Potential, das für die theoretische Philo­ sophie von Interesse ist.8 Zwar wäre es insbesondere im Bereich der Neuen Musik durchaus möglich, Momente herauszuarbeiten, die eine vergleichbare Funktion erfüllen. Durch die Reduktion musikalischer Strukturen auf elementare akusti­ sche Phänomene können die Zuhörer tatsächlich etwas über die Hörbarkeit der Welt erfahren. Aber schon allein, weil sich die meisten Gegenstände in unserer Umwelt primär über die visuelle Wahrnehmung erschließen, erscheint das deik­ tische Potential von Musik geringer als das der bildenden Kunst. Musik wird in der Regel nicht so erfahren, als ob sie etwas Bestimmtes zeigt oder auf einen kon­ kreten Sachverhalt verweist.9 6  Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Michael Eldred, auch wenn er die Unterord­ nung der Musik unter den λόγος weniger problematisiert als philosophiegeschichtlich per­ spektiviert. Vgl. Michael Eldred, „Sprache (und Musik) nach Heidegger“, in: ders., Twisting Heidegger, Cuxhaven 1993, 153–178, insbesondere 159–167. 7 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 62. 8  So können beispielsweise monochrome Bilder nichts anderes als eine bestimmte Farbe zur Erscheinung bringen. Vgl. Figal, Erscheinungsdinge, 110. 9  Einen faszinierenden musikphilosophischen Ansatz, die Musik trotzdem von der Dei­ xis und insbesondere dem Akt des Benennens her zu verstehen, stellt das Fragment geblie­ bene Spätwerk von T hrasyboulos Georgiades dar. Die Pointe von Georgiades’ Überlegun­ gen zum Verhältnis von Sprache und Musik besteht darin, dass er das musikalische Klang­ geschehen des „Tönens“ als einen Akt begreift, der durch die Intention des Benennens und dessen deiktische Kraft gekennzeichnet ist, ohne sich jedoch auf einen konkreten Gegen­ stand zu beziehen. Vgl. T hrasyboulos Georgiades, Nennen und Erklingen, hrsg. von Irmgard Beugen, Göttingen 1985, 133–160 sowie das Geleitwort von Hans-Georg Gadamer, in: Ge­ orgiades, Nennen und Erklingen, 5–11. Georgiades’ Perspektive erscheint hilfreich, um Pa­ rallelen von Literatur und Musik zu beschreiben, beispielsweise in den Bereichen von Ago­

3.1. Die Absenz der Musik in Heideggers Kunstphilosophie

123

Zudem lassen sich musikalische Werke in ihrer Materialität und in ihrem Ortscharakter, die für Heideggers Werkbegriff zentral sind,10 nur schwer fest­ legen. Wo und vor allem worin findet Musik überhaupt statt? Vollzieht sie sich im Geist des Komponisten, in der lesbaren Partitur, am Aufführungsort oder im Bewusstsein des Zuhörers? Existiert sie seit der Moderne vielleicht sogar primär auf Speichermedien? Musik manifestiert sich tatsächlich an all diesen Orten. Ein musikalisches Kunstwerk kann, im Unterschied beispielsweise zur Archi­ tektur, einen ortsspezifischen Charakter aber nur dann besitzen, wenn dieser in einer konkreten Situation aktualisiert wird. Wenn beispielsweise ein Oratorium eine bestimmte räumliche Aufstellung von Sängern und Instrumentalisten er­ fordert, dann sollte die Aufführung in einem dafür besonders geeigneten Raum stattfinden. Ein solches Werk wäre also zumindest insofern als ‚ortsspezifisch‘ zu bezeichnen, als sich der Ort seiner Aufführung nicht beliebig wählen lässt, sondern bestimmte räumliche Bedingungen erfüllen muss.11 Diese Eigenschaft kann zwar im Notentext angezeigt werden, entfaltet ihren Sinn aber erst in der Aufführung. Die Musik ist nur dann als Musik präsent, wenn sie erklingt. Wenn das Klanggeschehen als ontologisch primäre Gegebenheitsweise der Musik gelten kann, dann lässt sich ihr Werkcharakter nicht im Rekurs auf Ding­ haftigkeit und materielle Beständigkeit klären. Die Einheit des musikalischen Kunstwerks muss sich im Medium des Tones erfahren lassen. Eine Skulptur ist auch dann da, wenn man sie nicht betrachtet. Es gehört zu ihrem Kunstcharak­ ter, dass sie an einem bestimmten Ort aufgerichtet wird und die Betrachter sich ihr zuwenden und um sie herum gehen können. Musik hingegen bedarf des ak­ tuellen Vollzugs, nicht nur um rezipiert zu werden, sondern um überhaupt da zu sein. Die Bestimmung, die Heidegger dem Werkbegriff im Kunstwerkauf­ satz gibt, berücksichtigt diese Differenz nicht. Weil Musik in besonderem Maße auf konkrete Realisierung angewiesen ist, erscheint sie nicht nur denkbar unge­ eignet, um aus der Kunstphilosophie Heideggers heraus verstanden zu werden, sondern grundsätzlich als ein besonders herausfordernder Gegenstand für die philosophische Ästhetik. Sie stellt in der Geschichte der Philosophie, mit La­ coue-Labarthe gesprochen, ein „beispielhaft widerspenstiges Objekt“ dar.12 gik und Artikulation oder von Phrasierung und Rhetorik. Sein Ansatz ist jedoch so stark von der philosophischen Tradition des Logos-Denkens geprägt, dass sich die Frage stellt, ob die Sprachähnlichkeit der Musik in Nennen und Erklingen nicht überbewertet wird. Da in der vorliegenden Arbeit mit der Stimmungstheorie ein anderer systematischer Ansatzpunkt gewählt wird, lässt sich diese Problematik an dieser Stelle nicht weiterverfolgen. 10  Vgl. Kap. 1.3.2. 11  Eine andere Möglichkeit, durch die Musik einen ortsspezifischen Charakter gewin­ nen kann, ist die Form der musikalischen Installation. Zu einer von Heidegger inspirierten Bestimmung der Ortsspezifik von Installationen überhaupt vgl. Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main 2003, 235–289. 12  Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, „Musica Ficta (Figuren Wagners)“, in: ders., Dichtung

124 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Trotz dieser schwierigen Ausgangslage soll in diesem Kapitel gezeigt wer­ den, dass sich mit Heidegger philosophisch anspruchsvolle Aussagen über die Musik als Kunstform entwickeln lassen. Den Ausgangspunkt bildet hierfür al­ lerdings nicht der Werkbegriff des Kunstwerkaufsatzes, sondern Heideggers Stimmungstheorie. 13 Heidegger hat das Phänomen der Stimmung seit Mitte der 1920er Jahre bis in die seinsgeschichtlichen Abhandlungen der 1930er und 1940er Jahre immer wieder untersucht und seine Bedeutung vor allem in drei Bereichen hervorgehoben: dem alltäglichen Dasein, dem philosophischen Den­ ken und in Kunst und Dichtung. Zunächst dienen ihm die Begriffe „Befindlich­ keit“ und „Gestimmtheit“ zur Analyse eines vorprädikativen, affektiven Welt­ bezugs des Daseins.14 In seiner Interpretation Hölderlins arbeitet er dann die „Grundstimmung“ als ein wesentliches Moment von Dichtung heraus und stellt sie so in den Zusammenhang seiner Kunstphilosophie.15 Schließlich beschreibt Heidegger auch differenzierte „Gefüge“ von „Grund“ -und „Leitstimmungen“, um die Philosophie, ihre Geschichtlichkeit und das Moment der Anfänglichkeit des Denkens zu charakterisieren.16 Wenn im Folgenden von Heideggers Stim­ mungstheorie die Rede ist, dann ist damit der Gesamtzusammenhang dieser Bestimmungen gemeint.17 Trotz der eminenten Rolle der Stimmungsanalysen und Erfahrung – Die Fiktion des Politischen – Musica Ficta, übers. von T homas Schestag, Basel/Weil am Rhein 2009, 247–407, hier 347. 13  Ein Musikverständnis, das von Heideggers Stimmungsbegriff ausgeht, wurde bereits von Joseph J. Kockelman angedacht: „[M]usic brings me in a definite mood which offers me a possible world or a new perspective on the world in which we live.“ Vgl. Joseph J. Kockel­ man, On the Meaning of Music and its Place in Our World, in: Walter Biemel/Friedrich-Wil­ helm von Herrmann (Hrsg.), Kunst und Technik, Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, Frankfurt am Main 1989, 351–376, hier 367. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Günther Pöltner in seiner Interpretation von Heideggers Bemerkungen zu Mozart in Der Satz vom Grund: „Die Musik ist in einem ausgezeichneten Sinn die Kunst der Ge-Stimmtheit des Menschen.“ Günther Pöltner, „Mozart und Heidegger. Die Musik und der Ursprung des Kunstwerkes“, Heidegger-Studien 8 (1992), 123–144, hier 142. Weder Kockelman noch Pöltner klären jedoch näher, wie sich Stimmungen oder Gestimmtheit in der Musik erschließen. 14  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 178–186. 15  Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 78–112. 16  Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 14, 169, 237, 396. 17  Heideggers Stimmungstheorie ist bereits gut erforscht. Hervorzuheben sind aus der Forschungsliteratur insbesondere drei eingehende Untersuchungen. Die jüngste Mono­ grafie zu dem T hema von Boris Ferreira, Stimmung bei Heidegger, Dordrecht 2002, be­ schränkt sich auf die Rolle der Gestimmtheit in Heideggers Existenzialanalyse und bietet eine gründliche Untersuchung der philosophischen Funktion von Langeweile. Byung-Chul Han erarbeitet in Heideggers Herz eine stimmungstheoretische Charakterisierung von Hei­ deggers Denken, bei der die Ursprungs- und Ganzheitsvorstellungen Heideggers einer von Derrida inspirierten Kritik unterzogen werden. Han sieht in Heideggers Denken eine Ab­ kehr von der Tradition der Metaphysik, jedoch nicht deren Überwindung. Stimmungen erscheinen in diesem Zusammenhang als eine Möglichkeit, das Ganze des Seienden als solches zu thematisieren, ohne sich dabei auf begriffliche Bestimmungen festzulegen: „Das Ganze ist nicht von der Totalität her, sondern von der Tonalität her zu denken. Die (Grund-)

3.1. Die Absenz der Musik in Heideggers Kunstphilosophie

125

für Heideggers Denken wird die Musik in seinem Werk nie als eigener Phäno­ menbereich in Betracht gezogen. Das ist schon allein deshalb bemerkenswert, weil sich die Begriffsgeschichte der ‚Stimmung‘ ohne den Bezug zur Musik nicht verstehen lässt. Bei einer philosophischen Untersuchung des Phänomens wäre also gerade von einem so stark an einzelnen Worten orientierten Philosophen wie Heidegger eine explizite Auseinandersetzung mit den musikalischen Kon­ notationen des Begriffs zu erwarten, die jedoch nicht stattfindet. Das Wort ‚Stimmung‘ kommt vom Verb ‚stimmen‘, das wiederum eine Ver­ balbildung zur ‚Stimme‘ ist. Der Gebrauch von ‚Stimmung‘ für den Gemüts­ zustand eines Menschen ist ursprünglich eine musikalische Metapher.18 Sie ist jedoch inzwischen so gebräuchlich, dass sie in der Regel nicht mehr als solche erkannt wird. Die Metapher ist nicht nur durch die Alltagssprache, sondern zu­ sätzlich auch dadurch verblasst, dass sie Einzug in die Wissenschaftssprache ge­ halten hat. In der psychologischen Emotionsforschung steht das Wort für einen affektiven Zustand, der in der Regel länger anhält als eine Emotion und im Un­ terschied zu dieser keinen „Objektbezug“ besitzen muss.19 Das englische Äquiva­ lent wäre hier etwa ‚mood‘. In der Musikwissenschaft bezeichnet man vor allem die Festlegung von Tonhöhen, beziehungsweise das System, das dem praktischen Stimmen von Instrumenten zugrunde liegt, als ‚Stimmung‘.20 Dafür gibt es im Englischen wiederum zwei andere Wörter: ‚tuning practice‘ und ‚tuning system‘. Das Wort ‚Stimmung‘ lässt sich aufgrund seines weiten Bedeutungsfeldes nur schwer in andere Sprachen übersetzen.21 Von der Stimmung wird seit dem 18. Jahrhundert auch im Zusammenhang von Klima und Wetter gesprochen. So schreibt etwa Goethe in einem Brief an Charlotte von Stein: „Das Wetter ist recht zu mir gestimmt, und ich fange an zu glauben, daß Witterung in der ich immer lebe auch so den immediatesten Ein­ Stimmung wäre der objektive Ausdruck für das Gefügtsein des stimmigen Ganzen.“ Vgl. Byung-Chul Han, Heideggers Herz, München 1996, hier 176. In der bereits zitierten Studie Heideggers Phänomenologie der Welt von Peter Trawny wird die Stimmungstheorie aus dem Gesamtzusammenhang von Heideggers Philosophie heraus ausgelegt. Im Unterscheid zu den Untersuchungen von Ferrreira und Han werden von Trawny sowohl Heideggers Kunst­ philosophie als auch die Anwendungsmöglichkeiten von Heideggers Stimmungstheorie für die musikalische Hermeneutik berücksichtigt. Letztere werden von Trawny jedoch weder als eigenständiger Bereich behandelt noch ausführlicher erörtert, vgl. Trawny, Heideggers Phänomenologie der Welt, insbesondere 128–195. 18  Vgl. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm (Hrsg.), Deutsches Wörterbuch, Band 10, Leipzig 1941, „Art. stimmen“, Spalte 3088–3110 und „Art. Stimmung“, Spalte 3127–3135. 19 Die „Stimmung einer Person“ ist demnach eine Art „affektives Hintergrundrau­ schen“. Vgl. Klaus Rothermund/Andreas Eder, Allgemeine Psychologie: Motivation und Emotion, Wiesbaden 2011, 193. 20  Für einen umfassenden Überblick über Stimmungssysteme und -techniken in der europäischen Musik vgl. Klaus Lang, Auf Wohlklangswellen durch der Töne Meer, Temperaturen und Stimmungen zwischen dem 11. und dem 19. Jahrhundert, Graz 1999. 21  Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht, Stimmungen lesen, München 2011, 10–11.

126 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik fluss auf mich hat, und die grosse Welt meine kleine immer mit ihrer Stimmung durchschauert.“22 Goethe führt seine subjektive Stimmung hier in der Intros­ pektion auf den Einfluss des Klimas zurück, das er selbst als die Stimmung einer natürlichen Umgebung, eines konkreten Ortes in der Welt begreift. Auf diese Weise wird in der Rede von der Stimmung die Vorstellung einer Harmonie zwi­ schen Makrokosmos und Mikrokosmos eingeführt. Bei Goethe findet sich zu­ dem eine der frühesten Reflexionen zur Stimmung als ästhetischem Prinzip.23 In dem Aufsatz Nach Falkonet und über Falkonet fasst er die Stimmung als eine Einsicht in die Ordnung der Natur, die der Künstler in seinem Werk darstellen kann: „Das Aug des Künstlers aber findet sie [die Stimmung] überall. Er mag die Werkstätte eines Schusters betreten, oder einen Stall, er mag das Gesicht sei­ ner Geliebten, seine Stiefel oder die Antike ansehn, überall sieht er die heiligen Schwingungen und leise Töne, womit die Natur alle Gegenstände verbindet.“24 Stimmungen können demnach auch durch den Eintritt in Räume oder durch die Betrachtung eines Gegenstands entstehen und den Künstler so zur Bildung ästhetischer Ideen anregen. Als Auslöser für diesen Vorgang nennt Goethe hier sichtbare Dinge, ihre Wirkung beschreibt er jedoch als auditiven Vorgang: Die Stimmung teilt sich in „leisen Tönen“ mit, die Rede von den „heiligen Schwin­ gungen“ verweist wiederum auf die akustische Ebene. So wie die Übertragung von Schwingungen eine Voraussetzung für das Hören von Tönen ist, so wird hier die ‚Natur‘, die ‚alle Gegenstände‘ verbindet, als Grund für die dichterische Empfindung von Stimmung gefasst. Auch in Heideggers Stimmungstheorie spielen auditive und akustische Me­ taphern eine wichtige Rolle, was sich insbesondere an der Begriffsbildung seines Ereignisdenkens nachverfolgen lässt. In den Beiträgen wird die Interdependenz von Menschen und „Seyn“ als ein dynamisches Verhältnis und „Gegenschwung des Brauchens und Zugehörens“ beschrieben.25 Es bleibt aber nicht bei einem ein­ fachen Schwung, sondern durch die Zirkularität der Bestimmungen von Seyn und Mensch wird das Denken so in Bewegung versetzt, dass eine „Schwingung“ entsteht.26 Wer das Da-sein des Menschen zu denken versucht, ist auf das Seyn verwiesen. Um das Seyn zu verstehen, muss wiederum die ontologische Relation durchdacht werden, in der es zum Menschen steht. Das Ereignisdenken oszil22  Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Frau von Stein vom 1. Mai 1777, in: J. W. von Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in 40 Bänden, Band 29, Hrsg. Hartmut Reinhardt, Frankfurt am Main 1997, 86. 23  Vgl. David Wellbery, „Art. Stimmung“, in: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 5, Stuttgart/Weimar 2003, 705. 24  Johann Wolfgang von Goethe, Nach „Falkonet und über Falkonet“, Sämtliche Werke, Band 18, Hrsg. Friedmar Apel, Frankfurt am Main 1998, 175–180, hier 176. 25 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 251. 26 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 252.

3.1. Die Absenz der Musik in Heideggers Kunstphilosophie

127

liert so zwischen den beiden Polen des Seyns und des Menschen. Der auf diese Weise entstehende Zwischenbereich wird von Heidegger als „Schwingungs­ raum“ bezeichnet.27 Damit ist zugleich das Gebiet ausgewiesen, in dem sich alle Gegenstände des Denkens befinden. Anstatt diese Gegenstände zu kategorisie­ ren, versucht Heidegger, die Möglichkeit ihrer philosophischen Erschließung zu beschreiben. Bei diesem Versuch variiert er, neben anderen semantischen Be­ reichen, auch die Rede von der Schwingung. So sind die Formen authentischen Selbstverständnisses nach Heidegger durch die „Schwingungsweite des Selbst“ begrenzt.28 Der Gedanke des „letzten Gottes“ gehöre in den „äußersten Schwin­ gungsbereich, in die Zugehörigkeit zum äußersten Geschehen“.29 Den für das Denken entscheidenden Moment der Anfänglichkeit, die geschichtliche Mög­ lichkeit und Notwendigkeit, im Denken und für das Denken immer wieder vor­ aussetzungslos neu anzusetzen, bezeichnet Heidegger als ein „Insicheinschwin­ gen des Anfangs“ selbst.30 Das Gelingen eines solchen anfänglichen Denkens lässt sich nicht methodisch sichern. Es kann nicht erzwungen werden, sondern muss im Denken und durch dieses erfahren werden. Erst so entsteht die Möglichkeit, auf vergangene Anfänge des Denkens als solche Bezug zu nehmen. Die nach Heideggers Verständnis ent­ scheidenden Momente der Philosophiegeschichte werden auf diese Weise zugäng­ lich und treten dabei in ein Wechselverhältnis zum gegenwärtigen Denken. Die­ ses Wechselverhältnis, bei dem, was im Folgenden noch genauer erörtert wird, die jeweiligen Stimmungen des Denkens in Beziehung zueinander gesetzt werden, bezeichnet Heidegger auch als „Ineinanderschwingen“.31 Der Sinn dieses Worts erschließt sich aus dem Quellbereich der Schwingungsmetaphorik.32 Jedem Den­ ken kommt eine besondere Stimmung oder ein „Grundton“ zu. 33 Es besitzt, an­ ders gesagt, eine bestimmte Tonhöhe oder Frequenz. Um im Denken auf ein an­ deres Denken Bezug nehmen zu können, gilt es, hinzuhören und darauf zu ach­ ten, wie das eigene Denken mit dem Vergangenen zusammenstimmt, in welcher Weise ihre „Töne“ verschmelzen, eine Konsonanz oder eine Dissonanz ergeben. Die Rede von der Schwingung ist hier allerdings nur ein Beispiel aus dem weite­ ren Bereich des Auditiven, der bei Heidegger von herausragender Bedeutung ist. So sind für das Ereignisdenken auch „Hören“ 34, „Gehör-schenken“35 und „Zuge­ 27 Heidegger,

Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 57, 400. Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 321. 29 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 57. 30 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 416. 31 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 82. 32  Zur Unterscheidung von Quell-und Zielbereich beziehungsweise ‚source domain‘ und ‚target domain‘ vgl. George Lakoff, Metaphors we live by, Chicago 2003. 33 Zum ‚Grundton‘ vgl. Heidegger, Gedachtes, GA 81, 180. 34 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 97, 422. 35 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 97, 259. 28 Heidegger,

128 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik hörigkeit“36 sowie die „Stimme des Seyns“,37 „Anklang“38 und „Zuruf“39 zentrale Momente. Die Phänomenologie des Hörens, die Heidegger in diesem Zusammen­ hang entwickelt, wird in der Regel jedoch weder auf musikalische Gegenstände bezogen noch ist sie für musiktheoretische Fragen unmittelbar relevant.40 Das Auditive und die Musik sind voneinander zu unterscheiden. Musikalisches Vokabular im engeren Sinne findet sich bei Heidegger in den Gedichtinterpretationen in Unterwegs zur Sprache. So erläutert er die Sprache Trakls im Anschluss an einzelne Verse des Dichters als „Singen“, „Gesang“ oder „Lied“.41 Heidegger schreibt in diesem Kontext auch mehrfach von dem „Ton“ eines Gedichts und gebraucht diesen Ausdruck dabei synonym zum Begriff der Grundstimmung.42 Wenn ein Ton verklingt, kann das in der Musik als besonders intensiver Vorgang erfahren werden. Da sich an der Dichtung vergleichbare Phä­ nomene aufzeigen lassen, kann Heidegger das Wesen dichterischer Sprache an Entzugsphänomen ausweisen. Sinnvolles Sprechen wird überhaupt erst durch die Stille möglich. ‚Stille‘ meint nicht das bloße Ausbleiben von Worten, sondern steht für die unterschiedlichen sprachlichen Praktiken, in denen sich die Menschen zurückhalten, aufmerksam sind und eine grundlegende Offenheit bewahren. Um die Dimension des Entzugs im Sprechen zu verdeutlichen, prägt Heidegger den Ausdruck des „Geläuts der Stille“.43 Damit wird ein Klanggeschehen evoziert, das sich gewissermaßen an der Grenze zwischen einem akustischen Zeichen und der Musik befindet. Geläutet wird in der Regel, um einen bestimmten Zeitpunkt an­ zuzeigen. Dass Läuten kann dabei zwar musikalische Qualitäten besitzen. Wenn es als Zeichen interpretiert wird, treten diese musikalischen Eigenschaften jedoch zurück. Die Stille wiederum hat selbst keinen unmittelbaren Zweck. Wenn ihre Präsenz in der Dichtung als ‚Geläut‘ beschrieben wird, dann ist damit also eine Art unscheinbarer Musikalität angezeigt, die meistens verborgen bleibt. In diesen Zwischenbereich gehören Heideggers Bestimmungen dichterischer Sprache auch dann, wenn er auf Ausdrücke wie „klingen“,44 „Verklingen“,45 „Anklang“,46 „Ein­ 36 Heidegger,

170.

37 Heidegger,

Die Geschichte des Seyns, GA 69, 7, 26, 35, 89, 93, 109, 126, 138, 154, 158,

Über den Anfang, GA 70, 135, 141. Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 106–166. 39 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 31, 51, 56, 64, 65, 67, 82, 96, 233, 236, 262, 311, 342, 372, 380, 384, 385, 408, 411, 492. 40  David Espinet hat in seiner von Heidegger ausgehenden Untersuchung zur Phänomenologie des Hörens die ethische Dimension des auditiven Vermögens betont. Vgl. David Espinet, Phänomenologie des Hörens, Tübingen 2009, 200, insbesondere 161–181. 41 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 60, 61, 65–69, 77. 42 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 40, 71, 166, 210, 216, 217. 43 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 26–29. 44 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 34, 40, 196. 45 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 53. 46 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 222, 232. 38 Heidegger,

3.1. Die Absenz der Musik in Heideggers Kunstphilosophie

129

klang“,47 „Gegenklang“,48 „Wider­k lang“49 oder „Dreiklang“50 zurückgreift. Für die T hematisierung der Musikalität von Dichtung ist aber nicht nur Klang, son­ dern auch das Phänomen des Rhythmus entscheidend. Heidegger geht im Rah­ men von Das Wort, seinem zweiten Aufsatz zum Werk Stefan Georges, auf diesen Aspekt ein.51 Durch Metrik und Rhythmisierung gewinnt dichterische Sprache im Vergleich zur Alltagssprache eine deutliche Nähe zur Musik.52 Heidegger weist mit seinem differenzierten Beschreibungsvokabular mehrmals auf diese Verbin­ dung hin. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er dabei immer von der Musikalität der Dichtung und nie von Musik als solcher spricht.53 In Heideggers Briefwechsel mit Hannah Arendt findet sich eine Reihe von Anmerkungen zu literarischen Werken, bildender Kunst und Musik, die für das persönliche Verhältnis zwischen den beiden, aber auch intellektuell von Bedeu­ tung waren. In Hinblick auf Heideggers Musikverständnis sind besonders zwei Briefe bemerkenswert, die er kurz nach dem Wiedersehen mit Hannah Arendt im Februar 1950 schreibt. Die Briefe zeugen von einer überschwänglichen Freude über die persönliche Begegnung mit seiner ehemaligen Studentin und Gelieb­ ten. Heidegger schreibt: „Hannah, das Geschenk der Rückkehr und Einkehr der fünf Jahrfünfte bestürzt immer wieder mein Denken. In ihm bist Du übers Meer weither nah und da, selber herdenkend zu den Liebsten und allen Dingen, die dir mitgehören.“54 In die Erinnerung an das Wiedersehen mischt sich eine Reihe von Kunsterfahrungen. Heidegger bedankt sich bei Arendt für eine Mappe mit Bildern von Braque, die sie ihm noch vor ihrer Rückreise in die USA aus Paris 47 Heidegger,

Unterwegs zur Sprache, GA 12, 35, 58, 71, 72, 224. Unterwegs zur Sprache, GA 12, 60. 49 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 218. 50 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 69. 51 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 217. 52  Vgl. zum Rhythmus als Form des Musikalischen, die in unterschiedlichen Kunstgat­ tungen zur Erscheinung kommen kann Figal, Erscheinungsdinge, 151–154. 53  Peter Hanly hat in einem aufschlussreichen Aufsatz dieses Vokabular eingehend kommentiert und ist dabei zu dem Schluss gekommen, dass Musik mit Heidegger als ein Moment von Sprache verstanden werden kann. Mit dem Wort ‚Musik‘ ist dann jedoch nicht die Kunstform angesprochen, die gewöhnlich darunter verstanden wird, sondern vielmehr etwas „that sounds in the deepest recess of the language we speak, that makes of langu­ age always more than the meanings we express: a music that echoes in the space of a play that enjoins us to speak again.“ Peter Hanly, „Dark Celebration: Heidegger’s Silent Music, in Heidegger and Language“, Jeffrey Powell (Hrsg.), Bloomington 2013, 240–263, hier 261. Die Ausführungen Hanlys ermöglichen es, die Bedeutung musikalischer Ausdrücke für Heideggers Sprach- und Dichtungsverständnis genau nachzuvollziehen. Meines Erachtens bleibt der sprachimmanente Musikbegriff, den er am Ende seines Aufsatzes formuliert, ohne die Erfahrung der Kunstform ‚Musik‘ aber letztlich unverständlich. Solange nicht ein Verständnis der Musik als Kunstform ausgearbeitet wird, fehlt einer Interpretation der Musikalität der Sprache letztlich ihr philosophisches Fundament. 54  Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hrsg. von Ursula Ludz, Frankfurt am Main 1998, Brief vom 19. März 1950, 89. 48 Heidegger,

130 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik geschickt hatte, er zitiert Rilke und Hölderlin und er legt diesem Brief vier eigene Gedichte bei. Die Überschrift zu dem Brief ist eine Musikangabe: „Bach, 3. Brandenbur­ gisches Konzert, 2. Satz. Allegro.“55 Indem Heidegger dieses Stück dem ganzen Brief voranstellt, verleiht er seinen Worten eine besondere Stimmung. Tatsäch­ lich entspricht der Duktus des Briefes dem Tempo der angegebenen Musik. Die „Bestürzung“, die Heidegger anspricht, drückt sich darin aus, wie sich seine Ein­ drücke überschlagen und die Sätze nach vorwärts drängen.56 Darüber hinaus verleiht der Verweis auf die Musik Bachs dem Brief etwas Festliches, das der erinnerten Begegnung auf diese Weise beigemessen wird. Der darauffolgende Brief vom 12. Mai 1950 wiederum ist überschrieben mit „Beethoven, Opus 111. Adagio, Schluß“.57 Arendt hat Heidegger zuvor eine Schallplatte mit Beethovens späten Klaviersonaten geschickt. Er bedankt sich für das Geschenk: „Sein Klang hat sich schon mit jenem Glanz verschwistert, den ich zu Anfang dieses Briefes nannte.“58 Mit dem Glanz meint Heidegger das „Liebende der Liebe“ und reflek­ tiert damit die persönlichen Umstände des Treffens.59 Dass Heidegger hier noch einmal im Brieftext auf den Schlusssatz, Arietta molto semplice e cantabile, aus Beethovens letzter Klaviersonate anspielt und von einer ‚Verschwisterung‘ des Klanges spricht, legt die Interpretation nahe, dass er die Stimmung dieser Mu­ sik als eine versöhnliche erfahren hat. Seine Bezugnahme auf das Stück unter­ streicht auch die der Innigkeit und Nähe, die den Brief prägt. Heidegger legt dem Brief erneut Gedichte bei und grüßt Arendts im Sterben liegende Freundin Hilde Fränkel. Die T hematik des Abschieds und der Todesahnung, die in den beige­ legten Gedichten anklingt,60 kann auf Beethovens Klaviersonate op. 111 bezogen werden. Ob das von Heidegger intendiert war, lässt sich nicht rekonstruieren. Der Verweis auf Beethoven bleibt vieldeutig. Entscheidend sind hier auch nicht die biografischen und psychologischen Um­ stände, die sich ohnehin nie vollständig klären lassen. Für den systematischen Ansatz dieses Teils der Untersuchung geht es vielmehr um die grundsätzliche Funktion des Verweises auf ein Musikstück. Wenn Heidegger seinen Briefen un­ kommentiert den Titel eines Stücks voranstellt, dann evoziert er damit eine be­ sondere Stimmung. Was Heidegger in seiner Stimmungstheorie nicht geleistet hat, findet in seinen Briefen praktisch Anwendung: Musik wird als ein Medium vorgestellt, das Lebenssituationen und Erfahrungen eine besondere Stimmung 55 Arendt/Heidegger,

Briefe 1925 bis 1975, Brief vom 19. März 1950, 89. Ein Beispiel dafür sind die Satzanfänge von vier aufeinander folgenden Sätzen : „Ich wußte dies, als […]. Ich wußte, daß jetzt… [..] Wenn ich Dir sage, daß […]. Wenn ich von ‚schön‘ sprach, dann […].Arendt/ Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, Brief vom 19. März 1950, 89–90. 57 Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, Brief vom 12. Mai 1950, 93. 58 Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, Brief vom 12. Mai 1950, 95. 59 Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, Brief vom 12. Mai 1950, 93. 60  Vgl. Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, Brief vom 12. Mai 1950, 96. 56 

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

131

verleiht. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass dieses Potential auf eine struk­ turelle Eigenschaft von Musik zurückgeführt werden muss und aufbauend auf dieser Erkenntnis mit einer näheren Betrachtung von Heideggers Stimmungs­ theorie auch ein Beitrag zur philosophischen Hermeneutik von Musik geleistet werden kann.

3.2. Heideggers Stimmungstheorie 3.2.1. Die Gestimmtheit des Daseins Dass das Dasein gestimmt ist, gehört zu den zentralen Grundannahmen von Heideggers Existentialhermeneutik. Die Gestimmtheit des Daseins kann sich im Alltag verändern, ohne dass sich der Einzelne dessen zu jedem Zeitpunkt bewusst ist. Heidegger führt beispielsweise als besonders unscheinbaren Nuan­ cen den „ungestörten Gleichmut“ und die „gehemmte Mißmut des alltäglichen Besorgens“ an.61 Mit einigen Gegenständen sind starke Emotionen verbunden, mit anderen weniger starke oder gar keine. In der psychologischen Introspektion könnten diese Stimmungen auch als neutrale Bewertung oder Indifferenz gefasst werden. Dem Alltag gegenüber gleichgültig gestimmt zu sein, ist aber keinesfalls eine bedeutungslose Einstellung. In Heideggers ontologischer Interpretation der Befindlichkeit erweist sich die scheinbare Abwesenheit von Stimmungen selbst als spezifische Gestimmtheit. Die Befindlichkeit ist ein „Strukturmoment“ des „In-Seins“ in der Welt und hat so eine konstituierende Funktion für das Selbstund Weltverständnis des Daseins.62 Wenn der Sinn des Daseins die Sorge ist, kann das „Da“ des Daseins auch als „Last“ beschrieben werden.63 Die Last muss zwar nicht als solche empfunden werden, verschwindet aber auch nicht dadurch, dass sie nicht empfunden wird. Heidegger beschreibt die oberflächliche Abwe­ senheit von Stimmungen als „anhaltende, ebenmäßige und fahle Ungestimmt­ heit“.64 Die Annahme, in einem ausschließlich rational bestimmten, affektlosen Selbst- und Weltverhältnis leben zu können, ist eine Selbsttäuschung. Selbst der Verlust von affektiven Bezügen zur eigenen Umwelt ist als solcher affektiv einge­ färbt. Das Dasein ist immer mit der Entstehung, Ausbreitung und dem Wechsel von Stimmungen verbunden. 61 Heidegger,

Sein und Zeit, GA 2, 178. Sein und Zeit, GA 2, 174. Wenn Heidegger in Sein und Zeit von ‚Stim­ mung‘ spricht, dann versteht er darunter in der Regel nicht ein empirisches Phänomen, sondern eine konkrete Gestalt ontologischer Befindlichkeit. Da aber auch von verschiede­ nen „Befindlichkeiten“ (z. B. Furcht, Angst) die Rede ist, sind die beiden Begriffe praktisch synonym. 63 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 179. 64 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 179. Vgl. zur Stimmung der Ungestimmtheit Heideg­ ger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 102. 62 Heidegger,

132 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik In seiner Gestimmtheit erschließt sich die „Faktizität des Daseins“: Nur durch „das ursprüngliche Erschließen der Stimmungen“ wird das „pure, ‚daß es ist‘“ des Daseins erfahren.65 Die philosophische Erkenntnis ist hier von einer existentiellen Bedingung abhängig. Ohne die Erfahrung von Stimmungen kann ein umfassendes Verständnis des Daseins nicht gewonnen werden. Die Frage nach dem „Woher und Wohin“ des Daseins übersteigt die Grenzen der mensch­ lichen Erkenntnis. Sie kann nicht abschließend geklärt werden, der Grund der menschlichen Existenz bleibt somit „verhüllt“.66 Dass das Dasein in die Welt ge­ worfen ist, bleibt nichtsdestoweniger eine Tatsache. Den Sinn der Geworfenheit, die „unerbittliche Rätselhaftigkeit“ des Daseins,67 will Heidegger daher durch eine Interpretation der Befindlichkeit erläutern. Zwar ist diese Interpretation selbst eine Tätigkeit, die rationalen Maßstäben entspricht, sie kann nach Hei­ degger aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie zugleich in ihrer Gestimmtheit erfahren wird. Diese Gestimmtheit entsteht nicht zuletzt dadurch, dass man sich philosophisch auf die Faktizität des Daseins einlässt. Wenn das geschieht, zeigt sich die Befindlichkeit des Daseins als ein Zugang zu Selbst- und Weltverständ­ nis, der durch rationale Bestimmungen nicht ersetzt werden kann. Eine allein auf Erkenntnis aufbauende T heorie könnte der Erfahrung der grundlosen Gege­ benheit des Daseins nicht Rechnung tragen: „Das Daß der Faktizität wird einem Anschauen nie vorfindlich.“68 Heidegger grenzt die Faktizität des Daseins von den Kategorien der Position und der Vorhandenheit ab.69 Die Faktizität des Daseins übersteigt die Funk­ tion einer Urteilsform: „In der Befindlichkeit ist das Dasein immer schon vor es selbst gebracht, es hat sich immer schon gefunden, nicht als wahrnehmendes Sich-vorfinden, sondern als gestimmtes Sichbefinden.“70 Da Stimmungen eine Konstante menschlichen Selbstbezugs bilden, lässt sich die Befindlichkeit nicht vom Verstehen trennen. Die Erfahrung einer Grundbefindlichkeit ist eine ur­ sprüngliche Form der Selbsteinsicht, die sich in der Dynamik von Stimmungen vollzieht, anstatt in einem Erkenntnisakt zu einem Ende zu gelangen. Entschei­ dend ist für Heidegger nicht die Reflexion auf die Erfahrung, sondern die Erfah­ rung als solche. Stimmungen gehören zum Daseinsverständnis, und zwar auch dann, wenn sie der Selbsterkenntnis zunächst im Wege steht: „Die Stimmung erschließt nicht in der Weise des Hinblickens auf die Geworfenheit, sondern als An- und Abkehr. Zumeist kehrt sie sich nicht an den in ihr offenbaren Last­ charakter des Daseins, am wenigsten als Enthobensein in der gehobenen Stim­ 65 Heidegger,

Sein und Zeit, GA 2, 179. Sein und Zeit, GA 2, 180. 67 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 181. 68 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 180. 69 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 180. 70 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 180. 66 Heidegger,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

133

mung.“71 Aus diesem Grund scheinen Heidegger gedrückte Gemütszustände und negative Stimmungen, die dem „Lastcharakter des Daseins“ Rechnung tragen, besonders geeignet zu sein, um die Faktizität des Daseins einsichtig zu machen. Heideggers Interpretation der Befindlichkeit des Daseins könnte zwar auch bei einer gehobenen Stimmung wie der Freude ansetzen. Um die Faktizi­ tät des Daseins aufzuzeigen, müsste eine entsprechende Interpretation einsichtig machen, inwiefern sich die Freude etwa als Gegenbewegung zu dem erwähnten Lastcharakter verstehen lässt. Heidegger setzt bei der Analyse von Stimmungen in Sein und Zeit voraus, dass das Dasein als In-der-Welt-Sein verstanden wird. Die Befindlichkeit ist dementsprechend kein subjektiver Bewusstseinszustand, sondern ein konstitu­ tiver Moment des Zwischenraums von Selbst und Welt. Stimmungen können weder in einem „Außen“ noch einem „Innen“ lokalisiert werden, sondern gehö­ ren zur „Erschlossenheit von Welt“.72 Sie gehen der intentionalen Bezugnahme auf konkrete Gegenstände voraus, erleichtern oder erschweren diese und geben ihr einen spezifischen Charakter. Eine Ursache für das Entstehen einer Stim­ mung lässt sich daher nur selten eindeutig identifizieren. Heidegger verdeutlicht dieses Entzugsmoment am Beispiel der Verstimmung: „In ihr wird das Dasein ihm selbst gegenüber blind, die besorgte Umwelt verschleiert sich, die Umsicht des Besorgens wird mißleitet. Die Befindlichkeit ist so wenig reflektiert, daß sie das Dasein gerade im reflexionslosen Hin- und Ausgegebensein an die besorgte ‚Welt‘ überfällt. Die Stimmung überfällt.“73 Selbst wenn man retrospektiv einen Auslöser für eine bestimmte Stimmung erkennt, bleibt die Erfahrung der Stim­ mung durch eine zeitliche Entwicklung geprägt, die es unmöglich macht, die ei­ gene Gestimmtheit auf eine einfache Ursache zurückzuführen. Die Stimmungen gründen in der Faktizität und bleiben somit letztlich grundlos, gerade deshalb aber auch bedeutungsvoll. Demgegenüber scheint das Phänomen der Furcht auf den ersten Blick durch einen klaren Objektbezug bestimmt zu sein. Heidegger analysiert die Struktur der Furcht, indem er zwischen dem „Wovor“, dem „Fürchten selbst“ und dem „Worum“ unterscheidet.74 Der Auslöser der Furcht ist etwas, das als bedroh­ lich wahrgenommen wird. Es kann sowohl ein Gegenstand als auch ein anderer Mensch sein. Zwischen dem Dasein und dem, was die Furcht erweckt, entsteht ein eigener Raum. Zunächst gibt es einen „bestimmten Umkreis“ dessen, was bedroht wird, dann kommt das Bedrohliche aus einer „bestimmten Gegend“, die als „nicht ‚geheuer‘“ erscheinen kann. Schließlich wird das furchtauslösende Objekt immer auch als etwas erfahren, das „herannaht“, sich nähert oder nähern kann, unabhängig davon, ob es sich zu dem Zeitpunkt der Furcht tatsächlich be­ 71 Heidegger,

Sein und Zeit, GA 2, 180–181. Sein und Zeit, GA 2, 182. 73 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 182. 74 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 186. 72 Heidegger,

134 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik wegt.75 Der Vollzug des Fürchtens selbst wird von Heidegger als eine Verarbei­ tung des Furchtbaren beschrieben, durch die das Objekt in seiner Bedrohlichkeit erkannt wird: „[F]ürchtend kann dann die Furcht sich, ausdrücklich hinsehend, das Furchtbare ‚klar machen‘. Die Umsicht sieht das Furchtbare, weil sie in der Befindlichkeit der Furcht ist.“76 Das Worum des Fürchtens ist das Dasein, entwe­ der in der Gestalt der eigenen Person, der zu ihr gehörenden Dinge und Besitztü­ mer oder in seiner Bezogenheit auf Andere. Die Furcht um Andere ist von deren jeweiliger Befindlichkeit unabhängig: „Fürchten für… ist eine Weise der Mitbe­ findlichkeit mit den Anderen, aber nicht notwendig ein Sich-mitfürchten oder gar ein Miteinanderfürchten. Man kann fürchten für…, ohne sich zu fürchten. Genau besehen ist aber das Fürchten für… doch ein Sichfürchten. ‚Befürchtet‘ ist dabei das Mitsein mit dem Anderen, der einem entrissen werden könnte.“77 Die an der Furcht beschriebenen Strukturmomente können als Orientierung für die Bestimmung anderer Stimmungen verwendet werden. Bei genauerer Be­ trachtung des Objekts, das zunächst als Auslöser der Furcht erscheint, kann aber auch diese noch differenzierter bestimmt werden. Etwas, das „plötzlich in das besorgende In-der-Welt-sein hereinschlägt“ führt zum „Erschrecken“. Das „ganz und gar Unvertraute“ assoziiert Heidegger mit dem „Grauen“, das „plötzliche Grauen“ fasst er als „Entsetzen“.78 Die Angst hingegen ist für Heidegger im Unterschied zu den genannten Va­ rianten der Furcht ein eigenständiges Phänomen: Sie ist in der Konzeption von Sein und Zeit als „Grundbefindlichkeit“ des Daseins sogar dasjenige, was an­ dere Stimmungen wie die der Furcht überhaupt erst ermöglicht.79 In der Erfah­ rung der Angst erscheint das Bezugsobjekt zunächst als „völlig unbestimmt“.80 Der Grund für die Angst könnte in allem liegen. Im Unterschied zur Furcht ist die Angst nicht auf ein konkretes Objekt bezogen und kann auf verschiedene Umstände verweisen. Die Angst lässt sich daher auch nie eindeutig lokalisieren: „Daß das Bedrohende nirgends ist, charakterisiert das Wovor der Angst.“ 81 Die­ ser Entzug räumlicher Bestimmtheit wird von Heidegger als Erfahrung reiner Seinsmöglichkeit interpretiert: „‚Nirgends‘ aber bedeutet nicht nichts, sondern 75 Heidegger,

Sein und Zeit, GA 2, 187. Sein und Zeit, GA 2, 187. 77 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 188–189. Und weiter heißt es: „Das Fürchtende zielt nicht direkt auf den Mitfürchtenden.“ Es ist bemerkenswert und auch nicht unproblema­ tisch, dass Heidegger an dieser Stelle die Möglichkeit des Verlusts eines Mitmenschen aus solipsistischer Perspektive beschreibt. Es ließe sich an dieser Stelle genau umgekehrt argu­ mentieren: Nur wenn die reale Bedrohung eines Anderen gegeben ist, hat die Furcht um dessen Mitsein einen Sinn. Die Gefährdetheit des Anderen übersteigt aber seine Bedeutung als jeweilig mitdaseienden Menschen. 78 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 189. 79 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 244. 80 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 247. 81 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 248. 76 Heidegger,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

135

darin liegt Gegend überhaupt, Erschlossenheit von Welt überhaupt für das we­ senhaft räumliche In-Sein.“82 Die Welt wird in der Angst nicht in ihrer Sinnhaf­ tigkeit erfahren, sondern „die Bewandtnisganzheit […] sinkt in sich zusammen. Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit.“83 Das in der Angst be­ findliche Dasein kann sich nicht an den gewohnten Bedeutungsstrukturen sei­ ner Umwelt orientieren. Es erfährt eine Isolation, in der die bloße Möglichkeit seines In-der-Welt-seins hervortritt.84 Da diese Möglichkeit allein schon durch die Endlichkeit des Daseins gefährdet ist, erweist sich das Wovor der Angst letzt­ lich als „das In-der-Welt-sein selbst“.85 Die Momente, die bei der Interpretation der Furcht unterschieden wurden, erweisen sich in der Angst als identisch: „Die Selbstigkeit des Wovor der Angst und ihres Worums erstreckt sich sogar auf das Sichängstigen selbst. Denn dieses ist als Befindlichkeit eine Grundart des In-derWelt-seins. Die existenziale Selbigkeit des Erschließens mit dem Erschlossenen, so zwar, daß in diesem die Welt als Welt, das In-Sein als vereinzeltes, reines, geworfenes Seinkönnen erschlossen ist, macht deutlich, daß mit dem Phänomen der Angst eine ausgezeichnete Befindlichkeit T hema der Interpretation geworden ist.“86 In Anbetracht dessen, dass in der Grundbefindlichkeit der Angst eine Identi­ tät der drei zuvor unterschiedenen Strukturmomente gegeben ist, können Stim­ mungen auch als eine Weise des In-der-Welt-seins beschrieben werden. Während jedoch einzelne Stimmungen auftauchen und wieder vergehen können, bildet die Angst in der Konzeption von ‚Sein und Zeit‘ eine Art affektive Grundschicht des Daseins: „[N]ur weil die Angst latent das In-der-Welt-sein immer schon be­ stimmt, kann dieses als besorgend-befindliches Sein bei der ‚Welt‘ sich fürchten. Furcht ist an die ‚Welt‘ verfallene, uneigentliche und ihr selbst als solche verbor­ gene Angst.“87 Da die Furcht auf der Angst beruht, wird auch klar, warum das Objekt, das als Auslöser von Furcht erscheint, nach Heidegger letztlich nicht das eigentliche Wovor der Furcht ist. Nicht vor dem Furchtbaren fürchtet man sich eigentlich, sondern vor der Gefährdung des eigenen In-der-Welt-seins. Wegen ihrer fundierenden Funktion ist die Angst für die Daseinsanalyse von entschei­ dender Bedeutung. Sie ist ein „ursprüngliches Phänomen“, das es ermöglicht,

82 Heidegger,

Sein und Zeit, GA 2, 248. Sein und Zeit, GA 2, 247. 84  Vgl. Han, Heideggers Herz, 105: „Die Angst erweist sich in ‚Sein und Zeit‘ als ein prin­ cipium individuationis.“ Ob aber daraus wirklich „ein Individuum hervor[gehen kann], das sein ‚Schicksal‘ hat und seine ‚Autorität‘ gegen die ‚Diktatur‘ des anonymen Man durch­ setzt“ wie Han schreibt, bleibt fraglich. Der Übergang von der Erfahrung einer Grundbe­ findlichkeit zum Ergreifen von Daseinsmöglichkeiten und konkretem Handeln bleibt in Sein und Zeit unterbestimmt. 85 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 249. 86 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 250. 87 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 252. 83 Heidegger,

136 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik „im interpretierenden Mit- und Nachgehen innerhalb eines befindlichen Verste­ hens zum Sein des Daseins vorzudringen“.88 Wenn Heidegger die Analyse der Angst als philosophischen Nachvollzug ih­ rer Erfahrung fasst, ergibt sich eine Frage, die in Sein und Zeit zwar angedeu­ tet, aber erst in späteren Texten entfaltet wird: Was ist die Stimmung der phä­ nomenologischen Interpretation? Versetzt der philosophische Nachvollzug den Denkenden in die Grundbefindlichkeit, die es zu analysieren gilt? Einerseits er­ schließt die Angst „ursprünglich und direkt die Welt als Welt“, andererseits wird in ihr „die Weltlichkeit der Welt [nicht] begriffen“.89 Die phänomenologische Interpretation kann weder auf den in der Angst gewonnenen Erfahrungsgehalt noch auf ihre eigene Begrifflichkeit verzichten. Die Verwendung von Begriffen erfordert eine gewisse Ruhe.90 Das „Mit- und Nachgehen“, das Heidegger in sei­ ner Interpretation der Angst anspricht, könnte Interpreten potenziell beunruhi­ gen. Um diese Beunruhigung in die Ruhe theoretischer Arbeit zu integrieren, ist womöglich eine „entschlossene“ Haltung angemessen. Da die Entschlossenheit von Heidegger aber nicht als eine philosophische Haltung, sondern allgemeiner als Möglichkeit „eigentlichen Seinkönnens“ bestimmt wird,91 ergibt sich erneut eine Spannung aus Erfahrung und Interpretation der Erfahrung, die innerhalb der Konzeption von Sein und Zeit nicht gelöst wird. Als Grundbefindlichkeit des Daseins bleibt die Angst auf ein Verständnis des Alltäglichen bezogen, das sich gegen die Übertragung in theoretische Zusam­ menhänge sperrt. Anstatt die Spannung aus existentieller Verunsicherung und philosophischer Gemütsruhe herauszuarbeiten, situiert Heidegger die Angst in ihrem Verhältnis zur Verfallenstendenz des Daseins: Dass sich das Dasein von sich selbst abkehrt, liegt nicht zuletzt daran, dass es sich als In-der-Welt-sein vor diesem ängstigt. Eine Unterbrechung dieser „Abkehr“ muss als Ausnahmefall gelten. Dementsprechend ist die reine Erfahrung „eigentlicher“ Angst auch „sel­ ten“.92 Sie ist an keine bestimmten Verhaltensweisen, Orte oder Situationen ge­ bunden: „Die Angst kann in den harmlosesten Situationen aufsteigen.“ 93 Wenn das jedoch geschieht, verändert sich das Selbstverhältnis des Daseins radikal. Die Angst „wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstigt, sein eigent­ liches In-der-Welt-sein-können. Die Angst vereinzelt das Daseins auf sein ei­ genstes In-der-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft“.94 Durch die Vereinzelung des Daseins kann sich der Bezug zu der ver­ 88 Heidegger,

Sein und Zeit, GA 2, 246. Sein und Zeit, GA 2, 249. 90  Zur stimmungstheoretischen Charakterisierung der aristotelischen θεωρία vgl. Hei­ degger, Sein und Zeit, GA 2, 184. 91 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 355–358. 92  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 252. Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 116. 93 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 251. 94 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 249. 89 Heidegger,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

137

trauten Umgebung also auch so verändern, dass sie „unheimlich“ wird. Dieser privative Charakter der Umwelt ist für Heidegger die ontologisch primäre Er­ scheinungsform, die durch die alltägliche Abkehr des Daseins von sich selbst le­ diglich übersehen wird: „Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muß existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden.“ 95 Gleichzeitig bietet die Erfahrung der Angst aber auch einen Ausgangspunkt, um eine solche Trennung und Isolation zu überwinden. In der Angst gewinnt das Dasein die „Freiheit des Sich-selbst-wählens und ‑ergreifens“.96 Wenn Hei­ degger in der Interpretation der Grundbefindlichkeit das Daseins Entzugsphä­ nomene und Negativität betont, verfolgt er damit nicht zuletzt auch die Absicht, die grundlegenden Strukturen das alltäglichen Daseins von ihrer Selbstverständ­ lichkeit zu befreien und sie so als neu erfahrbare Möglichkeiten eigentlichen Seinkönnens zurückzugewinnen.97 Die Erfahrung der Angst ist ein Schritt in Richtung dieser Neuaneignung: „Die Grundmöglichkeiten des Daseins, das je meines ist, zeigen sich in der Angst wie an ihnen selbst, unverstellt durch inner­ weltliches Seiendes, daran sich das Dasein zunächst und zumeist klammert.“ 98 Alltägliche Tagesabläufe können von der Angst unbewusst mitbestimmt wer­ den. Man fürchtet sich in aller Regel zwar nicht davor, zu arbeiten, einzukaufen, zu essen, zu trinken oder zu schlafen. Aber die Sicherheit von festen Routinen, die Konzentration, die für wichtige, aber auch weniger wichtige Aufgaben auf­ gewendet wird, hat nach Heideggers Interpretation nicht zuletzt den Sinn, die grundlegende Unsicherheit des Daseins zu überspielen.99 Um das Dasein zu ver­ stehen, muss diese Unsicherheit jedoch anerkannt werden. Das radikale Mög­ 95 Heidegger,

Sein und Zeit, GA 2, 252. Sein und Zeit, GA 2, 249–250. 97  Aufgrund der Tatsache, dass sich in der Grundstimmung der Angst Selbsterfahrung und konkrete Möglichkeiten des eigentlichen Daseins verschränken, vergleicht ByungChul Han Heideggers Konzeption mit der Jemeinigkeit der Vorstellungen im Sinne Kants: „Anstelle des Fleißes des ‚Ich denke‘, das jede ‚Vorstellung‘ ‚muß begleiten können‘ tritt die Leidenschaft des ‚Ich existiere‘ auf, das als Vehikel der ‚Eigentlichkeit‘ jedem ‚faktisch Mög­ lichen‘ sich anhängen, vorausgehen soll.“ Han, Heideggers Herz, 106. In der Angst geht die Vertrautheit der Welt zwar verloren, der Entwurfscharakter des Daseins wird aber umso stärker erfahren. Da in der Erfahrung tiefer Langeweile aber auch dieser Entwurfscharakter und damit die Möglichkeit eigentlichen Seinkönnens verschlossen bleibt, hat Boris Ferreira die Langeweile im Vergleich zur Angst als die „tiefere Stimmung“ interpretiert. Vgl. Fer­ reira, Stimmung bei Heidegger, 277–278. 98 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 253. 99  An einer bereits zitierten Stelle des Vortrags Was ist Metaphysik? hebt Heidegger die­ sen umfassenden Charakter der Angst als Grundbefindlichkeit hervor. „[Die] ursprüngliche Angst wird im Dasein zumeist niedergehalten. Die Angst ist da. Sie schläft nur. Ihr Atem zittert ständig durch das Dasein: am wenigsten durch das ‚ängstliche‘ und unvernehmlich für das ‚Ja‘ und ‚Nein‘ des betriebsamen; am ehesten durch das verhaltene; am sichersten durch das im Grunde verwegene Dasein.“ Heidegger, Was ist Metaphysik, GA 9, 118. 96 Heidegger,

138 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik lichsein, das den Tod als „äußerste Möglichkeit“ miteinschließt,100 ist mit der Erfahrung von Angst verbunden. Für das Verständnis menschlichen Daseins bleibt die Analyse der Grundbefindlichkeit der Angst daher unverzichtbar.101 3.2.2. Das „Stimmungsgefüge“ der Philosophie Stimmungen lassen sich aber keinesfalls auf die Gestimmtheit des Daseins redu­ zieren. Heidegger hat gezeigt, dass sie sich darüber hinaus auch als Eigenschaft von Ereignissen, Praktiken und Gegenständen begreifen lassen. So ist auch das philosophische Denken – und zwar ohne, dass dieses deshalb als Daseinsvoll­ zug verstanden werden müsste – durch Stimmungen geprägt. Die Gestimmtheit eines philosophischen Werks entsteht nicht dadurch, dass sich die Gemütsver­ fassung eines Autors auf seinen Text überträgt, sondern vor allem aus der Ei­ genart der Gegenstände und der Weise, in der sie untersucht werden. Es wurde bereits auf die Ruhe der aristotelischen T heorie hingewiesen, die also nicht als Charaktereigenschaft von Aristoteles fehlinterpretiert werden sollte, sondern als Merkmal eines Denkens, das sich in seinen Texten manifestiert. Die Stimmung philosophischer Texte ist für Heidegger aber mehr als ein philosophiegeschicht­ liches T hema. Denn er verfolgt auch das praktische Ziel, in seinen eigenen Tex­ ten Stimmungen zu evozieren. So greift Heidegger in der Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? zunächst die Analyse der Angst auf, um den Unterschied zwischen Metaphysik und Wissen­ schaft zu markieren und damit zugleich die spezifische Stellung der Philosophie zu klären. Die Verbindung von Grundbefindlichkeit und Endlichkeit des Da­ seins, die für die Angstanalyse in Sein und Zeit zentral ist, spielt dabei nur noch eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist für Heidegger in der Antrittsvor­ 100 Heidegger,

Sein und Zeit, GA 2, 333. Heidegger dieser Stimmung eine Vorrangstellung für das Verständnis des Daseins zuschreibt, greift er grundlegende Gedanken von Søren Kierkegaards Angstanalyse auf. Otto Friedrich Bollnow hat diese existenzphilosophische Traditionslinie dafür kriti­ siert, dass in ihr die Bedeutung der Angst für das Verständnis menschlichen Lebens über­ bewertet werde. Im Rahmen seiner anthropologischen Arbeit erhalten gehobene Stimmun­ gen demgegenüber eine gleichrangige Bedeutung. Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, Schriften, Band 1, Würzburg 2009, 47–60. Die Konsequenz, die Bollnow für seine eigene Arbeit zieht, ist durchaus produktiv. Er geht in der Behandlung der geho­ benen Stimmungen weit über das hinaus, was Heidegger zu diesen schreibt. Seiner Kritik an Heideggers einseitiger Hervorhebung der Angst lässt sich jedoch entgegen halten, dass die Endlichkeit des Daseins nicht ein beliebiges, sondern ein entscheidendes Merkmal des menschlichen Lebens ist. Da die Angst eine engere Beziehung zu der Endlichkeit besitzt als andere Stimmungen, erscheint ihr methodischer Vorrang im Kontext der Existenzialana­ lyse durchaus sinnvoll. Bollnows Kritik sollte zudem vor dem Hintergrund gesehen werden, dass ihm 1941 – zu dem Zeitpunkt als er Das Wesen der Stimmungen verfasste – die nach Sein und Zeit entstandenen Texte Heideggers, die das Phänomen der Stimmung nicht nur in Hinblick auf das Dasein, sondern auch in den Bereichen der Philosophie, der Dichtung und Kunst thematisieren, nicht zur Verfügung standen. 101  Indem

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

139

lesung die Beziehung zwischen Metaphysik und Nichts, die aus der Erfahrung einer Grundstimmung betrachtet werden soll. Heidegger nimmt dabei im Un­ terschied zu seinem Spätwerk noch keine metaphysikkritische Haltung ein, son­ dern verfolgt das Ziel, den Begriff der Metphysik in systematischer Hinsicht neu zu bestimmen.102 Die Angst dient bei diesem Vorhaben als ein Beispiel für eine offene und ergänzbare Reihe von Grundstimmungen, die eine entscheidende Funktion für das Verständnis der Metaphysik besitzen können. Es ist aber nicht die Angst, sondern die im Text nur beiläufig erwähnte Langeweile, welche die sprachliche Gestaltung der Antrittsvorlesung bedingt. Durch ihre performative Darstellung wird die Langeweile zur eigentlichen Stimmung dieses Textes. Ein Mittel Heideggers, um die Langeweile zu evozieren, ist die Wiederholung. Ein Beispiel dafür sind die Sätze, mit denen die T hese eingeführt wird, dass die Wissenschaft das Nichts, das für die Metaphysik entscheidend sei, nicht erfas­ sen könne: „Die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen. Dies ist am Ende die wissenschaftlich strenge Erfassung des Nichts. Wir wissen es, indem wir von ihm, dem Nichts, nichts wissen wollen. Die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen.“103 Heidegger verbindet und variiert in der Formulierung dieser Sätze zwei platonische Motive: erstens die Selbstbescheidung des Sokrates, die darin besteht, die eigene Unwissenheit zu benennen,104 zweitens die Einsicht in die Wirklichkeit des Nicht-Seienden, des μὴ ὄν.105 Das sokratische Nicht-Wis­ sen wird bei Heidegger allerdings zu einem kollektiven ‚Nicht-Wissen‘ der Wis­ senschaft. Das Wissen vom Nichts ist in der Wissenschaft aber kein Mangel, sondern identisch mit einem ‚Nicht-Wissen-wollen‘. Es wird aus dem wissen­ schaftlichen Bewusstsein verdrängt und kann daher von diesem nicht thema­ tisiert werden, wodurch das Wissen vom Nichts im wissenschaftlichen Diskurs letztlich in Unwissenheit umschlagen muss. Dennoch ,ist‘ das Nichts in gewisser Hinsicht. Es wird von Heidegger für ein phänomenologisches Seinsverständnis herangezogen, das verschiedene Formen des Entzugs wie Stille, Leere und Ruhe integrieren kann. Es geht ihm in diesem Zusammenhang aber nicht darum, an die platonische Tradition anzuknüpfen, sondern eher um ein Spiel mit wirk­ mächtigen Motiven, die seinem Text sprachliche Prägnanz verleihen. Durch die Technik der Wiederholung entsteht eine Monotonie, die zur Entfaltung der Lan­ geweile beiträgt. Noch komplexer werden Heideggers Sprachexperimente bei der Bestimmung des Wesens des Nichts als „Nichtung“: „Diese im Ganzen abweisende Verwei­ 102 

Am Ende des Textes betont Heidegger, dass sein Philosophieverständnis zu diesem Zeitpunkt von dem Verhältnis zur Metaphysik geprägt ist: „Philosophie – was wir so nen­ nen – ist das In-Gang-bringen der Metaphysik, in der sie zu sich selbst und zu ihren aus­ drücklichen Aufgaben kommt.“ Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 122. 103 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 106. 104  Allein darin sei er selbst „weiser“ als die Athener. Vgl. Platon, Apologie, 21 d. 105  Vgl. Platon, Sophistes, 240b-242b.

140 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik sung auf das entgleitende Seiende im Ganzen, als welche das Nichts in der Angst das Dasein umdrängt, ist das Wesen des Nichts: die Nichtung. Sie ist weder eine Vernichtung des Seienden, noch entspringt sie einer Verneinung. Die Nichtung läßt sich auch nicht in Vernichtung und Verneinung aufrechnen. Das Nichts selbst nichtet.“106 Heidegger verbalisiert das Nichts zu ‚nichten‘, das ‚Nichten‘ wiederum substantiviert er zur ‚Nichtung‘. Bedenkt man dieses Vorgehen, liegt die Vermutung nahe, dass ‚Nichts‘ und ‚Nichtung‘ bedeutungsgleich sind. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass etwaige Unterschiede zwischen Nichtung und Nichts von Heidegger nicht thematisiert werden. Es handelt sich hier also nicht weniger um eine terminologische Differenzierung als um eine spielerische Bildung von Neologismen. Die tautologischen Bestimmungen fordern den Le­ ser zu eigener Begriffsarbeit auf. So lässt sich das Suffix ‚‑ung‘ hier so interpre­ tieren, dass das Wesen des Nichts als ein dynamisches Geschehen zu begreifen ist. Als Nichtung wirkt das Nichts in das Seiende hinein. Eine nähere Bestim­ mung dieser Wirkung erscheint jedoch problematisch. Denn Heidegger grenzt die „Nichtung“ von ‚Vernichtung‘ und ‚Verneinung‘ ab.107 Auf diese Weise wird die Vorstellung abgewehrt, dass sich die Bedeutung der Nichtung aus zwei ande­ ren bekannten Begriffen zusammensetzen lässt. Weitere Eigenschaften können aus dieser Feststellung aber nicht abgeleitet werden. Durch die wiederholte Verwendung der Wörter ‚nicht‘, ‚nichts‘ ‚Nichts‘, ‚nich­ ten‘, ‚Nichtung‘ und ‚Vernichtung‘ entsteht im Text ein semantisches Netz aus stammverwandten Wörtern, dessen philosophischen Mittelpunkt die ontologi­ sche Aufwertung des Nichts bildet. Charakteristisch für diese Struktur ist die Beweglichkeit, die das Wesen des Nichts innerhalb des semantischen Netzes bei­ behält. Das Wesen des Nichts kann als Nichtung angesprochen werden, es lässt sich aber auch verbal ausdrücken: „Das Nichts selbst nichtet.“108 Es handelt sich dabei um tautologische Bestimmungen. Während Heidegger besonders in sei­ nem Spätwerk Tautologien immer wieder verwendet, um die Sprache in Gang zu bringen und Möglichkeiten zu öffnen, bestimmten Worten einen neuen Sinn zu verleihen, hat die Verwendung tautologischer Formulierungen in seiner An­ trittsvorlesung noch eine andere Funktion. Die Bedeutungsgleichheit trägt zum Eindruck der Gleichförmigkeit und Monotonie des Textes bei, der nicht zuletzt für die performative Darstellung der Langeweile wesentlich ist. Diese Monotonie ist aber nur ein Aspekt von Heideggers Antrittsvorlesung. Mit der Reduktion auf entscheidende Grundwörter und stammverwandte Aus­ drücke erreicht der Text zugleich einen hohen Grad an Emphase. Heidegger spricht in Bezug auf die „wissenschaftliche Existenz“ von „befeuernde[r] Ein­ fachheit“.109 Das kann zugleich als Stilideal seiner philosophischen Arbeit ver­ 106 Heidegger,

Was ist Metaphysik?, GA 9, 114. Was ist Metaphysik?, GA 9, 114. 108 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 114. 109 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 105. 107 Heidegger,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

141

standen werden. Zu diesem Eindruck trägt nicht zuletzt die Verwendung von Natur-Metaphern für die Erläuterung philosophischer Begriffe bei, ein Verfah­ ren, das sich auch bei der einzigen expliziten Bestimmung der Langeweile, die in der Antrittsvorlesung gegeben wird, wiederfindet: „Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen Selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleich­ gültigkeit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen.“110 Die Langeweile selbst wird also keinesfalls langweilig, sondern höchst anschau­ lich dargestellt. Sprachliche Gestaltung und Evokation einer Stimmung lassen sich in einem Text nicht voneinander trennen. Heideggers Was ist Metaphysik? ist demnach nicht allein durch Langeweile bestimmt. Die Grundstimmung des Texts wird immer wieder durch andere Töne, durch feierliches Pathos und auch durch das Moment der Aufbruchsstimmung modifiziert. Dass Heidegger die „merkwürdige Gleichgültigkeit“, die er der „tiefen Lange­ weile“ zuschreibt, nicht als eine unmittelbare Erfahrung des Nichts interpretiert, sondern die Langeweile ausdrücklich auf das „Seiende im Ganzen“ bezieht,111 hängt mit seinem Begriff der Grundstimmung zusammen. Für Heidegger sind Stimmungen als vorprädikativer Weltbezug deshalb von philosophischem Inter­ esse, weil er davon ausgeht, dass sich das Ziel der Metaphysik nicht durch be­ griffliche Bestimmungen erreichen lässt. Das Ganze des Seienden wird durch kein philosophisches System vollständig erfasst, was für Heidegger aber weder bedeutet, dass es dieses Ganze nicht gibt, noch dass es für das menschliche Da­ sein irrelevant wäre: „Am Ende besteht ein wesenhafter Unterschied zwischen dem Erfassen des Ganzen des Seienden an sich und dem Sichbefinden inmitten des Seienden im Ganzen. Jenes ist grundsätzlich unmöglich. Dieses geschieht ständig in unserem Dasein.“112 Wenn sich der Mensch der Bezogenheit auf das Ganze des Seienden durch die Philosophie allein nicht hinreichend versichern kann, müssen Phänomene geltend gemacht werden, die über das philosophi­ sche Denken hinausgehen. In Sein und Zeit erfüllt die Analyse der Befindlichkeit des Daseins genau diese Funktion. In seiner Antrittsvorlesung geht Heidegger noch einen Schritt weiter: Er bezieht die Befindlichkeit des Daseins auf Wis­ senschaft und Metaphysik und erschließt dadurch einen neuen Bereich für die Stimmungstheorie. Heidegger definiert die Metaphysik in seiner Antrittsvorlesung als Frage nach dem Sein.113 Je nachdem, wie diese Frage entfaltet wird, kann das Nichts darin eine größere oder geringere Bedeutung erhalten. Für Heideggers eigenen syste­ matischen Ansatz ist das Nichts entscheidend. Er eignet sich den Metaphysikbe­ griff hier so an, dass die in der Daseinsanalyse in Sein und Zeit thematisierten 110 Heidegger,

Was ist Metaphysik?, GA 9, 110. Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 110. 112 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 110. 113  Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 118–119. 111 

142 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Entzugsphänomene auf die Wirkung des Nichts in der Philosophiegeschichte bezogen werden können: „Wenn […] die Frage nach dem Sein als solchem die umgreifende Frage der Metaphysik ist, dann erweist sich die Frage nach dem Nichts von der Art, daß sie das Ganze der Metaphysik umspannt. Die Frage nach dem Nichts durchgreift aber zugleich das Ganze der Metaphysik, sofern sie uns vor das Problem des Ursprungs der Verneinung zwingt, d. h. im Grund vor die Entscheidung über die rechtmäßige Herrschaft der ‚Logik‘ in der Me­ taphysik.“114 Mit der Unterscheidung von ‚Durch‘‑ und ‚Um‘‑greifen wird die Intensität abgestuft, in der sich die Philosophie der Geschichte der Metphysik widmet. ‚Durchgreifend‘ ist das philosophische Fragen erst dann, wenn es Sein und Nichts nicht nur als geschichtliches T hema, sondern auch als gegenwärtige Aufgabe des Denkens begreift. Diese Haltung versetzt den Fragenden in eine Stimmung, die sich mit Heidegger als Entschlossenheit oder als philosophischer Mut bezeichnen lässt.115 Entschlossenheit und Mut sind hier darauf ausgerichtet, sich den Grundfragen der Philosophie zu stellen und sich durch die beschränkte Tragweite der eigenen Antworten nicht abschrecken zu lassen.116 Die Logik der Metaphysik, über die nach Heidegger aus dieser Stimmung heraus entschieden werden soll, entspricht nicht der methodischen Sicherheit einer Einzelwissen­ schaft. Eine philosophische Aneignung oder Umwandlung der Metaphysik er­ fordert vielmehr eine Sprache, die die Fülle der Weltbezüge, die zum Dasein ge­ hört, artikuliert. Die Philosophie Heideggers ist deswegen in ihrer Sprachlichkeit auf die Stimmungstheorie bezogen. Nur so lässt sich auch Heideggers Identifikation von Metaphysik und Dasein verstehen: „Die Metaphysik ist das Grundgeschehen im Dasein. Sie ist das Da­ sein selbst. Weil die Wahrheit der Metaphysik in diesem abgründigen Grunde wohnt, hat sie die ständig lauernde Möglichkeit des tiefsten Irrtums zur nächs­ ten Nachbarschaft. Daher erreicht keine Strenge einer Wissenschaft den Ernst der Metaphysik. Die Philosophie kann nicht am Maßstab der Idee der Wissen­ schaft gemessen werden.“117 Die Philosophie wird von der Metaphysik vielmehr auf eine spezifische Ernsthaftigkeit verpflichtet. Durch die Engführung der Me­ taphysik mit dieser Haltung grenzt sich Heidegger vom Verständnis der Phi­ 114 Heidegger,

Was ist Metaphysik?, GA 9, 120. „[Das Seyn ] ist der Mut des Gemüts. Im Gemüt hat sich jeder Mut und jede Mut, alle Zumutung und jede Anmutung ursprünglich gesammelt. Das Gemüt ermutigt und entmu­ tigt, mutet zu und ab. Das Gemüt ist Gestimmtheit durch die Stimmung der Stimme des Seyns. “ Heidegger, Über den Anfang, GA 70, 135. 116  Hegel macht diesen Punkt noch stärker: „Inzwischen wenn die Besorgnis, in Irrtum zu geraten, ein Mißtrauen in die Wissenschaft setzt, welche ohne dergleichen Bedenklich­ keiten ans Werk selbst geht und wirklich erkennt, so ist nicht abzusehen, warum nicht um­ gekehrt ein Mißtrauen in dies Mißtrauen gesetzt und besorgt werden soll, daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“ Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Band 3, Frankfurt am Main 1979, 68. 117 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 122. 115 

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

143

losophie als Wissenschaft ab. Der metaphysische Ernst lässt sich nach seiner Überzeugung mit der wissenschaftlichen Strenge einer methodisch gesicherten Forschungsdisziplin nicht vermitteln. Die Philosophie kann die Ansprüche der Metaphysik nur dann einlösen, wenn sie vom Dasein und seiner Gestimmtheit her und in ihrer Bedeutung für diese begriffen wird. Die Frage nach dem Nichts ist auch deshalb eine metaphysische, weil sie „uns – die Fragenden – selbst in Frage“ stellt.118 Vor dem Hintergrund dieses Metaphysikbegriffs kann Heidegger auch die Be­ deutung der Entzugsmomente für das Verständnis des Daseins zuspitzen: „Dasein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts.“119 Das Nichts erscheint hier als Leere, die in das Seiende hineinwirkt und dieses überhaupt erst ermöglicht. Das Dasein wird also von seiner Möglichkeit her verstanden, die Philosophie aber als eine Bewegung und als ein Werden: „Philosophie – was wir so nennen – ist das In-Gang-bringen der Metaphysik, in der sie zu sich selbst und zu ihren aus­ drücklichen Aufgaben kommt.“120 Es handelt sich bei dem Verhältnis von Phi­ losophie und Metaphysik also um eine Bewegung im Denken, die sich als eine unabschließbare Selbstwerdung darstellt. Als der Anstoß, der die Metphysik in Bewegung setzt, kann die Philosophie allerdings keine Vollendung finden, son­ dern bleibt immer wieder auf neue Aufgaben bezogen. In der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik aus dem Wintersemester 1929/1930 entwickelt Heidegger dieses Philosophieverständnis weiter und zeigt, wie die Bewegung des metaphysischen Denkens in der „Zeitlichkeit des Daseins“ verankert ist.121 Dabei nimmt die Beziehung zwischen Philosophie und Grund­ stimmung wieder eine prominente Rolle ein. Insbesondere die Langeweile wird in der Vorlesung ausführlich und anschaulich erörtert. Heidegger unterscheidet in Die Grundbegriffe der Metaphysik drei Formen der Langeweile: 1. das „Gelang­ weiltwerden von etwas“, 2. Das „Sichlangweilen bei etwas“ und 3. die „tiefe Lan­ geweile“.122 Dabei ist die tiefe Langeweile nicht nur als eine besonders intensive Erfahrung gedacht, sondern erhält zudem eine umfassende Bedeutung für Hei­ deggers Verständnis der Philosophie und des Daseins in der Moderne. So wie die Angst als Grundbefindlichkeit des Daseins verschiedene Weisen des Fürchtens ermöglicht, soll die tiefe Langeweile den einzelnen Erscheinungsformen alltäg­ licher Langeweile zugrunde liegen: „Nur weil im Grunde des Daseins diese stän­ dige Möglichkeit – das ‚es ist einem langweilig‘ – lauert, kann der Mensch sich langweilen oder von den Dingen und Menschen um ihn gelangweilt werden.“123 118 Heidegger,

Was ist Metaphysik?, GA 9, 121. Was ist Metaphysik?, GA 9, 115. 120 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 122. 121 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 256. 122  Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 117, 160 und 199. 123 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 235. 119 Heidegger,

144 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Langeweile kann sich auch auf konkrete Gegenstände beziehen. Sie kann durch die Übertragung eines subjektiven Zustands auf ein Objekt entstehen, aber das ist eher ein Sonderfall. Wenn etwas langweilig ist und man es als sol­ ches wahrnimmt, dann tut man das in der Regel zurecht. Es handelt sich dann keineswegs um eine Projektion, sondern man erfährt vielmehr etwas „an dem Ding selbst“.124 Einige Dinge besitzen objektive Eigenschaften, die diese Dinge als langweilig erscheinen lassen. Ein Buch kann beispielweise so geschrieben sein, dass es den Leser in die Stimmung der Langeweile versetzt. Wenn jemand sagt „Das Buch ist langweilig“, drückt das nicht unbedingt die aktuelle Gemütslage des Sprechers aus, sondern beschreibt eine Eigenschaft des Buches.125 Es kann tatsächlich bedeuten, dass das Buch „schleppend“ und „öde“ ist.126 Eine andere Möglichkeit, die Heidegger nicht berücksichtigt, besteht darin, dass Langeweile auch eine intendierte Eigenschaft literarischer Kunstwerke sein kann, die diese Stimmung performativ darstellen oder ausdrücklich thematisie­ ren. Berühmte Beispiele sind hier etwa Ivan Gončarovs Oblomov oder T homas Manns Zauberberg.127 Sowohl die gelungene literarische Darstellung von Lange­ weile als auch ein geringer Unterhaltungswert können objektive Eigenschaften von Büchern sein. Heidegger argumentiert dafür, dass wenn „auch die scheinbar objektivsten Eigenschaften der Dinge subjektbezogen“ sind, umgekehrt auch die scheinbar subjektivsten Stimmungen an den Dingen festgemacht werden kön­ nen.128 Wenn das Seiende von seiner Erfahrbarkeit her verstanden wird, gibt es keinen Grund, die Stimmungen von den Dingen zu trennen. Heidegger Stim­ mungstheorie trägt so zu einem realistischen Dingbegriff bei und impliziert eine „flache Ontologie“, in der verschiedene Erfahrungsweisen und Phänomenberei­ che gleichrangig sind.129 Die Entwicklung einer solchen Ontologie erfordert, dass die Gegenüberstellung zwischen Subjekt und Objekt überwunden wird: „Am Ende kann das Ding nur deshalb, weil die Stimmung es schon umspielt, langweilig sein. Es verursacht nicht die Langeweile, erhält sich aber ebensowe­ nig vom Subjekt nur zugesprochen. Kurz: Die Langeweile – und so am Ende

124 Heidegger,

Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 129. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metphysik, GA 29/30, 125–129. 126 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 129. 127  T homas Manns Zauberberg hat Heidegger mit Begeisterung gelesen. Die im Roman geschilderten Reflexionen über die Zeit lassen ihn – wie er in einem Brief an Hannah Arendt schreibt – zwar unbeeindruckt, umso sehr fasziniert ihn die Darstellung von Hans Castorps unselbstständiger Lebensweise: „Aber das Phänomen wie das Dasein von seiner Umwelt gelebt wird und nur vermeintlich selbst lebt, das ist mit einer Meisterschaft angesetzt, daß ich vorläufig einzig darauf konzentriert bleibe.“ Vgl. in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, Brief vom 9. Juli 1925, 40. 128 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 127. 129  Vgl. zum Begriff der „flachen Ontologie“ Manuel DeLanda, Intensive Science and Virtual Philosophy, London 2004, insbesondere 58–60. 125 

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

145

jede Stimmung – ist ein Zwitterwesen, teils objektiv, teils subjektiv.“130 Der Stim­ mungstheorie geht es um eben diesen Zwischenbereich. Langeweile kann auch aus Situationen heraus entstehen. Wenn man beispiels­ weise auf etwas warten muss und versucht, sich für die Zeit des Wartens die Zeit zu vertreiben, das aber nicht gelingt, dann langweilt man sich in aller Re­ gel.131 Die Langeweile kann eine besonders intensive Form der Zeiterfahrung sein: „Wir vertreiben uns, um ihrer Herr zu werden, die Zeit, sofern diese uns in der Langweile lang wird.“132 Zur Langweile gehört eine störende Verzögerung des gewohnten Zeitverlaufs. Man spricht davon ‚Zeit totzuschlagen‘, wenn man sich von einer solchen Verzögerung ablenken möchte. Die Suche nach Ablen­ kung ist nötig, weil man sich hingehalten fühlt. Selbst wer einen Zeitvertreib findet, bleibt, solange die entsprechende Tätigkeit keine eigenständige Bedeu­ tung gewinnt, auf die Langeweile bezogen und kann sich von dieser nur ablen­ ken, sie durch den Zeitvertreib aber nicht aufheben. Die Langeweile wird als ein Verlust von Freiheit erfahren, der gelangweilte Mensch ist in seiner eintönigen Gegenwart gleichsam eingesperrt. Diese Erfahrung nennt Heidegger „Hingehal­ tenheit“.133 Wenn man in einer Situation festsitzt, ist man so auf etwas Zukünf­ tiges bezogen, sodass die Gegenwart unerfüllt erscheint und sich zugleich in die Länge zieht. Der einzelne Moment dehnt sich: „Dieses stehende uns so stellende (zitierende) jetzt ist das Langweilende.“134 Bei dieser Form der Langeweile verän­ dert sich aber nicht nur die Zeiterfahrung, sondern auch die Wahrnehmung der eigenen Umgebung. Die Handlungsmöglichkeiten, die einem in einer solchen Situation offenstehen, beinhalten keine sinnvolle Tätigkeit. Alle in der Nähe be­ findlichen Dinge erscheinen als belanglos. Zur Stimmung der Langeweile gehört daher auch die „Leergelassenheit“.135 Diese Momente der Langeweile spielen nicht nur beim „Gelangweiltwerden von etwas“ eine Rolle, sondern auch beim „Sichlangweilen bei etwas“ und wer­ den dort sogar noch verstärkt. Um das zu zeigen, analysiert Heidegger das Bei­ spiel einer Tischunterhaltung bei einem Abendessen.136 Während man sich wäh­ rend des Abends gut amüsiert, können sich die geführten Gespräche im Rück­ blick als banal und langweilig erweisen. Die Stimmung der Langeweile kann sich schon in der Gesprächssituation einstellen, muss aber in dem Moment noch nicht erkannt werden. Sie bleibt dann latent und deutet sich etwa in unauffälli130 Heidegger,

Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 132. Heidegger beschreibt ausführlich das Warten „auf einem geschmacklosen Bahnhof einer verlorenen Kleinbahn“ Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 140–159, hier 140. 132 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 120. 133 Heidegger, Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, 150. 134 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 190. 135 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 152. 136 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 164–171, 173–175, 131 

146 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik gen Verhaltensweisen wie dem Blicken auf die Uhr oder gelegentlichem Gähnen an.137 Man erkennt erst nachträglich: Es war einem langweilig. Die gemeinsam verbrachte Zeit erscheint dann im Ganzen als ein einziger Zeitvertreib.138 Ein ‚echter Austausch‘ hat nicht stattgefunden. Gelangt man zu der Einsicht, dass sich solche Situationen im eigenen Leben häufen, kann das zu einem vertieften Selbstverständnis beitragen: „Es liegt darin eine eigentümliche Lässigkeit, und zwar in doppeltem Sinne: erstens im Sinne des Sichüberlassens an das, was sich da abspielt; zweitens im Sinne des Sichzurücklassens, nämlich sich, das eigent­ liche Selbst. In dieser Lässigkeit des sich zurücklassenden Überlassens an das, was sich da abspielt, kann sich eine Leere bilden. Das Gelangweiltwerden oder Sichlangweilen ist bestimmt durch dieses Sichbilden einer Leere im scheinbar ausgefüllten Mitmachen mit dem, was sich da abspielt.“139 Heidegger interpretiert die Leere, die zur Erfahrung der Langeweile gehört, aber nicht nur als Moment einer Stimmung, durch die sich uneigentliches Da­ seins erschließen lässt, sondern schreibt der Langeweile eine kollektive Dimen­ sion zu. Er sieht in der tiefen Langeweile die „Grundstimmung unseres Daseins“, des „Daseins heute“.140 Dabei grenzt Heidegger sein eigenes Vorgehen zwar von kulturphilosophischen Positionen seiner Zeit ab, der Verweis auf diese verwand­ ten Positionen legitimiert aber zugleich seine Krisendiagnose.141 Diese Krise hat auch für Heidegger eine anthropologische Dimension: „[D]ie recht verstandene Stimmung führt zu einer Überwindung der bisherigen Auffassung des Men­ schen.“142 In der Erörterung der ‚tiefen Langeweile‘ muss daher auch die Frage gestellt werden, wieso eine philosophische Auseinandersetzung mit dem We­ sen des Menschen ausbleibt: „Ist der Mensch am Ende sich selbst langweilig ge­ worden?“143 Der Grund für die Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Wesen ist nach Heidegger aber nicht kultureller, sondern metaphysischer Natur. Das 137 

Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 167. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 170. 139 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 180. 140 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 236. 141  Im Unterschied zur Kulturphilosophie geht es Heidegger nach eigener Aussage nicht um eine „Darstellung“ seiner Zeit. Untersuche man die eigene Gegenwart wie ein neutraler Beobachter, könne man die „heutige Lage“ nicht begreifen, sondern beschreibe sie immer nur als das „Ewig-Gestrige“, als einen „Zeitgeist“, der einen selbst nichts „angehe“. Heideg­ gers Vorlesung zielt hingegen darauf, eine Haltung zur eigenen Gegenwart zu ermöglichen, in der diese lebendig wird. Entscheidend ist zu diesem Zweck die „Weckung“ der „Grund­ stimmung“, vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 107–116. 142 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 154. Am Ende der Erörterung der tiefen Langeweile betont Heidegger diese Perspektive nochmals mit Emphase: „Nach dieser Grundstimmung fragen heißt aber, nicht die heutigen Menschlichkeiten des Menschen weiterhin rechtfertigen und betreiben, sondern die Menschheit im Menschen befreien, d. h. das Wesen des Menschen befreien, das Dasein in ihm wesentlich werden lassen.“ Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 248. 143 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 241. 138 

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

147

Nichts, das in der tiefen Langeweile kollektiv erfahren werde, gehöre zum Gan­ zen des Seienden. Die Aufgabe einer philosophischen Selbstbestimmung des Menschen müsse daher bei einer Fragestellung ansetzen, in der das durch die Langeweile erschlossene Nichts metaphysisch erfasst werde: „Die tiefe Lange­ weile, ihre Leergelassenheit, ist das Ausgeliefertsein an das sich im Ganzen ver­ sagende Seiende. Somit eine Leere im Ganzen. Wir fragen: Durchstimmt unser Dasein eine solche Leere im Ganzen? Leere – damit ist nach allem Bisherigen gemeint: nicht das völlige Nichts, sondern Leere im Sinne des Sichversagens, Sichentziehens, also Leere als Mangel, Entbehrung, Not.“144 Die verschiedenen Entzugserfahrungen, die die tiefe Langeweile auszeichnen, bilden für Heidegger eine ontologische Einheit. Das Nichts zeigt sich in der Langeweile einerseits als ein für alles Seiende kon­ stitutiver Entzug, es soll zugleich aber auch als die Not einer Gemeinschaft erfah­ ren werden können. Bei dieser Not handelt es sich um „das Ausbleiben eines we­ senhaften Bedrängnis unseres Daseins im Ganzen“.145 Anstatt diesen kollektiven Zustand zu kritisieren, will Heidegger der Stimmung Präsenz verleihen, in der der Entzugscharakter des Seienden besonders intensiv erfahren werden kann. Aus diesem Grund ist die Erörterung der Langweile nicht nur anschaulich, son­ dern auch sehr ausführlich gestaltet. Die Vorlesung schreitet absichtlich langsam voran. Es geht Heidegger dabei um ein „Nichtentgegenhandeln“,146 „Ausschwin­ genlassen“ und „Raum geben“.147 Die Darstellung der Tiefe der Langeweile erfor­ dert, dass sie als solche hingenommen wird. Gleichzeitig zielt Heideggers Vorge­ hen auf eine Art philosophischer Erweckung, die auf einen aktiven Nachvollzug auf Seiten der Hörer und Leser der Vorlesung angewiesen ist. Das „Wecken einer Grundstimmung“ besitzt einen medialen Aspekt: „Wecken: kein Feststellen ei­ nes Vorhandenen, sondern ein Wachwerdenlassen der Schlafenden.“148 Die tiefe Langeweile soll nach Heideggers Anspruch also nicht nur beschrieben und in ihre Strukturmomente differenziert werden, sondern zu einer philosophischen Initiation beitragen.149 Die Absicht ist jedoch in zweifacher Hinsicht problematisch. Erstens beinhal­ tet sie erneut eine Spannung zwischen theoretischem Anspruch und dem prak­ tischen Anliegen, eine philosophische Erfahrung so zu thematisieren, dass sie unmittelbar mitvollzogen werden kann. Wenn es stimmt, dass die tiefe Lange­ weile, wie Heidegger sie beschreibt, meistens verborgen bleibt, ist nicht davon 144 Heidegger,

Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 243. Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 244. 146 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 240. 147 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 123. 148 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 89. 149  Ferreira betont in seinen Ausführungen zu Stil und Aufbau der Vorlesung die „päd­ agogische Absicht“ Heideggers. Dass der Wechsel des „Suchens, Findens, wieder Verlierens, neu Ansetzens“ etc. auch zu einer performativen Darstellung der thematisierten Stimmung führt, arbeitet er jedoch nicht heraus. Vgl. Ferreira, Stimmung bei Heidegger, 191. 145 Heidegger,

148 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik auszugehen, dass sie während der Erörterung ihrer Struktur erfahrbar wird. Die strukturelle Latenz dieser Stimmung steht im Widerspruch zu der Absicht, sie evozieren zu wollen. Solange Heidegger die verschiedenen Strukturmomente der Langeweile und ihre metaphysische Bedeutung thematisiert, kann sie von Hö­ rern und Lesern der Vorlesung gerade nicht in der latenten Form erfahren wer­ den, die sowohl für den Alltag des Einzelnen als auch für das kollektive Dasein in der Moderne charakteristisch sein soll. Auf dieses Problem hat Heidegger auch selbst hingewiesen: „Alles Bewußtmachen bedeutet hinsichtlich der Stimmung ein Zerstören, in jedem Falle ein Verändern.“150 Die Erörterung einer Stimmung, in der sich die Zuhörer befinden, führt dazu, dass sich diese Stimmung verän­ dert. Wenn die Langeweile als sie selbst zur Geltung kommen soll, muss daher ein Umweg genommen werden. Obwohl das in Heideggers Vorlesung mehrfach geschieht, wird es von ihm bei der Beschreibung des eigenen Vorgehens nicht berücksichtigt. Um eine latente Stimmung nicht nur herauszuarbeiten, sondern ihre Erfahrung zu ermöglichen, muss eine Veränderung der Stimmung zuerst zugelassen werden, um dann von der veränderten zur ursprünglich thematisier­ ten Stimmung zurückzukehren zu können. Auf die Frage, wie sich das bewerk­ stelligen lässt, bietet die literarische Gestaltung von Heideggers Vorlesung eine praktische Antwort, die von Heidegger selbst allerdings theoretisch nicht einge­ holt wird. Das zweite Problem besteht in Heideggers Beschreibung der kollektiven und geschichtlichen Dimension der tiefen Langeweile. Ist die Langeweile nicht eine Stimmung, die zur Vereinzelung führt und deshalb gerade nicht gemeinschaft­ lich erfahren werden kann? Wenn Angst oder Freude geteilt werden, können sich diese dadurch verstärken. Das trifft für die Langeweile so nicht zu. Wer sich langweilt, ist vielmehr auf sich selbst zurückgeworfen. Das Moment der Verein­ zelung erscheint hier noch evidenter als bei der Angst. Ein Gespräch darüber, warum man sich in einer bestimmten Situation langweilt, führt in der Regel nicht dazu, dass man sich noch stärker langweilt. Erkennt man im Austausch mit anderen Menschen die Gründe für die eigene Stimmung, so freut man sich vielleicht sogar über diese Einsicht. Die Freude an der Erkenntnis unterbricht dann die Langweile. Die Interpretation der tiefen Langweile verändert daher die Stimmung derjenigen, die sich an ihr beteiligen. Wenn die Disposition, sich zu langweilen als ein verbindendes Element einer Gemeinschaft verstanden werden kann, führt die philosophische Erörterung eines solchen Zustands notwendig über die Situation der Langeweile hinaus. Durch die Interpretation der Lange­ weile schlägt diese also paradoxerweise in eine andere Stimmung um. Die in der Langeweile gewonnene Erfahrung des Nichts ermöglicht es, die „Freiheit des Da­ seins“ auf sich zu nehmen. 151 Die Langeweile wird so im Vollzug ihrer Erkennt­ 150 Heidegger, 151 Heidegger,

Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 92. Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 245.

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

149

nis überwunden. Denn die Freiheit besteht hier insbesondere darin, Fragen zu stellen, mit denen eine neue Stimmung verbunden ist: „Nur in solchem Fragen vermögen wir uns dahin zu bringen, daß sich entscheidet, ob wir den Mut auf­ bringen zu dem, was diese Grundstimmung uns zu wissen gibt.“152 Eine philosophische Auseinandersetzung mit der Stimmung der Langeweile hat also zur Folge, dass die geschichtliche Gegenwart nicht auf die Erfahrung dieser Stimmung festgelegt werden kann. Die T hematisierung der Langweile verändert nicht nur die Stimmung, sondern erlaubt es, auch diejenigen Formen der Langeweile zu kritisieren, die einer freien Selbstbestimmung des Menschen im Wege stehen. Dazu gehören aber keineswegs alle Formen der Langweile. Ge­ rade die tiefe Langeweile hat, als Erfahrung des Nichts, eine erschließende Funk­ tion für das Verständnis der Metaphysik. Philosophisch relevant ist die Lange­ weile demnach weniger als Schlüssel zum Verständnis der Moderne, sondern vor allem als eine Stimmung, die den Menschen, der sie erfährt, zur theoretischen Arbeit prädisponieren kann. Das Moment der Leergelassenheit in der Lange­ weile ist mit der Ruhe der T heorie verwandt.153 Neben der Langeweile gibt es jedoch auch andere Stimmungen, die eine phi­ losophische Funktion erhalten können. In den Beiträgen zur Philosophie tritt die Langeweile etwa ganz in den Hintergrund. Heidegger nimmt in dieser Ab­ handlung eine noch größere Distanz zur Tradition der Philosophie ein, als er das Ende der 1920er Jahre getan hatte und versucht sich in dem zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenem Text, durch einen experimentellen Sprachgebrauch und neue Wortschöpfungen weitgehend von dem vorgegebenen Rahmen meta­ physischer Begrifflichkeit zu emanzipieren. Anstelle der Stimmungen der Meta­ physik rücken daher diejenigen Stimmungen in den Mittelpunkt, die die Situa­ tion des Anfangens charakterisieren. In der in etwa zeitgleich mit den Beiträgen entstandenen Vorlesung Grundfragen der Philosophie aus dem Wintersemester 1937/38 geht Heidegger insbesondere auf den Anfang der griechischen Philoso­ phie ein. Die prominente Rolle, die das θαυμάζειν bei Platon und Aristoteles als Movens der Philosophie spielt,154 wird von Heidegger zum Anlass genommen, nach der „Grundstimmung“ der griechischen Philosophie zu fragen.155 Heideg­ ger orientiert sich dabei nicht an der Geschichte des Wortes in der griechischen Philosophie und Literatur, sondern interpretiert das θαυμάζειν als Stimmung des „Er-staunens“,156 wodurch sich der Begriff in den Kontext seiner Stimmungs­ theorie übertragen lässt. Durch die Setzung des Bindestrichs wird das Präfix ‚er‑‘ betont, es trägt hier die Bedeutung des Übergangs in einen Zustand. Der ‚Er-stau­ 152 Heidegger,

Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 248–249. Zur Langeweile als „Movens“ und „Methode“ des Philosophierens vgl. Jürgen Große, Philosophie der Langeweile, Stuttgart 2008, insbesondere 19–37. 154  Vgl. Platon, T heaitetos, 155d sowie Aristoteles Metaphysica A 2, 9b2–b11. 155 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 156. 156 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 156. 153 

150 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik nende‘ wird in den Zustand des ‚Staunens‘ versetzt. Die Erörterung verschiede­ ner Erscheinungsformen des Staunens soll es wiederum ermöglichen, die „innere Mannigfaltigkeit“ dieses Zustands zu erkennen.157 Heidegger geht dabei, ähnlich wie bei der Analyse von Angst und tiefer Langeweile, so vor, dass er das „Er-stau­ nen“ als das Wesen des θαυμάζειν von anderen Arten des Staunens abhebt.158 Die häufigste Art des Staunens nennt Heidegger „Sichwundern und Verwun­ dern“.159 Das, worüber man sich wundert, das „Verwunderliche“, beinhalte das „Merkwürdige“, „Absonderliche“, „Ausgefallene“, „Überraschende“ oder „Er-re­ gende“.160 Heidegger hat beim Verwundern dieselben Gesellschaftsphänomene im Blick, die bei der Erörterung der Langeweile als Formen des Zeitvertreibs he­ rangezogen werden.161 Das Verwunderliche wird gesucht, um sich von sich selbst abzulenken und als solches wird es von Heidegger auch kritisiert. Die „Erlebnis­ trunkenboldigkeit“ der Moderne sei ein Grund dafür, dass das, was wirklich staunenswert sei, durch die Masse überraschender und vermeintlich interessan­ ter Erlebnisse überdeckt werde,162 wofür Heidegger auch das „Kinotheater“ an­ führt.163 Die Neigung dazu, sich häufig über Dinge zu wundern, kann nicht nur dazu führen, dass jemandem beliebige Gegenstände als bemerkenswert erschei­ nen, sondern diese Tendenz macht auch das Sichwundern selbst zu etwas Ge­ wöhnlichen. Sofern das Staunen auf außergewöhnliche Dinge bezogen ist, sollte es eigentlich selten auftreten. Im Sichwundern geht somit ein wesentliches Mo­ ment des Staunens verloren. Anders verhält sich dies bei der Bewunderung. Durch den Ausdruck echter Bewunderung werde das Ungewöhnliche „eigens anerkannt und gewürdigt“.164 Im Unterschied zum Sichwundern tritt das Bewundern auch nicht notwendi­ gerweise inflationär auf.165 Von dem, was Heidegger als Er-staunen fasst, unter­ scheidet es sich allerdings dadurch, dass der Gegenstand des Staunens durch die 157 Heidegger,

Grundfragen der Philosophie, GA 45, 157. Vgl. Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 165–166. 159 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 157. 160 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 157. 161  Vorgeprägt sind diese Ausführungem in der Analyse der „Neugier“ als einer Ver­ fallsform des Daseins. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 226–230. 162 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 162. 163  „Denken wir flüchtig an das, was das Kinotheater fortgesetzt an Ungewöhnlichem bieten muß; dieses jeden Tag neu noch nie Dagewesene ist das Immergleiche an Gewöhn­ lichkeit.“ Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 158. In Aus einem Gespräch von der Sprache hat Heidegger, in der Figur des Fragenden, Interesse an dem japanischen Film Rashomon bekundet. Die Rolle des Kinos wird aber auch an dieser Stelle negativ bewertet. Vgl. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, 99–100. 164 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 164. 165  In bestimmten Bereichen findet aber genau das statt, was Heidegger beiläufig, ohne Kritik zu üben, konstatiert: „Sie [die Bewunderung] bleibt in ihren Grenzen notwendig. Was wäre ein Boxer oder ein Schauspieler ohne die Bewunderung?“ Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 164. Eine humorvolle Kritik der gesellschaftlichen Wertschätzung des Sports, z. B. in Gestalt eines „genialen Rennpferds“, das vom Phänomen der Bewunderung 158 

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

151

Bewunderung vereinnahmt wird: „Die Bewunderung – so ‚ganz‘ und so echt sie ‚hingerissen‘ ist von dem, was sie erfüllt, bringt es doch gerade immer zu einem Sichfreistellen gegen das Bewunderte, und dies in einem Maße, daß sogar in je­ dem Bewundern, trotz allem anerkennenden Zurücktreten vor dem Bewunder­ ten, so etwas liegt wie ein Sich-selbst-mit-zur-Geltung-bringen.“166 Wenn jemand seine Bewunderung ausspricht, sagt das nicht nur etwas über den Gegenstand der Bewunderung, sondern auch über den bewundernden Menschen selbst aus. Durch Lob oder Staunen teilt man seinen Mitmenschen die implizite Überzeu­ gung mit, die bewunderte Leistung bewerten zu können. In ästhetischen Fra­ gen kann das leicht in ein Lob auf den eigenen Geschmack umschlagen. Gegen eine derartige Vereinnahmung lässt sich der Gegenstand der Bewunderung nicht ohne weiteres schützen. In jedem Fall ist beim Bewundern das Urteilsvermögen des Bewundernden dem Gegenstand des Staunens übergeordnet, der Wert des Bewunderten hängt so von dem Akt der Bewunderung ab. Diese Abhängigkeit will Heidegger für seine Interpretation des θαυμάζειν ausschließen. Gegen das Bewundern grenzt Heidegger daher „das Staunen und Bestaunen“ ab, für das eine „Zurückhaltung der Stellungnahme“ charakteristisch ist.167 Die Zurückhaltung ist hier positiv konnotiert: „Das Ungewöhnliche ist jetzt nicht mehr nur das Andere, die erregende Abwechslung zum Gewöhnlichen, auch nicht nur das in seiner Ungewöhnlichkeit Anerkannte und dem Rang des Be­ wunderers Gleichgestellte. Das Staunen lässt vielmehr das Ungewöhnliche als das Außergewöhnliche hinaufwachsen in das, was das gewöhnliche Vermö­ gen überwächst und den Anspruch auf eine eigene Rangbestimmung in sich trägt.“168 Durch das stille Bestaunen, bei dem auf die Mitteilung der eigenen Be­ wunderung verzichtet wird, kann sich die Stimmung des Staunens vertiefen. Das Bestaunte erreicht dadurch eine neue Intensitätsstufe, es erscheint nicht mehr nur als „Ungewöhnliches“, sondern als „Außergewöhnliches“.169 Solange dieses aber in einzelnen Dingen gesehen wird, ist diese Art des Staunens von dem, was Heidegger als Wesen des θαυμάζειν bestimmt, immer noch verschieden. Die Grundstimmung des Er-staunens werde durch eine einzige Sache hervor­ gerufen, das „einzig Er-staunliche“ sei „das Ganze als das Ganze, das Ganze als das Seiende, das Seiende im Ganzen, daß es ist, was est ist; das Seiende als das Sei­ ende, das ens qua ens, τὸ ὂν ᾗ ὂν“.170 Es ist nicht unmittelbar einzusehen, wieso diese Begriffe alle dieselbe Sache bezeichnen sollen. Gemeinsam ist ihnen aber, dass es sich um ontologische Figuren handelt. Der Sinn des Seins überhaupt wird nicht weniger als die von Heidegger genannten Beispiele abhängig ist, findet sich in Musils Mann ohne Eigenschaften. Vgl. Robert Musil, Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, 46. 166 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 164. 167 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 165. 168 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 165. 169 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 165. 170 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 168.

152 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik von Heidegger jedoch nicht in die Reihe dieser Begriffe eingeordnet, woran sich erkennen lässt, dass er den Anspruch erhebt, dass sein eigenes Denken sich vom Anfang der griechischen Philosophie darin unterscheidet, nach dem Sinn des Seins überhaupt ausdrücklich zu fragen. Heidegger interpretiert die Stimmung des θαυμάζειν dementsprechend in Hinblick auf die Frage nach dem Wesen des Seienden. Im Er-staunen schlägt nicht nur die Sicht auf Einzelnes, sondern auf die Welt als Ganze um. Die selbstverständlich erscheinenden Dinge verlieren ihre Vertrautheit, das Seiende im Ganzen wird fraglich: „das Gewöhnlichste von Allem und Jeglichem und damit Alles selbst [wird] zum Ungewöhnlichsten“.171 Der Gegenstand des Er-staunens bleibt auf diese Weise rätselhaft und offen. So wird durch das Er-staunen der Entzugscharakter des Seienden als solcher aner­ kannt: „Die Grundstimmung des θαυμάζειν nötigt in die reine Anerkenntnis der Ungewöhnlichkeit des Gewöhnlichen.“172 Zugleich ermöglicht die Erfahrung dieser Grundstimmung es, die Frage nach dem Wesen des Seienden auf eine neue Art und Weise zu stellen. Das im Er-stau­ nen erschlossene Seiende wird nicht von seinem jeweiligen Wesen, sondern von dem Raum her verstanden, in dem es sich zeigt: „Dies was hier mit dem ‚als‘, dem qua, dem ᾗ benannt wird, ist jenes im Er-staunen auseinandergeworfene ‚Zwischen‘, das Offene eines noch kaum geahnten und bedachten Spielraumes, in dem das Seiende ins Spiel kommt, nämlich als das Seiende, das es ist, in das Spiel seines Seins.“173 Heidegger schreibt an dieser Stelle eigene Gedankenfigu­ ren in die Interpretation des θαυμάζειν ein. Dass er das philosophische Staunen und den Entzugscharakter seines Gegenstands so stark macht, entspricht seinem philosophischen Selbstverständnis: „[Das] denkerische Fragen ist nicht die zu­ dringliche und hastige Neugier des Erklärenwollens, sondern das vom Andrang des Sichenthüllenden überdrängte Ertragen und Aushalten des Unerklärbaren als solchen.“174 Durch diese emphatische Berufung auf das, was sich jedem ab­ schließenden Erklärungsversuch entzieht, bleibt die Philosophie über ihren An­ fang hinaus auf das Er-staunen angewiesen. Das Unerklärbare wird durch die Grundstimmung als solche erschlossen. Das Er-staunen gibt daher nicht nur Anlass zu Reflexion, sondern trägt die Fragen der Philosophie und gehört auf diese Weise zu ihrem Vollzug. In dieser Interpretation des Er-staunens wird der Anfang der griechischen Philosophie also nicht als historischer Moment gefasst, sondern vielmehr als ein Geschehen, das in die Gegenwart hineinwirken kann. In Beiträge zur Philosophie macht Heidegger aber gleichzeitig deutlich, dass er die geschichtliche Situation seines Denkens anders versteht als die der griechischen Philosophie. Seine Arbeit zielt darauf, das metaphysische Denken zu überwinden, das sich seiner Auffas­ 171 Heidegger,

Grundfragen der Philosophie, GA 45, 168. Grundfragen der Philosophie, GA 45, 171. 173 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 169. 174 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 182. 172 Heidegger,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

153

sung nach von dem griechischen Denken entfernt und dabei die entscheidenden Fragen und Grunderfahrungen überlagert hat.175 Zentral ist hier die T hese von der „Seinsverlassenheit“, der zufolge die Frage nach dem Sein nicht nur vergessen wurde, sondern sich das Sein in der Geschichte der Metaphysik selbst vom „Sei­ enden zurückgezogen“ habe.176 Das Er-staunen muss am Ende dieser Entwick­ lung gleichsam ausklingen, im „wissenschaftlichen Weltbild“ hat es keinen Platz. Die Frage nach dem Sein scheine dadurch bedeutungslos zu werden. Das führe einerseits zu einer Krise in der Philosophie, die zur „Weltanschauungsscholastik“ verflache,177 es entziehe aber auch der Religion ihre Grundlage. Die „Flucht der Götter“ müsse stattfinden, weil die Beziehung von Sein und Göttlichkeit nicht mehr erfahren werde.178 Mit dem fehlenden Sinn für die grundlegenden Fragen verschwinde aber auch die Kunst. An die Stelle der Werke träten in einer tech­ nisierten Gesellschaft „Scheingebilde historischer Geschicklichkeit“. Heidegger bezeichnet seine Gegenwart daher auch als die Zeit der „Kunst-losigkeit“.179 Die Gleichgültigkeit gegenüber diesen Entwicklungen gilt Heidegger als Zeichen ih­ rer Verschärfung. Wer die eigene Not nicht als solche erkennt oder nicht erken­ nen will, befinde sich in der „Not der Notlosigkeit“.180 In diesem Zustand seien die Menschen besonders anfällig für „totale Haltungen“ und Ideologien,181 die Denken und Handeln einer Gemeinschaft gerade deshalb vollkommen verein­ nahmen könnten, weil sie Verhaltensregeln vorschreiben, die den Einzelnen von der Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen entledigen.182 Daraus, dass dieses Moderneverständnis, das hier absichtlich verkürzt darge­ stellt ist, in gewisser Hinsicht selbst eine Vereinseitigung darstellt, wurde bereits im ersten Teil dieser Arbeit in Hinblick auf Heideggers geschichtsphilosophi­ sche Position im Kunstwerkaufsatz hingewiesen. Heidegger ist sich auch bewusst darüber, dass seine Position voraussetzungsreich ist. Er beschreibt die Beiträge zur Philosophie „als einen Weg, den ein Einzelner bahnen kann, unter Verzicht darauf, die Möglichkeiten anderer und vielleicht wesentlicherer Wege zu über­ 175 

Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 175–177. Beiträge zur Philosophie, GA 65, 111. 177 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 134. 178  „Der äußerste Gott bedarf des Seyns.“ Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 408. 179 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 506. 180 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 125. 181 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 41. 182  In dieser Hinsicht kritisiert Heidegger, obwohl er die Politik und ihr Verhältnis zur Metaphysik ansonsten weitgehend ausklammert, die Zusammenarbeit der christlichen Kir­ chen mit dem Nationalsozialismus: „Daß nun aber der totale politische Glaube und der ebenso totale christliche Glaube bei ihrer Unvereinbarkeit dennoch auf den Ausgleich und die Taktik sich einlassen, darf nicht verwundern. Dann sie sind desselben Wesens. Als to­ talen Haltungen liegt ihnen der Verzicht auf wesentliche Entscheidungen zugrunde. Ihr Kampf ist kein schöpferischer Kampf, sondern ‚Propaganda‘ und ‚Apologetik‘.“ Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 41. 176 Heidegger,

154 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik schauen“.183 Unabhängig aber davon, inwieweit Heideggers Überlegungen zur geschichtlichen Situation seines Denkens im Einzelnen überzeugen, müssen die genannten Entzugserfahrungen berücksichtigt werden, um die Stimmung zu verstehen, mit der Heidegger den anderen Anfang charakterisiert. Denn dem Er-staunen des ersten Anfangs stellt er das „Erschrecken“ gegenüber.184 Das Er­ schrecken ist das „[Z]urückfahren vor dem, daß das Seiende ist und daß dieses – das Seyn – alles ‚Seiende‘ und was so schien verlassen und sich ihm entzogen hat“.185 Da das Begreifen dieser Situation auf ihre Überwindung ausgerichtet ist, verbindet sich mit dem Erschrecken eine Stimmung, die aus der Erwartung ent­ steht, dass sich durch die Philosophie eine wesentliche Veränderung des Den­ kens ereignen kann. Diese Stimmung nennt Heidegger die „Scheu“.186 Die Scheu steht dem Vollzug des Denkens nicht entgegen, sondern entwickelt sich gerade bei diesem, sie charakterisiert die Zuwendung zu den Grundfragen der Philoso­ phie. Heidegger verweist bei der Beschreibung der Scheu in diesem Sinne auf das griechische Wort αἰδώς, das er als Scheu interpretiert, die den „Wagenden an­ fällt“.187 Die Herauslösung aus der Metaphysik, die für einen grundlegenden Ein­ stellungswechsel im Denken notwendig ist, lässt sich ohne diese Art der Scheu nicht gestalten.188 Als dritte und wichtigste Stimmung, die auf den anderen Anfang vorausweist, thematisiert Heidegger schließlich die „Verhaltenheit“.189 Sie wird als die „stim­ mende Mitte des Erschreckens und der Scheu“ eingeführt.190 Der Verhaltenheit wird diese besondere Stellung deshalb zugesprochen, weil sie im Denken gestal­ tet wird und nur aus diesem entstehen kann. Die Verhaltenheit ist der „Stil des Denkens“ im Übergang zum anderen Anfang.191 Weil die Sprache dieses Den­ kens von der Verhaltenheit geprägt ist,192 sind Scheu und Erschrecken immer mit 183 Heidegger,

Beiträge zur Philosophie, GA 65, 81. „Im Er-staunen, der Grundstimmung des ersten Anfangs, kommt das Seiende erstmals zum Stehen in seine Gestalt. Im Erschrecken, der Grundstimmung des anderen Anfangs, enthüllt sich hinter aller Fortschrittlichkeit und Beherrschung des Seienden die dunkle Leere, die Ziellosigkeit und das Ausweichen vor den ersten und letzten Entscheidun­ gen.“ Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 197. 185 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 15. 186 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 14. 187 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 162. 188  Aus diesem Grund wird die als „Sprung“ thematisierte Abstandnahme vom meta­ physischen Denken von Heidegger besonders durch die Stimmung der Scheu charakteri­ siert. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 227. 189 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 14. 190 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 16. 191 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 15. 192  Dass der Stil der Verhaltenheit in den Beiträgen ein wichtiges Anliegen für den Autor darstellt, deutet sich bereits am Epigraph des Texts an: „Hier wird das in langer Zögerung/ Verhaltene andeutend festgehalten/als Richtscheit eine Ausgestaltung.“ Der ganze Gedan­ kengang des Textes wird als „das in langer Zögerung Verhaltene“ angekündigt, und damit wird nicht nur auf die Verfügung zur posthumen Veröffentlichung angespielt, sondern auch 184 

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

155

ihr verbunden. Aus dieser Engführung von Grundstimmung und sprachlichem Stil ergibt sich zudem eine Nähe zwischen Kunst und Philosophie, die mit Hei­ degger als wechselseitige Angewiesenheit der beiden Bereiche zu interpretieren ist. Die „Verhaltenheit durchstimm[e] alle Bestreitung des Streites zwischen Welt und Erde“ und sie sei als „Stil“, „wenngleich kaum begriffen, besonders im Felde der Kunst sichtbar“.193 Die Kunst soll demnach von einer Verhaltenheit geprägt werden, die aus dem Denken entsteht. In ihrer sprachlichen Gestalt kann diese Grundstimmung in der Kunst noch intensiver erfahren werden als im Denken. Sie lässt sich aber wiederum nur durch das Denken in den Werken der Kunst er­ kennen und an ihnen herausarbeiten. Heidegger weist darauf hin, dass auch wenn die Verhaltenheit eine vermit­ telnde Funktion hat, die drei Grundstimmungen des anderen Anfangs keine Einheit bilden.194 Da der andere Anfang der Konzeption der Beiträge zufolge nicht in diesen selbst verwirklicht ist, wird offen gelassen, worin die Einheit sei­ ner Grundstimmung besteht. Erschrecken, Scheu und Verhaltenheit werden da­ her, wie sich einem Schaubild entnehmen lässt, zusammengenommen auch als die „Ahnung“ bezeichnet.195 An einer anderen Stelle kontrastiert Heidegger das Er-staunen des ersten Anfangs mit dem „Er-ahnen“ als Grundstimmung des an­ deren Anfangs.196 Der andere Anfang deutet sich im „übergänglichen Denken“, das ihn vorbereitet,197 durch Vorzeichen an. Das „Seyn“, das für ein neues Ver­ ständnis des Wesens des Seins steht,198 ist im übergänglichen Denken als Er­ ahntes präsent. Heidegger bezeichnet diese Präsenz auch als „Anklang“.199 An dieser Stelle kommt also wieder die in Bezug auf Heideggers Gedichtinterpreta­ tion erwähnte akustisch-musikalische Metaphorik ins Spiel. In Bezug auf dieses Moment differenziert Heidegger zwischen Erschrecken, Scheu und Verhalten­ heit wiederum so, dass er die ersten beiden als „Leitstimmungen des Anklangs“, letztere hingegen als dessen „Grundstimmung“ fasst.200 Diese Varianten in der Verhältnisbestimmung zwischen den Grundstimmungen des anderen Anfangs zeigen, dass es sich hier nicht um terminologische Festlegungen handelt. Heideg­ ger beschreibt denselben Gedankenzusammenhang aus verschiedenen Perspek­ auf die Stimmung der Verhaltenheit, die den Text dem Selbstverständnis des Autors zufolge prägen soll. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 1. 193 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 69. 194  „Für die Einheit dieser Stimmungen fehlt das Wort.“ Heidegger, Beiträge zur Philo­ sophie, GA 65, 14. 195  Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 14. 196 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 20. 197 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 5. 198  Die philosophische „Leitfrage“ nach dem Sein modifiziert Heidegger in den Beiträ­ gen zu der „Grundfrage“ nach der „Wahrheit des Seyns“, die es „geschichtlich“ zu „vollzie­ hen“ und „begreifen“ gelte. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA, 65, 6. 199 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 107. 200 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 107.

156 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik tiven, dabei verschiebt und modifiziert er die verwendeten Begriffe so, dass ihre Bedeutung beweglich wird und die Sprache in Gang gesetzt wird. Das Verhältnis von erstem und anderem Anfang wird von Heidegger nicht so beschrieben, als ob es sich bei diesen Anfängen um zwei voneinander unabhän­ gige Ereignisse handelte. Erster und anderer Anfang bilden vielmehr eine Ein­ heit, insofern sie zu dem „Er-eignis“ gehören, das Heidegger als das geschicht­ liche Wesen des Seyns fasst.201 „Das Anfängliche ist nie das Neue, weil dieses nur das flüchtig nur Gestrige. Der Anfang ist auch nie das ‚Ewige‘, weil er gerade nicht heraus- und weg-gestellt wird aus der Geschichte.“202 Anfänglich ist nur das geschichtliche Wesen des Seyns. Weil erster und anderer Anfang so auf das­ selbe bezogen sind, kann das Denken des anderen Anfangs sich am ersten An­ fang orientieren: „Weil jeder Anfang unüberholbar ist, deshalb muß er stets wi­ derholt, in der Auseinandersetzung in die Einzigkeit seiner Anfänglichkeit und damit seines unumgehbaren Vorgreifens gesetzt werden. Diese Auseinanderset­ zung ist dann ursprünglich, wenn sie selbst anfänglich ist, dies aber notwendig als anderer Anfang.“203 Die Bedeutung des ersten Anfangs wird nur durch seine philosophische Aneignung sichtbar. Bei aller Differenz zwischen den Ausgangs­ situationen des Denkens bleibt der andere Anfang auf die Seinsgeschichte be­ zogen, zu der auch der erste Anfang gehört. Mit der Hervorhebung des Unter­ schieds zwischen den beiden Anfängen zielt Heidegger paradoxerweise darauf, zu zeigen, dass sie auf dasselbe bezogen sind. Ein Unterscheid zeigt sich in der Rolle der Kunst für das Denken: „Anders als im ersten Anfang ist künftig das Verhältnis der Mächte, die zuerst die Wahr­ heit gründen, der Dichtung – und somit der Kunst überhaupt – und des Den­ kens. Nicht die Dichtung ist die erste, sondern Wegbereiter muß im Übergang das Denken sein. Die Kunst aber ist künftig – oder sie ist gar nicht mehr – das InsWerk-setzen der Wahrheit – eine wesentliche Gründung des Wesens der Wahr­ heit. Nach diesem höchsten Maß ist Jegliches zu messen, was als Kunst auftreten möchte – als der Weg, die Wahrheit seiend werden zu lassen in jenem Seienden, das als Werk den Menschen in die Innigkeit des Seyns entzückt, indem es ihn aus der Leuchte des Unverhüllten berückt und so zum Wächter der Wahrheit des Seyns stimmt und bestimmt.“204 Während in der antiken Philosophie die Kri­ tik am Wahrheitsanspruch der Dichtung ein wichtiger Ausgangspunkt für das philosophische Denken ist,205 soll im anderen Anfang also umgekehrt die Kunst

201 Heidegger,

Beiträge zur Philosophie, GA 65, 55. Beiträge zur Philosophie, GA 65, 55. 203 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 55. 204 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 190. 205  Vgl. die frühe Homerkritik bei Heraklit in Diels/Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 22 (Heraklit), B42 und B105 sowie die eminenten Passagen zur Dichtung bei Platon, Politeia, 376c-398b und 595a-608b. 202 Heidegger,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

157

durch das Denken vorbereitet werden.206 Das Denken des anderen Anfangs ist als eine Vorarbeit zu einer im vollen Sinne geschichtsstiftenden Kunst gedacht, wie sie im Kunstwerkaufsatz am Beispiel des griechischen Tempels erläutert wurde. Da Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie an der Orientierung an der griechischen Kunst festhält,207 soll sich auch in der „künftigen“ Kunst ein Rückbezug auf den ersten Anfang zeigen. Dieser Rückbezug wird von Heidegger in die Erörterung der Grundstimmun­ gen eingetragen: „Aber es wäre eine sehr äußerliche Auffassung dieser verschie­ denen Grundstimmungen, wollten wir im Er-staunen nur die aufflammende Lust und den Jubel sehen und das Erschrecken im Dunstkreis der Unlust und der Betrübnis und Verzweiflung suchen. So, wie das Erstaunen seine Art des Schreckens in sich trägt, so birgt das Erschrecken in sich seine Weise des Sich­ fassens, des gefaßten Standhaltens und des neuen Staunens.“208 Die Stimmun­ gen des ersten und des anderen Anfangs können nicht nur in die jeweils andere umschlagen, sondern der Umschlag liegt sogar in der Konsequenz ihrer inneren Dynamik. Mit dieser Einsicht kehrt in der Stimmungstheorie das heraklitische Motiv der Zusammengehörigkeit der Gegensätze wieder, das, wie im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, für Heideggers Kunstverständnis von zentraler Be­ deutung ist. Das Erschrecken wird aber nicht nur in spannungsvoller Relation mit dem Erstaunen gedacht, sondern von Heidegger auch mit der Stimmung des „Jubels“ zusammengebracht: Die „Not, als Grund der Notwendigkeit der Philosophie, wird erfahren durch das Erschrecken im Jubel der Seinszugehörigkeit, die als ein Winken die Seinsverlassenheit ins Offene rückt.“209 Zu der Erfahrung der Not gehört also eine doppelte Bewegung. Der Zustand der Seinsverlassenheit wendet sich im anderen Anfang zur Tätigkeit des Philosophierens. Mit dieser Wende vollzieht sich aber auch eine Modifikation der Grundstimmung. Das Er­ schrecken schafft den Raum für eine Freude an der ontologischen Erkenntnis, die sich bis zum Jubel steigern kann. Wie eine solche Erfahrung der „Seinszuge­ hörigkeit“ philosophisch geltend zu machen ist, bleibt an dieser Stelle offen. Die Grundstimmungen des sich im Übergang vollziehenden Denkens bleiben mit einer inhaltlich weitgehend unbestimmten Ahnung verbunden. Mit der Einheit von Erschrecken und Jubel ist schließlich ein Punkt erreicht, von dem allerdings deutlich gemacht werden kann, dass nicht nur Denken und Philosophie, son­ 206  Allerdings ist das „übergängliche Denken“ in der Weise, in der es von Heidegger gestaltet wird, stilistisch abhängig von der Dichtung, was Heidegger auch selbst reflektiert: „Das erste ist […] der Vor-sprung in das Dasein auf dem Wege der denkerisch sagenden Vorgestaltung; wenn nicht zugleich die große Dichtung zuhilfe kommt droht eine lange Ohnmacht des Denkens, zumal im Zeitalter der völligen Unkraft des Begriffes und Geltung des Lärms.“ Heidegger, Das Sein (Ereignis), 12. 207  Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 506–507. 208 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 197. 209 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 99.

158 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik dern auch Kunst und Dichtung in Heideggers Stimmungstheorie eine zentrale Funktion besitzen. 3.2.3. Die „Urstimmung“ der Schönheit und die Stimmungen in der Kunst Heidegger nimmt die Einheit dieser gegensätzlichen Stimmungen als einen An­ satzpunkt, um das Wesen der Schönheit zu bestimmen: „Die Urstimmung als die Innigkeit von Jubel und Schrecken ist der Wesensgrund der Schönheit. Der Schrecken ist als höchste und reinste Befremdung (nicht als grober und wüster Terror) das Berückende, wodurch alles anders wird, denn sonst – das Sonstige der Gewöhnlichkeit und Üblichkeit wird erschüttert.“210 Die Erfahrung von Schön­ heit wird hier als Entfaltung extremer Stimmungen beschrieben. Es geht Hei­ degger offenkundig um ein Ereignis, das das Potential besitzt, den Menschen zu überwältigen. Das kann durchaus in verschiedenen Lebensbereichen geschehen. Wenn sich eine solche transgressive Erfahrung des Schönen aber im Umgang mit Kunstwerken einstellt, muss das keineswegs dazu führen, dass der Mensch in eine rein passive Haltung versetzt wird. Denn durch die Verwandlung alles Alltäglichen eröffnen sich zugleich Erkenntnismöglichkeiten, die im Vollzug der Kunstrezeption realisiert werden können. Die Einheit von Jubel und Schrecken ist aber mehr als die Artikulation einer bestimmten ästhetischen Erfahrung, als „Urstimmung“ bildet sie ein Fundament der gesamten Stimmungstheorie Hei­ deggers. Die Rede von der „Innigkeit“ verweist implizit auf Hölderlins Inter­ pretation des heraklitischen λόγος, die, wie im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, für Heideggers Werkbegriff und den Streitcharakter der Kunst von ent­ scheidender Bedeutung ist.211 Wichtiger als die Charakterisierung der beiden Pole der Urstimmung ist für Heidegger die Struktur der differentiellen Einheit selbst.212 Die Urstimmung hält die konfligierenden Gemütsbewegungen so zu­ sammen, dass die Schönheit den gestimmten Menschen als solche überwältigt. 210 Heidegger, Das Sein (Ereignis), 10. In der Verbindung der „Schönheit“ mit dem „Schrecken“ klingt die erste Zeile von Rilkes Duineser Elegien an. Dass dieser Anklang nicht zufällig ist, sondern dem Autor bewusst war, lässt sich an einer Stelle aus dem bereits zitier­ ten Brief vom 19. März 1950 an Hannah Arendt nachweisen: „Wenn ich von ‚schön‘ sprach, dann dachte ich an Rilkes Wort, daß das Schöne nichts sei als des Schrecklichen Anfang, dachte an Hölderlins Gedanken, daß das Schöne die äußerst Entgegengesetzten ins Innige zu einigen vermöge.“ Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, Brief vom 19. März 1950, 90. 211  Vgl. Kap. 1.3.2.3. In den Notizen Das Sein (Ereignis) aus dem Jahr 1937 denkt Hei­ degger also genau das an, was sich bei der Interpretation des Kunstwerkaufsatzes als eine Leerstelle erwiesen hat. Er greift das in Hölderlins Hyperion formulierte, heraklitische Ideal der Schönheit als εν διαφερων εαυτῳ auf. 212  Das zeigt sich auch daran, wie Heidegger im weiteren Textverlauf die Bestimmung der Schönheit variiert: „Furchtbarkeit und Fruchtbarkeit (F und F) gehören zum Wesen der Wahrheit und nur deshalb kann ihre Grundgestalt die Schönheit werden als die berü­ ckende Entrückung.“ Heidegger, Das Sein (Ereignis), 9. Entscheidend sind also nicht die

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

159

Ιn seiner Vorlesung Der Anfang des abendländischen Denkens. Heraklit aus den Sommersemester 1943 erörtert Heidegger auch diejenigen Fragmente des Ephesers, in denen die Relation von Gegensätzlichem als ἁρμονίη thematisiert wird.213 In diesem Zusammenhang bestimmt er die Struktur der differenziellen Einheit erneut als den ontologischen Grund von Schönheit: „Die ἁρμονία: die Fügung, ist dort im reinen Scheinen ihres Wesens und lichtet sich dort unver­ sehrt, d. h. sie west dort als die Schönste, wo auch unversehrt das Aufgehen in das Sichverbergen sich birgt und dieses zumal im Aufgehen die reine Gewähr sei­ ner selbst findet.“214 Die Kunst kann als Ort eines solchen Geschehens begriffen werden. Insbesondere die musikalische Konnotation von ἁρμονία schließt Hei­ degger aber bereits zu Beginn seiner Interpretation aus: „Wir denken bei diesem Wort sogleich an die Fügung der Töne und fassen ‚Harmonie‘ als den ‚Ein-klang‘. Allein das Wesentliche der ἁρμονία ist nicht der Bereich des Klingens und Tö­ nens, sondern der ἁρμός, die Fuge, dasjenige, wobei eines in ein anderes sich ein­ paßt, wo beides in die Fuge sich fügt, so daß Fügung ist.“215 Auch wenn Heideg­ ger den etymologischen Ursprung des altgriechischen Wortes trifft,216 ist seine Abgrenzung gegen die musikalische Konnotation nicht überzeugend. So ist ein eminentes Beispiel, an dem Heraklit aufzeigt, was er unter ἁρμονίη versteht, die Lyra.217 Zudem verwendet Heidegger in seinen Vorlesungen zu Heraklit nicht zufällig gehäuft solche Ausdrücke, die von ‚klingen‘ abgeleitet sind.218 Seine In­ terpretation des heraklitischen λόγος ist, obwohl er das selbst nicht reflektiert, gerade durch den Rückgriff auf Metaphern aus dem akustisch-musikalischen Bereich gekennzeichnet. affektiven Inhalte der Stimmungen, sondern die Struktur der differenziellen Einheit und ihr Bezug zum Wesen der Wahrheit. Aus dem Text wird im Übrigen nicht deutlich, wieso das Fruchtbare als Stimmung begriffen werden sollte. Der phänomenale Gehalt des Wortspiels mit Furcht- und Fruchtbarkeit bleibt unklar. Im Unterschied zu Jubel und Schrecken wird dieses Begriffspaar bei Heidegger nicht systematisch ausgearbeitet. 213  Das Wort ist bei Heraklit in den Fragmenten B8, B51 und B54 überliefert. Vgl. Hei­ degger, Heraklit, GA 55, 141–154. 214 Heidegger, Heraklit, GA 55, 144. 215 Heidegger, Heraklit, GA 55, 141. 216  Das Wort ἁρμονίη – Heidegger verwendet die attische Form ἁρμονία – stammt ur­ sprünglich aus dem Bereich des Wagenbaus und wurde dann auf den Schiffsbau übertragen, wo es insbesondere für das Zusammenfügen von Planken steht. In klassischer Zeit wird es zu einem musikalischen Terminus technicus. Vgl. Christoph Kurt, Seemännische Fachausdrücke bei Homer, Göttingen 1979, 100. 217  Vgl. Diels/Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 22 (Heraklit), B51. 218  Besonders häufig kommt das Wort „Einklang“ vor, das Heidegger als Übersetzung für ἁρμονίη ausschließt. Er benutzt es insbesondere, um zu begründen, wie er die von He­ raklit überlieferten Sätze ‚zusammenfügt‘. Vgl. Heidegger, Heraklit, GA 55, 86, 141, 144, 153, 285, 295–297, 313, 315, 324, 370. Wenn es darum geht, auf den „Logos zu hören“, ist in der Vorlesung immer wieder auch von „Vorklang“, „Anklang“ und „Gegenklang“ die Rede. Vgl. Heidegger, Heraklit, GA 55, 102, 128, 245, 247, 298, 334; 211; 102, 128, 245, 247, 298, 334 und 401.

160 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Auch für das Stimmungsgefüge des anderen Anfangs spielt der Jubel, neben Schrecken und Erschrecken, eine wichtige Rolle. So kann der Jubel aus Einsicht in die Seinszugehörigkeit des Menschen entstehen: „Der Jubel aber (nicht die leere und oberflächliche lärmende Ausgelassenheit) ist das Entrückende, wo­ durch über das in der Befremdung erst als solches erscheinende Seiende hinweg die höchsten Möglichkeiten des Verklärten aufleuchten.“219 Im Jubel zeigt sich das Seiende so, dass auch das, was in ihm noch auf seine Verwirklichung wartet, sichtbar wird. Die Erkenntnis einer Sache und seine Verklärung fallen in dieser Stimmung zusammen. Die Verklärung, die in der Stimmung des Jubels stattfin­ det, ist demnach keine absichtsvolle Überhöhung, sondern die Erfahrung einer Sache, die sich in dem, was sie sein kann, als etwas Schönes zeigt. Die Schönheit ist eine Form der Transfiguration, die aber nicht zur Täuschung führt, sondern als Entbergungsgeschehen zu fassen ist. Der Jubel hat so eine kognitive Funk­ tion, in ihm wird etwas erkannt, was zum Seienden gehört, in der Regel aber unbemerkt bleibt. Diese Umstimmung beschreibt Heidegger als Standortwech­ sel: „Die Einheit jener Berückung und Einrückung ist das Wesen der Schönheit; die Wesung dieses Wesens aber ist das ursprünglichste Geschehnis der Wahr­ heit selbst.“220 Dass Heidegger für die Beschreibung dieser Bewegung auf die Ausdrücke ‚Be‑‘, ‚Ein‑‘ und ‚Entrücken‘ sowie das ‚Aufleuchten‘ des ‚Verklärten‘ zurückgreift, zeigt, dass seine Auffassung des Schönen von der platonischen Be­ stimmung des ἐκφανέστατον inspiriert ist.221 Da Heidegger zugleich den geschichtlichen Unterschied zwischen der plato­ nischen Philosophie und seinem eigenen Denken festhalten möchte, stellt sich ihm die Aufgabe, die Erfahrung des Schönen unter den besonderen Bedingun­ gen der Moderne zu reformulieren. Dazu gehört zunächst die Anerkennung spe­ zifischer Entzugsphänomene: „Denn nur wenn der Mensch aus dieser Not her­ kommt, bringt er die Notwendigkeiten zum Leuchten und mit diesen erst die Freiheit der Zugehörigkeit zum Jubel des Seyns.“222 Das Schöne wird hier gerade nicht als ein Rückzugsort in einer durch die Technik entzauberten Welt gedacht, sondern als etwas, das in der Auseinandersetzung mit Entzugsphänomenen über­ haupt erst entsteht. Die Stimmung des Jubels hat bei Heidegger zudem eine spiri­ tuelle Konnotation. Einerseits bezeichnet er „das Erscheinen der Götter“ als „Ju­ bel und Schrecken des Ereignisses selbst“.223 Andererseits charakterisiert er auch den Transzendenzverlust mit dieser Stimmung: „Der furchtbarste Jubel muß das

219 Heidegger,

Das Sein (Ereignis), 10. Das Sein (Ereignis), 10. 221  Vgl. dazu die Interpretation des platonischen ἐκφανέστατον als das „Hervorschei­ nendste“, „Leuchtendste“, „Fortziehendste“ und „Entrückendste“ in Heidegger, Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, 241–243. 222  Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 412. 223  Heidegger, Das Sein (Ereignis), 9. 220 Heidegger,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

161

Sterben eines Gottes sein.“224 Sowohl in der Beschreibung des Transzendenzver­ lusts als auch bei der angedeuteten Epiphanie wird der Jubel mit einer ihm ent­ gegengesetzten Stimmung verbunden. Die Einheit von Jubel und Schrecken ist demnach nicht von einem bestimmten religiösen Standpunkt abhängig, sondern gehört grundsätzlich zur Gotteserfahrung, wie sie von Heidegger in Beiträge zur Philosophie thematisiert wird. Auch der Entzug ist dabei eine Form der Präsenz. Die Abwesenheit des Göttlichen wird so beschrieben, dass dieses in einem Ge­ füge gegensätzlicher Stimmung präsent ist. Diese besondere Form von Präsenz wird von Heidegger an der Tätigkeit eines Suchens veranschaulicht, das durch die Stimmung der Ahnung motiviert ist. So schreibt er: „Das Suchen – was ist es anderes als das beständigste In-der-Nähe-sein zum Sichverbergenden, aus dem jede Not uns zufällt und jeder Jubel uns befeuert. Das Suchen selbst ist das Ziel und zugleich der Fund.“225 Die Gestimmtheit eines solchen Suchens, die zwischen Not und Jubel wechselt, wird hier somit als Eigenschaft des Gesuchten gedeutet. Dass Heidegger dem Jubel eine spirituelle Dimension zuspricht, lässt sich durch einen Blick auf die Begriffsgeschichte plausibilisieren. Wie Herbert Grundmann in seinem kenntnisreichen Festschriftbeitrag zum Jubel nachweist, sind ‚Jubel‘, ‚jubilieren‘ und ‚jubeln‘ erst im Kontext christlicher Literatur aus dem Mittellatein ins Deutsche gekommen.226 Während ‚jubilus‘, ‚jubilare‘ und ‚jubilatio‘ im Latein der Kaiserzeit noch als profaner Freudenausruf zu verstehen waren,227 werden sie in der Vulgata als Übersetzung für eine Reihe hebräischer Ausdrücke verwendet, die verschiedene Arten der Anrufung Gottes meinen.228 Bei Augustinus findet eine wirkmächtige Verknüpfung der theologischen und der profanen Bedeutung des Jubels statt. Er „gab ohne philologische Bedenken der biblischen jubilatio einen neuen, überschwänglichen Sinn. Nicht mit Wor­ ten (oder gar mit Hörnern), sondern mit dem Herzen singen, das ist ihm das Wesen des Jubels und das angemessenste Gotteslob. Denn Gott ist ineffabilis; sagen läßt sich nicht, was ihm gebührt. Noli quaerere verba, quasi explicare possis, unde Deus delectatur; in jubilatione cane! Was aber heißt das? Intelligere, verbis explicare non posse, quod canitur corde. Das Herz geht auf im Ausbruch der jauchzenden unsagbaren Freude, die sich mit Worten nicht ausdrücken und doch nicht verschweigen läßt, gleich dem profanen Erntejubel der Bauern und Winzer, den Augustin nur zur Verdeutlichung dessen schildert, was die wahre jubilatio meint.“ 229 224 

Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 230. Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 5 226  Vgl. Herbert Grundmann, „Jubel“, in: Benno von Wiese/Karl Heinz Borck (Hrsg.), Festschrift für Jost Trier zu seinem 60. Geburtstag am 15. Dezember 1954, Meisenheim 1954, 504. 227  Vgl. Grundmann, Jubel, 180–181. 228  Vgl. Grundmann, Jubel, 181–182. 229 Augustinus, MPL 37, 1272 zu Psalm 99, 2. Zitiert nach Grundmann, Jubel, 483. 225 

162 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Im Ausgang von Augustinus und Gregor I. wird die jubilatio in der christlichen Tradition dann als eine Form des Gebets verstanden, die im Kirchengesang mu­ sikalische Gestalt gewinnen kann.230 Seit der karolingischen Zeit stehen ‚jubi­ lus‘ und ‚jubilum‘ insbesondere für den „melismatischen Alleluja-Ausklang“ im Gregorianischen Choral.231 Über der letzten Silbe des Lobgesangs entspinnt sich eine Tonfolge, in der sich die Stimme vom Wort löst.232 Im Hochmittelalter ist der Jubilus schließlich zu „einem lebendigen Begriff religiöser Erfahrung, zum Inbegriff mystischer Verzückung“ geworden.233 Als solcher muss der Jubel auch nicht mehr laut erklingen, sondern kann ganz und gar verinnerlicht werden. Er bestimmt die Haltung des Betenden. Bernhard von Clairvaux hat in seinen Predigten über das Hohelied einen folgenreichen Vergleich gezogen: Der Name Jesu sei ihm „mel in ore, in aure melos, in corde jubilus“.234 Diese Formel ist in der christlichen Sakralmusik mehrfach aufgegriffen worden.235 Bei Richard von St. Victor wird der „jubilus cordis“ als „die dritte und höchste Stufe der Kontem­ plation“ bezeichnet, im verinnerlichten Jubel werde Gott geschaut. Grundmann resümiert: „Die jubilatio ist zur beseeligenden mystischen Gott-trunkenheit ge­ worden.“236 Wegen des Aufkommens einer „Sucht nach solcher Begnadung“ ha­ ben Tauler und Meister Eckhart wiederum gegen eine Überbewertung des Jubels argumentiert.237 Für die Einordnung von Heideggers Interpretation des Jubels ist besonders aufschlussreich, dass die Einheit dieser Stimmung mit ihrem Gegensatz bereits in der religiösen Literatur des Spätmittelalters thematisiert wurde. Im 14. Jahr­ hundert wird die „Gnade des Jubilus“ von mehreren Autorinnen der Frauenmys­ tik als eine Freude beschrieben, die zu groß sei, um sie ertragen zu können.238 David von Augsburg thematisiert den Jubilus als eine Stimmung, die ihn im Ge­ spräch überkomme, sie könne „das Herz so erfüllen und so erschüttern, daß unter ihrer Gewalt der Leib erzittert und sich wonniglich gekreuzigt fühlt“.239 Die Kreuzigung wird in dieser exaltierten Selbstdarstellung in eine angenehme Empfindung verwandelt verdeutlicht, womit die Dynamik gegensätzlicher Af­ fekte, die auch zu Heideggers Interpretation des Jubels gehört, auf die Spitze ge­ 230 

Vgl. Grundmann, Jubel, 484–485. Jubel, 487. 232  Vgl. Karlheinrich Hodes, Der Gregorianische Choral, Darmstadt 1979, 71–72. 233 Grundmann, Jubel, 498. 234  Vgl. Grundmann, Jubel, 499. 235  In leicht abgewandelter Form findet sich der Vergleich beispielsweise im Text von Heinrich Schütz O Jesu, Nomen dulce, SWV 308. Dort heißt es „in ore mel, in aure melos, in corde laetitia“. 236 Grundmann, Jubel, 500. 237  Vgl. Grundmann, Jubel, 507. 238  Vgl. Grundmann, Jubel, 506. 239  Fr. David ab Augusta, De exterioris hominis composition, Collegium S. Bonaventurae, Quaracchi, Brixen 1899, III, 64, 347 f. Zitiert nach Grundmann, Jubel, 504. 231 Grundmann,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

163

trieben wird. Dass das mystische Entzücken von David von Augsburg zudem mit Erschütterung, Schmerz und Zittern verglichen wird, lässt sich als ein Hinweis für die Interpretation von Heideggers Rede von der „Erzitterung“ nehmen, die in den Beiträgen als entscheidender Moment der Erfahrung des Göttlichen be­ schrieben wird.240 Das im Jubel Erfahrene erscheint als so gewaltig, dass es den Menschen im Innersten erschreckt. Heidegger hat seit seiner Gymnasialzeit regelmäßig die Bibliothek des Bene­ diktinerklosters Beuron benutzt und sich dorthin auch später mehrere Male zum Arbeiten zurückgezogen.241 Dabei nahm er, wie sich dem Briefwechsel mit Eli­ sabeth Blochmann entnehmen lässt, mit Begeisterung am Tagesablauf der mo­ nastischen Gemeinschaft teil.242 Der Jubilus der mittelalterlichen Musik sollte ihm also aufgrund eigener Hörerfahrung bekannt gewesen sein. Dafür spricht auch, dass er Karl Jaspers 1933 bei einem Besuch in Basel eine Schallplatten­ einspielung mit Gregorianischen Gesängen geschenkt und mit ihm gemeinsam angehört hat.243 Dennoch zieht Heidegger in seinen Texten keine Verbindung zwischen der mittelalterlichen Musik und der Stimmung, die mit der Begriffsge­ schichte des Jubels so eng verbunden ist. Diese Verbindung ist meines Erachtens aus zwei Gründen von sachlichem Interesse. Erstens ließen sich so die in erra­ tischer Kürze formulierten Überlegungen Heideggers zu Jubel und Erschrecken durch eine Interpretation musikalischer Werke, in denen sich die Einheit die­ ser beiden Stimmungen zeigt, durch konkrete Beispiele phänomenal ausweisen 240  Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 4, 239, 244, 395. Dennoch ist die Gotteserfahrung bei Heidegger nicht als eine Aktualisierung traditionell-christlicher oder gar spätmittelalterlich-mystischer Frömmigkeit konzipiert. Mit der Erörterung des Jubels erhält die Stimmungstheorie bei ihm nicht zuletzt die Funktion, sprachliche Mittel zu er­ proben, die es erlauben, religiöse Erfahrungen jenseits dogmatischer Systeme zu beschrei­ ben. Vgl. zum Ort religiöser Erfahrung in Heideggers Beiträgen Figal, Gottesvergessenheit, 145–162. Gleichzeitig sollte durch die aufgezeigten Parallelen zwischen der Stimmung des Jubels und dem mystischen Jubilus deutlich geworden sein, dass Heideggers Denken und sein Vokabular durch begriffsgeschichtliche Traditionen bedingt sind, die auch in die ei­ genwilligsten Entwürfe seiner Stimmungstheorie hineinwirken. 241  Einen Überblick über Heideggers Verbindung zu und seinen Aufenthalten in Beu­ ron bieten Elisabeth Büchin/Alfred Denker, Martin Heidegger und seine Heimat, Stuttgart, 2005, 28–34. 242 Vgl. Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, Hrsg. Joachim W. Storck, Marbach 1989, 32, 39–40, 43. In diesen Kontext passen auch die Kind­ heitserinnerungen Heideggers an die „Stundenschläge“ am Weihnachtstag, die er in Vom Geheimnis des Glockenturms schildert. Heidegger resümiert dort: „Die geheimnisvolle Fuge, in der sich die kirchlichen Feste, die Vigiltage, und der Gang der Jahreszeiten und die morgendlichen, mittäglichen und abendlichen Stunden jedes Tages ineinanderfugten, so daß immerfort ein Läuten durch die jungen Herzen, Träume, Gebete und Spiele ging – sie ist es wohl, die mit eines der zauberhaftesten und heilsten und währendsten Geheimnisse des Turmes birgt, um es stets gewandelt und unwiederholbar zu verschenken bis zum letzten Geläut ins Gebirg des Seyns.“ Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, GA 13, 115–116. 243  Vgl. Karl Jaspers, Philosophische Autobiographie, erweiterte Ausgabe, München 1977, 100.

164 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik und auf ihre Beschreibungskraft hin überprüfen. Zweitens würde so deutlicher, welche Funktion die Kunst und insbesondere die Musik für die Erfahrung von Stimmungen besitzt. Die Frage nach dieser Funktion gehört, auch wenn sie nicht ausdrücklich gestellt wird, in das Blickfeld von Heideggers Erörterung des Ju­ bels. Denn die „Urstimmung des schrecklichen Jubels“ charakterisiert nach Hei­ degger ausdrücklich auch die Bestreitung des „Streits von Welt und Erde“ und damit die Werke der Kunst.244 Wie der Jubel mit einer ihm entgegengesetzten Stimmung zusammenkommen kann, lässt sich aber nicht nur an der Sakralmusik, sondern auch an weltlicher Musik zeigen. In demselben Jahr, in dem Heidegger die Urstimmung der Schön­ heit als Einheit von Jubel und Schrecken bestimmt, komponiert Dmitri Schosta­ kowitsch seine Fünfte Symphonie, ein Werk, das von der Erfahrung des stalinis­ tischen Terrors geprägt ist. In seinen Memoiren schreibt Schostakowitsch zum vierten Satz der Fünften Symphonie: „Was in der Fünften vorgeht, sollte meiner Meinung nach jedem klar sein. Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen. […] So als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu: Jubeln sollt ihr! Jubeln sollt ihr! Und der geschlagene Mensch erhebt sich, kann sich kaum auf den Beinen halten. Geht, marschiert, murmelt vor sich hin: Jubeln sollen wir, jubeln sollen wir. Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören.“245 Folgt man Schostakowitschs Interpretation seines eigenen Werks, dann kann man in dem Finale der Fünften Symphonie eine Umkehrung dessen hören, was Heideg­ ger als Innigkeit von Jubel und Schrecken beschreibt. Bei Heidegger bilden diese beiden Stimmungen dergestalt eine Einheit, dass der Schrecken den Jubel modi­ fiziert. Der Jubel wird durch den Schrecken vertieft und kann dadurch als eine Stimmung gelten, die sowohl eine anspruchsvolle Erfahrung des Schönen als auch des Erhabenen ermöglicht. Bei Schostakowitsch ist hingegen die Stimmung des Terrors als Folge von Unterdrückung und Bedrohung primär. In seiner Musik entfaltet sich ein Jubel, der das Schreckliche nur überdeckt. Der Widerspruch zwi­ schen den beiden Stimmungen verschärft sich und gerade in dieser Verschärfung gewinnt dieser Satz seine spezifische Gestimmtheit. Es ist ein Triumphmarsch, der bis zum Ende ironisch gebrochen bleibt, er wird weder abgebrochen noch auf­ gelöst. Weil sich der vordergründige Jubel und der fundierende Schrecken paral­ lel zueinander entfalten, kann in der Rezeption der Musik die Stimmung des Zu­ hörers jeden Moment in die andere umschlagen. Der vordergründige Jubel ist brüchig und die damit einhergehende Verunsicherung hat hier nicht zuletzt auch eine befreiende Wirkung. Denn letztlich gehört zu einer Überwindung des Ter­ rors auch die Erfahrung des Umschlags. Der doppelbödige Jubel von Schostako­ witschs Musik kann so als Grund ihrer Schönheit interpretiert werden. 244 Heidegger, 245 

283.

Das Sein (Ereignis), 12. Solomon Wolkow (Hrsg.), Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch, Berlin 2000,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

165

Das Beispiel von Schostakowitschs Fünfter Symphonie zeigt, dass Heideggers Stimmungstheorie nicht nur allgemeine Ansätze für die musikalische Herme­ neutik bietet, sondern auch seine konkreten Beschreibungen von Stimmungen und ihrem Verhältnis zueinander instruktiv sein können. Wenn Heidegger aus­ drücklich auf die Grundstimmung von Kunstwerken eingeht, handelt es sich in aller Regel aber nicht um Musik, sondern um Gedichte. Ausgangspunkt ist dafür seine emphatische Beschäftigung mit Hölderlin. So zielt bereits seine erste Vor­ lesung zu Hölderlin aus dem Wintersemester 1934/1935 auf das „Wecken“ einer Grundstimmung. 246 Wie bei der Bestimmung der Metaphysik durch die Ana­ lyse ihrer Grundstimmung geht die Interpretation von Hölderlins Hymne hier in einen aktiven Nachvollzug über. In seiner Interpretation von Germanien ent­ wickelt Heidegger den Begriff einer „heilig trauernden, aber bereiten Bedräng­ nis“,247 mit dem er nicht nur die Grundstimmung dieses einzelnen Gedichts, sondern Hölderlins Dichtung im Ganzen beschreiben will. Heidegger legt dieses Gefüge von Stimmungsmomenten ausführlich aus und zeigt, wie in der ‚trauern­ den Bedrängnis‘ auch die Möglichkeit zur ‚Freude‘ mitschwingt.248 Dieses Poten­ tial kann nach Heideggers Verständnis in verschiedenen Gedichten unterschied­ lich realisiert werden. So spricht Heidegger in Bezug auf die siebte Strophe von Brod und Wein davon, dass dort „die heilige Trauer an völlige Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung grenz[e]“.249 Im Ereignisdenken der Beiträge zur Philosophie ergibt sich für Heideggers spä­ tere Hölderlininterpretationen die Notwendigkeit, die in der Interpretation von Germanien herausgestellte Grundstimmung in ein umfassenderes Geschichts­ bild einzuordnen. Während Heidegger in der ersten Vorlesung noch die Idee der „Götterflucht“ betont, sind in den Vorlesungen der 1940er Jahre die Mo­ tive der „Heimkehr“ und der „Ankunft“ zentral. In der Interpretation des Ge­ dichts Andenken identifiziert Heidegger Hölderlins Begriff des „Fests“ und die dazugehörige Stimmung mit seiner eigenen Konzeption des Ereignisses: „Das Ereignis ist das Festliche des Fests.“250 Die in Hölderlins Dichtung religiös kon­ notierte Vorstellung von Fest und Feier wird so als ein ontologisches Geschehen gedeutet. In der Stimmung des Festlichen wird auch Grundstimmung der Be­ drängnis aufgehoben, die Heidegger samt der entgegenwirkenden Bewegungen an der Hymne Germanien heraus gearbeitet hatte: „Weil das Festliche im Hei­ ligen sein Wesen hat, ist das Festliche auch anfänglicher als der Gegensatz von Freude und ­Trauer.“251 Das Fest wird von Heidegger als eine durch die Dichtung ermöglichte Begegnung zwischen Göttern und Menschen interpretiert, als ein 246 Heidegger,

Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 146. Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 140. 248 Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 147–151. 249 Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 148. 250 Heidegger, Hölderlins Hymne „Andenken“, GA 52, 77. 251 Heidegger, Hölderlins Hymne „Andenken“, GA 52, 77. 247 Heidegger,

166 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik „Brautfest“, das eine erneute Erfahrung des Göttlichen ermöglicht.252 So kann Heidegger auch die „Liebe“ als „stimmende Grundstimmung“ der Dichtung be­ zeichnen.253 Das Verhältnis zwischen den Menschen und den Göttlichen wird durch die Liebe vermittelt. Auch bei der Interpretation von Hölderlins Der Ister wird diese Stimmung ins Spiel gebracht, die Liebe erscheint hier in Hinblick auf Hölderlins Vorstellung von der „exzentrische[n] Bahn des Lebens“ allerdings nur als „Vorstufe“ zum Tod, der „eigentlichen Sphäre“ und „Mitte“ des Lebens.254 Die späten Hymnen Hölderlins, in denen das Motiv des Stroms besonders pro­ minent ist, werden von Heidegger auf die Zeitlichkeit des Daseins bezogen. Um die besondere Stimmung dieser Texte herauszuarbeiten, konzentriert sich Hei­ degger in seiner Erörterung von Der Ister dementsprechend auf die Funktion von Zeitworten. Die Hymne beginnt mit dem Wort „Jetzt“.255 Diesem Anfang korre­ spondiert der 15. Vers der ersten Strophe: „Hier aber wollen wir bauen.“256 Aus der Verbindung von ‚Hier‘ und ‚Jetzt‘, von zeitlicher und räumlicher Selbstveror­ tung, gewinnt das Gedicht eine spezifische Intensität, die Heidegger als „Datum“, „Gegebenes“, „Gabe“ und auch als „Ereignis“ beschreibt.257 Heideggers emphati­ scher Nachvollzug dieser Hymne erlaubt es ihm, die intensivierte Erfahrung der Gegenwart als deren „eigenen und einzigen Ton“ zu bezeichnen.258 Heidegger hat in Beiträge zur Philosophie Anmerkungen eingetragen, die do­ kumentieren, dass die erste Vorlesung zu Hölderlin für die Entwicklung seiner Stimmungstheorie entscheidend gewesen ist.259 Für den Kontext dieser Arbeit sind jedoch nicht die inhaltlichen Gesichtspunkte seiner Gedicht-Interpretatio­ nen maßgeblich,260 sondern vielmehr die dabei verwendeten Kategorien. Es ist entscheidend zu sehen, dass sich die stimmungstheoretischen Überlegungen, die Heidegger in der Auseinandersetzung mit Hölderlin entwickelt, auch auf andere Werke übertragen lassen. Heidegger selbst verwendet den Begriff der Grund­ stimmung nicht nur, um Hölderlins Gedichte zu interpretieren. So beschreibt er beispielweise Nietzsches Philosophie in der 1944/1945 gehaltenen und aufgrund der Kriegsendes abgebrochenen Vorlesung Einleitung in die Philosophie – Denken und Dichten von der „Grunderfahrung der Gott- und Weltlosigkeit“ her.261 Die­ 252 Heidegger,

Hölderlins Hymne „Andenken“, GA 52, 14. Hölderlins Hymne „Andenken“, GA 52, 188. 254 Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“, GA 53, 33. 255  Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“, GA 53, 3. 256  Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“, GA 53, 9. 257 Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“, GA 53, 8–9. 258 Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“, GA 53, 8. 259 Heidegger, Beiträge zur Philosophie – (Vom Ereignis), GA 65, 33, 396. 260  Für eine umfassende Darstellung von Heideggers Hölderlin-Interpretationen sei auf folgende Arbeiten verwiesen: Anja Solbach, Seinsverstehen und Mythos Untersuchungen zur Dichtung des späten Hölderlins und Heideggers Deutung, Freiburg/München 2008 und Peter Trawny, Heidegger und Hölderlin. Oder der europäische Morgen, Würzburg 2004. 261 Heidegger, Nietzsches Metaphysik/Einleitung in die Philosophie – Denken und Dichten, GA 50, 105. 253 Heidegger,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

167

ser Erfahrung entspreche die Grundstimmung der „Heimatlosigkeit“, die nach Heideggers Auffassung ausschlaggebend für das gesamte Denken Nietzsches ist.262 Um diese T hese zu belegen, zieht Heidegger Nietzsches 1884 ent­standenes Gedicht Der Freigeist heran, an dem ihn insbesondere die Schluss­strophe inter­ essiert: „Die Krähen schrei’n / Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: / – bald wird es schnei’n, Weh dem, der keine Heimat hat!“263 Der Wehruf wird von Hei­ degger als Klage des Autors verstanden, der stellvertretend an der Heimatlosig­ keit des modernen Menschen leidet und diesem Leiden im Gedicht Ausdruck verleiht. Heidegger interessiert sich allerdings weder für den Entstehungskon­ text des Gedichts noch für die spezifische Motivik des Vogelflugs, der „Krähen“, der „Stadt“, der „Wüste“, dem „Tor“ und der „Welt“, die in den vorangegangenen Strophen erwähnt werden.264 Das Gedicht ist für seine Nietzsche-Interpretation vielmehr deshalb relevant, weil es als eine Verdichtung einer Grundstimmung interpretiert werden kann, an der sich die vermeintliche „Seinsverlassenheit“ der Moderne aufzeigen lässt.265 Die Grunderfahrung dessen, was für Heidegger den Kern von Nietzsches Denken ausmacht, erscheint in dem Gedicht in kondensierter Form. Es kann demnach als ein Schlüssel zum philosophischen Werk verwendet werden, wo­ bei Heidegger vom Interpreten Nietzsches, nicht anders als vom Leser seiner eigenen systematischen Arbeiten, einen aktiven Nachvollzug des Denkens for­ dert: „Solange wir nicht aus der Grunderfahrung eines Denkers erfahren und auf seine Grundstimmung gestimmt sind, solange wir beides nicht von Grund auf ständig ursprünglicher beachten, solange bleibt jeder Versuch, das Denken eines Denkers mitzudenken, vergeblich.“266 Dieser Satz ist vor allem deshalb bemer­ kenswert, weil Heidegger sich in seinen Nietzsche-Interpretationen inhaltlich von dessen Position in aller Schärfe abgrenzt.267 Wenn Heidegger fordert, dass 262 Heidegger, Nietzsches Metaphysik/Einleitung in die Philosophie – Denken und Dichten, GA 50, 115–133. 263  Friedrich Nietzsche, Der Freigeist, KGW, hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Monti­ nari, Band 28, Gedichte und Gedichtfragmente. Herbst 1884 bis Herbst 1885, Berlin/New York 1974, 37. 264  Vgl. Nietzsche, Der Freigeist, 37. 265  Ein weiteres Beispiel dafür, wie Heidegger den Begriff der Grundstimmung für die Interpretation von Lyrik fruchtbar macht, findet sich in einem Briefwechsel mit Email Sta­ iger, der unter dem Titel Zu einem Vers von Mörike erschienen ist. Heidegger interpretiert dort Mörikes Gedicht Auf eine Lampe als Ausdruck einer „zurückblickenden Wehmut“. Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, GA 13, 103. 266 Heidegger, Nietzsches Metaphysik/Einleitung in die Philosophie – Denken und Dichten, GA 50, 105. 267  Heidegger kritisiert Nietzsche dafür, dass sich dieser durch den Versuch der „Um­ kehr des Platonismus“ gerade in dessen begriffliche Oppositionen „verstricke“. Vgl. Hei­ degger, Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, 251–262. Mit dem „Grundgedanken“ des Willens zur Macht habe Nietzsche die neuzeitliche Subjektphilosophie gerade nicht über­ wunden, sondern könne als „Vollender der abendländischen Metaphysik“ gelten. Vgl. Hei­ degger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis, GA 47, 1–12 und 267.

168 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik man Nietzsches Denken ‚mitdenken‘ solle, um es zu verstehen, schlägt er also genau genommen vor, einer Argumentation zu folgen, deren Grundannahmen er ablehnt. Folglich hat das Mitgehen mit dem Text und der Nachvollzug seiner Stimmung hier nicht mehr als eine heuristische Funktion. Sich von der Grund­ stimmung eines Textes stimmen zu lassen, sollte nicht dazu führen, ihre Be­ griffe und Positionen unkritisch zu übernehmen. Der aktive Nachvollzug der Stimmung dient lediglich dazu, die philosophische Position in ihrer konkreten Gestalt zu erkennen, der Nachvollzug erschließt den Gesamtzusammenhang der Argumentation. Sich stimmen zu lassen, ist in diesem Fall als eine Lesetechnik zu begreifen, die das Verstehen des Textes befördert. Wenn so ein vertieftes Ver­ ständnis gewonnen wird, kann sich der Leser, so wie Heidegger in seiner Nietz­ sche-Interpretation vorführt, zu den philosophischen Standpunkten kritisch ins Verhältnis setzen. Zu einer solchen Distanzierung gehört wiederum das Mo­ ment der Umstimmung, der Übergang in jene Stimmung, die zur Interpretation gehört und die sich von der Stimmung der interpretierten Texte unterscheidet. Heideggers Interpretation von Nietzsches Gedicht führt so wieder zu Fragen der philosophischen Hermeneutik. Die Rezeptivität für Stimmungen ist jedoch nicht nur in Hinblick auf das Textverstehen, sondern auch für das ästhetische Erleben relevant. Kunstwerke können qua Gestimmtheit verstanden werden. Wenn ein Zuhörer die Doppelbödigkeit des Jubels in Schostakowitschs Fünfter Symphonie spürt, dann hat er, selbst wenn er diese spezifische Stimmung nicht in Worte fassen kann, ein wesentliches Motiv dieser Musik verstanden. Heideggers Stimmungstheorie eröffnet neben dieser Rezeptionsperspektive aber auch eine Konzeption von Stimmungsproduktion. So erörtert Heidegger in seiner ersten Hölderlin-Vorlesung die „Entfaltung der Grundstimmung“ der Dichtung Höl­ derlins als ein „Sagen“.268 Dieses Sagen meint keinen einfachen Sprechakt, son­ dern die kreative Tätigkeit eines Autors, der ein poetisches Werk hervorbringt. Entscheidend für den Werkstatus eines solchen Textes ist, dass sich in seinen Worten, in seinem „Seyn“ und seinem „Innersten“ eine „Grundstimmung“ ent­ falte.269 Die Stimmung wirkt also primär im Werk selbst. Sie erschließt sich we­ der über eine Rekonstruktion der Gestimmtheit des Autors, noch ist sie als die Summe der Stimmungen zu betrachten, die sich in individuellen Rezeptionsvoll­ zügen dokumentieren. Vielmehr ist es umgekehrt die Gestimmtheit des Werkes, die für die Stimmungen, die in der Produktion wie auch der Rezeption auftreten, einen gemeinsamen Bezugspunkt bildet. Heidegger vertritt in Bezug auf Stim­ mungen also einen ontologischen Realismus. Insofern der Autor nach Heideg­ ger das „Seyn“ des Werkes selbst „stiftet“, ist er aber durchaus mitverantwort­ lich für die Produktion der Stimmung.270 Zugleich schreibt Heidegger, dass der 268 Heidegger,

Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 113. Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 162. 270  „Der Dichter stiftet das Seyn.“ Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 184. 269 Heidegger,

3.2. Heideggers Stimmungstheorie

169

Autor aus einer Stimmung heraus „spricht“, die selbst den „Grund und Boden be‑stimmt und den Raum durchstimmt, auf dem und in dem das dichterische Sagen ein Sein stiftet“.271 Die Funktion des Agens kommt also nicht dem Autor, sondern der Grundstimmung selbst zu. Das Dichten wird durch einen affektiv aufgeladenen Raum ermöglicht. Die Stimmungsproduktion erweist sich so als eine „generische Paradoxie“.272 Der Autor bringt in seinem Werk etwas hervor, was es zuvor als solches nicht gab, was aber zugleich die Grundvoraussetzung seines literarischen Schaffens bildet. Die Stimmung, die der Autor an einem Ort erfährt, versetzt ihn in die Lage, ein Werk zu schaffen, das dieselbe Stimmung vermittelt.273 Als Grundstimmung ist diese aber nur im Werk selbst zugänglich. Denn weder der Autor noch der Ort, dessen Erfahrung seine Produktion ermög­ licht, können diese Stimmung als Ganze repräsentieren. Aus dem Zusammenhang von Heideggers Stimmungstheorie erweist sich also im Bereich der Kunst das Werk als primärer Träger von Stimmungen. Zur forma­ len Geschlossenheit des Werkseins gehört eine intrinsische Gestimmtheit. Diese Einsicht entspricht der werkzentrierten Perspektive von Heideggers Kunstphi­ losophie.274 Der künstlerische Schaffensprozess kann somit nicht als die Ver­ mittlung einer bereits artikulierten Stimmung begriffen werden. Es handelt sich bei der Entfaltung von Stimmung im künstlerischen Schaffensprozess vielmehr um ein Emergenzphänomen, dessen Sinn sich erst rückblickend erschließt. Die Stimmung, die ein Künstler erfährt, wenn er ein Werk hervorbringt, ist in einem sozialen und geschichtlichen Zusammenhang zu verorten, aber nicht auf diesen zu reduzieren. Die Stellung eines einzelnen Künstlers in dem Kontext seiner Zeit ist nur durch die Auseinandersetzung mit der konkreten Gestalt seines Werks zu erschließen. Die Rezeption der Kunst und ihrer Stimmungen gestaltet sich zunächst individuell, kann aber darüber hinaus auch eine kollektive Dimension gewinnen. Der philosophische Interpret übernimmt in Heideggers Konzeption die Aufgabe der Kunstvermittlung. In der sachlichen Auseinandersetzung mit der Grundstimmung eines Kunstwerks geht er zwar von seinen eigenen Rezep­ tionserfahrungen aus, artikuliert diese aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um das gemeinschaftsstiftende Potential ausgewählter Werke für eine größere Hörer- und Leserschaft zu erschließen.275 Produktion, Rezeption und Werk sind 271 Heidegger,

Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 79. Vgl. zu dem an Luhmann anknüpfenden Begriff der „generischen Paradoxie“ und ihrer Verwendung in der Literaturwissenschaft: Hartmut Bleumer, „Gottfrieds Tristan und die ‚generische Paradoxie‘“, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 130 (2008), 22–61. 273  Ein solcher Ort kann geographisch, aber auch sozial oder geschichtlich bestimmt sein. Heidegger betont in dieser Vorlesung insbesondere dasjenige, was er als den geschicht­ lichen Ort von Hölderlins Hymnen und dessen nationale Dimension begreift. Vgl. Heideg­ ger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 213–214. 274  Vgl. Kap 1.1. 275  So setzt sich Heidegger in seiner ersten Hölderlin-Vorlesung das Ziel, „für das, was 272 

170 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik nach Heidegger demnach durch ein einheitliches Stimmungsgefüge charakte­ risiert. Der Varianz von Kunsterfahrungen, die sich auch in der Artikulation von Stimmung niederschlägt, kann seine Stimmungstheorie daher kaum gerecht werden. Zugute zu halten ist Heidegger jedoch, dass er solche Beispiele wie Hölder­ lins späte Hymnendichtung oder Nietzsches Gedicht Der Freigeist nicht auf eine Basisemotion reduziert. Ein Kunstwerk wird von Heidegger nie als bloßer Ausdruck von Angst, Freude, Trauer, Erschrecken, Ekel etc. gedeutet. Er ver­ sucht vielmehr ein Gefüge von Stimmungen herauszuarbeiten, das man, auch wenn er dies selbst nicht tut, als Grundlage nehmen könnte, um divergierende Rezeptionsvollzüge zu beschreiben. So ließe sich verständlich machen, wie sich etwa in einer christlich motivierten Hölderlin-Interpretation die Momente von ‚Bereitschaft‘ und ‚Freude‘ herauskristallisieren, während existentialistische Lesarten Stimmungen hervorheben, die mit Verlusterfahrungen einhergehen wie etwa ‚Trauer‘ oder ‚Hoffnungslosigkeit‘. Wenn die Gestimmtheit des Werks als ein Gefüge solcher gegensätzlicher Momente verstanden wird, können beide Rezeptionsvollzüge als Aneignung desselben Werks begriffen werden. Ebenso ließe sich auch einsichtig machen, warum einige Zuhörer die Fünfte Symphonie Schostakowitschs als ‚erschütternd‘, andere eher als ‚sarkastisch‘ empfinden. Eine so vielschichtige Grundstimmung wie die des ‚erzwungenen Jubels‘ ermöglicht durchaus unterschiedliche Zugänge zu demselben Werk. In dieser rezeptionstheoretischen Perspektive wird freilich das gemeinschaftsstif­ tende Potential von Kunst einer größeren Beschreibungskraft der Stimmungs­ theorie untergeordnet. Ausgangspunkt dieses Abschnitts war eine Bestimmung von Schönheit, die in der Kunst zur Erscheinung kommen kann. Die Kunst wird von Heidegger allerdings nicht als isolierter Bereich behandelt. Die nähere Betrachtung des Ju­ bels eröffnete auch eine spirituelle Dimension, die begriffsgeschichtlich unter­ sucht wurde. Dass Kunsterfahrungen und ihre Reflexion ein wesentliches Mo­ tiv für die Entwicklung von Heideggers Stimmungstheorie sind, steht jedoch in Anbetracht seiner Gedichtinterpretationen außer Frage. Heidegger sieht in diesem Kontext, abgesehen von einigen Hinweisen auf die Musikalität dichte­ rischer Sprache, keinen Zusammenhang zwischen Musik und Stimmung. Dass hier jedoch nicht nur ein Zusammenhang besteht, sondern dass die Musik für eine ästhetische T heorie der Stimmung zentral ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Zu diesem Zweck soll ein Kapitel der Rezeptionsgeschichte von Hei­ deggers Stimmungstheorie aufgegriffen werden, das bisher weder in der Heideg­ ger-Forschung noch in der philosophischen Ästhetik angemessene Beachtung gefunden hat. Es handelt sich dabei um einen hermeneutischen Ansatz des Mu­ Dichtung ist, erst wieder Raum und Ort in unserem geschichtlichen Dasein zu schaffen.“ Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 213.

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

171

sikwissenschaftlers Heinrich Besseler sowie den lange unveröffentlicht gebliebe­ nen Entwurf einer phänomenologischen Musikontologie von Günther Anders.

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie 3.3.1. Phänomenologische Musikwissenschaft bei Heinrich Besseler Der Musikwissenschaftler Heinrich Besseler wurde in den 1920er Jahren, am An­ fang seiner akademischen Karriere, sowohl im methodischen Zugang zum eige­ nen Fach als auch in seinem Verständnis des Stimmungsbegriffs, von Heideggers phänomenologischem Ansatz wesentlich beeinflusst.276 Besseler stand seit 1919 zusammen mit seinem akademischen Lehrer, Wilibald Gurlitt, im Austausch mit Husserl und Heidegger. Sie gehörten an der Freiburger Universität nicht nur derselben Fakultät an, sondern trafen auch bei Veranstaltungen wie dem von Gurlitt veranstalteten „Collegium musicum“ aufeinander, bei denen sie die Gele­ genheit dazu genutzt haben dürften, über die philosophischen Grundlagen her­ meneutischer Arbeit zu diskutieren.277 Gurlitt und Heidegger planten für das Wintersemester 1920/1921 unter dem Titel „Übungen zur phänomenologischen Grundlegung der Musikwissenschaft“ sogar eine gemeinsame Veranstaltung, die jedoch nicht zu Stande kam. In seiner 1923 verfassten und unveröffentlicht gebliebenen Dissertationsschrift Beiträge zur Stilgeschichte der deutschen Suite im 17. Jahrhundert nimmt Besseler Bezug auf Heideggers frühe Vorlesungen. Als Heidegger nach Marburg berufen wird, bleibt der Kontakt bestehen. Besseler besucht Heidegger im Sommer 1925 auf der Hütte in Todtnauberg. Es scheint durchaus denkbar, auch wenn diese Frage historisch noch zu klären ist, dass Hei­ degger seinem Kollegen in dieser Zeit Abschriften seiner Marburger Vorlesun­ gen zur Verfügung stellt. In den Vorlesungen Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (SS 1924) und Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (SS 1925) 276  Für die historischen Angaben zu der Beziehung von Heidegger und Besseler vgl. Rainer Bayreuther, „Art. Musikwissenschaft ‚Phänomenologische Grundlegung‘ einer Dis­ ziplin“, in: Dieter T homä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, 2. Aufl., Stuttgart 2013, 509–513 sowie Andrew Bowie, Music, Philosophy, and Modernity, Cambridge 2007, 289–308. 277  Willibald Gurlitt ist durch die Organisation der Konzerte des Collegium musicum ein wesentlicher Impulsgeber für die historische Aufführungspraxis von Barockmusik ge­ wesen, mit der Heidegger auf diese Weise in Berührung gekommen ist. Auch der Bau der „Prätorius-Orgel“ – nach Plänen des Komponisten, Organisten und Gelehrten Michael Prätorius (1571–1621) – in der Aula der Freiburger Universität und ihre Wiedererrichtung nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg geht auf Gurlitts Initiative zurück. Vgl. Hans Heinrich Eggebrecht, „Gurlitt, Wilibald“, in: Otto zu Stolberg-Wernigerode (Hrsg.), Neue Deutsche Biographie, Band 7, Berlin 1966, 330–331. In einem Brief vom 14. September 1925 erwähnt Heidegger, dass Gurlitt ihn zu einer „Aufführung von deutscher Barockmusik auf der Prätoriusorgel (Prätorius, Scheidt, Pachelbel, Buxtehude)“ im Rahmen des Collegium musicum eingeladen habe. Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 48.

172 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik hat Heidegger die wesentlichen Elemente für das in Sein und Zeit ausgearbeitete Verständnis der Befindlichkeit des Daseins ausführlich dargelegt.278 Diese Texte stellen den werkgeschichtlichen Nukleus für Heideggers Stimmungstheorie dar. Der Einfluss der Überlegungen, die Heideggers dort entwickelt, ist in zwei Auf­ sätzen Besselers nachzuweisen, die 1925 und 1926 entstanden sind und im jewei­ ligen Jahrgang des Jahrbuchs der Musikbibliothek Peters veröffentlicht wurden.279 In beiden Artikeln nimmt Besseler entscheidende Motive der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers auf und zeigt, dass diese in der Musikwissenschaft angewendet werden können. Auf die Frage, inwieweit sich der Sinn von Musik in der Interpretation ihrer jeweiligen Gestimmtheit erschließen lässt, gibt Besseler in den beiden Aufsätzen allerdings zwei unterschiedliche Antworten. In Grundfragen des musikalischen Hörens untersucht Besseler die Rezeption von Musik in Hinblick auf die jeweilige „Grundhaltung“, die mit den unter­ schiedlichen Erscheinungsformen der Musik und ihrer historischen Entwick­ lung verbunden ist.280 Besseler will auf diese Weise klären, wie die Musik im Hören „zugänglich“ wird.281 Er nimmt damit einen dezidiert phänomenologi­ schen Standpunkt ein. Sein Vorgehen hat jedoch auch kulturkritische Züge. Der Aufsatz zielt nicht nur darauf, verschiedene Gegebenheitsweisen musikalischer Phänomene zu beschreiben, sondern auch darauf, sie zu kritisieren und zu be­ werten. Das ‚Hören‘ der Musik wird von Besseler dabei als Teil einer umfassen­ deren, im menschlichen Leben situierten Rezeption von Musik gefasst, bei der es vor allem auf das Vollzugsmoment ankommt.282 Der eigentliche Gegenstand des Aufsatzes ist daher nicht, wie der Titel nahelegt, das Hören im engeren Sinne, sondern der Bezug der Musik zum Dasein. Besseler stellt explizit die Frage: „Wie 278  Zwar geht Heidegger schon in den frühen Freiburger Vorlesungen im Kontext le­ bensphilosophischer Überlegungen auf die Rolle von „Gefühlen“ ein. (Vgl. Heidegger, Phä­ nomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61, 138.) Erst 1924 aber gewinnt er – durch die Interpretation der aristo­ telischen Rhetorik – den Begriff der „Befindlichkeit“, der ihm später dient, um die kon­ stitutive Funktion von Stimmungen für die Weltlichkeit zu beschreiben. (Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 53–57). Die wesentlichen Überlegun­ gen zur Gestimmtheit des Daseins und der Grundstimmung der Angst, die den ersten Be­ reich seiner Stimmungstheorie ausmachen, entwickelt Heidegger nur ein Jahr später (Vgl. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, 391–406). Zum Begriff der „Befindlichkeit“ in den Vorlesungen der Marburger Zeit vgl. Christos Hadjioannou, „Befindlichkeit als retrieval of Aristotelian διάθεσις. Heidegger Reading Aristotle in the Marburg Years“, in: Tobias Keiling (Hrsg.), Heideggers Marburger Zeit, Frankfurt am Main 2013, 223–235. 279  Heinrich Besseler, „Grundfragen des musikalischen Hörens“, Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 32 (1925), 35–52 und Heinrich Besseler, „Grundfragen der Musikästhetik“, Jahrbuch der Musikbibliothek 33 (1926), 63–80. 280 Das „Musikleben“ ist immer „Ausdruck einer bestimmten musikalischen Grundhal­ tung“, Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 36. 281 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 36. 282  Vgl. Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 40, 42, 44.

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

173

steht das Musizieren im Zusammenhang des jeweiligen Daseins und seiner All­ täglichkeit?“283 Der Einfluss Heideggers wird auch dort deutlich, wo Besseler die Überzeu­ gung vertritt, dass die Musikwissenschaft unter den Bedingungen der Moderne eine neue Grundlegung erhalten müsse. Die moderne Musikwissenschaft könne sich nicht mehr auf „die Selbstverständlichkeit einer geschlossenen musikali­ schen Tradition berufen“.284 Strukturmerkmale, die für die europäische Musik über Jahrhunderte eine entscheidende Funktion besaßen, hätten ihre Verbind­ lichkeit verloren: „Heute vermögen wir Dinge wie den Dur-Moll-Gegensatz oder Konsonanz- und Dissonanzverhältnis nicht mehr als eigentlich prinzipiell an­ zusehen.“285 Besseler reflektiert, dass es in seiner Zeit eine Pluralität an verschie­ denen Musikrichtungen und -stilen gib, die es erschwert, allgemeine Aussagen über das Wesen der Musik zu treffen: „Heute noch unwandelbare Gesetze der Tonkunst verkünden zu wollen heißt nur, eine neue geistige Lage dadurch be­ kämpfen wollen, daß man sich ihr gegenüber blind stellt.“286 Diese Bescheidung des eigenen Erkenntnisanspruchs hängt sicherlich damit zusammen, dass Besse­ ler hauptsächlich historisch geforscht hat. Die Kategorien der musikhistorischen Forschung sollen nach seiner Auffassung jedoch nicht historistisch, sondern in der Orientierung an der eigenen Gegenwart gewonnen werden: „Wir können Ge­ schichte nur soweit deuten, als wir gegenwärtig noch in ihren Nebenwirkungen oder in verwandten Situationen leben. Auch für unsere besondere Frage bietet die Gegenwart bei genauerem Zusehen alles, was wir suchen.“287 Maßgeblich ist für Besselers Perspektive auf die Musikgeschichte vor allem die Unterscheidung zwischen „Gebrauchsmusik“ und „Kunstmusik“. Die Gebrauchsmusik umfasst nach Besselers Auffassung alle Arten von Mu­ sik, deren primärer Sinn in ihrer sozialen Funktion liegt. Besseler bezeichnet den Charakter dieser Musikform daher auch als einen „umgangsmäßigen“, wo­ mit er einen weiteren Ausdruck aus Heideggers Analyse des alltäglichen Daseins aufgreift.288 Als Beispiele für Gebrauchsmusik werden im Aufsatz Tanzmusik, Arbeitslied, Gesellschaftslied und Bekenntnislied angeführt und in kurzen Ab­ 283  In einer Fußnote zu dieser Frage fügt Besseler hinzu: „Entscheidende Anregung zu dieser Betrachtungsweise verdanke ich meinem philosophischen Lehrer M. Heidegger (Marburg)“, Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 45. Da Heidegger bei seiner Bewerbung um ein Extraordinariat in Göttingen auf die Vermittlung von Besselers akade­ mischem Lehrer Gurlitt hoffte, liegt es nahe, dass Besseler den sogenannten Natorp-Bericht kannte. In diesem Kontext ist auch die Fußnote in Heideggers Text zur „Hymnologie und Musik des Mittelalters“ zu sehen, Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aris­ toteles, GA 62, 370. Vgl. Rainer Bayreuther, „Art. Musikwissenschaft. ‚Phänomenologische Grundlegung‘ einer Disziplin“, 510. 284 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 36. 285 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 36. 286 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 36. 287 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 37. 288 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 46.

174 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik schnitten einzeln charakterisiert.289 Der selbstverständliche Umgang, welchen die Menschen mit solcher Musik gewöhnt sind, steht für Besseler im Kontrast zu der Situation des Konzerts, in der es allein darum geht, in konzentrierter Weise Musik zu hören. Während die Gebrauchsmusik zu einer aktiven Teilnahme ein­ lade, werden die Werke der klassischen Musik in der Regel in der passiven, „kon­ zerthaften Grundhaltung“ wahrgenommen.290 Das hat sowohl für die ästheti­ sche als auch die soziale Bewertung dieser Musikformen eine Reihe von Folgen. Mit der Gebrauchsmusik sei eine „grundsätzlich andere Zugangsweise“ zur Mu­ sik verbunden als mit der Kunstmusik: „Die Vollkommenheit der Wiedergabe soll [in der Gebrauchsmusik] demnach als unwesentlich gelten, die Zuhörer­ schaft nicht als unbegrenzte Masse in passiver Hingabe das Vorgeführte aufneh­ men, sondern als echte Gemeinschaft gleichgestimmter Einzelner der Musik in tätiger Haltung und Erwartung entgegentreten. Eine derartige Kunst wird somit stets einem festen Bedarf entsprechen, sich ihr Publikum nicht suchen, sondern aus ihm herauswachsen.“291 Der entscheidende Vorzug der Gebrauchsmusik vor der Kunstmusik liegt nach Besseler also nicht nur darin, dass sich ihr Vollzug partizipativ gestaltet, sondern dass sie darüber hinaus zu einer kollektiven Iden­ titätsbildung beitragen kann. Dass die „echte Gemeinschaft“, von der hier die Rede ist, aus „gleichgestimmten [sic!] Einzelnen“ bestehen soll, lässt die Funk­ tion von Stimmungen bei dieser Identitätsbildung erahnen, auch wenn Besseler die Gestimmtheit an dieser Stelle nicht terminologisch fasst. Auffällig ist auch, wie häufig Besseler das Wort ‚herauswachsen‘ verwendet, um die Entstehung und die Tradierung der Gebrauchsmusik zu beschreiben. So heißt es etwa: „Das echte Arbeitslied wächst aus dem Rhythmus der Arbeit he­ raus.“ 292 Solche Gebrauchsmusik dient dann nicht nur der kollektiven Identität, sondern kann auch als Erkennungsmerkmal einer Berufsgruppe interpretiert werden: „Wer von außen her derartige Musik hört, wird darauf nur mit der Fest­ stellung reagieren: ‚Das sind Holzfäller‘ und dgl.“293 Über die zum religiösen Be­ kenntnislied gehörige Grundhaltung schreibt Besseler: „Sie kann nur aus einer religiösen Ursprünglichkeit herauswachsen, ist also letztlich keine musikalische, sondern eine religiöse Frage.“294 In Formulierungen wie diesen schwingt ein Ge­ schichtsbegriff mit, der sich am organischen Wachstum orientiert, die Entste­ hung der Gebrauchsmusik wird hier gleichsam als natürlicher Prozess vorge­ stellt. In diesem Kontext erwähnt Besseler auch den Jazz und hebt sein innova­ 289 Besseler,

Grundfragen des musikalischen Hörens, 38–42. Grundfragen des musikalischen Hörens, 37. 291 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 37–38. 292 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 39. 293 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 40. Heute sind Arbeitslieder selte­ ner geworden, sodass man bei solchen Klängen im Unterschied zu den 1920er Jahren eher von einer Folkloregruppe ausgehen würde als vom Forstamt. 294 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 42. 290 Besseler,

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

175

tives Potential hervor. Insbesondere aufgrund der Tendenz zur „Improvisation“, der „Auflösung“ und „Veränderung“ repräsentiere der Jazz in der Moderne cha­ rakteristische Eigenschaften traditioneller Gebrauchsmusik.295 Die leibliche Dimension von Gebrauchsmusik wird an der Tanzmusik beson­ ders deutlich: „So verschmelzen auch die sonst fest umrissenen Einzelpersonen zu einer Art von rhythmisch-vitalem Kollektivdasein, durch das die Musik als verbindendes Element hindurchströmt.“296 Mit der Auflösung der Individualität klingt hier eine Erfahrung von Musik im Sinne von Nietzsches Begriff des Dio­ nysischen an. Das Hören im engeren Sinne spielt bei dieser Art von Musikrezep­ tion durchweg eine untergeordnete Rolle: „Man könnte das Leitenlassen der ei­ genen musikalisch-tänzerischen Aktivität allenfalls als Mithören bezeichnen.“297 Auch ästhetische Maßstäbe sind bei der Gebrauchsmusik und insbesondere der Tanzmusik von nachrangiger Bedeutung: Es komme nicht auf die „Klangschön­ heit der Wiedergabe, sondern auf lebendigen mitreißenden Schwung“ an.298 Ein Walzer von Johann Strauß sei in dieser Hinsicht mit „dem gegenwärtigen Schla­ ger vergleichbar.“299 Nicht der ästhetische Wert ist bei dieser Musikform also entscheidend, sondern ihre Einbettung in den Alltag: „Als Mittel zum gesell­ schaftlichen Austausch von Mensch zu Mensch geht somit die Musik hier im Dienst eines außermusikalischen Zusammenhangs auf.“300 Der Austausch soll aber nicht als absichtsvolle Kommunikation gedeutet werden, die Gebrauchsmu­ sik ist nach Besseler nicht als „Mitteilung“ oder „Ausdruck im engeren Sinne“ zu verstehen,301 sondern eher als Verstärkung einer bestehenden sozialen Struktur. Diesen Aspekt hebt Besseler noch einmal bei der Erläuterung des Gesellschafts­ lieds hervor: „[Es] erhält [seinen] Sinn im Ausdruck einer Gefühlsbindung. Zu­ gangsweise ist stets das Mitmachen, die Haltung völlig bestimmt vom Ethos der zugehörigen Gemeinschaft.“302 Hier werden die politischen Kohäsionskräfte von Gebrauchsmusik deutlich, die, was Besseler nicht reflektiert, in Hinblick auf pro­ pagandistische Verwendungsmöglichkeiten als höchst problematisch zu bewer­ ten sind. Zudem zeigt sich an dieser Stelle wieder eine Nähe von Besselers Über­ legungen zu Heideggers Stimmungstheorie. Heidegger spricht insbesondere der Grundstimmung von Hölderlins Dichtung eine kollektive Dimension zu, auch 295 Besseler,

Grundfragen des musikalischen Hörens, 38–39. Grundfragen des musikalischen Hörens, 38. 297 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 38. 298 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 39. 299  Und verallgemeinernd fügt Besseler hinzu: „Gebrauchsmusik kennt keinen Ewig­ keitsmaßstab, wird von vornherein nicht in der Absicht auf Dauer geschaffen.“ Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 39. Diese T hese erscheint allerdings gerade in An­ betracht von tradierten Walzern oder auch von Volksliedern und Balladen, die memoriale Funktionen erfüllen, nicht überzeugend. 300 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 39. 301 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 40. 302 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 41. 296 Besseler,

176 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik wenn diese nicht in Abhängigkeit von einem bestehen ‚Ethos‘ gedacht wird, son­ dern umgekehrt dieses Ethos erst hervorbringen soll.303 Das Ethos, das aus der Kunstmusik hervorgeht und die Musikrezeption sei­ ner Gegenwart prägt, wird von Besseler mit Nachdruck kritisiert. Er orientiert sich dabei an der Aufführungspraxis klassischer Musik und betrachtet deren Entwicklung in kulturkritischen Perspektive. Die Spezialisierung der Berufsmu­ siker, die konstante Steigerung von technischen Ansprüchen und Virtuosität, das „Vollkommenheitsideal der Aufführung“ die „Passivität des Publikums“, die Bewertung von musikalischen Darbietungen als „Leistung“ der Interpreten sind für Besseler alles Anzeichen einer Krise, die in einem geschichtlichen Verfalls­ prozess begründet ist.304 Zudem diagnostiziert er für die eigene Zeit eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber diesem Zustand: „Daß der [Konzert-]Betrieb äußer­ lich weitergeht, als wäre nichts geschehen, darf nicht darüber hinwegtäuschen: es ist ein leerlaufender Betrieb, dem die frühere Erlebnisschwere längst fehlt.“305 In dieser Stellungsahme besteht eine deutlich Nähe zu Heideggers Kritik am Er­ lebnisbegriff.306 Auch wenn diese Bewertung der musikalischen Praxis seiner eigenen Zeit übertrieben pessimistisch und einseitig wirkt, so sind die Gründe, die Besseler dafür anführt, doch in phänomenologischer Hinsicht bemerkenswert. Der Kon­ zertbetrieb impliziert nach Besseler eine Situation, in der zwischen der Musik und ihren Hörern eine spezifische Distanz entsteht. In der musikhistorischen Forschung ist es für Besseler daher entscheidend, die Genealogie dieser Distanz herauszuarbeiten, wofür er im Rahmen dieses Aufsatzes auf die Entwicklung der französischen Motette hinweist. Sie sei aus der sakralen Musik „entwach­ sen“ und anfangs noch auf das Mitsingen ausgelegt gewesen.307 Im Verlauf des Hochmittelalters wurde sie jedoch durch die zunehmende Gestaltung der Mehr­ stimmigkeit immer stärker zu einer festen kompositorischen Form und habe da­ bei den Charakter eines ästhetischen Gegenstands gewonnen: „Man erfasst die Musik als etwas Gegenständliches. Zwischen ihr und dem Hörer ist die bishe­ rige Verbindung gefallen und ein Abstand eingetreten, der es verbietet, sie ohne weiteres mit der eigenen inneren Aktivität zu überschwemmen. Man muß ‚still­ halten‘, um ihre unregelmäßige neue Gliederung zu erfassen. Sie tritt dem Hörer als etwas Eigenwilliges entgegen, das er nicht mehr sogleich mitvollziehen, son­ dern zunächst nur nachvollziehen kann. Bisher wurde das Werk unmittelbar von 303  So sei Hölderlin der „Dichter der Deutschen nicht [im Sinne eines] genitivus subiec­ tivus, sondern als genitivus obiectivus; der Dichter, der die Deutschen erst dichtet.“ Heideg­ ger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, 220. 304 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 38–39. 305 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 36. 306  Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 67 sowie Beiträge zur Philo­ sophie (Vom Ereignis), GA 65, 127–135. 307 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 48.

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

177

der Lebendigkeit des Musikers und seines resonanzgebenden Hörerkreises ge­ tragen. Aus dieser Einbettung in den Lebenszusammenhang erhebt es sich jetzt zu einem eigenständigen Dasein.“308 Die Musik wird in dieser Weise zu einer autonomen Kunstform. Besseler sieht in dieser Entwicklung zur „ästhetischen Gegenständlichkeit“,309 in der er eine Grundeigenschaft von Kunst überhaupt erkennt,310 eine Abkehr vom ursprünglichen Sinn der Musik. Die Entwicklung von Gebrauchsmusik zu Kunstmusik wertet er als eine Verfallsgeschichte. Besseler berücksichtigt allerdings auch, dass es Übergangsformen zwischen der Gebrauchsmusik und der Kunstmusik gibt, und dass sich musikalische Tra­ ditionen so entwickeln können, dass sich die zugehörigen Zugangangsweisen zu den überlieferten Werken und Produktionsformen verändern können. Während die geschichtlich maßgeblichen Gattungen der Gebrauchsmusik in der Moderne an Bedeutung verlieren, wird die Kunstmusik nicht nur im Konzert gehört, son­ dern dringt auch in den Alltag ein: „Für die Gegenwart fällt der Umkreis eigen­ ständigen Musizierens ungefähr mit dem zusammen, was man unter Kunstmu­ sik versteht, während die ‚Volksmusik‘ nur ein Teilgebiet des Umgangsmäßigen ausmacht. Die Musikgeschichte zeigt jedoch die bemerkenswerte Tatsache, daß auch die führende Kunstmusik sehr häufig rein umgangsmäßig bestimmt ist, 308 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 49–50. Vor dem Hintergrund der Stimmungstheorie Heideggers ist Besselers Unterscheidung zwischen „Mitvollzug“ und „Nachvollzug“ beachtenswert. Während Heidegger bei der Analyse von Stimmungen und der Interpretation von Gedichten immer darauf hinarbeitet, dass seine Zuhörer und Leser, die thematisierten Stimmungen nachvollziehen können – ein Ziel, dass, wie gezeigt wurde, in der stilistischen Gestaltung von Heideggers Texten performativ eingeholt wird – kommt das Nachvollziehen nach Besselers Verständnis der Musikrezeption immer schon zu spät. Eine existentielle Bedeutung spricht er der Musik nur zu, insofern sie aktiv ‚mitvollzogen‘ wird. Ob das die einzige Weise ist, in der Musik eine solche Bedeutung gewinnen kann und ob der Mitvollzug – wie Besseler schreibt – nur im Fall von Gebrauchsmusik möglich ist, ist fraglich. Denn die Rezeption von Kunstmusik kann sich durchaus partizipativ gestalten, jedenfalls in höherem Maße als in anderen Kunstformen. Musikalische Werke werden auch von Amateuren im privaten Rahmen gespielt. Das ist bei Literatur und bildender Kunst nicht in derselben Weise möglich. Literarische Werke ‚weiterzudichten‘ oder berühmte Bil­ der zu ‚kopieren‘, ist nicht mehr im gleichen Sinne wie bei der Musik als die Rezeption eines Werks im engeren Sinne zu begreifen. Weiterdichten oder Kopieren führen nicht notwendi­ gerweise zu einem tieferen Verständnis der Vorlage, sondern solche Praktiken dienen in der Regel Übungszwecken. Der besondere Mitvollzug von Musik wird, unabhängig von seiner konkreten Gestaltung, letztlich durch den rhythmischen Verlaufscharakter der Musik er­ möglicht. Musik erfordert eine Rezeption, die von der Zeitlichkeit des musikalischen Werks bestimmt wird. Da sich ein solcher Einbezug des Hörers nicht als Wirkung von Stimmun­ gen begreifen lässt, kann die besondere Nähe der Musik zum Phänomen der Stimmungen auch aus ihren Rezeptionsbedingungen hergeleitet werden. 309 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 50. 310  „Alle andere Kunst, deren Zugangsweise und Grundhaltung im Einzelnen ähn­ lich mannigfaltig ist, wie die der umgangsmäßigen Musik, tritt dem Dasein in irgendeiner Weise als in sich selbst gegründet, als eigenständig gegenüber.“, Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 46.

178 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik und daß im ganzen genommen das umgangsmäßige Musizieren viel weitere Ge­ biete und Zeiträume beherrscht als die nur vereinzelt auftretende eigenständig ausgeformte Musik.“311 An dieser Einschätzung, in der jener Bereich der Ge­ brauchsmusik so weit ausgelegt wird, dass er in historischer Perspektive auch die Kunstmusik umfassen kann, zeigt sich, dass die Aufwertung des Populären gegenüber der Kunst bei Besseler auch forschungspolitisch motiviert ist. Der kri­ tische Blick auf die Musiklandschaft der eigenen Gegenwart dient nicht zuletzt der Legitimation einer musikhistorischen Forschung, welche die soziale Funk­ tion der Musik hervorhebt. Eine Reflexion auf den alltäglichen Umgang mit Musik in der Moderne muss auch die Audiomedien einbeziehen. Durch Reproduzierbarkeit und kommer­ zielle Verbreitung der Musik verlieren die Erfahrung von Leiblichkeit und kon­ kreter Orte des Musizierens ihren vormaligen Stellenwert. Das Verhältnis der Musikrezipienten zu der Musik, aber auch ihr Verhältnis zueinander verändert sich mit der fortschreitenden Technisierung. Zwar wird insgesamt mehr Musik und auch eine größere Bandbreite an verschiedenen Musikrichtungen rezipiert und gehört, nach Besselers Einschätzung gibt es jedoch weniger verbindliche Er­ fahrungen, die dazu führen, dass die Musikhörer ein Gemeinschaftsgefühl ent­ wickeln. Der Einfluss der Technik auf die Musikrezeption ist für ihn daher ne­ gativ konnotiert: „Einem antiken Menschen wäre der Gedanke, das gesprochene oder gesungene Wort von einem Träger abzulösen, unverständlich und absurd erschienen. Für die abendländische Musik ist er die letzte, logische Konsequenz, nachdem das Konzert die leiblich-räumliche Verbundenheit bereits auf ein Min­ destmaß beschränkt hat. Mit dem Rundfunk ist das Publikum wirklich zur un­ begrenzten, völlig atomisierten Masse erweitert. Das Grammophon hebt auch noch die gemeinsame zeitliche Bindung auf.“312 Besseler übersieht hier freilich, dass sich gerade durch die Aufhebung dieser Bindungen der Wirkungsradius po­ pulärer Musik erhöht und die Ausdifferenzierung des Musikmarktes zu neuen Rezeptionsgemeinschaften führt, die ein starkes Identifikationsangebot für die Hörer darstellen. Rundfunk und Grammophon verstärken zwar die Tendenz zu einer passiven und individualistischen Grundhaltung in der Musikrezeption, die eigentlichen Gründe für die Vorherrschaft dieser Haltung in der Moderne sind jedoch nach Besselers Überzeugung in der Musikgeschichte zu suchen. Die aufkommende Konzertpraxis entzieht der Musik ihren umgangsmäßigen, alltäglichen Charak­ ter. Sie muss das tun, wenn sie bestimmten Hörererwartungen entsprechen und so zum Beispiel das Bedürfnis nach „Weltflucht“ befriedigen soll: „Es war bis vor kurzem und ist größtenteils noch heute eine Vorstellung von geradezu kanoni­ scher Allgemeingeltung, daß der höchste Sinn der Kunst darin beruhe, uns vom 311 Besseler,

312 Besseler,

Grundfragen des musikalischen Hörens, 48. Grundfragen des musikalischen Hörens, 37.

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

179

Alltag zu erlösen, für kurze Zeit in eine reinere, bessere Welt hinüberzunehmen und das Reich des Geistes der Freiheit schauen zu lassen.“313 Insofern die Kunst­ musik einer solchen Erwartungshaltung entsprechen kann, stellt sie für Besseler eine Verfallsform dar. Der Umschlag von Gebrauchsmusik in Kunstmusik ist al­ lerdings nicht als ein streng chronologischer Prozess zu verstehen, sondern kann sich in den jeweiligen musikalischen Praktiken und Kompositionsformen in un­ terschiedlichen Epochen immer wieder anders vollziehen. Wenn Besseler von einem „Vorrang der umgangsmäßigen Hörformen“ ausgeht und sich bei der Be­ stimmung des „Wesens des Musizieren“ an der Gebrauchsmusik orientiert, dann ist das nicht als eine Hypothese über die prähistorische Herkunft der Musik zu verstehen, es geht ihm vielmehr um den „sinnmäßigen Ursprung des Musizie­ rens“.314 Rezeption und Produktion der Musik fallen bei der Vorstellung eines vollkommenen Vollzugs in eins. Für Besselers Verständnis der Gebrauchsmusik ist der Bezug zu Heideggers hermeneutischer Phänomenologie daher von ent­ scheidender Bedeutung: „[D]as Musikalische wird uns ursprünglich zugänglich als eine Weise menschlichen Daseins, und zwar eines umgangsmäßigen, tätig ausstrahlenden Daseins.“315 Aber nicht nur der Zugang zur Musik, sondern auch der Diskurs über ihre Zugänglichkeit ist historisch bedingt. So sei die Klassik durch eine symbolische Auffassung der Musik charakterisiert. Das Publikum erwarte „Erlösung vom Alltag und sittliche Reinigung“, es bringe bei der Rezeption daher „kein positi­ ves Bemühen“ auf, sondern eine bloß passive „Hingabe“.316 Diese Grundhaltung wirkt sich nach Besseler auch auf die Werke dieser Epoche aus: „Aus diesem Grund kann auch von gemeinschaftsbildender Kraft des symphonischen Kunst­ werks keine Rede sein. Umgangsmäßiger Musik dürfte sie im hohen Maße zu­ kommen, aber der Versuch, von einer eigenständig gewordenen Kunst aus eine echte Gemeinschaft zu bilden, ist unter allen Umständen zum Scheitern verur­ teilt.317 313 Besseler,

Grundfragen des musikalischen Hörens, 45. Grundfragen des musikalischen Hörens, 46. 315 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 47. 316 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 51. 317 Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 52. Ob Symphonien an dem An­ spruch gemessen werden sollten, inwieweit sie eine ‚echte Gemeinschaft‘ hervorbringen können, erscheint aus heutiger Sicht zumindest fragwürdig. Die Rede von der ‚echten Ge­ meinschaft‘ ist höchst suggestiv und bleibt bei Besseler sachlich unterbestimmt. Denkt man hier an nationale Gemeinschaften, so lässt sich die Kontrastierung von Symphonie und Gebrauchsmusik so verstehen, dass beispielsweise Volkslieder bei der Ethnogenese nach Besselers Auffassung eine wichtigere Rolle spielen als Kunstmusik. Selbst wenn das zutref­ fend sein mag, sollte man nicht vergessen, dass gerade klassische symphonische Werke eine internationale Zuhörerschaft haben, die vielleicht nicht Besselers Vorstellung von einer ‚echten Gemeinschaft‘ entspricht, aber nichtsdestoweniger soziale Relevanz beanspruchen kann. Man denke etwa an Jugendarbeit und internationalen Austausch im Orchesterbe­ reich. 314 Besseler,

180 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Noch kritischer bewertet Besseler die „romantische Zugangsweise zur Mu­ sik“, die durch das „stimmungshafte und assoziative Hören“ gekennzeichnet sei.318 Sie scheint ihm den Zugang zum Umgangscharakter der Musik völlig zu verdecken: „Das Versinken in klangverhafteten Stimmungen und demgegenüber das literarisch-illustrative Umdeuten musikalischer Bewegung könnte uns fast vergessen lassen, was Musik ihrem ursprünglichen Sinne gemäß bedeutet.“319 Dass musikalische Stimmungen auch von der Grundbefindlichkeit des Daseins her begriffen werden könnten, hat Besseler an dieser Stelle nicht in Erwägung gezogen. Ob er mit Heideggers Interpretation der aristotelischen Rhetorik sowie der Analyse der Grundbefindlichkeit des Daseins noch nicht in Berührung ge­ kommen war oder die Relevanz für seine eigenen systematischen Überlegungen nicht erkannte, lässt sich an dieser Stelle nicht klären. Festzuhalten ist in jedem Fall, dass Besselers Kritik am romantischen Hörverhalten in diesem Aufsatz eine historisch bedingte Form von Musikrezeption betrifft und hier gerade keine Re­ zeption von Heideggers Stimmungsbegriff vorliegt. Ebenso sollte deutlich ge­ worden sein, dass die Orientierung an der Gebrauchsmusik eine Aufnahme von Heideggers stimmungstheoretischen Ansätzen in systematischer Hinsicht grundsätzlich nahelegt. Bereits ein Jahr später, in seinem Aufsatz Grundfragen zur Musikästhetik, fin­ det genau diese Aufnahme statt. Auch in diesem Text betont Besseler zunächst seinen phänomenologischen Standpunkt: „Ursprung und einzig entscheidende Instanz für eine phänomenologische Untersuchung sind nur die musikali­ schen Phänomene selbst, die sich jederzeit anschaulich aufweisen und prüfen lassen.“320 Diese methodische Orientierung an der Phänomenalität der Musik ist für die Musikwissenschaft nicht selbstverständlich, es gibt jedoch auch Zeit­ genossen Besselers, wie Paul Bekker, die einen ähnlichen Ansatz vertreten. Bes­ selers Ausrichtung an der Phänomenologie ist allerdings insofern besonders, als er, im Anschluss an Heideggers Analyse des Daseins, den Vollzugssinn von Musik betont: „Musik ist nur, wenn und sofern sie vollzogen wird.“321 Dement­ sprechend kritisiert er Paul Bekker dafür, dass dieser von der Musik als einer 318 Besseler,

Grundfragen des musikalischen Hörens, 52. Grundfragen des musikalischen Hörens, 52. 320 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 65. Die phänomenale Gegebenheit der Musik erscheint hier als das Faktum, das die musikwissenschaftliche Forschung nicht nur ermöglicht, sondern ihr verbindliches Fundament bildet. Besselers T hese lässt sich als be­ reichsspezifische Übertragung von Husserls „Prinzip aller Prinzipien“ lesen, das besagt, „daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich und in der ‚Intuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt“. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Husserliana III.1, 51. 321  Und weiter heißt es: „Sie kann intensiv, flüchtig, mißverständlich oder adäquat voll­ zogen werden: dergleichen messen wir nicht an der Idee dieser Musik, sondern höchstens an der Idee des ‚sie-vollkommen-Vollziehens‘.“ Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 319 Besseler,

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

181

besonderen Form der „Klangempfindung“ und damit von einem isolierten Ge­ genstand der Wahrnehmung ausgehe.322 Besseler hingegen versteht Musik aus­ drücklich als eine „Weise menschlichen Daseins“.323 Diese anthropozentrische Perspektive hat zwei systematische Konsequenzen. Erstens kann Besseler Musik so nur von ihrem unmittelbaren Vollzug her be­ greifen. Zweitens muss er Notation und Reproduktion als Formen der Reifi­zie­ rung aus dem Bereich musikalischer Phänomene im engeren Sinn ausschließen: „Sowenig ein Manuskript oder Notendruck Musik ist, sowenig handelt es sich um Musik, wenn ein Grammophon oder ein mechanisches Klavier in einem menschenleeren Raum zu spielen beginnt.“324 Die bereits im vorangegangen Aufsatz entwickelte medienkritische Perspektive wird hier also ontologisch ra­ dikalisiert.325 Neu ist Besselers explizite Bezugnahme auf Heideggers Programm der Destruktion: „[E]ine methodisch zu verantwortende Kritik der Grundbe­ griffe hätte deren Geschichte rückwärts zu verfolgen, ihre Mißverständnisse, Umdeutungen und Verholzungen aufzuweisen, dem Zusammenhang mit künst­ lerischen und philosophischen Grundpositionen nachzuspüren, um vielleicht schließlich zu den Quellen ursprünglicher Anschauung vorzudringen. Es wäre die kritische Geschichte der Musikästhetik, die uns noch völlig fehlt.“326 Wäh­ rend Besseler im Aufsatz über Grundfragen des musikalischen Hörens seine kul­ turkritische Perspektive auf die eigene Gegenwart mit der Verfallsgeschichte mu­ sikalischer Grundhaltungen begründet, wird die Ar­gu­men­ta­­tionsrich­tung nun umgedreht. Die Destruktion moderner Analysekategorien soll die ursprüng­ lichen Grundhaltungen musikalischer Praxis zugänglich machen. Bemerkens­ wert ist, dass Besseler mit diesem Vorgehen auf ein systematisches Verständnis von Musik zielt, das in einem zweiten Schritt als Grundlage einer „Ästhetik“ dienen könnte.327 65. Diese Differenzierung verschiedener Vollzugsweisen ist insofern interessant, als mit ihr auch die Möglichkeit mißlingender Musikrezeption bedacht wird. 322 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 65. Vgl. Paul Bekker, Von den Naturreichen des Klanges. Grundriss einer Phänomenologie der Musik, Stuttgart/Berlin 1925, 9. 323 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 65. 324 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 65. 325  Besseler vernachlässigt dabei den Umstand, dass die Musikrezeption immer schon durch kulturelle Artefakte vermittelt ist. Notation und technische Reproduktion machen die Musik in einer bestimmten Weise erfahrbar. So kann für geübte Musiker das Lesen einer Partitur auch einen lebendigen Mitvollzug darstellen. Die Möglichkeit des Vollzugs ist hier durch die Notation gegeben, sie lässt sich daher in phänomenologischer Hinsicht durchaus als musikalisches Phänomen begreifen. 326 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 63. Vgl. zur methodischen Grundlage dieser programmatischen Erklärung: Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 62, 371. 327  Die Musikontologie ist hier als Bedingung für die Entwicklung einer Musikästhetik gedacht. Zugleich betont Besseler, dass die disziplinären Zuordnungen und die Trennung von Forschungsrichtungen ihn nicht interessieren: „Uns bewegt nur die eine Frage, welche Bewandtnis es mit der Musik hat.“ Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 65.

182 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Den Ausgangspunkt für dieses Vorgehen bietet der „Gegensatz von seelenhaf­ ter und sachlicher Musik“.328 Dieser betreffe nicht nur die zeitgenössische Mu­ siklandschaft, sondern habe sich in der Musikgeschichte als Wechsel zwischen „spezifisch ausdrucksvolle[m] Musizieren“ und „neuer Sachlichkeit“ mehrfach wiederholt.329 Für die historische Kritik dieser Opposition ist zu beachten, dass die Ausdrucksästhetik im engen Zusammenhang mit dem Musikverständnis der Romantik steht.330 Besseler will sich deshalb von der romantischen Position abgrenzen, indem er den ‚Ausdruck‘ nicht vom Modell sprachlicher Mitteilung, sondern vom Daseinsvollzug her versteht.331 Er rekurriert zu diesem Zweck zu­ nächst auch auf den alltäglichen Sprachgebrauch: „Die traditionelle Ästhetik hat uns so sehr daran gewöhnt, Musik als Ausdruck von Gefühlen, Stimmungen, Ideen usw. zu bezeichnen, daß wir uns erst darauf besinnen müssen, wie wenig solche Redewendungen mit dem naiven Sprachgebrauch übereinstimmen. […]. Es fällt doch niemandem ein, etwa zu sagen: ‚Dieses Stück ist Ausdruck einer beschaulichen Stimmung‘ oder: ‚Diese Musik drückt tiefe Trauer aus‘ – derglei­ chen steht nur in Konzertführern und Lehrbüchern der Ästhetik – , wir sagen: ‚Diese Musik stimmt mich traurig‘ oder: ‚Er spielt ohne Ausdruck‘. Im Begriff „Ausdruck“ laufen also in musikalischer Hinsicht mindestens zwei Bedeutun­ gen zusammen, die miteinander so wenig zu tun haben wie eine „ausdrucksvolle Musik“ mit einer „Musik als Ausdruck von etwas.“ Die Frage, ob sich Musik als Ausdruckshafte verstehen lässt, hängt für Besseler also vom Verständnis von ‚Ausdruck‘ ab. Wenn der Ausdruck die Vermittlung eines Gehalts bezeichnet, der von dem musikalischen Werk und seinem Hörer unabhängig ist, dann ver­ fehle der theoretische Ansatz beim Ausdruckhaften das Wesen der Musik. Dem­ gegenüber will Besseler die musikalische Praxis als einen kollektiven Daseins­ vollzug fassen, in dem das Ausgedrückte, der Vorgang des Ausdrückens und sein Verständnis durch den Musikrezipienten zusammenfallen.332 Diese Vorstellung 328 Besseler,

Grundfragen der Musikästhetik, 66. Grundfragen der Musikästhetik, 67. 330  Vgl. zur Entwicklung der Ausdrucksästhetik in der deutschen Romantik. Carl Dahl­ haus, Musikästhetik, Köln 1967, 28–32. 331  Den Begriff des Ausdrucks problematisiert Besseler bereits im Aufsatz über die Grundfragen des musikalischen Hörens. Er grenzt sich auch dort gegen ein instrumentelles Kommunikationsmodell ab und begreift den Ausdruck vom kollektiven Dasein her. Das „Musikleben“ sei immer „Ausdruck einer bestimmten musikalischen Grundhaltung“. An einer anderen Stelle schreibt Besseler: „Musik ist Ausdruck – in dem Sinne, wie es jede menschliche Daseinsäußerung ist. Historische Arbeit richtet sich grundsätzlich auf diese Ausdruckshaftigkeit.“ Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, 36 und 51. 332  Im Rekurs auf den alltäglichen Sprachgebrauch und Alltagserfahrung lässt sich leicht zeigen, dass Besselers Interpretation des Ausdruckshaften hier zu kurz greift. Wenn jemand sagt ‚Diese Musik stimmt mich traurig‘, wäre es durchaus denkbar, dass jemand er­ widert ‚Mich macht sie aber fröhlich‘. Solche Differenzen sind nichts Ungewöhnliches. Man kann sich in Gruppen leicht darüber uneinig sein, welche Musik zu einem bestimmten An­ lass gehört werden soll. Außerdem ist zu bedenken, dass das Hören ‚trauriger Musik­stücke‘ 329 Besseler,

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

183

eines einheitlichen Vollzugs liegt auf der Linie von Besselers Aufwertung der Ge­ brauchsmusik. Was Musik überhaupt ist, soll sich an dieser Idee messen lassen. Der Bereich der Gebrauchsmusik wird im Anschluss an den Aufsatz des vor­ angegangenen Jahres weiter ausdifferenziert. Besseler unterscheidet die Gruppe der „leiblich-rhythmischen“ und die der „wortverhafteten“ Gebrauchsmusik.333 Für das Verständnis der jeweiligen musikalischen Praxis sei, und auch dieser Gedanke ist neu, immer das „Wie“ ihres Vollzugs entscheidend, das in „engster Beziehung“ zum Phänomen der „Stimmungen“ stehe.334 Besseler erkennt, dass sein Musikbegriff durch die Betonung der „Gestimmtheit“ eine gewisse Nähe zur romantischen Ausdrucksästhetik besitzt und grenzt sich daher ausdrück­ lich gegen diese ab: „Hier muß sogleich das spätromantisch-impressionistische Mißverständnis der Stimmung, jeder Gedanke an ein Spiel flüchtiger seelischer Reize, zu genießerischer Auskostung dargebotener Impressionen völlig ausge­ schaltet werden.“335 Nicht die Vorstellung, dass Musik Ausdruck von Stimmung sei, wird von Besseler also kritisiert, sondern vielmehr die Orientierung an einer Praxis, in der die Gestimmtheit als Eigenschaft autonomer Kunstwerke begriffen wird. Besseler will die in der Musik zum Ausdruck kommenden Stimmungen hingegen von der existenzialen Analyse des Daseins her verstehen: „Gestimmt­ heit gehört zu den fundamentalsten Tatbeständen unseres Daseins. Wir sind stets irgendwie gestimmt, so wesentlich, daß die Sprache eine Störung dieses Zustandes schlechthin als ‚Verstimmung‘, seine positive Durchschnittlichkeit als ‚in-Stimmung-sein‘ bezeichnet.“336 Diese Einordnung des Phänomens der Gestimmtheit ist direkt von Heideg­ ger übernommen. Anstatt auf den allgemeinen Sprachgebrauch zu rekurrieren, wäre daher ein Verweis auf Heidegger angebracht gewesen.337 Dass Besseler die dem Hörer auch Vergnügen bereiten kann. Wäre das nicht möglich, ließe sich die Frage, wieso Musik, die negativ konnotierte Stimmungen oder Gefühle ausdrückt, überhaupt ge­ hört wird, nur schwer beantworten. Ebenso kann auch ‚fröhliche Musik‘ den Hörer traurig stimmen. Die jeweilige Erfahrung hängt nicht zuletzt von individuellen Dispositionen und Erwartungen ab. Die Vorstellung einheitlicher, kollektiver Gestimmtheit in der musikali­ schen Praxis erscheint daher gerade im Hinblick auf divergierende Musikerfahrungen im Alltag nicht zu greifen. Vgl. für einen Überblick über die in der analytischen Musikphilo­ sophie geführte Debatte über das Verhältnis zwischen den Emotionen, die ein Musikstück ausdrückt und denjenigen, die es beim Hörer hervorruft bei Jenefer Robinson, Deeper than Reason. Emotion and its Role in Literature, Music, and Art, Oxford 2005, 348–378. 333  Zur ersteren werden von Besseler Tanz-, Marsch und Arbeitslied gezählt, zur letz­ teren Gesellschafts-, und Bekenntnislied sowie die Musik, die in rituellen und liturgischen Kontexten Verwendung findet. Vgl. Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 69. 334 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 69. 335 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 69. 336 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 69. 337  Heideggers Interpretation des Phänomens der „Verstimmung“ findet sich an promi­ nenter Stelle in § 29 von Sein und Zeit. „Der ungestörte Gleichmut ebenso wie der gehemmte Mißmut des alltäglichen Besorgens, das Übergleiten von jenem in diesen und umgekehrt, das Ausgleiten in Verstimmungen sind ontologisch nicht nichts, mögen diese Phänomene

184 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Bedeutung von Heideggers Stimmungsbegriff für das Verständnis musikalischer Praxis erkennt, ist jedoch sein eigenes Verdienst. Das Moment der Gestimmtheit dient ihm zwar vorrangig als Ausgangspunkt für musikhistorische Betrachtun­ gen, die aufgeworfenen Fragen sind jedoch auch für eine philosophische Ästhetik relevant. So weist Besseler darauf hin, dass die jeweilige Stimmung, die in einem sozialen Kontext entsteht, in der Gebrauchsmusik „nicht unartikuliert hervor­ bricht, sondern sich geformter Musik bedient“.338 Musikalische Praxis ist dem­ nach als Artikulation von Stimmungen zu begreifen, die auch ohne eine solche Repräsentation im kollektiven Dasein wirksam sind. Ohne die Gebrauchsmusik werden diese vorgängigen Stimmungen jedoch in der Regel nicht thematisch. Besselers Überlegung wirft daher die Frage auf, ob sich die Musik gegenüber anderen Kunstformen nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass sie der latenten Gestimmtheit des Daseins auf besonders prägnante Weise Ausdruck verleihen kann.339 Die Gestimmtheit kann zudem auch als ein Ordnungsprinzip musikali­ scher Praxis verstanden werden. Zumindest aber deutet Besseler das in seiner Beschreibung des „liturgischen Zusammensingens“ an: „Die Einheit des Musi­ zierens setzt sodann eine zureichende Beziehung zwischen den verschiedenen Stimmen voraus, die in mannigfachster Art gegeben sein kann, sei es durch un­ mittelbare Hinordnung aller Stimmen auf dasselbe Ziel der liturgischen Feier, durch Erfüllung der verschiedenen Stimmindividuen mit gleichem, motivischen Gehalt, durch klanglich Zusammenfassung zum Akkord usw.: all diese Dinge und ebenso das wechselnde Verhältnis von Schöpfer, Ausführenden, mitwirken­ den und empfangenden Hörern sind Ausprägungen der einen Grundkategorie, ganz formal als das Miteinander zu bezeichnen, das für unsere Musik durchaus konstitutiv ist.“340 Die sakrale Vokalmusik wird hier ausgehend von Heideggers existenzialer Kategorie des Mitseins interpretiert. Im gemeinsamen Singen kon­ kretisiert sich die kollektive Dimension des Daseins im Verhältnis der Stimmen zueinander. Durch die Einbettung dieses Verhältnisses in den Gottesdienst er­ hält der Gesang seine spezifische Gestimmtheit. Diese Art der Gebrauchsmusik erfordert daher nicht nur die Befolgung von Regeln, sondern auch, dass sich die Sänger auf eine gemeinsame Stimmung einlassen. Besseler weist darauf hin, dass es auch hier vielfältige Übergangsformen gibt. als das vermeintlich Gleichgültigste und Flüchtigste im Dasein unbeachtet bleiben. Daß Stimmungen verdorben werden und umschlagen können, sagt nur, daß das Dasein je schon immer gestimmt ist. Die oft anhaltende, ebenmäßige und fahle Ungestimmtheit, die nicht mit Verstimmung verwechselt werden darf, ist so wenig nichts, das gerade in ihr das Dasein ihm selbst überdrüssig wird.“ (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 178–179.). 338 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 69. 339  Besseler versteht die Artikulation von Gestimmtheit sogar als das „eigentliche ästhetische Moment“ von Musik. Es wird allerdings nicht näher geklärt, was hier mit dem ‚Ästhetischen‘ gemeint ist. Vgl. Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 69. 340 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 71.

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

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Problematisch an seinem Standpunkt ist, dass die Vorstellung von Einheit­ lichkeit trotz des Verweises auf die unterschiedlichen Realisierungsweisen zu sei­ nem Ideal musikalischer Praxis gehört. Divergierende Erfahrungen, die sich auch in der Partizipation an Gebrauchsmusik einstellen können, stehen somit immer unter dem Verdacht, ein Phänomen geschichtlichen Verfalls darzustellen. Musik erreicht aber nicht erst als autonome Kunstform einen Grad an Komplexität, der sich in einer ausdifferenzierten Realisierung und Rezeption von Stimmungen ausdrückt. Die historisch voranschreitende Ausdifferenzierung wird von Besse­ ler jedoch kritisch betrachtet: „Vom stilisierenden Ergreifen der Grundstruktur eines sozusagen heroisch-ganzheitlichen Lebens geht die Entwicklung zum ‚aus­ drucksvollen‘ Erformen vieldimensionaler Befindlichkeit und von dort aus wei­ ter bis zur letzten romantischen Zerfaserung des Augenblicks.“341 Das gegen die­ ses Bild der Kunstmusik konzipierte Verständnis von Gebrauchsmusik orientiert sich implizit an einer bestimmten Lebensform. Durch die unbefragte Zugehörig­ keit zu einer einheitlichen Tradition scheint eine Gemeinschaft als ursprünglich gelten zu können.342 Die Kunstmusik sei demgegenüber von der Zeitlichkeit des Daseins und seiner Gestimmtheit im Alltag emanzipiert.343 Ihre Stimmungen seien nur in isolierten Momenten fassbar und blieben von dem sozialen Zusam­ menhang, in dem diese musikalische Praxis zu verorten ist, unabhängig. Der Aufstieg der Kunstmusik und das Zurückdrängen gebrauchsmusikalischer Pra­ xis haben demnach ihre Ursache in der Auflösung traditioneller Gemeinschaften in der Moderne. Inwiefern Besselers kritische Bewertung dieses Prozesses über­ zeugt, sei dahingestellt. Das soziale Potential von Rezeptionsgemeinschaften, die sich auch durch die Verbreitung von künstlerisch anspruchsvoller Musik bilden, sieht er jedenfalls nicht. Bemerkenswert ist, dass Besseler annimmt, dass sich Musikrezipienten über die Gestimmtheit eines bestimmten Werkes täuschen können. Das gilt für ihn insbesondere dann, wenn eine Rezeptionshaltung aus der modernen Kunstmu­ sik bei der Erschließung von Gebrauchsmusik Verwendung findet: „In der mit­ telalterlichen Tradition, z. B. gilt Musik als etwas spezifisch ‚Freudiges‘ […]. Das Beglückende der Zeitlichkeitsstilisierung scheint man demnach auch noch in jenen Epochen weitaus überwiegend empfunden zu haben, aus deren Musik wir die ausdrucksvolle, stimmungshaft-melancholische Befindlichkeit spätgebore­ 341 Besseler,

Grundfragen der Musikästhetik, 77. Moment der ‚Wahl eines Helden‘, das für Heideggers Verständnis von eigent­ lichem Dasein entscheidend ist, wird von Besseler hier, obwohl es in der Rede vom „hero­ ischen“ Leben anklingt, gerade nicht berücksichtigt. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 509. 343  „Sobald die Musik ihre Beziehungen zu jenen ‚alltäglichen‘, außermusikalischen Verhaltungsweisen löst, um rein ästhetische Gegenständlichkeit zu werden, hört sie auch auf, mit der mannigfachen alltäglichen Gestimmtheit verbunden zu sein.“ Besseler, Grund­ fragen der Musikästhetik, 70. 342  Das

186 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik ner Romantik, den ‚Herbst des Mittelalters‘ heraushören möchten.“344 Was Bes­ seler an dieser Stelle, wie schon im Rekurs auf die alltäglichen Verwendung des Verbums ‚stimmen‘, übersieht, ist, dass auch ‚melancholische‘ Musik den Hörer ‚beglücken‘ kann. Die Popularität der historischen Aufführungspraxis, zu deren Entstehung Besselers Lehrer Gurlitt beigetragen hat, erklärt sich nicht zuletzt aus dem Gefüge solch gegensätzlicher Stimmungen heraus. Ob die Musik des Mittel­ alters oder der Renaissance, wenn sie heute in einem Konzert gespielt wird, den Zuhörern dieselbe Stimmung vermittelt wie denjenigen ihrer Entstehungszeit, lässt sich historisch hinterfragen. Dort, wo Besseler auf historische Zeugnisse von Musikrezeption eingeht, kommt er, was die hermeneutische Erschließbar­ keit von Stimmungen betrifft, freilich zu einem optimistischen Urteil: Es gäbe keinen Grund, anzunehmen, „dass sich das mittelalterliche Musikerlebnis qua­ litativ grundlegend vom modernen unterschieden hätte“.345 Und auch wenn er selbst hermeneutisch arbeitet, geht Besseler implizit da­ von aus, dass sich die mittelalterliche Musik immer noch in ihrer Gestimmtheit verstehen lässt. So spricht er in Bezug auf Machauts Balladen unter anderem von deren „erotischer Gestimmtheit“.346 Auch wenn Besseler diese Gestimmtheit sogleich von einem romantischen Liebesverständnis, das von der Subjektivität des Künstlers ausgeht, abgrenzt, so zielt seine Charakterisierung doch darauf, dass die Musik Machauts nicht nur in ihrer Entstehungszeit, sondern auch in der Moderne als ‚erotisch gestimmte‘ erfahren werden kann. Wenn ein sozialer Kontext, wie beispielsweise derjenige der höfischen Dichtkunst und des Min­ nesangs, verloren geht, bedeutet das also nicht, dass die Gestimmtheit der Mu­ sik, die aus diesem Kontext hervorgegangen ist, späteren Hörern prinzipiell ver­ schlossen bleibt. Es wäre zu bedenken, ob nicht gerade in einer historisch infor­ mierten Aufführung solcher Musik eine Zugangsweise zu den Stimmungen der jeweiligen historischen Gemeinschaft liegt. Dabei wäre allerdings zu beachten, dass die hermeneutische Interpretation, wie Heidegger in seiner Stimmungsthe­ orie gezeigt hat, in der Regel auf ein komplexes Gefüge trifft, die es am einzel­ nen Werk selbst zu analysieren gilt. Die Zuordnung einer einzigen Stimmung zu einer sozialen Situation oder einer ganzen Epoche, die bei Besseler angedacht wird, erscheint hingegen aus mindestens zwei Gründen problematisch. Erstens wird sie der komplexen Dynamik nicht gerecht, die bereits einzelne Stimmun­ gen entfalten können.347 Zweitens überspielen geschichtliche Großthesen leicht die Vielfalt und Komplexität der hermeneutischen Gegenstände. Wenn Besse­ 344 Besseler,

Grundfragen der Musikästhetik, 77. Grundfragen der Musikästhetik, 68. 346 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 67. 347  Diesen Punkt sieht auch Besseler: „Ebensowenig kann die Rede davon sein, daß in der Musik eine Gestimmtheit […] verkörpert wäre, etwa wie ein Affekt im Minenspiel oder Gebärden.“ Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 69. In den musikgeschichtlichen Aus­ führungen des Aufsatzes trägt Besseler dieser Einsicht allerdings keine Rechnung. 345 Besseler,

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

187

ler ganze Traditionsstränge der europäischen Musikgeschichte auf bestimmte Formen der Zeiterfahrung zurückführt, dann läuft er Gefahr, die Partikularität einzelner musikalischer Werke zu unterschätzen.348 Insgesamt erscheint die Gegenüberstellung von Gebrauchsmusik und Kunst­ musik in Besselers musikphänomenologischen Überlegungen als schematisch und tendenziös. Besseler lässt bei der Erörterung der Gestimmtheit von Musik formale Werkeigenschaften weitgehend außer Betracht, obwohl diese die Erfah­ rung von Gestimmtheit aus musikwissenschaftlicher Sicht plausibilisieren könn­ ten. Wenn jede „Musik als Ausdruck menschlichen Daseins zu interpretieren“ ist und „das eigentliche Ziel aller […] Musiktheorie und Musikgeschichte als Her­ meneutik“ begriffen werden kann, 349 wie Besseler abschließend festhält, dann ist das Phänomen der Gestimmtheit eine Grundeigenschaft von Musik über­ haupt. Dass sich die Stimmungen der Gebrauchsmusik insbesondere aus dem Zusammenhang sozialer Praktiken und ihrer Funktion im Alltag erschließen, muss weder zu einem Argument gegen die ästhetische Wirkung der Kunstmusik noch zu einem systematischen Einwand gegen die Untersuchung ihrer spezifi­ schen Ausdruckshaftigkeit gewendet werden. In der von Besseler kritisierten Ablösung der Kunstmusik von alltäglicher Befindlichkeit kann sogar umgekehrt eine besondere Auszeichnung dieser Mu­ sikform gesehen werden. Die Autonomie musikalischer Kunstwerke zeigt sich in der Eigenständigkeit ihrer Stimmungen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Wechselwirkung dieser Stimmungen mit historischen und sozialen Kontexten 348  Besseler geht davon aus, dass die europäische Musikgeschichte seit dem Mittelal­ ter bis zu seiner eigenen Zeit in ihren entscheidenden Wendungen erschlossen ist: „Die Gesamtheit der abendländischen Musik gliedert sich für unseren rückschauenden Blick in mehrere verhältnismäßig geschlossene Traditionsverläufe, deren Zentren sich genügend klar abzeichnen.“ Es seien vier Traditionen maßgeblich: 1. die französische Musik, von der Schule von Notre-Dame bis zum 15. Jahrhundert. 2. die niederländische Renaissancemu­ sik. 3. die italienische Musik von der Renaissance bis zum 18. Jahrhundert. 4. Die deutsche Musik von Händel und Bach bis zu seiner Gegenwart. Die französische Musik charakteri­ siert Besseler allgemein durch die „Zeitlichkeit im Grundcharakter der Wiederkehr“, sie stehe hier in „engster Beziehung“ zu zeitlichen Verläufen in der Natur und „verkörpere“ so die „die Herrschaft der ‚ewigen Wiederkunft‘“. Die Renaissancemusik der Niederländer sei hingegen in ihrer Zeitlichkeit „naturentbunden“ und gewinne auf diese Weise den „Grund­ charakter der Freiheit“. Die italienische Renaissancemusik zeichne sich vor allem durch „harmonische Funktionalität und „einen spezifischen südlichen Ausdruckswillen“ aus. Es gehe dieser Musik darum, „sich selbst, d. h sein inneres und äußeres Vollziehen überschau­ bar zu haben, in der Grundmöglichkeit der Darstellung zu leben.“ Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 73–76. Die Interpretation der Gestimmtheit tritt hier hinter einer allge­ meineren Beschreibung von Zeiterfahrung zurück. Dabei ist der Einfluss Nietzsches nicht nur in der Rede von der ‚ewigen Wiederkunft‘, sondern auch in dem Moment der ‚Selbst­ durchsichtigkeit‘, das Besseler der italienischen Renaissancemusik zuschreibt und das sich am Kunstprinzip des Apollinischen orientiert, unübersehbar. Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 64–65. 349 Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 80.

188 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik zu negieren ist. Kontextabhängigkeit und Gebrauchscharakter sind vielmehr als graduelle Eigenschaften einzelner Werke und Praktiken zu verstehen und nicht als Anhaltspunkt für eine kategorische Zweiteilung der Musikgeschichte. Zudem erscheint vor dem Hintergrund von Heidegger Stimmungstheorie die Rückfüh­ rung der Stimmungen der Musik auf die Gestimmtheit musikalischen Daseins­ vollzugs als fragwürdig. Heidegger hat gezeigt, dass Kunstwerken als solchen eine eigenständige Gestimmtheit und auch die tragende Funktion bei der Entfal­ tung von Stimmungen zugesprochen werden muss. Diesen Bereich seiner Stim­ mungstheorie hat Heidegger jedoch erst in den 1930er Jahren entwickelt, also erst, nachdem Besselers Aufsätze entstanden sind. Besselers Ansatz wird dem methodischen Anspruch einer werkzentrierten Hermeneutik nicht vollständig gerecht. Durch die Berücksichtigung der Befindlichkeit des Daseins für die Er­ forschung der Musikgeschichte sind Besselers Überlegungen aber nicht nur ein faszinierendes historisches Dokument, sondern auch ein systematischer Refe­ renzpunkt, um die Verbindung von philosophischer Stimmungstheorie und Musikhermeneutik näher zu untersuchen. 3.3.2. Das „In-Musik-Sein“ bei Günther Anders Zu derselben Zeit, als Heinrich Besseler seinen Aufsatz über die Grundfragen der Musikästhetik veröffentlicht, erscheint in der Zeitschrift für Musikwissenschaft ein Aufsatz von Günther Anders.350 Es ist eine der frühesten Veröffentlichung des Autors, der von Haus aus Philosoph ist, sein Arbeitsfeld in diesen Jahren aber vor allem in der Musikphänomenologie sucht.351 Anders, der in dieser Zeit noch den Nachnamen Stern führt, studiert Anfang der 1920er Jahr bei Edmund Husserl und Martin Heidegger. Nach seiner Promotion bei Husserl wechselt er 1925 nach Marburg, um dort Heideggers Vorlesungen zu hören. Sein Aufsatz Zur Phänomenologie des Zuhörens lässt den Einfluss seiner philosophischen Lehrer deutlich erkennen. Wie Besseler geht es auch Anders grundsätzlich um die Klä­ rung des „Zugangs“ zur Musik.352 Um zu zeigen, wie musikalische Phänomene gegeben sind, untersucht er die Beziehung des Hörens zum Hörbaren. Anders ar­ beitet heraus, dass der Gegenstandsbezug beim Zuhören ein anderer ist als beim Sehen; er erfordere eine spezifische Form der „Attention“.353 Es handelt sich da­ bei nicht um einen intentionalen Akt, sondern vielmehr um ein „ermöglichendes 350  Günther Anders [Stern], „Zur Phänomenologie des Zuhörens. (Erläutert am Beispiel impressionistischer Musik)“, Zeitschrift für Musikwissenschaft 9, Heft 11/12 (1926/1927), 610–619. 351  Zu den biografischen Angaben vgl. Reinhard Ellensohn, Der andere Anders. Günther Anders als Musikphilosoph, Frankfurt am Main u. a., 2008, 22–27 sowie Eckhard Wittulski, „Der tanzende Phänomenologe“, in: Konrad Paul Liessmann (Hrsg.), Anders kontrovers, München, 1992, 17–33. 352 Anders, Zur Phänomenologie des Zuhörens, 610. 353 Anders, Zur Phänomenologie des Zuhörens, 616–617.

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Aufgeschlossensein“.354 Am Beispiel impressionistischer Musik werde deutlich, dass die Aufmerksamkeit des Musikrezipienten auch auf „Zu­ständ­liches“ bezo­ gen sein könne.355 Wenn man sich auf Musik konzentriert, handelt es sich allge­ mein weniger um eine Folge isolierter Akte, durch die sukzessive Einzelaspekte hervortreten. Konstitutiv ist vielmehr ein vorgängiges Erfassen der „Aus­drucks­ einheit“ eines Werks.356 Impressionistische Musik gibt nach Anders’ Verständnis einen gewissen „Bewegungscharakter“ vor, der sich als ein „Sich-gehen-lassen“ verwirklichen kann.357 In dieser Bewegung versinkt der Musikrezipient nicht in rein subjektiven Gemütszuständen, sondern hört diese Musik gerade so, wie es ihr angemessen ist. Es handelt sich um ein gelingendes „Sein bei der Musik“ oder „Dabeisein bei der Musik“.358 An diesem Gedankengang wird deutlich, dass Anders, wie schon Besseler, den Gegenstand des Zuhörens im Anschluss an Heidegger vom umgangsmäßi­ gen Charakter des Seienden her versteht. Der Rezipient lässt sich auf die Musik, die er hört, ganz selbstverständlich ein. Er ist bei ihr, kann sich in ihr verlieren, wird von ihr mitunter geradezu absorbiert.359 Das Zuhören gilt Anders als eine Form des „Mitseins“, die sich je nach der Art der Musik unterschiedlich gestaltet. Wenn Anders vom ‚Mitsein‘ spricht, geht es ihm jedoch im Unterschied zu Bes­ seler nicht um ein kollektives Dasein, das sich in der musikalischen Praxis kon­ stituiert, sondern vielmehr um die Wirkung musikalischer Kunstwerke auf den einzelnen Rezipienten: „Aber es ist von Wichtigkeit, daß das Mitmachen eines ‚Brandenburgischen Konzertes‘ (das natürlich alles andere als ein uninteressier­ tes wohlgefälliges Zuhören ist) sich vollkommen unterscheidet von dem Mitsein etwa mit einem Debussyschen Prélude.“360 Die Differenz zwischen den beiden Komponisten und der Wirkung ihrer Musik wird von Anders an dieser Stelle nicht näher erläutert. Der Gedanke, dass sich das Mitsein als ein gestimmtes herausbildet, erscheint jedoch gerade bei impressionistischer Musik besonders 354 Anders, Zur Phänomenologie des Zuhörens, 617. Vgl. dazu die Analyse des Aufhor­ chens bei Espinet: „Als Offenheit für das noch Unbestimmte gilt darüber hinaus: Aufhor­ chen ist ein Suchen, das nicht nur findet, ohne gesucht zu haben, sondern das nur findet, ohne gesucht zu haben.“ Espinet, Phänomenologie des Hörens, 127. 355  „Darstellung der Gegenstände (nicht qua Gegenstände), sondern in ihrer die Gren­ zen oft verwischenden Zuständlichkeit“, sei das entscheidende Merkmal des Impressionis­ mus. Anders, Zur Phänomenologie des Zuhörens, 611. 356 Anders, Zur Phänomenologie des Zuhörens, 612. 357 Anders, Zur Phänomenologie des Zuhörens, 613. 358 Anders, Zur Phänomenologie des Zuhörens, 619. 359  Vgl. zur Verfallenstendenz des Daseins und insbesondere da „Verfallen an das be­ sorgte Zuhandene und Vorhandene“ in Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 233–239 und 434. 360  Dass Anders an dieser Stelle auf ein gebrauchsmusikalisches Verständnis von Ba­ rockmusik anspielt, das er in seiner Freiburger Studienzeit bei Gurlitt oder Besseler kennen lernen konnte, ist durchaus denkbar. Zumindest wird Besselers Lehrer Gurlitt in diesem Aufsatz von Anders als maßgeblicher Vertreter der phänomenologischen Musikwissen­ schaft genannt. Vgl. Anders, Zur Phänomenologie des Zuhörens, 610.

190 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik nahe zu liegen.361 Anders’ Beschreibung eines nicht-intentionalen Gegenstands­ bezugs, der für seine Auffassung von Musik allgemein entscheidend ist, besitzt eine deutliche Nähe zu Heideggers Verständnis von Stimmung als vorprädikati­ ver Weise des Weltbezugs.362 Dass das innovative Potential von Heideggers Kon­ zept und die darin implizit enthaltene Kritik an Husserl dem jungen Anders ent­ gangen sind, ist nur schwer vorstellbar. In seinem Aufsatz zum Zuhören greift Anders die frühe Stimmungstheorie Heidegger allerdings nicht auf. Eine solche Aufnahme findet erst in dem drei Jahre später entstandenen mu­ sikontologischen Entwurf Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen statt.363 Der lange unveröffentlicht gebliebene Text wurde von Anders in Frankfurt als Habilitationsschrift eingereicht, aufgrund eines Einspruchs von Adorno jedoch abgelehnt.364 Den Ausgangspunkt der Untersuchungen bildet der Begriff der „musikalischen Situation“.365 Anders versteht darunter das „jeweilige In-Musik-Sein, das sich erst einmal negativ als insulare Situation innerhalb des geschichtlichen Lebens des Menschen herausstellt“.366 Das Musikhören kann im Alltag zu einer Gewohnheit werden. Wenn ein Mensch sich auf das Hören von Musik aber wirklich einlässt, führt das zu einer Zäsur. Das anschließende Zuhö­ ren gewinnt eine Dynamik, die eigene Regeln besitzt. Für dieses Geschehen sind 361  Für das Verständnis des Impressionismus wird immer wieder auf das Begriffsfeld von Stimmung und Atmosphäre rekurriert. Vgl. Michael von Troschke, „Art. Impressioni­ mus“, in: Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.), Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1995, 203–213, insbesondere 203. Ein jüngerer Aufsatz, der den Stimmungsbegriff für die Analyse von Claude Debussy, Prélude I, 4 fruchtbar macht, stammt von Alexander Becker, „Die Zeit der Stimmung. Zur Zeitstruktur bei Claude Debussy“, in: Kerstin T ho­ mas (Hrsg.), Stimmung. Ästhetische Kategorie und künstlerischer Praxis, Berlin/München 2010, 159–178. 362  Vgl. Kap. 3.2.1. 363  Günther Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 1931. Unveröffentlichtes Typoskript, Nachlass Günther Anders. Österreichisches Litera­ turarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Signatur, ÖLA 237/04. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Frau Christina Nurawar Sani, für die unbürokratische Genehmigung, das Typoskript einsehen zu dürfen, Herrn Dr. Gerhard Oberschlick. Beim Verfassen dieses Kapitels lag die kritische Edition noch nicht vor: Günther Anders, Musik­ philosophische Schriften. Texte und Dokumente, Hrsg. Reinhard Ellensohn, C. H. Beck, München 2017. Im Folgenden wird aus dem Typoskript zitiert, in eckigen Seitenzahlen fin­ den sich die Seitenangaben der von Reinhard Ellensohn herausgegebenen Edition. 364  Die Schrift ist daher erst wieder im Nachlass von Anders zugänglich geworden, was dazu geführt hat, dass sie sowohl in der Anders-Forschung als auch in der Musikphänome­ nologie bis heute nur geringe Beachtung gefunden hat. Ausnahmen davon bilden T homas Macho, „Die Kunst der Verwandlung. Notizen zur frühen Musikphilosophie von Günther Anders“, in: Konrad Paul Liessmann (Hrsg.), Günther Anders kontrovers, München 1992, 89–102; Franz Josef Knelangen, „Günter Anders und die Musik oder ‚Der Klavierspieler mit dem Zeichenstift‘“, Text + Kritik Zeitschrift für Literatur 115 (1992), 73–85. Sowie die bereits zitierte, ausführliche und gründliche Studie Der andere Anders von Reinhard Ellensohn. 365 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 16 [23]. 366 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 16 [23].

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

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nach Anders’ Verständnis Rezipient und musikalischer Gegenstand gleicher­ maßen konstitutiv. Seine Untersuchung orientiert sich aus diesem Grund an dem Begriff des „Mitvollzugs“.367 Anders versteht den Mitvollzug jedoch nicht wie Besseler als eine besonders Form von Musikrezeption, die sich durch Par­ tizipation und unmerkliche Einbettung in den Alltag auszeichnet, sondern er versteht darunter vor allem einen besonderen Gegenstandsbezug, der für das musikalische Hören charakteristisch ist.368 Das Besondere der Musik gegenüber anderen Künsten liege in der „Indifferenz“ zwischen Ich und Gegenstand, bezie­ hungsweise der Ununterscheidbarkeit von Subjekt und Objekt, die sich in ihrer Erfahrung einstelle.369 Durch die Beschreibung dieses Zustandes will Anders ein Verständnis von Musik gewinnen, das traditionelle Oppositionen überwindet. Der Begriff der Situation soll Subjekt und Objekt in Richtung einer aristotelischen Auffassung von ἐνέργεια aufheben: „Der Ausgang unserer Untersuchungen von der musi­ kalischen Situation ist jedenfalls nicht nur Ausgang von der subjektiven Stim­ mungsbasis, sondern zielt auf die ἐνέργεια, die das in sich schließt.“370 Der Werk­ charakter eines musikalischen Werkes erschließt sich demnach nur durch den Vollzug der Bewegung, die in dem Werk angelegt ist. Der Rezipient wird dabei in Stimmungen versetzt, durch welche ihm die jeweilige Musik auf eine bestimmte Art und Weise zugänglich ist. Wenn Anders schreibt, dass die „subjektive Stim­ mungsbasis“ nicht alleine entscheidend ist, dann bedeutet das zugleich, dass in ihr durchaus ein wesentlicher Aspekt des Zugangs zu musikalischen Werken be­ steht. Anders geht es dabei weniger um das affektive Moment, sondern vielmehr um die Struktur des vorintentionalen Gegenstandbezugs, der durch die Stim­ mungen eröffnet wird. Auch wenn hier Grundgedanken Heideggers aufgegrif­ fen werden, verwendet Anders den Begriff der Stimmung doch in eigenständiger Weise. Es geht ihm nicht um die Auszeichnung einzelner Stimmungen für das Verständnis von Musik, sondern um die vorintentionale Erschlossenheit musi­ kalischer Werke. ‚Stimmung‘ meint hier vor allem die konstitutive Passung, eine prozessual verwirklichte Übereinstimmung von Rezipient und musikalischem Geschehen. 367 Anders,

Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 11 [20]. Anders geht es nur um Musik, die Kunstcharakter besitzt. Zudem steht er den ver­ schiedenen Versuchen in seiner Zeit, Formen von Gebrauchsmusik zu revitalisieren, skep­ tisch gegenüber: „Man versucht heute, diese Nachträglichkeit der Zugehörigkeit zu Welt und Leben durch ausdrückliche Gebrauchsmusik wieder aufzuheben.“ Die Gebrauchsmu­ sik könne aber deshalb nicht zum „Lebenselement“ des modernen Mensch werden, weil sie in kultischem Kontext mehr als nur einen „praktischen“ Sinn besaß, die heutige Zeit aber rein „praktisch“ bestimmt sei. Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musika­ lische Situationen 16. 369 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 11 [20]. 370 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 12 [20].  368 

192 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Ohne Stimmungen wären musikalische Gegenstände nicht als das zugäng­ lich, was sie sind. Aber auch die Möglichkeit, im Hören auf Einzelnes bewusst Bezug zu nehmen, ist für Anders eine notwendige Bedingung für die Rezeption von Musik. Der Mitvollzug musikalischer Situationen sei zwischen „intentiona­ lem Meinen des Gegenstandes“ und „ungegenständlicher Stimmung“ einzuord­ nen.371 Während Anders im Aufsatz Zur Phänomenologie des Zuhörens anhand von impressionistischer Musik noch die Passivität der Musikrezeption hervor­ gehoben hat, erweist sich die Aktivität des Zuhörers der Passivität nun in sys­ tematischer Perspektive als gleichrangig. Allerdings betont Anders erneut den Kontrast zwischen musikalischem Hören und Sehen: „Das Sehen ist in der Tat im höchsten Grade von jeder Stimmung emanzipiert; diese stellt nur noch den zeitneutralen, unstrukturierten Hintergrund dar, der zwar die Auffassung des Gegenstandes mitbeeinflusst, aber doch ‚hinten‘ bleibt, während der Akt selbst auf den Gegenstand und seine Struktur losgeht. Das Verhältnis von Stimmung und Akt ist nun aber im Akustischen, jedenfalls im Musikalisch-Akustischen ein völlig anderes.“372 Dieser Unterschied ist durch die zeitliche Struktur musi­ kalischer Gegenstände bedingt. Die Musik sei ein „Ausdrucksgeschehen“, das sich in der „Zeit entwickelt“ und erfordere daher ein „dauerndes Mitgehen“.373 Die Stimmung gliedere sich daher „prozesshaft“ und habe eine „grundierende“ Funktion.374 Um den musikalischen Gegenstand als einen „stimmigen“ zu er­ fahren und so die Einheit des jeweiligen Ausdrucksgeschehens zu erfassen, voll­ zieht der Musikrezipient aber auch einzelne Akte. 375 Diese Akte werden von dem vorintentionalen Gegenstandsbezug, der durch die Stimmung gegeben ist, aber nicht nur beeinflusst, sondern geleitet, weshalb Anders dem Mitvollzug von Mu­ sik eine Stellung zwischen Aktivität und Passivität zuspricht.376 Wie sich das Verhältnis von Akt und Stimmung in der Rezeption konkret gestaltet, hängt von der Art des musikalischen Gegenstandes ab. Die Individua­ lität des einzelnen musikalischen Werks führt dazu, dass der Mitvollzug von zwei verschiedenen Werken niemals identisch sein kann. Zudem ist der konkrete 371 Anders,

Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 66 [60].

372 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 63–64 [57]. 373 Anders,

Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 64 [59]. Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 67 [60]. 375 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 64 [58]. 376  In einem eigenen Paragrafen widmet sich Anders den Parallelen seiner Interpreta­ tion des musikalischen Mitvollzugs zu Kants Begriff der „produktiven Einbildungskraft“. Die entscheidende Gemeinsamkeit liegt darin, dass beide als „rezeptiv-spontan-neutral“ verstanden werden können. Darüber hinaus erkennt er, dass die zeitliche Struktur der Mu­ sik ein besonderes reproduktives Vermögen erfordert: „Das Objekt wird nun nicht nur auf Grund der Einbildungskraft als eines geschaut, sondern es wird in sich oder gleichsam trotz der Anschauung noch einmal produziert, re-produziert. Man hört, als sänge man. Ist der Kunstgegenstand, hier der musikalische, im vorzüglichsten Sinne Produkt, so ist jedes mit­ vollziehende Hören Reproduktion“. Anders, Philosophische Untersuchungen über musika­ lische Situationen, 68–72 [61–63]. 374 Anders,

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

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Verlauf der Musikrezeption auch durch die Persönlichkeit der Zuhörer bedingt. Anders’ Erkenntnisinteresse liegt jedoch nicht im Bereich der Musik­psychologie, sondern besteht darin, strukturelle Gemeinsamkeiten musikalischer Situatio­ nen zu beschreiben. Er charakterisiert den Mitvollzug von Musik durch drei Grundtypen, welche die implizit von musikalischen Werken geforderte Rezep­ tionshaltung beinhalten. Es handelt sich dabei um drei verschiedene Weisen des In-­Musik-Seins: „Aufgelöstsein-in“, „Gelöstsein“ und „Abgelöstsein-von“.377 Anders versteht diese unterschiedlichen Formen des „In-seins“ allerdings nicht nur als Rezeptionshaltungen, die zu musikalischen Werken gehören, sondern begreift sie als Formen der Subjektivität, die sich seiner Ansicht nach notwen­ digerweise im Medium des Tones objektivieren. In Anlehnung an Hegels Äs­ thetik entwirft Anders ein Stufenmodell, in dem sich die Entwicklung von der Stimmung als einer Art des unmittelbaren „Selbstgefühls“ über die menschliche Stimme als Veräußerung dieses Gefühls bis zum Musikinstrument als eine Ob­ jektivierung „vermittelter Unmittelbarkeit“ darstellt. 378 Darüber hinaus werden die Grundtypen des In-Musik-Seins von Anders aber auch aus existenzialer Per­ spektive interpretiert. Der Mitvollzug unterschiedlicher Musiken werde durch die Vieldeutigkeit des Daseins ermöglicht: „Man ist de facto viele und vieldeutig, sofern man in den verschiedensten Lebenszusammenhängen auch etwas anderes bedeutet.“379 Da die Musik als ein Kontext erfahren werden kann, in dem sich das eigene Selbstverhältnis modifiziert, versteht Anders die verschiedenen Typen des In-Seins auch als „Verwandlungssituationen“.380 Im Mitvollzug der Musik ver­ wandelt sich die Existenz des Zuhörers.381 Dass Anders die Grundbegriffe seiner Musikontologie mit so unterschied­ lichen theoretischen Ansätzen wie der Subjektivitätsphilosophie Hegels und der Daseinsanalyse Heideggers verbindet, ist durchaus problematisch. Einer­ seits erhebt er gleich zu Beginn der Untersuchung den phänomenologischen Anspruch, sich am „Faktum“ der Musik zu orientieren.382 Andererseits stellt er 377 Anders,

Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 100 [83]. Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 32 [33]. 379 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 83 [71]. 380 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 92 [78]. 381  Da nach Anders Auffassung im Mitvollzug der musikalische Gegenstand immer wieder reproduziert wird (Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 70 [62]), kann eine musikalische Situation von einem Zuhörer im Wesentlichen ebenso wie von einem ausführenden Musiker erfahren werden. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen wird von Anders nur in Ausnahmefällen wie der Musik Wagners the­ matisiert, die er – worauf noch näher eingegangen wird – von einer ganz bestimmen Rezep­ tionshaltung her begreift: „Dieser Bewegtheitsform [der Musik Wagners] setzt das Hören bezw. der Mensch, sofern er ‚ganz Ohr‘ ist, keine eigene, etwa akthafte, Bewegtheitsform entgegen; er ist jeder Verwandlung zugänglich: den Tristan Hören ist angemessener als ihn spielen.“ Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 100 [83]. 382  In der Formulierung dieses Anspruchs lassen sich deutlich Anklänge an Heideggers Hermeneutik der Faktizität, aber auch an Heideggers Schreibstil und seine performative 378 Anders,

194 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik den Übergang von musikalischen Situationen zu musikalischen Gegenständen als eine Form der Objektivierung dar. Wenn die Entwicklung der Musik aus dem Wesen der Subjektivität erklärt werden soll, dann erscheint der Status von Musik als eigenständiger Phänomenbereich jedoch prekär. Das musikalische Kunstwerk ist nur dann ein ‚Faktum‘, wenn sich sein Sinn in der Auslegung seiner Gegebenheitsweise erschließt. Die verschiedenen systematischen Funk­ tionen, die Anders dem Begriff der musikalischen Situation zuschreibt, sind letztlich widersprüchlich. Die Kohärenz seiner Musikontologie lässt sich da­ her grundsätzlich in Frage stellen. Für die Anwendung von Heideggers Stim­ mungstheorie in der Musikhermeneutik ist seine Schrift dennoch in mindes­ tens drei Hinsichten instruktiv. Erstens differenziert Anders Heideggers Be­ griff des In-seins in einer Weise aus, die es ermöglicht, den durch Stimmungen mitgestalteten Gegenstandsbezug der Musikrezeption genauer zu beschreiben. Zweitens entwickelt er eigenständige Überlegungen zur zeitlichen Konstitution musikalischer Stimmungen. Und drittens wirft Anders mit seiner Interpreta­ tion des In-Musik-Seins als „Enklavesituation“ die grundsätzliche Frage nach der Welthaltigkeit von Musik auf.383 Die verschiedenen Weisen des In-Seins werden von Anders durch die Inter­ pretationen musikalischer Beispiele erläutert. So verdeutlicht er an Wagners Vor­ spiel zu Tristan und Isolde, was er als „Aufgelöstsein-in“ versteht. Anders geht hierfür zunächst auf formale Eigenschaften der Komposition ein und hebt dabei insbesondere die Funktion des Leittons hervor. Der Leitton dränge zur harmoni­ schen Auflösung und erzeuge dadurch die Bewegung eines „bezuglosen Fallens und Zergehens“.384 Die Musik Wagners sei in diesem Sinne eine Art „ziel- und substratloses Werden“.385 Der Rezipient, der diese Bewegung mitvollziehe, werde so verwandelt, dass er zwischen sich selbst und seiner Welt nicht mehr unter­ scheiden könne. Von Wagners Musik ergriffen, verschmelze beim Rezipienten die „ontische Existenz“ mit dem „Medium“ der eigenen Existenz.386 Die Auflö­ sung individuellen Bewusstseins, die Anders hier in der Terminologie von Hei­ deggers Daseinsanalyse beschreibt, hat ihr Vorbild in Nietzsches Interpretation von Wagners Musik als dionysischem Kunstwerk.387 Anders schreibt also impli­ zit eine bestimmte Tradition der Wagner-Rezeption fort. Für eine systematische Darstellung von Stimmungen heraushören. Das lebensphilosophische Pathos ist bei Anders noch stärker ausgeprägt. So beschreibt er das „Faktum“ der Musik nicht nur als etwas, das ihn „umtreibe“ und ins „Staunen“ versetze, sondern er schreibt auch von einer „konstanten Bestürztheit“ und „quälenden Frage-Unruhe“, die seine hermeneutische Situation ausma­ che und aus der er philosophisch „herausfinden“ müsse. Vgl. Anders, Philosophische Un­ tersuchungen über musikalische Situationen, 6–9 [16–18]. 383 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 92 [78]. 384 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 92 [78]. 385 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 92 [78]. 386 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 93 [78]. 387  Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 120–129.

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

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Typologie musikalischen In-Seins ist es nun nachrangig, ob diese Interpretation von Wagners Musik überzeugend ist. Entscheidend ist vielmehr, dass mit dem Aufgelöstsein eine Form von Musikrezeption konzeptionell erfasst wird, bei der der Gegenstandsbezug hinter die Erfahrung eines entgrenzenden Gestimmt­ seins zurücktritt. Die Situation des „Gelöstseins“ wird von Anders am Beispiel der Musik Mo­ zarts erläutert. Als formale Anhaltspunkte hebt er die charakteristische Funk­ tion von T hesis und Arsis, Schwung und Spannung in Mozarts Kompositio­ nen hervor.388 Anders betont somit den rhythmischen Charakter dieser Musik: „Spannung und Lösung sind die beiden, wie Ein- und Ausatmen, notwendigen und notwendig abwechselnden Bewegungsphasen, in die die Musik und die mu­ sikalische Situation sich rhythmisiert.“389 Das Gelöstsein kann sich daher nicht nur im Zuhören einstellen, sondern ist auch charakteristisch für den Tanz. Nach Anders’ Interpretation ist das Tanzen eine „Verwirklichung menschlicher Be­ wegungsfreiheit, der Unverwurzeltheit seines Leibes, seiner im aufrechten Gang sich symbolisierenden Freiheit vom Boden“.390 Die Situation des Gelöstseins ist also primär durch Freiheit bestimmt. Die spezifische Formgebung und subtile Phrasierung von Mozarts Musik ist für den Zuhörer deshalb lustvoll, weil in ihrem Mitvollzug die eigene Bewegungsfreiheit erfahrbar wird. Die Gelöstheit könne sich auf diese Weise bis zur „Ausgelassenheit“ steigern.391 Anders zieht hier eine Parallele zu der Situation des Spiels. Weder der spielende Mensch noch der gelöste Zuhörer sei auf ein Ziel ausgerichtet, das über den Vollzug dieser Tä­ tigkeit hinausgehe.392 Der Musikrezipient verliert sich hier also nicht in der Mu­ sik, sondern ist durch die Musik ganz bei sich selbst als einem freien Menschen. Das ästhetische Vergnügen, das durch diese Bewegung entsteht, führt zu einer vollständigen Abblendung der Umwelt: „Die Distanzierung von der Welt, die be­ reits im Kantischen ‚uninteressierten Wohlgefallen‘ liegt, wird hier zum Fortfal­ len der Welt.“393 Auch wenn ‚Gelöstheit‘ und ‚Ausgelassenheit‘ als Stimmungen im Alltag auftreten können, ist der Mitvollzug musikalischen Gelöstseins nach Anders also gerade keine Weise des In-der-Welt-seins.

388 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 106–108 [86–88]. Ellensohn weist nach, dass diese Aspekte auch in der musikwissenschaftlichen Forschung zu Mozarts Werk hervorgehoben werden. Vgl. Ellensohn, Der andere Anders, 87. 389 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 106 [87]. 390 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 101 [84]. 391  Vgl. Günther Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situatio­ nen, 105 [86]. 392  Die Bewegung von Mozarts Musik lasse sich daher als ein Form der ἐντελέχεια ver­ stehen. Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 104 [85]. 393 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 101–102 [84].

196 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Als Beispiel für die Erfahrung des „Abglöstseins-von“ geht Anders auf die polyphone Instrumentalmusik Bachs ein.394 Er betont an diesem Beispiel die Ei­ genständigkeit der Musik, sie gilt ihm als besonders „objektive“ Form.395 Die Bewegungen der Stimmen erreichen in einer Komposition wie der Fuge eine Komplexität, die im Gemütsleben des einzelnen Menschen kein Äquivalent be­ sitzt: „Es gibt keinen psychischen Verlauf oder Zustand, dessen Struktur einer Fuge ähnelte, kein seelisches Nachhinken, dem die Form des comes eignete; kein Wiedererleben eines Lebensthemas, das sich spiegeln könnte als Variation.“396 Anders schließt daraus, dass die Formen, die der Zuhörer bei einer Fuge Bachs mitvollzieht, keine „menschlichen“ seien.397 Eine derart objektive Musik hat für Anders einen eminent gegenständlichen Charakter. Die Bewegung, die diese Musik als Ganze bestimmt, umschreibt er mit Ausdrücken wie „reines Gesche­ hen“ und „es ereignet sich“.398 Es handelt sich also um eine in sich geschlossene, selbsterhaltende Bewegung. Bachs Musik gewinnt nach Anders auf diese Weise einen „dinghaften und bestandhaften Charakter“.399 Auch wenn sich dieser Cha­ rakter hier im zeitlichen Medium des Tones bildet, so wird der Verlaufscharakter in der Rezeption, die Anders beschreibt, doch nicht als solcher thematisch. In der objektiven Musik erreichen die zeitlichen Strukturen mitunter eine Komplexität, die sich im Hören nicht mehr einholen lässt.400 Im Mitvollzug dieser musikali­ schen Situation wird die Zeit daher nicht als solche erfahren, primär ist vielmehr der „Raum des musikalischen Gegenstandes“.401 394  Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 155– 163 [121–126]. 395  „Eine Fuge wird mit Recht ‚objektiver‘ als ein Chopinsches Nocturne genannt.“ An­ ders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 155 [122]. Als weitere Beispiel für besonders ‚objektive‘ Musiken werden die Messen Josquin Desprez’ und die Werke Schönbergs genannt. Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musika­ lische Situationen, 171, 176, 178–180 [132, 134, 136–138]. Eine Gemeinsamkeit dieser Bei­ spiele ist, dass sie auf formal besonders anspruchsvollen Kompositionsprinzipien beruhen, die sich bei einem ersten Hören in der Regel nicht vollständig erschließen lassen. 396 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 155–156 [122]. 397 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 156 [123]. Dagegen lässt sich fragen, ob sich die Gleichberechtigung und gegenseitige Bezugnahmen von Stimmen in polyphoner Musik nicht auch als eine soziale Situation interpretieren lässt. In jedem Fall bleibt die Kategorie des Nicht-Menschlichen, die Anders hier aufruft, klä­ rungsbedürftig. 398 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 164 [128]. 399 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 164 [128]. 400  Anders interpretiert den Umstand, dass die zeitliche Struktur einiger musikalischer Kunstwerke die Fähigkeiten unserer auditiven Wahrnehmung prinzipiell übersteigt, als Er­ habenheit solcher Werke. Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen 176 [136]. 401  Anders geht davon aus, dass „jede musikalische Situation sich ihren ursprünglichen Raum“ schaffe (Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 116 [93]). Der Raum bildet also eine Dimension des In-seins, ist jedoch der Argumentation

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

197

Der Mitvollzug einer Bach’schen Fuge unterscheidet sich für Anders daher grundlegend von den zuvor behandelten Beispielen. Das „In-der-Fuge-sein“ ist eine Alteritätserfahrung.402 Der Zuhörer löst sich in der objektiven Musik von sich selbst, ohne sich dabei jedoch in dieser Musik zu verlieren. Die „Selbstab­ gelöstheit“ ist zugleich Erfahrung eines musikalischen Gegenstandes als auch Erfahrung der eigenen Objektivierbarkeit.403 Der Mensch erfährt sich so, als ob er sich von außen betrachtet: „Durch das Nicht-bei-sich-sein, durch das Nichtauf- sich, sondern auf den Gegenstand vorgewendet sein, ‚hört‘ das Ich auf, ‚Ich‘ zu sein; und wird zum Objekt.“404 Anders bringt die Beschreibung dieser Selbst­ wahrnehmung auf die prägnante Formel: „Mit-Gegenständlich-werden“.405 In­ wieweit ein solcher Vorgang der Musik Bachs im Einzelnen gerecht wird, lässt sich an dieser Stelle nicht klären. In phänomenologischer Hinsicht erscheint es sinnvoll, das ‚Mit-Gegenständlich-werden‘, von dem Anders spricht, anschau­ lich auszuweisen und noch stärker in der Musikrezeption selbst zu verorten, als er das selbst tut. Bemerkenswert ist an dieser Vorstellung die Implikation, dass der Musikhörer, der eine solche Erfahrung vollzieht, sich selbst als Einzelnen deutlicher wahrnehmen kann, als das sonst der Fall ist. Denn im Unterschied zu einem lebendigen Menschen ist ein beständiger Gegenstand klar begrenzt. Das Mit-gegenständlich-werden kann daher auch als die vereinzelnde Wirkung einer besonderen musikalischen Situation verstanden werden. Dieser Vorgang wäre dann im Unterschied zu der für Heidegger maßgeblichen Erfahrung von Vereinzelung weder mit der Grundstimmung der Angst noch der Einsicht in die eigene Sterblichkeit verbunden, 406 sondern eher mit der Wahrnehmung von kla­ ren Umgrenzungen. Der Mitvollzug objektiver Musik könnte somit auch dazu führen, dass der Zuhörer sich innerlich sammelt, beruhigt und konzentriert und sich auf diese Weise selbst anschaulich wird.407 Damit sich eine solche Wechselwirkung zwischen Musik und Rezipient er­ eignen kann, muss der Rezipient einen Einstellungswechsel vollziehen. Anders hebt daher den Moment des Eintritts in eine musikalische Situation hervor, mit dem die beschriebenen Musikerfahrungen und Modifikationen von Selbstwahr­ des Textes folgend für die verschiedenen Typen musikalischer Situationen nicht in unter­ schiedlichem Maße charakteristisch. 402 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 156 [123]. 403 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 162 [126]. 404 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 161 [Fuß­ note 321, 311–312]. 405 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 161 [126]. 406  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 349–352. 407  Eine solche Anschauung wäre mit der Objektwahrnehmung insbesondere dann ver­ gleichbar, wenn sich in ihr das Leben als ein Ganzes zeigte. Inwiefern eine solche ästhetische Erfahrung tatsächlich von musikalischen Werken einer besonderen Art ermöglicht wird, welche Rolle Stimmungen dabei spielen und welcher epistemologische Status einer solchen Erfahrung zukommt, müsste allerdings noch näher untersucht werden, um die Interpreta­ tion von Anders’ Position hier zu plausibilisieren.

198 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik nehmung beginnen. Es handelt sich um eine „Umstimmung“.408 Er versteht die­ sen Vorgang als einen unvermittelten Wechsel aus der alltäglichen Gestimmtheit des Daseins in eine Stimmung, die dem musikalischen Geschehen entspricht. Im Gegensatz etwa zu dem Gefühl des Mitleids, bei dem die Gestimmtheit des­ jenigen, der Mitleid empfindet, von derjenigen, der bemitleidet wird, divergie­ ren kann,409 geht Anders hier von einer kontinuierlichen Übereinstimmung zwischen Musikrezipient und musikalischem Gegenstand aus: „So gewiss also zur Verwirklichung des Mitvollzugs jeweils eine ganz bestimmte Gestimmtheit realisiert sein muss, so sehr geht doch diese Gestimmtheit im Mitvollzug selbst auf.“410 Die Stimmung, die den Eintritt in die musikalische Situation bedingt, bleibt in dieser erhalten. Der Rezipient ist durch die Zeitlichkeit des musikalischen Werks bestimmt. Im Mitvollzug sind die Gestimmtheit des Hörers und die des Werkes daher kon­ tinuierlich vereint. Damit sich eine solche Synchronizität der Gestimmtheit ein­ stellen kann, müssen diejenigen Stimmungen aufgelöst, unterbrochen oder un­ terdrückt werden, die den Musikrezipienten vor dem jeweiligen Eintritt in die musikalische Situation in seinem alltäglichen Dasein begleiten: „Diese Einheit von Gestimmtheit und Vollzug erfordert ihrerseits wieder einen Einsatz, einen Sprung, eine mit vielen Ausschaltungen verbundene Um- und Einschaltung.“411 Zwar beschränkt sich Anders auch an dieser Stelle weitgehend auf die Analyse der strukturellen Funktion von Stimmungen und Gestimmtheit, er gibt aber zu­ mindest einen Hinweis, wie sich das Verhältnis von musikalischem Gegenstand und Mitvollzug konkretisieren kann: „[S]o ist etwa das Mitgerissenwerden zu­ gleich spezifische Umschaltung und als Mitgerissensein spezifisches Gestimmt­ heit.“412 In dieser Interpretation erscheint der Raptus, in den ein Zuhörer fallen kann, nicht als subjektiver Zustand, sondern vielmehr als ein Prozess, in dem die Erfahrung eines initialen Anstoßes durch die Musik in ihrem Mitvollzug zeitliche Dauer gewinnt.413 Eine solche „korrelate Gestimmtheitssituation“ er­ fordert daher auch nicht nur die prinzipielle Hörbereitschaft seitens des Musik­ rezipienten, sondern den Mitvollzug des Moments, in dem die Musik oder eine bestimmte musikalische Bewegung einsetzt.414

408 Anders,

Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 73 [65]. Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 78 [68]. 410 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 78 [68]. 411 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 79 [68]. 412 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 79 [69]. 413  „Das Mitgerissensein, in dem das durchschnittliche Tempo des Lebens und seine eigene Rhythmik überrannt wird“, nimmt nach Anders’ Verständnis sogar eine „Zentral­ stellung“ in der Musik ein. Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Si­ tuationen, 81 [70]. 414  Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 78 [68]. 409 

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

199

Dass die Musikrezeption sich in dieser Weise gestalten kann, wird von An­ ders existenzialontologisch begründet. Er nimmt in diesem Zusammenhang explizit auf Heideggers Analyse der Befindlichkeit in Sein und Zeit Bezug. An­ ders schreibt: „Umstimmbarkeit und ‚Gestimmtheit‘ sind von vornherein der menschlichen Existenz zuzurechnen.“415 Er bezeichnet die Stimmungen, die den Menschen im Alltag bestimmen, auch als „Farben seines Seins“.416 Einen in­ struktiven Hinweis für ein differenzierteres Verständnis dieses Bereichs gibt An­ ders, indem er eine Reihe von Ausdrücken aus dem alltäglichen Sprachgebrauch zusammenstellt, mit den Stimmungsveränderungen angezeigt werden können: „Erschüttertsein, Gerührtsein, Erhobensein, Schweben, Weichwerden, Erbaut­ sein (nämlich nach einem vorgehenden Zustand des Zerfallenseins), Vergehen, Gelöstseins, Schwimmen, Aufgelöstsein.“417 An diesen Ausdrücken zeigt sich, dass Stimmungen häufig im Rekurs auf Vorstellungen aus den Bereichen von Be­ wegung, Gewicht und Konsistenz beschrieben werden. Vom Primat lebenswelt­ licher Erfahrung ausgehend lehnt Anders eine Interpretation dieser Ausdrücke als Metaphern jedoch ab: „Trauer ist nicht lastend, weil sie einem Eisengewichte ähnelte, sondern sofern die Existenz belastet, niedergedrückt sein kann, kann nun so etwas wie Belastetes mitvollzogen werden.“418 Anders übernimmt hier implizit Heideggers Begriff des „Lastcharakters“ des Daseins.419 Dass ‚Gelöstsein‘ und ‚Aufgelöstsein‘ von Anders im Kontext alltäglicher Ge­ stimmtheit genannt werden, gleichzeitig aber auch, wie dargestellt wurde, als Charakteristika bestimmter Werke und musikalischer Situationen in Anspruch genommen werden, wirft die Frage auf, wie sich alltägliche Stimmungen zu mu­ sikalischen verhalten. Anders vertritt die Position, dass ein kategorischer Unter­ schied zwischen ihnen bestehe. Sein Verständnis des In-Musik-Seins als einer „Verwandlungssituation“ umfasst auch eine Transformation der Gestimmtheit: Die „musikalischen Stimmungen“ lägen „außerhalb des Horizontes“ alltäglichen Daseins und könnten nur durch die „Technik“ der Musik hergestellt werden.420 415 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 79 [69]. Bei Heidegger heißt es auf der Seite, auf die Anders hier in einer Fußnote verweist: „Daß Stim­ mungen verdorben werden und umschlagen können, sagt nur, daß das Dasein je schon immer gestimmt ist.“ Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 179. 416 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 79 [69]. Vgl. Zur Semantik des „Färbens“ in Bezug auf die Gestimmtheit des Daseins: Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 450. 417 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 79 [69]. Für die Verwendung des ‚Schwimmens‘ im Sinne einer bestimmten Stimmung verweist Anders in einer Fußnote auf Nietzsches späte Wagner-Kritik in Nietzsche contra Wagner. Vgl. Fried­ rich Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, KSA 6, 421–422. 418 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 80 [69]. 419  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 179. 420 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 81 [70]. In Hinblick auf die Kunstmusik kommt Besseler, wie bereits zitiert, zu einem ganz ähn­ lichen Urteil: „Sobald die Musik ihre Beziehungen zu jenen ‚alltäglichen‘, außermusikali­

200 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik Eine schlüssige Begründung für diese T hese liefert Anders nicht. Tatsächlich erscheint sie aufgrund der Verwendung desselben Beschreibungsvokabulars für musikalische und alltägliche Stimmungen, auf die Anders selbst indirekt ver­ weist, sachlich nicht überzeugend. Wenn die Stimmungen, in die uns die Musik versetzt, mit denen, die wir im Alltag erleben, nicht zusammenhingen, dann müssten ihre sprachlichen Artikulationen sich deutlich voneinander unterschei­ den. Das ist aber nicht der Fall. Dieses Problem gehört in den weiteren Zusam­ menhang der Frage nach der Welthaftigkeit musikalischer Kunstwerke, auf die Anders eine durchaus problematische Antwort gibt. In-Musik-sein bedeutet für ihn „Nicht-in-der-Welt-sein“.421 Diese Idee stellt dem Selbstverständnis des Au­ tors zufolge den entscheidenden Schritt über Heideggers Existenzialontologie hinaus in Richtung einer phänomenologischen Ästhetik dar. T heoretische An­ sätze, die den Vollzug von Musik als einen bestimmten Modus des In-der-Weltseins fassen, werden von Anders daher systematisch ausgeschlossen.422 Dass ein musikalischer Gegenstand den Menschen absorbieren und aus dem Alltag herausziehen kann, ist der phänomenologische Ansatzpunkt, von dem aus Anders das In-Musik-Seins als eine „Enklave“ bestimmt.423 Es geht ihm also um eine Situation, die den Menschen ‚einschließt‘ und nach außen hin ‚abschließt‘. schen Verhaltungsweisen löst, um rein ästhetische Gegenständlichkeit zu werden, hört sie auch auf, mit der mannigfachen alltäglichen Gestimmtheit verbunden zu sein.“ (Besseler, Grundfragen der Musikästhetik, 70) Die Autonomie von Musik als Kunstform wird von Anders und Besseler zwar genau konträr bewertet. Sie kommen aber darin überein, dass sie diese Autonomie auch an der abgehobenen Gestimmtheit des musikalischen Kunstwerks festmachen. 421 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 34 [36]. Zur Bedeutung der Idee des „Menschen ohne Welt“ in Anders’ Werk vgl. Ellensohn, Der andere Anders, 13–16. 422  Vgl. So schreibt Anders „Eine Formulierung, wie diejenige Bukofzers, dem Musizie­ renden solle es im Vollzug um sein Sein (sein alltägliches Dasein wie sein geistiges Selbst) gehen‘, ist nichts als eine unerlaubte Anwendung des Heideggerschen Daseinsbegriffes auf die musikalische Existenz.“ Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Si­ tuationen, 35 [36]. In dem von Anders zitierten Aufsatz verfolgt Manfred Bukofzer, der ein Schüler Heinrich Besselers ist, die Absicht, eine Auffassung von Musik als autonomer Kunstform zu kritisieren und dagegen die „Echtheit“ gebrauchsmusikalischer Produktion zu beschreiben, deren Sinn sich aus ihrem „alltäglichen sozialen Sein“ ergebe. Vgl. Manfred Bukofzer, „Zur Frage nach der Wirklichkeit des Musizierens“, Musik und Gesellschaft 5 (1930), 147–151, hier insbesondere 148–149. Einen jüngeren Ansatz, demzufolge Musik als „ein spezifischer Modus des In-der-Welt-Seins“ zu interpretieren ist, bietet Bernhard Schlei­ ser, Eine existenzialanalytische Interpretation der Musik, Frankfurt am Main 1998, insbe­ sondere 14. Schleiser berücksichtigt in seiner Untersuchung nicht, dass die Frage, inwiefern die Musik als ein Modus des In-der-Welt-Seins gedacht werden kann, von Musikwissen­ schatlern wie Besseler und Bukofzer und Philosophen wie Anders bereits Mitte der 1920er Jahre diskutiert wurde. Die Unkenntnis dieses historischen Rezeptionszusammenhanges könnte dazu beigetragen haben, dass sich Schleisers Untersuchung über weite Strecken in schematischer Weise an Sein und Zeit anlehnt, auch dort wo die Analogie zwischen Musik­ theorie und Existenzialanalyse nur schwer nachvollziehbar ist. 423 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 46 [44].

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

201

Eine solche Wirkung von Musik lässt sich in der Analyse des Zeitbewusstseins tatsächlich nachvollziehen: „Solange die musikalische Situation dauert, ist der Mensch trotz aller immanenten Rückweisungen und Vorweisungen der Musik selbst immer im Jetzt.“424 Anders geht also davon aus, dass Musik immer nur als gegenwärtige gegeben sei. Weil der Musikhörer die Zeit als intensivierte Ge­ genwart erfahren kann und das nicht nur für einen Augenblick, sondern für die gesamte Dauer des musikalischen Geschehens, spricht Anders auch von „musi­ kalischer Existenz“.425 Auch wenn diese Existenz ihre eigene Zeitlichkeit besitzt, geht das menschliche Leben doch gleichzeitig weiter. Das muss dem Zuhörer al­ lerdings nicht als solches bewusst sein.426 Wenn man sich an einen musikalischen Gegenstand erinnert, dann ist er, im Unterschied zu visuellen Objekten, im Bewusstsein so präsent, dass er in seiner Bewegtheit mitvollzogen werden kann. Erinnert man sich beispielsweise an ein Bild, das man einmal oder gar mehrere Male eingehend betrachtet hat, kann man dieses unter Umständen im Gedächtnis exakt rekonstruieren. Der Vollzug eines solchen erinnernden Sehens ist aber von der Wahrnehmung eines gegen­ wärtig sichtbaren Bildes völlig verschieden. Die Möglichkeit durch Erinnerung neue Beobachtungen an einem Bild zu machen, ist ausgesprochen gering. Bei musikalischen Gegenständen wie beispielsweise einer Melodie verhält sich das anders. Die Gedächtnisakte folgen hier der rhythmischen Struktur des Gegen­ stands, der erinnert wird und können so selbst als musikalischer Vollzug gelten. Beim „virtuellen Hören“ wird der Gegenstand des Hörens miterzeugt.427 Der Unterschied zwischen Rezeption und Produktion, der für ein Musikverständ­ 424 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 37 [38]. An Stellen wie dieser wird deutlich, dass nicht nur Heideggers philosophische Ansätze, son­ dern auch diejenigen Husserls und insbesondere dessen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins einen entscheidenden Einfluss auf die von Anders entworfene Musikontologie besitzen. Vgl. Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Halle 1928. 425 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 36 [38]. 426  Anders verweist in diesem Zusammenhang auf ein historisches Beispiel, bei dem das Bewusstsein davon, dass die musikalische Zeiterfahrung nicht der Zeitlichkeit des menschlichen Lebens entspricht, besonders dramatisch zur Geltung kommt: „Die Zeit ist abgesperrt: spielte beim Untergang der Titanic [durchgestrichen: Atlantis] die Kapelle, so verhinderte sie nicht nur den Einbruch der realen Lebenszeit, sondern deren Abbruch, und hielt ihn draussen; von jenem musikalischen Zeitleben aus, das ein T hema in da capo noch einmal aufzunehmen wagte, war die Aussicht auf den Tod versperrt.“ Anders, Philosophi­ sche Untersuchungen über musikalische Situationen, 36–37 [38]. 427  Anders vergleicht das musikalische Gedächtnis daher erneut mit der Kantischen Einbildungskraft, „durch die selbst das Dasein des Objekts in der Anschauung gegeben wird“. Das Gehör könne in eben diesem Sinne als „intuitus originarius“ tätig werden. Da der Ausdruck ‚Einbildungskraft‘ allerdings eine besondere Nähe zum visuellen Bereich besitzt, erwägt Anders, ob für das beschriebene Potential des Gehörs nicht Fichtes Begriff der „Bil­ dungskraft“ treffender sei. Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 136–137 [107–108].

202 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik nis, das vom Mitvollzug ausgeht, ohnehin sekundär ist, verschwindet hier völlig: „Das stumme Hören realisiert selbst das, was es hört. Dadurch ist es im Grunde identisch mit dem stummen Singen.“428 Aus dem Umstand, dass Musik nicht erinnert werden kann, ohne dass sie zugleich „neu realisiert“ wird, folgert Anders, dass die Musik prinzipiell „unhis­ torisch“ sei.429 Dieser Schluss ist jedoch keineswegs zwingend. Er wäre zutref­ fend, wenn die musikalische Situation eine Enklave bilden würde, die keinerlei Verbindung zur historischen Welt besäße. Die musikalische Existenz ist vom wirklichen Leben aber nie vollständig getrennt. Selbst wenn ein Zuhörer oder ein Musiker sich von einer Musik gefangen nehmen lässt, können Reflexionen und Erinnerung zum Vollzug hinzukommen, die die aktuelle Situation übersteigen. Zudem ist es möglich, wie Besseler gezeigt hat, den Mitvollzug von Werken ver­ gangener Epochen als hermeneutischen Zugang zu diesen zu begreifen. Dass An­ ders diese Verbindung zwischen musikalischer Situation und Geschichte nicht sieht, ist der Orientierung an der Wahrnehmung und insbesondere einer idea­ lisierten Vorstellung der Situation des Zuhörens geschuldet. Musik kann zwar auch Erfahrung intensivierter Gegenwart sein, aber sie lässt sich nicht auf den präsentischen Enklavecharakter reduzieren. Umgekehrt ist das In-Musik-Sein auch nicht die einzige Weise, auf die Men­ schen aus dem Alltag entrückt werden. Anders zieht selbst den Vergleich zu „Schreck“, „Spiel“ und „Schlaf“.430 So unterschiedlich diese drei Enklavesitua­ tionen sind, besitzen sie doch die Gemeinsamkeit, dass mit ihnen eine besondere Zeiterfahrung verbunden ist und sie den Ort des Daseins modifizieren. Anders spricht in diesem Sinne auch von „exterritorialen Situationen“.431 Die Interpreta­ tion des Schrecks weist deutliche Parallelen zu Heideggers Angstanalyse in Sein und Zeit auf. So betont Anders den Bezug des Schrecks zum Nichts.432 Den Zu­ stand des Schlafes interpretiert er wiederum von der Aktivität des Träumens her. Anders deutet das „Traum-Ich“ als eine Repräsentation der eigenen Person, die im Schlaf ihre „geschichtliche Vergangenheit“ abstreife. „Ich und Welt“ seien im Traum in „völliger Verschmelzung“ gegeben.433 Im Gegensatz zu Nietzsches Interpretation des Traumes als apollinischer Sphäre macht Anders also eine ge­ radezu dionysische Traumerfahrung für das Verständnis des Schlafzustandes 428 Anders,

Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 138 [108]. Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 46 [44]. 430 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 46 [44–45]. 431 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 46 [44]. 432  „Der Schreck ist bei nichts. Aber dieses bei-nichts-sein ist kein unernstes Intermezzo im Ernst des Lebens wie das Spiel, sondern gerade eine radikale Infragestellung des Ernst­ horizontes.“ Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 47 [45]. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 247–251. 433  Vgl. Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 47–48 [46]. 429 

3.3. Die frühe Rezeption Heideggers in der Musiktheorie

203

geltend. 434 Die größte Ähnlichkeit zur Musik besitze aber nicht das Träumen, sondern das Spiel. Denn die Musik „ist nicht nur Lücke wie der Schreck, nicht nur Absinken wie der Schlaf, sie hat vielmehr, wie das Spiel, ihren eigenen Be­ ginn und ihre eigenen Schemata“.435 Den wesentlichen Unterschied zwischen Spiel und musikalischer Situation sieht Anders darin, dass das Spiel den Men­ schen zum anonymen Teilnehmer mache, der gerade in der Reduktion auf seine Funktion als austauschbarer Spieler Freude an dieser Enklave-Situation gewinnt. In der musikalischen Situation jedoch werde der Einzelne hingegen in seinem „einfachsten Dasein ergriffen“.436 An diesem Rückbezug der musikalischen Situation auf das „einfachste Da­ sein“, mit dem hier nicht zuletzt das alltägliche Dasein angesprochen ist, zeigt sich, dass sich Anders’ Bestimmung der Musik als Nicht-in-der-Welt-Sein streng genommen nicht durchhalten lässt. Die ‚Ergriffenheit‘ eines Musikhörers lässt sich letztlich nur so verstehen, dass ihm die Musik in der Welt begegnet und für diese bedeutsam ist. An den einzelnen Bestimmungen der Enklavesituationen, die Anders vornimmt, wird zudem deutlich, dass musikalische und alltägliche Stimmungen sehr viel enger miteinander verbunden sind, als Anders das an­ nimmt. So ist die Situation des Schrecks durchaus mit dem verwandt, was An­ ders als Umstimmung und Eintritt in den musikalischen Mitvollzug erörtert hat. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde gezeigt, dass der Stoßcharakter von Kunst­ werken, den Heidegger im Kunstwerkaufsatz beschreibt, strukturelle Parallelen zur Grundstimmung der Angst enthält.437 Die geträumte Verschmelzung von Welt und Ich, die Anders als entscheidendes Merkmal des Schlafzustandes her­ vorhebt, besitzt wiederum eine deutliche Nähe zu der musikalischen Situation des Aufgelöstseins, die am Werk Wagners exemplifiziert wurde. Diese Parallelen zwischen musikalischen Situationen und anderen Enklaven zeigen, dass das InMusik-Sein mit dem In-der-Welt-Sein inhaltlich verwandt ist. Selbst dann, wenn also in der Musikrezeption die alltägliche Welt für den Zuhörer zurücktritt, ist die Erfahrung musikalischer Gegenstände auf vielfache Weise mit der gesell­ schaftlichen und geschichtlichen Welt verbunden. Für das Verständnis musika­ lischer Stimmungen hat das zur Folge, dass sie im Zusammenhang einer umfas­ senden Stimmungstheorie verstanden werden sollten. Die Beschreibungen, die Anders von musikalischen Situationen und einzelnen Momenten des Mitvoll­ zugs entwickelt hat, können dabei durchaus instruktiv sein. Der ontologische Anspruch seiner Untersuchungen bleibt jedoch fragwürdig.

434 

Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 26–28. Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 48 [46]. 436 Anders, Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen, 49 [47]. 437  Vgl. Kap. 1.4.1. 435 Anders,

204 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik

3.4. Vergleich der Ansätze Besselers und Anders’ und musikphilosophischer Ausblick Heinrich Besseler und Günther Anders wählen in den hier untersuchten Tex­ ten denselben Ausgangspunkt: Sie fragen nach dem Verhältnis von Musik und Dasein. Für die systematische Position, die sie entwickeln, greifen sie beide auf Heideggers Analyse des alltäglichen Daseins und den Begriff der Stimmung zu­ rück. Dennoch haben ihre Untersuchungen musiktheoretisch betrachtet diame­ tral entgegengesetzte Ziele. Da Besseler für eine programmatische Aufwertung der Gebrauchsmusik ein­ tritt, betont er die Einbettung musikalischer Praxis in soziale Zusammenhänge. Die Gebrauchsmusik ist nach seiner Auffassung von der Gestimmtheit des je­ weiligen kollektiven Daseins geprägt. Die Stimmungen, welche die Musik erzeu­ gen kann, sind somit abhängig von der konkreten Gemeinschaft oder Gruppe, die diese Musik hervorgebracht hat. Gelingt es, die Stimmung einer bestimmten Musik angemessen zu interpretieren, wäre so eine Einsicht in die sozialen Um­ stände ihrer Entstehung gewonnen. Individuelle Wahrnehmungsdifferenzen er­ scheinen in dieser Perspektive nachrangig. Besseler kritisiert die geschichtliche Entwicklung der europäischen Kunstmusik und den modernen Konzertbetrieb dafür, dass sich die Musik in ihnen von gesellschaftlichen Zusammenhängen emanzipiert und in ihrer Ausdruckshaftigkeit ausdifferenziert. Sie gewinnt ein Eigendasein und eine intrinsische Gestimmtheit, die den Rezipienten in eine ästhetische Haltung versetzt. Zwar kann auch, was Besseler nicht berücksich­ tigt, eine Rezeptionsgemeinschaft eine identitätsstiftende Funktion besitzen. Die Stimmungen sind in diesem Fall aber nicht mehr abhängig von der Gemein­ schaft, sondern umgekehrt die Gemeinschaft von den Stimmungen, die durch die Musik vermittelt werden. Was Besseler kritisiert, wird von Anders ausdrücklich affirmiert. Anders ver­ teidigt die Autonomie der Musik als Kunstform gegen ihre Fremdbestimmung durch soziale Zusammenhänge. Der Mitvollzug von Musik ist für ihn im Unter­ schied zu Besseler nicht eine Form kollektiven Daseins, sondern stellt vielmehr eine individuelle Möglichkeit des Nicht-in-der-Welt-Seins dar. Der musikalische Gegenstand besitzt nach Anders einen eigenen Bewegungssinn, eine eigene Zeit­ lichkeit und eine eigene Gestimmtheit und Räumlichkeit. Wer eine musikalische Situation betritt, macht eine Enklave-Erfahrung. Musikalische Stimmungen ge­ hen demnach in einem individuellen und gegenwärtigen Gegenstandsbezug auf. Auch wenn Anders diese Bestimmungen an konkreten Beispielen plausibilisie­ ren kann, so ist das Isolationsmoment der Musikrezeption in seinem musikon­ tologischen Entwurf doch überbewertet. Soziale und historische Aspekte, welche die Erfahrung von Musik mitbestimmen, lassen sich in seiner Konzeption nicht mehr einholen.

3.4. Vergleich der Ansätze Besselers und Anders’

205

Sowohl Anders als auch Besseler machen Grundgedanken Heideggers für die Musikhermeneutik fruchtbar, und diese Übertragung findet statt, bevor Hei­ degger eine eigene kunstphilosophische Position formuliert und den Begriff der Grundstimmung für die Interpretation von Kunstwerken entwickelt. In der Frage nach der Gestimmtheit von Musik nehmen beide allerdings extreme Posi­ tionen ein, die als Vereinseitigungen bewertet werden müssen. Denn es erscheint in systematischer Hinsicht weder sinnvoll, die Stimmung von Musik mit Besseler auf den Sinn sozialer Praktiken zurückzuführen, der durch das Hinzukommen von Gebrauchsmusik unverändert bleibt, noch sollte die Gestimmtheit musikali­ scher Kunstwerke mit Anders als ein isoliertes Phänomen betrachtet werden, das keinerlei Beziehung zu anderen Lebensbereichen besäße. Musikalische Werke und Praktiken zeichnen sich durch Stimmungen aus, die letztlich in vielfacher Weise zum menschlichen Selbst- und Weltbezug beitragen. Musik ist in der Re­ gel jedoch nicht Ausdruck einer einfachen Stimmung, sondern bildet eher ein komplexes Stimmungsgefüge. Ein solches Gefüge steht sowohl in der Beziehung zu der Zeit als auch dem gesellschaftlichen Ort, an dem eine Musik entsteht, und ebenso zu den Menschen, die diese Musik hervorbringen und rezipieren. Weder bei Besseler noch bei Anders wird die Tätigkeit des Komponierens be­ rücksichtigt. Dieses T hema ist jedoch entscheidend, um die musikhermeneu­ tische Anwendung der Stimmungstheorie von dem linguistischen Modell des Ausdrucks abzugrenzen. In welcher Beziehung steht also die Grundstimmung eines musikalischen Werkes zu dem Komponisten, der es hervorbringt? Die Tä­ tigkeit eines Komponisten sollte nicht auf die Mitteilung einer Stimmung re­ duziert werden. Ein Komponist erschafft ein musikalisches Werk aus einer be­ sonderen Stimmung heraus, diese gewinnt aber erst im Werk eine konkrete Ge­ stalt.438 Es handelt sich also um ein Emergenzphänomen. Gestimmtheit ist eine Voraussetzung der Musikproduktion, die erst in einem Werk ein eigenständi­ ges Dasein gewinnt und als solche erfahrbar wird. Die formale Geschlossenheit eines Werkes setzt voraus, dass die Stimmungen ein Gefüge bilden. Die Stim­ mungstheorie ist für die hermeneutische Ästhetik daher von grundsätzlicher Be­ deutung. Anders’ Entwurf bietet mindestens zwei Argumente dafür, der Musik hier eine besondere Bedeutung beizumessen. Wenn Stimmungen einen vorprä­ dikativen Weltbezug darstellen, lässt sich ihr spezifischer kognitiver Charakter in einer sprachlichen oder bildlichen Repräsentation nicht ohne weiteres reali­ sieren. Damit Stimmungen in einem Kunstwerk Präsenz gewinnen, muss dieses 438 

Vgl. dazu John Sallis: „Just imagine. Imagine composing a symphony. Imagine sett­ ing out to compose a symphony. […] In the most propitious circumstances, one will have been drawn to the blank page by a certain Stimmung, by a moodful openness to the arrival of something that might begin to fill the blank page.“ John Sallis, Transfigurements. On the True Sense of Art, Chicago/London 2008, 57. Die Verbindung zu Heideggers Stimmungs­ theorie zieht Sallis in seinen Überlegungen zum Zusammenhang von Musik und Einbil­ dungskraft an dieser Stelle jedoch nicht.

206 3. Heideggers Stimmungstheorie und ihre Bedeutung für die Musikhermeneutik die Erfahrung von Zuständen oder kontinuierlichen Verläufen ermöglichen. Ge­ nau das ist mit dem vorintentionalen Gegenstandsbezug des musikalischen Hö­ rens gegeben. Zudem ermöglicht das Mediums des Tons eine besondere Erfah­ rung des In-seins. Solange die Musik klingt, ist der Zuhörer durch sie gestimmt. Wechsel, Unterbrechungen und Auflösungen von Stimmungen lassen sich in keiner anderen Kunstform so intensiv erfahren wie in der Musik. Da Stimmun­ gen im Bereich der Kunst in der Regel als komplexe Gefüge gegeben sind, ist ihre Interpretation streitbar. Der individuelle Mitvollzug führt zu Divergenzen zwi­ schen verschiedenen Rezipienten. Den Maßstab dafür bildet keinesfalls eine Re­ konstruktion der vermeintlichen Gemütsverfassung des Komponisten, sondern der musikalische Gegenstand als solcher, der immer wieder neu rezipiert und interpretiert werden kann. Stimmungen können in der Musik so präsent werden, dass sie den Hörer ab­ sorbieren und ihn aus dem Alltag herausreißen. Sie sind, hierin ist Anders zu wi­ dersprechen, aber auch dann noch welthaltig.439 Denn ästhetische Erfahrungen wie die des Raptus oder der Zäsur gehören zu der Welt, in der wir leben, und sie können uns mitunter auch Aufschluss über diese gewähren. Ebenso kann Musik aber auch alltägliche Tätigkeiten begleiten und deren intrinsische Gestimmt­ heit verstärken oder modifizieren. Man denke etwa auch an die Funktion von Filmmusik. Vor diesem Hintergrund sollten Anders’ Beschreibungen von En­ klave-Situationen und Besselers Erörterung von Gebrauchsmusik also in ihrer Gültigkeit beschränkt und als komplementäre Ansätze gefasst werden. Heideg­ gers Stimmungstheorie wiederum erlaubt es, das Verhältnis der musikalischen Stimmungen zur Welt in einigen Punkten noch differenzierter zu fassen, als Bes­ seler und Anders dies getan haben. Musik kann die Artikulation von Stimmun­ gen in anderen Bereichen beeinflussen. So lässt sich beispielsweise schon durch den schlichten Verweis auf musikalische Werke die affektive Valenz zwischen­ menschlicher Erfahrung hervorheben. Ein Beispiel dafür ist Heideggers Erwäh­ nung von Beethovens letzter Klaviersonate und des Schlusssatzes aus Bachs drit­ tem Brandenburgischen Konzert in den oben interpretierten Briefen an Hannah Arendt. Da das Hören von Musik heute selbstverständlich zur intellektuellen So­ zialisation gehört, scheint zudem auch die Frage angebracht, ob nicht die Stim­ mungen, die wir durch die Musik erfahren, bereits das Empfinden in anderen Bereichen bedingen. Es ist darüber hinaus naheliegend, zu fragen, ob nicht der vorprädikative Weltbezug, der nach Heidegger durch die Gestimmtheit des Da­ seins konstituiert wird, immer schon durch die Erfahrung von Musik vermittelt ist. In den damit berührten Zusammenhängen liegt das wichtigste und noch 439  In dieser Hinsicht ist Adorno zuzustimmen, wenn er schreibt: „Nichts [gibt es] in der Kunst, auch nicht in der sublimiertesten, was nicht aus der Welt stammte.“ Adorno, Ästhetische T heorie, Gesammelte Schriften, Band 7, Hrsg. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, 209.

3.4. Vergleich der Ansätze Besselers und Anders’

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nicht wirklich ausgeschöpfte Potential von Heideggers Stimmungstheorie für die Musikhermeneutik. Darüber hinaus besteht jedoch auch die Möglichkeit, die Analysen einzelner Grundstimmungen, die Heidegger entwickelt hat, für die Interpretation von konkreten Werken fruchtbar zu machen. So untersucht Eduardo Marx in einer umfangreichen Studie etwa die Gestimmtheit von Bee­ thovens Sturmsonate mithilfe von Heideggers Interpretation zu Hölderlins Andenken und Heimkunft/An die Verwandten.440 Denkbar wäre es auch, Heideggers Analyse der Langeweile für eine Interpretation von extrem reduzierten Werken der indeterminate music zu nutzen.441 Die vordringliche Aufgabe philosophischer Ästhetik ist aber nicht die Ana­ lyse einzelner Beispiele, entscheidend ist es für sie vielmehr, die Möglichkeit der Anwendung zu klären. Für den Zusammenhang von Heideggers Stimmungs­ theorie und der Musikhermeneutik hat sich dabei ein Rückgriff auf ein weithin unbeachtetes Kapitel der Rezeptionsgeschichte als produktiv erwiesen. In der Auseinandersetzung mit den Texten Besselers und Anders’ sollten zumindest einige Bausteine für eine systematische Ästhetik musikalischer Stimmungen zu Tage getreten sein. Die Entwicklung einer solchen T heorie wäre jedoch nicht mehr in der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie zu verorten. Die musikhermeneutische T heoriebildung könnte allerdings umgekehrt dazu beitragen, Heideggers Kunstphilosophie noch einmal neu zu perspektivieren. Auch wenn die Musik als eigenständige Kunstform bei Heidegger weitgehend ausgeklammert wird, so birgt seine Aufmerksamkeit für Grundstimmungen in Kunst und Dichtung doch eine musikalische Dimension. Aber erst, wenn diese von der Musik als Kunstform her verstanden werden kann, entfaltet der Stim­ mungsbegriff das phänomenologische Potential, das Heidegger ihm zuschreibt. Ohne die Erfahrung von Musik wäre es kaum möglich zu erfassen, wie sehr das menschliche Denken und Erleben von Stimmungen durchzogen ist.

440  Der Vergleich zwischen Beethoven und Heideggers Hölderlin-Auslegungen wirkt jedoch insgesamt forciert. So resümiert Marx das, was Beethoven in Shakespeares Sturm höre und entsprechend ins Ton-Werk setze als das „Gesetzt des Heimischwerdens aus dem Unheimischen […] Dieses Dichterische hörend und ton-dichterisch nach-sagend, führte Beethoven selbst ein Gespräch, das dem Seyn entspricht.“ Vgl. Eduardo Marx, Heidegger und der Ort der Musik, 101. 441  So erscheint es im Ausgang von Heideggers Stimmungstheorie durchaus nahe lie­ gend, musikalisch inszenierte Stille als performative Darstellung des Nichts zu interpre­ tieren. Zudem wäre die Funktion von reduziertem Material, extremer Langsamkeit und zeitlicher Dauer, etwa bei einem Stück wie Morton Feldmans For Philipp Guston, mit den Momenten der „Hingehaltenheit“ und „Leergelassenheit“ in Beziehung zu setzen (Vgl. Hei­ degger, Die Grundbegriff der Metaphysik, GA 29/30, 150–152). Zu einer geistesgeschichtli­ chen Perspektive auf das Verhältnis der Komponisten der New York School zu Heideggers Philosophie vgl. Michael Eldred, Heidegger Hölderlin e John Cage, Rom 2000.

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4. Schlussbemerkungen Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildete der Werkbegriff, den Hei­ degger in Der Ursprung des Kunstwerkes entwickelt hat. Die Fragen, auf welche Weise Werke gegeben sind und welche ontologische Dignität der Kunst allge­ mein zugesprochen werden kann, sind zentral für das Verständnis von Heideg­ gers Kunstphilosophie. Auch wenn Heidegger seine Philosophie in dieser Zeit nicht im engeren Sinne als phänomenologische Forschung versteht, konnte doch gezeigt werden, dass die Orientierung am Werkbegriff und an konkreten Wer­ ken ein phänomenologisches Charakteristikum darstellt. Denn diese Orientie­ rung führt erstens dazu, dass die Argumentation Heideggers nicht nur eine be­ sondere Anschaulichkeit anstrebt, sondern auch in der Beschreibung und Ana­ lyse von Beispielen weitgehend einlöst. Dieser Umstand hat sicherlich zu einer nachhaltigen Anziehungskraft der Kunstphilosophie Heideggers auf eine breite und vielgestaltige Leserschaft beigetragen. Die Orientierung am Werkbegriff führt zweitens auch dazu, dass die ontologischen Bedingungen erörtert werden, unter denen etwas als Kunst verstanden werden kann. Diese Bedingungen wer­ den weder in der Produktion noch in der Rezeption verortet, sondern primär in den wahrnehmbaren Objekten selbst. Die Fülle an Beispielen, die Heidegger in Der Ursprung des Kunstwerkes und in thematisch verwandten Vorlesungen der 1930er Jahre heranzieht, beinhaltet jedoch auch einen problematischen Aspekt. Es werden zwar begriffliche Differenzierungen zwischen Werken, alltäglichen Gebrauchsgegenständen und Dingen überhaupt in unterschiedlichen Hinsich­ ten entwickelt, aber diese Differenzierungen werden keineswegs terminologisch fixiert oder systematisch festgelegt. So bleibt die ontologische Dignität des Werk­ begriffs im Verhältnis zu anderen Gegenstandskonzeptionen in einer eigentüm­ lichen Schwebe. Die Aufwertung des Dingbegriffs als „Stätte des Gevierts“ in Heideggers Spätphilosophie verschärft dieses systematische Problem. Des Weiteren wurde rekonstruiert, wie die phänomenologischen Motive in Heideggers Kunstphilosophie von einer geschichtsphilosophischen Perspektive überlagert werden. Heidegger räumt der Dichtung Hölderlins eine Sonderstel­ lung ein, weil sie etwas leisten soll, was andere Kunstwerke in der Moderne zu leisten nicht im Stande seien. Die Dichtung Hölderlins wird in diesem Zuge zu einem wahrheitsstiftenden Geschehen stilisiert. Sie soll in der säkularen Mo­ derne nicht nur einen neuen Transzendenzbezug ermöglichen, sondern darüber hinaus einen entscheidenden Referenzpunkt für die nationale Identität bilden. Wahrheit zu stiften, bedeutet demnach vor allem, Sinnpotentiale für das Selbst­ verständnis einer Gemeinschaft zu eröffnen. Während Heidegger dem Werk

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4. Schlussbemerkungen

Hölderlins dieses Potential zuschreibt, sieht er es in der antiken Kunst bereits auf paradigmatische Weise verwirklicht. Heidegger wählt mit dem Typus eines sakralen Tempelbaus einen klassischen Topos der europäischen Architektur­ geschichte, um den Gedanken der Wahrheitsstiftung eine anschauliche Inter­ pretation zu verleihen. Durch die besondere Bedeutung, die dieses Beispiel für seine Argumentation erhält, wird der Status anderer Beispiele problematisch. Es stellt sich die Frage, inwieweit moderner Kunst überhaupt im vollen Sinne Werk­ charakter und eine wahrheitsstiftende Funktion zugesprochen werden können. Diese Frage bleibt im Rahmen von Heideggers Kunstphilosophie letztlich un­ beantwortet. Darüber hinaus ist diese geschichtsphilosophische Perspektive nur schwer mit den phänomenologischen Motiven von Heideggers Argumen­ tation in Einklang zu bringen. Es bleibt unklar, welche Verbindlichkeit kunst­ philosophische Kategorien haben sollen, die aus der Interpretation von moder­ nen Werken, wie etwa der Malerei van Goghs, gewonnen werden, wenn deren Kunststatus prekär ist. Heideggers Bestimmung des Werkseins erweist sich da­ mit letztlich als aporetisch. Aus diesem Grund kann eine anwendungsorientierte Ästhetik nur Teilaspekte von Heideggers Werkbegriff fruchtbar machen. Dass ein solcher Ansatz nichtsdestotrotz aussichtsreich ist, lässt sich durch einen Blick auf die Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie plausibilisieren. So wurden im zweiten Teil dieser Untersuchung mit der Dichtung Paul Celans und den Bauten des Schweizer Architekten Peter Zumthor zwei künstlerische Positionen herangezogen, die sich durch eine intensive Beschäftigung mit Hei­ deggers Kunstphilosophie auszeichnen. Sowohl bei Celan als auch bei Zumthor lässt sich diese Rezeption an programmatischen Texten, die der Selbstreflexion des künstlerischen Schaffens dienen, nachvollziehen. Für Celan sind Heideg­ gers Sprach- und Dichtungsverständnis sowie dessen T hematisierung von Tod, Stille und Gespräch zu einem zentralen Orientierungspunkt geworden. Deutlich wird das in der Büchner-Preisrede Der Meridian (1961), aber auch an einem Ge­ dicht wie Zähle die Mandeln (1952). Ab den 1950er Jahren zeigt sich eine deut­ liche Konvergenz zwischen den beiden Autoren in Hinblick auf ein dialogisches Sprachverständnis. Dass Celans persönliche Begegnungen mit Heidegger zu ei­ nem Topos in der Forschung und Literatur werden konnten, liegt nicht zuletzt an den zahlreichen intertextuellen Bezügen zwischen Celans Dichtung und Hei­ deggers Philosophie. Zumthors Architekturverständnis wiederum beinhaltet zahlreiche Parallelen zu Heideggers Bestimmungen von Ort, Umgebung, Erde und Geviert. Dass es neben systematischen Parallelen aber auch einen konkreten Einfluss von Hei­ degger auf das Denken des Schweizer Architekten gibt, lässt sich an mehreren Stellen in Architektur Denken (1998) und Atmosphären (2006) belegen. Dieser Befund wurde als Ausgangspunkt genommen, um Stilmerkmale wie die Auf­ wertung von Materialität oder die Inszenierung von Leere und Licht in Zum­ thors Bauten mithilfe von Überlegungen aus Heideggers Spätphilosophie zu

4. Schlussbemerkungen

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kontextualisieren und zu interpretieren. Dass diese Zusammenhänge nicht nur für eine philosophische Reflexion von Zumthors Selbstverständnis relevant sind, sondern auch für das Verständnis seiner architektonischen Arbeit instruktiv sein können, wurde am Beispiel der Bruder-Klaus-Kapelle (2006) dargelegt. Die Kapelle folgt einer Ästhetik, die sich mit Hilfe von Heideggers Denkfigur des Ge­ vierts dechiffrieren lässt. Eine solche Dechiffrierung ist ein möglicher Interpreta­ tionshorizont des Baus und gehört als solcher zugleich zur Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie. Der dritte Teil der Untersuchung setzte bei der Diagnose an, dass die Musik in Heideggers Kunstphilosophie eine Leerstelle bildet. Heidegger entwickelt we­ der im Kunstwerkaufsatz noch in anderen Texten eine Grundlage, um die Mu­ sik als eigenständige Kunstform zu denken. Dennoch findet sich in Heideggers Texten mit der Stimmungstheorie ein begriffliches Instrumentarium, das einen originellen Zugang zur Musik als Kunstform bietet. So wurde gezeigt, dass in Hinblick auf das philosophische Verständnis von Musik als Kunstform insbe­ sondere drei Aspekte von Heideggers Stimmungstheorie instruktiv sind. Erstens geht Heidegger davon aus, dass die Gestimmtheit eines Kunstwerks nicht mit einer basalen Emotion identifiziert werden kann, sondern ein komplexes Ge­ füge von Stimmungen beinhaltet. Zweitens wird die Einheit von gegensätzlichen Stimmungen wie etwa Jubel und Schrecken als Grund für die Schönheit eines Werkes dargestellt. Heidegger bezeichnet diese Einheit auch als „Urstimmung der Schönheit“. Drittens handelt es sich bei der Erzeugung einer Grundstim­ mung, nach Heidegger, um eine generische Paradoxie. Das bedeutet, dass nicht nur der Künstler durch die Stimmungen seiner Zeit bestimmt wird, sondern die künstlerische Produktion ihrerseits für zeitgebundene Stimmungen als ursäch­ lich zu betrachten ist. Diese Paradoxie lässt sich so erklären, dass in der Kunst­ produktion latente Stimmungen erschlossen und artikuliert werden. Wie eine solche Latenz theoretisch zu fassen ist, wird in Heideggers Stimmungstheorie allerdings nicht abschließend geklärt. Dies bleibt eine Aufgabe für die philoso­ phische Ästhetik, die noch eingehender zu diskutieren ist. Heideggers Stimmungstheorie hat in der Musikwissenschaft wie auch in der Musikphilosophie nur selten Beachtung gefunden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ein frühes Kapitel von Heideggers Rezeptionsgeschichte insbesondere in der philosophischen Forschung wenig bekannt ist, das im Rahmen dieser Un­ tersuchung zu rekonstruieren war. In diesen Zusammenhang gehören der in den 1920er Jahren entwickelte hermeneutische Ansatz des Musikwissenschaft­ lers Heinrich Besseler sowie der Entwurf einer phänomenologischen Musikon­ tologie, den Günther Anders in seiner lange unveröffentlicht gebliebenen Habi­ litationsschrift 1930 vorgelegt hat. Beide sind, wie gezeigt wurde, wesentlich von Heideggers Daseinsanalyse und seiner Stimmungstheorie beeinflusst. Besseler tritt in seinen Artikeln Grundfragen des musikalischen Hörens und Grundfragen der Musikästhetik für eine programmatische Aufwertung der Gebrauchsmusik

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4. Schlussbemerkungen

ein. Er betont daher die Einbettung musikalischer Praxis in soziale Zusammen­ hänge. Gebrauchsmusik ist nach seiner Auffassung von der Gestimmtheit ei­ nes kollektiven Daseins abhängig. Die Stimmungen, welche die Musik erzeugen kann, sind demnach durch die Gemeinschaft, die diese Musik hervorgebracht hat, bedingt. Gelingt es, die Stimmung eines historischen Beispiels angemes­ sen zu interpretieren, wäre so eine Einsicht in die sozialen Umstände ihrer Ent­ stehung gewonnen. Problematisch an Besselers Ansatz ist, dass er individuellen Wahrnehmungsdifferenzen nur selten Rechnung trägt. Besseler kritisiert zudem die geschichtliche Entwicklung der europäischen Kunstmusik und den moder­ nen Konzertbetrieb dafür, dass sich die Musik in ihnen von gesellschaftlichen Zusammenhängen emanzipiert und in ihrer Ausdruckshaftigkeit ausdifferen­ ziert. Sie gewinnt ein Eigendasein und eine intrinsische Gestimmtheit, die den Rezipienten in eine passivisch-ästhetische Haltung versetze. Besseler übersieht dabei freilich, dass auch dezidiert moderne Rezeptionsgemeinschaften identi­ tätsstiftende Funktionen entfalten können. Was Besseler kritisiert, wird von Anders gerade affirmiert. Anders verteidigt die Autonomie der Musik als Kunstform gegen ihre Vereinnahmung durch so­ ziale Zusammenhänge. Der Mitvollzug von Musik ist für Anders im Unterschied zu Besseler nicht eine Form kollektiven Daseins, sondern stellt vielmehr eine in­ dividuelle Möglichkeit des „Nicht-in-der-Welt-Seins“ dar. Wer eine musikalische Situation betrete, mache eine „Enklave-Erfahrung“. Das musikalische Kunst­ werk besitzt nach Anders einen eigenen Bewegungssinn, eine eigene Zeitlichkeit und eine eigene Gestimmtheit. Es ermögliche ein spezifisches „In-Musik-Sein“. Musikalische Stimmungen gehen demnach in einem individuellen und gegen­ wärtigen Gegenstandsbezug auf. Auch wenn Anders diese Bestimmungen an konkreten Beispielen plausibilisieren kann, so scheint das Isolationsmoment der Musikrezeption in seinem musikontologischen Entwurf doch tendenziell über­ bewertet zu sein. Soziale und historische Aspekte, welche die Erfahrung von Musik beeinflussen können, lassen sich in seiner Konzeption nicht einholen. In gewisser Hinsicht lassen sich die musikphänomenologischen und musikherme­ neutischen Ausführungen von Anders und Besseler daher als komplementäre Ansätze lesen, die es, wenn sie von den jeweiligen Vereinseitigungen befreit wer­ den, ermöglichen, ein vollständigeres Bild von musikalischer Stimmungserfah­ rung zu zeichnen. Anders’ Ansatz beinhaltet darüber hinaus zwei bemerkenswerte Argumente dafür, dass Musik eine besondere Bedeutung für die Stimmungstheorie hat. Wenn Stimmungen, wie Anders mit Heidegger annimmt, einen vorprädikati­ ven Weltbezug darstellen, lässt sich ihr spezifischer kognitiver Charakter in einer sprachlichen oder bildlichen Repräsentation nicht unmittelbar fassen. Stimmun­ gen entstehen in der Regel nicht durch Aussagen oder explizite Verweise, son­ dern eher durch die Erfahrung von kontinuierlichen Verläufen oder Zuständen. Genau das ist im vorintentionalen Gegenstandsbezug des musikalischen Hörens

4. Schlussbemerkungen

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möglich. Zudem eröffnet das Medium des Tons eine besonders intensive Erfah­ rung des In-seins. Solange die Musik gehört wird, ist der Zuhörer durch sie ge­ stimmt. Entstehen, Wechsel, Unterbrechung und Auflösung von Stimmungen lassen sich wohl in keiner anderen Kunstform so subtil gestalten wie in der Mu­ sik. Das hat zur Folge, dass nicht nur die Stimmungstheorie für die Musikher­ meneutik instruktiv sein kann, sondern auch umgekehrt die Musikhermeneutik für eine differenzierte Beschreibung von Stimmungen überhaupt. Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob die Stimmungen, die menschliches Den­ ken und Handeln prägen, nicht immer schon von musikalischer Erfahrung be­ einflusst sind. Eine Hermeneutik musikalischer Stimmungen müsste zudem die Möglichkeit komplexer Stimmungsgefüge noch genauer beschreiben können. Eine solche Hermeneutik wäre allerdings nicht mehr in der Wirkungsgeschichte von Heideggers Kunstphilosophie zu verorten, sondern ginge in systematischer Absicht über diese hinaus.

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225

Sachverzeichnis Akzidenz 18–20 Allegorie 14, 17, 44 Alltag 16, 20, 22, 23, 27–29, 31, 45, 66, 104, 108, 131, 136, 137, 148, 158, 173, 175, 177–179, 182, 183, 185–187, 190, 191, 195, 198–200, 202–204, 206, 209 Anfang 54, 68–70, 81, 95, 101, 106, 124, 127, 128, 149, 152, 154 ­­­– andere Anfang 154–157, 160 – Anfänglichkeit 127, 156, 165 Angst 66, 67, 115, 131, 134–140, 143, 148, 150, 170, 172, 176, 197, 202, 203 Anklang 66, 68, 128, 155, 158, 159, 193 Apollinische 61, 62, 187, 202 Architektur 2, 5, 71, 79, 83, 95–100, 107– 119, 123, 210 Ästhetik 3–6, 10, 16, 21, 22, 56, 62, 71, 73, 74, 78–81, 87, 88, 95, 96, 106, 119, 121, 123, 170, 193, 200, 205, 207, 210, 211 Bauen 41–44, 85, 70, 95–119, 166 Befindlichkeit 66, 67, 124, 131–138, 141, 143, 172, 180, 185, 187, 188, 199, Beispiel 6, 9, 15, 16, 22, 23, 34, 39, 44, 59, 70, 72, 73, 75, 78, 80, 83, 100, 159, 163, 204, 206, 207, 209, 210 Bewahren 14, 15, 26, 76, 109 Bewusstsein 13, 20, 73, 78, 87, 113, 123, 133, 139, 194, 201 Bildhauerei 107, 108 Bildung 49, 50 Dasein 13, 14, 27, 28, 35, 38, 48–51, 65– 67, 74, 77, 124, 131–138, 140–144, 146– 148, 150, 157, 166, 170, 172, 173, 177, 179–185, 187–189, 193, 194, 198–200, 202–206, 211, – kollektives Dasein 50, 182, 184, 189, 204, 212

Denken 5, 47, 86, 89, 94, 106, 109, 124, 126, 127, 129, 136, 138, 141–143, 150, 152–157, 159, 167, 213 Destruktion 11, 181 Dichtung 4, 5, 30, 31, 35, 53, 56, 75–79, 81, 83–85, 87–91, 93–95, 103, 104, 112, 122–124, 128, 129, 138, 156–158, 165– 168, 170, 175, 207, 209, 210 Ding 14, 16–21, 27, 29–34, 36–46, 57, 58, 81, 97, 98, 106, 113, 144 Dionysische 61, 62, 175 Dunkelheit 105, 113, 114, 117 Einheit 20, 30, 34, 43, 45, 52, 60–63, 65, 71, 101, 123, 147, 155–164, 184, 185, 192, 198, 211 Entzug 8, 10, 51, 54, 58, 70, 73, 75, 93, 94, 103, 110, 128, 133, 134, 137, 139, 142, 143, 147, 152, 154, 160, 161 Erde 10, 28, 34, 39–43, 45, 52–63, 65, 70– 72, 75, 81, 83, 95–119, 121, 155, 164, 210 Ereignis 3, 9, 46, 66, 69, 97, 102, 106, 124, 126, 157, 158, 160, 164–166, 176 Erlebnis 3, 116, 150, 176 – Erleben 3, 168, 200, 207 – Wiedererleben 196 Erscheinung 12, 15, 20, 85, 86, 110, 111, 113, 121, 122, 129, 137, 143, 150, 170, 172 – Erscheinen 13, 20, 35, 37, 40, 41, 48, 51, 53, 54, 57, 72, 85, 86, 100, 104, 110– 113, 118, 129, 145, 151, 160, 163 – Escheinungsraum 48 Erstaunen 15, 157 Existenz 39, 92, 132, 140, 193, 194, 199– 202 – Existenzialanalyse 124, 138, 200 – Existenzialontologie 137, 199, 200

226

Sachverzeichnis

Faktizität 13, 132, 133, 193 Feld 5, 12, 30, 115 Ferne 20, 21, 99, 115 Form 21–23, 31, 51, 63, 65, 76, 96, 117, 118, 129, 132 Freiheit 14, 49, 58, 137, 145, 148–160, 179, 187, 195 Fuge 42, 104, 107, 159, 163, 196, 197 – In-der-Fuge-sein 197 Furcht 131, 133–125, 142, 143, 158, 159 Gabe 69, 166 Gegebenheitsweise 40, 41, 103, 123, 194 Gemeinschaft 4, 59, 68, 69, 86, 95, 147, 148, 153, 163, 174, 175, 178, 179, 185, 186, 204, 209, 212 Geringe 46, 81 Geschehen 4, 8, 10, 15, 29, 41, 51–53, 56, 58, 60, 63–65, 69, 89, 90, 94, 127, 140, 152, 165, 190, 191, 196, 198, 209 Geschichte 7–9, 18, 22, 36, 45, 47, 59, 68– 70, 75, 77, 88, 103, 112, 123, 142, 149, 153, 156, 171–173, 181, 202 – Geschichtlichkeit 9, 55, 95, 124 – Geschichtsbild 3, 9, 73–82, 86, 165 – Geschichtsstiftung 4, 68–70, 73, 74, 79–81, 157 Gestalt 10, 14, 15, 21, 37, 56, 62–65, 68, 70, 71, 84, 91, 110, 117, 119, 131, 134, 154, 168, 169, 205 Gestimmtheit 124, 131–133, 138, 142, 143, 161, 164, 168–170, 172, 174, 183– 188, 198–200, 204–207, 211, 212 Geviert 41, 43, 44, 83, 95–97, 99–104, 118, 119, 210 Glanz 56, 72, 102, 106, 117, 130 Grundbefindlichkeit 66, 67, 132, 134–138, 143, 180 Haltung 43, 50, 100, 136, 139, 142, 146, 158, 162, 174, 175, 178, 204, 212 Heilige 71, 72, 75–77, 117, 126, 165 Helle 102, 105, 106, 114 Hermeneutik 79, 121, 125, 131, 165, 168, 187, 188, 193, 213 Himmel 41–43, 45, 53, 77, 81, 99–108, 114–119

Hören 86, 89, 93, 126, 127, 159, 164, 172, 174, 175, 180, 182, 190–193, 196, 201, 202 Identität 55, 65, 97, 135 – nationale Identität 78, 209 – kollektive Identität 59, 68, 174 In-der-Welt-sein 48, 99, 133–137, 195, 200, 203 – Nicht-in-der-Welt-sein 200, 203, 204, 212 Innigkeit 54, 61–63, 104, 130, 156, 158, 164 Jubel 157–164, 168, 170, 211 Klang 56, 111, 129, 130, 159 Konzert 69, 130, 171, 174, 176–178, 182, 186, 189, 204, 206, 212 Kunst 1–10, 14–18, 23, 24, 26, 29, 32–34, 37, 38, 40, 41, 44, 46, 47, 50–52, 55–57, 59, 61, 63–75, 78–81, 84–88, 94–97, 99, 104, 107, 121, 122, 124, 129, 138, 153, 155, 156–160, 164, 167, 169, 170, 174, 177–179, 190, 206, 207, 209, 210 – antike Kunst 4, 59, 69–73, 76 – moderne Kunst 4, 26, 46, 96, 109 – Kunstform 73, 95, 96, 98, 121, 122, 124, 129, 177, 185, 200, 204, 206, 207, 211– 213 – Kunstgattung 16, 85 – Kunstlosigkeit 3, 153 – Kunstphilosophie 1–9, 13, 18, 30, 33, 41, 46, 57, 60, 62, 67, 68, 74, 75, 78, 83, 84, 86, 88, 90, 92, 94, 95, 109, 118, 119, 121–125, 169, 207, 209–211, 213 – Kunstverständnis 8, 14, 56, 75, 80, 157 – Kunstwerk 3, 4, 8, 10, 14, 15, 17, 29, 31, 32, 35, 36, 38, 41, 42, 44–46, 50, 52, 56–61, 63, 64, 66, 69, 71, 72, 75, 79, 84, 86, 123, 170, 194, 205, 212 Landschaft 30, 42, 55, 70, 71, 95, 96, 106, 107, 112, 114, 115–117 Langeweile 97, 124, 137, 139– 141, 143– 150, 207 Leben 13, 15, 28, 71, 105, 109, 116, 146, 172, 185, 191, 197, 201, 202

Sachverzeichnis

Leere 44, 97, 107–109, 113, 118, 139, 143, 146, 147, 154, 210 Leib 21, 85, 99, 162, 178 Licht 10, 70, 72, 102, 105–107, 109, 110, 114, 115, 117, 210 Lichtung 10, 13, 48, 49, 51, 52, 60, 84, 85, 106 Logos 60, 62, 105, 122, 123, 158, 159 Material 17, 29, 63, 95, 96, 107, 109–119, 207 – Materialität 17, 31, 32, 39, 56, 63, 70, 96, 103, 110, 112, 123, 210 – Materialkomposition 110, 111, 116, 119 Medium 1, 85, 91, 95, 103, 111, 121, 123, 130, 193, 194, 196, 206, 213 Metapher 92, 125, 126, 141, 159, 199 Metaphysik 22, 37, 74, 81, 124, 138–143, 147, 149, 153, 154, 165 – Metaphysikkritik 97 Methode 6, 12, 24, 127, 142, 143, 171, 181, 188 Mitvollzug 147, 176, 177, 181, 191–204, 206, 212 Moderne 3, 4, 42, 43, 60, 64, 71, 73–76, 80, 81, 96–98, 108, 113, 123, 143, 148– 150, 153, 160, 167, 173, 175, 177, 178, 181, 185, 186, 191, 204, 209, 210, 212 – Modernediagnose 73, 146 Musik 5, 10, 17, 79, 109, 121–130, 164– 207, 211–213 – Gebrauchsmusik 162, 173–188 – Musikhermeneutik 5, 121, 131, 164, 165, 168, 188, 194, 204–207, 213 – Musikphänomenologie 5, 188, 190 – Musikphilosophie 122–124, 129, 180, 183, 188–204, 211 – Musiktheorie 128, 187, 200 – Musikwissenschaft 5, 79, 125, 162, 171–189, 195, 211 Nachvollzug 31, 136, 147, 165–168, 177 Nationalsozialismus 1–3, 54, 59, 68, 78, 91, 153 Nähe 20, 21, 28, 38, 41, 44, 45, 54, 74, 99, 110, 112, 130, 161

227

Nichts 64, 97, 139–143, 147–149, 202, 207 Offenheit 48–50, 56, 58, 59, 69, 70, 86, 94, 108, 112, 117, 128, 189 Ontologie 13, 18–23, 32, 144 – Musikontologie 181, 188–203, 211 Ort 4, 10, 13, 26, 28, 40–44, 49, 50, 58, 61, 71, 74, 83, 90, 92, 98, 99, 105, 107–109, 111, 112, 115–118, 123, 159, 169, 202, 210 Phänomenologie 9, 10–16, 49, 50, 79, 84, 107, 128, 136, 139, 172, 179, 180, 188– 190 Philosophie 1, 7, 11–13, 36, 37, 47, 50–54, 74, 94, 95, 106, 124–127, 138–143, 149– 157 Physis 53–55, 62, 103, 106 Praxis 5, 6, 34, 67, 76, 83, 100, 109, 176, 181–185, 189, 190, 204, 212 Präsenz 8, 10, 14, 15, 29–32, 36, 29, 36, 40, 41, 43, 54, 63–65, 70, 71, 81, 85, 96, 104, 106, 108–110, 114, 128, 161, 205 Produktion 3, 7, 14, 15, 63, 64, 84, 93, 123, 168, 169, 179, 200, 201, 205, 209, 211 Raum 29, 42, 48, 59, 93, 96–99, 102, 107– 109, 112, 113, 117, 118, 123, 133, 147, 152, 169, 196 Realismus 12, 14, 144, 168 Rezeption 3, 5, 7, 14, 15, 59, 67–69, 164, 168, 169, 172, 177, 179, 180, 185, 192, 196, 201, 209, 210 – Rezeptionsgemeinschaft 178, 185, 212 Ruhe 31–33, 35, 39, 42, 45, 81, 113, 116, 118, 136, 138, 139, 149 Schaffen 14, 15, 34, 64, 83, 169, 210 – Geschaffensein 15, 66 Schein 49, 54, 68, 104–106, 153, 159 Schenken 45, 69, 90, 127, 129, 130, 163 Schonen 43, 99 Schönheit 31, 43, 56, 62, 96, 104, 106, 121, 158–160, 164, 170, 211

228

Sachverzeichnis

Sein 12, 33, 36, 38, 50, 52, 53, 54, 60, 70, 86, 135, 136, 141, 142, 153, 155, 169, 189, 200 – Seiendes 9, 10, 33, 38–41, 51, 63, 84, 137 – Seinsverlassenheit 153, 157, 167 ­– Seinsverständnis 13, 39, 43, 54, 69, 73, 76, 139 – Seyn 126–128, 142, 153–156, 160, 163, 168, 207 Selbst 35, 127, 131–133, 141, 146, 200, 205 – Selbstverständnis 2, 3, 6, 34, 48, 59, 69, 80, 115, 146, 152, 155, 200, 209, 211 Semantik 5, 100, 122, 125, 127, 140, 199 Singuläre 34–40, 57, 59, 110 Skulptur 107, 108, 123 Sprache 1, 19, 30, 37, 54, 56, 65, 74, 83– 95, 98, 108, 111, 122, 128, 129, 140, 142, 154, 156, 170, 183 Sprachlichkeit 1, 19, 32, 58, 84, 85, 128, 139, 141, 142, 155, 163, 205, 212 Sprung 13, 69, 154, 198 Staunen 15, 66, 150–152, 157, 194 Stein 17, 39, 56, 76, 110, 116 Stil 3, 42, 45, 91, 98, 108, 109, 140, 147, 154, 155, 157, 173, 177, 185, 193, 209, 210 Stille 15, 83, 105, 111, 113, 117, 118, 128, 139, 151, 207, 210 Stimmung 5, 67, 112, 124, 125–127, 131– 172, 174, 177, 180–188, 190–192, 195, 197, 198–200, 203–207, 211–213 – Leitstimmung 124, 155 – Grundstimmung 124, 128, 134–141, 143, 146, 147, 149, 151, 152, 154, 155, 157, 165–170, 172, 175, 197, 203, 205, 211 – Stimmungstheorie 5, 124–126, 130, 131, 136, 141, 142, 144, 145, 149, 157, 158, 163, 165–170, 172, 175, 177, 180, 186, 188, 190, 194, 203, 205–207, 211– 213 – Urstimmung 158–171, 211 Stoff 21–23, 55, 56, 110, 112 Stoß 15, 66–68 – Stoßcharakter 66–68, 75, 77, 81, 203

Streit 34, 52–65, 100, 104 – Streit von Welt und Erde 10, 39–42, 52–65, 99, 101, 104, 155, 164 – Urstreit 10, 13, 60, 61 Strenge 10, 11, 44, 77, 94, 139, 142, 143 Substanz 18–21 Symbol 14, 17, 18, 26, 44, 45, 92, 104, 113, 117, 118, 179, 195 Technik 20, 23, 34, 43, 45 55–57, 64, 74, 97, 106, 114, 116, 118, 125, 139, 160, 168, 176, 178, 181, 199 Ton 17, 43, 122, 128, 166, 206, 207, 213 Transzendenzbezug 72, 73, 76, 78, 79, 118, 209 Umwelt 16, 17, 20, 28, 35, 79, 122, 131, 133, 135, 137, 144, 195 Unverborgenheit 48, 104 Ursprung 7–13, 21, 50, 51, 60, 72, 74, 75, 79, 85, 89, 118, 124, 142, 174, 179, 180 Verbergung 10, 13, 51, 52, 60, 84, 103 Verfallen 49, 67, 135, 136, 150, 177, 179, 181, 189 Verhaltenheit 88, 137, 154, 155 Versagung 51, 147 Versammlung 41–44, 99, 106, 108, 113, 119 Verstehen 88, 132, 168 Verstellung 49, 51, 54, 108 Vorhandenheit 16, 36, 132, 147, 189 – pure Vorhandenheit 30–32, 39–41 Wahrheit 1, 4, 7, 9, 10, 14, 29, 31, 36, 42, 46–53, 60, 63, 65, 69, 74–76, 84, 85, 95, 114, 142, 156, 158–160, 209 – Unwahrheit 49, 50 Welt 10, 13, 17, 22, 25, 28, 35–41, 46, 49, 50, 52–65, 67, 71, 72, 76, 77, 79, 86, 87, 99, 101–105, 112, 113, 115, 122, 124, 126, 131–137, 141, 142, 152, 155, 164, 167, 179, 190, 191, 194, 195, 200, 202– 206, 212 Werk 7–16, 41–50, 60–65, 85, 94, 97, 108, 110, 121–126, 153, 155, 158, 164, 168– 170, 177, 189

Sachverzeichnis

– Sich-ins-Werk-Setzen 9, 31, 84, 156 – Werksein 9, 14–16, 18, 29, 44, 45, 75, 78–81, 169, 210 Wirkungsgeschichte 5, 6, 24, 83, 86, 95, 207, 210, 211, 213

229

Wissenschaft 11, 30, 45, 48, 67, 68, 125, 138, 139–143 Wohnen 2, 43, 44, 53, 97–100, 104, 108

230

231

Personenverzeichnis Adorno, Theodor W. 90, 190, 206, 215 Alleman, Beda 93, 216 Alloa, Emmanuel 103, 215 Anaximander 90 Anders, Günther 5, 171, 188–207, 211, 212, 215 Ando, Tadao 97, 220 Anzelewski, Fedja 64, 215 Apel, Friedmar 126, 218 Arendt, Hannah 17, 129, 130, 144, 158, 171, 206, 215, 221 Aristoteles 18, 19, 21, 23, 48, 79, 80, 90, 101, 103, 138, 149, 172, 173, 181, 215, 219, 220, 222 Augsburg, David von 162, 163 Augustinus 101, 161, 162, 215 Aurenque, Diana 56, 215 Bach, Johann Sebastian 80, 121, 130, 187 Bachelard, Gaston 100, 215 Bachmann, Ingeborg 91, 93 Barbarić, Damir 8, 215 Barck, Karlheinz 16, 104, 126, 216, 224 Bartning, Otto 97, 98, 215 Batchen, Geoffrey 24, 215 Bayreuther, Rainer 171, 173, 215 Beethoven, Ludwig van 16, 130, 206, 207 Behrens, Peter 97 Bekker, Paul 180, 181, 215 Benjamin, Walter 16, 90 Beriger, Andreas 66, 216 Bermes, Christian 57, 215 Besseler, Heinrich 5, 171–188, 191, 199, 200, 202, 204–207, 211, 212, 215 Beugen, Irmgard 122, 218 Biella, Burkhard 97, 216 Biemel, Marly 57, 220 Biemel, Walter 65, 124, 216, 219, 220, 221 Blaser, Werner 97, 216 Bleumer, Hartmut 169, 216

Blochmann, Elisabeth 75, 163, 223 Boehm, Gottfried 65, 216 Bollnow, Otto Friedrich 138, 216 Borck, Karl Heinz 161, 218 Borough, John B. 10, 216 Botticelli, Sandro 80 Bowie, Andrew 171, 216 Braque, Georges 129 Braun, Stefan 97, 216 Bubner, Rüdiger 78, 216 Buxtehude, Dieterich 171 Böhlendorff, Casimir Ulrich 77 Böhme, Hartmut 104, 106, 216 Bönsch, Markus 116, 216 Büchin, Elisabeth 163, 216 Büchner, Georg 90, 91, 210 Cancik, Hubert 70, 220 Celan, Paul 5, 83, 84–95, 210, 216, 217, 221, 222, 223 Chandler, Katherine 26, 216 Chillida, Eduardo 107 Clairvaux, Bernhard von 162 Comay, Rebecca 97, 216 Colli, Giorgio 62, 167, 222 Confurius, Gerrit 118, 216 Cusanus, Nicolaus 37 Dahlhaus, Carl 182, 216 Dahlstrom, Daniel O. 57, 216 Danto, Arthur C. 57 Davis, Brett 100, 216 DeLanda, Manuel 144, 217 Demus, Klaus 91 Denker, Alfred 163, 216 Derrida, Jacques 24–29, 69, 95, 124, 217 Descartes, René 47 Diels, Hermann 53, 54, 60, 62, 101, 105, 156, 159, 217 Dostoevskij, Fedor M. 87, 217

232

Personenverzeichnis

Dreyfus, Hubert L. 83, 217 Dürer, Albrecht 33–38, 40, 57, 63, 64, 80, 215, 217, 221 Eder, Andreas 125, 222 Eggebrecht, Heinrich 171, 190, 223 Eldred, Michael 122, 207, 217 Empedokles 100, 101 Erskine, Ralph 97 Esner, Rachel 26, 216 Espinet, David 4, 5, 9, 18, 23, 34, 47, 54– 57, 121, 128, 189, 215, 217, 221, 222 Faille, Jacob B. de la 26, 117 Faye, Emmanuel 2, 3, 215, 217 Felstiner, John 92, 217 Ferreira, Boris 124, 137, 147, 217 Figal, Günter 4, 17, 49, 52, 78, 80, 98, 103, 108, 122, 129, 163, 217, 220, 224 Fink, Eugen 26, 105, 221 Flüe, Nikolaus von 117, 220 Frese, Tobias 24, 223 Frisk, Hjalmar 21, 53, 218 Fritzsche, Lara 116, 218 Fränkel, Hilde 130 Gadamer, Hans-Georg 6, 7, 80, 87, 93, 122, 218 Geldof, Muriel 26, 220 George, Stefan 84, 127, 129, Georgiades, Thrasyboulos 122, 218 Gibbons, Dave 83 Gogh, Vincent van 16, 23–31, 34, 38, 39, 40, 52, 72, 73, 80, 210, 215– 218, 220– 223 Gogh, Theo van 26 Goethe, Johann Wolfgang von 125, 126, 218 Goldstein, Kurt 24 Gončarov, Ivan 144 Gregor I. 162 Grimm, Jacob und Wilhelm 125, 217 Grossmann, Andreas 68, 218 Große, Jürgen 149, 218 Grundmann, Herbert 161, 162, 218 Guignon, Charles 83, 217 Gumbrecht, Hans-Ulrich 125, 218 Gurlitt, Wilibald 171, 173, 186, 189, 217

Haar, Michel 52, 218 Hadjioannou, Christos 172, 218 Han, Byung-Chul 124, 125, 135, 137, 218 Hanly, Peter 129, 218 Harries, Karsten 4, 57, 73, 96, 97, 100, 216, 218, 222 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 8, 11, 12, 68, 71, 73, 95, 96, 142, 217–219 Hendriks, Ella 24–26, 220 Heraklit 18, 23, 53, 54, 60, 62, 90, 105, 114, 156, 159, 219, 222 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 4, 53, 65, 124, 216, 218–221 Hesiod 104, 220 Heß, Regine 107, 220 Hildebrandt, Toni 111, 224 Hodes, Karlheinrich 162, 220 Hoffmann, Anette 24, 223 Homer 70, 106, 159, 220, 221 Hippel, Gottfried Theodor 121 Hitler, Adolf 2, 3 Husserl, Edmund 11–13, 48, 57, 171, 180, 188, 190, 201, 217, 220, 223, 224 Hölderlin, Friedrich 4, 23, 43, 62, 63, 74– 81, 84–87, 90, 101, 103–105, 130, 165– 170, 176, 207, 217, 221–223 Höffe, Otfried 21, 220 Hövelborn, Ernst 97, 220 Hübner, Johannes 21, 220 Jamme, Christoph 57, 216 Jaspers, Karl 163, 220 Journet, Charles 117, 220 Jünger, Ernst 12, 64, 65, 117, 190, 200, 220 Kafka, Franz 90 Kant, Immanuel 8, 19, 20, 29, 33, 56, 121, 137, 192, 195, 201, 219, 220, 223 Keiling, Tobias 4, 5, 9, 18, 23, 34, 47, 56, 90, 121, 172, 215, 217, 218, 221, 222 Kelly, Michael 24, 221 Kern, Andrea 7, 221 Kierkegaard, Søren 138 Klee, Paul 26, 222, 223 Kockelman, Joseph J. 4, 124, 221 Kohns, Oliver 97, 216 Kranz, Walter 53, 54, 60, 62, 101, 105, 156, 159, 217

Personenverzeichnis

Kuki, Shuzo 87, 88 Kurt, Christoph 159, 221 Körte, Werner 33, 60, 221 Lacoue-Labarthe, Philipe 78, 123, 221 Lakoff, George 127, 221 Lang, Klaus 125, 221 Le Corbusier 71, 221 Leibniz, Gottfried Wilhelm 37 Lemke, Anja 90, 221 Lohr, Andreas 92, 216 Ludz, Ursula 129, 221 Luft, Sebastian 10, 55, 100, 103, 216 Lyon, James K. 91, 221 Malebranche, Nicolas 90 Mandel’štam, Osip 92 Mann, Thomas 144 Mattéi, Jean-François 101, 221 Mauss, Marcel 69, 221 Mazzoni, Augusto 121, 221 Meillassoux, Quentin 12, 221 Meister Eckhart 162 Menke, Christoph 52, 222 Mersch, Dieter 52, 222 Mertins, Detlef 97, 216 Mitchell, Andrew J. 107, 222 Montinari, Mazzino 62, 167, 222 Moore, Alan 83 Mozart, Wolfgang Amadeus 121, 124, 195, 222 Musil, Robert 151, 222 Mörike, Eduard 167 Neske, Günter 16, 224 Neumann, Peter Horst 92, 219, 222 Nietzsche, Friedrich 61, 62, 77, 80, 121, 166–168, 170, 175, 187, 194, 199, 202, 203, 218, 219, 222 Nono, Luigi 80 Ockham, Wilhelm von 37 Olbrich, Joseph Maria 97 Orff, Carl 121 Overgaard, Søren 10, 216 Pachelbel, Johann 171 Padrutt, Hanspeter 55, 222

233

Pantoulias, Michail 18, 23, 222 Parmenides 11, 90 Pascal, Blaise 94 Payot, Daniel 13, 223 Pippin, Robert B. 24, 222 Platon 22, 36, 47, 49, 86, 102, 105, 106, 139, 149, 156, 160, 167, 222 Powell, Jeffrey 129, 218 Prätorius, Michael 171 Rapp, Christoph 21 Raulff, Ulrich 78, 224 Rebentisch, Juliane 123, 222 Reinhardt, Hartmut 126 Rese, Friederike 11, 13, 224 Richir, Marc 67, 222 Rilke, Rainer Maria 130, 158 Ritter, Joachim 106, 223 Rohe, Mies van der 97, 216 Roussel, Martin 97, 216 Roskill, Mark 25, 222 Rothermund, Klaus 125, 222 Rothko, Mark 80 Rotterdam, Erasmus von 37 Rozbroj, Radomír 85, 222 Sattler, Dietrich E. 43, 62, 220 Schapiro, Meyer 24, 26, 41, 223 Schavemaker, Margaret 26, 216 Scheidt, Samuel 171 Scheidtweiler, Hermann-Josef und Trudel 161 Schestag, Thomas 124, 221 Schiller, Friedrich 31, 33–38, 57, 220 Schlüter, Dietrich 106, 223 Schmarsow, August 99, 223 Schneider, Helmut 70, 220 Schostakowitsch, Dmitri 164, 165, 168, 170, 224 Schubert, Dietrich 24, 223 Schultz, Uwe 121, 223 Schwarte, Ludger 97, 223 Schütz, Heinrich 162 Scotus, Duns 37 Seidl, Horst 21, 215 Seng, Joachim 92, 223 Seubold, Günter 5, 223 Simmer, Marianna L. 24

234

Personenverzeichnis

Sinclair, Mark 18, 23, 223 Solbach, Anja 166, 223 Solmsen, Friedrich 104, 220 Sommer, Christian 68, 223 Staiger, Emil 78, 167, 224 Steenhoff, Willem J. 26, 223 Stein, Charlotte von 125, 126 Sternberger, Dolf 98 Stolberg-Wernigerode, Otto zu 171, 217 Storck, Joachim W. 75, 163, 223 Strauß, Johann 175 Stravinsky, Igor 121 St. Victor, Richard von 162 Taminiaux, Jacques 4, 13, 14, 223 Tauler, Johannes 162 Theiler, Willy 21, 215 Thomson, Iain D. 83, 223 Thomä, Dieter 7, 55, 171, 215, 221, 223 Tilborgh, Louis von 25, 26, 220 Tomašević, Boško 95, 223 Trakl, Georg 128

Trawny, Peter 80, 125, 128, 166, 219, 220, 223 Tugendhat, Ernst 48, 223 Ullrich, Wolfgang 16, 224 Vorländer, Karl 20, 220 Voß, Johann-Heinrich 106 Wagner, Richard 121, 123, 193–195, 199, 203, 221, 222 Wagner, Tim 19 Weiwei, Ai 46 Weizsäcker, Carl Friedrich von 16, 224 Wellbery, David 126, 224 Westerlund, Frederik 13, 224 Wiese, Benno von 161, 218 Wild, Markus 78, 224 Wolkow, Solomon 164, 224 Young, Julian 4, 224 Zumthor, Peter 5, 83, 95–119, 210, 216, 220, 224